Grollen im Darm
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Grollen im Darm
Rubrik Quelle Ressort Autor Johannes Gutenberg-Universität DIE ZEIT vom 01.03.2007, Seite 39 Wissen Ulrich Bahnsen Grollen im Darm Milch verträgt, wer ein Mutant ist: Dank einer Genveränderung begann der Mensch vor 7000 Jahren, sich an Laktose zu gewöhnen Das Zeug ist überall. In Puddings, in Fertiggerichten, Wurst und Tütensuppen. In Schokolade, Brot oder Eiscreme, sogar in Antibabypillen. Am meisten steckt in Milch: satte 50 Gramm Laktose, vulgo Milchzucker, in jedem Liter. Der Stoff ist schuld daran, dass Millionen Deutschen häufig schlecht wird. Bauchschmerzen, Blähungen oder Durchfall, sogar Erbrechen und Darmkoliken plagen Menschen, die an Laktose-Intoleranz leiden, sobald sie zu viel Milchzucker zu sich nehmen. Während in Nord- und Mitteleuropa und der europäischstämmigen Bevölkerung Nordamerikas und Australiens zwischen 80 und nahezu 100 Prozent der Menschen Laktose bestens vertragen, muss schon in Spanien oder Griechenland jeder Zweite Milchprodukte verweigern. Unter Asiaten sind Milchtrinker eine exotische Spezies. Die seltsame Aufspaltung der Menschheit in Milchzuckerliebhaber und Laktose-Verächter lange Zeit ein Rätsel gilt Evolutionsforschern und Genetikern inzwischen als faszinierendes Recherchefeld. Hier, so glauben sie, könne man die Evolution bei der Arbeit beobachten und vor allem erkunden, wie kulturelle und biologische Evolution die Gene des Menschen umformen. Sicher scheint inzwischen, dass Laktose-Unverträglichkeit der ursprüngliche Zustand des Menschen ist. Das änderte sich in Europa erst in der Jungsteinzeit. "Die neolithischen Europäer vertrugen zunächst alle keinen Milchzucker", versichert der Mainzer Paläogenetiker Joachim Burger, "sie konnten zwar Rindfleisch essen, aber keine Kuhmilch trinken." Doch damals, vor rund 7000 Jahren, startete gleichsam ein Großversuch der Evolution. Die Menschen Europas wurden zum ersten Versuchskaninchen im großen Milchtest. Danach kamen die Afrikaner dran. Ausgelöst wurde der Feldversuch der Natur durch die Erfindung der Landwirtschaft. Als sich zu Beginn der Jungsteinzeit Ackerbau und Viehzucht in Europa ausbreiteten, ver- fügten die oft von Hunger gebeutelten Menschen über eine neue wertvolle Nahrungsquelle, die sonst nur Babys zu Gebote stand: Milch, ein Saft vollgestopft mit Eiweiß, Fett, Vitaminen und eben Zucker. Doch den Versuch, die Milch ihrer Kühe zu trinken, dürften die Steinzeitler zunächst ebenso mit Bauchgrimmen bezahlt haben wie ihre heutigen Leidensgenossen, stellte Burgers Forscherteam nun bei genetischen Untersuchungen jungsteinzeitlicher Skelettfunde aus Europa fest. Die Ursache des Ungemachs ist ein eigentlich normaler Enzymmangel. Ab dem fünften Lebensjahr versiegt im Dünndarm die Produktion von Laktase, einem Eiweiß, das bei Säuglingen den Milchzucker der Muttermilch in seine Bestandteile Glukose und Galaktose spaltet. Laktose selbst kann vom Darm nicht aufgenommen werden. Fehlt das Enzym, wandert der Milchzucker weiter in den Dickdarm und wird dort zur Nahrungsquelle für Darmbakterien. In deren Stoffwechsel entstehen aus Laktose eine Reihe von Stoffen, die den Darm peinigen: Milch- und Essigsäure, Kohlendioxid, Wasserstoff und Methan. Erst vor fünf Jahren haben finnische Genetiker erkundet, warum heute, nur 400 Generationen später, der Darm der meisten europäischstämmigen Menschen trotz Milchzucker Ruhe gibt: Sie sind Mutanten. In ihrem Erbgut ist ein einziger Genbaustein verändert. Er befindet sich im regulierenden Abschnitt des LCT-Gens, das für die Herstellung des milchzuckerspaltenden Enzyms zuständig ist. Als Folge der Veränderung wird das Gen nach der Stillphase nicht mehr abgeschaltet, die Träger der Mutation produzieren auch als Erwachsene noch genug Laktase, um Milchzucker verwerten zu können. Obwohl auch in manchen Gegenden Afrikas Milchtrinker häufig vorkommen, konnten die Genetiker die Genvariante der Europäer auf dem schwarzen Kontinent praktisch nicht finden. Und doch muss sich bei den Hirtenvölkern Afrikas eine ähnliche Geschichte der Anpassung an den Milchzucker abge- spielt haben, verkündeten Sarah Tishkoff und ihr Forscherteam erst vor drei Monaten in Nature Genetics. Die Genetiker von der University of Maryland sammelten, zuweilen unter abenteuerlichen Umständen, Hunderte Blutproben bei Angehörigen von 43 verschiedenen ethnischen Gruppen in Ostafrika. Auch die Lösung des Rätsels der afrikanischen Milchzuckertoleranz steckt in den Genen, stellte Tishkoffs Team fest. Angehörige von Völkern der Nilo-Sahara-Sprachfamilie in Tansania und Kenia verdanken die Fähigkeit, das laktosespaltende Enzym auch als Erwachsene zu produzieren, ebenfalls einer Mutation im LCT-Gen, allerdings einer anderen als der europäischen. Diese Genvariante begann sich dort vor 6800 Jahren auszubreiten. Zwei weitere Genveränderungen im LCT-Gen fanden die Forscher bei Menschen in Nordsudan und im nördlichen Kenia. In jener Zeit dürfte sich auch die Milchwirtschaft in diesen Regionen verbreitet haben. Mit der neuen Milchzuckerverträglichkeit muss ein enormer Überlebensvorteil verbunden gewesen sein. Die genetischen Analysen zeigen, dass die Träger der Laktase-Mutationen in Afrika wohl bis zu zehnmal so viele Nachkommen großziehen konnten. Dadurch verbreiteten sich die Genvarianten außerordentlich schnell in der Bevölkerung, ein Phänomen, das die Genetiker als positive Selektion bezeichnen. Doch angetrieben wurde sie durch eine kulturelle Errungenschaft, die Erfindung der Landwirtschaft. In Afrika dürfte Milch dabei nicht nur als zusätzliche Kalorienquelle gedient haben. Der Saft enthält außer Eiweiß, Fett und Zucker vor allem Wasser. Milchtrinker überstanden daher Dürreperioden besser als Menschen mit Laktose-Intoleranz. Die wurden beim Versuch, ihren Durst mit Milch zu löschen, zusätzlich gestraft. Durch Erbrechen und Diarrhö verlor ihr Körper noch mehr Wasser. Auch die europäische Variante des LCT-Gens muss sich rasant unter den Menschen ausgebreitet haben. Dies zeigen Befunde, die das Paläogenetikteam 5 von Joachim Burger diese Woche im Fachblatt PNAS präsentiert. Im Erbmaterial von acht jungsteinzeitlichen Skeletten aus dem 6. Jahrtausend vor Christus und in einem rund 4000 Jahre alten Knochenfund, allesamt aus Nord- und Zentraleuropa, stießen sie stets nur auf die ursprüngliche LCT-Genvariante. Trotz der geringen Probengröße, versichert Burger, ließen statistische Berechnungen den Schluss zu, dass die Euro- päer zu jener Zeit noch praktisch vollzählig unter Milchzuckerunverträglichkeit litten. Dass es heute nahezu umgekehrt ist, dass Milchtrinker in Europa die Regel und Laktose-Intoleranz eher die Ausnahme darstellen, demonstriere die Macht der Evolution. Sarah Tishkoff bestätigt, die Mutationen im LCT-Gen seien "die stärkste genetische Signatur der natürlichen Selektion, die jemals bei Menschen gefunden wurde". Abbildung: In Asien vertragen fast nur kleine Kinder Milch 6