Aufmucken gegen Obrigkeiten Kreis Mainz
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Aufmucken gegen Obrigkeiten Kreis Mainz
Aufmucken gegen Obrigkeiten BRAUCHTUM Karnevalsvereine bewahren das Typische der hiesigen Fassenacht Fortsetzung von Seite 1 Die Not ist – ein Jahr vor der Währungsreform – sehr groß. Anton Maria Keim spricht in seinem Buch „11 Mal politischer Karneval“ von der Fassenacht der Nachkriegszeit als „Trümmerkarneval“, der ein Stück Notbewältigung war und der sich in den Motivbereichen des Hungers, der Kalorienillusionen, der nackten materiellen Not und des Schwarzen Marktes bewegt habe. Ja, der Schwarzhandel blüht. Um zu überleben, tauscht man noch vorhandene Wertsachen ein. Als Zweitwährung entwickeln sich amerikanische Zigaretten. Selbst von Besatzungssoldaten weggeworfene Kippen werden sorgfältig gesammelt. Hohen „Koddelwert“ haben in den Nachkriegsjahren auch Blechdosen vom „Jeppes“, Vorläufer des Unternehmens Bericap. Was waren wir damals so schlank!! Knapp 1000 Kalorien stehen jedem pro Tag zu, selten wird das erreicht. 1000 Kalorien – das sind 18 Gramm Zucker, 9 Gramm Kaffee-Ersatz, 18 Gramm Nudeln, 27 Gramm Grieß, 375 Gramm Brot, 5 Gramm Butter, 2 Gramm Käse, 14 Gramm Fischmarinaden und 30 Gramm Fleisch. Dazu kommen 355 Kubikzentimeter Magermilch. Seppel Glückert fasst diese ernste Lage und lächerliche Rationierung in einem Vierzeiler zusammen: Die Kalorien im Verbrauch Kein’ Unterschied sie machen, Ob du vor Kohldampf hältst den Bauch, Ob du ihn hältst – vor Lachen. Der Kohlenklau geht um, und kaum jemand würde darin eine Todsünde oder eine Straftat sehen, nicht einmal der Kölner Erzbischof Frings. Heizmaterial hat einen beträchtlichen Wert. Und wer in Budenheim die ersten Fassenachtssitzungen nach dem Krieg besuchen will, der muss neben einem geringen Obolus auch fünf Briketts mitbringen, damit der Saal geheizt werden kann! In solchen Zeiten, 1946/47 ebenso wie 1925, wächst der Wunsch, sich aus der Depression des Alltags zu lösen, ein kleines Stückchen Lebensqualität zu gewinnen. „Eine gute Stunde lässt zehn schlechte vergessen“, lautete deshalb folgerichtig das Motto der Budenheimer Narren beim Neubeginn, getragen vom unbändigen Willen, freier zu atmen und Vor 50 Jahren hielten Prinzessin Gisela Avenarius-Herborn und Prinz Manfred Philippi beim Carneval Verein Gau-Algesheim Hof. Vorn rechts Page Christa Bischel, vorn links Günter Hattemer als Till, im Hintergrund rechts Martin Klesy, genannt „Bombo-Martin“, der vom Jahr 1950 bis zum Jahr 1953 als Prinz funFoto: Privatarchiv Fränz Hassemer giert hatte. gegen Obrigkeiten aufzumucken. Das war hier bei uns schon immer so, daraus resultiert – im Vergleich zum Kölner Karneval oder zum Schicki-Micki-Fasching in München – das Typische unserer Fassenacht. Anton Maria Keim bindet mit seinen Überlegungen gleich ganze Jahrhunderte Fastnachtsgeschichte, wenn er sinngemäß sagt: „Die Weisheit des Narren in der Bütt bedeutet: Wissen, dass die Kurfürsten und Könige, die Besatzer und Sieger, die Napoleons und Metternichs kommen und gehen; es bleibt der Bürger.“ Ist das nicht tröstlich? Dr. Willi Scheu hat die besondere Aufgabe des Narren einmal so definiert: „Er kritisiert und will belehren Und bringt so manches an das Licht. Wer Ohren hat, herauszuhören, Der hört’s. – Mehr will der Narr auch nicht.“ Das Hören zwischen den Zeilen ist ihm also wichtig! Der Bajazz mit der Laterne hat in die stillen Winkel gesellschaftlicher, politischer und moralischer Narreteien geleuchtet. Und die soll es ja zu allen Zeiten geben. Auch heutzutage. Narren haben den Herrschen- den gegenüber besondere Freiheiten – ob Hofnarr, Till Eulenspiegel oder der Redner in der Bütt. Martin Hassemer, langjähriger Sitzungspräsident in GauAlgesheim, hat ihnen allen eine gemeinsame Prämisse zugeordnet: „Ihr Humor muss echt, befreiend und versöhnlich sein und darf keineswegs ätzen, moralisieren oder gar verletzen.“ Farbtupfer im grauen Alltag Was wäre unsere Gesellschaft ohne die vielen Frauen und Männer, die in ihrer Freizeit gemeinsame Einzelinteressen zu Allgemeininteressen bündeln, aus dem Ich-Gefühl ein Wir-Gefühl entwickeln, die sich zusammentun in Gruppen, Vereinen und Verbänden, um im grauen Alltag Farbtupfer zu markieren, Menschen, die nicht gleich – wenn sie eine Aufgabe übernehmen – fragen: Was kriege ich denn dafür? Lohnt sich das denn? Und dabei nur an klingende Münze und knisternde Scheine denken. Ja: Ehrenamtliches Wirken für die Gemeinschaft lohnt sich. Es ermöglicht Geselligkeit, die uns Rheinhessen vor allen anderen auszeichnet. Ehrenamtliches Wirken kann ein tiefes Glücksgefühl vermitteln, wenn Mühen und Anstrengungen in Erfolge münden, wenn Konzepte und Planungen stimmen und durch die Bestätigung des Geleisteten das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl gesteigert wird. Ehrenamtliches Wirken kann innere Befriedigung vermitteln. Das gilt nicht allein für jene, die lorbeerumkränzt und mit Orden dekoriert im Rampenlicht stehen und für ihr Tun öffentlichen Applaus erfahren, sondern gleichermaßen für das große Heer stiller Helfer, zu denen der rauschende Beifall nur gedämpft dringt. Ehrenamtliches Schaffen sollte aber immer auch gewürdigt werden durch Hochachtung vor jenen, die sich unermüdlich einsetzen, durch Anerkennung von außen, aber auch intern – im Verein, im Vorstand. Ministerpräsident Kurt Beck hat das in seiner Neujahrsbotschaft 2013 getan. Er sagte: „Durch ehrenamtliches Engagement wird unser Zusammenleben wertvoll. In RheinlandPfalz setzen sich 41 Prozent der Bevölkerung freiwillig für andere ein. Helfen Sie mit, dass sich der Gedanke einer aktiven und solidarischen Bürgergesellschaft noch stärker entfalten kann.“ Und Landrat Claus Schick betonte: „Das Ehrenamt ist eine der Säulen unserer Gesellschaft, und ohne die vielen Menschen, die sich unentgelt- lich in ihrer Freizeit für andere einsetzen, wäre vieles nicht möglich.“ In Sportvereinen mag jeder für sich noch den Vorteil nutzen, etwas für seine Gesundheit zu tun. In der Pflege der Kultur, die sich beispielsweise Gesangvereine, Literaturzirkel, Volkshochschulen und Karnevalvereine aufs Banner geschrieben haben, besticht ein anderer Akzent. Hier stehen nicht Höhen und Weiten, Technik und Schnelligkeit im Vordergrund, sondern die Bewahrung des Brauchtums, die Nutzung seiner Werte für die Gestaltung der Gegenwart in Verbindung mit einem hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft. Martin Hassemer hat unsere Fassenacht blumig beschrieben, zum Schluss auch ein bisschen von Wehmut geprägt: „Mit Pauken und Trompeten zieht in den ersten Wochen jeden neuen Jahres ein imaginärer ‚Prinz’ in nahezu allen Städten und Dörfern der ‚Rheinischen Narrenstraße’ ein. Sein romantisches Reich ‚Narragonien’ ist utopisch, und seine Würdenträger und Vasallen hat noch keiner gezählt. Bunt sind die Farben seiner Standarten, und die phantasievollen Uniformen seiner Garden und Musikanten sind mit schillernden Orden und klingenden Schellen übersät. So prachtvoll jedoch die Aufmärsche, so glänzend die Empfänge und so wortgewaltig die Reden am Hofe ‚Seiner Tollität’ auch sein mögen – am Aschermittwoch fällt nach alter Zunft und Sitte alle Macht und Herrlichkeit dieses verlockenden Staatsgepräges jäh und schmerzlos wieder in sich zusammen.“ Unser Trost ist allerdings, dass ein Jahr später die gleiche Zeremonie von Neuem beginnt, ein unendlich scheinender Kreislauf närrischen Treibens, den auch Theodor Storm meint, wenn er sagt: „Drum, wer, solang das Jahr sich misst, nicht einmal herzlich närrisch ist, wie wäre der zu andrer Frist wohl jemals ganz vernünftig!“ Ein Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag. In diesem Sinn brauchen unsere Vereine viel Lachen, viel Kreativität und Einfallsreichtum seiner Akteure und viel Fortune bei der Bewahrung unseres Brauchtums, auch wenn dieses sich neue Formen sucht. In diesem Entwicklungsprozess, verbunden mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber kommerzieller Unterhaltung, liegt die Chance unserer Fassenacht. 58. JAHRGANG – NR. 1 – JANUAR / FEBRUAR 2013 Kreis Mainz-Bingen total närrisch BRAUCHTUM Viele Karnevalsvereine entstanden in ärmlichen Zeiten Von Günter F. Hattemer Lendenschurz aus Bananenblättern bekleidet! So also sah die Welt zwei Jahre nach der Inflation von 1923 aus: Zukunftsängste, wirtschaftliche Not, Friedenssehnsucht und das Bedürfnis, sich aus dieser Situation wenigstens ein paar Stunden zu befreien, wieder einmal herzhaft zu lachen. Denn: Lachen ist gesund. Und der kluge Thomas Sydenham meinte gar: „Die Ankunft eines Clowns ist für die Gesundheit einer Stadt wertvoller als 30 mit Medikamenten beladene Esel.“ August Fürst in Mainz hat dies damals – 1925 – in einer Büttenrede formuliert: MAINZ-BINGEN. Im Landkreis Mainz-Bingen gibt es viele traditionsreiche Karnevalvereine. Der älteste ist der Binger Karneval Verein, 1833 gegründet, also zehn Jahre bevor der österreichische Regiments-Kapellmeister Karl Zulehner den Mainzer Narrhallamarsch komponierte. Der BKV ist also auch älter als die älteste Mainzer Garde, die Ranzengarde von 1837, und als der Mainzer Carneval Verein von 1838. Es gab immer wieder Phasen von Gründungen, so auch Ende des 19. Jahrhunderts – beispielsweise der Carneval Verein Oppenheim (1873), der CV Wäschbächer in Ingelheim (1885), der Ingelheimer Carneval Verein (1898), der CVFW in FreiWeinheim (1900), der Carneval Verein Entenbrüder in Nackenheim (1900), der Nieder-Olmer Carneval Club (1903), der Karnevalverein Waldalgesheim (1905), der Weilerer Carneval Verein (1908). Geht auch die ganze Welt verkracht, Geht’s Glück aach stets danewe, Wir halte trotzdem Fassenacht, solang als wie wir lebe. CCB 1925 gegründet Der Jubiläumsorden des Carneval Clubs Budenheim. Weitere Phasen folgen vor den Weltkriegen: CV Gau-Algesheim (1912), CV Schwabenheim (1927), Karnevalsgesellschaft „Schwarze Elf“ Bingen (1927), CV Bodenheim (1935), Sponsemer Stechert (1937) und CV Heidesheim (1938). Schließlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg etliche Neugründungen, so zum Beispiel in Nierstein (1946), Sörgenloch (1948), Lörzweiler (1949), Guntersblum (1950) und Weiler (Carneval Club 1956). Es gibt aber auch eine Reihe von Vereinen, die ihre Tradition in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut haben: der Sprendlinger Carnevalverein von 1960, die Karnevalsgesellschaft GeHo in Gensingen-Horrweiler von 1969, die Welgesheimer Wiesbachnarren von 1982, der Aspisheimer Carnevalverein von 1984, der Nieder-Olmer Carneval Verein von 1988 und der Karnevalclub Undenheim von 1998. Der Carneval Club Budenheim (CCB) feiert in dieser Kampagne närrische 8 mal 11 Jahre seit der Gründung 1925 und 6 mal 11 Jahre Neubeginn der närrischen Aktivitäten nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei gab es – wie in vielen Orten – bereits zwei „Vorläufer: „Die Rheischnoke“ und „Die Schnuffler“. 1923 gründeten sportliche Männer eine Karnevalsabteilung in der Turngemeinde. Sie machten sich dann 1925 in einem eigenen Verein selbstständig. Gründer waren Anton Rathgeber, Peter Berg XI, Jakob Veit, Josef Veit, Josef Prokasky II, Josef Schöffel, Johann Krautkrämer, Traugott Jehle und Heinrich Jehle. Hinzu kommen einige Mitglieder, denen die Chronik maßgeblichen Anteil am Erfolg be- scheinigt: Rudi Lumb, Willi Kost, Hans Fischer, Josef Desoy, Janny Freber und Josef Weidmann. Was wären die Vereine ohne einen unermüdlichen Vorstand, ohne die vielen Jokusjünger auf und hinter der Bühne! Ohne die vielen Handwerker beim Bühnenaufbau und der Dekoration? Ohne die Redner und Sänger, ohne die Ballettgruppen und Komitees und – seit 2007 auch in Budenheim – ohne eine Garde, hier sogar mit der Besonderheit einer Hundestaffel. Keiner kann die vielen Stunden addieren, die sie alle „ihrem“ Club und damit der örtlichen Gemeinschaft geschenkt haben – für Gotteslohn, versteht sich! Was war das eigentlich für eine Zeit, in der der CCB gegründet wurde? 1925: Reichspräsident Friedrich Ebert stirbt, Paul von Hindenburg wird sein Nachfolger. Foto: Hattemer Stresemann schlägt Frankreich einen Sicherheitspakt vor. Der erste Band von Hitlers „Mein Kampf“ erscheint. Der Massenmörder Fritz Haarmann stirbt unter dem Fallbeil. In der Kunst sieht man Anfänge des Surrealismus, einem schottischen Techniker gelingt die erste Fernsehübertragung eines beweglichen Objektes. In Berlin wird der FKKFilm „Wege zu Kraft und Schönheit“ uraufgeführt. Nach Bubikopf und Hängekleid provozieren jetzt ein strenger Herrenschnitt und männliche Modeaccessoires. Die Frau trägt Melone, Hemdkragen und Krawatte, einige ganz Mutige wagen sich – Vorbild für unsere Kanzlerin – sogar in den Hosenanzug. Die Männerwelt ist schockiert. Nicht schockiert ist die Männerwelt dagegen, wie Josephine Baker in Paris tanzt – nur mit einem Nicht viel anders ist das im Jahr der Wiederzulassung des CCB durch die französische Besatzungsmacht, 1947, zwei Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs. Am 23. Januar informiert Bürgermeister Unkelhäuser den CCB-Vorsitzenden Peter Berg XI über ein Schreiben des Chefs des Militärgouvernements der französisch besetzten Zone. In der deutschen Übersetzung heißt es unter anderem: „Betr. Endgültige Zulassung des Carneval-Clubs Budenheim Ich unterrichte Sie, dass gleichlautend mit den Vorschriften des Gesetzes Nr. 25 vom 12.12.1945 des Herrn Generaladministrateurs Sie dem Präsidenten des Carneval-Clubs Budenheim die Zulassung des Vereins mitteilen können. Die Satzungen hingegen müssen unverzüglich berichtigt werden, insofern eine Bedingung aufzunehmen ist, nach der die Militärregierung eine Prüfung aller um Aufnahme ersuchenden Interessenten durchführt, die ehemals Mitglieder der NSDAP, ihrer Organisationen oder Aktivisten waren.“ Fortsetzung auf Seite 4