LEITARTIKEL Freut Euch des Lebens

Transcription

LEITARTIKEL Freut Euch des Lebens
EINTRACHT
STAATSFEIERTAG 2003
LEITARTIKEL
Freut Euch des Lebens !
Ich habe diesem Leitartikel das altbekannte und vielgesungene Lied
von Martin Usteri aus dem 18. Jahrhundert zugrunde gelegt.
Die erste Strophe lautet:
Freut Euch des Lebens,
weil noch das Lämpchen glüht;
pflücket die Rose,
eh' sie verblüht!
Ich staune immer wieder bei meinen Fahrradtouren und Wanderungen über die unermessliche Schönheit unserer Landschaft, über die
Blütenpracht, die herrliche Blumenwelt und vor allem jeden Morgen
über das grossartige Konzert der Vogelwelt.
Lodernde Freudenfeuer werden am
Staatsfeiertag auf den Gipfeln unserer Berge entzündet. Diese Feuer,
früher ein Zeichen der Gefahr, sind
heute Zeichen des Dankes und der
Freude darüber, dass wir heute leben dürfen in einer schönen Gegend, in der verhältnismässig besten, gerechtesten, fürsorglichsten
Welt, die es je in unserer Geschichte gegeben hat. Dafür sollten wir
dankbar sein und, wie es im Lied
heisst, uns des Lebens freuen.
Die zweite Strophe lautet:
Man schafft so gern sich Sorg und Müh!
Sucht Dornen auf- und findet sie,
und lässt das Veilchen unbemerkt,
das uns am Wege blüht.
Die grosse lettische Dichterin Zenta
Maurina sagte, «dass unser Leben
nur so viel Sinn hat, als es Liebe in
die Tat umsetzt» und damit wirklich
glückliche Menschen schafft. Letztere sind in der Lage, auch unter den
widrigsten Umständen, die eigentlich nur Verzweiflung zulassen,
noch Kleinigkeiten und Veilchen zu
entdecken, die ihnen Freude berei-
ten und Kraft zum Durchhalten geben nach dem alten und schönen
Spruch: «Wenn du glaubst es geht
nicht mehr, kommt von irgendwo
ein Lichtlein her!» Ich wünsche allen Leserinnen die Gabe, dieses
Lichtlein zu beachten und sich an
ihm zu erfreuen.
Die dritte Strophe lautet:
Wenn rings die Schöpfung sich verhüllt
und lauter Donner ob uns brüllt,
so lacht am Abend nach dem Sturm
die Sonne doch so schön!
In einer Gesellschaft, in welcher das
Gemeinsame und Verbindende immer mehr abhanden kommt, die
sich immer weiter ausdifferenziert,
muss das Wenige, das Verbindende,
das ist die Familie, gestärkt werden,
denn ohne Gemeinschaft kann der
Mensch nicht leben. Das Bekenntnis zur Familie darf aber nicht mit
einer Idealisierung verwechselt werden. Wenn lauter Donner nicht nur
über uns und unseren Bergen, sondern auch in der Familie zu hören
ist, dann sollte man nicht vergessen
und sich darauf freuen, dass es
nichts Schöneres gibt als eine Bergtour nach einem Gewitter und in der
Familie heisst es, das Schönste am
Donner sei die Versöhnung nach
dem Sturm, wie es im Lied heisst «so
lacht am Abend nach dem Sturm die
Sonne doch so schön.»
Die vierte Strophe lautet:
Wer Neid und Missgunst sorgsam flieht,
und Genügsamkeit im Gärtchen zieht,
dem schiesst sie gern zum Bäumchen auf,
das gold'ne Früchte trägt.
Der deutsche Alt-Bundespräsident
Herzog meint: «Das Band, das uns
alle verbindet, ist doch das Bewusstsein, dass unsere Lebenszeit eng begrenzt ist. Warum versuchen wir
dann nicht entschlossen und gemeinsam, allen Beteiligten wieder
Zeit zu verschaffen und diese auch
optimal zu nutzen? Zeit ist das
Wichtigste.» Man kann sie auch
nicht aufbewahren, man kann sie
aber allen jenen schenken, den Kindern, Enkeln, Grosseltern, den Eltern, Verwandten, Kranken, Nachbarn und Betagten, Freunden, Mitarbeitern und Einsamen, die wegen
unserer Betriebsamkeit oft zu kurz
kommen. Man sollte sich besinnen
auf das Wesentliche, dies könnte
heilsam sein, könnte zum Bäumchen wachsen, das goldene Früchte
trägt.
Die fünfte Strophe lautet schliesslich
wie folgt:
Wer Redlichkeit und Treue liebt
und gern dem ärmer'n Bruder gibt,
da siedelt sich Zufriedenheit
so gerne bei ihm ein.
Wichtig ist, dass wir in unserem
Leben dem Materiellen nicht allzu
viel Wert beimessen und zur Erkenntnis gelangen, dass noch andere Werte zählen als das Geld.
Ein Gemeinwesen funktioniert nur,
wenn immer wieder Menschen dazu bereit sind, unentgeltlich in den
Dienst der Allgemeinheit zu treten.
Man muss glücklich machen, um
glücklich zu sein.
Verlorene Zeit kann nicht zurückgeholt werden, jedes Jahr, jeder Tag,
jede Stunde, an denen wir uns nicht
am Leben erfreuen, ist Verlust von
kostbarer Lebenszeit,
unwiederbringlicher Verlust. Darum freut
Euch des Lebens und die Zufriedenheit hält bei Euch Einkehr. Ich
habe bei den Pfadfindern etwas
Wichtiges und etwas Bedeutungsvolles gelernt, nämlich das Versprechen: «Jeden Tag mindestens eine
gute Tat». Dieses Versprechen umgesetzt macht selber froh und glücklich, denn, so meint Maurice Maeterlinck: «Man muss glücklich machen, um glücklich zu sein.»
Dies sind Gedanken, über die es
sich wohl lohnt anlässlich des
Staatsfeiertages auch in Liechtenstein nachzudenken. Ich wünsche
Ihnen im Namen der gesamten Redaktion, dass Sie zu den Menschen
zählen, denen diese Gedankengänge noch zugänglich sind und Sie
das Ihrige dazu beitragen, dass unsere mit Schönheit gesegnete und
mit Reichtum versehene Heimat
Liechtenstein liebens- und lebenswert bleibt.
Adulf Peter Goop