Die SED als Staatspartei der DDR

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Die SED als Staatspartei der DDR
Die SED als „Staatspartei“ der DDR
von Klaus Schroeder
Der vom nationalsozialistischen Deutschland in Europa entfesselte Zweite
Weltkrieg führte zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und in der
Folge zur Teilung. Während in den Westzonen freiheitlich-demokratische
Verhältnisse institutionalisiert und etabliert wurden, zwang die sowjetische
Besatzungsmacht ihrer Zone eine sozialistische Diktatur auf. Dabei konnte sie
sich auf die KPD bzw. SED als Erfüllungsgehilfen verlassen.
Schon im Jahre 1944 formulierte der sowjetische Diktatur Josef Stalin seine
Vorstellungen vom Nachkriegseuropa sehr deutlich: „Dieser Krieg ist nicht wie
in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein
eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein,
soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“1
Kommunistische Nachkriegsplanungen
Unmittelbar nach der Teheraner Konferenz beauftragte die sowjetische KPFührung führende KPD-Funktionäre, die in Moskau Exil erhalten und die
Stalinschen Säuberungen überlebt hatten, Konzeptionen für die politische
Gestaltung Nachkriegsdeutschlands zu entwerfen. Diese so genannten
Moskau-Kader, zu denen Wilhelm Pieck, der spätere erste und einzige
Präsident der DDR, und Walter Ulbricht, der spätere Generalsekretär und
Staatsratsvorsitzende, gehörten, waren im Kampf gegen die Weimarer Republik
politisch sozialisiert und im kommunistischen Überlebenskampf trainiert worden.
Psychisch waren sie in vielfacher Weise gebrochen und hatten sehr oft ein von
tiefem Misstrauen und Zynismus geprägtes Menschen- und Gesellschaftsbild
verinnerlicht.
1
Zit. nach Rolf Steininger: Deutsche Geschichte seit 1945, Band: 1: 1945-1947,
Frankfurt/Main 1996, S. 86.
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Auf Weisung von Georgi Dimitroff, dem ehemaligen Generalsekretär der
Komintern, entwickelten die in Moskau weilenden KPD-Kader ein Konzept zur
Bildung eines „Blocks der kämpferischen Demokratie“. Unter Führung der
Kommunistischen Partei sollte ein Bündnis mit Sozialdemokraten, aber auch mit
bürgerlichen
Kräften
die
Macht
im
besiegten
Nachkriegsdeutschland
übernehmen. Bei der Verwirklichung der Idee einer Einheitspartei von
Kommunisten und Sozialdemokraten müsse bei der Zusammenarbeit mit der
SPD, die man wenige Jahre zuvor noch als sozialfaschistisch bezeichnet hatte,
darauf
geachtet
werden,
dass
der
„Sozialdemokratismus“
in
der
anzustrebenden Einheitspartei keine Rolle spiele.
Die zweite Hauptsäule der programmierten Umwälzung betraf die völlige
Neugestaltung
des
politischen
Systems.
Der
„Zerschlagung
des
imperialistischen Kriegs- und Gewaltapparates“, verbunden mit der Verhaftung
und Bestrafung der „Nazi-Mörder“, „Kriegsverbrecher“ und „Kriegschuldigen“
sowie mit der „gründliche(n) Säuberung des gesamten Staatsapparates und der
Kommunalverwaltungen von allen faschistischen Elementen“ sollte die
„Aufrichtung
eines
starken
demokratischen
Volksregimes“
folgen.
Die
Forderung nach „Schaffung einer festen Ordnung, Disziplin und Sauberkeit im
staatlichen und wirtschaftlichen Leben“ zielte unter Berufung auf die notwendige
Beseitigung des vom Hitler-Regime hinterlassenen Chaos auf eine betont
starke und autoritäre, von Kommunisten geführte Staatsmacht.
Als eine dritte Grundaufgabe der politischen und sozialen Neugestaltung war
die antifaschistische „Umerziehung des ganzen Volkes zur Demokratie“, die
Überwindung der „imperialistischen Verseuchung und knechtischen Erziehung
des deutschen Volkes“ und seines Rassismus apostrophiert. Voraussetzungen
hierfür
waren
das
Verbot
jeder
faschistischen
und
imperialistischen
Propaganda, die „Säuberung des gesamten Erziehungs- und Bildungswesen
(Schulen, Universitäten, Theater, Zeitungen usw.) von den faschistischen,
imperialistischen Unrat und Ungeist“ und die „Pflege eines wahrhaft
demokratischen, freiheitlichen nationalen Geistes zur Wiederherstellung der
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Ehre der Nation“, die Umerziehung „für den Frieden und die Freundschaft der
Völker“.2
Ende April 1945 flog die Rote Armee ausgewählte deutsche Kommunisten,
unter ihnen Ulbricht, Ackermann und Sobotka, nach Deutschland, die die
Machtübernahme im Nachkriegsdeutschland konkret vorbereiten sollten. Eine
herausragende Rolle nahm dabei Walter Ulbricht ein, der die Maxime für die
Machtübernahme vorgab: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen
alles in der Hand halten.“3
Das Staatsverständnis der KPD/SED
Der ehemalige Sozialdemokrat und erste Ministerpräsident der DDR, Otto
Grotewohl, der die ostdeutsche SPD in die SED überführt hatte, warnte
anlässlich einer Tagung des SED-Parteivorstandes im Juli 1948 vor der Gefahr,
dass die Übernahme des Staates durch die SED zu einer Restauration des
alten bürgerlichen Staates führen könnte, sollte es die Partei versäumen,
tatsächlich einen „neuen Staat“ aufzubauen. Es reiche nicht, die Schaltstellen
mit SED-Genossen zu besetzen, sondern diesen müsse klar gemacht werden,
dass sie „[…] Luft wären, dass sie nichts sind, wenn sie nicht auf dem Boden
der Partei stehen. Niemand hat die Möglichkeit, in diesem Verwaltungsapparat
erfolgreich und nachhaltig zu arbeiten, wenn er sich nicht auf die Kraft der
Partei, auf die Zustimmung seiner Partei stützen kann. Wer sich darum von
dem Mutterboden der Partei in der Verwaltung löst, begeht einen großen und
schweren Klassenfehler, den die alte Sozialdemokratie in der Weimarer Zeit
teuer hat bezahlen müssen. Die Aufgabe unserer Partei ist es, dafür Sorge zu
tragen, dass sich die Verbürgerlichung des sozialistischen Teils des
Verwaltungsapparates nicht ein zweites Mal vollzieht, sondern dass jeder
Einzelne von uns, der in einem Verwaltungssessel sitzt, wissen muss, dass
2
3
Diese Aussagen finden sich im „Aktionsprogramm des Blockes der kämpferischen
Demokratie“, maschinenschriftlicher dritter Entwurf, o.D., abgedruckt in: Peter Erler u.a.:
Nach Hitler kommen wir. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung
1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 265 ff.
Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Leipzig 1990, S. 406
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seine Aufgabe darin besteht, bei der Partei zu stehen, in der Partei zu stehen
und für die Partei zu stehen.“4
Grotewohl skizzierte damit die auf den „Lehren“ von Marx und Lenin
basierenden Grundlinien der Eroberung und Instrumentalisierung des Staates
für die Zwecke der sozialistischen/kommunistischen Partei, die über einen
einfachen, wenn auch umfassenden Personalwechsel hinaus gingen. Die
beabsichtigte
Zerschlagung
des
bürgerlichen
Staates
ist
nach
seiner
Vorstellung verbunden mit dem Aufbau des sozialistischen Staates, der den
Weisungen der Partei unterworfen werden muss.5
Welche Dimension die Instrumentalisierung des Staates für Kommunisten in der
SBZ hatte, wird in den Worten des alten und neuen Parteifreundes von
Grotewohl, Heinz Lehmann, deutlich: „Dieser Staat muss unser sein […]. Aber
Staat bleibt Staat, d.h. er bleibt ein Unterdrückungsinstrument. Unser Staat hat
die Aufgabe, alles niederzuhalten, was den Weg zum Sozialismus aufhalten
will, und alles zu fördern, was ihm diesen Weg erleichtert. Dem hat sich auch
die Form der Verwaltung anzupassen, auch wenn die Blockparteien dabei
manchmal das Zittern bekommen. Ein Funktionär, der diese Aufgabe nicht
erfüllt, hat seinen Beruf verfehlt.“6
Die ehemaligen Sozialdemokraten hatten also schnell gelernt, worum es den
Kommunisten auf dem Weg zum Kommunismus ging: um die Zerstörung des
bürgerlichen Staates und den Aufbau einer „sozialistischen Demokratie“, die
politisch durch die „Diktatur des Proletariats“ und ökonomisch durch die
Verstaatlichung der Produktionsmittel gekennzeichnet war. Entgegen der
4
5
6
Otto Grotewohl: Die November-Revolution und die Lehren aus der Geschichte der
Arbeiterbewegung, Referat auf der 12. Tagung des Parteivorstandes der SED am
28./29. Juli 1948; zit. nach: Thomas Friedrich u.a. (Hg.): Entscheidungen der SED 1948.
Aus den stenografischen Niederschriften der X. bis XV. Tagung des Parteivorstandes
der SED, Berlin 1995, S. 226.
Vgl. zum Staatsverständnis von Kommunisten und ihren theoretischen Vordenkern:
Klaus Schroeder: Staatsverständnis und Herrschaftsformen der SED, in: Peter März
(Hg.): Vierzig Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S. 99
ff.
Friedrich (wie Anm. 4), S. 257.
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Propaganda- und Täuschungsparole vom „antifaschistisch-demokratischen
Neuanfang“ schlug die SED dank der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht
diesen Weg schon vor der Staatsgründung ein.7
Wohin dieser Weg führt, hatte Lenins theoretischer Widersacher, der
Sozialdemokrat Karl Kautsky, schon etwa dreißig Jahre zuvor geahnt, als er auf
die Gefahren einer Revolution ohne Zustimmung einer Mehrheit der
Bevölkerung hinwies. Er prophezeite die Entstehung einer bolschewistischen
Despotie mit einer sozialistischen Ausbeuterklasse, die ihre Herrschaft vor
allem auf terroristische Gewalt stützen würde. Für Kautsky war Sozialismus
untrennbar verbunden mit Demokratie, während umgekehrt Demokratie für ihn
sehr
wohl
auch
ohne
Sozialismus
denkbar
war.
Die
deutschen
Sozialdemokraten zogen schon frühzeitig einen Zusammenhang zwischen
Faschismus und Kommunismus. Schon im Mai 1922 hieß es im offiziellen SPDTheorieorgan „Die neue Zeit“: „Faschismus ist lateinischer Bolschewismus“.8
Die Gründung des SED-Staates
Nachdem sich im Laufe des Jahres 1947 Auseinandersetzungen zwischen den
„Verbündeten wider Willen“ der ehemaligen „Anti-Hitler-Koalition“ verschärft
hatten und die Westalliierten die Gründung eines „Weststaates“ forcierten,
konnte auch die SED die Gründung ihres Staates konkret vorbereiten. Am 7.
Oktober 1949 wurde auf Weisung Stalins die DDR gegründet. Auf eine
Legitimation durch Wahlen hatte die SED vorsichtshalber verzichtet. Ein Jahr
später durfte die DDR-Bevölkerung per „Einheitsliste“, auf der neben SED, CDU
und LDPD zwei weitere, erst 1948 gegründete Parteien – die NDPD und die
Bauernpartei – sowie einige Massenorganisationen vertreten waren, die
Abgeordneten der „Volkskammer“ wählen. Da die Verteilung der Sitze vorher
7
8
Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Kommunismus in Deutschland, in: Stéphan Courtois
(Hg.): Das Handbuch des Kommunismus · Geschichte · Ideen · Köpfe, München/Zürich
2010, S. 118 ff.
Vgl. Klaus Schroeder: Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik. Arbeitspapiere
des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 10, Berlin 1994
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festgelegt wurde, war die Wahl eine Farce. Dennoch fälschte die SED auch alle
künftigen Abstimmungen und erreichte so immer fast 100 % der Stimmen.
Auch wenn sie dies erst zwei Jahre später offiziell verkündete, verstand sich die
im April 1946 durch die Verschmelzung von SPD und KPD gegründete SED
von Beginn an als genuin kommunistische Partei. Sie rechtfertigte gemäß ihrer
theoretischen bzw. ideologischen Vorgaben die Unterwerfung des Staates unter
ihre Partei als Vollzug der „führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei“
sowie als „allgemeine Gesetzmäßigkeit“ im Rahmen der „welthistorischen
Mission“ des Proletariats und seiner Avantgarde.9 Der Staat wurde damit zum
wichtigsten Hebel der SED bei der Umgestaltung der Gesellschaft und der
Sicherung ihrer Macht; in ihren eigenen Worten ausgedrückt: „Die staatliche
Leitung ist die wichtigste Form, über die die Politik der Partei zur Leitung der
Gesellschaft realisiert wird.“10 Wie zuvor die KPdSU benutzte die SED die
personelle Besetzung des Staatsapparates auch zur Schaffung ihrer sozialen
Massenbasis, indem sie viele Verwaltungskräfte in Führungspositionen sowie
einen großen Teil der anderen alten Funktionseliten vertrieb und damit ihren
Kadern einen schnellen sozialen Aufstieg verschaffte.11
Entgegen marxistisch-leninistischen Vorstellungen erfolgten die Zerstörung des
bürgerlichen Staates und der Aufbau einer „Diktatur des Proletariats“ in der
SBZ/DDR freilich nicht durch eine Revolution, sondern durch die militärische
Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands und die sowjetische
Okkupation. Die DDR war mithin eine von deutschen Kommunisten geforderte
und unterstützte „koloniale Gründung der UdSSR“ (Gerhard Wettig).
Die sowjetische Besatzungsmacht übertrug die begrenzte und eingeschränkte
Staatsgewalt an die SED, die in der Folgezeit Partei, Staat und Gesellschaft
nach sowjetischem Vorbild formte. Jetzt wurde Realität, was die Parteiführung
9
10
11
Vgl. Waltraud Böhme u.a. (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989, S.
298/299.
Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Weichelt: Der Staat im politischen
System der DDR, (Ost-)Berlin 1986, S. 94.
Vgl. Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München
1998, S. 532 ff.
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schon im Frühsommer 1948 bei der offiziellen Verwandlung der SED in eine
marxistisch-leninistische Kader- und Massenpartei formuliert hatte: „Die
führende Rolle der Partei bedingt „[…], dass alle Parteileitungen die Fähigkeit
erwerben, den Staat, die Länder, Kreise und Gemeinden, die Betriebe, die
Industrie, die Landwirtschaft, die Schule, das kulturelle Leben usw., das alles zu
verwalten und zu führen“.12 Nach dieser Auffassung stand Parteiloyalität über
Staatsloyalität. Die DDR kann insofern mit Fug und Recht als SED-Staat
gekennzeichnet werden, der jedoch während seiner gesamten Existenz von
sowjetischer Unterstützung abhängig blieb und seine Macht in erster Linie auf
Gewalt und Zwang bzw. deren Androhung gründete. Eine demokratische
Legitimation besaß der sowjetisierte deutsche Teilstaat nicht.
Die staatlichen Verwaltungen sollten keine eigene Macht gewinnen, die aus
dem Spezialwissen von Fachleuten hätte erwachsen können. Deshalb achtete
die Parteiführung darauf, dass keine neutrale Bürokratie, sondern eine
politisierte Gesinnungsverwaltung sowjetischen Typs entstand.13 Sobald die
SED ihre Dominanz in staatlichen Institutionen gefestigt hatte, konzentrierte sie
sich auf den Ausbau ihres Parteiapparates, wobei es zu einer weitgehenden
Doppelung der Strukturen von Partei und Staat kam. Die Parteiinstanzen
blieben den staatlichen vorgeschaltet, leiteten die einzelnen Bereiche an und
kontrollierten sie gleichzeitig. Die Staatspartei SED übertrug zudem ihre
marxistisch-leninistischen
Prinzipien,
vor
allem
den
so
genannten
Demokratischen Zentralismus, bereits 1949 auf Staat und Gesellschaft.14
Die SED reklamierte für sich – und in einem formalen Sinn auch für ihre
Mitglieder – das Wahrheits- und Erkenntnismonopol und leitete hieraus die
führende Rolle der Partei ab. Dies sollte die Unterwerfung von Staat und
Gesellschaft rechtfertigen. In der sozialistischen Verfassung vom 6. April 1968
12
13
14
Zit. nach: Andreas Malycha: Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur
Partei neuen Typs in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996, S. 103/104.
Vgl. Hans-Peter Müller: „Parteiministerien“ als Modell politisch zuverlässiger
Verwaltungsapparate, in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale, Berlin
1998, S. 133 ff.
Vgl. Schroeder (wie Anm. 11), S. 59 ff.
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formulierte die Partei dementsprechend: „Die Deutsche Demokratische
Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische
Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung
der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus
verwirklichen.“ Der Verfassungsrang des Führungsanspruchs blieb auch in der
Verfassung von 1974 erhalten, die bis zum Ende der DDR gültig war; erst am 1.
Dezember 1989 wurde er durch die Volkskammer unter dem Druck der
Bevölkerung gestrichen.
Das leninistische Organisationsprinzip „Demokratischer Sozialismus“ bedeutete
eine strikte Hierarchisierung von Partei, Staat und Gesellschaft, indem sich die
jeweils untere Funktionsebene der höheren unterzuordnen hatte. Alle Bereiche
mussten sich den Weisungen der obersten Führung unterwerfen. Die
Parteiführung setzte mittels dieses Prinzips ihre Politik durch und verhinderte –
unter Bezugnahme auf das von Lenin verhängte Verbot der „Fraktionsbildung“
innerhalb der Kommunistischen Partei jegliche Entfaltung innerparteilicher
Demokratie. Das Attribut „demokratisch“ stellte angesichts des praktizierten
administrativen Zentralismus nur eine leere Floskel dar.
Unter diesen selbst definierten Voraussetzungen betrachtete die SED die DDR
selbstverständlich
als
ihren
Staat.
In
ihrem
Programm
stellte
sie
unmissverständlich fest: „In Gestalt der Deutschen Demokratischen Republik
errichtete und festigte die Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern und den
anderen Werktätigen ihre politische Herrschaft. Sie schuf den sozialistischen
Staat der Arbeiter und Bauern als eine Form der Diktatur des Proletariats.
Gestützt auf die Lehre des Marxismus-Leninismus, wurde die revolutionäre
Umgestaltung
der
Eigentumsverhältnisse
an
den
entscheidenden
Produktionsmitteln vollzogen und eine feste politische und ökonomische Basis
für die Lösung der sozialen, kulturellen und ideologischen Aufgaben der
sozialistischen Gesellschaft geschaffen.“15
15
Vgl. die Präambel des Programms der SED von 1976, S. 7.
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Das Verhältnis von Partei und Staat
An die Stelle der im politischen System moderner westlicher Gesellschaften
vorhandenen Gewaltenteilung trat in der DDR die Gewaltenkonzentration, d.h.
die legislative, judikative und exekutive Macht lag in den Händen der SEDFührung. In ihrem Aufbau folgte die SED dem Vorbild der sowjetischen KPdSU.
Im Zentrum der Macht saß der Generalsekretär bzw. Erste Sekretär des
Zentralkomitees (von 1950-1971 Walter Ulbricht; von 1971-1989 Erich
Honecker, im Herbst 1989 kurzzeitig Egon Krenz), der die wichtigsten
Funktionen in Partei und Staat auf sich vereinte. Er leitete die Sitzung des
Politbüros und des Sekretariats des ZK und war Chef des Zentralen
Parteiapparates, der für die Umsetzung der Beschlüsse der obersten
Parteigremien
verantwortlich
war.
Seit
1960
fungierte
der
jeweilige
Generalsekretär meist auch als Vorsitzender des Staatsrates und damit als
formales Staatsoberhaupt der DDR.
Die im SED-Politbüro getroffenen Entscheidungen waren sowohl für die
Gliederungen der Partei in den Bezirken und Kreisen der DDR als auch für den
gesamten Staatsapparat verbindlich. Die SED-Führung lenkte und kontrollierte
über ihren zentralen und regionalen Parteiapparat auch die anderen
Blockparteien und alle Massenorganisationen. Über ein so genanntes
Nomenklatursystem besetzte sie alle wichtigen Leitungsfunktionen in den
Parteien sowie in Staat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen. Die
Auswahl der Kader – wie das Personal genannt wurde – erfolgte aufgrund einer
mehrstufigen Hierarchie, nach der die jeweils zuständige SED-Gliederung
immer die letzte Entscheidung traf.
Das Primat der Partei vor dem Staat fand seinen Ausdruck in entsprechenden
Politbürobeschlüssen, in den Verfassungen von 1968 und 1974 sowie in den
Statuten verschiedener Ministerien. In einer Richtlinie ordnete die Parteispitze
bereits 1949 an, dass wichtige Gesetze, Verordnungen und Materialien „vor
ihrer Verabschiedung durch die Volkskammer oder die Regierung dem
Politbüro bzw. dem Sekretariat des Politbüros zur Beschlussfassung übermittelt
werden (müssen)“. Dieser ersten formellen Festschreibung des Vorrangs der
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Partei gegenüber dem Staat folgte in den fünfziger Jahren die „freiwillige“
Anerkennung der Führungsrolle der SED in Stellungnahmen und Beschlüssen
von Blockparteien und gesellschaftlichen Organisationen.16
In einem Politbürobeschluss vom Juli 1960 legte die Parteiführung schließlich
fest, dass „alle Beschlüsse des Zentralkomitees bzw. des Politbüros des ZK der
SED, die die staatliche Tätigkeit betreffen, als Vorlage unverändert dem
Ministerrat bzw. seinem Präsidium zu unterbreiten“ seien. Diesem Beschluss
folgten entsprechende „Ordnungen“ staatlicher Instanzen, die verkündeten,
dass in der DDR die Arbeiterklasse „unter Führung der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands“ die politische Macht ausübe und den Sozialismus
aufbaue.17
Neben dem Staatsapparat, den Massenorganisationen und den anderen
Blockparteien nutzte die SED auch das (sozialistische) Recht zur Durchsetzung
ihres Machtanspruchs. Das sozialistische Recht galt ihr als „Waffe im
Klassenkampf“, Rechtsfragen waren Machtfragen. Die SED-Führung konnte
jederzeit das Recht in ihrem Sinn auslegen. Es gab keine Kontrolle durch ein
Verfassungsgericht oder Verwaltungsgerichte. Die Partei ließ keinen Zweifel,
welche Funktion dem sozialistischen Recht zukam. „Das sozialistische Recht
verankert die sozialistischen und kommunistischen Errungenschaften. Es
schützt die sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsverhältnisse in
allen Lebensbereichen, es sichert und fördert deren Entwicklung. Das
sozialistische Recht ist Ausdruck und Instrument einer bewusst organisierten
Gesellschaft. Es dient der Entwicklung der bewussten Disziplin und des
Verantwortungsbewusstseins der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft.“18
Gemäß ihres Rechtsverständnisses ignorierte die Parteiführung auch alle
Dimensionen,
16
17
18
die
sich
aus
der
Unterzeichnung
internationaler
Vgl. Werner Müller: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), in: Martin
Broszat/Hermann Weber: SBZ-Handbuch, München 1990, S. 387 ff.
Vgl. Schroeder (wie Anm. 11), S. 388.
Marxistisch-leninistische Staats-Rechtstheorie. Lehrbuch. 3. Auflage, (Ost-)Berlin 1980,
S. 405 f.
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Menschenrechtskonventionen und -pakte ergaben. Gerechtfertigt wurde dieses
Verhalten – in fürchterlichem Funktionärsdeutsch – mit Hinweis auf die
historische Notwendigkeit, den Sozialismus aufzubauen und zu gestalten. „Das
sozialistische Recht ist Ausdruck der historischen Mission der Arbeiterklasse
und Instrument zu ihrer Verwirklichung. Mit Hilfe des sozialistischen Rechts
sichert
und
verwirklicht
der
sozialistische
Staat
die
Interessen
der
Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten, leitet und
schützt er die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.“19
Der ehemalige Pressesprecher des Generalstaatsanwalts der DDR, Peter
Przybylski, brachte nach dem Ende der DDR präzise auf den Punkt, was er in
den Jahren zuvor selbst erlebt und praktiziert hatte: „Mitglieder der SEDParteiführung haben zu allen Zeiten der DDR-Geschichte über dem Gesetz
gestanden. Sie waren der eigentliche Souverän, von dem alle Macht,
Gesetzgebung und Justiz einbegriffen, ausging.“20
Für den aufstrebenden SED-Juristen Gregor Gysi stand ebenfalls fest: „Die
sozialistische
Rechtswissenschaft
ist
parteilich
klassenbewusst.“21
und
Weiterhin heißt es in seiner Dissertation: „In der sozialistischen Rechtssetzung,
wie in der sozialistischen Rechtsverwirklichung, kommt die Macht der
Arbeiterklasse und ihrer Partei zum Ausdruck […] Daher gilt in der
sozialistischen
Gesellschaft,
unter
Überwindung
der
bürgerlichen
Gewaltenteilungstheorie, die Einheit von Beschlussfassung und Durchführung,
die in der einheitlichen Staatsmacht zum Ausdruck kommt.“22
Zur Durchsetzung ihres umfassenden Führungsanspruchs baute die SEDFührung zudem in Staat und Partei einen aus systematisch ausgewählten und
geschulten Kadern bestehenden Machtapparat auf. Partei- und Staatsapparat
waren personell und funktionell miteinander aufs Engste verflochten, wobei die
19
20
21
22
Kleines Politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989, S. 813.
Peter Przybylski: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 11.
Vgl. den Artikel von Martin Eich: Gysis Doktorarbeit. Nicht für den Klassenfeind
geeignet, in: FAZ vom 3. März 2011.
Zit. nach: Henryk M. Broder: Als Gysi das sozialistische Recht vervollkommnete, in: Die
Welt vom 28. Februar 2011.
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„Kompetenzkompetenz“
(Entscheidungsbefugnisse
über
Zuständigkeiten)
immer bei der Parteiführung lag. Die Konzentration der Macht in den Händen
der SED schloss jede Form von Gewaltenteilung im politischen System aus.
Zur Absicherung ihres Machtanspruchs vergrößerte die Parteiführung die Zahl
ihrer Nomenklaturkader von ca. 20.000 im Jahr 1951 auf über 300.000 im Jahr
1989. Über die Nomenklatur konnte die SED alle Leitungspositionen in Partei,
Staat, Wirtschaft und Massenorganisationen bestimmen und kontrollieren. Die
als „Kader“ bezeichneten Fach- und Führungskräfte standen auch nach ihrer
Berufung auf die vorgesehene Position unter ständiger Beobachtung des
Parteiapparates und mussten regelmäßig an speziellen Schulungskursen
teilnehmen, in denen ihnen die jeweiligen Vorgaben der Parteiführung vermittelt
wurden.23
Nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus entschied die jeweils
höhere Instanz über den Einsatz von Kadern der ihr untergeordneten Ebene.
So entstand ein zwar regional und sektoral abgestuftes, aber dennoch auf die
Zentrale fixiertes System. Über die Besetzung der höchsten Positionen
entschieden das Politbüro, das Sekretariat des ZK bzw. die Kaderkommission
des ZK. Mitte der achtziger Jahre erstreckte sich deren Zuständigkeit auf etwa
10.000 Nomenklaturfunktionen. Dieser Personenkreis repräsentierte in einem
weiten Sinne die Funktions- und Machtelite der DDR. Der letzte von der SED
gestellte Ministerpräsident, Hans Modrow, räumte nach dem Zusammenbruch
der DDR ein: „Faktisch wurde keine einigermaßen einflussreiche Position in der
DDR ohne Zustimmung des Politbüros oder des Sekretariats des ZK der SED
besetzt. Damit sicherte die SED-Führung ihre Macht und ihren Einfluss in allen
gesellschaftlichen Bereichen des Landes. Die Leitungen der anderen Parteien,
der Massenorganisationen und vieler weiterer Strukturen wurden dadurch
weitgehend entmündigt.“24
23
24
Vgl. Matthias Wagner: Ab morgen bist Du Direktor, Berlin 1998, S. 100 ff.
Hans Modrow (Hg.): Das Große Haus, Berlin 1994, S. 63.
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12
Durch die Anleitung, Steuerung und Kontrolle des Staates über den zentralen
Parteiapparat und die regionalen und lokalen Parteiorgane sowie durch die
zahlenmäßige Ausweitung des Nomenklaturprinzips verschmolzen Partei und
Staat gleichsam zu einer Einheit. Dem Staat als ausführenden Organ der SEDFührung war jeder Rest von substanzieller Eigenständigkeit genommen. Dies
galt auch für das Ministerium für Staatssicherheit, das offiziell als „Schild und
Schwert der Partei“ fungierte.25
Die wechselseitige Verknüpfung von Partei und Staat führte zu einer schwer
identifizierbaren Aufgabenteilung. Dies hatte für die Partei den Vorteil, dass sie
bei auftretenden Mängeln und Schwierigkeiten den staatlichen Instanzen die
Verantwortung zuschieben und für die Partei das Dogma der Unfehlbarkeit
aufrecht erhalten konnte. Die Regierung der DDR, der Ministerrat, war ebenso
wie der 1960 gegründete Staatsrat, der nach Ulbrichts Tod vornehmlich als
außenpolitische Repräsentationsinstanz diente, eine von der SED gesteuerte
Institution. Die Partei stand über Staat und Recht!
25
Vgl. Klaus Schroeder: Die DDR. Geschichte und Strukturen, Stuttgart 2011, S. 48 f.
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13
Quelle: Schroeder (wie Anm. 25), S. 38/39.
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Doch der kommunistischen Partei ging es mehr als um die Eroberung des
Staates und die Umgestaltung der Wirtschaftsordnung, sie wollte
gewissermaßen alles: die ganze Gesellschaft, den ganzen Menschen. Hiernach
durfte es weder Gewaltenteilung noch Pluralismus oder ausgeprägten
Individualismus geben. Alle Macht ging von der Parteiführung und deren
zentralem Apparat aus, die ihr ideologisches Interpretations- und Wertemonopol
geradezu metaphysisch untermauerte. Obwohl der totalitäre Anspruch der SED
in der Endphase der DDR bis in die mittlere Funktionärsschicht hinein erodierte,
gab die Partei ihren totalitären Machtanspruch nicht auf. In der rückblickenden
Gesamtschau lässt sich die DDR insofern von ihren äußeren Bedingungen her
als sowjetisierter deutscher Teilstaat und von ihrer inneren Struktur als (spät-)
totalitärer Versorgungs- und Überwachungsstaat darstellen.
Die Durchsetzung der Parteimacht
Im Laufe der etwa vierzigjährigen Existenz ihres Staates verfeinerte die SEDFührung zur Durchsetzung ihres Herrschafts- und Gestaltungsanspruchs die
Herrschaftsformen und –instrumente. Die nahezu vollständige Lenkung und
Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch die Partei vollzog sich dabei auf
folgenden Ebenen:
•
In
der
nach
dem
Prinzip
des
"Demokratischen
Zentralismus"
aufgebauten SED herrschten die Parteiführung und ihr zentraler Apparat
über alle Parteigliederungen, wobei nachgeordnete Instanzen die
Beschlüsse der Zentrale und der übergeordneten Gliederung in ihrem
Bereich
umzusetzen
Wissenschaft
erklärten
hatten.
Durch
Bezugnahme
Marxismus-Leninismus
auf
den
zur
definierte
sich
die
Parteiführung als Gralshüter von Wahrheit und Erkenntnis und entzog
sich damit jeglicher Kritik. Parteibasis und Funktionärskörper blieben
einem strengen Kontroll- und Disziplinierungsregiment unterworfen, so
dass jede Form innerparteilicher Kritik verhindert und unterbunden
werden konnte. Wenn doch einzelne Parteimitglieder, die nicht am
Sozialismus/Kommunismus, sondern an der konkreten Parteilinie
zweifelten, ihre Kritik äußerten, wurden sie gemaßregelt und mitunter
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hart bestraft. Die Partei, sprich: die Parteiführung, musste immer Recht
haben, denn – wie es in dem „Lied der Partei“ von Louis Fürnberg heißt:
„Sie hat uns alles gegeben. Sonne und Wind und sie geizte nie. Wo sie
war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie […].“ Erst nach dem
Fall der Mauer wurden an der Basis nennenswert Stimmen gegen die
Parteiführung laut.
•
Die Besetzung von Schlüsselpositionen in der Partei erfolgte durch die
engere Parteiführung, die sich gewissermaßen selbst rekrutierte und
"kontrollierte". Dabei hatte der jeweilige Generalsekretär bzw. Erste
Sekretär eine Machtfülle, die nicht nur das Zentralkomitee, sondern
faktisch auch das Politbüro entmachtete. In der Ära Honecker
bestimmten letztlich drei Personen – Erich Honecker, Erich Mielke und
Günter Mittag – die Richtlinien der Politik und damit in der „politischen
Gesellschaft“ (Agnes Heller) der DDR alle Sphären von Partei, Staat und
Gesellschaft.
•
Der zentrale Parteiapparat sowie seine regionalen Gliederungen waren
den
staatlichen
Abteilungsstrukturen
und
gesellschaftlichen
vorgelagert.
Der
Leitungs-
Parteiapparat
leitete
und
die
staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen an
und kontrollierte sie gleichzeitig. Die Beschlüsse der Partei hatten für sie
verbindlichen Charakter. Der Parteiapparat konnte zu jeder Zeit
korrigierend in den Ablauf staatlicher Politik eingreifen.
•
Die weitgehende Verstaatlichung der Wirtschaft ermöglichte der
Parteiführung, unkontrolliert über alle ökonomischen Ressourcen des
Landes
zu
verfügen.
Sie
schuf
hierüber
Anreiz-
und
Sanktionsmechanismen, die dem Aufbau und der Konsolidierung der
sozialen Basis ihrer Macht dienten. In geradezu feudalistischer Manier
wurde sozialen Aufsteigern suggeriert, sie würden alles der Partei
verdanken.
Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK
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•
Die Besetzung aller wichtigen Leitungsfunktionen in Staat, Wirtschaft und
wichtigen
gesellschaftlichen
Organisationen
erfolgte
nach
einem
Nomenklatursystem, das der Partei den direkten personellen Zugriff
gestattete.
Über
die
Aufnahme
in
die
oberste
Macht-
und
Funktionärselite der DDR bestimmte die engere Parteiführung selbst.
Ansonsten praktizierte die SED ihre Kaderauswahl und -politik durch ein
mehrstufiges und hierarchisiertes System, in dem die jeweils zuständige
Parteiinstanz immer die letzte Entscheidung traf.
•
In allen staatlichen Verwaltungen, wichtigen Betrieben, gesellschaftlichen
Institutionen etc. existierten Parteiorganisationen und -gruppen, deren
Leitung eine gesonderte Kontrollfunktion und zum Teil auch die direkte
Führungsrolle einnahm. Außerdem waren SED-Mitglieder nie zuerst
ihrem Vorgesetzten zur Loyalität verpflichtet, sondern immer vorrangig
der Parteidisziplin unterworfen.
•
Durch ein umfassendes Berichts- und Informationswesen sowie die
Arbeit des MfS verschaffte sich die Parteiführung einen zusätzlichen
Überblick über laufende Prozesse und das Verhalten von Personen, der
ihr als Grundlage für weitere Eingriffsmöglichkeiten diente.
•
Die
SED
sicherte
ihre
Macht
aber
nicht
nur
durch
soziale
Aufstiegsmöglichkeiten und die Androhung und Anwendung von Zwang
und Gewalt, sondern auch durch die marxistisch-leninistische Ideologie,
die ihr eine historische Legitimation zum Machterhalt zusprach. Daneben
band die Partei die neu entstandene sozialistische Intelligenz durch die
Formel vom Antifaschismus an sich.
•
Jenseits
der
marxistisch-leninistischen
Ideologie
formulierte
die
Parteiführung Werte und Normen einer sozialistischen Moral für das
alltägliche Leben. Den von Walter Ulbricht entworfenen „zehn Gebote(n)
der
neuen
sozialistischen
Sittlichkeit“,
die
konkrete
Verhaltensvorschriften enthielten, folgte im letzten SED-Programm von
1976 das Konzept der „sozialistischen Lebensweise“.
Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK
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•
Die nicht parteigebundene Bevölkerung sollte über die Mitgliedschaft in
Massenorganisationen an das sozialistische System gebunden werden.
Die Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft erfolgte über
Kollektive. Kollektives Denken und Verhalten sollte Individualität
zurückdrängen.
Letztlich gelang die Durchsetzung der Parteimacht nur, weil die SED-Führung
über einen umfangreichen Sicherheits- bzw. Unterdrückungsapparat verfügte.
In den achtziger Jahren waren ungefähr eine dreiviertel Million Menschen
haupt- oder nebenberuflich in diesem Bereich beschäftigt.26
Die Erosion der Parteimacht und der
Untergang des SED-Staates
Angesichts des beträchtlichen Repressionspotenzials musste die sich seit 1961
in ihrem Land eingesperrte Bevölkerung auf die eine oder andere Weise mit
den Verhältnissen arrangieren. Offener Widerstand und Opposition blieben von
1961 bis 1988 randständig, die Verweigerung zumindest in der Breite trug jetzt
Züge von Passivität und Doppelmoral. Doch die vermeintlichen Bindungskräfte
des
realen
Sozialismus
erwiesen
sich
angesichts
der
veränderten
weltpolitischen Lage als trügerisch.
Mit dem Machtantritt Gorbatschows in der UdSSR wurde – und hiermit konnte
die SED-Führung zumindest im Voraus nicht rechnen – die zentrale Säule der
Existenz ihres Staates brüchig: die Gewaltandrohung. Zwar verweigerte sich die
Partei den Reformen Gorbatschows, weil sie befürchtete, eine begrenzte
Öffnung der Gesellschaft, etwa durch die Gewährung der Pressefreiheit, könnte
einen Dammbruch à la Tschechoslowakei 1968 auslösen. Doch der in
Abgrenzung zur Sowjetunion flugs verkündete „Sozialismus in den Farben der
DDR“ besaß keine Aussicht auf Erfolg. Der ökonomische Niedergang und die
hohe Auslandsverschuldung, verbunden mit einer gewissen Abhängigkeit von
26
Vgl. Torsten Dietrich u.a. (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten
Organe der DDR, Berlin 1998.
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der Bundesrepublik, deuteten auf einen Wirtschaftskollaps verbunden mit
harten sozialen Einschnitten hin.27
Das Unheil für die SED-Führung begann im Laufe des Jahres 1989 an drei
Fronten, die schließlich zum Sturz der Diktatur führten. Außenpolitisch lösten
sich die ost- und mitteleuropäischen Satellitenstaaten, vor allem Ungarn und
Polen, von der Sowjetunion, die - inzwischen von der Breschnew-Doktrin
abgerückt - (gewisse) nationale Alleingänge tolerierte. Der Eiserne Vorhang
wurde durchlässig. Im Innern wurde die Partei von einer anschwellenden
Fluchtbewegung in Aufregung versetzt, deren Eindämmung nicht gelang.
Schließlich formierte sich eine zahlenmäßig kleine, aber beherzte Opposition,
die erst den Dialog mit den Mächtigen und dann das Ende der Diktatur forderte.
Wie hohl das Herrschaftsgebäude der SED über die Jahrzehnte geworden war,
zeigte das ausbleibende Aufbäumen selbst der mittleren und höheren
Funktionärsschichten, die viel zu verlieren hatten. Ihnen fehlte es an Mumm und
Überzeugung, sich der Dynamik der Straße entgegen zu stemmen. So sahen
sie fassungslos mit an, wie ein Jahr später die DDR von der Weltbühne der
Geschichte abtreten musste.
Die Machtpotenziale des sozialistischen Staates und der sie lenkenden und
kontrollierenden Partei – Gewaltapparat, ökonomische Verfügungs- und
ideologische Interpretationsmacht sowie die Loyalität der sozialistischen
Dienstklasse – waren erschöpft und seine Herrschaftsinstrumente ohne
Gewaltandrohung wirkungslos, so dass das geöffnete Ventil öffentlicher Räume
die im Verborgenen gewachsenen Kräfte freisetzte.
Gleichsam über Nacht verlor die Partei ihre personelle Basis. Registrierte die
SED im Jahr 1988 gut 2,3 Millionen Parteimitglieder und als die Mauer fiel, noch
über 2 Millionen Mitglieder, setzte danach ein deutlicher Massenaustritt ein.
Allein in den drei Monaten von November 1989 bis zum Januar 1990 verließen
27
Vgl. Klaus Schroeder: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was
zusammengehört, Berlin 2010, S. 87 ff.
Die SED als Staatspartei der DDR/StMUK
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knapp eine Million Personen die Partei. Bis zum 3. Oktober 1990 folgte ihnen
eine weitere knappe Million, so dass die inzwischen in PDS umbenannte
ehemalige Staatspartei anfangs knapp 300.000 Mitglieder hatte. Diese
Entwicklung deutet darauf hin, dass die Mehrzahl der SED-Mitglieder weniger
aus Überzeugung denn aus Opportunismus, d.h. aus Karrieregründen der
Partei beitrat und – als sich die Situation änderte – austrat.
Mit der ersten und einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 verlor die
SED ihren Status als „Staatspartei“. Statt der üblichen 98 % Wählerstimmen
erhielt sie nun nur etwas über 16 %. Die von der ostdeutschen Bevölkerung
erkämpfte Demokratie zeigte der sozialistischen Partei ihre Grenzen auf. Ihren
Staat hatte die Partei mit ihrem totalitären Gestaltungs- und Machtwillen selbst
ruiniert.
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Literatur:
Eich, Martin: Gysis Doktorarbeit. Nicht für den Klassenfeind geeignet, in: FAZ
vom 3. März 2011
Erler, Peter u.a.: Nach Hitler kommen wir. Dokumente zur Programmatik der
Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994
Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Weichelt: Der Staat im
politischen System der DDR, (Ost-)Berlin 1986
Böhme, Waltraud u.a. (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989,
S. 298/299
Broder, Henryk M.: Als Gysi das sozialistische Recht vervollkommnete, in: Die
Welt vom 28. Februar 2011
Dietrich, Torsten u.a. (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten
Organe der DDR, Berlin 1998
Friedrich, Thomas u.a. (Hg.): Entscheidungen der SED 1948. Aus den
stenografischen Niederschriften der X. bis XV. Tagung des Parteivorstandes
der SED, Berlin 1995
Kleines Politisches Wörterbuch, (Ost-)Berlin 1989
Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Leipzig 1990
Malycha, Andreas: Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur
Partei neuen Typs in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996
Marxistisch-leninistische Staats-Rechtstheorie. Lehrbuch. 3. Auflage, (Ost)Berlin 1980
Modrow, Hans (Hg.): Das Große Haus, Berlin 1994
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Müller, Hans-Peter: „Parteiministerien“ als Modell politisch zuverlässiger
Verwaltungsapparate, in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale,
Berlin 1998
Müller, Werner: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), in: Martin
Broszat/Hermann Weber: SBZ-Handbuch, München 1990
Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991
Schroeder,
Klaus:
Totalitarismustheorien.
Begründung
und
Kritik.
Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 10, Berlin 1994
Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR,
München 1998
Schroeder, Klaus: Staatsverständnis und Herrschaftsformen der SED, in: Peter
März (Hg.): Vierzig Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz,
München 1999
Schroeder, Klaus: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was
zusammengehört, Berlin 2010
Schroeder, Klaus: Die DDR. Geschichte und Strukturen, Stuttgart 2011
Schroeder, Klaus /Staadt, Jochen: Kommunismus in Deutschland, in: Stéphan
Courtois (Hg.): Das Handbuch des Kommunismus · Geschichte · Ideen · Köpfe,
München/Zürich 2010
Steininger, Rolf: Deutsche Geschichte seit 1945, Band: 1: 1945-1947,
Frankfurt/Main 1996
Wagner, Matthias: Ab morgen bist Du Direktor, Berlin 1998
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