Die SED als Staatspartei der DDR
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Die SED als Staatspartei der DDR
Die SED als „Staatspartei“ der DDR von Klaus Schroeder Der vom nationalsozialistischen Deutschland in Europa entfesselte Zweite Weltkrieg führte zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und in der Folge zur Teilung. Während in den Westzonen freiheitlich-demokratische Verhältnisse institutionalisiert und etabliert wurden, zwang die sowjetische Besatzungsmacht ihrer Zone eine sozialistische Diktatur auf. Dabei konnte sie sich auf die KPD bzw. SED als Erfüllungsgehilfen verlassen. Schon im Jahre 1944 formulierte der sowjetische Diktatur Josef Stalin seine Vorstellungen vom Nachkriegseuropa sehr deutlich: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“1 Kommunistische Nachkriegsplanungen Unmittelbar nach der Teheraner Konferenz beauftragte die sowjetische KPFührung führende KPD-Funktionäre, die in Moskau Exil erhalten und die Stalinschen Säuberungen überlebt hatten, Konzeptionen für die politische Gestaltung Nachkriegsdeutschlands zu entwerfen. Diese so genannten Moskau-Kader, zu denen Wilhelm Pieck, der spätere erste und einzige Präsident der DDR, und Walter Ulbricht, der spätere Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende, gehörten, waren im Kampf gegen die Weimarer Republik politisch sozialisiert und im kommunistischen Überlebenskampf trainiert worden. Psychisch waren sie in vielfacher Weise gebrochen und hatten sehr oft ein von tiefem Misstrauen und Zynismus geprägtes Menschen- und Gesellschaftsbild verinnerlicht. 1 Zit. nach Rolf Steininger: Deutsche Geschichte seit 1945, Band: 1: 1945-1947, Frankfurt/Main 1996, S. 86. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 1 Auf Weisung von Georgi Dimitroff, dem ehemaligen Generalsekretär der Komintern, entwickelten die in Moskau weilenden KPD-Kader ein Konzept zur Bildung eines „Blocks der kämpferischen Demokratie“. Unter Führung der Kommunistischen Partei sollte ein Bündnis mit Sozialdemokraten, aber auch mit bürgerlichen Kräften die Macht im besiegten Nachkriegsdeutschland übernehmen. Bei der Verwirklichung der Idee einer Einheitspartei von Kommunisten und Sozialdemokraten müsse bei der Zusammenarbeit mit der SPD, die man wenige Jahre zuvor noch als sozialfaschistisch bezeichnet hatte, darauf geachtet werden, dass der „Sozialdemokratismus“ in der anzustrebenden Einheitspartei keine Rolle spiele. Die zweite Hauptsäule der programmierten Umwälzung betraf die völlige Neugestaltung des politischen Systems. Der „Zerschlagung des imperialistischen Kriegs- und Gewaltapparates“, verbunden mit der Verhaftung und Bestrafung der „Nazi-Mörder“, „Kriegsverbrecher“ und „Kriegschuldigen“ sowie mit der „gründliche(n) Säuberung des gesamten Staatsapparates und der Kommunalverwaltungen von allen faschistischen Elementen“ sollte die „Aufrichtung eines starken demokratischen Volksregimes“ folgen. Die Forderung nach „Schaffung einer festen Ordnung, Disziplin und Sauberkeit im staatlichen und wirtschaftlichen Leben“ zielte unter Berufung auf die notwendige Beseitigung des vom Hitler-Regime hinterlassenen Chaos auf eine betont starke und autoritäre, von Kommunisten geführte Staatsmacht. Als eine dritte Grundaufgabe der politischen und sozialen Neugestaltung war die antifaschistische „Umerziehung des ganzen Volkes zur Demokratie“, die Überwindung der „imperialistischen Verseuchung und knechtischen Erziehung des deutschen Volkes“ und seines Rassismus apostrophiert. Voraussetzungen hierfür waren das Verbot jeder faschistischen und imperialistischen Propaganda, die „Säuberung des gesamten Erziehungs- und Bildungswesen (Schulen, Universitäten, Theater, Zeitungen usw.) von den faschistischen, imperialistischen Unrat und Ungeist“ und die „Pflege eines wahrhaft demokratischen, freiheitlichen nationalen Geistes zur Wiederherstellung der Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 2 Ehre der Nation“, die Umerziehung „für den Frieden und die Freundschaft der Völker“.2 Ende April 1945 flog die Rote Armee ausgewählte deutsche Kommunisten, unter ihnen Ulbricht, Ackermann und Sobotka, nach Deutschland, die die Machtübernahme im Nachkriegsdeutschland konkret vorbereiten sollten. Eine herausragende Rolle nahm dabei Walter Ulbricht ein, der die Maxime für die Machtübernahme vorgab: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand halten.“3 Das Staatsverständnis der KPD/SED Der ehemalige Sozialdemokrat und erste Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, der die ostdeutsche SPD in die SED überführt hatte, warnte anlässlich einer Tagung des SED-Parteivorstandes im Juli 1948 vor der Gefahr, dass die Übernahme des Staates durch die SED zu einer Restauration des alten bürgerlichen Staates führen könnte, sollte es die Partei versäumen, tatsächlich einen „neuen Staat“ aufzubauen. Es reiche nicht, die Schaltstellen mit SED-Genossen zu besetzen, sondern diesen müsse klar gemacht werden, dass sie „[…] Luft wären, dass sie nichts sind, wenn sie nicht auf dem Boden der Partei stehen. Niemand hat die Möglichkeit, in diesem Verwaltungsapparat erfolgreich und nachhaltig zu arbeiten, wenn er sich nicht auf die Kraft der Partei, auf die Zustimmung seiner Partei stützen kann. Wer sich darum von dem Mutterboden der Partei in der Verwaltung löst, begeht einen großen und schweren Klassenfehler, den die alte Sozialdemokratie in der Weimarer Zeit teuer hat bezahlen müssen. Die Aufgabe unserer Partei ist es, dafür Sorge zu tragen, dass sich die Verbürgerlichung des sozialistischen Teils des Verwaltungsapparates nicht ein zweites Mal vollzieht, sondern dass jeder Einzelne von uns, der in einem Verwaltungssessel sitzt, wissen muss, dass 2 3 Diese Aussagen finden sich im „Aktionsprogramm des Blockes der kämpferischen Demokratie“, maschinenschriftlicher dritter Entwurf, o.D., abgedruckt in: Peter Erler u.a.: Nach Hitler kommen wir. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 265 ff. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Leipzig 1990, S. 406 Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 3 seine Aufgabe darin besteht, bei der Partei zu stehen, in der Partei zu stehen und für die Partei zu stehen.“4 Grotewohl skizzierte damit die auf den „Lehren“ von Marx und Lenin basierenden Grundlinien der Eroberung und Instrumentalisierung des Staates für die Zwecke der sozialistischen/kommunistischen Partei, die über einen einfachen, wenn auch umfassenden Personalwechsel hinaus gingen. Die beabsichtigte Zerschlagung des bürgerlichen Staates ist nach seiner Vorstellung verbunden mit dem Aufbau des sozialistischen Staates, der den Weisungen der Partei unterworfen werden muss.5 Welche Dimension die Instrumentalisierung des Staates für Kommunisten in der SBZ hatte, wird in den Worten des alten und neuen Parteifreundes von Grotewohl, Heinz Lehmann, deutlich: „Dieser Staat muss unser sein […]. Aber Staat bleibt Staat, d.h. er bleibt ein Unterdrückungsinstrument. Unser Staat hat die Aufgabe, alles niederzuhalten, was den Weg zum Sozialismus aufhalten will, und alles zu fördern, was ihm diesen Weg erleichtert. Dem hat sich auch die Form der Verwaltung anzupassen, auch wenn die Blockparteien dabei manchmal das Zittern bekommen. Ein Funktionär, der diese Aufgabe nicht erfüllt, hat seinen Beruf verfehlt.“6 Die ehemaligen Sozialdemokraten hatten also schnell gelernt, worum es den Kommunisten auf dem Weg zum Kommunismus ging: um die Zerstörung des bürgerlichen Staates und den Aufbau einer „sozialistischen Demokratie“, die politisch durch die „Diktatur des Proletariats“ und ökonomisch durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel gekennzeichnet war. Entgegen der 4 5 6 Otto Grotewohl: Die November-Revolution und die Lehren aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, Referat auf der 12. Tagung des Parteivorstandes der SED am 28./29. Juli 1948; zit. nach: Thomas Friedrich u.a. (Hg.): Entscheidungen der SED 1948. Aus den stenografischen Niederschriften der X. bis XV. Tagung des Parteivorstandes der SED, Berlin 1995, S. 226. Vgl. zum Staatsverständnis von Kommunisten und ihren theoretischen Vordenkern: Klaus Schroeder: Staatsverständnis und Herrschaftsformen der SED, in: Peter März (Hg.): Vierzig Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S. 99 ff. Friedrich (wie Anm. 4), S. 257. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 4 Propaganda- und Täuschungsparole vom „antifaschistisch-demokratischen Neuanfang“ schlug die SED dank der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht diesen Weg schon vor der Staatsgründung ein.7 Wohin dieser Weg führt, hatte Lenins theoretischer Widersacher, der Sozialdemokrat Karl Kautsky, schon etwa dreißig Jahre zuvor geahnt, als er auf die Gefahren einer Revolution ohne Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung hinwies. Er prophezeite die Entstehung einer bolschewistischen Despotie mit einer sozialistischen Ausbeuterklasse, die ihre Herrschaft vor allem auf terroristische Gewalt stützen würde. Für Kautsky war Sozialismus untrennbar verbunden mit Demokratie, während umgekehrt Demokratie für ihn sehr wohl auch ohne Sozialismus denkbar war. Die deutschen Sozialdemokraten zogen schon frühzeitig einen Zusammenhang zwischen Faschismus und Kommunismus. Schon im Mai 1922 hieß es im offiziellen SPDTheorieorgan „Die neue Zeit“: „Faschismus ist lateinischer Bolschewismus“.8 Die Gründung des SED-Staates Nachdem sich im Laufe des Jahres 1947 Auseinandersetzungen zwischen den „Verbündeten wider Willen“ der ehemaligen „Anti-Hitler-Koalition“ verschärft hatten und die Westalliierten die Gründung eines „Weststaates“ forcierten, konnte auch die SED die Gründung ihres Staates konkret vorbereiten. Am 7. Oktober 1949 wurde auf Weisung Stalins die DDR gegründet. Auf eine Legitimation durch Wahlen hatte die SED vorsichtshalber verzichtet. Ein Jahr später durfte die DDR-Bevölkerung per „Einheitsliste“, auf der neben SED, CDU und LDPD zwei weitere, erst 1948 gegründete Parteien – die NDPD und die Bauernpartei – sowie einige Massenorganisationen vertreten waren, die Abgeordneten der „Volkskammer“ wählen. Da die Verteilung der Sitze vorher 7 8 Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Kommunismus in Deutschland, in: Stéphan Courtois (Hg.): Das Handbuch des Kommunismus · Geschichte · Ideen · Köpfe, München/Zürich 2010, S. 118 ff. Vgl. Klaus Schroeder: Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik. Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 10, Berlin 1994 Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 5 festgelegt wurde, war die Wahl eine Farce. Dennoch fälschte die SED auch alle künftigen Abstimmungen und erreichte so immer fast 100 % der Stimmen. Auch wenn sie dies erst zwei Jahre später offiziell verkündete, verstand sich die im April 1946 durch die Verschmelzung von SPD und KPD gegründete SED von Beginn an als genuin kommunistische Partei. Sie rechtfertigte gemäß ihrer theoretischen bzw. ideologischen Vorgaben die Unterwerfung des Staates unter ihre Partei als Vollzug der „führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei“ sowie als „allgemeine Gesetzmäßigkeit“ im Rahmen der „welthistorischen Mission“ des Proletariats und seiner Avantgarde.9 Der Staat wurde damit zum wichtigsten Hebel der SED bei der Umgestaltung der Gesellschaft und der Sicherung ihrer Macht; in ihren eigenen Worten ausgedrückt: „Die staatliche Leitung ist die wichtigste Form, über die die Politik der Partei zur Leitung der Gesellschaft realisiert wird.“10 Wie zuvor die KPdSU benutzte die SED die personelle Besetzung des Staatsapparates auch zur Schaffung ihrer sozialen Massenbasis, indem sie viele Verwaltungskräfte in Führungspositionen sowie einen großen Teil der anderen alten Funktionseliten vertrieb und damit ihren Kadern einen schnellen sozialen Aufstieg verschaffte.11 Entgegen marxistisch-leninistischen Vorstellungen erfolgten die Zerstörung des bürgerlichen Staates und der Aufbau einer „Diktatur des Proletariats“ in der SBZ/DDR freilich nicht durch eine Revolution, sondern durch die militärische Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands und die sowjetische Okkupation. Die DDR war mithin eine von deutschen Kommunisten geforderte und unterstützte „koloniale Gründung der UdSSR“ (Gerhard Wettig). Die sowjetische Besatzungsmacht übertrug die begrenzte und eingeschränkte Staatsgewalt an die SED, die in der Folgezeit Partei, Staat und Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild formte. Jetzt wurde Realität, was die Parteiführung 9 10 11 Vgl. Waltraud Böhme u.a. (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989, S. 298/299. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Weichelt: Der Staat im politischen System der DDR, (Ost-)Berlin 1986, S. 94. Vgl. Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 532 ff. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 6 schon im Frühsommer 1948 bei der offiziellen Verwandlung der SED in eine marxistisch-leninistische Kader- und Massenpartei formuliert hatte: „Die führende Rolle der Partei bedingt „[…], dass alle Parteileitungen die Fähigkeit erwerben, den Staat, die Länder, Kreise und Gemeinden, die Betriebe, die Industrie, die Landwirtschaft, die Schule, das kulturelle Leben usw., das alles zu verwalten und zu führen“.12 Nach dieser Auffassung stand Parteiloyalität über Staatsloyalität. Die DDR kann insofern mit Fug und Recht als SED-Staat gekennzeichnet werden, der jedoch während seiner gesamten Existenz von sowjetischer Unterstützung abhängig blieb und seine Macht in erster Linie auf Gewalt und Zwang bzw. deren Androhung gründete. Eine demokratische Legitimation besaß der sowjetisierte deutsche Teilstaat nicht. Die staatlichen Verwaltungen sollten keine eigene Macht gewinnen, die aus dem Spezialwissen von Fachleuten hätte erwachsen können. Deshalb achtete die Parteiführung darauf, dass keine neutrale Bürokratie, sondern eine politisierte Gesinnungsverwaltung sowjetischen Typs entstand.13 Sobald die SED ihre Dominanz in staatlichen Institutionen gefestigt hatte, konzentrierte sie sich auf den Ausbau ihres Parteiapparates, wobei es zu einer weitgehenden Doppelung der Strukturen von Partei und Staat kam. Die Parteiinstanzen blieben den staatlichen vorgeschaltet, leiteten die einzelnen Bereiche an und kontrollierten sie gleichzeitig. Die Staatspartei SED übertrug zudem ihre marxistisch-leninistischen Prinzipien, vor allem den so genannten Demokratischen Zentralismus, bereits 1949 auf Staat und Gesellschaft.14 Die SED reklamierte für sich – und in einem formalen Sinn auch für ihre Mitglieder – das Wahrheits- und Erkenntnismonopol und leitete hieraus die führende Rolle der Partei ab. Dies sollte die Unterwerfung von Staat und Gesellschaft rechtfertigen. In der sozialistischen Verfassung vom 6. April 1968 12 13 14 Zit. nach: Andreas Malycha: Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typs in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996, S. 103/104. Vgl. Hans-Peter Müller: „Parteiministerien“ als Modell politisch zuverlässiger Verwaltungsapparate, in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale, Berlin 1998, S. 133 ff. Vgl. Schroeder (wie Anm. 11), S. 59 ff. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 7 formulierte die Partei dementsprechend: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“ Der Verfassungsrang des Führungsanspruchs blieb auch in der Verfassung von 1974 erhalten, die bis zum Ende der DDR gültig war; erst am 1. Dezember 1989 wurde er durch die Volkskammer unter dem Druck der Bevölkerung gestrichen. Das leninistische Organisationsprinzip „Demokratischer Sozialismus“ bedeutete eine strikte Hierarchisierung von Partei, Staat und Gesellschaft, indem sich die jeweils untere Funktionsebene der höheren unterzuordnen hatte. Alle Bereiche mussten sich den Weisungen der obersten Führung unterwerfen. Die Parteiführung setzte mittels dieses Prinzips ihre Politik durch und verhinderte – unter Bezugnahme auf das von Lenin verhängte Verbot der „Fraktionsbildung“ innerhalb der Kommunistischen Partei jegliche Entfaltung innerparteilicher Demokratie. Das Attribut „demokratisch“ stellte angesichts des praktizierten administrativen Zentralismus nur eine leere Floskel dar. Unter diesen selbst definierten Voraussetzungen betrachtete die SED die DDR selbstverständlich als ihren Staat. In ihrem Programm stellte sie unmissverständlich fest: „In Gestalt der Deutschen Demokratischen Republik errichtete und festigte die Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern und den anderen Werktätigen ihre politische Herrschaft. Sie schuf den sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern als eine Form der Diktatur des Proletariats. Gestützt auf die Lehre des Marxismus-Leninismus, wurde die revolutionäre Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse an den entscheidenden Produktionsmitteln vollzogen und eine feste politische und ökonomische Basis für die Lösung der sozialen, kulturellen und ideologischen Aufgaben der sozialistischen Gesellschaft geschaffen.“15 15 Vgl. die Präambel des Programms der SED von 1976, S. 7. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 8 Das Verhältnis von Partei und Staat An die Stelle der im politischen System moderner westlicher Gesellschaften vorhandenen Gewaltenteilung trat in der DDR die Gewaltenkonzentration, d.h. die legislative, judikative und exekutive Macht lag in den Händen der SEDFührung. In ihrem Aufbau folgte die SED dem Vorbild der sowjetischen KPdSU. Im Zentrum der Macht saß der Generalsekretär bzw. Erste Sekretär des Zentralkomitees (von 1950-1971 Walter Ulbricht; von 1971-1989 Erich Honecker, im Herbst 1989 kurzzeitig Egon Krenz), der die wichtigsten Funktionen in Partei und Staat auf sich vereinte. Er leitete die Sitzung des Politbüros und des Sekretariats des ZK und war Chef des Zentralen Parteiapparates, der für die Umsetzung der Beschlüsse der obersten Parteigremien verantwortlich war. Seit 1960 fungierte der jeweilige Generalsekretär meist auch als Vorsitzender des Staatsrates und damit als formales Staatsoberhaupt der DDR. Die im SED-Politbüro getroffenen Entscheidungen waren sowohl für die Gliederungen der Partei in den Bezirken und Kreisen der DDR als auch für den gesamten Staatsapparat verbindlich. Die SED-Führung lenkte und kontrollierte über ihren zentralen und regionalen Parteiapparat auch die anderen Blockparteien und alle Massenorganisationen. Über ein so genanntes Nomenklatursystem besetzte sie alle wichtigen Leitungsfunktionen in den Parteien sowie in Staat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen. Die Auswahl der Kader – wie das Personal genannt wurde – erfolgte aufgrund einer mehrstufigen Hierarchie, nach der die jeweils zuständige SED-Gliederung immer die letzte Entscheidung traf. Das Primat der Partei vor dem Staat fand seinen Ausdruck in entsprechenden Politbürobeschlüssen, in den Verfassungen von 1968 und 1974 sowie in den Statuten verschiedener Ministerien. In einer Richtlinie ordnete die Parteispitze bereits 1949 an, dass wichtige Gesetze, Verordnungen und Materialien „vor ihrer Verabschiedung durch die Volkskammer oder die Regierung dem Politbüro bzw. dem Sekretariat des Politbüros zur Beschlussfassung übermittelt werden (müssen)“. Dieser ersten formellen Festschreibung des Vorrangs der Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 9 Partei gegenüber dem Staat folgte in den fünfziger Jahren die „freiwillige“ Anerkennung der Führungsrolle der SED in Stellungnahmen und Beschlüssen von Blockparteien und gesellschaftlichen Organisationen.16 In einem Politbürobeschluss vom Juli 1960 legte die Parteiführung schließlich fest, dass „alle Beschlüsse des Zentralkomitees bzw. des Politbüros des ZK der SED, die die staatliche Tätigkeit betreffen, als Vorlage unverändert dem Ministerrat bzw. seinem Präsidium zu unterbreiten“ seien. Diesem Beschluss folgten entsprechende „Ordnungen“ staatlicher Instanzen, die verkündeten, dass in der DDR die Arbeiterklasse „unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ die politische Macht ausübe und den Sozialismus aufbaue.17 Neben dem Staatsapparat, den Massenorganisationen und den anderen Blockparteien nutzte die SED auch das (sozialistische) Recht zur Durchsetzung ihres Machtanspruchs. Das sozialistische Recht galt ihr als „Waffe im Klassenkampf“, Rechtsfragen waren Machtfragen. Die SED-Führung konnte jederzeit das Recht in ihrem Sinn auslegen. Es gab keine Kontrolle durch ein Verfassungsgericht oder Verwaltungsgerichte. Die Partei ließ keinen Zweifel, welche Funktion dem sozialistischen Recht zukam. „Das sozialistische Recht verankert die sozialistischen und kommunistischen Errungenschaften. Es schützt die sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsverhältnisse in allen Lebensbereichen, es sichert und fördert deren Entwicklung. Das sozialistische Recht ist Ausdruck und Instrument einer bewusst organisierten Gesellschaft. Es dient der Entwicklung der bewussten Disziplin und des Verantwortungsbewusstseins der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft.“18 Gemäß ihres Rechtsverständnisses ignorierte die Parteiführung auch alle Dimensionen, 16 17 18 die sich aus der Unterzeichnung internationaler Vgl. Werner Müller: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), in: Martin Broszat/Hermann Weber: SBZ-Handbuch, München 1990, S. 387 ff. Vgl. Schroeder (wie Anm. 11), S. 388. Marxistisch-leninistische Staats-Rechtstheorie. Lehrbuch. 3. Auflage, (Ost-)Berlin 1980, S. 405 f. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 10 Menschenrechtskonventionen und -pakte ergaben. Gerechtfertigt wurde dieses Verhalten – in fürchterlichem Funktionärsdeutsch – mit Hinweis auf die historische Notwendigkeit, den Sozialismus aufzubauen und zu gestalten. „Das sozialistische Recht ist Ausdruck der historischen Mission der Arbeiterklasse und Instrument zu ihrer Verwirklichung. Mit Hilfe des sozialistischen Rechts sichert und verwirklicht der sozialistische Staat die Interessen der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten, leitet und schützt er die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.“19 Der ehemalige Pressesprecher des Generalstaatsanwalts der DDR, Peter Przybylski, brachte nach dem Ende der DDR präzise auf den Punkt, was er in den Jahren zuvor selbst erlebt und praktiziert hatte: „Mitglieder der SEDParteiführung haben zu allen Zeiten der DDR-Geschichte über dem Gesetz gestanden. Sie waren der eigentliche Souverän, von dem alle Macht, Gesetzgebung und Justiz einbegriffen, ausging.“20 Für den aufstrebenden SED-Juristen Gregor Gysi stand ebenfalls fest: „Die sozialistische Rechtswissenschaft ist parteilich klassenbewusst.“21 und Weiterhin heißt es in seiner Dissertation: „In der sozialistischen Rechtssetzung, wie in der sozialistischen Rechtsverwirklichung, kommt die Macht der Arbeiterklasse und ihrer Partei zum Ausdruck […] Daher gilt in der sozialistischen Gesellschaft, unter Überwindung der bürgerlichen Gewaltenteilungstheorie, die Einheit von Beschlussfassung und Durchführung, die in der einheitlichen Staatsmacht zum Ausdruck kommt.“22 Zur Durchsetzung ihres umfassenden Führungsanspruchs baute die SEDFührung zudem in Staat und Partei einen aus systematisch ausgewählten und geschulten Kadern bestehenden Machtapparat auf. Partei- und Staatsapparat waren personell und funktionell miteinander aufs Engste verflochten, wobei die 19 20 21 22 Kleines Politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989, S. 813. Peter Przybylski: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 11. Vgl. den Artikel von Martin Eich: Gysis Doktorarbeit. Nicht für den Klassenfeind geeignet, in: FAZ vom 3. März 2011. Zit. nach: Henryk M. Broder: Als Gysi das sozialistische Recht vervollkommnete, in: Die Welt vom 28. Februar 2011. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 11 „Kompetenzkompetenz“ (Entscheidungsbefugnisse über Zuständigkeiten) immer bei der Parteiführung lag. Die Konzentration der Macht in den Händen der SED schloss jede Form von Gewaltenteilung im politischen System aus. Zur Absicherung ihres Machtanspruchs vergrößerte die Parteiführung die Zahl ihrer Nomenklaturkader von ca. 20.000 im Jahr 1951 auf über 300.000 im Jahr 1989. Über die Nomenklatur konnte die SED alle Leitungspositionen in Partei, Staat, Wirtschaft und Massenorganisationen bestimmen und kontrollieren. Die als „Kader“ bezeichneten Fach- und Führungskräfte standen auch nach ihrer Berufung auf die vorgesehene Position unter ständiger Beobachtung des Parteiapparates und mussten regelmäßig an speziellen Schulungskursen teilnehmen, in denen ihnen die jeweiligen Vorgaben der Parteiführung vermittelt wurden.23 Nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus entschied die jeweils höhere Instanz über den Einsatz von Kadern der ihr untergeordneten Ebene. So entstand ein zwar regional und sektoral abgestuftes, aber dennoch auf die Zentrale fixiertes System. Über die Besetzung der höchsten Positionen entschieden das Politbüro, das Sekretariat des ZK bzw. die Kaderkommission des ZK. Mitte der achtziger Jahre erstreckte sich deren Zuständigkeit auf etwa 10.000 Nomenklaturfunktionen. Dieser Personenkreis repräsentierte in einem weiten Sinne die Funktions- und Machtelite der DDR. Der letzte von der SED gestellte Ministerpräsident, Hans Modrow, räumte nach dem Zusammenbruch der DDR ein: „Faktisch wurde keine einigermaßen einflussreiche Position in der DDR ohne Zustimmung des Politbüros oder des Sekretariats des ZK der SED besetzt. Damit sicherte die SED-Führung ihre Macht und ihren Einfluss in allen gesellschaftlichen Bereichen des Landes. Die Leitungen der anderen Parteien, der Massenorganisationen und vieler weiterer Strukturen wurden dadurch weitgehend entmündigt.“24 23 24 Vgl. Matthias Wagner: Ab morgen bist Du Direktor, Berlin 1998, S. 100 ff. Hans Modrow (Hg.): Das Große Haus, Berlin 1994, S. 63. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 12 Durch die Anleitung, Steuerung und Kontrolle des Staates über den zentralen Parteiapparat und die regionalen und lokalen Parteiorgane sowie durch die zahlenmäßige Ausweitung des Nomenklaturprinzips verschmolzen Partei und Staat gleichsam zu einer Einheit. Dem Staat als ausführenden Organ der SEDFührung war jeder Rest von substanzieller Eigenständigkeit genommen. Dies galt auch für das Ministerium für Staatssicherheit, das offiziell als „Schild und Schwert der Partei“ fungierte.25 Die wechselseitige Verknüpfung von Partei und Staat führte zu einer schwer identifizierbaren Aufgabenteilung. Dies hatte für die Partei den Vorteil, dass sie bei auftretenden Mängeln und Schwierigkeiten den staatlichen Instanzen die Verantwortung zuschieben und für die Partei das Dogma der Unfehlbarkeit aufrecht erhalten konnte. Die Regierung der DDR, der Ministerrat, war ebenso wie der 1960 gegründete Staatsrat, der nach Ulbrichts Tod vornehmlich als außenpolitische Repräsentationsinstanz diente, eine von der SED gesteuerte Institution. Die Partei stand über Staat und Recht! 25 Vgl. Klaus Schroeder: Die DDR. Geschichte und Strukturen, Stuttgart 2011, S. 48 f. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 13 Quelle: Schroeder (wie Anm. 25), S. 38/39. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 14 Doch der kommunistischen Partei ging es mehr als um die Eroberung des Staates und die Umgestaltung der Wirtschaftsordnung, sie wollte gewissermaßen alles: die ganze Gesellschaft, den ganzen Menschen. Hiernach durfte es weder Gewaltenteilung noch Pluralismus oder ausgeprägten Individualismus geben. Alle Macht ging von der Parteiführung und deren zentralem Apparat aus, die ihr ideologisches Interpretations- und Wertemonopol geradezu metaphysisch untermauerte. Obwohl der totalitäre Anspruch der SED in der Endphase der DDR bis in die mittlere Funktionärsschicht hinein erodierte, gab die Partei ihren totalitären Machtanspruch nicht auf. In der rückblickenden Gesamtschau lässt sich die DDR insofern von ihren äußeren Bedingungen her als sowjetisierter deutscher Teilstaat und von ihrer inneren Struktur als (spät-) totalitärer Versorgungs- und Überwachungsstaat darstellen. Die Durchsetzung der Parteimacht Im Laufe der etwa vierzigjährigen Existenz ihres Staates verfeinerte die SEDFührung zur Durchsetzung ihres Herrschafts- und Gestaltungsanspruchs die Herrschaftsformen und –instrumente. Die nahezu vollständige Lenkung und Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch die Partei vollzog sich dabei auf folgenden Ebenen: • In der nach dem Prinzip des "Demokratischen Zentralismus" aufgebauten SED herrschten die Parteiführung und ihr zentraler Apparat über alle Parteigliederungen, wobei nachgeordnete Instanzen die Beschlüsse der Zentrale und der übergeordneten Gliederung in ihrem Bereich umzusetzen Wissenschaft erklärten hatten. Durch Bezugnahme Marxismus-Leninismus auf den zur definierte sich die Parteiführung als Gralshüter von Wahrheit und Erkenntnis und entzog sich damit jeglicher Kritik. Parteibasis und Funktionärskörper blieben einem strengen Kontroll- und Disziplinierungsregiment unterworfen, so dass jede Form innerparteilicher Kritik verhindert und unterbunden werden konnte. Wenn doch einzelne Parteimitglieder, die nicht am Sozialismus/Kommunismus, sondern an der konkreten Parteilinie zweifelten, ihre Kritik äußerten, wurden sie gemaßregelt und mitunter Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 15 hart bestraft. Die Partei, sprich: die Parteiführung, musste immer Recht haben, denn – wie es in dem „Lied der Partei“ von Louis Fürnberg heißt: „Sie hat uns alles gegeben. Sonne und Wind und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie […].“ Erst nach dem Fall der Mauer wurden an der Basis nennenswert Stimmen gegen die Parteiführung laut. • Die Besetzung von Schlüsselpositionen in der Partei erfolgte durch die engere Parteiführung, die sich gewissermaßen selbst rekrutierte und "kontrollierte". Dabei hatte der jeweilige Generalsekretär bzw. Erste Sekretär eine Machtfülle, die nicht nur das Zentralkomitee, sondern faktisch auch das Politbüro entmachtete. In der Ära Honecker bestimmten letztlich drei Personen – Erich Honecker, Erich Mielke und Günter Mittag – die Richtlinien der Politik und damit in der „politischen Gesellschaft“ (Agnes Heller) der DDR alle Sphären von Partei, Staat und Gesellschaft. • Der zentrale Parteiapparat sowie seine regionalen Gliederungen waren den staatlichen Abteilungsstrukturen und gesellschaftlichen vorgelagert. Der Leitungs- Parteiapparat leitete und die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen an und kontrollierte sie gleichzeitig. Die Beschlüsse der Partei hatten für sie verbindlichen Charakter. Der Parteiapparat konnte zu jeder Zeit korrigierend in den Ablauf staatlicher Politik eingreifen. • Die weitgehende Verstaatlichung der Wirtschaft ermöglichte der Parteiführung, unkontrolliert über alle ökonomischen Ressourcen des Landes zu verfügen. Sie schuf hierüber Anreiz- und Sanktionsmechanismen, die dem Aufbau und der Konsolidierung der sozialen Basis ihrer Macht dienten. In geradezu feudalistischer Manier wurde sozialen Aufsteigern suggeriert, sie würden alles der Partei verdanken. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 16 • Die Besetzung aller wichtigen Leitungsfunktionen in Staat, Wirtschaft und wichtigen gesellschaftlichen Organisationen erfolgte nach einem Nomenklatursystem, das der Partei den direkten personellen Zugriff gestattete. Über die Aufnahme in die oberste Macht- und Funktionärselite der DDR bestimmte die engere Parteiführung selbst. Ansonsten praktizierte die SED ihre Kaderauswahl und -politik durch ein mehrstufiges und hierarchisiertes System, in dem die jeweils zuständige Parteiinstanz immer die letzte Entscheidung traf. • In allen staatlichen Verwaltungen, wichtigen Betrieben, gesellschaftlichen Institutionen etc. existierten Parteiorganisationen und -gruppen, deren Leitung eine gesonderte Kontrollfunktion und zum Teil auch die direkte Führungsrolle einnahm. Außerdem waren SED-Mitglieder nie zuerst ihrem Vorgesetzten zur Loyalität verpflichtet, sondern immer vorrangig der Parteidisziplin unterworfen. • Durch ein umfassendes Berichts- und Informationswesen sowie die Arbeit des MfS verschaffte sich die Parteiführung einen zusätzlichen Überblick über laufende Prozesse und das Verhalten von Personen, der ihr als Grundlage für weitere Eingriffsmöglichkeiten diente. • Die SED sicherte ihre Macht aber nicht nur durch soziale Aufstiegsmöglichkeiten und die Androhung und Anwendung von Zwang und Gewalt, sondern auch durch die marxistisch-leninistische Ideologie, die ihr eine historische Legitimation zum Machterhalt zusprach. Daneben band die Partei die neu entstandene sozialistische Intelligenz durch die Formel vom Antifaschismus an sich. • Jenseits der marxistisch-leninistischen Ideologie formulierte die Parteiführung Werte und Normen einer sozialistischen Moral für das alltägliche Leben. Den von Walter Ulbricht entworfenen „zehn Gebote(n) der neuen sozialistischen Sittlichkeit“, die konkrete Verhaltensvorschriften enthielten, folgte im letzten SED-Programm von 1976 das Konzept der „sozialistischen Lebensweise“. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 17 • Die nicht parteigebundene Bevölkerung sollte über die Mitgliedschaft in Massenorganisationen an das sozialistische System gebunden werden. Die Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft erfolgte über Kollektive. Kollektives Denken und Verhalten sollte Individualität zurückdrängen. Letztlich gelang die Durchsetzung der Parteimacht nur, weil die SED-Führung über einen umfangreichen Sicherheits- bzw. Unterdrückungsapparat verfügte. In den achtziger Jahren waren ungefähr eine dreiviertel Million Menschen haupt- oder nebenberuflich in diesem Bereich beschäftigt.26 Die Erosion der Parteimacht und der Untergang des SED-Staates Angesichts des beträchtlichen Repressionspotenzials musste die sich seit 1961 in ihrem Land eingesperrte Bevölkerung auf die eine oder andere Weise mit den Verhältnissen arrangieren. Offener Widerstand und Opposition blieben von 1961 bis 1988 randständig, die Verweigerung zumindest in der Breite trug jetzt Züge von Passivität und Doppelmoral. Doch die vermeintlichen Bindungskräfte des realen Sozialismus erwiesen sich angesichts der veränderten weltpolitischen Lage als trügerisch. Mit dem Machtantritt Gorbatschows in der UdSSR wurde – und hiermit konnte die SED-Führung zumindest im Voraus nicht rechnen – die zentrale Säule der Existenz ihres Staates brüchig: die Gewaltandrohung. Zwar verweigerte sich die Partei den Reformen Gorbatschows, weil sie befürchtete, eine begrenzte Öffnung der Gesellschaft, etwa durch die Gewährung der Pressefreiheit, könnte einen Dammbruch à la Tschechoslowakei 1968 auslösen. Doch der in Abgrenzung zur Sowjetunion flugs verkündete „Sozialismus in den Farben der DDR“ besaß keine Aussicht auf Erfolg. Der ökonomische Niedergang und die hohe Auslandsverschuldung, verbunden mit einer gewissen Abhängigkeit von 26 Vgl. Torsten Dietrich u.a. (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 18 der Bundesrepublik, deuteten auf einen Wirtschaftskollaps verbunden mit harten sozialen Einschnitten hin.27 Das Unheil für die SED-Führung begann im Laufe des Jahres 1989 an drei Fronten, die schließlich zum Sturz der Diktatur führten. Außenpolitisch lösten sich die ost- und mitteleuropäischen Satellitenstaaten, vor allem Ungarn und Polen, von der Sowjetunion, die - inzwischen von der Breschnew-Doktrin abgerückt - (gewisse) nationale Alleingänge tolerierte. Der Eiserne Vorhang wurde durchlässig. Im Innern wurde die Partei von einer anschwellenden Fluchtbewegung in Aufregung versetzt, deren Eindämmung nicht gelang. Schließlich formierte sich eine zahlenmäßig kleine, aber beherzte Opposition, die erst den Dialog mit den Mächtigen und dann das Ende der Diktatur forderte. Wie hohl das Herrschaftsgebäude der SED über die Jahrzehnte geworden war, zeigte das ausbleibende Aufbäumen selbst der mittleren und höheren Funktionärsschichten, die viel zu verlieren hatten. Ihnen fehlte es an Mumm und Überzeugung, sich der Dynamik der Straße entgegen zu stemmen. So sahen sie fassungslos mit an, wie ein Jahr später die DDR von der Weltbühne der Geschichte abtreten musste. Die Machtpotenziale des sozialistischen Staates und der sie lenkenden und kontrollierenden Partei – Gewaltapparat, ökonomische Verfügungs- und ideologische Interpretationsmacht sowie die Loyalität der sozialistischen Dienstklasse – waren erschöpft und seine Herrschaftsinstrumente ohne Gewaltandrohung wirkungslos, so dass das geöffnete Ventil öffentlicher Räume die im Verborgenen gewachsenen Kräfte freisetzte. Gleichsam über Nacht verlor die Partei ihre personelle Basis. Registrierte die SED im Jahr 1988 gut 2,3 Millionen Parteimitglieder und als die Mauer fiel, noch über 2 Millionen Mitglieder, setzte danach ein deutlicher Massenaustritt ein. Allein in den drei Monaten von November 1989 bis zum Januar 1990 verließen 27 Vgl. Klaus Schroeder: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört, Berlin 2010, S. 87 ff. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 19 knapp eine Million Personen die Partei. Bis zum 3. Oktober 1990 folgte ihnen eine weitere knappe Million, so dass die inzwischen in PDS umbenannte ehemalige Staatspartei anfangs knapp 300.000 Mitglieder hatte. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die Mehrzahl der SED-Mitglieder weniger aus Überzeugung denn aus Opportunismus, d.h. aus Karrieregründen der Partei beitrat und – als sich die Situation änderte – austrat. Mit der ersten und einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 verlor die SED ihren Status als „Staatspartei“. Statt der üblichen 98 % Wählerstimmen erhielt sie nun nur etwas über 16 %. Die von der ostdeutschen Bevölkerung erkämpfte Demokratie zeigte der sozialistischen Partei ihre Grenzen auf. Ihren Staat hatte die Partei mit ihrem totalitären Gestaltungs- und Machtwillen selbst ruiniert. Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 20 Literatur: Eich, Martin: Gysis Doktorarbeit. Nicht für den Klassenfeind geeignet, in: FAZ vom 3. März 2011 Erler, Peter u.a.: Nach Hitler kommen wir. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994 Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Weichelt: Der Staat im politischen System der DDR, (Ost-)Berlin 1986 Böhme, Waltraud u.a. (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989, S. 298/299 Broder, Henryk M.: Als Gysi das sozialistische Recht vervollkommnete, in: Die Welt vom 28. Februar 2011 Dietrich, Torsten u.a. (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998 Friedrich, Thomas u.a. (Hg.): Entscheidungen der SED 1948. Aus den stenografischen Niederschriften der X. bis XV. Tagung des Parteivorstandes der SED, Berlin 1995 Kleines Politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989 Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Leipzig 1990 Malycha, Andreas: Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typs in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996 Marxistisch-leninistische Staats-Rechtstheorie. Lehrbuch. 3. Auflage, (Ost)Berlin 1980 Modrow, Hans (Hg.): Das Große Haus, Berlin 1994 Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 21 Müller, Hans-Peter: „Parteiministerien“ als Modell politisch zuverlässiger Verwaltungsapparate, in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale, Berlin 1998 Müller, Werner: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), in: Martin Broszat/Hermann Weber: SBZ-Handbuch, München 1990 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991 Schroeder, Klaus: Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik. Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 10, Berlin 1994 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998 Schroeder, Klaus: Staatsverständnis und Herrschaftsformen der SED, in: Peter März (Hg.): Vierzig Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999 Schroeder, Klaus: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört, Berlin 2010 Schroeder, Klaus: Die DDR. Geschichte und Strukturen, Stuttgart 2011 Schroeder, Klaus /Staadt, Jochen: Kommunismus in Deutschland, in: Stéphan Courtois (Hg.): Das Handbuch des Kommunismus · Geschichte · Ideen · Köpfe, München/Zürich 2010 Steininger, Rolf: Deutsche Geschichte seit 1945, Band: 1: 1945-1947, Frankfurt/Main 1996 Wagner, Matthias: Ab morgen bist Du Direktor, Berlin 1998 Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK April 2011 22