Band 4. Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866

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Band 4. Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866
Band 4. Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890
Geheimer Rückversicherungsvertrag mit Russland (18. Juni 1887)
Bismarcks Bündnissystem hatte Österreich eng an Deutschland gebunden, in erster Linie durch
den Zweibund von 1879. Um einen Zweifrontenkrieg zu verhindern, versuchte Bismarck zudem,
Russland an Deutschland zu binden. Als der Dreikaiserbund zwischen Österreich, Deutschland
und Russland 1887 auslief, wurde ein neues Abkommen mit Russland für notwendig erachtet.
Das Ergebnis war der geheime Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Russland
– vielleicht das umstrittenste unter Bismarcks komplizierten Bündnissen. Der Text dieses
Vertrages hat Ähnlichkeiten mit dem Dreikaiservertrag von 1881. Die beiden Mächte versichern
einander, dass sie in einem zukünftigen Konflikt wohlwollend neutral bleiben werden, außer bei
einem unprovozierten Angriff Deutschlands auf Frankreich oder Russlands auf ÖsterreichUngarn. Im Übrigen bemühte sich Bismarck um die Vermeidung jeglicher Widersprüche zu
seinen Verpflichtungen gegenüber seinem Verbündeten Österreich-Ungarn. Der Vertrag
beinhaltete jedoch ein streng geheimes Zusatzprotokoll, das bis zum Ersten Weltkrieg nicht an
die Öffentlichkeit drang. Das Protokoll war weniger leicht mit Deutschlands Festhalten am Zweiund Dreibund in Einklang zu bringen. Diese Unvereinbarkeit – als Zeichen für Bismarcks
Verzweiflung bewertet, sein Bündnissystem gegen Ende seiner Laufbahn aufrecht zu erhalten –
resultierte1890 in der Nichtverlängerung des geheimen Rückversicherungsvertrags.
Geheimer Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Rußland
vom 18. Juni 1887
Die Kaiserlichen Höfe von Deutschland und Rußland, von dem gleichen Wunsche beseelt, den
allgemeinen Frieden durch eine Verständigung zu festigen, die die Verteidigungsstellung der
beiderseitigen Staaten sichern soll, haben beschlossen, im Hinblick darauf, daß der
Geheimvertrag und das Geheimprotokoll, die von Deutschland, Rußland und Österreich-Ungarn
im Jahre 1881 unterzeichnet und im Jahre 1884 erneuert wurden, am 15./27. Juni 1887
ablaufen, das zwischen ihnen bestehende Einvernehmen durch ein Sonderabkommen zu
bekräftigen.
[Sie haben durch ihre Bevollmächtigten vereinbart]:

Nämlich das Dreikaiserbündnis. [Alle Fußnoten stammen aus: Ernst Rudolf Huber, Hg., Dokumente zur
Deutschen Verfassungsgeschichte, 3. bearb. Aufl., Bd. 2, 1851-1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1986, S.
498-99. ]

Es folgt die Benennung der beiderseitigen Bevollmächtigten: des Grafen Herbert v. Bismarck, des
Staatssekretärs des Auswärtigen Amts, und des Grafen Paul Schuwalow, des russischen Botschafters in
Berlin (1885–94).
1
Art. I. Für den Fall, daß eine der hohen vertragschließenden Parteien sich mit einer dritten
Großmacht im Kriege befinden sollte, wird die andere eine wohlwollende Neutralität bewahren
und ihre Sorge darauf richten, den Streit örtlich zu begrenzen. Die Bestimmung soll auf einen
Krieg gegen Österreich oder Frankreich keine Anwendung finden, falls dieser Krieg durch einen
Angriff einer der hohen vertragschließenden Parteien gegen eine dieser beiden Mächte
hervorgerufen ist.
Art. II. Deutschland erkennt die geschichtlich erworbenen Rechte Rußlands auf der
Balkanhalbinsel an und insbesondere die Rechtmäßigkeit seines vorwiegenden und
entscheidenden Einflusses in Bulgarien und Ostrumelien. Die beiden Höfe verpflichten sich,
keine Änderung des territorialen status quo der genannten Halbinsel ohne vorheriges
Einverständnis zuzulassen und sich gegebenenfalls jedem Versuche, diesem status quo
Abbruch zu tun oder ihn ohne ihr Einverständnis abzuändern, zu widersetzen.
Art. III. Die beiden Höfe erkennen den europäischen und gegenseitig bindenden Charakter des
Grundsatzes der Schließung der Meerengen des Bosporus und der Dardanellen an, der
begründet ist auf dem Völkerrechte, bestätigt durch die Verträge und zusammengefaßt in der
Erklärung des zweiten Bevollmächtigten Rußlands in der Sitzung des Berliner Kongresses vom
12. Juli (Protokoll 19).
Sie werden gemeinsam darüber wachen, daß die Türkei keine Ausnahmen von dieser Regel
zugunsten der Interessen irgendeiner Regierung dadurch macht, daß sie den Teil ihres
Reiches, den die Meerengen bilden, für militärische Operationen einer kriegführenden Macht
hergibt. Im Falle einer Verletzung oder um einer drohenden Verletzung vorzubeugen, werden
die beiden Höfe der Türkei erklären, daß sie eintretendenfalls sie als im Kriegszustande
gegenüber der verletzten Partei befindlich und die ihrem territorialen status quo im Berliner
Vertrage verbürgten Sicherheitswohltaten als verwirkt ansehen werden.
Art. IV. Der gegenwärtige Vertrag soll während eines Zeitraumes von 3 Jahren, gerechnet vom
Tage des Austausches der Ratifikationen an, in Geltung bleiben.
Art. V. Die hohen vertragschließenden Parteien versprechen einander, über den Inhalt und das
Bestehen des gegenwärtigen Vertrages und des beigefügten Protokolls Schweigen zu
bewahren.

Die durch den „Berliner Vertrag“ geschaffene Provinz Ostrumelien, die nominell unter der Hoheit des
Türkischen Reichs verblieb, de facto aber seit 1885 durch einen Staatsstreich als Provinz Südbulgarien
dem Königreich Bulgarien einverleibt war.

Der Rückversicherungsvertrag wurde nach dem Ablauf der dreijährigen Geltungsdauer (Ende Juni
1890) nicht verlängert. Der Sturz Bismarcks und die mit dem Kanzlerwechsel eintretende Änderung der
deutschen Außenpolitik führten dazu, daß Deutschland das russische Verlängerungsangebot verwarf.
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Art. VI. Der gegenwärtige Vertrag soll ratifiziert und die Ratifikationen sollen in Berlin binnen 15
Tagen [ . . . ] ausgetauscht werden.
Ganz geheimes Zusatzprotokoll
Um die Bestimmungen der Art. II und III des Geheimvertrages vom heutigen Tage zu
vervollständigen, sind die beiden Höfe über folgende Punkte übereingekommen:
1. Deutschland wird wie bisher Rußland beistehen, in Bulgarien eine geordneten und
gesetzmäßige Regierung wiederherzustellen. Es verspricht, in keinem Falle seine Zustimmung
zur Wiedereinsetzung des Prinzen von Battenberg zu geben.
2. In dem Falle, daß Seine Majestät der Kaiser von Rußland sich in die Notwendigkeit versetzt
sehen sollte, zur Wahrung der Rechte Rußlands selbst die Aufgabe der Verteidigung des
Zuganges zum Schwarzen Meer zu übernehmen, verpflichtet sich Deutschland, seine
wohlwollende Neutralität zu gewähren und die Maßnahmen, die Seine Majestät für notwendig
halten sollte, um den Schlüssel seines Reiches in der Hand zu behalten, moralisch und
diplomatisch zu unterstützen.
3. Das gegenwärtige Protokoll bildet einen untrennbaren Bestandteil des am heutigen Tage in
Berlin unterzeichneten Geheimvertrages und soll dieselbe Kraft und Geltung haben.
Quelle: B. Schwertfeger, Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871-1914, Bd. 1,
S. 315ff.
Abgedruckt in Ernst Rudolf Huber, Hg., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3.
bearb. Aufl., Bd. 2, 1851-1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1986, S. 498-500.
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