Lebenslauf eines francophilen Geo|kolo gen
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Lebenslauf eines francophilen Geo|kolo gen
6FKZHUSXQNW(LJHQLQLWLDWLYH /HEHQVODXIHLQHVIUDQFRSKLOHQ*HR|NROR JHQ Von Joachim Orb, Grasse (Südfrankreich) Dr. Joachim Orb Avenue Rion Blanquet Les Emerandes 06130 Grasse Hier hatte ich die Möglichkeit, direkt ins fünfte französische Studienjahr, das sogenannte DEA (Diplôme d’études approfondies) in Meteorologie einzusteigen. Frankreich Tel.: 00 33 / 4 93 / 40 10 71 E-Mail: MRDFKLPRUE#VDSDJGH um Wintersemester 1990 nahm ich in Bayreuth das Studium der Geoökologie auf. Eine seltsame Begeisterung für Landkarten jeglicher Form und mein Interesse an Naturwissenschaften lösten diese Entscheidung in mir aus. Naturgemäß war ich damals vom baldigen Ende der Welt und meiner tragenden Rolle bei der Abwendung desselben überzeugt. Nach meinem Vordiplom schwankte ich bei der Wahl des Hauptfachs zwischen Meteorologie und Bodenphysik. Das dazugehörige chemische Begleitprogramm war für mich eher eine lästige Pflicht. =LHOZDUGLH$EZHQGXQJ GHVEDOGLJHQ :HOWXQWHUJDQJHV Neben dem Geoökologieprogramm besuchte ich ein paar Vorlesungen in Theoretischer Physik. Auch wenn auf dem Papier nur zwei Scheine dabei herausgekommen sind, hat sich die Investition doch gelohnt. Neben allgemeinen Rechenkenntnissen lernte ich dabei, wie sehr sich – selbst innerhalb der Naturwissenschaften – die Weltbilder unterscheiden. Im Herbst 1994 wechselte ich dank eines Stipendiums des DAAD für ein Auslandsjahr an die Université Blaise Pascal nach Clermont-Ferrand. Ã'($´GRSSHOWHU*OFNVIDOO Diese Wahl war von heute aus betrachtet ein Glücksfall in doppelter Hinsicht. Auf der einen Seite ist das DEA der Meteorologie in Frankreich als Verbindung zwischen dem Physikstudium und einer anschließenden Doktorarbeit vorgesehen und sein Abschluss berechtigt zur Promotion. Durch die Fokussierung auf die Meteorologie erhielt ich eine viel tieferen Einblick in diese und in ihre Methoden, als dies in Bayreuth möglich gewesen wäre. Zum anderen macht es das modulare französische Universitätssystem Quereinsteigern sehr leicht, einen Abschluss zu erreichen. Falls man zu einem dieser Module zugelassen wird – darüber entscheidet in der Regel der Dekan – und das Modul mit Erfolg abschließt, erhält man das entsprechende Diplom. Die Möglichkeit, das Diplom in Frankreich zu erreichen, hielt ich in den ersten Wochen des Studienjahres noch für utopisch. Zu den sprachlichen Problemen gesellte sich noch das Hindernis von ca. 20 abzulegenden schriftlichen Prüfungen innerhalb von drei Monaten. Der Auslandsaufenthalt sollte eigentlich nicht nur in Arbeit ausarten, sondern auch dazu dienen, Land und Leute kennen zu lernen. Nachdem dann jedoch die ersten Prüfungen recht erfolgreich verliefen, schien das DEA nicht mehr so unerreichbar. Die Aussicht, nach einem Jahr mit dem Abschluss in der Tasche nach Deutschland zurückkehren zu können und sich dadurch Diplomarbeit und -prüfung dort zu ersparen, war dann auch Motivation genug, sich durch die Prüfungen zu quälen. An den theoretischen Teil des DEA schloss sich im März das sogenannte „Stage“ an. Dieses entspricht einer kleineren deutschen Diplomarbeit. Die Themengebiete sind schon am Anfang der Diplomarbeit genau definiert und sowohl das Anfangsdatum als auch das Abgabedatum stehen von vorneherein fest. )UDQ]|VLVFKH 'LSORPDUEHLWHQNHLQH 3VHXGR'LVVHUWDWLRQHQ Im allgemeinen stehen für die Diplomarbeit vier Monate zur Verfügung. Dies hat den Vorteil, dass zu PseudoDissertationen aufgeblasene Diplomarbeiten (die in Deutschland meiner Meinung nach in erster Linie zur Ausbeutung von Diplomanden dienen) in Frankreich nicht möglich sind. Die französischen Absolventen sind dadurch am Ende ihres Studiums nicht schlechter als ihre deutschen Kollegen – aber ca. vier bis fünf Jahre jünger! Im Rahmen meines Stages beschäftigte ich mich mit dem Einfluss von Wolken auf die Ozonchemie der Troposphäre. Dabei verwendeten wir ein zweidimensionales Modell einer konvektiven Wolke, das mit einem Chemiemodul zur Simulation von ca. 50 chemischen Spezies in der Gasphase und den Wolkentröpfchen gekoppelt wurde. achdem mir meine Diplomarbeit viel Spaß gemacht hatte, fiel die Wahl, ans Studium noch eine Dissertation zu hängen, nicht schwer. An der ETH in Zürich erhielt ich die Möglichkeit, mich weiterhin mit der Modellierung von Wolkenchemie zu 6FKZHUSXQNW(LJHQLQLWLDWLYH beschäftigen. Das Ziel der Arbeit war es, Modellresultate mit Daten einer Messkampagne zu vergleichen. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass dies eine mühsame und unbefriedigende Tätigkeit ist. Modell und Messungen ließen sich nur schwer zur Dekkung bringen. Anstatt die Problematik, die zu diesen Schwierigkeiten führten zu analysieren, wurde versucht, die Resultate mit Hilfe freier Parameter in eine bestimmte Richtung zu drängen. Falls dann einige Variablen Ähnlichkeiten mit den Messergebnissen aufwiesen, wurde dies als erfolgreiche Validierung des Modells gedeutet. Im Falle des Misslingens dieser Fingerübung wurden die wissenschaftlichen Fähigkeiten des Modellierers in Frage gestellt. Über die wissenschaftliche Leistung entschied die Kunst des Parameterfittings. hEHUGLHZLVVHQVFKDIWOLFKH /HLVWXQJHQWVFKLHGGLH .XQVWGHV 3DUDPHWHUILWWLQJV Andererseits wurde auch schnell klar, dass in Systemen mit komplizierten nicht-linearen Interaktionen – wie sie in den Umweltwissenschaften die Regel sind – auch umfangreiche Datensätze nur wenig zur Kenntnis dieser Systeme beitragen. Aus diesen lassen sich bestenfalls singuläre Ereignisse untersuchen, nicht jedoch allgemeine Aussagen über Interaktionen innerhalb eines Systems treffen. 9RQGHU$QDO\VH ZRONHQFKHPLVFKHU0RGHOOH Glücklicherweise gelangen mir die „Fingerübungen“, und ich erhielt dafür meinen Doktortitel. Die erwähnten Schwierigkeiten wurden normalerweise nicht wahrgenommen oder verdrängt. Meine Versuche, die Analyse des Problems in meine Dissertation zu integrieren, wurden mit der Begründung, dies würde die Qualität der Arbeit schmälern, abgelehnt. Gerade diese Untersuchungen stellten jedoch meiner Mei- nung nach den eigentlichen Erkenntnisgewinn meiner Dissertation dar, und das Verdrängen des Problems führten zu ziemlicher Frustration meinerseits. Dank dieser Erfahrungen fiel es mir leicht, mich von der Wissenschaft zu verabschieden und bei SAP in Sophia Antipolis in Südfrankreich einzusteigen. Die eigentliche Motivation für die Arbeit bei SAP war jedoch eine gewisse Neugier auf Funktionsabläufe in der Wirtschaft. Eine Arbeit in der ERPBranche (Enterprise Resources Planning) ist dafür natürlich besonders gut geeignet. Dazu kam, dass es durch die Programmierkenntnisse, die ich im Laufe meiner Diplom- und Doktorarbeit gesammelt hatte, recht einfach war, eine Arbeit in der Informatikbranche zu finden. ]XU$QDO\VHYRQ *HVFKlIWVSUR]HVVHQ Bei der ERP geht es darum, mögliche Geschäftsprozesse zu analysieren und anhand von Computerprogrammen vorauszuplanen bzw. nachzuzeichnen. Daraus resultieren dann Programme zur Buchhaltung, Lagerverwaltung oder Produktionsplanung. Meine eigentliche Arbeit besteht in der Entwicklung von Schnittstellen zwischen einer speziellen Lösung von SAP für Telekommunikationsunternehmen und sogenannten Drittsystemen (d. h. Computerprogrammen, die spezielle Funktionen anbieten, die SAP nicht gewährleisten kann). Dabei bin ich von der Problemanalyse über Design der Software (eine Art technische Zeichnung des Programms) und der Umsetzung in den Programmcode bis hin zum Test der von mir entwickelten Programme für sämtliche Schritte zuständig. Das eigentliche Programmieren nimmt nur ca. 10 bis 20 % der Arbeitszeit in Anspruch. Der relativ umfangreiche Aufgabenkatalog sorgt glücklicherweise für Abwechslung. om formalen Inhalt der Programme kann dies leider nicht behauptet werden: Bei den Geschäftsprozessen geht es in erster Linie darum, vorhandene Daten neu zu kombinieren oder neu angefallene Datensätze auf einer Datenbank abzulegen. Die zu programmierenden Prozeduren sind sehr einfach und stehen in keinem Verhältnis zu den ausgefeilten numerischen Lösungsschemata, wie sie z. B. in der wissenschaftlichen Softwareentwicklung Verwendung finden. Im Gegensatz dazu wird bei der Programmierung im Rahmen der Betriebswirtschaft sehr großen Wert auf Detailarbeit gelegt. Sämtliche Ereignisse, die im Rahmen eines Geschäftsprozesses möglicherweise auftreten könnten, müssen in das Konzept aufgenommen und von der Software abgebildet werden. Kurz: Buchhaltung ist – sobald man ihre Grundprinzipien verstanden hat – leider nicht mehr so prickelnd. Natürlich hat neben meiner Neugier auf die neue Arbeit auch die Lage des Arbeitsplatzes eine wichtige Rolle bei meiner Entscheidung für SAP gespielt. Sophia Antipolis ist ein auf dem Reißbrett entworfener Technopark und liegt im Städtedreieck Nizza – Cannes – Grasse an der Côte d’Azur. Das Mittelmeer ist ca. 10 km, die ersten Ausläufer der Alpen ca. 15 km von meinem Büro entfernt. Da Arbeitskräfte die einzige Ressource in der Informatikbranche darstellen, ist die Côte d’Azur prädestiniert für diese Art von Industrieansiedlung. azit sind für mich drei Punkte. Erstens: Mit einer gewissen Grundkenntnis in Informatik und ein wenig Programmiererfahrung ist es zur Zeit relativ einfach, einen Arbeitsplatz in der Softwareindustrie zu finden. Die eigentliche Programmiertätigkeit macht dabei aber nur einen geringen Teil der Arbeit aus. Deswegen spielt auch das Anwendungsgebiet der jeweiligen Software eine wichtige Rolle bei der Berufswahl. 'LH,QIRUPDWLNEUDQFKHLVW HLQHLQWHUHVVDQWH $OWHUQDWLYH Zweitens: Das schnelle Wachstum und die sich dauernd verändernden Struktu- 6FKZHUSXQNW(LJHQLQLWLDWLYH ren machen die Informatikbranche zu einer interessanten Alternative auf dem Arbeitsmarkt. Gerade von technischen Neuentwicklungen geht ein gewisser Anreiz aus. Deshalb bereue ich meinen Schritt weg von den Naturwissenschaf- ten nicht. Da mir der Kontakt zu Menschen bei meiner Tätigkeit als Entwickler aber ein wenig zu kurz kommt, suche ich mittelfristig eher eine Beschäftigung im Bereich Beratung oder Schulung. Drittens: Im November auf dem Balkon zu frühstücken ist nicht das Schlechteste ... n Forum Geoökol. 10 (3), 1999, S. 13-15