Arbeitshilfen Unterrichtsvorschläge Katholisches Filmwerk

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Arbeitshilfen Unterrichtsvorschläge Katholisches Filmwerk
Arbeitshilfen
Unterrichtsvorschläge
Katholisches Filmwerk
HEAVEN
Deutschland/USA/Frankreich 2000
Spielfilm, 93 Min.
Produktion: X Filme/Miramax/Mirage Enterprises/Noe Prod.
Ausführende Produzenten: Harvey Weinstein, Agnès Mendré, Sydney Pollack
Produzenten: Anthony Minghella, Maria Köpf, William Horberg, Stefan Arndt,
Frédérique Dumas
Regie: Tom Tykwer
Buch: Krzysztof Kieslowski, Krzysztof Piesiewicz
Kamera: Frank Griebe
Schnitt: Mathilde Bonnefoy
Musik: Arvo Pärt, Tom Tykwer, Marius Ruhland, Niki Reiser
Darsteller: Cate Blanchett (Philippa Paccard), Giovanni Ribisi (Filippo), Remo
Girone (Filippos Vater), Stefania Rocca (Regina), Alessandro Sperduti (Ariel),
Mattia Sbragia (Major Pini), Stefano Santospago (Vendice), Alberto di Stasio
(Staatsanwalt).
FSK: ab 12
Preise und Auszeichnungen:
Deutscher Filmpreis in Silber 2002
Goldene Kamera 2002 für Cate Blanchett
Kinotipp der katholischen Filmkritik, Februar 2002
Filmtipp der kirchlichen Filmbeauftragten in der Schweiz: Film des Monats Juni
2002
Kurzcharakteristik
Mit „Heaven“ hat der deutsche Regisseur Tom Tykwer („Lola rennt“) ein nachgelassenes Drehbuch des 1996 verstorbenen polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski verfilmt. Darin erzählt er die Geschichte einer Lehrerin, die ein Attentat
gegen einen in Drogengeschäfte verwickelten Geschäftsmann verüben will und dabei ungewollt vier unschuldige Menschen tötet. Beim Verhör auf dem Polizeipräsidium lernt sie einen jungen Carabiniere kennen, der sich in sie verliebt und ihr
zur Flucht verhilft. Die Reise in die Toskana wird für die beiden zu einem spirituellen Exerzitium, bei dem sie sich der eigenen Schuld stellen, aber auch eine
Läuterung durch die Kraft der Liebe und Vergebung erfahren. In ästhetisch ausgefeilter und komplexer Weise setzt Tykwer die ungewöhnliche Geschichte um,
die wie ein Thriller beginnt, dann aber zunehmend die spirituelle Dimension der
Geschichte herausstellt und den Zuschauer mit Fragen nach dem Sinn des Lebens,
nach Gerechtigkeit, Schuld und Erlösung durch die Kraft der Liebe stellt.
Einsatzmöglichkeiten
„Heaven“ stellt ethische Probleme und Sinnfragen zur Diskussion und ist in der
ästhetischen Gestaltung überaus anspruchsvoll. Dies verlangt aufmerksame Zuschauer, die bereit sind, sich auf ein Filmkunstwerk einzulassen, das sich von gängigen Sehgewohnheiten abhebt.
Einsatzalter
Der Film enthält Handlungselemente – das Attentat, die Drogengeschichte, Verhör
und Flucht, eine Liebesgeschichte –, die durchaus auch für Jugendliche ab 14 Jahren nachvollziehbar sind. Dennoch ist die Einordnung der Themen in den Gesamtzusammenhang des Films nicht einfach, weil die ethischen Bewertungen –
z. B. im Hinblick auf die Selbstjustiz – mitunter nicht so explizit ausgesprochen
werden, wie es vielleicht für jüngere Zuschauer wünschenswert wäre. Daher ist der
Film in erster Linie für die Arbeit mit älteren Jugendlichen ab 16 Jahren und für
Erwachsene empfehlenswert.
Themen
Der Film ist im Rahmen diverser Filmreihen einsetzbar, zu „Religion im Film“ allgemein, zu genrespezifischen Themen (Kriminalfilm, Thriller) oder zu folgenden
konkreten Themen:
Drogenhandel, Engel, Erlösung, gesellschaftliche Verantwortung, Grenzerfahrungen, Gerechtigkeit, Identität, Kommunikation, Kriminalität, Korruption, Lebensbilanz, Liebe, nicht gelebtes Leben, Selbstjustiz, Sinn des Lebens, Schuld, Spiritualität, Symbole, Tod.
Zielgruppen
Außerschulische Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Aus- und Weiterbildung von
Theolog(inn)en und von Sozialarbeiter(inne)n / Sozialpädagog(inn)en.
Schule: Gymnasium Sek. II.
Fächer: Religion, LER/Ethik, Deutsch, Gemeinschaftskunde, Geschichte
Filmgeschichtlicher Kontext
Da der Film wesentlich inspiriert ist durch das Werk Krzysztof Kieslowskis, ist es
denkbar, den Film mit einem Film von Kieslowski zu kombinieren („Ein kurzer
Film über die Liebe“ bzw. „Dekalog VI“, „Die zwei Leben der Veronika“). Ein
anderes Vorgehen wäre drei Filme zu kombinieren: einen Film von Kieslowski
(„Dekalog“, einen Film der „Drei Farben“-Trilogie), einen Film von Tom Tykwer
(z. B. „Winterschläfer“ oder „Der Krieger und die Kaiserin“) und „Heaven“ als das
Werk, das sozusagen die Welten beider Regisseure zusammenführt bzw. vereint.
Die DVD enthält 18 einzeln anwählbare Sequenzen bzw. Kapitel:
1: Prolog: Wie hoch kann ich fliegen?
2: Vorspann / Der Anschlag
3: Das Verhör
2
10: Der einzige Grund
11: Vollendung des Plans
12: Der Morgen danach
4:
5:
6:
7:
8:
9:
Filippos Faszination
Philippas Geschichte
Manipulation
Kontaktaufnahme
Anweisungen
Die Flucht
13:
14:
15:
16:
17:
18:
Schuldgefühle
Ein Wiedersehen
Geheimes Treffen
Der letzte Abend
Im Himmel
Abspann
Inhalt
(Die Ziffern entsprechen der Kapitelanwahl der DVD)
[1] Der Film beginnt mit einer Art Prolog: ein Computerbildschirm zeigt ein Flugsimulationsprogramm. Ein junger Mann (Filippo) steuert einen virtuellen Hubschrauber immer höher, bis das Programm abstürzt.
[2] Eine junge blonde Frau, die Engländerin Philippa Paccard, plant ein Attentat.
Sie versteckt eine Bombe im Zimmer des Chefs der Ulcom Electronics in Turin.
Während Philippa sich entfernt und die Sekretärin mit einem Anruf weglockt, leert
die Putzfrau den Papierkorb mit der Bombe. Der Zufall will es, dass sie einen
Fahrstuhl betritt, in dem ein Vater mit zwei Kindern auf dem Weg nach oben ist.
Der Fahrstuhl explodiert.
[3] Philippa wird von der Polizei verhaftet und verdächtigt, einer terroristischen
Gruppe anzugehören. Sie besteht beim Verhör darauf, dass sie in ihrer Muttersprache (Englisch) sprechen darf. [4] Ein junger Polizeibeamter, der das Protokoll
führt, Filippo, meldet sich für die Aufgabe des Dolmetschers. Als Philippa erfährt,
dass nicht der Konzernchef, sondern vier unschuldige Menschen getötet worden
sind, bricht sie zusammen. [5] Das Verhör gibt Aufschluss über die Hintergründe
von Philippas Attentat. Ein Studienfreund von Philippas Mann, der Konzernchef
Vendice, ist einer der wichtigen Drahtzieher in der Drogenszene. Philippas Mann
ist an einer Überdosis gestorben; in ihrer Schule, in der sie als Englischlehrerin
tätig ist, gibt es drogenabhängige Jugendliche, erst unlängst ereignete sich ein tragischer Selbstmord. Philippa hat versucht, die Polizei über die Machenschaften
Vendices zu informieren, aber es gab keinerlei Reaktion. So hat sie sich entschlossen, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. [6] Der Polizeichef, Major Pini, ist
– wie sich herausstellt – ein Vertrauter Vendices und hat offenbar dafür gesorgt,
dass die Anzeigen nicht weitergeleitet wurden.
[7] Filippo beschließt Philippa zu befreien. [8] Er spielt ihr ein Diktiergerät zu,
auf dem er ihr seinen Fluchtplan erläutert. Major Pinis Leute überwachen Philippa
in der Untersuchungshaft mit versteckten Abhörgeräten und erfahren so von den
Plänen. [9] Dennoch gelingt die Flucht, weil Filippo in letzter Minute den Plan
überraschend geändert hat.
Filippo versteckt Philippa auf dem Dachboden des Polizeipräsidiums. Philippa
trägt schwer an der Schuld, die sie durch das verunglückte Attentat auf sich geladen hat. [10] Sie denkt aber nicht an Flucht, sondern daran, ihre ursprüngliche Absicht doch noch umzusetzen. Filippo spielt für sie den Lockvogel. [11] Er lockt
Vendice in das Gerichtsgebäude, wo Philippa ihn erschießt.
3
[12] Gemeinsam reisen beide in die Toskana nach Montepulciano, wo Philippa ihre
Jugend verbracht hat. [13] Dort erleben sie eine Phase der spirituellen Läuterung.
[14] Sie werden Zeuge einer Hochzeitsfeier, Philippa erkennt unter den Gästen ihre
Freundin Regina. [15] Filippos Vater sucht sie dort auf, um ihnen Hilfe anzubieten, muss aber einsehen, dass er in dieser schicksalhaften Situation machtlos ist.
[16] Philippa erkennt ihre Liebe zu Filippo und findet ihren Glauben wieder. Die
beiden verstecken sich auf Reginas Bauernhof. [17] Doch die Polizei spürt die Gesuchten auf. Ein großes Polizeiaufgebot rückt an und durchsucht den Bauernhof.
In einem unbeobachteten Moment gelingt es den beiden, in einen Polizeihubschrauber zu springen. Filippo steuert ihn senkrecht hoch – in den Himmel hinein. Die Schüsse der Polizei erreichen den Hubschrauber nicht mehr. [18] Abspann.
Autor und Regisseur
Der Film ist gewissermaßen das Werk zweier großer Regisseure, einzigartig insofern, als Tykwer nicht einfach Kieslowski imitiert, sondern in seine eigene Bilderwelt hineinholt. Tykwer hat in Interviews mehrfach betont, dass er den Stoff
nicht gemacht hätte, wenn er nicht beim Lesen des Buches den Eindruck gehabt
hätte, dies sei sein ureigenstes Thema.
Krzysztof Kieslowski (1941–1996), der früh verstorbene polnische Regisseur,
gehört zu den herausragenden Vertretern des europäischen Kinos der 80er und 90er
Jahre. Er begann seine Arbeit in den 70er Jahren mit Dokumentarfilmen, näherte
sich dann aber dem Spielfilm, weil er erkannte, dass bestimmte Entscheidungssituationen im Dokumentarfilm nicht adäquat zu erfassen sind. Mit dem Film „Der
Zufall möglicherweise“ (1981), in dem er die Geschichte eines jungen Studenten
in Warschau in drei Variationen erzählt, formuliert er sein von da an zentrales
Thema der Frage nach dem Zufall oder der höheren Ordnung im menschlichen Leben und die Schwierigkeiten der richtigen Entscheidung in bestimmten Lebenssituationen. Dieses Thema erfuhr seine Zuspitzung in der Zusammenarbeit mit dem
Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz, mit dem er seine folgenden Filmprojekte entwickelte. Der Höhepunkt war die zehnteilige Fernsehserie „Dekalog“ (1988/89),
in der er die ethische Relevanz der Zehn Gebote in Alltagsgeschichten aus dem
gegenwärtigen Polen untersuchte. Zwei Filme dieser Reihe („Ein kurzer Film über
das Töten“, 1987, und „Ein kurzer Film über die Liebe“, 1988) entstanden auch
in einer Kinofassung. Mit der Aufführung von „Ein kurzer Film über das Töten“
bei den Filmfestspielen in Cannes 1988 wurde er über Nacht berühmt. Alle seine
nachfolgenden Filme erhielten Hauptpreise auf internationalen Festivals. In Koproduktion mit Frankreich entstand als letztes Werk die Trilogie „Drei Farben:
Blau, Weiß, Rot“ (1993–94), in der er unter Bezugnahme auf die Werte der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das thematische Spektrum des „Dekalog“ noch einmal bündelte. Kieslowski starb während der Arbeit
an einer neuen Trilogie „Paradies, Hölle, Fegefeuer“, von der zum Zeitpunkt seines Todes nur das erste Buch fertig ausgearbeitet war.
Der von der amerikanischen Produktionsfirma Miramax erworbene Stoff wurde
dem deutschen Regisseur Tom Tykwer angeboten. Tykwer, geboren 1965 in Wup4
pertal, war ein regelrechter Kinofreak, bevor er den Weg hinter die Kamera antrat.
Schon mit 14 Jahren begann er in seiner Heimatstadt Wuppertal in einem Kino zu
arbeiten, später leitete er fast zehn Jahre lang das Kino Moviemento in BerlinKreuzberg. Gründung der Filmproduktionsfirma X Filme Creative Pool. Schon sein
Erstlingswerk „Die tödliche Maria“ (1993) zeigte seine außergewöhnliche visuelle
Begabung und sein Interesse an ungewöhnlichen schicksalhaften Begegnungen.
Zufall und Schicksal spielen bei Tykwer in ähnlicher Weise eine Rolle wie bei
Kieslowski. In „Winterschläfer“ (1996/97), dem Porträt einer Generation von Mittdreißigern auf der Suche nach Sinn, wird die Handlung ausgelöst durch einen tödlichen Unfall mit Fahrerflucht. „Lola rennt“ (1998), Tykwers Welterfolg, setzt eine
Grundidee um, die Kieslowski in „Der Zufall möglicherweise“ gestaltet hat: eine
Geschichte wird in drei Variationen erzählt. Ausgehend von einer Grundkonstellation – Lola muss in 20 Minuten 100 000 DM besorgen, um ihren Freund Manni
vor Gangstern zu retten – werden drei mögliche Verläufe durchgespielt, die jeweils
von anderen Zufällen in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Mit rasanten Schnittfolgen und einer Videoclip-Ästhetik erreichte Tykwer mit diesem Film Kultstatus
und lenkte internationale Aufmerksamkeit auf sich. Sein nächster Film „Der Krieger und die Kaiserin“ (2000) war auch die Geschichte einer ungewöhnliche Liebe,
den Tykwer selbst als Zwilling zu „Heaven“ ansieht: In „Der Krieger und die Kaiserin“ bringt eine Frau einem Mann das Lieben bei, in „Heaven“ hilft der Mann
der Frau, sich – in doppeltem Sinn – zu befreien (vgl. Int. in: Töteberg, S. 97 f.).
Gestaltung
Tykwers Film ist ein Film von vollendeter Ästhetik. Jede Einstellung ist genauestens komponiert, jede Sequenz mit höchster Präzision konstruiert. Tykwer setzt
stark auf visuelle Signale. So gibt es die Einstellung, die den Titeln unterlegt ist
und später wiederkehrt: die Kamera schwebt über die Dächer der Stadt. Dies lässt
eine geometrische Ordnung erkennen, die Tykwer als „erdrückendes Gitternetz“
(Töteberg, S. 104) beschreibt, das die Figuren gefangen hält. Der Blick von oben
ist aber auch der Blick eines Engels oder der göttliche Blick auf die Schicksale
der Menschen, von denen der Film zwei Personen auswählt.
Der Blick von oben ist eingeordnet in die auch formal umgesetzte Spannung zwischen oben und unten. Die zentrale Thematik des Films, Schuld und Erlösung, ist
in Bilder von Abstieg und Aufstieg umgesetzt. Symbolisch schon in der Attentatssequenz: während Philippa mit der Rolltreppe abwärts fährt, bewegt sich der
Fahrstuhl nach oben. Die Bewegung des Films führt allgemein in die Schuld (Abstieg) und dann zur Erlösung (Aufstieg). Dies wird formal dadurch sichtbar, dass
die Abschnitte der Handlung für die Figuren immer einen Weg nach oben bedeuten. Im Polizeipräsidium flieht Philippa zunächst auf den Dachboden, von dort in
die Freiheit, in die Toskana, „eine Landschaft, die befreiend und grenzenlos erscheint gegenüber der Stadt“, welche die „Welt als Chance“ offenbart (Tykwer, in:
Töteberg, S. 104). Montepulciano, wo Philippa ihre glücklichen Jahre verbracht
hat, ist eine Stadt auf einem Berg, von dort führt der Weg der Figuren bergan zu
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einem Bauernhof, wo Philippas Freundin Regina den Flüchtenden Unterschlupf gewährt, von dort geht ein Weg weiter nach oben zu einem Berg, auf dessen Kuppe
ein einsamer Baum steht. Die Flucht endet mit dem Hubschrauberflug. Die letzte
Einstellung zeigt den Hubschrauber von unten, der sich in den Himmel schraubt,
eine Einstellung, die gut eine Minute dauert – so lange, bis der Hubschrauber nicht
mehr zu sehen ist.
Parallel zur Bewegung abwärts und aufwärts ist die Symbolik von Licht und Dunkelheit einzuordnen. Tykwer sagt dazu: „Eine Reise vom Schatten ins Licht ist das
Thema, das wir auch visuell im Film verfolgt haben“ (Töteberg, S. 101). Schon in
der Anfangssequenz endet das Simulationsprogramm mit einem Absturz, der Bildschirm schrumpft blitzartig auf einen kleinen Punkt zusammen und kollabiert, bis
alles schwarz ist. Das Gegenstück zu diesem kollabierenden Bild ist die Tunnelsequenz auf der Flucht. Hier ist das Tunnelende zuerst ein kleiner Lichtpunkt in
der Bildmitte und das helle Bild wird aufgerissen (vgl. Kremski).
Tykwer beschreibt die visuelle Gestaltung des Films insgesamt wie folgt: „Vom
Chaos ins Klare, von der Dunkelheit ins Licht, von der geduckten Haltung, dem
auf den Boden gerichteten Blick zum Blick ins Freie, in die Höhe; an diesen Motti
hat sich die Kamera orientiert“ (Int. in: Töteberg, S. 99 f.).
Zu den visuellen Gestaltungsmitteln gehört wesentlich auch die Farbe. So gibt es
markante Farbakzente: ein gelber Bus, ein blauer Lieferwagen, rote Telefone. Die
Welt im Polizeipräsidium hat dominant kalte und dunkle Farben. Der Dachboden
im Polizeipräsidium ist ein dunkler Raum, in den aber zunehmend Lichtstrahlen
eindringen. Die Toskana-Welt schließlich ist ganz in goldenes Licht getaucht. Am
Ende steht das strahlende Blau des Himmels, bis die Abblende ins Schwarze erfolgt.
Sparsam, aber sehr akzentuiert wird die Musik eingesetzt. Tykwer benutzt Werke
des finnischen Komponisten Arvo Pärt sowie eigene Kompositionen und die anderer Filmkomponisten. Die Musik arbeitet mit sehr sparsamer Instrumentation,
wenigen Akkorden und kleinen Melodiefragmenten. Sie ähnelt dem Stil der Filmmusik von Zbigniew Preisner in Kieslowskis „Dekalog“. Sie unterstützt im Wesentlichen den Eindruck der hypnotischen Verlangsamung und der spirituellen Vertiefung.
Interpretation
Der Film beginnt mit einer Art Prolog: auf einem Computerbildschirm läuft ein
Simulationsprogramm, ein Hubschrauberflug. Dabei ist der aus dem Off zu
hörende Testkandidat (Filippo, wie man später erfährt) dabei, die Grenzen der Wirklichkeit auszuloten: er fliegt so hoch, wie er es in der Realität nicht könnte. Das
Simulationsprogramm kann als eine Art Motto des Films angesehen werden: der
Film ist eine Art Versuchsanordnung, die dazu dient, die Grenzen menschlicher
Existenz auszuloten. Mit dem Absturz des Programms ist das zentrale Thema von
Aufstieg vs. Absturz, die Grenzen der Kontrollierbarkeit menschlichen Handelns
vorgegeben.
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Die nachfolgende Handlungsepisode greift diese Elemente auf. Philippas Attentat
erscheint zunächst als eine Tat von absoluter Kontrolle. Jeder Schritt ist genauestens kalkuliert. Die Putzfrau – in den Filmen von Kieslowski sind häufig rätselhafte alte Frauen eine Art Agentinnen des Schicksals – ist das Element des Unvorhersehbaren, das die Pläne Philippas durchkreuzt. Auch das Attentat endet mit
einer nicht mehr virtuellen, sondern ganz realen Katastrophe (vgl. Kremski).
Im Bild sieht man gleichzeitig die Aufwärts- und Abwärtsbewegung. Während Philippa die Rolltreppe hinunter fährt (symbolisch: in das Dunkel, in die Verdammnis, in die Hölle), bewegt sich der Fahrstuhl mit der Bombe nach oben (in den
Himmel, in den Tod, in das Jenseits).
Die Szenen des Verhörs sind wiederum durch das Verhältnis von kontrolliertem
Handeln und dessen Durchbrechung durch Unvorhergesehenes gekennzeichnet.
Das Verhör ist ein formalisierter Ablauf, der vom Untersuchungsrichter strikt nach
den Regeln durchgeführt wird. Ein Konflikt entsteht dadurch, dass Philippa in ihrer Muttersprache aussagen will. Die Kommunikation wird erschwert. Dies hat
aber eine innere Berechtigung, denn die Kommunikation zwischen Philippa und
der Polizei ist bereits gestört. Es stellt sich heraus, dass sie die Tat begangen hat,
weil die Polizei auf ihre Anzeigen hin nicht tätig geworden ist. In dieser Situation
bietet sich ein junger Carabiniere als Dolmetscher an, der mit wachen Augen zugehört hat. Dies erscheint auf den ersten Blick nicht als ungewöhnlich, erweist sich
aber als folgenreiche Durchbrechung des Rituals. Hinter dem eher ausdruckslos erscheinenden Gesichtsausdruck des jungen Mannes verbirgt sich die innere Beteiligung, wie später deutlich wird. Eine Durchbrechung des Erwarteten ergibt sich
für Philippa, als sie das Ausmaß ihrer Tat erfährt und völlig entsetzt ist. Die Konfrontation mit ihrer Schuld ist für sie unerträglich. Sie stürzt vom Stuhl; als sie erwacht, blickt sie in das Gesicht von Filippo, wiederum eine Andeutung des Motivs von Absturz und Aufstieg, Verdammnis und Rettung.
Seinem Vater gesteht Filippo schon kurz darauf, er habe sich verliebt. Für manchen Kritiker erschien die Liebesgeschichte psychologisch wenig glaubwürdig. Es
geht Tykwer aber überhaupt nicht um eine sexuelle Beziehung. Die Beziehung ist
– wie R. Fischer feststellt – „nicht physischer, sondern spiritueller Natur“ (Fischer,
S. 35). Der Gleichklang der Namen, die Tatsache, dass beide am gleichen Tag (am
23. 05., dem Geburtstag Tykwers!, wobei Philippa an Filippos Geburts-Tag – ihrem
siebten – die erste hl. Kommunion empfing) geboren wurden, betont „das asexuelle Füreinanderbestimmtsein, das Verschmelzen zu einem Wesen“ (R. Fischer,
S. 35). Filippo ist sehr jungenhaft gezeichnet, er könnte fast noch einer von Philippas Schülern sein. Er entspricht damit vom Typ her genau dem jungen Postangestellten Tomek in Kieslowskis „Ein kurzer Film über die Liebe“, der ebenfalls
die Absolutheit einer uneigennützigen Liebe verkörpert. Es kommt zu einer Begegnung der beiden, weil Philippa fordert, dass sie in ihrer Muttersprache Englisch
aussagen darf. Filippo bietet sich als Dolmetscher an. Er ist damit als derjenige gekennzeichnet, der sie besser als jeder andere versteht. Er spricht nicht nur ihre Muttersprache, sondern sieht auch, was in ihrem Inneren vorgeht. So ist er zur Stelle,
als sie in Ohnmacht fällt und vom Stuhl stürzt. Als sie aus ihrer kurzen Ohnmacht
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erwacht, blickt sie in Filippos Gesicht. Als Filippo ihre Hand hält „wandelt sich
das fait divers zum Drama: Die Liebenden erkennen sich“ (R. Fischer, S. 34).
Filippo ist in der Lage, sich mit Philippa in ihrer Not zu identifizieren. Mit dieser
Begegnung beginnt ein spiritueller Weg, bei dem Filippo die Rolle eines Begleiters einnimmt. Er ist ein aufmerksamer Beobachter. So könnte man ihn als eine
Variation der Engelfiguren bei Kieslowski sehen. Im „Dekalog“, aber auch in anderen Filmen, gibt es Figuren, die den Weg der Hauptfiguren an entscheidenden
Stellen kreuzen, diese nur mit einem Blick konfrontieren, der vielsagend ist und
erahnen lässt, dass sie die weitere Entwicklung der Handlung kennen, diese Engelfiguren greifen jedoch nie in den Handlungsverlauf ein („Augen-Blicke der
Wahrheit“). Filippo, der junge Carabiniere, ist sozusagen ein Kieslowskischer Engel, der nicht in der Beobachterrolle verharrt, sondern aktiv eingreift, Philippa rettet, der sie buchstäblich in den Himmel bringt. Am Ende wird er am Steuerknüppel des Hubschraubers sitzen, der sich in den Himmel schraubt. Filippo verkörpert
symbolisch die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen, die auch dem Verdammten
noch gilt.
Die Engelsthematik erfährt ihre Erweiterung in den Nebenfiguren, Filippos Bruder
und Philippas Freundin. Beide Figuren helfen den Protagonisten bei ihrer Flucht.
Filippos Bruder trägt sogar den Engelsnamen Ariel. Philippas Freundin trägt in der
Besetzungsliste den Namen Regina, was auch als Anspielung auf die Gottesmutter Maria zu deuten wäre, die den beiden auf dem Weg in den Himmel Schutz und
Zuflucht gewährt.
Die Entwicklung der Beziehung zwischen Philippa und Filippo ist anfangs vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie auf intensive Weise die Möglichkeiten der
Kommunikation nutzen. Sie kommunizieren mit Blicken und Gesten. Filippo
schmuggelt ihr schließlich ein Diktiergerät zu, auf dem er ihr seinen Fluchtplan
erläutert. Die Verhörsituation wird durch die geheime Verbindung zwischen beiden immer doppelbödiger. Das Thema der Kommunikation und des Geheimnisses
wird weiterhin dadurch entwickelt, dass die Polizei ihrerseits Philippa in ihrer Zelle
abhört. So erfährt der korrupte Polizeichef zwar von dem Fluchtplan, kann ihn aber
letztlich nicht verhindern, weil Filippo den Plan kurzfristig ändert.
Die erste Station der Flucht führt auf den Dachboden des Gerichtsgebäudes. Dieser Ort ist symbolisch aufgeladen. Für Filippo ist es ein Ort der Kindheit, ein geheimer Zufluchtsort, an den er sich zurückgezogen hat. Hier deutet sich eine Bewegung in die Vergangenheit an. Der Dachboden ist gleichzeitig ein Ort, welcher
der realen Zeitdimension enthoben ist. In einer Einstellung sieht man die Uhr, die
sich im Giebel befindet, von hinten. Die Flüchtigen befinden sich an einem Ort
jenseits der Zeit, einem Ort der Transzendenz.
Auf dem Dachboden sind Philippa und Filippo zum ersten Mal allein und können
offen miteinander sprechen. Auch hier bleibt die größere Nähe bewusst frei von
sexuellen Konnotationen. Die Annäherung vollzieht sich, indem sich die beiden
äußerlich immer ähnlicher werden, da sie die gleiche Kleidung – Jeans und ein
weißes T-Shirt – tragen. Ihre „Wiedergeburt als Zwillinge“ (R. Fischer, S. 35) wird
so deutlich. Tykwer erläutert seine Konzeption wie folgt: „Wir haben es im Grunde,
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radikal gesprochen, mit zwei Seiten ein- und derselben Person zu tun, mit der positiven und der negativen Potenz eines Menschen: Filippo/Philippa. Der zerrissene
Homo sapiens, der wieder zu einer Einheit wird. Und darin letztlich auch die Geschlechterdifferenzen überwindet“ (Int. in: Töteberg, S. 105).
Die Annäherung vollzieht sich auch in der gemeinsam ausgeführten Tat: der Hinrichtung des Geschäftsmannes Vendice. Philippa ist sich voll bewusst, dass sie mit
dem Attentat und der ungewollten Tötung Unbeteiligter Schuld auf sich geladen
hat, für die sie bezahlen muss. Sie verfolgt aber hartnäckig den Plan, den eigentlich Schuldigen doch noch zu treffen und damit der Gerechtigkeit in ihrem Sinn
zum Durchbruch zu verhelfen. Filippo lässt sich bereitwillig in ihren Plan einspannen. Er spielt den Lockvogel. Der Akt der Selbstjustiz ist ohne Zweifel höchst problematisch, er wird jedoch so inszeniert, dass er nie als Triumph erscheint, sondern als Durchführung eines zwanghaft vorgegebenen Weges. Unter Bezugnahme
auf den religiösen Kontext des Films könnte man daran denken, dass die Geschichte von Judit und Holofernes (Buch Judit, besonders Kap. 13,1-10) für Kieslowski und Piesiewicz ein Vorbild gewesen sein könnte. Bei der Darstellung der
Tat spielt die Perspektive Filippos eine wesentliche Rolle. Der Zuschauer sieht
zwar Philippa in der Konfrontation mit Vendice, aber er erlebt gleichzeitig, wie
Filippo dies vor der Tür wahrnimmt. Nach der Tat sieht man Filippo in der Dunkelheit auf dem Dachboden stehen, hemmungslos weinend. Indem er sich zu Philippas Werkzeug gemacht hat, hat er seine Bereitschaft, buchstäblich alles für sie
zu tun, unter Beweis gestellt. Damit bindet er sich auch für immer an sie. Denn
als Mittäter gibt es für ihn nach dem Mord kein Zurück mehr.
Die Flucht in die Toskana ist zum einen im räumlichen und symbolischen Sinn
eine Reise, die immer näher zum Himmel führt, eine Reise aus dem Dunkel in das
Licht. Die Flucht ist auch eine Weiterführung der Zeitreise, die auf dem Dachboden begann. Im Zug „sitzen sie entgegen der Fahrtrichtung, so dass es aussieht,
als würden sie rückwärts rasen . . .“ (R. Fischer, S. 35). Es ist ein Weg zurück, weil
die Reise in die Stadt führt, in der Philippa ihre glücklichen Jahre verbracht hat.
Nachdem Filippo sie an einen wichtigen Ort seiner Kindheit geführt hat, führt sie
ihn ihrerseits in den Raum ihrer Vergangenheit. Als Weg zurück in der Zeit ist die
Reise auch ein Weg in die Unschuld, ins Paradies. Verfolgt man die spirituelle Linie, zerfällt der Film nicht in zwei Teile, sondern erweist sich als eine konsequente
Abfolge von Stationen. „Wir wollten“ – so Tykwer (in: Worthmann) – „eine Dynamik anzetteln, die sich irgendwann von den Fesseln der faktischen Plausibilität
löst und stattdessen einer spirituellen Plausibilität folgt.“
Diese spirituelle Bedeutung der Reise wird durch die thematische Entwicklung auf
den einzelnen Stationen deutlich herausgearbeitet. Tykwer unterstreicht immer das
Besondere der Beziehung, indem er kontrastierend dazu andere Formen der Liebe
zeigt; Formen, welche die beiden Flüchtigen nur als Beobachter erleben, ohne dass
sie für sie selbst Bedeutung gewinnen würden. Die rein triebhafte sexuelle Anziehung kennzeichnet die Beziehung des Milchwagenfahrers, der ein schnelles Schäferstündchen mit einer Bäckereiverkäuferin genießt. Die traditionelle bürgerliche
Ehe wird in der Hochzeit in Montepulciano vorgestellt. Die Verlagerung der Ge9
schichte in eine paradiesische Landschaft hat Tykwer den Vorwurf eingebracht, er
bediene sich einer klischeehaften Werbeästhetik. Tatsächlich hat die Landschaft
diese unwirkliche Schönheit, die man auch aus Werbefilmen kennt, aber es geht
Tykwer gerade nicht darum, diese Schönheit als Attraktion zu verkaufen. Vielmehr
bezieht der Film ein Spannungsmoment aus dem harten Kontrast zwischen der klischeehaft paradiesischen Landschaft und den beiden Todgeweihten, für die all das
Schöne, all die Fülle des Lebens nicht mehr erreichbar ist. Bei der Hochzeit sitzen die beiden – kahl geschoren und ernst dreinblickend – auf Distanz: „Da wirkt
es einen Augenblick lang, als seien Philippa und Filippo, die zuschauen, unsichtbar wie die Engel in DER HIMMEL ÜBER BERLIN von Wenders/Handke und
würden den Gedanken der Sterblichen lauschen. Philippa ist zum gefallenen Racheengel und Filippo zum Schutzengel geworden“ (R. Fischer, S. 35).
Sie erreichen auf eine andere Weise gewissermaßen das Paradies. Als sie in Montepulciano ankommen, wo Philippa früher zu Hause war, aber nun kein Heim mehr
hat, führt sie der Weg zuerst in die Kirche. Danach halten sie sich zunächst immer im Umkreis der Kirche auf. In der Kirche selbst beginnt der Prozess der Läuterung mit einer Beichte. Der Beichtstuhl ist im Hintergrund zu sehen. Die Rolle
des Beichtvaters übernimmt Filippo. Philippa gesteht ihm ihre Schuld und bekennt,
dass sie den Glauben verloren habe, an einen Sinn, an Gerechtigkeit, an das Leben. Filippo antwort mit einem Liebesbekenntnis. Äußerlich wird die Reinigung
von Schuld dadurch gekennzeichnet, dass sich beide die Haare scheren lassen. So
wirken sie wie „buddhistische Mönche“ (R. Fischer) oder wie Todeskandidaten vor
der Hinrichtung. Nach der Beichte folgt eine Art Trauung, bei der die beiden endgültig miteinander verbunden werden. Filippos Vater kommt auf Wunsch seines
Sohnes nach Montepulciano, um ihnen Hilfe anzubieten. Auch er, der ehemalige
Polizeichef, wäre bereit, Gesetze zu brechen und ihnen zur Flucht zu verhelfen.
Im Schatten der Kirche findet die Begegnung statt. Der Vater fragt seinen Sohn,
ob er Philippa liebt, dann fragt er Philippa. Sie zögert mit ihrer Antwort unendlich lange. Sie schüttelt schon den Kopf, um dann doch ein klares Ja zu sagen.
Dieses Bekenntnis vor dem Vater besiegelt die Beziehung. Der Vater akzeptiert
das Unabwendbare, aber fragt mit einem Unterton der Trauer und Resignation:
„Warum können wir im entscheidenden Moment nie etwas tun?“ Damit formuliert
er ein zentrales Thema des Films. Indem er seine Hilflosigkeit artikuliert, unterstreicht er das Schicksalhafte des Weges der beiden, der von einer höheren Macht
gelenkt zu sein scheint.
Die letzte Station der Flucht ist der Bauernhof von Philippas Freundin Regina.
Dort haben die beiden Liebenden ein gemeinsames Essen. In der Dämmerung laufen sie hinaus auf einen Berg. Unter einem Baum treten sie nackt einander gegenüber. „Ihre Schemen verschmelzen“, notiert Tykwer im Drehbuch (S. 73).
Im Morgengrauen sind die Verfolger da. Philippa und Filippo nähern sich dem
Hof, springen in einem unbewachten Augenblick in den Hubschrauber und steigen senkrecht hoch zum Himmel, die Flucht findet somit „ihren Kulminationspunkt buchstäblich in einer ,Himmelfahrt‘ …“ (Wach, S. 424). Das Ende führt
zurück an den Anfang. Der Hubschrauberflug im Simulator wird nun als realer
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Flug wiederholt. Die Vorherbestimmung des Weges wird damit nochmals unterstrichen. Gleichzeitig wird das Wunderbare des Endes deutlich: der Hubschrauber
steigt immer höher, aber es erfolgt nicht der in der Simulation vorhergesagte Absturz, die Rettung wird ein Zeichen des Himmels: „Das Schlussbild eines spirituellen Märchens, das das Ende heiter nimmt. So schwerelos wie das Wunder von
Mailand [gemeint ist der gleichnamigen Film von Vittorio de Sica aus dem Jahre
1950] vollzieht sich auch das Wunder von Turin beziehungsweise Montepulciano“
(P. Kremski, S. 36).
Im Rahmen einer theologischen Interpretation stellt sich die Frage, inwieweit Philippas Weg auch als Passionsgeschichte zu sehen ist. Man kann einige Parallelen
Philippas zur Passion Jesu wie auch deutliche Abweichungen erkennen: Philippa
lebt ca. 30 Jahre als normale Englischlehrerin, bevor sie „öffentlich auftritt“. Dieses öffentliche Auftreten besteht nicht in der Verbreitung einer Lehre, sondern in
dem Attentat. Dieses wiederum ist jedoch nicht einfach eine persönliche Racheaktion, sondern durchaus eine „Mission“, die der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und damit andere vor Unheil bewahren soll. Philippa wird „verhaftet“, „verhört“, kann aber fliehen. Darin zeigt sich eine deutliche Abweichung zur Passion
Jesu. Statt dass einer der besten Freunde Jesus verrät, verhilft ein Unbekannter Philippa zur Flucht. Diese ist jedoch nie als eine Lösung des Konflikts dargestellt. Es
ist Philippa und auch Filippo immer klar, dass sie für ihre Tat büßen muss. Die
beiden Flüchtenden feiern das „Abendmahl“. Der Garten Getsemani wird für die
beiden zum Garten Eden, in dem sie sich spirituell vereinigen. Dann machen sie
sich auf die letzte Reise, die gleichzeitig eine Erhöhung („Himmelfahrt“) wird. Ein
entscheidender Unterschied zwischen Philippa und anderen weiblichen Passionsfiguren – Johanna von Orleans, Beth in „Breaking the Waves“, Selma in „Dancer
in the Dark“ – besteht darin, dass Philippa nicht in dem Glauben handelt, das Gute
zu tun, sondern von Anfang an weiß, dass das Attentat aus ethischen Gründen
nicht zu verantworten ist und sie eine große Schuld auf sich lädt. Die Jesus-Parallelen sind insgesamt nur sehr schwach, so dass sie für eine stringente Interpretation in diesem Sinne nicht genug hergeben, dennoch kann der Einstieg über dieses Interpretationsmodell dazu beitragen, das Profil der Figur Philippa stärker
herauszuarbeiten.
Tykwer, der von sich sagt, er sei kein praktizierender Christ, sondern eher ein „spiritueller Atheist“ (Int. in: Töteberg, S. 105), bekennt sich zu seinem Interesse an
theologischen Fragen und zu der explizit theologischen Dimension des Projektes.
Die Tatsache, dass nur eine Interpretation, die konsequent die spirituelle Entwicklung nachzeichnet, einen plausiblen Gesamtzusammenhang herstellen kann, zeigt,
dass die theologische Dimension ein unverzichtbarer Bestandteil des Werkes ist.
Ansätze zum Gespräch
Schon die Reaktionen auf den Film nach der Premiere bei der Berlinale 2002 ließen
erkennen, dass der Film für manche Rezipienten Probleme aufwirft (vgl. z. B. Spezielle Links: Kritik von Michaela Simon). In Reaktionen von Zuschauern wie von
11
Kritikern war mitunter zu hören, der Film zerfalle in zwei Teile, in einen thrillermäßigen Auftakt und eine zweite Fluchtgeschichte, die aber im sonnigen Ambiente
der Toskana einen völlig anderen Charakter erhalte und die ursprüngliche Anlage
des Films aus den Augen verliere. Durch eine eingehende Analyse des Films ist
klar herauszuarbeiten, dass der Film eine ganz konsequente Spur verfolgt, dennoch
sollte man auf derartige Reaktionen gefasst sein. Man kann die möglicherweise
widersprüchlichen Zuschauerreaktionen gezielt als Ausgangspunkt einer intensiveren Beschäftigung mit dem Film wählen oder aber durch eine entsprechende Einführung die Aufmerksamkeit der Zuschauer so auf die relevanten Sinndimensionen lenken, dass eine mögliche Irritation gar nicht erst entsteht.
Nach einer Phase der Sammlung spontaner Eindrücke können einzelne Fragenkomplexe bearbeitet werden. Folgende Fragenkomplexe bieten eine Orientierung:
Filmästhetische Aspekte
Wie entwickelt der Regisseur seine Geschichte?
Wie sind die beiden Hälften des Films miteinander verbunden?
Wie setzt der Film Bewegung ein (aufwärts – abwärts, gleichsinnig – gegenläufig
usw.)?
Wie erzeugt der Regisseur Spannung?
Wie unterstreicht die Kameraführung die thematischen Akzente?
Wie gestaltet der Regisseur Räume?
Wie gestaltet der Film Zeit?
Welche Funktion hat die Lichtgestaltung?
Wie werden dramaturgische Akzente durch Musik gesetzt?
Welche Symbole benutzt der Film?
Figuren
Welche Motive hat Philippa für das Attentat?
Wie geht sie mit der Schuld um, die sie auf sich geladen hat?
Wie verhält sie sich in der Verhörsituation?
Welche Motive hat Filippo?
Wie entsteht die Beziehung der beiden?
Wie entwickelt sich die Annäherung der beiden?
Wie wird die Hinrichtung des Drogenbosses dargestellt?
Wie setzt der Film moralische Bewertungen ein?
Welche Stationen nimmt die Flucht der beiden?
Wie ändert sich ihre Beziehung?
Welche Rolle spielt Filippos Vater?
Welche Rolle spielt Filippos Bruder?
Religiöse Deutungen
Welche (unterschiedlichen) Assoziationen weckt der Titel des Films („Heaven“)
bzw. der Titel der Vorlage („Paradies“)?
Wie kann man Tykwers Selbstbezeichnung („spiritueller Atheist“) verstehen? An wen
erinnert die Aussage? (an Bunuel, der sich als „Atheist von Gottes Gnaden“ sah)
12
Welche expliziten religiösen Bezüge gibt es (Kommunion, Kirche, Beichte, Trauung usw.)?
Wie wird die spirituelle Dimension deutlich?
Wie wird der Verlust des Glaubens bei Philippa gedeutet?
Welche symbolische Bedeutung hat Filippo?
Wie akzentuiert der Film die Frage nach Schuld?
Worin liegt die Erlösung für die Figuren?
Kann man Philippas Weg als Passionsgeschichte sehen (vgl. Johanna von Orleans,
Beth in „Breaking the Waves“, Selma in „Dancer in the Dark“)?
Weiterführende Literatur
Vorlage und Drehbuch
– Krzysztof Kieslowski/Krzysztof Piesiewicz: Paradies. Eine Filmnovelle, in: Margarete Wach: Krzysztof Kieslowski. Kino der moralischen Unruhe. Köln
2000; S. 431–469 (Drehbuchvorlage).
– Michael Töteberg (Hrsg.): Heaven. Ein Film von Tom Tykwer. Nach einem
Drehbuch von Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiewicz, München 2002.
Zu Tykwer
– Sandra Schuppach: Tyktown. Im Kino des Tom Tykwer, in: Marcus Stiglegger
(Hrsg.): Splitter im Gewebe. Filmemacher zwischen Autorenfilm und Mainstreamkino. Mainz 2000, S. 302–313.
– Stefan Schäffler: Neun Interviews mit Wolfgang Becker, Jörg Buttgereit, Matthias Glasner, Philip Gröning, Ralf Huettner, Romuald Karmakar, Oskar Roehler, Hans-Christian Schmid, Tom Tykwer. Belleville: München 2002.
– Michael Ballhaus / Mitarbeit: Tom Tykwer: Das fliegende Auge. Gespräch von
Tykwer mit Ballhaus. Berlin: Berlin-Verlag 2002 (erscheint im Herbst 2002).
Zu Kieslowski
– Margarete Wach: Krzysztof Kieslowski. Kino der moralischen Unruhe. Köln
2000 (mit umfangreicher Bibliographie).
Interviews und Kritiken
– Michael Althen, Willkommen im Wunderland, in: FAZ, 07.02.2002.
– Thomas Binotto: Ins Licht. Ein Werkstattgespräch mit Tom Tykwer, in: filmdienst, 5/2002, S. 6–13.
– Robert Fischer: Kieslowski, Hitchcock, Tykwer, in: epd film 3/2002, S. 32–35.
– Ariane Heimbach: Tom Tykwer glaubt an die Liebe als Erlösung . . .“, in: chrismon, 02/2002, S. 23
– Daniel Kothenschulte: Von der Hölle durch die Welt zum Himmel, in: FR,
07.02.2002.
13
– Peter Kremski, Sprung in die Wolken. HEAVEN von Tom Tykwer, in: filmbulletin 2/02, S. 31–36.
– Simone Marenholz, Gute Terroristen kommen in den Himmel, in: DIE WELT,
21.02.2002.
– Anke Sternborg, Die Reise ins Licht, in: SZ, 21.02.2002.
– Andreas Trabusch, Ein Lift wird kommen, in: DIE WELT, 24.02.2002.
– Margarete Wach, Kritik, in: film-dienst 4/2002, fd 35285.
– Merten Worthmann, „Du triffst jemanden und weißt, der ist es“ (Interview mit
Tykwer), in: DIE ZEIT, 07.02.2002.
Links
Allgemeine:
– www.angelaufen.de/21.02.02.html
– www.filmz.de/film_2002/heaven/links.htm
– www.us.imdb.com (Suchwort: Heaven)
Spezielle:
– www.heaven-derfilm.de/index.html
– Michaela Simon: Es reckt die Nudelwerbung ihr hässliches Haupt. Tom Tykwers
„Heaven“ kollabiert in seiner behaupteten Emotionalität (08.02.2002), in:
www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/kino/11789/1.html
– Kai Müller: Das Glück der Katastrophe (05.02.2002), in:
www2.tagesspiegel.de/archiv/2002/02/04/ak-ku-be-558488.html.
– Dunja Bialas: Himmlische Liebe, bodenlos, in:
www.artechock.de/film/text/kritik/h/heaven.htm
– Ekkehard Knörer: Tom Tykwer. Heaven, in:
www.jump-cut.de/filmkritik-heaven.html
Peter Hasenberg
DVD-Extras
Bildformat: Widescreen 1.78:1 anamorph
Tonformat: Dolby Digital 5.1. in Deutsch, Englisch OmU
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Extras:
! Interaktive Menüs
! Kapitelanwahl
! Kinotrailer
! Audiokommentar Tykwer
! Nicht verwendete Szenen optional: mit/ohne Kommentar von Tykwer
! Interviews mit: Tykwer, Minghella, Blanchett, Horberg, Ribisi, Köpf, Pollack.
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Der Himmel über der Toskana (Spacecamflight)
Hinter den Kulissen (B-Roll Toskana)
Making of „Heaven“
Bildergalerie
„Heaven“ im Internet
15
Unterrichtsvorschläge zu „Heaven“
Fach: Religion/Ethik, einsetzbar in den Klassen 11–13, eventuell auch in 9+10
Unterrichtsverlauf: Grobstruktur
1. Falldiskussion Drogenproblematik: Welche Strafe hat ein Drogendealer verdient? Wie würdest du dich verhalten, wenn . . .?
2. Film (3 Möglichkeiten)-Einsatz
3. Diskurs um die Schuldfrage/Liebe/Vergebung
4. Ethischer Diskurs
Der Film HEAVEN nimmt die Themen Schuld, Schuldeingeständnis und Gewissensbildung auf und verdichtet sie in einer dramatischen Handlung, die moralisch in ein Dilemma führt und nicht mehr eindeutig zu beantworten ist. Didaktisch ist bloßes Moralisieren und Urteilen strikt zu vermeiden. Die
Schüler(innen) sollen indes befähigt werden, hinter der komplexen Filmhandlung
ernste moralische Fragen zu entdecken und sich diesen zu stellen. Zudem sollen
sie die komplexe Entscheidungssituation von Philippa und Filippo wahrnehmen
lernen und selbst herausfinden, ob die vorgeschlagene Lösung des Films sich mit
ethischen Grundpositionen vereinbaren lässt. Dabei spielen die Fragen der Gewissensbildung aus verschiedenen Blickwinkeln (theologisch, psychologisch, entwicklungsmäßig, juristisch usw.) eine wesentliche Rolle. Die Schüler(innen) sollen erkennen, dass Gewissensbildung und Schuldanerkenntnis lebenslange
Prozesse darstellen, die in die Zukunft hin offen angelegt sind. Die angelegten
Maßstäbe sollen kritisch beleuchtet werden, was sich u. E. am besten mit der
Frage nach den handlungsleitenden Motiven von Philippa darstellen lässt. Die
Schüler(innen) sollen während des Unterrichts schrittweise befähigt werden, bestimmte Handlungsoptionen im Film kritisch zu bedenken und mit eigenen Gewissensentscheidungen in Verbindung zu bringen. Dazu eignet sich HEAVEN besonders gut, weil die im Film getroffenen Entscheidungen einen ähnlich
komplexen Charakter wie Alltagsentscheidungen haben und zudem die Protagonisten des Films Schüler(inne)n Identifikationsangebote machen. Jugendliche
Umbruchsituationen machen aus entwicklungspsychologischer Sicht die Identitäts- und Gewissensfrage zum zentralen Thema einer bestimmten Lebensphase.
Geformtes Gewissen kann zur Instanz personaler Freiheit und Verantwortung
werden. Dies kann am Beispiel des Filmes deutlich gemacht werden.
Auf einer anderen Ebene ist es mit Hilfe des Filmes und seiner Symbole möglich, bestimmte biblische Großsymbole wie die Paradies- (Gen 2+3), die Kainund-Abel- (Gen 4), die Turmbaugeschichte (Gen 11), neutestamentliche Erlösungsmotive oder die Gewissensfrage bei Paulus (Röm 2+3; 1 Kor 10) ins Spiel
zu bringen. An der Gewissensfrage lassen sich dann gesamtchristliche Lehren der
Rechtfertigungsbotschaft (der Mensch kann sich nicht selbst von Sünde und
Schuld erlösen) und die Prägekraft des christlichen Glaubens für ein offenes Gewissen des Menschen aufzeigen.
16
Die nachfolgenden Unterrichtsvorschläge sollen der Orientierung dienen. Um der
Komplexität des Films und der darin enthaltenen Themen gerecht zu werden, ist
eine intensive, d.h. längere Auseinandersetzung sinnvoll. Man kann die Vorschläge
jedoch flexibel handhaben, bei Bedarf auch kürzere Modelle (4 bzw. 6 St.) anwenden, indem man sich auf einzelne Bausteine bzw. Materialien aus den drei Vorschlägen konzentriert.
Überblick über die drei Unterrichtsvorschläge:
A 10–12 Stunden
B 8–10 Stunden
C 8 Stunden
Inhalt
Zeit
Mat.
Inhalt
Zeit
Mat.
Inhalt
Zeit.
Mat.
1. Rollenspiel
Drogendealer
1 St.
M1
1. Rollenspiel
Drogendealer
1 St.
M1
1. Rollenspiel:
Nutzlose
Menschen?
1 St.
M1
2. Film, 1. Teil
(bis 11. Min.)
M2
2. Sichtung des
ganzen Films
2. Schuld & Sühne
3 St. (2.+3.)
1 St.
M6
1 St.
M 3+4
3. Rollenspiel /
Filmgeschichte
1 St.
4. Film, 2. Teil
(bis 17. Min.)
1 St.
M5
M6
4. Diskurs über
Dekalog
1 St.
4. Schuld & Sühne /
Filmgeschichte
1 St.
M4
M5
5. Dostojewskijs
Lösungsmodell
1 St.
5. Kain & Abel
1 St.
M3
M4
M5
5. Diskurs über
moralische
Entwicklung
M 11
M 13
6. Film, 3. Teil
2 St.
6. Gewissensbildung
M7
6. Normen
1 St. (5.+6.)
M 12
7. Heaven /
Schuld & Sühne
1 St.
7. Diskurs über
Gewissen
1 St.(6.+7.) 7. Rollenspiel /
M 8–10
Filmgeschichte
8. Kain & Abel
Gewissensbildung
2 St.
M7
M8
M9
M 10
8. Stufen
moralischer
Entwicklung
1 St.
M 11
3. Motive
Philippas
9. Bibel /
Filmgeschichte
Provokation
10. Ergebnissicherung
3. Sichtung des
ganzen Films
8. Ergebnissicherung
3 St.
1 St. (7.+8.)
1 St.
1 St.
M 11
M 12
M 13
17
Überblick über die Materialien
M 1: Fall
M 2: Sequenzprotokoll „Heaven“
M 3: Ist Rache legitim? (Mind Map 1)
Drei Motive: Rache; Liebe: Lehrerin zu Schüler(inne)n; Verzweiflung
M 4: Schuld - welche Schuld? (Mind Map 2)
M 5: Schuld
M 6: Das fünfte Gebot bei Dostojewskij
M 7: Gewissen I
M 8: Gewissen II
M 9: Gewissen III: Der Streit um das richtige Verständnis des Gewissens
M 10: Das Gewissen IV
M 11: Ethisches Stufenmodell
M 12: Information zum Stichwort Normen
M 13: Schritte der ethischen Urteilsfindung
Unterrichtsvorschlag A
Inhalt
Unterrichtsstunden
1. Rollenspiel Drogendealer
1 St.
2. Film zeigen bis zur Verhörszene (ca. Min. 11, s. Sequenzprotokoll)
3. Unterricht über die möglichen Motive Philippas
Motive
Schuldfrage (3. Motiv Verzweiflung)
1 St. (2.+3.)
Mat.
M 1
M2
M3
M4
4. Film bis zu dem Punkt zeigen, an dem der Lösungsansatz der Lehrerin im Polizeiverhör deutlich wird: Schuldverstrickung (ca. 17. Min., s. Sequenzprotokoll)
Leitfrage: Mit was außer den Folgen einer Tat muss ich im Leben noch umgehen lernen, bzw. was lernt Philippa im Lauf der Filmhandlung? Entwicklung der Schuldfrage, dazu Mind Map 1+2 als Lehrhintergrund und M 4-6 (Schuld) und M 7-11
(Gewissen) als Lehrerinformation.
M5
Vergleich Dostojewski/Film/Bibeltexte
M6
Schüler(innen) erzählen die Geschichte weiter
Ergebnissicherung
1 St.
5. Dostojewskis Lösungsmodell wird diskutiert
1 St.
6. Film wird weiter angeschaut
2 St.
Fortsetzung des Filmes: Beobachtungsaufgaben zu Schuldwahrnehmung und
Schulderkenntnis bei Filippo und Philippa: Auf Schuld wird Schuld gehäuft
Schuld – Gewissen – Vergebung
7. Herausarbeiten der Gemeinsamkeiten zwischen HEAVEN und Dostojewskis
„Schuld und Sühne“
1 St.
18
Weitere Beispielgeschichten von Schuld:
Tristan und Isolde
Bibel
Nibelungen
Griechische Sage
Moderne und aktuelle Geschichten
8. Diskurs über Gewissensbildung /
Vergleich mit der Kain-und-Abel-Geschichte
Stufen der Gewissensbildung nach L. Kohlberg
(Dilemma-Geschichten)
2 St.
M 7
M 8
M 9
M 10
9. Schüler(innen) entdecken die Analogie zwischen Filmgeschichte und biblischer Geschichte
1 St.
Frage nach der Lebenseinstellung und Lebensbestimmung von Philippa: Entgegen
ihrer fatalistischen Einstellung und Erwartung wird Philippa aber durch Filippo geholfen. Mit ihrer Voreinstellung wird sie als Realistin und nicht als Träumerin dargestellt. Die Grundfrage ist zu diskutieren: Führt Erkenntnis der Schuld automatisch zur Annahme von Schuld und kann man danach mit der Schuld weiterleben?
Philippa rechnet mit der Konsequenz für ihre Tat, d. h. mit einer lebenslänglichen
Freiheitsstrafe, im extremen Fall müsste sie sogar mit der Todesstrafe rechnen. Im
übertragenen Sinn wird sie aber von Strafe verschont: „Soll ich meines Bruders
Hüter sein?“
Provokation: „Sogar bei einem Kapitalverbrechen gibt es Vergebung.“
Polizist Filippo hat Philippa gegenüber ein aus Liebe entspringendes Erlösungsmotiv, wird aber selbst erlöst (unter dem Lebensbaum: Assoziation an
Adam und Eva im Paradies). Unter dem Lebensbaum verschmelzen beide (sie
ist schuldig und zieht ihn in die Schuld hinein; Gen 2+3).
Vater: In den entscheidenden Augenblicken des Lebens können wir nichts
mehr tun (Schulderfahrung kann der Mensch nur dann machen, wenn er das
Paradies verlassen hat und damit auch die Erfahrung der Freiheit).
Bibel: Adam, wo bist du gewesen?
Film: Gespräch (auf der Flucht) mit dem Vater (ca. Min. 76–80, Sequenz 15).
Die Schüler(innen) bearbeiten Filmszene und Paradiesgeschichte (Gen 2+3) mit
der Frage: Was ist Schuld, wer wird wie, warum und woran schuldig? Vergleich
mit der Filmszene.
10. Ergebnissicherung
Ergebnis: Analoge Geschichten
!
!
!
1 St.
Selbstständigkeit und Freiheit sind ohne Schuld nicht zu haben.
Eva/Philippa wird zuerst schuldig.
Adam/Filippo bleiben aber je ihrem menschlichen Gegenüber treu und werden in die Schuld und damit Schuldverstrickung, aber auch in die Folgen der
Freiheit mit hineingezogen.
19
!
!
!
!
!
Der Mensch muss Vater und Mutter verlassen, um Mensch sein zu können und
damit endlich zu werden.
Eva/Philippa: Schulderkenntnis
Kein Mensch kann sich aus eigener Kraft aus der Schuldverstrickung befreien
und bedarf der Hilfe von außen: Filmschluss Himmel (ca. Min. 88, Sequenz
17).
Symbole für Flucht/Freiheit/Schuld im Film rekonstruieren lassen (Häuserfluchten, verdeckter Himmel, Bäume, Farben).
Symbole für Freiheit/Schuldannahme/Vergebung: Himmel, Farben usw.
„Sogar bei Kapitalverbrechen gibt es Vergebung“ (Provokation durch These); Philippa und Filippo werden am Schluss des Filmes nicht durch Menschen zur Rechenschaft gezogen, wie wir und auch Philippa/Filippo erwarten, sondern sie bleiben frei, aber unstet wie Kain – sie machen die Erfahrung von Vergebung auf
unerwartete Weise: Im sonst so realistischen Film kommen die Elemente unerwarteter Verschonung vor: der Hubschrauber wird nicht getroffen, obwohl Dutzende
von Polizisten auf ihn schießen; Philippa und Filippo können nicht in der Scheune
überrascht werden, weil sie sich „zufällig“ vorher unter dem Baum lieben.
Ergebnissicherung: auf Schreibtapete oder Mind Map und Vergleich mit den Stufen moralischer Entwicklung und der ethischen Urteilsfindung
M 11
M 12
M 13
Summe: ca. 10–12 Unterrichtsstunden
Unterrichtsvorschlag B
1. Rollenspiel: Drogendealer
1 St.
M1
2. Film wird ganz gesehen
3 St.
3. Verzahnung Rollenspiel und Filmgeschichte: Pro und Contra Diskussion für das
Handeln Philippas. Die Pro-Position wird Philippas Motive und Handeln bestätigen und die Contra-Position wird z. B. den Dekalog (Ex 20; Dtn 5) Satz
Du sollst nicht töten einbringen. Die Contra-Position könnte die gängige
Schülermeinung (Pro-Position) in Frage stellen.
1 St.
4. Diskurs über Dekalog
1 St.
5. Am Beispiel von Schuld und Sühne und der Kain-und-Abel-Geschichte werden Alternativen aufgezeigt.
1 St.
M 3
M 4
M 5
6. Wie kommt es zur Gewissensbildung? Kriterien für das anfängliche Rollenspiel
und Kriterien für die Alternativen entwickeln.
M 7
20
7. Diskurs der Gewissensmodelle
1 St. (6.+7.)
8. Stufen moralischer Entwicklung
1 St.
M 8
M 9
M 10
M 11
ca. 8–10 Stunden
Unterrichtsvorschlag C
1. Rollenspiel: Gibt es nutzlose Menschen?
1 St.
M1
2. Dostojewskis “Schuld und Sühne” und Bewertung / Weiterentwicklung der Geschichte
1 St.
M6
3. Film wird ganz gesehen
3 St.
4. Vergleich zwischen “Schuld und Sühne” und Filmgeschichte
M4
1 St.
M5
5. Diskurs über zugrundeliegende Kriterien / Urteilsfindung / moralische Entwicklung
M 11
M 13
6. Auseinandersetzung mit Normen und Normenentwicklung
M 12
1 St. (5.+6.)
7. Vergleich zwischen Rollenspiel und Filmgeschichte: Auseinandersetzung mit
der Frage, was eine christliche Norm darstellt.
8. Ergebnissicherung
1 St. (7.+8.)
ca. 8 Stunden
M 1 Fall
Peter X wird in der Discothek „Crash“ von einem Drogendealer angesprochen. Der
Dealer ist rücksichtslos und nimmt wegen seines erhofften Profits den Tod Abhängiger in Kauf. Zudem ist er nicht nur in dieser Discothek, sondern in der ganzen
Stadt bekannt und Gerüchte gehen umher, dass schon einige Jugendliche wegen
„schlechten“ Stoffes aus seiner Hand ums Leben gekommen sind. Peter bekommt
vom Dealer ein bisschen Crack zum Probieren und Peter probiert den Inhalt des
Tütchens.
Problemdiskurs in Rollen mit Rollenkärtchen:
Ihr erfahrt von der Begebenheit. Was würdet ihr tun? Als
!
!
Vater
Mutter
21
!
!
!
!
!
!
Bruder
Schwester
Freundin
Lehrer
Lehrerin
Polizist
(wegen der späteren Filmrezeption müssen folgende Rollen auf jeden Fall besetzt
werden: Vater, Lehrerin, Polizist)
M 2 Filmprotokoll HEAVEN
Erstellt von: Sven Howoldt / Wilhelm Schwendemann
(Bitte beachten: Je nach Abspielgerät kann es zu geringfügigen zeitlichen Verschiebungen kommen)
Zeitliste Inhalt
0.00.0
0.00.42
0.02.48
0.04.12
0.04.13
0.06.07
0.06.33
0.06.44
0.07.26
0.07.38
0.07.47
0.07.57
0.08.24
0.08.29
0.08.42
0.08.59
22
Vorspann
Hubschrauber fliegt über grüne Landschaft und wird als Flugsimulator
erkennbar. Filippo sitzt im Flugsimulator.
Philippa bastelt eine Bombe, versteckt diese und packt sie ein.
Philippa verlässt ihre Wohnung.
Autobusfahrt – Straßenfluchten – Philippa steigt aus dem Bus aus und
geht eine Straße entlang; betritt ein Hochhaus und geht hinein. Treppenhaus und Toiletten werden sichtbar.
In einer Toilette packt sie die Bombe aus und stellt am Zeitzünder die
Zeit bis zur Explosion ein.
Vater mit zwei Kindern steht vor dem Hochhaus.
Philippa betritt Vorzimmer eines Büros (das von Signor Vendice). Vendice (Drogendealer) ist im Gespräch mit Sekretärin; Philippa legt die
Bombe in einen Papierkorb.
Fahrstuhl kommt ins Bild; eines der beiden Kinder zählt die Stockwerke.
Philippa verlässt Hochhaus und geht über einen großen Platz.
Philippa steht in einer Telefonzelle und telefoniert (mit der Polizei).
Sekretärin im Büro von Vendice führt Gespräch – Autosirene wird hörbar – Sekretärin verlässt den Raum.
Eine Raumpflegekraft betritt das Büro von Vendice.
Philippa am Telefon; sie spricht mit der Polizei und meldet Bombenanschlag.
Die Putzfrau leert den Papierkorb, in dem die Bombe liegt, in einen
größeren fahrbaren Abfallbehälter.
Philippa fährt eine Rolltreppe hinunter; Hochhausansicht.
0.09.12
0.10.03
0.10.38
0.10.39
0.10.50
0.11.41
0.18.11
0.18.40
0.18.48
0.19.02
0.19.48
0.20.35
0.20.45
0.21.23
0.22.15
0.23.0
0.23.58
0.26.10
0.26.45
0.27.15
0.29.20
0.30.24
0.33.04
Kinder im Fahrstuhl; Fahrstuhl hält an und nimmt Putzfrau mit ihrem
Wagen auf; Tür schließt sich; einen Moment später explodiert die
Bombe; Explosion indirekt wahrnehmbar.
Sondereinheit der Polizei stürmt die Wohnung der Bombenlegerin Philippa und nimmt diese gefangen.
HEAVEN; Vogelperspektive auf die Stadt.
Philippa ist in einer Gefängniszelle gefangen.
Polizisten holen Philippa aus ihrer Zelle und führen sie vor den Untersuchungsrichter / Staatsanwalt zum Verhör.
Verhandlungszimmer; Verhör – Aussage – Weinen – Zusammenbruch –
Geständnis.
Zusammenbruch von Philippa während des Verhörs.
Flur im Gerichtsgebäude; Polizist holt einen Arzt.
Arztzimmer.
Ein Arzt behandelt Philippa; Verhörzimmer.
Dialog zwischen Polizist und Philippa; wird von Arzt behandelt.
Im Zimmer von Vendice (Drogendealer).
Hof des Justiz- und Polizeigebäudes; Polizist beobachtet Philippa.
Nachts im Haus des Vaters von Filippo, dem jungen Polizeibeamten; Gespräch zwischen Filippo und seinem jüngeren Bruder.
Blick auf Filippo, der im Bett liegt.
Filippo wäscht am nächsten Morgen Bettwäsche, weil er das Bett
während der Nacht eingenässt hat; Gespräch zwischen Vater und Filippo
über Bettnässen und Drogenhandel.
Fortsetzung des Verhörs im Verhörzimmer; Drogenhandel als Thema; Situation der Lehrerin Philippa wird beleuchtet.
Filippo bereitet Flucht vor; besorgt sich einen Gegenstand und schließt
in der Toilette einen Händetrockner kurz und rührt in den Pausenkaffee
eines Wachpolizisten ein Abführmittel.
Bewachungspolizist trinkt Kaffee und muss zur Toilette; Verhör geht
weiter; die Polizei vermutet hinter dem Bombenanschlag eine Terrororganisation.
Philippa wird im Verhör klar, dass sie die Falschen getötet hat; Stromausfall.
Philippa wird wieder abgeführt und in ihre Zelle gebracht; Gespräch zwischen Polizisten, die in den Drogenhandel verwickelt sind und Philippa
gerne aus dem Weg räumen würden; in der Zeit des Stromausfalls hat
Filippo einen Minirecorder bei Philippa in der Kleidung versteckt, den
sie jetzt in ihrer Zelle abhört und das Hilfeangebot von Filippo wahrnimmt; Zelle wird abgehört, so dass auch ihre Gegner die Botschaft
hören; Filippo erzählt zudem von seinem jüngeren Bruder, der Philippa
als Englischlehrerin hatte und sie gern hat.
Blick über die Stadt; Filippo schaut sich auf einer Bank sitzend das Polizeigebäude an und geht dann zum erneuten Verhör. Filippo präpariert
23
0.35.33
0.37.44
0.38.40
0.41.20
0.44.40
0.46.41
0.47.55
0.50.00
0.52.04
0.55.30
0.58.32
1.03.10
1.05.28
24
Verhörzimmer und findet dann die Kassette, die von Philippa besprochen
worden ist, und hört die Botschaft: „Ich bin einverstanden.“
Filippo spricht Philippa den Plan aufs Band. Filippo: „Ich glaube fest,
dass es weitergeht.“ Korrupter Polizist will Philippa auf der Flucht töten;
Zelle von Philippa wird abgehört.
Gespräch zwischen Filippo und seinem kleinen Bruder.
Filippo bereitet Toilette usw. für den Fluchtversuch Philippas vor; Fortsetzung des Verhörs, in dem Philippa vom Drogentod eines Mädchens
und von deren Abschiedsbrief „Werft mich weg“ berichtet.
Der kleine Bruder Filippos hilft Filippo; Philippa wird es während des
Verhörs verabredungsgemäß schlecht und sie wird von einem Polizeibeamten zur Toilette gebracht; der wachhabende Polizist wird durch einen
Telefonanruf durch den kleinen Bruder Filippos von der Toilette weggelockt; Philippa kann fliehen.
Filippo und Philippa treffen sich im Speicher des Polizeigebäudes.
Im Dialog zwischen den beiden wird klar, dass Philippa für ihre Tat
Strafe auf sich nehmen, aber zuvor noch den Dealer töten will.
Filippo bestellt den Dealer Vendice in das Büro des korrupten Polizeimajors Fini und gibt Philippa eine Waffe.
Vendice fährt in das Büro von Fini im Justiz-Polizeigebäude. Im Büro
von Fini wird er von Philippa mit den Worten „Erinnerst du dich an
mich? – Ja“ erschossen.
Philippa und Filippo fliehen wieder auf den Speicher; Blick von oben
auf Turmuhr; sie verbringen nebeneinander auf einer Decke die Nacht.
Philippa steigt zur Toilette bzw. zum Waschraum herunter und versucht
sich zu waschen; zwei Putzfrauen kommen in denselben Raum; Philippa
muss sich schnell hinter einer Wand verstecken; die beiden Putzfrauen
unterhalten sich über den Mord am Drogendealer und darüber, wie er
nach der Tat ausgesehen hat.
Filippo und Philippa verlassen das Polizeigebäude mit Hilfe eines Milchlieferwagens, in dem sie sich verstecken.
Der Fahrer macht vor einem Geschäft eine Pause und trifft dort seine
Freundin, die er im Auto liebt. Vor dem Bahnhof können Philippa und
Filippo dann den Lieferwagen verlassen.
Filippo und Philippa fahren mit dem Zug weiter / Tunneldurchfahrt /
nach dem Tunnel wird Landschaft in hellen und lebendigen Farben sichtbar; sie sprechen sich das erste Mal mit Namen an und stellen fest, dass
sie am gleichen Tag Geburtstag haben. Der Zug fährt durch farbenfrohe
Landschaft.
In einer kleinen Stadt angekommen, gehen sie zur Katholischen Kirche
und sie „beichtet“ ihm ihr Leben. Kurz wird im Bild auch ein Beichtstuhl sichtbar. Philippa bekennt Filippo ihre Schuld. Sie spricht und er
hört zu. Er fragt sie: „An was hast du aufgehört zu glauben?“ Sie: „An
Sinn, an Leben, an Liebe . . .“
1.07.15
1.08.16
1.10.52
1.15.07
1.16.12
1.18.22
1.19.05
1.20.08
1.21.15
1.22.09
1.23.22
1.24.18
1.25.04
1.27.16
Filippo sagt Philippa, dass er sie liebe und sie bejaht durch Zustimmung
(„Ich weiß“) und sie antwortet: „Ich will nur noch, dass es bald zu Ende
ist.“
Filippo und Philippa lassen sich bei einem Friseur die Haare abschneiden und sehen dann aus wie Strafgefangene bzw. KZ-Insassen; sie sitzen vor einer Kirche, in der gerade eine Hochzeit stattgefunden hat und
das Brautpaar dabei ist, samt Hochzeitgesellschaft, die Kirche in Richtung Festzelt zu verlassen. Philippa erkennt unter den Hochzeitsgästen
eine Freundin.
Braut wirft den Brautstrauß in die Menge und Filippo holt für sich und
Philippa je ein Eis.
Philippa nimmt Kontakt mit der Freundin auf und bittet diese um Hilfe;
die Freundin gibt Philippa eine Ohrfeige („Was hast du nur getan?“). Philippa bittet die Freundin, bei ihr die kommende Nacht übernachten zu
dürfen, was diese auch zubilligt. Filippo ruft seinen Bruder an und bittet ihn, den Vater zu benachrichtigen, der in die kleine Stadt kommen
möge.
Fahrt zur Kirche; Vater Filippos sucht Filippo und findet
Filippo und Philippa in der Kirche. Vater gibt Filippo ein bisschen Geld
für die weitere Flucht und schlägt den beiden vor, sie durch inzwischen
aufgestellte Straßensperren der Polizei zu bringen. Philippa weigert sich
mitzukommen.
Vater fragt die beiden nach ihrer Liebe; Frage wird von beiden positiv
beantwortet.
Filippo weigert sich ebenfalls mitzukommen; Vater: „Warum können wir
im entscheidenden Moment nichts füreinander tun?“
Vater verabschiedet sich von seinem Sohn und Philippa tief und herzlich und geht. Blick auf den Himmel.
Filippo und Philippa gehen zu Fuß zu dem Landgut der Freundin;
schauen durch ein Fenster in einen Raum des Hauses, in dem sich die
Familie zum Essen versammelt hat; Freundin bemerkt die beiden und
gibt ihnen ein Zeichen, in die Scheune zu kommen.
Filippo und Philippa essen und trinken in der Scheune (Brot und Wein).
Sie verlassen die Scheune und gehen in der Abenddämmerung spazieren.
Sie rennen zu einem einzelnen Baum, lieben sich dort und werden im
Bild zu einer Person.
Am nächsten Morgen wird der Hof der Freundin von Polizei und Antiterroreinheiten umstellt; die Polizei findet die Scheune leer vor; Filippo
und Philippa wachen vom Lärm der Fahrzeuge und Hubschrauber auf.
Ein Hubschrauber landet und der Pilot verlässt den Hubschrauber.
Filippo und Philippa verlassen ihr Versteck, rennen zu dem leerstehenden Hubschrauber und fliegen davon.
25
1.28.32
Die am Boden befindliche Polizei schießt auf den Hubschrauber, trifft
ihn aber nicht. Der Hubschrauber fliegt in den klaren und blauen Himmel davon.
1.29.–1.34. HEAVEN; Abspann und Musik
M 3 Ist Rache legitim? (MIND MAP 1)
Grundfrage: Was ist das handlungsleitende Motiv bei Philippa?
Antwort: Drei mögliche Motive
1. Motiv: Rache
!
!
!
!
!
!
!
!
!
!
Rache für den wegen Drogen ums Leben gebrachten Mann (Drogendealers Tod
wird dabei konsequent als Blutrache in Kauf genommen)
Persönlicher Verlust
Archaische Vorstellung von Blutrache
Blut für Blut – Leben für Leben
Form der Schuld und des Schuldigwerdens: schuldig schon durch den Gedanken der Rache selbst; Anmaßung des Herrseins über Leben und Tod.
Materialien: Todesrechtssätze aus Lev / Dtn / Turmbaugeschichte Gen 11
Biblischer Einspruch: Talionsformel; Rachepsalmen
Filmischer Einspruch: Schuld wird durch Schuldverstrickung immer größer
Philosophischer Einspruch: Immanuel Kants Kategorischer Imperativ
Problem: Liebe nimmt zwar die schuldig gewordene Philippa an, bewegt sie
jedoch nicht zur Umkehr!
2. Motiv: Liebe zu den Schüler(inne)n in der Rolle als Lehrerin
!
!
!
!
!
26
Schutz der Schüler(innen) vor Drogen und Missbrauch durch Eliminierung der
Täter.
Als Vertreterin einer staatlichen Institution nimmt Philippa die Aufgabe des
Staates wahr, die Schwachen zu schützen.
Rechtfertigt das Motiv des Schutzes die Beseitigung des Aggressors? (Mosegeschichte!).
Form der Schuld: Schutz entsteht nur durch Beseitigung der Täter (Opfer-Täter-Perspektive); wer schuldig ist, wird bestraft, und das ist Sache des Staates,
wenn der Staat versagt, muss der Einzelne selbst handeln.
Einspruch: Gott ist gegen das Böse und liebt den Sünder; Gen 4; Psalmen.
3. Motiv: Verzweiflung
!
Sowohl der Bombenanschlag als auch der Mord an dem Dealer sind Reaktionen auf den gewaltsamen Tod des Mannes und als Form der Trauerarbeit zu
sehen, die aus tiefster Verzweiflung keinen anderen Weg als die Gewalt mehr
weiß.
Einspruch: Kein Zutrauen mehr in Gott, aber auch zu sich selbst. Biblische Beispielgeschichte ist die Selbstverfluchung Hiobs in Hiob 3.
M 4 Schuld – welche Schuld? (MIND MAP 2)
Literatur
Biblische Beispielgeschichten
Mythen
SCHULD
Film
Der Film arbeitet zunächst mit Thrillerelementen. Die Actionszenen rücken das
Thema Schuld noch nicht ins Bild, das hier demnach noch nicht bearbeitet werden kann. Je langsamer der Erzählrhythmus des Filmes jedoch wird, desto mehr
rückt das Thema Schuld in den Vordergrund!
M 5 Schuld
1. Der Begriff Schuld (= S.) bezeichnet stets ein Verhalten des Menschen gegenüber Gott. S. ist Widerspruch des Menschen zu dem Anspruch Gottes an sein
Leben und Verhalten. S. ist aber immer auch Versagung dessen, was wir den Mitmenschen und Mitgeschöpfen schuldig sind, denn Gottes Anspruch betrifft uns im
Hinblick auf unser Verhalten zu dem Nächsten und in der Welt. Aber S. ist das
Verhalten zu Menschen und Dingen nur, insofern es dem Willen Gottes für dieses
Verhalten widerspricht.
27
2. Das Wesen von S. kann, eben weil es sich um das Versagen in der Gottesbeziehung handelt, mit keinem rein psychologischen oder moralischen Begriff zureichend und umfassend ausgesagt werden. Man kann vom Wesen der S. nur reden unter der im Evangelium erschlossenen Voraussetzung, daß der Mensch von
Gott dazu geschaffen ist . . . und erlöst wird, in seiner Gegenwart und aus der Kraft
seines Liebeswillens zu leben. S. ist von daher zu bestimmen als der grundlegende
Ungehorsam, der tiefer ist als ein Übertreten einzelner Gebote, nämlich ein Herausgehen aus dem, daß wir Gott gehören und zugehören und ihn mit uns haben
wollen. Das Wesen der S. ist dann sowohl als Glaubenslosigkeit wie als Lieblosigkeit zu bezeichnen: Glaubenslosigkeit, weil die Lösung aus der bestimmenden
Gegenwart Gottes Versagung der vertrauenden Selbstpreisgabe an ihn ist, indem
der Mensch meint, seine Lebenserfüllung selbst besorgen zu müssen; Lieblosigkeit, weil er eben damit das Kraftfeld der Liebe Gottes verlässt, diese Liebe selbst
nicht mehr empfängt und damit auch unfähig wird, zu lieben und Liebe . . . weiterzugeben. Indem die S. als Tat angesprochen wird und einzelne, bestimmte Taten als S. bezeichnet werden, kommt zum Ausdruck, daß die Lösung des Menschen von Gott und sein Wille, sich selbst zu leben, kein ruhender Zustand ist,
sondern ein beständiger Vorgang, der sich in Akten verleiblicht; eine Bewegung,
in der konkrete Schritte getan werden und die sich selbst eben in diesen Schritten
»tut«. Im Blick auf die verschiedene Gestalt und Beziehung dieser Tatseite der S.
kann nun wirklich von verschiedenen Arten von S. gesprochen werden. Schlecht
ist die Unterscheidung von S. gegen Gott, gegen sich selbst und gegen den Nächsten, da diese Beziehungen in aller S. mit- und ineinander gegenwärtig sind. Zutreffender ist die Unterscheidung von S. der Gedanken, des Wortes und der (äußeren) Tat, da mit ihr wirklich etwas Wesentliches getroffen wird, nämlich ein
Fortschreiten in der zerstörenden Wirkung der S. auf die geschaffene Lebenswirklichkeit. Schon in diesen inneren Schritten vollzieht sich derselbe Widerspruch gegen Gottes Willen, der in lebenszerstörenden Taten nach außen tritt.
Die Frage der Schuldhaftigkeit der S. führt in große gedankliche Schwierigkeiten.
»Schuld« im ethischen Sinne lässt sich zunächst definieren als ein Verhalten, durch
das der Mensch sich dem versagt, was rechtmäßig von ihm zu fordern ist, und ihm
als aus bösem Willen hervorgehend zugerechnet wird und ihn unter moralische,
u. U. strafrechtliche Verurteilung stellt. Dieser Schuldbegriff setzt voraus, daß der
Schuldige in seinem Verhalten innerlich beteiligt war, daß es aus seinem Willen
und nicht aus einem äußeren Zwang hervorging. Die Vergebung, die Jesus verkündigt und bringt (Sündenvergebung), vergleichgültigt nicht den Schuldcharakter
der S., sondern setzt ihn voraus. Die Erlösung . . . des Menschen von der Macht
der S. wird daher im NT nicht primär als Lösung von einem Verhängnis oder Heilung von einer quasi-krankhaften moralischen Impotenz, sondern als Versöhnung
und Rechtfertigung, d. h. Lossprechung von dem Verwerfungsurteil, verkündigt.
Erst darin eingeschlossen tritt dann freilich auch das Moment der Heilung des inneren Lebens von seiner Gebundenheit hervor.
Dem Denken bereitet der Schuldcharakter der S. Schwierigkeit vor allem im Blick
auf ihre Wesensseite. Es leuchtet ein, daß nach außen wirkende Akte, die wir auch
28
unterlassen, ja selbst das reflektierende Bilden und Festhalten von Gedanken, die
wir auch verwerfen und unterdrücken konnten, schuldhaft sind. Aber kann Gott
rechtmäßig fordern, daß wir anders sein sollen, als wir sind? Kann er uns über
dem zur Verantwortung ziehen, daß wir die S.iger sind, die S. tun und den Grund
dieses Tuns in sich haben, auch wenn sie es in der oder jener Gestalt unterdrücken?
– Man kann und muß auf solche Fragen natürlich mit Recht antworten, daß sie in
sich unmöglich sind, weil der Mensch grundsätzlich nicht in der Lage ist, Gott
darüber zur Rechenschaft zu ziehen, was er rechtmäßig fordern und wofür er verantwortlich machen darf. Aber diese Antwort darf nicht den Anschein erwecken,
als sei der Schuldcharakter der S. ein Dogma, das als unverstandener und unverstehbarer Lehrsatz hinzunehmen sei. Dadurch würde der innere Zusammenhang
von Sündenbekenntnis und Buße unmöglich. Denn Buße ist in der Tat ein Verstehen der Schuldhaftigkeit der S. im Urteil des eigenen Gewissens, und zwar gerade
auch ein Verstehen der Schuldhaftigkeit dessen, daß wir im Innersten so sind, wie
wir sind, jenseits alles dessen, was wir getan oder unterlassen haben, und ein Preisgeben dieses unseres Innersten an das Urteil und die Gnade Gottes. Ein Verstehen
freilich, das viel mehr existentielles Innewerden als logisches Begreifen ist und das
sich in seinem eigenen Vollzug um das logische Begreifen dessen, worum es da
geht, gar nicht kümmert. Entweder ist Gott der Allmächtige, ohne den nichts bestehen und wirken kann, was geschöpfliches Sein hat. Dann muß auch die Möglichkeit und das Wirklichwerden der S. letzten Endes in Gottes Willen und Wirken gründen – die S. wird ein »fruchtbares« Durchgangsmoment in Gottes eigenem
Plan. Oder: die S. ist schlechterdings das, was Gott nicht will und wirkt, zwischen
ihr und dem Schöpferwillen Gottes besteht Feindschaft bis auf den Grund. Dann
kann aber Gott nicht der schlechthin Allmächtige und Allwirkende sein, sondern
es scheint dann eine zweite Urmacht zu geben, die in einer ursprünglichen Erzeugungskraft dem Schöpferwirken Gottes das Böse entgegensetzt . . . – sei es, daß
diese zweite Macht als satanischer Gegengott verstanden, sei es, daß sie in den
Willen des Menschen verlegt wird. – Es ist klar, daß der christliche Glaube keiner
dieser beiden Erklärungen des Ursprungs der S. folgen kann. Er muß beide Prämissen festhalten: daß Gott der Allmächtige und allein schöpferisch Wirkende ist,
und: daß Gott ganz und gar nicht das Böse und die S. will und wirkt, sondern ihr
feind ist und sie überwindet. Seine Freiheit besteht ganz in der Bejahung dieser
Bindung, nicht in der ideellen Möglichkeit eines Nein neben dem Ja. Damit muß
freilich die Frage nach dem Möglichkeitsgrund des Bösen und der S. in der Schöpfung Gottes als schlechterdings nicht beantwortbar offen bleiben. Aber gerade dies
ist die dem Bekenntnis der S. allein entsprechende gedankliche Situation. Denn
haben wir die S. vor Gott als das zu bekennen, was in keiner Weise entschuldigt
und gerechtfertigt werden kann, so können und dürfen wir auch gedanklich keinen Grund haben, ihr Eintreten zu erklären.
[W. Joest 31547–31558, Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte und
Gegenwart (RGG3), Directmedia Publishing Berlin 2000, (c) J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck), Tübingen 1956–65; gekürzte Fassung]
29
M 6 Das fünfte Gebot bei Dostojewski
Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) ist in seinem weltberühmten Roman »Schuld
und Sühne« der Frage nachgegangen, ob dem Menschen ein Leben ohne die alte
Norm »Du sollst nicht morden!« möglich ist, ohne dass die Einheit seiner Person
daran zerbricht. Auf die Idee war er durch einen in den Zeitungen berichteten
Doppelmord an zwei Frauen mit einem Beil gekommen. Die Hauptfigur seiner Geschichte, Raskolnikow, ist ein Vertreter der radikalen atheistischen und rationalistischen sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Russland, der aus diesen Ideen
die nötigen Schlussfolgerungen für sein eigenes Handeln zog, das nicht mehr Gott,
sondern nur der eigenen Logik verantwortlich war.
Raskolnikow ermordet eine alte Wucherin. Die Umstände nötigen ihn, deren
Schwester, die unvorhergesehen beim Vollzug der Tat auftaucht, gleichfalls umzubringen. Die Logik, mit der er seine Tat vor sich selbst rechtfertigt, hatte er von
einem Studenten übernommen:
»Erlaube mir, ich möchte eine ernste Frage an dich richten«, begann der Student
von neuem. »Ich habe jetzt natürlich Spaß gemacht, aber sieh einmal: da ist auf
der einen Seite ein dummes, nutzloses, nichtswürdiges, böses, krankes altes Weib,
das kein Mensch braucht und das im Gegenteil allen schadet, das selber nicht weiß,
wozu es auf der Welt ist, und morgen ohnedies ganz von selbst sterben wird. Verstehst du? Verstehst du?«
»Hör weiter! Und auf der anderen Seite gibt es junge, unverbrauchte Kräfte, die
ohne Unterstützung nutzlos verkommen, und das zu Tausenden, überall! Da sind
hundert, tausend gute Werke und Unternehmungen, die man mit dem Geld der Alten beginnen und richtig zu Ende führen könnte, mit dem Geld, das einem Kloster vermacht ist! Da sind hundert, tausend Existenzen, die vielleicht auf den richtigen Weg gebracht, Dutzende von Familien, die vor dem Elend, der Zersetzung,
dem Untergang, dem Laster, der Syphilisabteilung eines Krankenhauses gerettet
werden könnten – und all das mit dem Geld dieses Weibes! Bring sie um und
nimm ihr ihr Geld, und dann widme dich mit dessen Hilfe dem Ziel, der ganzen
Menschheit und der gemeinsamen Sache zu dienen – was meinst du: wird dieses
eine winzige Verbrechen nicht durch die Tausende von guten Werken aufgewogen
werden? Für ein Leben tausend Leben, gerettet vor Fäulnis und Untergang; ein
Tod und dafür hundertfaches Leben – das nenne ich ein einfaches Rechenexempel! Und wie viel ist denn, alles in allem genommen, das Leben dieser
schwindsüchtigen, dummen, bösen alten Frau wert? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe, und nicht einmal das: denn das alte Weib ist schädlich. Sie frisst fremdes Leben; sie ist böse; unlängst hat sie Lisaweta im Zorn in
den Finger gebissen; beinahe hätte man ihn abschneiden müssen!«
Aus dem Russischen übertragen von Richard Hoffmann, Winkler, München 1999,
S. 92f.
30
Aufgabe
Was können Sie auf diese Logik antworten?
Wie kann die oberste ethische Norm begründet werden, wenn reine Logik auch einen Mord rechtfertigen kann?
Erzählen Sie die Geschichte Raskolnikows nach seinem »perfekten Mord« weiter,
ehe Sie die auf den Kopf gestellte Fortsetzung des Romans gelesen haben.
Nach der Tat setzt bei Raskolnikow eine innere Entwicklung ein: Er fühlt, wie der
Mord ihn von der ganzen Welt, von allen Mitmenschen, einschließlich seiner Mutter
und Schwester, abgesondert hat. Diese Isolierung steigert sich zu einem Gefühl der totalen inneren Leere. Die Reaktion, die jetzt von den tiefsten Schichten seines Selbst
erfolgt, hat ihre eigene Wahrheit, die selbst von einer stichhaltigen Logik nicht mehr
zum Schweigen gebracht werden konnte. In völligem Widerspruch zu seiner Logik
stellt er sich den Ermittlungsbehörden, wobei die Gestalt des Untersuchungsrichters
wohl ein Symbol für die Unbestechlichkeit des Gewissens darstellt. Raskolnikow
nimmt die offizielle Strafe, Zwangsarbeit in Sibirien, an, wo er durch die selbstlose
Liebe einer Frau (Sonja) zu einer gewandelten Lebenseinstellung kommt. Insgesamt
bildet der Roman „Schuld und Sühne“ eine meisterhaft konstruierte Darstellung von
Dostojewskis Überzeugung, dass moralische Werte und Normen aus religiösen Quellen entstehen und nicht ausschließlich von der Logik begründet oder widerlegt werden
können.
Aus: Rudolf Mack / Dieter Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral, Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 1994 7, S. 44.
M 7 Gewissen I
Auf welcher Entwicklungsstufe steht mein Gewissen?
!
!
Wer von Ihnen hat noch nie ein schlechtes Gewissen gehabt?
Woran ist dies erkennbar?
Die Psychologen Erik Erikson und Erich Fromm unterscheiden zwei Stufen des
Gewissens:
Stufe 1: Das kindliche Gehorsamsgewissen. Es wird in der Kindheit durch Gebote und Verbote der Eltern geprägt, die das Kind vor äußeren und inneren Gefahren schützen sollen. Sigmund Freud sagt, daß die elterlichen Gebote vom Kind
geschluckt werden und in der Psyche als »Stimme von innen« erklingen, auch
dann, wenn die Eltern nicht anwesend sind, d. h. die Gebote und Verbote der Eltern werden verinnerlicht und vom Kind als eigene übernommen. Auf dieser Stufe
handelt der Mensch, um anderen zu gefallen. Das Gefühl, anderen zu mißfallen,
31
erzeugt ein Schuldgefühl. Diese Stufe der Gewissensbildung muß der Mensch weiterentwickeln zur
Stufe 2: Das mündige Humangewissen. Dabei folgt der Mensch der eigenen Einsicht in die von ihm als richtig erkannten Grundsätze und Normen, die er zu seinen eigenen aus freier Einsicht macht und sich danach ausrichtet. Hier stellt sich
die wichtige Frage: An welchen Werten und Normen soll sich das mündige Gewissen orientieren?
Zwischenstufe: Vielleicht sollten wir noch einige Zwischenstufen des »jugendlichen Gewissens« annehmen, das gekennzeichnet ist durch eine echte Suche nach
eigenen Werten und Vorbildern, durch eine gewisse Selbstkritik und Kritik am Verhalten von Erwachsenen und deren Handlungsweisen.
Wie könnten wir »Gewissen« definieren?
Welches Gewissen ist gemeint?
!
Welcher der oben beschriebenen Stufen der Gewissensbildung würden Sie die
folgenden Tagebuchnotizen zuordnen?
»Derjenige, der sich gegen ein ungerechtes Gesetz – das den Menschenrechten widerspricht – vergeht, muß dies offen, mit Hingabe an die gute Sache und in der
Bereitschaft, die Strafe auf sich zu nehmen, tun. Ich bin überzeugt, daß derjenige,
der ein Gesetz bricht, von dem ihm sein Gewissen sagt, daß es Unrecht ist, und
der gewillt ist, dafür ins Gefängnis zu gehen und das Gewissen der anderen Menschen über das Unrecht zu wecken, fürwahr den höchsten Respekt für Gesetz,
Recht und Gerechtigkeit unter Beweis stellt . . .<<
(Martin Luther King, Warum wir nicht warten können, Gütersloh, 1964)
»Von meinen Eltern war ich so erzogen, daß ich Wünsche oder Anordnungen der
Eltern, Lehrer . . . ja aller Erwachsenen unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfe. Was diese sagten,
sei immer richtig. Diese Grundsätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen
. . .<<
(Rudolf Höß, Leiter des Konzentrationslagers in Auschwitz)
»Großer Krach im Betrieb! Die Chefin ist mit meiner Leistung nicht zufrieden.
Das ist ungerecht. Am besten wäre es, ich höre ganz auf! Seit ich mich für eine
kranke Kollegin eingesetzt habe, kann mich die Chefin nicht mehr leiden. Ich bin
einfach zu undiplomatisch. Aber Unrecht muß man doch schließlich beim Namen
nennen.“
(Tagebuchnotiz einer Auszubildenden)
Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral,
Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 1994 7, S. 17.
32
M 8 Gewissen II
Gewissen ist wie
!
!
!
!
!
!
!
!
!
!
!
!
eine Verkehrsampel
ein Wegweiser
eine Wand, an die man mit dem Kopf stößt
eine Sprinkleranlage, die sich bei starker Rauchentwicklung automatisch einschaltet
ein erhobener Zeigefinger
eine Fessel um die Füße
eine Bremse, die eine zu schnelle Fahrt verhindert
ein innerer Richter
eine Zwangsjacke, in die man gesteckt wird
eine Waage
ein Zeichenblatt, auf dem einige Striche vorgegeben sind, aus denen man ein
Gemälde fertigen soll
ein Netz, durch das nur kleine Fische schlüpfen
Der Mensch ist keine Maschine
Eine Maschine reagiert auf Knopfdruck und genau so, wie ihre Konstrukteure es
gewollt haben. Ein Computer liefert die Ergebnisse entsprechend den Informationen, mit denen die Programmierer ihn gefüttert haben.
Die Tiere, etwa die Hirsche in der Brunftzeit, müssen ihren Trieben folgen, weshalb man bei ihnen nicht von Triebverbrechen sprechen kann. Nur der Mensch
kann frei entscheiden und sich selbst beherrschen. Und wir sagen, er wird zum
Tier, wenn er die Selbstbeherrschung verliert (Karlheinz Haehnel).
Entfaltung des Gewissens
Das Gewissen wird dem Menschen nur keimhaft geschenkt. Daher bedarf es der
Entfaltung dieser Anlage. Dies geschieht zunächst durch andere Menschen, später
ist sie jedem Menschen selbst aufgetragen. Folgende Stufen der Entfaltung des Gewissens werden unterschieden:
Das primitive Gewissen
(frühkindliches Gewöhnungsgewissen)
Das gesunde Neugeborene kommt als ein Bündel von Antrieben zur Welt. Um geliebt und angenommen zu werden, leistet es bald erste Triebverzichte. Es fügt sich
der Lebensordnung der Eltern ein. Dafür bekommt es Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Unbewusst erhält das Kind damit die erste Prägung durch seine Umwelt.
Es erfährt: Triebverzicht lohnt sich. Ein Mensch, der auf dieser Stufe stehen bleibt,
reagiert nur auf Lohn und Strafe. Sein Lebensgrundsatz heißt: »Nicht erwischen
lassen.«
33
Das autoritäre Gewissen
Schon in der frühen Kindheit muss die erste Stufe von der zweiten Stufe abgelöst
werden, dem autoritären Gewissen. Das Kind verinnerlicht die Verhaltensmodelle
der Eltern bzw. deren Ersatzpersonen. Die Forderungen der Bezugspersonen empfindet das Kind als eigene. Es bildet sich eine eigene Inneninstanz des Kindes.
Sigmund Freud nennt diese Instanz das „Überich“. Das Kind ist der Spiegel der
Überzeugungen und Verhaltensweisen der Eltern. Das Argument für sein Verhalten lautet jetzt: Papa hat gesagt . . . Wichtig ist diese Stufe, weil das Kind ohne
Wegweiser verunsichert und ziellos wäre. Zudem werden wichtige Verhaltensmuster für ein späteres Zusammenleben eingeübt: Verzicht, Teilen, Rücksichtnahme. Wer allerdings auf dieser Stufe stehen bleibt, ist nur autoritätshörig und
kann keine Verantwortung tragen.
Das personale Gewissen
(selbstkritisches Verantwortungsgewissen)
Auch die Stufe des autoritären Gewissens muss abgelöst werden. Der erwachsen
werdende Mensch muß zu einem personalen Gewissen finden. Dieser Prozeß beginnt mit der Reifezeit. Der junge Mensch will nicht mehr gehorchen, sondern er
fragt: Warum? Weshalb? Das Verhalten will sacheinsichtig, sozialeinsichtig und
werteinsichtig werden. Der junge Mensch will das entfalten, was in ihm angelegt
ist. Er läßt sich nicht mehr durch fremde Autoritäten bestimmen. Eigene Entscheidungen werden gefällt. Damit dieses persönliche Gewissen sich nicht zum
Egoismus verfälscht, muß der Mensch sich offen halten für allgemeine Grundwerte: Selbstlosigkeit, Ehrfurcht, Tapferkeit, Ehrlichkeit, kritische Selbst- und
Fremdkontrolle. Je mehr der Mensch im Laufe seines Lebens dieses persönliche
Gewissen entfaltet, um so mehr wird er zur Persönlichkeit.
Das religiöse Gewissen
Zusammen mit dem personalen Gewissen muß sich das religiöse Gewissen entfalten. Ein echtes religiöses Gewissen ist immer ein personales Gewissen. Der religiöse Mensch weiß sich aber nicht vor sich selbst verantwortlich, sondern auch
vor Gott. Er weiß, dass er Gott untreu wird, wenn er sich selbst untreu wird. Hier
wird das Gewissen zur Kontaktstelle zwischen Mensch und Gott. Der Mensch erfährt seine Schuld als Sünde. Das reife Gewissen eines Christen unterscheidet sich
von einem »nichtchristlichen« Gewissen dadurch, daß der Christ die christlichen
Normen und Wertvorstellungen in seine Gewissensentscheidung mit einbezieht.
Dazu gehören: die Nachfolge Jesu, das Hauptgebot, die Zehn Gebote . . .
aus: Karlheinz Haehnel: Bibel provokativ, Thema: Gott, Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart.
Nachgedruckt in:
Grundlagen: Katholischer Religionsunterricht an Beruflichen Schulen 10/11. Jahrgangsstufe, Kösel-Verlag, München 1982, S. 82+83.
34
M 9 Gewissen III: Der Streit um das richtige Verständnis
des Gewissens
Der Parlamentarier soll nur seinem Gewissen folgen. – Dem Autofahrer wird das
Gewissen geschärft, freiwillig unter 130 km/h zu fahren. – Die Weichmacher-Werbung sagt der Mutter: Dein Baby – Dein Gewissen schreit! – Ein Kriegsdienstverweigerer muss Gewissensgründe nennen.
Ist das Gewissen eine letzte, unveränderliche Normeninstanz oder ein beeinflussbares Verhaltens- und Bewusstseinsphänomen?
Sokrates (470–399):
»Das Gewissen ist etwas Göttliches, eine Stimme, die dem Menschen von Jugend
an innewohnt und ihn von Schlechtem abhält.«
Thomas v. Aquin, kath. Kirchenlehrer (1226–1274):
Das Gewissen (synteresis) kann niemals irren und stimmt immer mit dem göttlichen Naturgesetz überein; es will immer das Gute und verurteilt das Böse. Mit dieser Anlage ist jeder Mensch natürlicherweise ausgestattet. Die Vernunft verarbeite
dann die Grundsätze des Gewissens zu logischen und richtigen Schlüssen; der
Wille unterwerfe sich dann meistens den Schlüssen der Vernunft, manchmal aber
auch nicht. Jetzt erst trete das handelnde Gewissen (conscientia) in Aktion in dreifacher Anwendung: es bezeugt, was getan oder nicht getan wurde; es entschuldigt
oder klagt an; es warnt oder ermuntert.
Martin Luther (1483–1546):
Er unterscheidet zwischen zwei Gewissenszuständen: dem gefangenen »schlechten Gewissen« und dem befreiten »guten Gewissen«.
Nur wer die ethischen Normen des Gesetzes ernst nimmt, sie als verbindlich einzuhalten sich bemüht, kennt das schlechte Gewissen und »zittert, zappelt und
zagt«. Das gute Gewissen ist keine Normeninstanz bei Luther, sondern ein Zustand, ein Bewusstsein der Freiheit von Normen durch den Zuspruch des Evangeliums, das zu sachgemäßen Entscheidungen frei macht. Jeder Mensch steht in der
Spannung zwischen gefangenem und befreitem Gewissen. Moderne Versuche, das
Gewissen als Befreiungsverhalten von Manipulation und Fremdbestimmung zu interpretieren und zu solchem Gewissen zu erziehen, haben von Luther entscheidende Impulse erhalten.
Immanuel Kant (1724–1804):
Das Gewissen ist das Bewußtsein vom inneren Gerichtshof im Menschen.
Karl Marx (1818–1883):
Das Gewissen ist das Ergebnis der historischen Entwicklung. »Ein Republikaner
hat ein anderes Gewissen als ein Royalist, ein Besitzender ein anderes Gewissen
als ein Besitzloser, ein Denkender ein anderes als ein Gedankenloser.«
35
Friedrich Nietzsche (1844-1900):
»Das Gewissen ist die tiefste Erkrankung des Menschen; deshalb weg mit dem
Wahn von Schuld und Gewissen!«
Adolf Hitler (1889–1945):
»Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung, eine Verstümmelung des menschlichen
Wesens . . . Ich befreie den Menschen von . . . der schmutzigen und erniedrigenden
Selbstpeinigung einer Gewissen und Moral genannten Chimäre (Ungeheuer, Anm.
d. A.) . . . An die Stelle des Dogmas von dem stellvertretenden Leiden und Sterben eines göttlichen Erlösers tritt das stellvertretende Leben und Handeln des
neuen Führergesetzgebers, der die Masse der Gläubigen von der Last der freien
Entscheidung entbindet.«
Bonner Grundgesetz, Art. 4:
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral,
Oberstufe Religion 4, Lehrerheft, Calwer Verlag Stuttgart 1980, S. 37+38.
M 10 Gewissen IV
Gewissen wird als »Bewusstsein des Pflichtgemäßen, des Sein-Sollenden bzw. von
dessen Gegenteil« bestimmt. Der Ausdruck Gewissen (= G.) ist Übersetzung von
syneidêsis, lat. conscientia. Das deutsche Wort geht im heutigen Sprachgebrauch
wesentlich auf Luther zurück. Bis auf Luther kann G. auch ganz allgemein Bewusstsein meinen, neben und vor dem »Mit-wissen«, freilich nicht als Mitwissen
mit Gott, sondern mit der Handlung oder mit sich selbst im Sinn des sich seiner
selbst vergewissernden und sich selbst beurteilenden Selbstbewusstseins. Erst die
spätantike Philosophie entwickelt den G.sbegriff zusammen mit der mehr volkstümlichen Vorstellung von der Gottesstimme im Menschen oder von dem G. als
»Interpret« Gottes (Philo), vor allem im Sinn der Anklage des Menschen gegen
sein eigenes moralisches Handeln. G. bei Paulus meint ein Wissen um Gut und
Böse und um das entsprechende Verhalten sowohl im Sinn eines Sollens wie eines Sichverfehlthabens innerhalb des Wissens um ein Daß der Forderung einer
transzendenten Instanz unter bemerkenswertem Einschluss der Möglichkeit des Irrens im Was. Von seiner Instanz her ist das G. im positiven wie negativen Urteil
schlechthin gültig. Sofern sich im G. der Gehorsam gegen Gott vollzieht, hat der
Mensch im G. seine Freiheit (1 Kor 10,29). Es ist das an Gott gebundene G., identisch mit dem Glauben oder dem Hl. Geist. Das bestimmt dann auch die Unterscheidung von befreitem und »schwachem« G. (1 Kor 8,7 ff.; 10,23 ff.), stark bzw.
schwach im Glauben (Röm 14,1). Für den Christen fällt das Urteil des G.s mit
dem Glauben zusammen; beiden eignet das Moment des »wissenden Urteils«
36
(Bultmann). Für Thomas ist die Synteresis die sittliche Ur- und Grundgewissheit,
der »naturhaft verfügbare Selbstbesitz der ersten Wahrheiten über das Handeln, die
die natürlichen Prinzipien des Naturrechts darstellen« (Quaest. de veritate 16, 1),
eine ursprunghaft praktische, irrtumsfreie und unwandelbare Grunderkenntnis, eine
auf früherer Erkenntnis des Guten im allgemeinen aufruhende Urneigung zum
Guten. Ihre Aufgabe ist das »remurmurare malo et inclinare ad bonum«; daher ist
sie ohne Sünde als der unbewegliche Grund des veränderlichen Handelns. Die conscientia hingegen regelt nach durchschnittlicher Auffassung, dem Irrtum ausgesetzt, aber gleichwohl unabdingbar verpflichtend, die praktische Anwendung der
Antriebe und Prinzipien der Synteresis. Die kath. Moraltheologie hat dieses Grundschema festgehalten. G. ist die mittelbare »Stimme Gottes«, daher absolut verpflichtend, auch im Fall des unüberwindlichen irrenden G.s. Es vertritt als nachfolgendes G. Gott als Richter, als vorangehendes und begleitendes G. Gott als
sittlichen Gesetzgeber. G.sbildung ist »Steigerung des moralischen Wissens bis zur
Vollhöhe christlicher Lebensweisheit und Lebensklugheit« (LThK IV, 478).
Luther will nichts wissen von einer durch die Gnade erfolgenden Umformung eines guten Wesenskerns des Menschen als der Verbindungsstelle des »alten« und
des »neuen« Menschen in dessen Sein, auch nichts von einem G. als dem positiven Empfangsorgan für die Offenbarung im Sinn des »Selbstverständnisses des Ich
vor Gott«. Seine Religion ist keine »G.sreligion« (Holl). Vielmehr ist für ihn G.
der Ort, an dem der Glaube den Kampf gegen den Versuch des sittlich-religiösen
Menschen durchficht, im Ethischen das Gottesverhältnis in eigene Verfügung zu
bekommen. G. ist für Luther nicht primär Bewusstseinsphänomen oder Gegenstand
einer Seelenmetaphysik, sondern es wird beschrieben in den existentiellen Korrelationen zu Gesetz, Tod, Satan einerseits, Wort, Christus, Geist andererseits. Es bezeichnet den Menschen in seinem Dasein unter der Gewalt der Anfechtungsmächte
und der Gewalt des Wortes; unter jenen Mächten wird das »blöde, verzagte, erschrockene, furchtsame, schuldige« G., »in Christus« wird das befreite, getröstete,
mutige, gute G., das identisch ist mit dem Glaubensgeschenk der Sündenvergebung und Christusförmigkeit, das den Menschen dem Fluch des Gesetzes entnimmt. Es kämpft stets in der Angefochtenheit (Anfechtung) mit dem bösen G.,
der »Bestie«, und ruft Gott als Verteidiger gegen das eigene verklagende »Herz«
an. Das christliche G. hat nur die eine Voraussetzung: Christus, der das Gesetz
überwunden hat. Es ist eine transmoralische und letztinstanzliche Größe, weil es
mit dem Glauben zusammenfällt.
Bei Kant taucht auch das alte Bild vom G. als Gerichtshof auf, wobei die Gottheit zur »idealischen Person« wird, »welche die Vernunft sich selber schafft« (Metaphysik der Sitten), und wo das G., sehr verengt, als urteilende Kontrollinstanz
für das Verhältnis von Handeln und Sittengesetz erscheint, das »gewissenhaft« untersucht werden muß. Das G. kann nicht irren, entsprechend der Unfehlbarkeit des
kategorischen Imperativs. Es kann lediglich jene Kontrolle unterlassen, aber es
vollzieht keine eigentliche G.sentscheidung mit dem Risiko der Verfehlung. Der
apriorische G.sbegriff wird völlig formalisiert: »Das G. ist ein Bewußtsein, das für
sich selbst Pflicht ist.« Kant bleibt bei der Forderung der Autonomie gewissens37
mäßigen Handelns zur Verwirklichung allgemeiner ethischer Prinzipien stehen,
auch mit der Konsequenz lebensfeindlicher Selbstgerechtigkeit. – Daher führt die
z. T. indirekte G.sanalyse der Existenzphilosophie heute ungleich tiefer, sofern sie
am G. das Schuldigsein des Daseins aufdeckt, das der von dem Sichverlieren an
das »Man« in die Freiheit auf dem Grund des Nichts zurückgerufene Mensch im
Akt seiner Setzung übernehmen muß, um dem Anspruch des Sollens gegen das
Sosein zu genügen, auf die Gefahr des Sichverfehlens hin. Eben darin ist das G.
zuletzt Aufdeckung des Schuldigwerdens in der Situation der Angst vor dem Inder-Welt-Sein. Damit sind Gedanken Kierkegaards aus dem »Begriff der Angst«
vor dem Nichts, dem Schicksal, der Schuld für die Daseinsanalyse des Menschen
weitergeführt, aber auch umgebogen, die zugleich Versuche begünstigen, das paulinische oder reformatorische G.sverständnis in Richtung auf die im G. erfolgte
Aufdeckung letzter metaphysischer Zusammenhänge philosophisch legitim auszulegen.
Gegen den Idealismus und z. T. auch gegen die pragmatische Interpretation des G.s
aus soziologischen oder utilitaristischen Erfahrungsursprüngen oder aus einer
Triebanalyse ist für eine theologische G.slehre aber die Transmoralität des G.s
grundlegend. Sie ist die wesentliche Entdeckung der Reformation auf Grund einer
schonungslosen Analyse des existenzmäßig erlebten und durchlittenen Phänomens
des G.s als Selbstaussprache des »alten«, gottfeindlichen Menschen der Selbstgerechtigkeit unter dem Gesetz, und zwar in der dem Glauben zugehörigen Erkenntnis, daß das natürliche G. Bollwerk des Menschen in seiner Selbstbehauptung
gegen Gott ist. Das gute G., welches nicht »die christliche Sittlichkeit«, sondern
der Glaube dem Menschen gewährt (vgl. 1 Petr 3,21, Taufe und G.!), verhält sich
zum natürlichen G. nicht als Vollendung einer schöpfungsmäßigen Existenzvoraussetzung mit Einschluss der »praktischen Vernunft«, sondern wie Neuschöpfung
zur Vernichtung des vom Gesetz regierten »moralischen« G.s vor Gott. Das G. ist
– im Unterschied zu seiner existenzphilosophischen Interpretation – Antwort. Daraus folgt, daß das G., so wie das Wesen des Menschen vor Gott überhaupt, nicht
Besitz des sich selbst erfahrenden Menschen, sondern Aufgabe ist. Nicht eine Aufgabe, die der Mensch von sich aus bewältigen könnte, sondern Aufgabe des Glaubensgehorsams, der allein das Problem der praktischen Vernunft in der Existenz
des gefallenen Menschen von dem nunmehr erfüllbar gewordenen Gebot Gottes
her zu lösen vermag.
[Ernst Wolf, 11440–11459, Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte
und Gegenwart (RGG3), Directmedia Publishing Berlin 2000, (c) J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck) Verlag Tübingen 1956-65, gekürzte Fassung]
38
M 11 Ethisches Stufenmodell
nach Lawrence Kohlberg
Der amerikanische Soziapsychologe Lawrence Kohlberg ist der Meinung, das es
verschiedene, entwicklungspsychologisch bedingte, moralische Stufen gibt, die
überall anzutreffen sind. Wir geben sein Modell vereinfacht wieder mit der folgenden Aufgabenstellung:
Überprüfen Sie das Modell an Ihrer »Lebenspraxis«. Auf welcher Stufe bewegen
sich Ihre Entscheidungen und Handlungen? Erfüllt das Stufenmodell ganz oder
teilweise das Kriterium einer menschenfreundlichen Moral? Begründen Sie Ihre
Meinung.
Gehorsam-Strafe-Orientierung
Ob eine Handlung gut oder böse ist, wird im wesentlichen durch die zu erwartenden Folgen Belohnung oder Bestrafung bestimmt und nicht durch ihren Sinn und
Wert für den Menschen. Dieser »moralische Realismus« findet sich vornehmlich
bei Kindern im Alter von vier bis zehn Jahren, bestimmt aber offensichtlich auch
die Entscheidungen von Erwachsenen.
Marktplatz-Orientierung
Wenn ich etwas für andere tue, kann ich erwarten, dass diese etwas für mich tun
. . . Eigennutz und Nutzen des anderen schließen sich nicht aus; Ehrlichkeit und
Menschlichkeit zahlen sich langfristig aus; vgl. Spruchweisheiten wie: »Ehrlich
währt am längsten«, »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, »Wer
anderen Güte und Liebe erweist, findet ein erfülltes Leben, Gegenliebe und Ansehen.«
Gewissen- und Norm-Orientierung
Auf dieser Ebene orientiere ich mich an Prinzipien der eigenen Wahl, die zugleich
universell sind und dadurch kommunikative Prozesse ermöglichen. Solche ethischen Prinzipien sind z. B. Gerechtigkeit, Achtung der Würde der Person, Ehrfurcht
vor dem Leben, Verlässlichkeit, Verantwortung, Nächstenliebe. Hier kann es zum
Konflikt zwischen dem Wohl der anderen und meinen Interessen kommen.
Beispiele
Kategorischer Imperativ: Handle so, dass die Richtschnur deines Handelns als allgemeines Gesetz dienen kann. (nach Kant)
Ehrfurcht vor dem Leben: Ich bin Leben, das leben will; inmitten von Leben, das
leben will . . . .
Albert Schweitzer
Prinzip Verantwortung: Handle so, dass du dir stets deiner Verantwortung gegenüber dir selbst, deinen Mitmenschen und gegenüber der Natur bewusst bist.
(nach Hans Jonas)
39
Gerechtigkeit und Liebe: Säet Gerechtigkeit, erntet nach dem Maß der Liebe!
Hosea 10,12
Goldene Regel: Was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.
Mt 7,12
Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral,
Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 1994 7, S. 11.
M 12 Information zum Stichwort »Normen«
(Der folgende Text ist einer Vorarbeit zum vorliegenden Lehrerheft entnommen
und wurde von Hans C. Lamparter verfasst.)
Gesellschaftliche Normen
Leitsätze
1. Normen zielen auf das erwünschte »normale« religiöse und soziale Verhalten,
entsprechend den Grundanschauungen einer jeweiligen Gesellschaft. Sie erscheinen als ungeschriebene und geschriebene Gesetze, nach denen man sich selbstverständlich zu richten hat. Normen beziehen sich auf die Sitte sowie auf die unterschiedlichen Institutionen und gesellschaftliche Strukturen und auf die beiden
Bereichen zugrunde liegenden Anschauungen bzw. Werte.
2. Normgemäßes Verhalten ermöglicht überhaupt erst das Zusammenleben in
größeren Gruppen. Es schützt die Gesellschaft vor gemeinschaftsbedrohendem,
asozialem Verhalten, integriert den einzelnen durch Erziehung (Gewissensbildung
und Anerkennung), entlastet bei vielen Entscheidungen und verhindert willkürliche Veränderungen der Gesellschaftsstruktur.
Eine historisch stringente Ableitung der Entstehung von Normen gibt es nicht,
wohl aber kann man verschiedene Begründungen möglicher Herkunft anführen:
eine biologisch-anthropologische (mangelnde Instinktleitung), eine kulturgeschichtliche (Überleben nur durch Zusammenarbeit) und eine sozialpsychologische
(Ich-Werdung nur durch gesellschaftlichen Bezug möglich).
3. Je stärker Normen das bloße Überleben zu sichern haben, desto größer ist ihr
Anspruch, desto härter die Sanktionen. Im Gegensatz dazu erlaubt die Spät-Gesellschaft (Überfluss-Gesellschaft) partiell das Übertreten von Normen. Zu fragen
bleibt, wann dies für diese Gesellschaft verhängnisvoll wird.
4. Werden Normen nicht mehr selbstverständlich hingenommen (Anlaß: z. B.
konkurrierende Normen verschiedener Untergruppen oder z. B. totales Fehlen der
Plausibilität durch Situationswandel), zerfallen bestimmte Normen und neue bilden sich heraus (evtl. nur für den Übergang, evtl. bleiben Primärnormen = Minimalnormen).
40
!
Begriffe: Norm von lat. »norma« = Winkelmaß, Richtschnur, Regel, Vorschrift.
»Normal« ist das diesem Maß, dieser Vorschrift Gemäße. Normen regeln alle
bedeutsamen Beziehungen zwischen Menschen und Gott, zwischen Menschen
und Mitmenschen bzw. Beziehungen von Individuen zu sich selbst und die Beziehungen von Menschen zur Welt und Natur. Normen sind von einer jeweiligen Gesellschaft bzw. Kultur abhängig. Normen können sein:
Verhaltensvorschriften zum Schutz von Werten. Werte sind Glaubensanschauungen
und Grundüberzeugungen. Deren systematischer Entwurf ist eine Ethik. Sie prüft,
ob das normale Verhalten das richtige ist.
Maßstäbe für das Verhalten, das erwartet wird (Moral).
Konkrete Verhaltensweisen, die tatsächlich gelebt werden (Sitte), bzw. Spielregeln
für alltägliches Verhalten, das ethisch bedeutungslos ist (Brauch).
!
Funktion und Herkunft von Normen
Anthropologischer Ansatz: Dass Normen notwendig sind, ergibt sich aus der mangelhaften Instinktsteuerung und Ortsungebundenheit des Menschen. Die Gefährlichkeit der Aggressionen und die ausstehende Bedürfnisbefriedigung verlangen
feste Verhaltensregeln des Zusammenlebens. Der Mensch bleibt auf den Mitmenschen zu seinem Überleben angewiesen, und zwar in einem angemessenen Verhältnis von Distanz und Nähe. Sich allmählich einschleifenden Gewohnheiten vergleichbar, entlasten Normen den Menschen vom Zwang ständiger Neuüberlegung
angemessenen Verhaltens. So verstanden haben Normen Orientierungs- und Entlastungsfunktion im Rahmen der Einzel- und Gemeinschaftsbedürfnisse (Rollenverteilung und -fixierung).
Der kulturgeschichtliche Ansatz erweitert die anthropologische Normenbegründung. Bei diesem Ansatz wird besonders die Abhängigkeit des Menschen von der
Natur und von Herrschaftsverhältnissen sowie der Wandel dieser Verhältnisse bedacht.
Der »primitive« Mensch ist der Natur fast wie ein hilfloses Kind preisgegeben. Da
er sich die Naturgewalten nicht erklären kann, erhebt er sie zu Gottheiten, die er
sich durch vermeintlich angenehme Verhaltensweisen wohlgesonnen stimmen will.
Er glaubt, die Götter wachten eifersüchtig über jede Ausdehnung menschlicher
Fähigkeiten und sie bestraften menschliche Übergriffe.
Dieselben Verhaltensnormen (absoluter Gehorsam, Demut etc.) werden in vordynamischen Gesellschaftsordnungen auch auf andere Mächtige (Ahnherr, Vater,
Herrscher) übertragen bzw. von Mächtigen (Überlagerung) zur Unterwerfung ausgenutzt. In diesem System haben Normen die Funktion, Herrschaft und gesellschaftliche Verhältnisse zu stabilisieren. Die soziale Kontrolle in überschaubaren
41
Verhältnissen diente beidem (cf. Wernher der Gartenaere, Helbrecht). Da die Verhältnisse über Jahrhunderte gleich blieben, erstarrten die Normen und erscheinen
dann als ewig, als gottgewollt und unveränderlich (So war z. B. im Mittelalter die
„via antiqua“ anerkannt, die „via moderna“ aber suspekt.). Seit der Renaissance
und vor allem seit der industriellen Revolution gerät der Wandel der Verhältnisse
des Menschen stärker in den Blick (Säkularisierung, Demokratisierung, Mobilisierung, Liberalisierung). Viele Normen werden – obwohl inzwischen funktionslos –
doch weitertradiert, ein anderer Teil jedoch auch ersetzt. Man beginnt die Normen
auf ihre Begründung hin zu befragen (z. B.: unkritischer Gehorsam gegenüber der
Obrigkeit). Unsere Gesellschaft ist »dynamisch, mobil und labil« geworden (Behrend, S. 49 f.).
Beim sozialpsychologischen Ansatz geht es um das Gewissen als der engagierten
Instanz, die über die verpflichtende Übernahme von ethischen Verhaltensforderungen entscheidet, und um die Bedingungen der Gewissensbildung. Und zwar
geht es dabei im Sinne S. Freuds nicht um das die Außenwelt und ihre Autorität
repräsentierende Über-Ich, sondern um das in der Auseinandersetzung mit dem
Über-Ich einerseits und dem Es andererseits erstarkte und selbständig gewordene
Ich, das deutlich den Lebensweg der menschlichen Persönlichkeit steuern soll. Das
zur freien Entscheidung befähigte Ich ist das Gewissen in christlichem Verstand.
Mangelnde Ich-Stärke, Neigung zur Anpassung, vorschnell gehorsame Übernahme
geltender Normen ist jedenfalls kein Zeichen für ein vollentwickeltes Gewissen,
wie es Basis christlichen Verhaltens sein soll. (Eine ausführliche Darstellung der
Gewissensbildung findet sich in: Göhrum/Röhm: Zur Strafe. Modelle für den
RU 6, Lehrerheft, S. 26–31, Calwer Verlag Stuttgart, Kösel-Verlag München 1975.)
!
Anspruch und Verwirklichung von Normen
Normen existieren nur so lange, als nach ihnen gehandelt wird bzw. sie auch als
geltend anerkannt werden. Normensysteme verschaffen den entsprechenden Verhaltenserwartungen Geltung, indem sie Verhaltensabweichungen durch Distanz,
Isolierung, Tadel oder Strafe sanktionieren.
Gesellschaftliche Normen als Problem theologischer Ethik
1. Gottes Kommen in Macht, die nichts erzwingt, und in Liebe, die leidet, bringt
Freiheit von Normen und Freiheit zum Übernehmen von bedingten Normen.
Im christologischen Ansatz, d. h. der Ansage von Gottes Reich, ist die Radikalisierung des Gesetzes und eine Neuorientierung des Lebens unlöslich verbunden.
Im Wandel der Strukturen der Gesellschaft ist dieser Ansatz jeweils neu zu bedenken.
2. Stabile Ordnungen, die sich nur unmerklich ändern, verführen zu der irrigen
Auslegung von Jesu Ansatz, daß Gott seiner Schöpfung eine über den Menschen
stehende, ewige Ordnung gegeben habe.
42
3. Der naturrechtliche Ansatz sucht Entsprechungen zwischen den menschlichen
Gedanken über die Strukturen der Welt und der göttlichen Offenbarung von Wesen und Heil der Welt. Die Analogie zwischen Gott und Welt findet im Begriff
Natur als von Gott geschaffener Seinsstruktur ihre umfassende Ausprägung. Die
oberste Maxime lautet – Handle seinsgemäß (naturgemäß)!
4. Der situationsethische Ansatz setzt voraus, daß Normen fraglich werden. Die
Vielfalt des Lebens lässt sich nicht auf Strukturen reduzieren, ohne daß Wesentliches verloren geht. Das hic et nunc des Glaubens, wie es in Jesu Angebot und
Gebot der Liebe zugemutet wird, wird zum hie et nunc des Handelns.
In einer pluralistischen Gesellschaft mit konkurrierenden Normen (Systemen) bietet der christologisch-situative Ansatz Chancen, neue Normen zu finden.
!
Das Verhalten Jesu als Norm und Normkritik
Jesu Auslegung des Doppelgebotes der Liebe ist Norm und Normkritik zugleich.
Jenes Gebot war schon im AT bekannt (3. Mose = Lev 19,18 und 5. Mose = Dtn
6,4 f), aber die kasuistische Gesetzesauslegung frommer Juden vereitelte, daß Gottes Liebe am Nächsten wirken konnte. Die Heiligkeit kultischer Ordnungen kam
vor den Bedürfnissen des Menschen (Mk 2,27), war Mittel der Selbstrechtfertigung und diskriminierte alle, die weniger »gerecht« waren.
Jesus stellt die Kasuistik des Gesetzes und die Heiligkeit der Ordnung unter die
Generalklausel des Liebesgebotes . . . die einzelnen Vorschriften sind damit nicht
aufgehoben, sondern werden daraufhin befragt, ob sie einem Menschen in seiner
jeweiligen Situation im Sinne von Gottes Liebeswillen diesem Menschen gerecht
werden (Lk 19,1-10; Joh 8,1-11; Mk 3,1-6). Die Radikalisierung des Gesetzes verschließt das Gesetz dem Leistungswillen des Menschen und öffnet ihn zugleich für
die Zusage der Vergebung. Die Universalisierung der Nächstenliebe zur Feindesliebe löst den Einzelnen aus dem sichernden Kollektiv (wider eine Identität aus
Gruppenkonformität) und weist ihn auf die Bedürftigkeit des Mitmenschen hin (Mt
5,43 ff.). Jesu Auseinandersetzung mit der jüdischen Kasuistik durch Wort und Tat
war nicht als Entwicklung einer neuen Lehre beabsichtigt, sondern war gelebte
Interpretation der Nähe Gottes, Ermöglichung der Umkehr in jeweils konkreten
Situationen.
!
Der ordotheologische Ansatz
Die Lehre von den Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen besagt, »daß der Christ
genau wie jeder andere Mensch, also vor und unabhängig von seinem Christsein,
in bestimmten Lebensordnungen (Volk, Staat, Rasse, Ehe, Familie, Wirtschaft)
steht und in ihnen unter eine Geboteordnung gestellt ist, die Gott als Schöpfer allen
menschlichen Geschöpfen verordnet . . .« (Lau: Schöpfungsordnung RGG3 V, Sp.
1492). Der Gehorsam gegenüber diesen Ordnungen, auch wenn sie zu Gottes Ge43
boten in Spannung stehen, bindet unbedingt. Von der Christologie aus sich gegen
die Ordotheologien kritisch einwenden, sie stellten die Aufrechterhaltung der Ordnung höher als die Bedürfnisse des Menschen. Liebe lässt sich in keine Kasuistik
pressen. Von der Soziologie muß diese Ordotheologie sich den Vorwurf gefallen
lassen, sie stelle Überhöhung von Herrschaftsverhältnissen dar, könne dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen nicht gerecht werden und behafte den Menschen
auf dem Status quo.
Deshalb spricht E. Wolf den Ordnungen jeden göttlichen Charakter ab. Er sieht den
Mensch als Mängelwesen »auf Institutionen (i. e. Verhaltensstrukturen von relativer Dauerhaftigkeit) angewiesen, auf deren Hilfeleistung zur Daseinsbewältigung
erfahrungsmäßig verwiesen.< (Sozialethik S. 169). Aber als »verfehlbare Möglichkeit sind die Institutionen weder ein heiles System idealer Gestaltung noch
bloße äußere Zwangsordnung . . ., sondern unverzichtbare Aufgabe für den Menschen um seiner selbst willen, ohne deren stets neue Inangriffnahme er sich selbst
verfehlen würde.« Vorgegebene Ordnungen sind »Gestaltungsaufgaben zur Bewährung des Glaubensgehorsams« und damit Chancen zur Menschwerdung des
Menschen im Sinne Gottesebenbildlichkeit (a. a. O., S. 179).
Der naturrechtliche Ansatz
»Der Begriff >Natur< . . . meint die ursprunghaft im Seienden angelegte, ihm
immanente wesenhafte Ordnung . . ., durch die ihm der Sinn seiner Existenz und
die Richtung seines Wir gewiesen ist . . . In jedes Sein ist . . . ein Ziel eingeschlossen, das ihm seinen Sinn gibt . . . Damit sind menschlichem Handeln, wenn
es nicht ziellos, also nicht sinnlos werden und sich gegen den Handelnden selbst
richten soll, verpflichtende Normen aufgegeben: Agere sequitur esse (das Handeln
folgt in seiner Zielrichtung der Ordnung des Seins).« (Klüber S. 17). Will jemand
seinsgemäß handeln, das von >Natur Rechte< tun, kann er sich auf sein Gewissen
(synteresis) verlassen. Es ist das den Christen und Heiden von Natur aus eigene,
unwandelbare und unfehlbare Erkenntnisorgan (Röm 2,14) für Gottes Schöpfungsordnung. Newman nennt es einen »Sinn für das Sittliche« und einen »Sinn
für Pflicht«, der das Rechte tun lasse (Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz
1961, S. 74). Zur konkreten Entscheidung bedarf es aber noch einer vermittelnden
conscientia, die zwischen allgemeinem Naturrecht und den von ihm abgeleiteten
Grundsätzen einerseits und den besonderen Impulsen und Erkenntnissen aus der
Erfahrung auf der anderen die Verbindung herstellt . . .
Zur Kritik: Dem Glauben an ein durch Sünde unverderbtes, unbedingtes Gewissen
(synteresis) widersprechen reformatorische Theologie und Tiefenpsychologie
(S. Freud).
Eine auf deduktivem Wege gewonnene Kasuistik kann den konkreten Lebensbedürfnisse in sich wandelnden Situationen nicht gerecht werden. Im übrigen gelten
dieselben kritischen Einwände, die schon gegen eine orthodoxe Ordotheologie erhoben wurden.
44
!
Der situationsethische Ansatz
»Nicht, was ein für allemal gut sei, kann und soll gesagt werden, sondern wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne.« Jenseits allgemeiner und formaler
Gesetze, aber auch jenseits jeder kasuistischen Engführung nimmt die Situationsethik Bonhoeffers ihren Ausgangspunkt »in der geschehenen Versöhnung der Welt
mit Gott und dem Menschen Jesus Christus, in der Annahme des wirklichen Menschen durch Gott« (Ethik, S. 91).
Der Situationsethiker steht in jeder konkreten Begegnung (»unter uns«) vor der
Entscheidung, was die ihm widerfahrene Liebe »heute« und »hier« von ihm zu tun
verlangt. Bei dieser Entscheidung können ihm die ethischen Maximen der Gemeinschaft und ihrer Tradition und der Sachverstand der Wissenschaften helfen,
seine Aufgabe zu erkennen und zu bewältigen. »Gleichzeitig kann er in jeder Situation seine (i. e. des Gesetzes) Geltung auch einschränken oder ganz unberücksichtigt lassen, wenn der Liebe damit besser gedient ist« (Fletscher, S. 20).
Kritisch ließe sich gegen situationsethische Entwürfe einwenden, ob der Einzelne
nicht durch die Zumutung ständiger Entscheidung ohne Rückendeckung des Vorgegebenen überfordert wird.
Aus der Perspektive der ordotheologischen und naturrechtlichen Normensysteme
befinden wir uns in der pluralen Gesellschaft in einer Krise der Moral, aus der
Perspektive der Soziologie in einem »Tugendvakuum« (Behrendt), denn angesichts
des raschen Strukturwandels sind die Tugenden für morgen noch nicht gefunden.
Aber gerade darin könnte die Chance des christologisch-situationsethischen Ansatzes heute liegen, mit der von Christus geschenkten Mündigkeit sich des Sachverstandes der Wissenschaften und der Phantasie (Sölle) zu bedienen, um die Liebe
Jesu in konkreten Situationen immer neu zu verwirklichen (permanente Reform).
Literatur:
Bonhoeffer, D.: Ethik, München 1961
Conzelmann, H.: Art. Jesus Christus, Abs. 10, RGG III, Sp. 633 ff.
Dembowski/Gremmels/Schrenk: Die Sünde – das Böse – die Schuld (Radiusprojekte 46) Stuttgart 1971, S. 7–25
Fletscher, N.: Moral ohne Normen? Gütersloh 1967.
Klüber, F.: Grundriß der kath. Gesellschaftslehre, Fromms Taschenbuch F 61
Noll, P.: Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen (Mohr) 1962 (vergriffen)
Wolf, E.: Sozialethik, Göttingen 1975
Sölle, D.: Phantasie und Gehorsam, Stuttgart, 5. Aufl. 1972
Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral.
Gesellschaftliche Normen als Problem theologischer Ethik, Oberstufe Religion 4,
Lehrerheft, Calwer Verlag Stuttgart 1980, S. 23–28.
45
M 13 Schritte der ethischen Urteilsfindung
„Die Wissenschaft brauchen wir zum Erkennen, den Glauben zum Handeln.“ Max
Planck
Wie kommen ethische Entscheidungen zustande? Welche Rolle spielt dabei der
persönliche Glaube?
Der Theologe Heinz Eduard Tödt nennt sechs Gesichtspunkte, die bei ethischen
Entscheidungen bedacht werden müssten, wenn Handeln verantwortlich sein soll:
Schritt 1: Problemfeststellung
Bevor man sich auf die Suche nach Lösungen macht, sollte man zuerst mit
»kühlem Kopf« die Frage stellen: Worum geht es eigentlich bei diesem »Fall«:
Was ist das Problem? Wer ist daran beteiligt, welche Bedürfnisse spielen mit herein?
Schritt 2: Situationsanalyse
Wenn das Problem erfasst ist, stellt sich die Frage, in welchem persönlichen, gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhang diese besondere Situation eingebettet und bedingt ist: Von welchen gesellschaftlichen – oder auch psychischen –
Faktoren ist diese konkrete Situation geprägt? Wo gibt es Handlungsspielräume,
wo liegen sogenannte »Sachzwänge« vor?
Eine genaue Situationsanalyse ist für die ethische Entscheidung schon deshalb
wichtig, weil man sich sonst leicht hinter scheinbar unabänderlichen Gegebenheiten verschanzt.
Schritt 3: Verhaltensalternativen
Nach der Problemfeststellung und der Problemanalyse stellt sich die Frage: Was
ist zu tun? Welche verschiedenen Möglichkeiten einer Lösung (Handlungsalternativen) gibt es, und welche Folgen ergeben sich jeweils daraus? Welche der Möglichkeiten kann ich vor meinem Gewissen verantworten?
Schritt 4: Normenprüfung
Bei vielen Entscheidungen unseres alltäglichen Lebens greifen wir auf Normen
zurück, die in unserer Umgebung als gut oder richtig gelten, die sich im Zusammenleben bewährt haben und ohne die ein Zusammenleben nicht denkbar wäre.
Aber es gibt auch gesellschaftliche Normen – die immer von Grundüberzeugungen (Werten) bestimmt sind –, die nicht in jedem Fall richtig und für mich bindend sein müssen. So hat Jesus vom Liebesgebot aus deutlich Normenkritik geübt
mit dem Satz: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der
Mensch um des Sabbats willen (Mk 2,27).
Bei der wichtigen Frage, welche Normen mein Handeln bestimmen und welche
Werte meine Entscheidungen leiten sollen, hatte der Unterricht bei verschiedenen
Entscheidungssituationen aus der biblisch-christlichen Tradition verschiedene
46
Werte und Normen ins Spiel gebracht, die als Orientierung für eine Normenprüfung dienen können:
Annehmen, Akzeptieren, eine Chance geben:
Lk 15 (so nimmt Gott uns an)
Barmherzigkeit
Friedensliebe: Martin Luther King
Ehrfurcht vor dem Leben: A. Schweitzer
Gemeinschaftssinn, Solidarität: Mi 6,8
Bewahren, sorgsamer Umgang mit der Natur (Jahwist):
1. Mose (= Gen) 2,15
Zärtlichkeit und Personalität: Hohes Lied
Würde des Menschen: Dostojewski; 1. Mose (= Gen) 1,27 f.
Schritt 5: Die Entscheidung (Urteilsentscheid)
In der Entscheidung werden gewissermaßen alle bisher genannten Schritte zusammengefasst: Das Problem ist erfasst und analysiert; ich stehe vor der Wahl, so oder
so zu entscheiden, wobei ich mich für oder gegen bestimmte Normen stellen kann,
in Übereinstimmung mit meinem Gewissen oder gegen es.
Schritt 6: Der Rückblick – die Überprüfung
Selbst bei bestem Willen können wir ein Problem nicht immer richtig erfassen,
nicht alle Faktoren berücksichtigen; nicht immer lassen wir uns leiten von Normen, die wir eigentlich bejahen.
Eine rückblickende Überprüfung soll noch einmal die fünf Schritte im Blick auf
meine Entscheidung und ihre Folgen bedenken.
Dieser sechste Schritt überschreitet aber schon das eigentliche Feld der Ethik, weil
hier ganz neue Fragen dringlich werden:
!
!
!
die Frage nach Schuld und Vergebung
die Frage nach Hoffnung und Sinn
die Frage nach Gott
Fragt man, wo der Glaube eine Rolle spielt, so ist die Antwort: möglicherweise
bei allen Schritten ethischer Urteilsfindung. Nicht erst bei der Frage, weiche Normen sollen mein Handeln bestimmen, sondern auch schon bei der Klärung, was
ist das ethisch entscheidende Problem, wie ist die Situation zu beurteilen oder welche Handlungsalternativen bestehen. Hier können die Phantasie und Weisheit des
Glaubens eine wichtige Rolle spielen.
Aus: R. Mack/D. Volpert: Auf der Suche nach einer menschenfreundlichen Moral,
Oberstufe Religion 4, Calwer Verlag Stuttgart 19947, S. 46.
Sven Howoldt / Wilhelm Schwendemann
47
Danksagung:
Einzelne Kapitel (siehe Quellenangaben) dieses Aufsatzes wurden jeweils mit
freundlicher Genehmigung der folgenden Verlage abgedruckt:
Calwer Verlag, Stuttgart (http://www.calwer-verlag.de)
Directmedia Publishing GmbH, Berlin (http://www.digitale-bibliothek.de)
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag, Tübingen (http://www.mohr.de)
Kösel-Verlag, München (http://www.koesel.de)
Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart (http://www.bibelwerk.de)
Wir danken den o. g. Verlagen bzw. Institutionen sehr herzlich für die Abdruckgenehmigungen.
Kopienverleih: Kirchliche und öffentliche AV-Medienstellen
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