Gotteslehre (1): Magritte „Le Rossignol“ („Die Nachtigall“ oder „Der
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Gotteslehre (1): Magritte „Le Rossignol“ („Die Nachtigall“ oder „Der
Gotteslehre (1): Magritte „Le Rossignol“ („Die Nachtigall“ oder „Der Ladenhüter“) Rene Magritte: Le Rossignol (1962) Rene Magritte: Le Rossignol (1962) Gotteslehre (2): Tilmann Moser Dr. phil. Tilmann Moser, Jahrgang 1938, ist Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut. Er praktiziert seit 1978 in Freiburg im Breisgau und bietet für praktizierende Therapeuten Seminare zum Thema Psychoanalyse und Körpertherapie, seelische Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg sowie Psychotherapie und Religion an. 1976 veröffentlicht er sein Buch „Gottesvergiftung“, in dem er mit dem Gottesbild seiner Kindheit und Jugend streitet. Gotteslehre (2): Gottesvergiftung (T. Moser) 5 10 15 20 25 30 35 40 Neulich war ich auf einem gruppentherapeutischen Training, und es ging um das Ausmaß von Hemmungen, das jeder mit sich herumträgt. Da fragte der Trainer, welche Sätze uns in unserem Leben am meisten eingeschüchtert hätten. Weißt du, was bei mir zum Vorschein kam als die mich domestizierende, einengende, schachmatt setzende stereotype Phrase: »Was wird der liebe Gott dazu sagen?« Durch diesen Satz war ich früh meiner eigenen inneren Gerichtsbarkeit überlassen worden. Im Grunde mussten die Eltern gar nicht mehr sehr viel Erziehungsarbeit leisten, der Kampf um das, was ich tun und lassen durfte, vollzog sich nicht mit ihnen als menschliche Instanz, mit der es einen gewissen Verhandlungsspielraum gegeben hätte, sondern die »Selbstzucht«, wie das genannt wurde, war mir überlassen, oder besser, der rasch anwachsenden Gotteskrankheit in mir. Du hast mir dann kaum noch Chancen gelassen, mit mir selbst ein auskömmliches Leben zu führen. Weißt du, welches Wort mich mit einer abenteuerlich tiefen Angst erfüllt hat? Aussätzigkeit. Dir ist es doch tatsächlich gelungen, dass ich mich wegen meiner kleinen Durchschnittssünden jahrelang aussätzig fühlte. Und die Aussätzigen auf den biblischen Bildern wurden isoliert, an langen Stangen ließ man ihnen die Mahlzeiten reichen, sie mussten mit Klappern herumlaufen, damit niemand durch sie angesteckt wurde. Über seelische Vorgänge, gar über Ängste, wurde in unserer Familie nicht geredet. So war ich deinem Wüten in mir ausgeliefert und hatte nicht einmal den Gedanken daran, dass es irgendwo Entlastung geben könnte. Dein Hauptkennzeichen für mich ist Erbarmungslosigkeit. Du hattest so viel an mir verboten, dass ich nicht mehr zu lieben war. Deine Bedingungen waren zu hoch für mich, und niemand hat sie gemildert, weil von einem bestimmten Punkt an nicht mehr davon die Rede war. Ich habe dich flehentlich gebeten, mich auf die Seite der »Schafe« zu nehmen, doch ich wusste, dass ich zu den »Böcken« gehörte. Es war mir als Kind so selbstverständlich, dass die Welt, die jetzige und die spätere, aus Geretteten und aus Verdammten bestand; das Fürchterliche war nur, dass ich, wie es auf manchen Bildern zu sehen ist, immer über dem Abgrund der Verdammnis hing und niemals wusste, wie lange der schmale Steg noch halten würde, der mich trug. Als im Religionsunterricht die Prädestinationslehre besprochen wurde, nach der es durch deinen unerforschlichen Ratschluss den Menschen von Anbeginn an bestimmt ist, ob sie zu den Geretteten oder den Verdammten gehören, überfiel mich eine entsetzliche Lähmung, weil alles ausweglos erschien. Mich faszinierte es, wie viele Mittel meinen katholischen Schulfreunden gelassen wurden, um sich doch noch zu retten, um Ablass zu erhalten. Ich lauschte oft atemlos ihren Berechnungen, wenn sie, vor und nach der Kommunion, ihre Sünden und die Strafen und die Wiedergutmachungsforderungen berechneten, und wenn ihnen die Lage nicht aussichtslos erschien. Seit dieser Niederschrift ist ein Jahr vergangen, und sie hat mich tatsächli ch ein Stück geheilt von dir. Ich habe sogar einige Seiten an dir neu entdeckt, für die ich 45 dir dankbar bin. Das jahrelange Ringen mit dir früher hat mich stärker gemacht, mir ein Gefühl von innerer Kontinuität und seelischem Zusammenhang gebracht. Manchmal - so sehe ich es heute - war die Illusion auch wichtig, dass du mich siehst oder kennst. Die Menschen um mich her haben zu wenig von mir verstanden, oder ich konnte mich ihnen nicht verständlich genug machen, um 50 nicht froh über die Fiktion zu sein, dass du in mir Bescheid wüsstest. Auch die Gespräche mit einem Toten können nützlich sein, wenn er so gegenwärtig ist wie du es warst und man vorübergehend annimmt, er interessiere sich für die eigene Person. Manches in mir ist durch dich erst innerlich zusammengesetzt worden, sagen wir 55 einmal: das Gefühl der Identität, der Wirklichkeit vieler Gefühle und Gedanken, oder überhaupt: die innere Dimension, die Seele, der innere Raum, das Bewusstsein, dass innen genauso viel Welt ist wie außen. Anderes hast du auf eine schreckliche Weise auseinandergeteilt, am schlimmsten: den Körper und die Seele. Tiefe Brüche hast du da angerichtet, quer durch die eigene Natur, so dass 60 sie kaum noch zu handhaben war. Aber ich wollte dir ja sagen, inwieweit du, die große Krankheit, auch dein Gutes gehabt hast: Dich überstanden zu haben gibt mir Selbstbewusstsein; von der riesigen Krücke nicht erschlagen worden zu sein, ein Gefühl von Kraft. Zutrauen werde ich nie mehr zu dir haben können. Aber ich weiß auch, dass du anderen freundlicher begegnet bist. Soweit sie dich brauchen, 65 um nicht noch mehr zu leiden, werde ich nicht gegen dich sprechen. Es genügt mir, dass ich dich nicht mehr brauche. Wieviel Gewicht dir andere belassen wollen, darin will ich ihnen nicht dreinreden. Aber was wird an deine Stelle treten, die riesigen Leerstellen füllen, wo du dich ausgebreitet hattest? Nicht alle müssen gefüllt werden. Das Haus kann 70 schrumpfen, es war unnötig groß. Und was du für dich an wunderbaren Eigenschaften gepachtet hattest, werde ich bei den Menschen wiederfinden. Wenn ich in manche Gesichter sehe, empfinde ich keinen Verlust mehr, und menschliche Gesichter werden deines ersetzen, weil deines unmenschlich war. Meine Augen lernen sehen, seit du mir nicht mehr den Horizont verdunkelst. Aus: T. Moser: Gottesvergiftung. Frankfurt 1976, S. 17-20; 99-101 Aufgabe: Erläutert der zweiten Gruppe das Gottesbild, mit dem sich Tilmann Moser auseinandersetzt! Formuliert hierzu Stichworte! (Tilmann Moser) Gotteslehre (3): Gottesbilder im Wandel der Zeit 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Bild „Ladenhüter“ Gott versteht alles, nimmt nichts krumm. Bei Versagen klopft er einem gedanklich gleichsam auf die Schulter und sagt „halb so wild“. Dieser Gott sieht alles, kontrolliert alles und wartet nur darauf, zu strafen, wenn etwas danebengeht. Wenn alle Stricke reißen, oder wenn ich Angst habe, schicke ich ein Stoßgebet zu ihm. Ansonsten vergesse ich ihn wieder. Ich begegne ihm im Mitmenschen, besonders im Armen in der „Dritten Welt“, im Aidskranken, Ausländer, … Er wird vor allem gebraucht bei Feiern und Veranstaltungen, um einen besonders würdigen Rahmen zu gewährleisten (z.B. Hochzeiten). Dieser Gott ist gut, um bestehende Machtverhältnisse in Gesellschaft und Politik zu stabilisieren. Er hilft vor allem den Mächtigen. Dieser Gott ist ganz nah bei großen Veranstaltungen (z.B. Weltjugendtag). Man hat das Gefühl, es könnte einen nichts mehr umwerfen. Dieses Gottesbild geht nicht von einem personalen Gott aus, sondern von einer „kosmischen Kraft“, die einfach da ist. Er ist ein Gott für Erfolgreiche. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ ist ein bewährter Spruch. Dieser Gott straft alle Sünden sofort oder im Jenseits und ist in der Erziehung ein verlängerter Arm der Eltern. Nicht nur Kinder stellen sich Gott als einen alten, weisen Mann mit Glatze und weißem, langen Bart vor. Ein „guter Mensch“, harmlos und lieb. „modern“ Aufgabe: Beurteile, ob die einzelnen Gottesbilder überholt („Ladenhüter“ Magritte) oder durchaus „modern“ sind und begründe deine Entscheidungen. Gotteslehre (3): Frau Bertholds wechselhafte Beziehungen zum lieben Gott (S. Kilian) 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Als Frau Berthold noch ein kleines Mädchen war und noch Lotte Gebhard hieß, waren ihre Beziehungen zum lieben Gott gut. Überhaupt stellte sie ihn sich so vor: erst mal und vor allen Dingen lieb. Als alten weißhaarigen Mann mit ebenso weißem Rauschebart. Irgendwie ähnelte das Bild, das sie sich von ihm machte, ein wenig dem Weihnachtsmann. Dass er auch zornig sein konnte, erfuhr sie später. Als sie in den Kommunionunterricht ging und lernte, dass Sünden, wie zum Beispiel das Lutschen eines geklauten Bonbons oder das Essen von Fleisch an einem Freitag, gebeichtet und gesühnt werden müssen. Da fingen ihre Beziehungen zum lieben Gott an, wechselhaft zu werden. Manchmal liebte sie ihn: Wenn sie in der Kirche war, und der Weihrauch duftete und der Kirchenchor sang, und alles war festlich und feierlich im Flackern der Kerzen und Murmeln der Gebete. Manchmal fürchtete sie ihn: Wenn sie ihre kleinen Kindersünden beichten musste und sich schon im Fegefeuer büßen sah wegen einer ungehorsamen Antwort gegen die Mutter. Oder noch viel schlimmer: sich in der Hölle in einem großen Topf braten sah. (Jedenfalls stellte sie sich das damals so vor.) Besonders schwere Strafen für besonders schwere Vergehen. Trotzdem. Lotte Gerhard war nicht gerade ein frommes Kind. Zu ihrer Zeit ging man eben jeden Sonntag in die Kirche. Das gehörte sich so. Und dass man zur Kommunion oder Konfirmation zu gehen hatte, verstand sich auch von selbst. Da wurde nicht viel gefragt. Schon gar nicht die Kinder. Und als aus Lotte Gerhard dann Frau Berthold -wurde - klar, nicht nur Standesamt, nein: weiße Hochzeit mit Schleier, Myrtenkranz und allem Drum und Dran in der Kirche. Nun war Frau Berthold erwachsen. Der liebe Gott ihrer Kindheit rückte in imitier fernere Himmel. Sonntags hatte sie keine Zeit mehr, in die Kirche zu gehen. Da waren die kleinen Kinder, die sie versorgen musste. Ihre Beziehungen zum lieben Gott schliefen ein bisschen ein. Ein Kirchbesuch zu Weihnachten, mal einer zu Ostern. Hier und da ein bitteres Gebet, wenn sie gar nicht weiter wusste. Manchmal dann, wenn das Übel vorbei war, ein Dankgebet. Voll schlechten Gewissens, weil sie so wenig an Gott dachte. Aber ihre Kinder waren getauft. Sie gingen jeden Sonntag zur Kirche. Das gehörte sich so. Das musste so sein. „Also, was ihr später macht, das ist eure Sache. Aber solange ihr Kinder seid, habt ihr jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Das schadet euch nicht. Das kann euch nur nützen", pflegte sie zu ihren Kindern zu sagen, wenn die maulten. Ja. Je älter Frau Berthold wurde, desto blasser und blasser wurde das Bild, das sie sich vom lieben Gott machte. Überhaupt, lieb war er schon lange nicht mehr für sie. Er war einfach Gott. Und es war ihr sehr, sehr zweifelhaft, ob es ihn überhaupt gab. Da brauchte sie nur an das schreiende Unrecht und die schweren Schicksale zu denken, die es überall in der Welt gibt. Wenn es einen lieben Gott gäbe, dann dürfte er so etwas überhaupt nicht zulassen. Jedem, der es hören wollte, sagte sie: „Also, nehmen Sie doch mal unsere Kirche. Da bezahlen wir Kirchensteuer. Und was machen sie damit? Paläste von Kirchen bauen sie. Immer neue. Und der Bischof läuft rum, behängt von oben bis unten mit Zierrat und Gold. Und in den Kirchen ist auch ein Reichtum wie Gott weiß was! Und die Armen? Würden sie lieber für die was tun! Schließlich ist unser Herr Jesus in 'nein ärmlichen Stall geboren. Ohne Prunk und Pracht. Wenn der gewusst hätte, was die mal für ' nen Protz draus machen! Nein, nein, die ganze Kirche mit allem was dazugehört, kann mir 50 55 60 65 70 gestohlen bleiben. Das ist meine Meinung! Jawohl!" Für eine Zeitlang war Gott aus dem Leben Frau Bertholds ganz verschwunden. Später waren ihre Kinder verheiratet. Der Sohn in Amerika. Die Tochter in einer anderen Stadt. Alle beide weit, weit weg von ihr. Sie hatte Enkelkinder. Aber die kannte sie fast nur von Fotos. Da starb ihr Mann. Sie war allein. Ganz allein. Und dann wurde sie auch noch krank. So, dass sie sich nicht mehr allein versorgen konnte und in ein Pflegeheim musste. Es war ein preiswertes, von Nonnen geleitetes Heim. Ein anderes hätte sie sich gar nicht leisten können. Und überall hingen Heiligenbilder und Kreuze, und eine Kapelle gab es auch. Jeden Sonntag wurde dort eine Messe gelesen für die Kranken. Ausschließen konnte sie sich da nicht. Auch nicht, wenn morgens, mittags und abends vor und nach dem Essen gebetet wurde. Das ging einfach nicht. Die Nonnen waren so nett. Und Frau Berthold mochte sie nicht kränken und außerdem: Sie war jetzt so allein. Und einsam. Manchmal, in der Nacht, wenn sie wach lag und nicht wieder einschlafen konnte, quälte sie der Gedanke, dass sie nicht mehr gesund werden würde. Dass sie bald sterben müsste. Der Tod machte ihr solche Angst. Sie fühlte sich schwach und hilflos wie ein winziges Kind. Und hoffte nur eins: es gibt ihn, den lieben Gott. Er wird mir verzeihen, dass ich eine Zeitlang ungläubig war. Er wird mich hoffentlich in den Himmel kommen lassen. Wird er das? Der Gedanke an den alles verzeihenden, lieben, gütigen Gott ihrer Kindertage in einem hellen, lichten, fröhlichen Himmel war ihr einziger Trost, Für Frau Berthold gab es ja sonst nichts mehr. Ihre Beziehungen zum lieben Gott, einmal wieder aufgenommen, wurden so gut wie niemals zuvor. Jedenfalls von ihrer Seite. Gotteslehre (4): Angelus Silesius*: „Der Cherubinische Wandersmann“ Man kann den höchsten Gott mit allen Namen nennen, man kann Ihm wiederum nicht einen zuerkennen. Was du von Gott bejahst, dasselb´ ist mehr erlogen Als wahr: weil du Ihn nur nach dem Geschöpf erwogen. Gott ist ein laut´rer Blitz und auch ein dunkles Nicht, das keine Kreatur beschaut mit ihrem Licht. Gott ist ein Geist, ein Feu´r, ein Wesen und ein Licht, und ist doch wiederum auch dieses alles nicht. Was Gott ist, weiß man nicht: Er ist nicht Licht, nicht Geist, nicht Wahrheit, Einheit, Eins, nicht was man Gottheit heißt, nicht Weisheit, nicht Verstand, nicht Liebe, Wille, Güte, kein Ding, kein Unding auch, kein Wesen, kein Gemüte: Er ist, was ich und du und keine Kreatur, eh´ wir geworden sind, was ER ist, nie erfuhr. Gott ist nur eigentlich, Er liebt und lebet nicht, wie man von mir und dir und andern Dingen spricht. Das überlichte Licht schaut man in diesem Leben Nicht besser, als wenn man ins Dunkle sich begeben. *Angelus Silesius (1624-1677) ist einer der bekanntesten schlesischen Barockdichter. Die „analoge Rede“ von Gott Wenn wir philosophisch von etwas „Nicht-Empirischen“ sprechen sollen, dann geht das nur vom „Empirischen“ aus, das in einem bestimmten Verhältnis zum „Nicht-Empirischen“ steht. Dies geschieht in der analogen Rede! Empirisches Nicht-Empirisches Es gibt zwei Varianten der analogen Rede: 1. Die Proportionsanalogie Gott = Gerecht Gütig allwissend Allmächtig Schöpfer gerecht/ungerecht gut/böse wissend/unwissend = Mensch <-- mächtig/ohnmächtig schöpferisch Prinzip: Ähnlichkeit bei noch größerer Unähnlichkeit 2. Die Proportionalitätsanalogie Die metaphorische Rede bedient sich der Proportionalitätsanalogie (z.B. Gleichnisse) Beispiel: Der Mensch verhält sich zu Gott wie das Vieleck zum Kreis (N. v. Kues) Gotteslehre (6): Ludwig Feuerbach (1804-1874) Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke! Gotteslehre (6): Religionskritik I - Die Projektionstheorie von Ludwig Feuerbach (1804-74) Und hier gilt daher ohne alle Einschränkung der Satz: Der Gegenstand des Menschen ist nichts anderes als sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: so viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes, die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst Du den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse. Kernthese 1: Und unsere Aufgabe ist es eben, nachzuweisen dass der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen ein illusorischer, d. h., dass er nichts anderes ist als der Gegensatz zwischen dem menschlichen Wesen und dem menschlichen Individuum, dass folglich auch der Gegenstand und Inhalt der christlichen Religion ein durchaus menschlicher ist. Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem anderen Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts anderes als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und verehrt als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen - alle Bestimmungen des göttlichen Wesen sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens. Kernthese 2: In Beziehung auf die Prädikate, d.h. die Eigenschaften oder Bestimmungen Gottes wird dies denn auch ohne Anstand zugegeben, aber keineswegs in Beziehung auf das Subjekt, d.h. das Grundwesen dieser Prädikate. Die Verneinung des Subjekts gilt für Irreligiosität, für Atheismus, nicht aber die Verneinung der Prädikate. Aber was keine Bestimmungen hat, das hat auch keine Wirkungen auf mich; was keine Wirkungen, auch kein Dasein für mich. Alle Bestimmungen aufheben, ist soviel als das Wesen selbst aufheben. Ein bestimmungsloses Wesen ist ein ungegenständliches Wesen, ein ungegenständliches Wesen ein nichtiges Wesen. Wo daher der Mensch alle Bestimmungen von Gott entfernt, da ist ihm Gott nur noch ein negatives, d.h. nichtiges Wesen. Beweis: 1. Voraussetzung: 2. Voraussetzung: 3. Schluss: Nicht die Eigenschaft der Gottheit, sondern die Göttlichkeit oder Gottheit der Eigenschaft ist das erste wahre göttliche Wesen. Also das, was der Theologie und Philosophie bisher für Gott, für das Absolute, Wesenhafte galt, das ist nicht Gott; das aber, was ihr nicht für Gott Quelle: L. Feuerbach Das Wesen der Religion, hrsg. von A. Esser. 3. Auflage Heidelberg 1979, S. galt,95-98. das gerade ist Gott - d. i. die Eigenschaft, die Qualität, die Bestimmtheit, die Wirklichkeit überhaupt. Ein wahrer Atheist, d.h. ein Atheist im gewöhnlichen Sinne, ist daher auch nur der, welchem die Prädikate des göttlichen Wesens, wie z. B. die Liebe, die Weisheit, die Gerechtigkeit nicht sind, aber nicht der, welchem nur das Subjekt dieser Prädikate nichts ist. Und keineswegs ist die Verneinung des Subjekts auch notwendig zugleich die Verneinung der Prädikate an sich selbst. Die Prädikate haben eine eigene, selbständige Bedeutung; sie drängen durch ihren Inhalt dem Menschen ihre Anerkennung auf; sie erweisen sich ihm unmittelbar durch sich selbst als wahr: sie betätigen, bezeugen sich selbst. Güte, Gerechtigkeit, Weisheit sind dadurch keine Chimären, dass die Existenz Gottes eine Chimäre, noch dadurch Wahrheiten, dass diese eine Wahrheit ist. Der Begriff Gottes ist abhängig vom Begriffe der Gerechtigkeit, der Güte, der Weisheit, - ein Gott, der nicht gütig, nicht gerecht, nicht weise, ist kein Gott - aber nicht umgekehrt. Eine Qualität ist nicht dadurch göttlich, dass sie Gott hat, sondern Gott hat sie, weil sie an und für sich selbst göttlich ist, weil Gott ohne sie ein mangelhaftes Wesen ist. Die Gerechtigkeit, die Weisheit, überhaupt jede Bestimmung, welche die Gottheit Gottes ausmacht, wird durch sich selbst bestimmt und erkannt, Gott aber durch die Bestimmung, die Qualität; nur in dem Falle, dass ich Gott und die Gerechtigkeit als dasselbe, Gott unmittelbar als die Wirklichkeit der Idee der Gerechtigkeit oder irgendeiner anderen Qualität denke, bestimme ich Gott durch sich selbst. Wenn aber Gott als Subjekt das Bestimmte, die Qualität, das Prädikat aber das Bestimmende ist, so gebührt ja in Wahrheit dem Prädikat, nicht dem Subjekt der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit. Quelle: L. Feuerbach Das Wesen der Religion, hrsg. von A. Esser. 3. Auflage Heidelberg 1979, S. 97 f., 110 f. Kernthese 3: Aufgabe: Arbeite aus dem Text die drei Kernthesen und den Beweis der dritten These heraus! Gotteslehre (7): Religionskritik I - Die Projektionstheorie von Ludwig Feuerbach (1804-74) (2) „Der Mensch glaubt Götter nicht nur, weil er Phantasie und Gefühl hat, sondern auch, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein seliges Wesen, nicht nur, weil er eine Vorstellung der Seligkeit hat, sondern weil er selbst selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst nicht zu sterben wünscht. Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen; ein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen. Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er trotz Phantasie und Gefühl keine Religion, keine Götter. Und so verschieden die Wünsche, so verschieden sind die Götter, und die Wünsche sind so verschieden, als es die Menschen selbst sind. Der Trieb, aus dem die Religion hervorgeht, ihr letzter Grund ist der Glückseligkeitstrieb, und wenn dieser Trieb etwas Egoistisches ist, also der Egoismus. aus: L. Feuerbach: Das Wesen der Religion. 1841. Zit. Nach der Ausgabe Reclam Verlag, Stuttgart 1969, S. 53ff. Gotteslehre (7): Schaubild der Projektionstheorie von Ludwig Feuerbach Gotteslehre (7): Religionskritik I – Die Projektionstheorie von Ludwig Feuerbach (3) „Wenn die Götter Wunschwesen sind, so folgt daraus für ihre Existenz oder Nicht-Existenz gar nichts!“ (Eduard v. Hartmann) Feuerbach hat seinen Atheismus auch geschichtsphilosophisch begründet: Er verkündet, dass die Zeit des Christentums unwiderruflich abgelaufen sei und wir in einer „Periode des Untergangs des Christentums“ lebten: „An die Stelle des Glaubens ist der Unglaube getreten, an die Stelle der Bibel die Vernunft, an die Stelle der Religion und Kirche die Politik, an die Stelle des Himmels die Erde, des Gebetes die Arbeit, der Hölle die materielle Not, an die Stelle des Christen der Mensch.“ (L. Feuerbach: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bolin-Jodl Bd. II (Stuttgart 1904), S. 217) Gotteslehre (7): Kritik an der Religionskritik Feuerbachs I Nun ist es ganz richtig, dass darum etwas noch nicht existiert, weil man es wünscht, aber es ist nicht richtig, dass darum etwas nicht existieren könne, weil man es wünscht. ... Wenn die Götter Wunschwesen sind, so folgt daraus für ihre Existenz oder Nichtexistenz gar nichts.“ (Eduard v. Hartmann) 1.Beantworten Sie mit Hilfe des Zitates von Hartmann sowie der unten angeführten Skizze die folgende Frage: Ist Brot lediglich/ausschließlich eine Projektion des Hungers, weil es dem menschlichen Wunsch nach Sättigung entspricht? 2.Entwerfen Sie analog zu der obigen Skizze eine Skizze über das Verhältnis Mensch und Gott! 3. Verwenden Sie die erarbeiteten Informationen und halten Sie in einigen Stichpunkten fest, inwieweit sich hieraus eine Kritik an Feuerbachs Theorie ableiten lässt. Gotteslehre (7): Kritik an der Religionskritik Feuerbachs II „...der von den Menschen sehnsüchtig erwartete Messias wurde als Obdachlosenkind im Stall geboren und am Kreuz als politischer Aufrührer unschuldig hingerichtet.“ (Peter Kliemann) Quelle: http://www.spiegel.de/img/0,1020,338456,00.jpg 1. Welche Eigenschaften des christlichen Gottes kommen im Zitat/ Bild zum Ausdruck? 2. Erklären Sie in wenigen Stichpunkten, weshalb diese Eigenschaften des christlichen Gottes im Kontrast zur Theorie Feuerbachs stehen! Zitat entnommen aus: Kliemann, Peter: Glauben ist menschlich. Argumente für die Torheit vom gekreuzigten Gott. Stuttgart ²1990. S. 28. Gotteslehre (7): Kritik an der Religionskritik Feuerbachs III „Der Glaube an die gute Menschennatur und den menschlichen Fortschritt steht selber unter Projektionsverdacht.“ (Hans Küng) „Wenn Feuerbach das Bild eines mündigeren, tatkräftigeren Menschen der Zukunft malt, projiziert er außerdem selbst, er ‚hängt sein Herz’ an einen Fortschrittsglauben, der im 19.Jahrhundert auf viele Menschen faszinierend wirken musste, dessen negative Auswirkungen heute aber niemand mehr übersehen kann.“ (Peter Kliemann) 1. Auf welchen Gedanken Feuerbachs beziehen sich die beiden Textauszüge? 2. Erklären Sie in einigen Stichpunkten, weshalb der Verdacht der Projektion gegen Feuerbach selbst erhoben werden kann. Zitate entnommen aus: Küng, Hans. Zitiert nach: Marggraf, Eckhart; Eberhard, Röhm: Gottes verborgene Gegenwart. (= Oberstufe Religion 19). Stuttgart 1988. S.49. Kliemann, Peter: Glauben ist menschlich. Argumente für die Torheit vom gekreuzigten Gott. Stuttgart ²1990. S. 28. Gotteslehre (8): AB zur Religionskritik von Freud Z. 1-24: _Religion =_______________________________________________________ Beispiele: Z. 25-39: _______________________________________________________________ Aspekte: Z. 40ff.: __Analogie von_____________________________________________ Beispiele: Konsequenzen: Gotteslehre (8): Die Religionskritik von S. Freud (1856-1939) I: Was ist eine Illusion? 5 10 15 20 25 Eine Illusion ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, sie ist auch nicht notwendig ein Irrtum. Die Meinung des Aristoteles, dass sich Ungeziefer aus Unrat entwickle, an der das unwissende Volk noch heute festhält, war ein Irrtum, ebenso die einer früheren ärztlichen Generation, dass die Tabes dorsalis die Folge von sexueller Ausschweifung sei. Es wäre missbräuchlich, diese Irrtümer Illusionen zu heißen. Dagegen war es eine Illusion des Kolumbus, dass er einen neuen Seeweg nach Indien entdeckt habe. Der Anteil seines Wunsches an diesem Irrtum ist sehr deutlich. Als Illusion kann man die Behauptung gewisser Nationalisten bezeichnen, die Indogermanen seien die einzige kulturfähige Menschenrasse, oder den Glauben, den erst die Psychoanalyse zerstört hat, das Kind sei ein Wesen ohne Sexualität. Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet sich, abgesehen von dem komplizierteren Aufbau der Wahnidee, auch von dieser. An der Wahnidee heben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muss nicht notwendig falsch, d. h. unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein. Ein Bürgermädchen kann sich z. B. die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie heimzuholen. Es ist möglich, einige Fälle dieser Art haben sich ereignet. Dass der Messias kommen und ein goldenes Zeitalter begründen wird, ist weit weniger wahrscheinlich; je nach der persönlichen Einstellung des Urteilenden wird er diesen Glauben als Illusion oder als Analogie einer Wahnidee klassifizieren. Beispiele von Illusionen, die sich bewahrheitet haben, sind sonst nicht leicht aufzufinden. Aber die Illusion der Alchemisten, alle Metalle in Gold verwandeln zu können, könnte eine solche sein. Der Wunsch, sehr viel Gold, soviel Gold als möglich zu haben, ist durch unsere heutige Einsicht in die Bedingungen des Reichtums sehr gedämpft, doch hält die Chemie eine Umwandlung der Metalle in Gold nicht mehr für unmöglich. Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet. Aus: S. Freud: Die Zukunft einer Illusion. 1927, S. 97f. Aufgabe: Erläutere an selbst gewählten Beispielen den Unterschied zwischen Illusion, Irrtum und Wahnidee nach Freud! Gotteslehre (8): Die Religionskritik von S. Freud - Grundbegriffe Irrtum Kriterium Beispiel Illusion Wahnidee Gotteslehre (8): Die Religionskritik von S. Freud (1856-1939) II 5 10 15 20 25 30 35 40 45 In vergangenen Zeiten haben die religiösen Vorstellungen trotz ihres unbestreibbaren Mangels an Beglaubigung den allerstärksten Einfluss auf die Menschheit geübt. Das ist ein neues psychologisches Problem. Man muss sich fragen, - worin besteht die innere Kraft dieser Lehren, - welchem Umstand verdanken sie ihre von der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirksamkeit? Ich meine, wir haben die Antwort auf beide Fragen genügend vorbereitet. Sie ergibt sich, wenn wir die psychische Genese der religiösen Vorstellungen ins Auge fassen. Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz - Schutz durch Liebe - erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines - aber nun mächtigeren Vaters - verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wissbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden. Wenn ich sage, das alles sind Illusionen, muss ich die Bedeutung des Wortes abgrenzen. (…) Wenden wir uns nach dieser Orientierung wieder zu den religiösen Lehren, so dürfen wir wiederholend sagen: Sie sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, an sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, dass man sie - mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede - den Wahnideen vergleichen kann. Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. So wie sie unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar. Man weiß noch zu wenig, um ihnen kritisch näher zu rücken. Die Rätsel der Welt entschleiern sich unserer Forschung nur langsam, die Wissenschaft kann auf viele Fragen heute noch keine Antwort geben. Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Es ist wiederum nur Illusion, wenn man von der Intuition und der Selbstversenkung etwas erwartet; sie kann uns nichts geben als - schwer deutbare Aufschlüsse über unser eigenes Seelenleben, niemals Auskunft über die Fragen, deren Beantwortung der religiösen Lehre so leicht wird. (…) Es ist nicht gut, Begriffe weit weg von dem Boden zu versetzen, auf dem sie erwachsen sind, aber wir müssen der Übereinstimmung Ausdruck geben. Über das Menschenkind wissen wir, dass es seine Entwicklung zur Kultur nicht gut durchmachen kann, ohne durch eine bald mehr, bald minder deutliche Phase von Neurose zu passieren. Das kommt daher, dass das Kind so viele der für später unbrauchbaren Triebansprüche nicht 50 55 60 65 70 75 80 durch rationelle Geistesarbeit unterdrücken kann, sondern durch Verdrängungsakte bändigen muss, hinter denen in der Regel ein Angstmotiv steht. Die meisten dieser Kinderneurosen werden während des Wachstums spontan überwunden, besonders die Zwangsneurosen der Kindheit haben dies Schicksal. Mit dem Rest soll auch noch später die psychoanalytische Behandlung aufräumen. In ganz ähnlicher Weise hätte man anzunehmen, dass die Menschheit als Ganzes in ihrer säkularen Entwicklung in Zustände gerät, welche den Neurosen analog sind, und zwar aus denselben Gründen, weil sie in den Zeiten ihrer Unwissenheít und intellektuellen Schwäche die für das menschliche Zusammenleben unerlässlichen Triebverzichte nur durch rein affektive Kräfte zustande gebracht hat. Die Niederschläge der in der Vorzeit vorgefallenen verdrängungsähnlichen Vorgänge hafteten. der Kultur dann noch lange an. Die Religion wäre die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung. Nach dieser Auffassung wäre vorauszusehen, dass sich die Abwendung von der Religion mit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen muss, und dass wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase befinden. Unser Verhalten sollte sich dann nach dem Vorbild eines verständigen Erziehers richten, der sich einer bevorstehenden Neugestaltung nicht widersetzt, sondern sie zu fördern und die Gewaltsamkeit ihres Durchbruchs einzudämmen sucht. Das Wesen der Religion ist mit dieser Analogie allerdings nicht erschöpft. Bringt sie einerseits Zwangseinschränkungen, wie nur eine individuelle Zwangsneurose, so enthält sie anderseits ein System von Wunschillusionen mit Verleugnung der Wirklichkeit, wie wir es isoliert nur bei einer Amentia, einer glückseligen halluzinatorischen Verworrenheit, finden. Es sind eben nur Vergleichungen, mit denen wir uns um das Verständnis des sozialen Phänomens bemühen, die Individualpathologie gibt uns kein vollwertiges Gegenstück dazu. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden (von mir und besonders von Th. Reik), bis in welche Einzelheiten sich die Analogie der Religion mit einer Zwangsneurose verfolgen, wie viel von den Sonderheiten und den Schicksalen der Religionsbildung sich auf diesem Wege verstehen lässt. Es stimmt dazu auch gut, dass der Frommgläubige in hohem Grade gegen die Gefahr gewisser neurotischer Erkrankungen geschützt ist; die Annahme der allgemeinen Neurose überhebt ihn der Aufgabe, eine persönliche Neurose auszubilden. (…) Je mehr die Schätze unseres Wissens den Menschen zugänglich werden, desto mehr verbreitet sich der Abfall vom religiösen Glauben. Gewiss wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht immer Kind bleiben, er muss endlich hinaus, hinaus ins „feindliche Leben“. Aus: S. Freud: Die Zukunft einer Illusion. 1927 Aufgabe: Lest aufmerksam den Text und unterteilt ihn in drei, höchstens 4 Sinnabschnitte und formuliert zu diesen Abschnitten Überschriften! Arbeitsblatt zur Religionskritik von Marx Zeile Inhalt 1 - 12 Basis der Religionskritik: 13 26 - Mensch = Religion = 27 46 - Religionskritik = Was meint Marx mit „Kette“ (Z. 33f.) und mit der Entlarvung der „Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten“ (Z.43f.)? 47 60 - Konsequenz: Kategorischer Imperativ = Gotteslehre (9): Die Religionskritik von K. Marx 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische oratio pro aris et focis widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muss. Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen, das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt. Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch einen Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln. (Aus Marx/Engels-Werke, Bd. 1, 378ff.) oratio pro aris et focis: Rede für Altäre und Herdstellen Point-d'honneür: der Ehrenstandpunkt Gotteslehre (9): Das Basis-Überbau-Schema bei K. Marx 5 In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Oberbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. 10 Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um: Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution 15 ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, 20 ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen 25 Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, 30 denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse 35 sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervor wachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit 40 dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab. Aus: MEW, Bd. 13, S. 8/9. Aufgabe: Stelle die Theorie von Basis und Überbau in einem Schaubild dar! Baue in dieses Schaubild folgende Begrifflichkeiten ein: Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Staat, Recht, Kultur, Philosophie, Religion, Basis, Überbau ... Gotteslehre (9): Die Religionskritik von K. Marx „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble gesellschaftlichen Verhältnisse.“ der (K. Marx: 6. These über Feuerbach) Gotteslehre (10): Zusammenfassende Kritik des Atheismus von Hans Küng (geb. 1928) 5 10 15 20 25 30 35 Die entscheidenden Argumente für seinen persönlichen Atheismus hat Freud im wesentlichen von Feuerbach und dessen Nachfolgern übernommen : "Ich habe bloß dies ist das einzig Neue an meiner Darstellung - der Kritik meiner großen Vorgänger etwas psychologische Begründung hinzugefügt", sagt Freud bescheiden und richtig zugleich. Schon bei Feuerbach, so sahen wir, findet sich eine psychologische Begründung des Atheismus: Wünsche, Phantasie oder Einbildungskraft sind für die Projektion des Gottesgedankens und der ganzen religiösen Schein- oder Traumwelt verantwortlich. Wie schon die Opiums-Theorie von Marx, so gründet auch die Illusions-Theorie Freuds in der Projektions-Theorie Feuerbachs. Neu ist im Wesentlichen nur Freuds psychoanalytische Vertiefung. Aber das bedeutet nun für die Kritik des Freudschen Atheismus: Die Gründe, die gegen Feuerbachs (und Marx) Atheismus, insbesondere gegen seine psychologischen und geschichtsphilosophischen Beweisgänge angeführt werden mussten, treffen auch für den Atheismus Freuds zu. Und insofern sich der Atheismus Feuerbachs (und Marx') als eine letztlich nicht stringent begründete Hypothese erwiesen hat, muss nun auch der Atheismus Freuds als eine letztlich nicht stringent begründete Hypothese erscheinen... Es sei dies aber doch kurz im Hinblick auf Freuds zentrale religionskritische Aussage konkretisiert: "Die religiösen Vorstellungen sind Erfüllung der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit." Ganz richtig, so kann auch der Gottesgläubige sagen. Und zugleich wird er zugeben: Gewiss kann Religion, wie Marx aufzeigt, Opium, ein Mittel sozialer Beschwichtigung und Vertröstung (Repression), sein. Aber: sie muss es nicht. Gewiss kann Religion, wie Freud aufzeigt, Illusion, Ausdruck einer Neurose und psychischer Unreife (Regression), sein. Aber: sie muss es nicht. Gewiss enthält alles menschliche Glauben, Hoffen, Lieben - auf einen Menschen, eine Sache oder auf Gott bezogen - ein Moment der Projektion. Aber: deshalb muss ihr Objekt nicht nur Projektion sein. Gewiss kann der Glaube an Gott stark von der Einstellung des Kindes zum Vater beeinflusst sein. Aber: deshalb kann Gott doch existieren. Also: Nicht dass der Gottesglaube psychologisch erklärt werden kann, ist das Problem. Psychologie oder nicht Psychologie ist hier eine falsche Alternative. Psychologisch gesehen weist der Gottesglaube immer Strukturen und Gehalte einer Projektion auf oder kann als reine Projektion verdächtigt werden. Auch jeder Liebende projeziert notwendig sein eigenes Bild auf seine Geliebte. Aber heißt das, dass seine Geliebte nicht existiert oder nicht doch wesentlich so existiert, wie er sie sieht und sich denkt? Kann er sie mit seinen Projektionen nicht vielleicht sogar tiefer erfassen als der, der sie als neutraler Beobachter von außen zu beurteilen versucht? Das Faktum der Projektion also entscheidet nicht über Existenz oder Nicht-Existenz des Objekts, auf das sie sich bezieht. 40 45 50 55 60 65 Und hier hat auch der Freudsche Schluss vom Anomalen auf das Normale, vom Neurotischen auf das Religiöse bei aller Berechtigung seine entschiedenen Grenzen. Religion ist menschliches Wunschdenken? Und deshalb darf Gott nur ein menschliches Wunschgebilde, eine infantile Illusion oder gar nur eine neurotische Wahnidee sein? Dem Wunsch nach Gott, so argumentierten wir schon gegen Feuerbach, kann durchaus ein wirklicher Gott entsprechen. Diese - noch eingehend zu diskutierende - Möglichkeit hat auch Freud nicht ausgeschaltet. Und warum sollte man das Wunschdenken ganz allgemein disqualifizieren? Ist Wünschen nicht ganz und gar menschlich. Wünschen im Kleinen wie im großen, Wünschen in Bezug auf die Güter dieser Erde, die Mitmenschen, die Welt und vielleicht doch auch - Gott? Freilich steht es schlimm um einen religiösen Glauben, wenn er keine echten Gründe hat oder in einer psychoanalytischen Behandlung keine Gründe übrig bleiben; das wäre, auch wenn er sich noch so fromm gebärdet, ein unreifer, infantiler, unter Umständen gar neurotischer Glaube. Aber ist ein Glaube schon darum schlecht und spricht es schon gegen seine Wahrheit, weil in ihm - wie doch auch in der Psychoanalyse! - alle möglichen triebhaften Motive, libidinösen Neigungen, psychodynamischen Mechanismen, bewusste und unbewusste Wünsche mitspielen? Aus: H. Küng, Existiert Gott? München 1978, S. 46ff., 338 f. Auch der Atheismus lebt somit aus einem unabweisbaren Glauben: sei es der Glaube an die Menschennatur (Feuerbach) oder der Glaube an die künftige sozialistische Gesellschaft (Marx) oder der wissenschaftlichen Entwicklung (Freud). (…) So kann jeder Atheismus gefragt werden, ob nicht er selbst eine begreifliche Projektion des Menschen (Feuerbach), eine interessenbedingte Vertröstung (Marx) oder eine infantile Illusion (Freud) sei. Freilich: Weil der Atheismus sich als letztlich nicht begründet erweist, ist der Gottesglaube noch keineswegs als begründet erwiesen: Lässt sich denn der Gottesglaube seinerseits begründen, verifizieren? Wir scheinen erneut in einer PattSituation zu stehen. Aus: H. Küng: 24 Thesen zur Gottesfrage. 1979, S. 46ff. Gotteslehre (11): Einteilung der Gottesbeweise Modelle zum Vernunft M1: Glaube und Vernunft widersprechen sich! GI VI Verhältnis M2: Glaube und Vernunft ergänzen sich! Glaube und M3: Glaube und Vernunft stimmen überein! M3.1 GI VI M3.2 Einteilung der Gottesbeweise Name Prämissen basieren auf Beispiele Apriorische Gottesbeweise Begriffliche oder logische Wahrheiten Aposteriorische Gottesbeweise Beobachtbare Phänomene Ontologischer Gottesbeweis Kosmologischer Gottesbeweis Teleologischer Gottesbeweis Kontingenzbeweis Moralischer Beweis Induktives Gottesargument Mentales Argument Wunderargument Gotteslehre (11): Biographie Anselms von Canterbury Im Leben Anselms von Canterbury, des großen Philosophen und Theologen aus dem 11. Jahrhundert, geht es immerfort stürmisch zu. Das beginnt schon früh. Der Fünfzehnjährige wünscht ins Kloster einzutreten. Aber der Vater, ein lombardischer Edelmann - von dem man übrigens nicht viel mehr weiß, als dass er, im Gegensatz zu seiner sparsamen Frau, arg verschwendungssüchtig ist -, wendet sich dagegen. Da sinnt der junge Anselm auf eine fromme List. Er bittet Gott, ihn krank werden zu lassen, damit der Abt des Klosters gerührt werde und seinem Wunsch willfahre. Anselm fällt auch wirklich in eine schwere Krankheit. Der Abt, aufgestachelt vom Vater, lässt sich jedoch nicht erweichen. So bleibt Anselm nichts übrig, als wieder gesund zu werden. Was denn auch tatsächlich rasch geschieht. In reiferen Jahren tritt Anselm dann doch in die Abtei Bec in der Normandie ein und wird rasch Prior und Abt. In seinen Amtsgeschäften bewährt er sich sehr, weil er, wie sein zeitgenössischer Biograph berichtet, infolge seiner Erkenntnis Gottes auch eine große Menschenkenntnis besitzt; nur dass er den Klosterschülern lateinische Deklination beibringen muss, ärgert Anselm. Schließlich wird er Erzbischof von Canterbury und damit der führende Kopf der englischen Kirche. Auch das vollzieht sich nicht ohne dramatische Begleitumstände. Anselm will das Amt ablehnen. Da inszenieren seine geistlichen und weltlichen Freunde eine Art von überfall. Als er sich am Krankenlager des Königs befindet, halten sie ihn fest, öffnen ihm mit Gewalt die Faust und drücken ihm den Krummstab in die Hand. Dann tragen sie ihn in die Kirche und stimmen das Tedeum an. Aller Protest Anselms hilft nichts. Am Ende muss er gute Miene zum bösen Spiel machen und Erzbischof werden. übrigens hat Anselm allen Grund, sich vor der erzbischöflichen Würde zu scheuen. Er wird damit notgedrungen in die hohe Politik verwickelt, und das bringt ihm fast nichts als Streitigkeiten ein. Es geht vor allem um die Frage, ob der König das Recht habe, den Bischöfen die Investitur zu erteilen. Dadurch kommt Anselm, dem König und dem Papst zugleich verpflichtet, in eine schwierige Lage; immerzu ist er von der Absetzung bedroht. Gegen Ende seines Lebens wird er sogar für einige Zeit aus England verbannt. Die Situation spitzt sich so zu, dass der König, als Anselm nach Rom reist, sein Gepäck untersuchen lässt, unter dem Verdacht, er wolle Geld oder Wertsachen ins Ausland bringen. Schon vorher schreibt Anselm verzweifelt an den Papst: »Nun bin ich schon vier Jahre Erzbischof und habe gar nichts erreicht; ich habe unnütz in ungeheuren und abscheulichen Wirren meiner Seele gelebt, so dass ich täglich eher wünsche, fern von England sterben zu dürfen, als dort leben zu müssen.« Umso bewundernswürdiger ist, dass Anselm in all diesen Stürmen Zeit und Ruhe findet, seine gewichtigen Schriften zu verfassen. Mit ihnen legt er den Grund für die mittelalterliche Philosophie und Theologie, und dies so sehr, dass man ihn in späteren Zeiten als den »Vater der Scholastik« bezeichnet. Vor allem zwei Gedankenkreise sind es, in denen diese Grundlegung sich vollzieht: Das Verhältnis des Denkens zum Glauben wird ins Reine gebracht, und Anselm versucht sich an Beweisen für das Dasein Gottes. Was zunächst das Verhältnis von Glauben und Denken angeht, so behauptet Anselm, angeregt durch Augustinus, keine dieser beiden Fähigkeiten des Menschen reiche für sich genommen aus, um die Wahrheit zu erfassen. Das bloße Wissen könne nicht zum Wesentlichen vordringen; es müsse im Glauben wurzeln. Aber auch das bloße Glauben sei unzulänglich, solange es sich nicht mit dem Wissen verbinde; es komme entscheidend darauf an, dass der Glaube sich selbst durchsichtig werde. Darum lautet der Grundsatz Anselms: »Ich glaube, damit ich einsehe«; im gleichen Sinne redet er von dem »Glauben, der nach Einsicht sucht«. Der Glaube also bildet den unumgänglichen Ausgangspunkt alles tieferen Wissens, und vom Glauben her wird der Mensch notwendig zum Wissen gedrängt. Aus: W. Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. 1975, S. 86f. Gotteslehre (11): Anselm v. Canterbury (1033-1109) - Theologe und Philosoph der „Scholastik“ - 1093 Erzbischof von Canterbury - Im „Proslogion“ (1078) formuliert er den ontologischen Gottesbeweis Grundsatz: „fides quaerens intellectum“ („Der Glaube verlangt nach Einsicht“) Gotteslehre (12): Der ontologische Gottesbeweis von Anselm v. Canterbury (1033-1109) Das zweite Hauptwerk „Proslogion“ (Anrede) hatte ursprünglich die Überschrift „fides quaerens intellectum“ (Der Glaube, der nach der Einsicht verlangt). Die verbale Form des Programms heißt: „credo, ut intelligam“ (ich glaube, damit ich einsehe). Das fides quaerens intellectum ist dann in der Scholastik zum Programm der Theologie überhaupt geworden. In dieser Schrift „Proslogion“ geht es vor allem um den „ontologischen Gottesbeweis“. „Herr, der du dem Glauben Einsicht verleihst, gib mir also die Einsicht, so weit du sie mir schenken kannst, dass du bist, wie wir glauben, und dass du so bist, wie wir dich glauben. Wir glauben aber, dass du das Größte bist, was gedacht werden kann. Oder sollte es etwa kein Wesen dieser Art geben, da der Tor in seinem Herzen spricht, es gibt keinen Gott? Aber gewiss ist, dass auch der Tor beim Anhören dieser meiner Worte sich unter dem Größten, was gedacht werden kann, etwas denkt, wenn er es hört. Und das, was er denkt, ist in seinem Intellekt auch dann, wenn er nicht einsieht, dass es existiert. (…) Nun kann sicherlich das Größte, das überhaupt denkbar ist, nicht allein im Intellekte sein; denn wenn es allein im Intellekte wäre, so könnte noch hinzugedacht werden, dass es auch in Wirklichkeit existierte: das Größte wäre noch größer. Wenn also das Größte, das denkbar ist, im Intellekte allein existiert, so wäre noch etwas Größeres denkbar als das Größte, das denkbar ist. Das ist aber sicher nicht möglich. Also existiert zweifellos das Größte, das gedacht werden kann, sowohl im Intellekt als auch in Wirklichkeit. (…) So gibt es also wirklich etwas so Großes, dass nichts Größeres gedacht werden kann, ja, dass es überhaupt nicht als Nichtsein gedacht werden kann: und das bist du, Herr unser Gott! Quelle: Anselm von Canterbury: Über die Existenz Gottes („Proslogion“). 1078 Gotteslehre (12): Arbeitsblatt zum ontologischen Gottesbeweis Argumentationsstruktur des ontologischen Gottesbeweises 1. Definition 2. 1. Prämisse 3. 2. Prämisse 4. Schluss Gotteslehre (14): Die fünf Wege des Thomas von Aquin Gruppe 1: Der kosmologische Gottesbeweis – die ersten beiden Wege 5 10 15 20 25 30 35 Die Existenz Gottes lässt sich auf fünf Wegen beweisen. Der erste und nächstliegende Weg ist der, der sich aus der Bewegung ergibt. Es ist nämlich gewiss und steht durch die sinnliche Wahrnehmung fest, dass sich manches in dieser Welt bewegt. Alles aber, was sich bewegt, durch durch anderes bewegt. Nichts nämlich wird bewegt außer dadurch, dass es in potentia ist in bezug auf das, auf das hin es bewegt wird, es bewegt aber etwas dadurch, dass es in actu ist. Bewegen nämlich ist nichts anderes, als etwas aus der potentia (= Möglichkeit) in den actus ( = Wirklichkeit) überführen. Aus der potentia aber kann nichts in den actus überführt werden, es sei denn durch ein in actu Seiendes. Wie die Hitze in actu, z.B. das Feuer, das Holz, das Hitze in potentia ist, zur Hitze in actu macht. Dadurch bewegt und ändert sie es. Es ist aber nicht möglich, dass ein und dasselbe gleichzeitig in bezug auf dasselbe in actu und in potentia ist, sondern nur in bezug auf Verschiedenes, was nämlich Hitze in actu ist, kann nicht zugleich Hitze in potentia sein, sondern es ist zugleich Kälte in potentia. Es ist also unmöglich, dass in bezug auf dasselbe und in derselben Weise etwas bewegt und bewegt wird, oder dasses sich selbst bewegt. Also muss alles, was bewegt wird, von etwas anderem bewegt werden. Wenn sich also das bewegt, von dem etwas anderes bewegt wird, so muss es selbst auch von etwas anderem bewegt werden, und das wiederum von etwas anderem. Hier aber kann man nicht in infinitum fortschreiten, weil dann nichts das erste Bewegende wäre, und demgemäss wäre nichts da, was etwas anderes bewegen würde, da die nachfolgenden Bewegenden nicht bewegen außer dadurch, dass sie durch das erste Bewegende bewegt werden. Wie der Stab sich nicht bewegt außer dadurch, dass er von der Hand bewegt wird. Daher ist es notwendig, zu einem ersten Bewegenden (primum movens) zu kommen, welches von nichts bewegt wird, und dieses erkennen alle als Gott. Der zweite Weg ergibt sich aus dem Wesen der Wirkursache (causa efficiens). Wir finden nämlich in jenen sinnlich wahrnehmbaren Dingen eine Ordnung von Wirkursachen. Es lässt sich jedoch nicht finden und ist nicht möglich, dass etwas die Wirkursache seiner selbst sei, weil es ja dann früher als es selbst wäre, was unmöglich ist. Es ist aber nicht möglich, bei den Wirkursachen in infinitum fortzuschreiten, denn bei jeder Reihe von Wirkursachen ist das Erste die Ursache des Mittleren, das Mittlere die Ursache des Letzten, seien die Mittleren viele oder eins. Mit der Ursache fällt aber auch die Wirkung. Wenn es also kein Erstes bei den Wirkursachen gäbe, gäbe es auch nicht Letztes noch Mittleres. Aber wenn man mit den Wirkursachen in infinitum fortschritte, gäbe es keine erste Wirkursache, was offensichtlich falsch ist. Also ist es notwendig, eine erste Wirkursache (prima causa efficiens) zu setzen, die alle Gott nennen. Aufgaben: 1) Stellt die Argumentation von Thomas in einem Schaubild dar. Veranschaulicht diese Argumentation mit Hilfe von Dominosteinen! 2) Beurteilt die Argumentation! Gruppe 2: Der Kontingenzbeweis – der dritte Weg Der dritte Weg ergibt sich aus dem Möglichen (possibile) und dem Notwendigen (neccesarium), und zwar folgendermaßen: Wir finden bei den Dingen nämlich einige, die die Möglichkeit haben zu sein und nicht zu sein, denn man sieht, dass einige Dinge werden und vergehen und deshalb sein können und nicht sein können. Es ist aber 5 unmöglich, dass alles, was so beschaffen ist, immer ist, weil das, was die Möglichkeit hat, nicht zu sein, irgendwann einmal nicht ist. Wenn also alles die Möglichkeit hat, nicht zu sein, ist bei den Dingen irgendwann einmal nichts gewesen. Wenn das wahr ist, wäre auch jetzt nichts, denn was nicht ist, fängt nicht an zu sein außer durch etwas, was ist. Wenn also nichts seiend gewesen ist, ist es unmöglich gewesen, dass etwas zu sein 10 angefangen hat, und auf diese Weise wäre nichts, was offensichtlich falsch ist. Also ist nicht alles Sein (nur) möglich, sondern es muss unter den Dingen etwas geben, was notwendig ist. Alles Notwendige aber hat die Ursache seiner Notwendigkeit von woanders her, oder es hat keine. Es ist aber nicht möglich, bei dem Notwendigen, das eine Ursache seiner Notwendigkeit hat, in infinitum fortzuschreiten, wie man das auch 15 nicht – wie bewiesen - bei den Wirkursachen kann. Es ist also notwendig, etwas zu setzen, was aus sich heraus notwendig ist (per se necessarium), was die Ursache seiner Notwendigkeit nicht von woanders her hat, sondern was die Ursache der Notwendigkeit für anderes ist. Das nennen alle Gott. Aufgaben: 1) Arbeitet die einzelnen Schritte im Beweis heraus und tragt diese in ein Flussdiagramm: 1. Es gibt Dinge, die sein und nicht sein können. 2. ... 2) An welcher Stelle des Beweises findet sich ein logischer Fehler? Gruppe 3: Das Argument von den Seinsstufen – der vierte Weg Der vierte Weg ergibt sich aus den Seinsstufen (ex gradibus), die in den Dingen zu finden sind. Es findet sich nämlich in den Dingen etwas mehr und etwas weniger Gutes, Wahres, Edles usw. Aber „mehr“ und „weniger“ wird über Verschiedenes gesagt in Hinblick darauf, dass es sich auf verschiedene Weise einem Maximalen nähert. So wie dasjenige 5 wärmer ist, das sich mehr dem maximal Warmen nähert. Es gibt also etwas, was das Wahrste, das Beste, das Edelste und demnach das Seiendste (maxime ens) ist. Denn was das Wahrste ist, ist das Seiendste, wie in der II. Metaphysik (des Aristoteles) gesagt wird. Was aber das so beschaffene Maximum in irgendeiner Art genannt wird, ist die Ursache von allem, was in dieser Art ist; wie das Feuer, das die maximale Wärme ist, die Ursache 10 aller Wärme ist - wie in demselben Buch gesagt wird. Also gibt es etwas, was für alles Seiende die Ursache des Seins (causa esse) und de Gutseins (bonitas) und jedweder Vollkommenheit ist, und das nennen wir alle Gott. Aufgaben: 1) Stellt das Argument von Thomas grafisch dar! 2) Beurteilt das Argument! Gruppe 4: Der teleologische Beweis – der fünfte Weg 5 Der fünfte Weg ergibt sich aus der Lenkung der Dinge (gubernatio). Wir sehen nämlich, dass einiges, was der Erkenntnis entbehrt – nämlich die natürlichen Körper – auf ein Ziel hin handelt; das erhellt daraus, dass sie immer oder häufiger auf dieselbe Weise handeln, weil sie dem folgen, was das Beste ist. Deshalb ist es offenbar, dass sie nicht aus Zufall, sondern durch eine Absicht zum Ziel gelangen. Diejenigen aber, die keine Erkenntnis haben, streben zum Ziel nur, indem sie von einem Erkennenden und mit Verstand Begabten geführt werden wie der Pfeil vom Bogenschützen. Also gibt es etwas, was Verstand hat (aliquid intelligens), durch das alle natürlichen Dinge zum Ziel hingeordnet werden, und das nennen wir Gott. Aufgaben: 1) Erläutert die Argumentation von Thomas mit Hilfe eines selbstgewählten Beispiels! 2) Beurteilt den teleologischen Beweis! (Textauszüge aus: Thomas von Aquino, Summa Theologiae, Editio altera emendata, Ottawa/Canada 1953, Tomus I, Pag. 13b-14b. Übersetzung: Brigitte Galling. Entnommen: Göttinger Quellenhefte, Heft 1: Gottesbeweise und ihre Kritik (bearbeitet von D.-D. Matschke), Göttingen (o.J.), S. 4-6) Gotteslehre (14): Thomas von Aquin (1225-1274) Unter einem Philosophen pflegt man sich einen Menschen von abgezehrtem Leibe vorzustellen, mit hageren, eingefallenen Wangen, so, als habe der in ihm residierende Geist die Leiblichkeit fast völlig aufgezehrt. Von solcher Statur mag etwa Immanuel Kant gewesen sein. Will man sich dagegen die äußere Gestalt des Thomas von Aquino, dieses bedeutenden Denkers aus dem 13. Jahrhundert, vor Augen halten, dann muss man umlernen. Er ist von einer imposanten Leibesfülle gewesen. An seinem Pult - so wird überliefert - muss ein runder Einschnitt angebracht werden, damit er überhaupt daran sitzen und studieren kann. Man darf das erwähnen, ohne den Respekt vor dem großen Manne zu verletzen; denn Thomas selber hat sich gelegentlich selbstironisch über seine ungeheure Leiblichkeit geäußert. Dem etwas ungeschickten Äußeren entspricht die Art, wie sich Thomas unter den anderen Menschen bewegt. Er redet kaum; seine Kommilitonen nennen ihn den stummen Ochsen. Seine Schweigsamkeit aber kommt nicht davon her, dass er nichts zu sagen hätte. Sie entspringt vielmehr dem Wunsche, um keinen Preis aufzufallen. Dass in ihm mehr steckt als in einem gewöhnlichen Adepten der Theologie und Philosophie, kommt nur durch einen Zufall heraus. Ein Mitstudent nämlich meint, er müsse diesem unbeholfenen Kommilitonen Nachhilfeunterricht geben, und entdeckt dabei, dass dieser die Dinge besser erklären kann als er selber, ja sogar als der hochmögende Professor. Thomas aber bittet den Kommilitonen inständig, er möge diese seine Entdeckung nur ja geheimhalten. Darin kommt ein charakteristischer Zug des Thomas zum Ausdruck. Er macht sich nichts aus sich selber. Ihn interessiert nur die Sache, nicht die eigene Person. Das geht soweit, dass er gelegentlich sogar in Situationen, in denen das höchst unpassend ist, ins Nachdenken versinkt und seine Umwelt völlig vergisst. Es gibt darüber eine kennzeichnende Anekdote. Thomas ist vom französischen König Ludwig dem Heiligen zur Tafel geladen. Er schweigt wie üblich, schlägt dann aber plötzlich mit der Faust auf den Tisch und schreit: "So muss man gegen die Häresie der Manichäer argumentieren.« Man kann sich das erstarrte Verstummen der Höflinge denken. Der König aber erweist sich in diesem Augenblick wahrhaft als der künftige Heilige. Er zitiert einen Schreiber herbei und lässt das Argument gegen die Lehre der Manichäer, das dem Thomas soeben eingefallen ist, aufzeichnen. Die selbstlose Hingabe an die Sache zeichnet schon die Jugend des. Thomas von Aquino aus. Er stammt aus einem vornehmen süditalienischen Geschlecht, das sich der Verwandtschaft mit den Staufenkaisern rühmen kann: So stehen ihm die glänzendsten Laufbahnen offen. Die Familie bestimmt ihn, den jüngsten Sohn, für den geistlichen Stand; da soll er zumindest Abt eines reichen und angesehenen Klosters werden. Aber Thomas setzt sich in den Kopf, zu den Bettelmönchen zu gehen; er tritt in den eben erst gegründeten Orden der Dominikaner ein. Anstelle alles äußeren Glanzes erwartet ihn hier das Ideal der Armut. Aber eben dieser asketische Zug der neuen Bewegung, dieser Versuch, inmitten einer satt gewordenen Christenheit ein Leben nach dem Evangelium zu führen, ist es, was die lebendigsten Köpfe unter der damaligen Jugend, und darunter nun auch Thomas, unwiderstehlich anzieht. Die Zugehörigkeit zu einem solchen Bettelorden ist freilich mit viel Selbstverleugnung verbunden. Thomas muss all seine Reisen, die ihn mehrere Male von Neapel und Rom nach Paris führen, zu Fuß unternehmen. Ja, der Orden kann ihm nicht einmal genügend Papier für die Niederschrift seiner Werke zur Verfügung stellen, so dass er oftmals gezwungen ist, seine Gedanken auf kleine Zettelchen zu notieren. Hinzu kommt, dass die neue und als revolutionär empfundene Bewegung sofort die Kräfte des Alten und Beharrenden auf den Plan ruft. Thomas selber bekommt davon einiges zu spüren. Die vornehme Pariser Universität verweigert ihm die Aufnahme in ihren Lehrkörper und verbietet den Studenten den Besuch seiner Antrittsvorlesung. Die gleiche Feindschaft der konservativen Kräfte zeigt sich schon im Augenblick seines Entschlusses, in den Orden der Dominikaner einzutreten. Die Familie ist über soviel Verrat an der Standesehre entsetzt. Die Brüder überfallen Thomas unterwegs und halten ihn auf einem einsamen Schloss gefangen. Dort versuchen sie, ihn seinem Vorhaben abspenstig zu machen, freilich mit .Mitteln, die beweisen, dass sie wenig von der Entschlossenheit ihres Bruders begreifen. Sie schicken ihm eine hübsch aufgemachte Kurtisane ins Zimmer: Die junge Dame, die sich ein Schäferstündchen erwartet, mag nicht wenig erschrocken sein, als ihr der riesige junge Mann entgegentritt, ein brennendes Holzscheit in der erhobenen Hand, das er aus dem Kamin gerissen hat. Aus: W. Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. 1986, S. 90f. Gotteslehre (16): AB zu Swinburnes Wissenschaftstheorie Swinburne teilt induktive Argumente ein in Kennzeichen: Kennzeichen: Beziehung zwischen diesen beiden Argumenten: Induktive Argumente müssen drei Kriterien erfüllen, um ihre Hypothesen eine signifikante Wahrscheinlichkeit zu verleihen: 1. 2. 3. Gotteslehre (15): Richard Swinburne (*1934 ) - Professor für Religionsphilosophie in Oxford (Karikatur entnommen aus: http://www.theage.com.au/news/national/christ-thelogic/2005/07...html. Zugriff: 07.05.2007 Gotteslehre (16): Swinburnes wissenschaftstheoretischer Ansatz 5 10 15 20 25 30 35 40 45 1 Ich glaube nicht, dass apriorische Argumente für die Existenz Gottes, wie das traditionelle ontologische Argument, überzeugend sind. Unter apriorischen Argumenten verstehe ich diejenigen, deren Prämissen logische oder begriffliche Wahrheitsansprüche enthalten. Wertvolle Argumente sind aposteriorisch, d.h. sie setzen bei beobachtbaren Phänomenen an. Meiner Meinung nach gibt es keine guten deduktiven aposteriorischen Argumente für die Existenz Gottes; also Argumente, die von wahren Prämissen ausgehen und ihre Konklusion notwendig erzwingen (so dass es selbstwidersprüchlich wäre, die Prämissen zu bejahen, aber die Konklusion zu verneinen). In dieser Hinsicht hatten die Kritiker der natürlichen Theologie recht. Dennoch möchte ich Sie davon überzeugen, dass es gute induktive Argumente für die Existenz Gottes gibt. Unter einem guten C1-induktiven Argument verstehe ich ein' Argument, das von wahren Prämissen zu einer Konklusion führt, wobei die Prämissen die Konklusion in der Weise begründen, dass sie sie wahrscheinlicher machen, als sie es andernfalls (d.h. ohne die Prämissen, A.K.) wäre; ein gutes P-induktives Argument führt von wahren Prämissen zu einer Konklusion, die aufgrund der Prämissen insgesamt wahrscheinlich wird, d.h. wahrscheinlicher als ihre Negation. Wenn die Argumente gute C-induktive Argumente sind, dann lassen sie sich »addieren«. Jedes Phänomen macht für sich genommen die Konklusion insgesamt noch nicht wahrscheinlich, aber mehrere Phänomene zusammengenommen können dies, so dass sie - nach meiner Terminologie - ein gutes Pinduktives Argument ergeben. Diese Form eines induktiven Arguments wird sehr häufig in der Wissenschaft, der Geschichte und auf allen anderen Gebieten menschlichen Forschens verwendet. Beispielsweise findet ein Detektiv verschiedene Hinweise: Johns Fingerabdrücke auf einem ausgeraubten Safe; einen hohen Geldbetrag, den John in seinem Haus versteckt hält; außerdem wurde John zu dem Zeitpunkt, an dem der Raub statt fand, am Tatort gesehen. Der Detektiv geht nun davon aus, dass die verschiedenen Hinweise normalerweise nicht zu erwarten wären, wenn John den Safe nicht ausgeraubt hätte, obwohl dafür grundsätzlich auch andere Erklärungen möglich sind. Jeder einzelne Hinweis bildet ein Indiz dafür, dass John den Safe ausgeraubt hat, bestätigt also die Hypothese, dass er den Safe ausgeraubt hat; die Indizien sind dabei kumulativ - zusammengenommen machen sie die Hypothese wahrscheinlich. Bezeichnen wir induktive Argumente dieser Art als Argumente für eine gute Erklärung. Wissenschaftler verwenden diese Argumentationsstruktur, um auf die Existenz unbeobachtbarer Entitäten als Ursachen für die von ihnen beobachteten Phänomene zu schließen. Beispielsweise beobachteten Wissenschaftler zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrere unterschiedliche Phänomene chemischer Wechselwirkungen, wie etwa dass Substanzen in einem ganz bestimmten Gewichtsverhältnis neue Substanzen bilden (z.B. bilden Wasserstoff und Sauerstoff stets Wasser in einem Gewichtsverhältnis von 1 zu 8). Im Anschluss daran behaupteten sie, dass diese Phänomene zu erwarten wären, wenn es an die hundert unterschiedliche Arten von Atomen gäbe, also Teilchen, die so klein sind, dass sie unsichtbar sind, und auf bestimmte einfache Weisen Verbindungen eingehen. Ihrerseits postulierten Physiker daraufhin Elektronen, Protonen, Neutronen und andere Teilchen, um damit sowohl dem Verhalten der Atome als auch größeren beobachtbaren Phänomenen Rechnung zu tragen; gegenwärtig postulieren sie Quarks, um das Verhalten der Protonen, Neutronen und der meisten anderen Teilchen zu erklären. Argumente dieser Art verleihen ihren Hypothesen eine signifikante Wahrscheinlichkeit, sofern sie drei Kriterien erfüllen: Erstens dürfen die Phänomene, die als Beweismaterial Anmerkung des Übersetzers: C steht für confirmation (Bestätigung); P für probability (Wahrscheinlichkeit) 50 55 60 65 70 75 80 85 dienen, im Rahmen des normalen Ablaufs der Dinge nicht sehr wahrscheinlich sein. Das Beispiel vom Raub hat gezeigt, dass verschiedene Hinweise, wie etwa Johns Fingerabdrücke auf dem Safe, im Rahmen des normalen Ablaufs der Dinge nicht zu erwarten waren (d.h. wenn John den Safe nicht ausgeraubt hat). Zweitens müssen die Phänomene eher erwartet werden bzw. wahrscheinlicher auftreten, wenn die Hypothese wahr ist. Wenn John den Safe ausgeraubt hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass seine Fingerabdrücke darauf zu finden sind. Drittens muss die Hypothese einfach sein. Das heißt, sie muss die Existenz und die Wirksamkeit von wenigen Entitäten, wenigen Arten von Entitäten, mit wenigen leicht beschreibbaren Eigenschaften postulieren, die sich auf mathematisch einfache Weisen verhalten. Wir könnten immer eine Menge neuer Entitäten mit komplizierten Eigenschaften postulieren, um damit alles, was wir vorfinden, zu erklären. Unsere Hypothese wird allerdings nur dann durch das Beweismaterial unterstützt, wenn sie wenige Entitäten postuliert, die uns die verschiedenen Phänomene, welche als Beweismaterial dienen, erwarten lässt. So könnten wir in dem Detektivbeispiel auch vermuten, dass Brown die Fingerabdrücke von John auf dem Safe anbrachte, dass Smith sich verkleidete, um am Tatort wie John auszusehen, und dass, völlig unabhängig davon, Robinson das Geld in Johns Haus versteckte. Diese neue Hypothese würde uns genauso die vorliegenden Phänomene erwarten lassen wie die Hypothese, dass John den Safe ausraubte. Aber die Indizien unterstützen diese Hypothese, nicht jene; und zwar deshalb, weil die Hypothese, dass John den Safe ausgeraubt hat, ein Objekt postuliert, nämlich John, das eine Tat vollbringt, eben den Safe auszurauben, die uns die verschiedenen vorfindlichen Phänomene erwarten lässt. Wissenschaftler postulieren stets so wenig neue Entitäten (z.B. subatomare Teilchen) wie nötig sind, um uns die vorhandenen beobachteten Phänomene erwarten zu lassen. Außerdem postulieren sie, dass diese Entitäten sich nicht auf eine unberechenbare Weise verhalten (an einem Tag auf diese Weise, am anderen Tag auf jene), sondern dass sie sich in Übereinstimmung mit einem mathematischen Gesetz verhalten, das so einfach und gleichmäßig ist, wie es die Beobachtungen zulassen. Eine alte lateinische Redensart besagt: simplex sigillum veri, »Das Einfache ist das Zeichen des Wahren«. Um aufgrund des Beweismaterials wahrscheinlich zu erscheinen, müssen Hypothesen einfach sein. Ohne das Kriterium der Einfachheit wäre die Wissenschaft völlig unfähig dazu, auch nur einen Schritt über die beobachtbaren Daten hinaus zu gelangen. Denn man kann sich immer eine unbegrenzte Anzahl sehr unterschiedlicher Hypothesen vorstellen, die uns allesamt die Daten eher erwarten lassen, als wenn jede einzelne von ihnen nicht der Fall wäre. Ohne das Kriterium der Einfachheit gäbe es keine Möglichkeit, zwischen ihnen zu wählen. Nun ist Wissenschaft aber möglich, wir können gerechtfertigte Voraussagen treffen, und daher ist Einfachheit ein Indiz für Wahrheit. Aus: R. Swinburne: Argumente für die Existenz Gottes. In: MThZ 45 (1994), S. 35-38 Gotteslehre (17): R. Swinburnes induktives Argument 5 10 15 20 25 30 Die meisten traditionellen Argumente für die Existenz Gottes setzen entweder bei sehr evidenten allgemeinen Beobachtungsphänomenen an oder bei einem eher außergewöhnlichen Phänomen, das sich ereignet haben soll, und behaupten dann, dass das Vorkommnis des jeweiligen Phänomens durch Gottes Handeln erklärt wird und dass Gott daher existieren muss. Zu diesen Argumenten gehören das kosmologische Argument, Versionen des teleologischen Arguments und das Argument aus dem Bewusstsein2. Alle diese Argumente gehen von sehr evidenten, allgemein beobachtbaren Phänomenen aus. Daneben gibt es Argumente, die von Wundern und religiösen Erfahrungen ausgehen, also von besonderen Phänomenen innerhalb der Welt. Jedes dieser Argumente kann entweder als induktives oder als deduktives formuliert werden. Die Argumente sind aber wesentlich plausibler, wenn wir sie als induktive verstehen und als solche werde ich sie auch formulieren. Ich bin davon überzeugt, dass jedes dieser Argumente für sich genommen ein gutes C-induktives Argument darstellt und dass sie zusammen ein gutes P-induktives Argument ergeben. (...) Für alle Dinge sollten wir nach Erklärungen suchen. (...) Diese Beobachtungsphänomene sind wissenschaftlich entweder überhaupt nicht oder kaum erklärbar. Wenn also der Atheismus wahr wäre, so wären all diese Phänomene äußerst unwahrscheinlich. (...) Gott könnte allerdings eine Erklärung liefern. Die theistische Erklärung führt die Beobachtungsphänomene auf die Absicht Gottes zurück. Wenn die theistische Hypothese wahr wäre, dann sind die genannten Phänomene eher zu erwarten als andernfalls. Die Hypothese der Existenz Gottes ist die Hypothese der Existenz einer Person mit der einfachsten Beschaffenheit, die möglich ist. Eine Person ist ein Wesen mit Macht, bestimmte Wirkungen zu erzielen, dem Wissen. wie man dies macht, und der Freiheit zu wählen, welche Wirkungen erzielt werden sollen. Gatt ist per definitionem eine allmächtige, allwissende und vollkommen freie Person; er ist eine Person, deren Macht, Wissen und Freiheit durch nichts - mit Ausnahme der Logik - begrenzt sind. Die Hypothese, dass ein solcher Gott existiert, ist wesentlich einfacher als die Hypothese, dass es einen Gott mit einer irgendwie begrenzten Macht gibt. Sie ist auf die gleiche Weise einfacher wie die Hypothese, dass ein bestimmtes Teilchen eine Null-Masse oder eine unendliche Geschwindigkeit hat, im Vergleich zu der Hypothese, dass es eine Masse von 0,32147 irgendeiner Einheit oder eine Geschwindigkeit von 221.000 km/sek hat. Im Gegensatz zum Unendlichen verlangt eine endliche Begrenzung nach einer Erklärung für das Vorliegen gerade dieser Begrenzung. aus: R. Swinburne: Argumente für die Existenz Gottes, in: MthZ 45 (1994), 35--47 2 Dieses Argument geht von der Tatsache aus, dass Tiere und Menschen Bewusstsein haben und bestimmt Gott als Ursache dafür, dass aus bestimmten Gehirnvorgängen bestimmte mentale Ereignisse entstehen, damit Tiere und Menschen ihre Welt kennenlernen und kontrollieren können. Gotteslehre (17): AB zur Argumentation Swinburnes 1. Hypothese: 2. C-induktive Argumente, die diese Hypothese bestätigen: 3. Überprüfung der drei Kriterien für diese C-induktiven Argumente: 3.1 3.2 3.3 Die Summe der C-induktiven Argumente ergeben ein gutes Pinduktives Argument: Gotteslehre (18): B. Pascal „Die Wette“ 5 10 15 20 25 30 35 Wer also wird die Christen tadeln, wenn sie keinen Beweis ihres Glaubens erbringen können, sie, die einen Glauben bekennen, den sie nicht beweisen können? Sie erklären, wenn sie ihn der Welt darlegen, dass er ein Ärgernis der Vernunft sei, stultitiam; und da beklagen Sie sich darüber, dass sie ihn nicht beweisen! Bewiesen sie ihn, so hielten sie nicht Wort: grade da ihnen Beweise fehlen, fehlt ihnen nicht der Sinn. „Zugegeben, das mag die entschuldigen, die ihn derart lehren, und sie von dem Vorwurf entlasten, keine Gründe aufzuführen, es entschuldigt nicht die, die ihn ohne Beweise annehmen." - Prüfen wir das also, nehmen wir an: Gott ist oder er ist nicht. Wofür werden wir uns entscheiden? Die Vernunft kann hier nichts bestimmen: ein unendliches Chaos trennt uns. Am äußersten Rande dieser unendlichen Entfernung spielt man ein Spiel, wo Kreuz oder Schrift fallen werden. Worauf wollen sie setzen? Aus Gründen der Vernunft können sie weder dies noch jenes tun, aus Gründen der Vernunft können sie weder dies noch jenes abtun. Zeihen Sie also nicht die des Irrtums, die eine Wahl getroffen, denn hier ist nichts zu wissen. -„Nein, aber ich werde sie tadeln, gewählt zu haben, nicht diese Wahl, sondern eine Wahl, denn mögen auch beide, der, der Kreuz wählte, und der andere den gleichen Fehler begehen, so sind doch beide im Irrtum, richtig ist überhaupt nicht auf eines zu setzen." Ja, aber man muss auf eines setzen, darin ist man nicht frei, Sie sind mit im Boot. Was werden Sie also wählen? Sehen wir also zu, da man wählen Muss, wobei Sie am wenigsten wagen? Zwei Dinge haben Sie zu verlieren: Die Wahrheit und das höchste Gut; und zwei Dinge haben Sie einzubringen: Ihre Vernunft und Ihren Willen, Ihr Wissen und Ihre Seligkeit, und zweierlei haben Sie von Natur zu meiden: den Irrtum und das Elend. Ihre Vernunft ist nicht mehr betroffen, wenn sie sich für das eine oder das andere entscheidet, da man sich mit Notwendigkeit entscheiden muss. Das ist ausgemacht, wie ist es dann mit Ihrer Seligkeit? Wägen wir Gewinn und Verlust für den Fall, dass wir auf Kreuz setzen, dass Gott ist. Schätzen wir diese beiden Möglichkeiten ab. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles, wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Setzen Sie also, ohne zu zögern, darauf, dass er ist. - Um Ihnen aber zu beweisen, dass Sie dadurch dorthin gelangen, dass das die Leidenschaften mindern wird, die Ihre großen Hindernisse sind, usw. Ende dieser Rede. - Nun, was könnte Ihnen Schlimmes geschehen, wenn Sie diesen Entschluss fassen? Sie werden treu, rechtschaffen, demütig, dankbar, wohltätig, Freund, aufrichtig, wahrheitsliebend sein. Allerdings die verderblichen Vergnügungen, Ruhm, Genüsse werden Sie nicht haben, aber werden Sie nicht anderes dafür haben? Ich sage Ihnen, Sie werden dabei in diesem Leben gewinnen und mit jedem Schritt, den Sie auf diesem Wege tun, immer mehr die Gewissheit des Gewinnes und die Nichtigkeit des Einsatzes erkennen, so dass Sie endlich begreifen, dass Sie auf eine unendlich sichere Sache setzten und dass Sie nichts dafür gegeben haben. Aus: B. Pascal: Pensees. 1978 Gotteslehre (19): Das Theodizeeproblem Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, dann ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was Gott ebenso fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er missgünstig und schwach und dann auch nicht Gott! Wenn er aber will und kann, was sich allein für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht weg? (Epikur, 341-70 V.Chr.) Die zwei Arten von Übel Gotteslehre (20): Hiob Hanns H. Heidenheim, Ijob, Holzschnitt 1965/66. Theodizee (2): Hiob (J. Roth) 1930 erschien ein Roman des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth (1894-1939) mit dem Titel „Hiob - Roman eines einfachen Mannes“. Er geht auf den biblischen Hiob-Stoff zurück. 1п der Bibel ist Hiob ein frommer und gottesfürchtiger Mann, den plötzlich ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft: Er verliert seinen Besitz, seine Familie und wird von schweren Krankheiten befallen. Аm Anfang trauert Hiob gottergeben (Hiob 1,20-22; 2,10). Er kann sich sein Unglück nicht anders erklären, als dass Gott ihn verurteilt hat. Aber er ist sich keiner Schuld bewusst. Hiob will einen fairen Prozess vor Gott und fordert Gründe für sein Leid. Nach dem Scheitern aller menschlichen Argumente kann nur Gott selbst die Antwort geben. Hiob bekommt vor Gott Recht, aber auf andere Weise, als er gedacht hat. Joseph Roths Roman gliedert sich formal in zwei Teile: Der erste Teil spielt zu Beginn des 20.Jahrhunderts in dem russischen Städtchen Zuchnow, der zweite während des Ersten Weltkriegs in Amerika. Hauptperson des Romans ist Mendel Singer, ein frommer Jude, der in Ostgalizien zunächst ein bescheidenes Leben als Dorfschullehrer führt. Меndеl Singer ereilt ein Schicksalsschlag nach dem anderen: Er verliert seine Heimat, seine gesamte Familie und bleibt schließlich einsam in seiner kleinen New Yorker Wohnung zurück. Zornig entschließt er sich, die Beziehung zu Gott zu kündigen. Dass er seine Gebetsriemen verbrennt, können seine Freunde gerade noch verhindern. Die Freunde 5 10 15 20 25 Joseph Roth Als die Freunde kamen, beruhigte sich Mendel wirklich. Er schob den Riegel zurück und ließ sie eintreten, der Reihe nach, wie sie immer gewohnt waren, in Mendels Stube zu treten, Меnkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel. Sie zwangen Mendel, sich aufs Bett zu setzen, setzten sich selbst neben ihn und vor ihn hin, und Menkes sagte: „Was ist mit dir, Меndеl? Warum machst du Feuer, warum willst du das Haus anzünden?“ „Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. Ihr werdet staunen, wenn ich euch sage, was ich wirklich zu verbrennen im Sinn hatte. Ihr werdet staunen und sagen: Auch Mendel ist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich versichere euch: Ich bin nicht verrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich verrückt, heute bin ich es nicht.“ „Also sag uns, was du verbrennen willst!“ „Gott will ich verbrennen.“ Аllеn vier Zuhörern entrang sich gleichzeitig ein Schrei. Sie waren nicht аllе fromm und gottes-fürchtig, wie Mendel immer gewesen war. Аllе vier lebten schon lange genug in Amerika, sie arbeiteten am Sabbat, ihr Sinn stand nach Geld, und der Staub der Welt lag schon dicht, hoch und grau auf ihrem alten Glauben. Viele Bräuche hatten sie vergessen, gegen manche Gesetze hatten sie verstoßen, mit ihreп Köpfen und Gliedern hatten sie gesündigt. Aber Gott wohnte noch in ihren Herzen. Und als Mendel Gott lästerte, war es ihnen, als hätte er mit scharfen Fingern an ihre nackten Herzen gegriffen. „Lästere nicht, Mendel“, sagte nach langem Schweigen Skowronnek. „Du weißt besser als ich, denn du hast viel mehr gelernt, dass Gottes Schläge einen verborgenen Sinn haben. Wir wissen nicht, wofür wir gestraft werden.“ „Ich aber weiß es, Skowronnek“, erwiderte Mendel. „Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Er ist mächtiger als die Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinen Fingers kann er ihnen den Garaus machen, aber er tut es nicht. 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 3 4 Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Er ist ein großer grausamer Isprawnik.3 Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Willst du ihn bestechen, so macht er dir einen Prozess. Und gehst du redlich mit ihm um, so lauert er auf die Bestechung. In ganz Russland gibt es keinen böseren Isprawnik!“ „Erinnere dich, Меndеl“, begann Rottenberg, „erinnere dich an Hiob. Ihm ist Ähnliches geschehen wie dir. Er saß auf der nackten Erde, Asche auf dem Haupt, und seine Wunden taten ihm so weh, dass er sich wie ein Tier auf dem Boden wälzte. Auch er lästerte Gott. Und doch war es nur eine Prüfung gewesen. Was wissen wir, Mendel, was oben vorgeht? Vielleicht kam der Böse vor Gott und sagte wie damals: Man muss einen Gerechten verführen. Und der Herr sagte: Versuch es nur mit Меndеl, meinem Knecht.“ „Und da siehst du auch“, fiel Groschel ein, „dass dein Vorwurf ungerecht ist. Denn Hiob war kein Schwacher, als Gott ihn zu prüfen begann, sondern ein Mächtiger. Und auch du warst kein Schwacher, Mendel! Dein Sohn hatte ein Kaufhaus, ein Warenhaus, er wurde reicher von Jahr zu Jahr. Dein Sohn Menuchim wurde beinahe gesund, und fast wäre er auch nach Amerika gekommen. Du warst gesund, dein Weib war gesund, deine Tochter war schön, und bald hättest du einen Mann für sie gefunden!“ „Warum zerreißt du mir das Herz, Groschel?“, entgegnete Mendel. „Warum zählst du mir auf, was alles gewesen ist, jetzt, da nichts mehr ist? Meine Wunden sind noch nicht vernarbt, und schon reißt du sie auf.“ „Er hat Recht“, sagten die übrigen drei, wie aus einem Munde. Und Rottenberg begann: „Dein Herz ist zerrissen, Mendel, ich weiß es. Weil wir aber über alles mit dir sprechen dürfen und weil du weißt, dass wir deine Schmerzen tragen, als wären wir deine Brüder, wirst du uns da zürnen, wenn ich dich bitte, an Menuchim zu denken? Vielleicht, lieber Mendel, hast du Gottes Pläne zu stören versucht, weil du Menuchim zurückgelassen hast? Ein kranker Sohn war dir beschieden, und ihr habt getan, als wäre es ein böser Sohn.“ Es wurde still. Lange antwortete Mendel gar nichts. Als er wieder zu reden anfing, war es, als hätte er Rottenbergs Worte nicht gehört; denn er wandte sich an Groschel und sagte: „Und was willst du mit dem Beispiel Hiobs? Habt ihr schon wirkliche Wunder gesehen, mit euren Augen? Wunder, wie sie am Schluss von Hiob berichtet werden? Soll mein Sohn Schemarjah aus dem Massengrab in Frankreich auferstehen? Soll mein Sohn Jonas aus seiner Verschollenheit lebendig werden? Soll meine Tochter Mirjam plötzlich gesund aus der Irrenanstalt heimkehren? Und wenn sie heimkehrt, wird sie da noch einen Mann finden und ruhig weiter leben können wie eine, die niemals verrückt gewesen ist? Soll mein Weib Deborah sich aus dem Grab erheben, noch ist es feucht? Soll mein Sohn Menuchim mitten im Krieg aus Russland hierher kommen, gesetzt den Fall, dass er noch lebt? Denn es ist nicht richtig“, und hier wandte sich Mendel wieder Rottenberg zu, „dass ich Menuchim böswillig zurückgelassen habe und um ihn zu strafen. Aus andern Gründen, meiner Tochter wegen, die angefangen hatte, sich mit Kosaken4 abzugeben - mit Kosaken -, mussten wir fort. Und warum war Menuchim krank? Schon seine Krankheit war ein Zeichen, dass Gott mir zürnt - und der erste der Schläge, die ich nicht verdient habe.“ „Obwohl Gott alles kann“, begann der Bedächtigste von allen, Menkes, „so ist doch anzunehmen, dass ег die ganz großen Wunder nicht mehr tut, weil die Welt ihrer nicht mehr wert ist. Und wollte Gott sogar bei dir eine Ausnahme machen, so stünden dem die Sünden der andern entgegen. Denn die andern sind пicht würdig, ein Wunder bei einem Gerechten zu sehen, und deshalb musste Lot auswandern, und Sodom und Gomorrha Isprawnik = Kreispolizeichef. Im Zarenreich der Inbegriff der Willkür. Kosaken = sozial wenig angesehene Halbnomaden, als Reitersoldaten berüchtigt und gefürchtet. gingen zugrunde und sahen nicht das Wunder ап Lot. Heute aber ist die Welt überall bewohпt - und selbst wenn du auswanderst, werden die Zeitungen berichten, was mit dir geschehen ist. Also muss Gott heutzutage nur mäßige Wunder vollbringen. Aber sie sind groß genug, gelobt sei sein Name! Deine Frau Deborah kann nicht 80 lebendig werdеn, dein Sohn Schemarjah kann nicht lebendig werden. Aber Menuchim lebt wahrscheinlich, und nach dem Krieg kannst du ihn sehn. Dein Sohn Jonas ist vielleicht in Kriegsgefangenschaft, und nach dem Krieg kannst du ihn sehn. Deine Tochter kann gesund werden, die Verwirrung wird von ihr genommen werden, schöner kann sie sein als zuvor, und einen Mann wird sie bekonцnen, und sie wird dir Enkel 85 gebären. Und einen Enkel hast du, den Sohn Schemarjahs. Nimm deine Liebe zusammen, die du bis jetzt für аllе Kinder hattest, für diesen einen Enkel! Und du wirst getröstet werden.“ „Zwischen mir und meinem Enkel“, erwiderte Меndеl, „ist das Band zerrissen, denn Schemarjah ist tot, mein Sohn und der Vater meines Enkels. Meine Schwiegertochter 90 Vega wird einen andern Mann heiraten, mein Enkel wird einen neuen Vater haben, dessen Vater ich nicht bin. Das Haus meines Sohnes ist nicht mein Haus. Ich habe dort nichts zu suchen. Meine Anwesenheit bringt Unglück, und meine Liebe zieht den Fluch herab, wie ein einsamer Вaum im flachen Felde den Blitz. Was aber Mirjam betrifft, so hat mir der Doktor selbst gesagt, dass die Medizin ihre Krankheit nicht heilеn kаnn. Jonas ist wahrscheinlich gestorben, und Menuchim war krank, auch wenn es ihm besser ging. Mitten in Russland, in einem so gefährlichen Krieg, wird еr bestimmt zugrunde gegangen sein. Nein, meine Freunde! Ich bin allein, und ich will allein sein. Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und еr hat mich gehasst. Аllе Jahre habe ich ihn gefürchtet, jetzt kann er mir nichts mehr machen. Аllе Pfeile aus seinem Köcher haben mich schon getroffeп. Er kann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben.“ „Аber seine Macht“, wandte Groschel ein, „ist in dieser Welt und in der аndern. Wehe dir, Меndеl, weпn du tot bist!“ Da lachte Mendel aus voller Brust und sagte: „Ich habe keine Angst vor der Нöllе, meine Haut ist schon verbrannt, meine Glieder sind schon gelähmt, und die bösen Geister sind meine Freunde. Аllе Qualen der Нöllе habe ich schon gelitten. Gütiger als Gott ist der Teufel. Da er nicht so mächtig ist, kann ег nicht so grausam sein. Ich habe keine Angst, meine Freunde!“ Da verstummten die Freunde. Aber sie wollten Mendel nicht allein lassen, und also blieben sie schweigend sitzen. (1930) (Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes, Köln 1992, S. 163ff) Arbeitsblatt: Skowronnek Erklärungen für das Leid Rottenberg Groschel Erwiderungen Mendels