anschauen - Kai Homilius Verlag

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anschauen - Kai Homilius Verlag
Lester Brown
Plan B 3.0
So retten wir die Welt!
übersetzt von Verena Gajewski
Globale Analysen Band 7
© Lester R. Brown, Plan B 3.0 Mobilizing to Save
Civilization (NY: W.W. Norton & Co., 2008).
Earth Policy Institute
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© Kai Homilius Verlag 2008
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Kai Homilius Verlag
www.kai-homilius-verlag.de
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Autor: Cover: Druck: ISBN: Lester R. Brown
Joachim Geissler
Printed in E.U.
978-3-89706-306-8
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Einleitung....................................................................................................................7
1. Der Weg in eine neue Welt.................................................................................... 11
Ein massives Versagen des Marktes ...............................................................................14
Der Zusammenhang zwischen Umwelt und Zivilisation............................................... 17
China oder warum das bestehende Wirtschaftsmodell hier scheitern wird . ......................22
Zunehmende Belastung und scheiternde Staaten ...........................................................24
Ein kritischer Punkt für unsere Zivilisation ..................................................................28
Plan B – ein Plan der Hoffnung ..................................................................................31
I. UNSERE ZIVILISATION IN GROSSEN SCHWIERIGKEITEN
2. Der Verlust der Erdöl- und Lebensmittelsicherheit.................................................37
Die bevorstehende Abnahme der Ölreserven...................................................................39
Die Erdölintensität von Lebensmitteln..........................................................................45
Veränderte Aussichten im Lebensmittelbereich................................................................48
Autos und Menschen im Wettstreit um die Ernten..........................................................51
Die Welt nach dem „Peak Oil“.....................................................................................57
Der Zusammenhang zwischen Unsicherheiten in der
Lebensmittelversorgung und dem Scheitern von Staaten..................................................61
3. Steigende Temperaturen und Meeresspiegel............................................................64
Der Anstieg der Temperaturen und seine Folgen.............................................................65
Die Folgen für die Ernteerträge.....................................................................................68
Die himmlischen Wasserspeicher....................................................................................70
Das Eis schmilzt und der Meeresspiegel steigt.................................................................74
Stürme mit immer größerer Zerstörungskraft.................................................................80
Senkung der Kohlenstoffemissionen um 80 Prozent bis 2020..........................................84
4. Die bevorstehende Wasserknappheit.......................................................................88
Die Wasserspiegel sinken...............................................................................................89
Die Flüsse trocknen aus................................................................................................96
Die Seen verschwinden.................................................................................................98
Die Bauern verlieren den zunehmend aussichtsloseren Kampf gegen die Städte...............100
Der Mangel überschreitet die Landesgrenzen...............................................................103
Die Wasserknappheit führt zu politischem Druck.........................................................105
5. Die natürlichen Systeme unter massivem Druck .................................................108
Das Zusammenschrumpfen der Baumbestände – und was es uns kostet.........................109
Der Verlust der Böden................................................................................................115
Wenn Weideland zur Wüste wird................................................................................117
Die Wüsten breiten sich aus........................................................................................119
Die Fischbestände kollabieren.....................................................................................123
Viele Tier- und Pflanzenarten sterben aus...................................................................128
6. Erste Anzeichen des Niedergangs..........................................................................133
Eine Welt mit sozialen Trenngräben ...........................................................................134
Die wachsenden Herausforderungen im Bereich der Gesundheitsfürsorge ......................137
Die Wegwerfgesellschaft unter Druck . ........................................................................143
Der Konflikt zwischen wachsender Bevölkerungszahl und vorhandenen Ressourcen .......146
Die Zahl der Umweltflüchtlinge steigt . ......................................................................151
Zunehmende Belastungen und scheiternde Staaten . ....................................................154
II. DIE ANTWORT AUF DIE PROBLEME – PLAN B
7. Beseitigung der Armut und Stabilisierung der Bevölkerungszahlen.......................162
Grundlegende Bildung für alle ..................................................................................164
Die Stabilisierung der Bevölkerungszahlen..................................................................168
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Bessere Gesundheitsfürsorge für alle.............................................................................172
Die Eindämmung der HIV-Epidemie.........................................................................178
Der Abbau von Landwirtschaftssubventionen und der Schuldenerlass............................181
Ein Haushalt zur Ausrottung der Armut.....................................................................185
8. Die Sanierung unseres Planeten............................................................................188
Schutz und Wiederaufforstung der Wälder ..................................................................188
Schutz und Sanierung der Böden................................................................................196
Wiederbelebung der Fischbestände .............................................................................200
Schutz der Artenvielfalt in Flora und Fauna...............................................................202
Bäume zum Auffangen von Kohlenstoff.......................................................................204
Ein Haushaltsplan zur Sanierung der Erde..................................................................210
9. Die ausreichende Versorgung von 9 Milliarden Menschen mit Nahrungsmitteln...216
Neue Denkansätze bei der Erhöhung der Bodenproduktivität.......................................217
Möglichkeiten zur Erhöhung der Wasserproduktivität...................................................221
Mehr Effizienz in der Proteinproduktion.....................................................................225
Abwärts in der Nahrungsmittelkette............................................................................232
Kampf an mehreren Fronten.......................................................................................234
10. Städte für Menschen...........................................................................................237
Das ökologische Moment in Städten............................................................................239
Die Neuplanung der städtischen Verkehrssystem...........................................................242
Die Senkung des Wasserverbrauchs in Städten..............................................................249
Gärtnern in der Stadt................................................................................................253
Die Umwandlung von Slums in Vororte......................................................................256
Städte für Menschen..................................................................................................258
11. Die Erhöhung der Energieeffizienz.....................................................................262
Die Verbannung der Glühbirne..................................................................................265
Höhere Energieeffizienz bei Haushaltsgeräten..............................................................268
Gebäude mit höherer Effizienzklasse...........................................................................272
Die Neustrukturierung der Verkehrssysteme.................................................................276
Eine neue Rohstoffwirtschaft.......................................................................................281
Das EnergiesparPotenzial...........................................................................................290
12. Der Übergang zu erneuerbaren Energien............................................................292
Das Einfangen des Windes..........................................................................................294
Die Nutzung von Windenergie in Hybridfahrzeugen...................................................300
Solarzellen und Solarkollektoren.................................................................................304
Energie aus der Erde..................................................................................................312
Energiequellen auf Pflanzenbasis................................................................................315
Flüsse, Gezeitenwechsel und Wellen als Energielieferanten.............................................319
Die internationale Energiewirtschaft im Jahr 2020.....................................................322
III. AUFREGENDE NEUE MÖGLICHKEITEN
13. Die große Mobilmachung..................................................................................327
Die Umverteilung von Steuern und Subventionen.......................................................329
Maßnahmen zur Stabilisierung des Klimas in der Zusammenfassung............................337
Der Umgang mit dem Problem der gescheiterten Staaten..............................................341
Mobilmachung in Blitzgeschwindigkeit.......................................................................344
Mobilmachung zur Rettung unserer Zivilisation..........................................................346
Was jeder von uns tun kann.......................................................................................351
Danksagungen.........................................................................................................355
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Einleitung
Als Elizabeth Kolbert Amory Lovins, einen der führenden Analysten der Ener­
giewirtschaft, für einen Beitrag über ihn im New Yorker interviewte, fragte sie
ihn unter anderem nach seiner Meinung dazu zu versuchen, sich von Meinungen und Mustern zu lösen, die allgemein als einzig richtig gelten. Lovins
antwortete: „So etwas gibt es nicht.“ Genau das ist der Geist von Plan B.
Unsere Welt verändert sich rasend schnell. Als Plan B 2.0 vor zwei Jahren
in Druck ging, war das Ausmaß des Abschmelzens der Eiskappen besorgniserregend – inzwischen ist es beängstigend.
Auch vor zwei Jahren schon bekannt, dass es eine ganze Reihe sogenannter
„failing states“, Staaten an der Grenze zum Scheitern, gab. Doch heute wissen
wir, dass ihre Zahl mit jedem Jahr zunimmt. Und solche Staaten, die sich auf
dem Weg in den Abgrund befinden, sind ein erstes Anzeichen dafür, dass auch
die Zivilisation, zu der sie gehören, zu scheitern droht.
Vor zwei Jahren gab es erste Anzeichen dafür, dass das Potenzial zur Erhöhung der Erdölproduktion bei Weitem nicht so groß war, wie offizielle Vorhersagen glauben ließen. Heute wissen wir, dass der „Peak Oil“ bereits kurz bevor
stehen könnte. Vor zwei Jahren kostete ein Barrel Erdöl noch etwa 50 $, als
dieses Buch entstand, Mitte 2008, waren es bereits rund 130 $.
In Plan B 2.0 war die Vorhersage, dass der Preis für Getreide auf ebenso
schwindelerregende Höhen steigen würde wie der Ölpreis, wenn noch mehr
Ethanoldestillerien zur Umwandlung von Getreide in Kraftstoff gebaut würden, noch Spekulation. Inzwischen haben die Vereinigten Staaten genügend
Ethanoldestillerien, um ein Fünftel ihrer Getreideernte in Kraftstoff umzuwandeln, und aus der Spekulation ist Wirklichkeit geworden: die Maispreise
haben sich fast und die Weizenpreise mehr als verdoppelt.
Vor zwei Jahren haben wir berichtet, dass die Getreideproduktion in 5 von
6 der letzten Jahre hinter dem Bedarf zurückgeblieben war. Inzwischen ist dies
in 7 von 8 Jahren passiert und die weltweiten Getreidereserven bewegen sich
auf einen historischen Tiefststand zu.
Die ungelösten Probleme – wie das fortdauernde rasante Anwachsen der
Weltbevölkerung, die zunehmende Wasserknappheit, das Schrumpfen der
Waldbestände, die Erosion der Böden und die Verwandlung von Weideland
in Wüsten – stauen sich immer mehr auf, und schwächere Regierungen sind
oft nicht mehr in der Lage, dem wachsenden Druck standzuhalten. Wenn es
uns nicht gelingt, die Trends, die zu diesem Scheitern führen, aufzuhalten und
umzukehren, werden wir nicht verhindern können, dass die Zahl der Staaten,
die sich am Rand des Scheiterns befinden oder bereits als gescheitert gelten,
weiter zunimmt.
Durch einige der Trends – wie den bevorstehenden Rückgang der weltweiten Ölproduktion, die neuen Belastungen durch die globale Erwärmung und
die ständig steigenden Lebensmittelpreise – könnten selbst einige der stärkeren
und stabileren Staaten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben werden.
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Was wirtschaftliche Fragen angeht, so ist die Tatsache, dass China die Vereinigten Staaten als größter Konsument der meisten grundlegenden Ressourcen abgelöst hat, von großer Bedeutung. Schätzungen gehen davon aus, dass
das Pro-Kopf-Einkommen in China bis 2030 auf demselben Niveau sein wird
wie heute in den Vereinigten Staaten. China wird dann doppelt so viel Papier
verbrauchen, wie heute weltweit produziert wird. Wenn die Verhältnisse in
China im Jahr 2030 ebenso sein sollten wie heute in den USA, würden auf 4
Chinesen etwa 3 Autos entfallen, sodass es bei einer geschätzten Bevölkerung
von dann 1,46 Mrd. Menschen 1,1 Mrd. Autos gäbe. Außerdem läge der Erdölverbrauch Chinas dann mit 98 Mio. Barrel pro Tag deutlich höher als die
derzeitige weltweite Ölproduktion.
Das westliche Modell einer auf Treibstoff basierenden, rund um das Auto
aufgebauten Wegwerfwirtschaft wird für China nicht funktionieren – ebenso
wenig wie für Indien und die restlichen 3 Mrd. Menschen in den Entwicklungsländern, die ebenfalls den „amerikanischen Traum“ träumen. Und in einer immer stärker interdependenten Weltwirtschaft, in der alle Länder um
dasselbe Getreide, dasselbe Öl und denselben Stahl konkurrieren, wird es nicht
einmal mehr für die Industrieländer funktionieren.
Die große Herausforderung, vor der unsere Generation jetzt steht, ist der
Aufbau einer neuen Wirtschaft, die größtenteils auf der Nutzung erneuerbarer
Energien basiert, über ein diversifiziertes Transportsystem verfügt und in der
Wiederverwendbarkeit und Recycling zu den zentralen Konzepten gehören
– doch wir haben nicht viel Zeit.
Inzwischen ist es keine Option mehr, einfach weiterzumachen wie bisher.
Wir können nicht an Plan A festhalten, weil dadurch unsere Ökosysteme weiter zerstört werden und einem gefährlichen Klimawandel der Weg bereitet
wird. Es ist höchste Zeit für einen Plan B.
In diesem Buch werden vier große Ziele formuliert: Stabilisierung der klimatischen Verhältnisse, Stabilisierung der Bevölkerungszahlen, Ausrottung
der Armut und Wiederherstellung der Ökosysteme der Erde. Im Zentrum
der Bemühungen zu einer Stabilisierung des Klimas steht ein detaillierter Plan
zur Senkung der CO2-Emissionen um 80 Prozent bis zum Jahr 2020, um so
die globale Erwärmung zu minimieren. Die Klima-Initiative besteht aus drei
Komponenten: Erhöhung der Energieeffizienz, Erschließung und verstärkte
Nutzung erneuerbarer Energiequellen und Ausdehnung der weltweiten Waldbestände durch Verbot von Abholzung und Pflanzung von Milliarden neuer
Bäume zur Aufnahme von Kohlenstoff.
Unsere politischen Systeme befinden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit,
bevor die natürlichen Systeme den Punkt erreichen, ab dem sie kippen. Wird
es uns gelingen, unsere Kohlekraftwerke stufenweise aus dem Verkehr zu ziehen, bevor das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes nicht mehr aufzuhalten ist? Werden wir in der Lage sein, den politischen Willen aufzubringen, die Abholzung im Amazonasgebiet zu stoppen, bevor die zunehmende
Anfälligkeit für Waldbrände es an einen Punkt bringt, von dem aus es kein
Zurück mehr gibt? Werden wir die einzelnen Länder dabei unterstützen kön
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
nen, ihre Bevölkerungszahlen ausreichend schnell zu stabilisieren, bevor sie als
Staat scheitern?
Es scheint, als seien die USA auf dem besten Wege, einen kritischen Punkt
zu erreichen. Immer mehr Menschen sprechen sich gegen den Bau neuer Kohlekraftwerke aus, und dank einer landesweiten Protestkampagne, die sich rasant ausbreitete, haben mehrere Staaten, darunter Kalifornien, Texas, Florida,
Kansas und Minnesota, sich geweigert, Baugenehmigungen für neue Kohlekraftwerke zu erteilen oder die Bauvorhaben in anderer Form behindert.
Angesichts der Tatsache, dass diese Bewegung so schnell an Fahrt gewinnt,
ist es vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auf die stufenweise Abschaltung bereits bestehender Kohlekraftwerke ausgeweitet wird. Die Frage ist,
ob dies schnell genug geschehen wird, um gefährliche Klimaveränderungen
noch zu verhindern.
In Plan B 2.0 war viel die Rede von dem enormen Potenzial erneuerbarer
Energien, besonders der Windenergie. Seither sind so viele neue Projekte zur
Erzeugung von Energie aus eben solchen erneuerbaren Energiequellen vorgeschlagen worden, wie es das im Falle von mit fossilen Brennstoffen betriebenen
Kraftwerken nie gegeben hat. Im Staat Texas beispielsweise wird derzeit an
einer massiven Ausweitung der bestehenden Windparks gearbeitet, durch die
die Kapazitäten geschaffen werden sollen, bis zu 23.000 Megawatt zusätzlich
an Energie zu erzeugen. Das entspricht etwa dem, was 23 Kohlekraftwerke
erzeugen würden.
Vor zwei Jahren war die Idee von Benzin-Elektro-Hybridfahrzeugen, die
über das Stromnetz aufgeladen werden könnten, kaum mehr als das, eine Idee.
Heute haben fünf große Automobilhersteller bereits solche Fahrzeuge entwickelt und es wird davon ausgegangen, dass die ersten davon 2010 auf dem
Massenmarkt sein werden.
Wir verfügen bereits über die nötigen Technologien zur Umstrukturierung
der weltweiten Energiewirtschaft und zur Stabilisierung des Klimas. Die Herausforderung besteht darin, den politischen Willen aufzubringen, es umzusetzen. Die Rettung unserer Zivilisation ist kein Zuschauersport. Jeder von uns
kann und muss dabei mitwirken.
Nach der Erstveröffentlichung von Plan B vor vier Jahren stellten wir fest,
dass etwa 600 Personen das Buch gekauft hatten und sich, nachdem sie es
gelesen hatten, entschlossen, noch einmal 5, 10, 20 oder 50 Exemplare zu
bestellen, um sie an Freunde, Kollegen, politische Entscheidungsträger und
Meinungsführer weiterzugeben. Im Falle von Plan B 2.0 waren es schon mehr
als 1.500 Personen und Organisationen, die das Buch in großen Stückzahlen
kauften und dann weiterverteilten.
Wir nennen diese Menschen, die unser Buch weiterverbreiten, das „PlanB-Team“. Zum Kapitän des Teams wurde Ted Turner ernannt, der etwa 3.600
Exemplare des Buches an Staatschefs, Kabinettsmitglieder, Geschäftsführer der
sogenannten „Fortune 500“ (der 500 umsatzstärksten US-Firmen), Mitglieder
des US-Kongresses sowie an die 672 anderen Milliardäre der Welt weitergegeben hat.
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die elektronische Version dieses Buches kann kostenfrei auf der Website
des Kai Homilius Verlages heruntergeladen werden. Bezüglich der Erlaubnis
zum Reprint oder zur Verwendung von Auszügen aus dem englischen Original
bzw. der deutschen Übersetzung wenden Sie sich bitte an die Vizepräsidentin
des Earth Policy Institute, Reah Janise Kauffman bzw. für die deutsche Ausgabe
an Kai Homilius.
Zum Schluss sei noch gesagt, dass wir unseren Plan B nicht also sakrosankt
betrachten. Es ist lediglich ein Alternativplan zu unserem „Business as usual“.
Wir haben diese Alternative nach bestem Wissen und Gewissen ausgearbeitet
und hoffen, dass er dazu beitragen wird, unsere Zivilisation vor dem Untergang zu bewahren. Wenn irgendjemand einen besseren Plan hat, ist er uns
jederzeit willkommen, denn wenn wir unsere Welt retten wollen, brauchen wir
dazu den bestmöglichen Plan.
Lester R. Brown
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 1
Der Weg in eine neue Welt
Im Spätsommer des Jahres 2007 gab es in unglaublich kurzer Abfolge immer wieder Nachrichten darüber, dass sich das Abschmelzen der Eisplatten der
Erde stark beschleunigt hat. Anfang September berichtete der Londoner Guardian: „In diesem Sommer ist die arktische Polkappe mit bisher ungekannter
Geschwindigkeit zusammengeschmolzen, sodass das Niveau des Meereseises
in dieser Region inzwischen auf einem Rekordtief ist.“ Experten waren „verblüfft“ über diesen Prozess, bei dem innerhalb einer einzigen Woche eine Eisfläche doppelt so groß wie Brasilien einfach verschwunden war.
Mark Serreze, ein bekannter Arktik-Experte des U. S. National Snow and
Ice Data Center, sagte dazu: „Es ist unglaublich. Hätte man mich vor ein paar
Jahren gefragt, wann es wohl kein Eis mehr in der Arktis geben würde, hätte
ich gesagt im Jahr 2100 oder vielleicht auch 2070. Inzwischen glaube ich allerdings, dass 2030 realistischer ist.“
Wenige Tage später hieß es in einem Bericht im Guardian über ein Symposium im grönländischen Ilulissat, der Grönländische Eisschild schmelze so
schnell, dass durch das Abbrechen von Eisstücken mit einem Gewicht von
mehreren Milliarden Tonnen und ihr Absinken ins Wasser kleinere Erdbeben
ausgelöst würden. Robert Corell, Vorsitzender des Arctic Climate Impact Assessment, berichtete: „Wir konnten beobachten, dass die Eisstücken mit immer
größerem Tempo ins Meer stürzen. Auf einer Front von 5 km Länge und 1,5
km Breite bewegt sich das Eis mit einer Geschwindigkeit von 2 m/h.“
Weiter sagte Corell, bei einem Flug über den Gletscher von Ilulissat habe er
„gigantische Löcher, sogenannte Gletschermühlen, in dem Gletscher gesehen,
durch die riesige Schmelzwassermassen wirbelten“. Durch dieses Schmelzwasser wird die Oberfläche zwischen dem Gletscher und dem darunter liegenden Land gleitfähig gemacht, wodurch der Gletscher sich schneller ins Meer
bewegt. Veli Kallio, ein finnischer Wissenschaftler, der die Erdbeben genauer
untersucht hat, meinte, sie seien für Nordwestgrönland bislang unüblich gewesen und bergen das Potenzial, dass der gesamte Eisschild durch Abschmelzen
ausdünnen und sich ganz ablösen könnte.
Corell merkte noch an, der von Intergovernmental Panel on Climate Change
(IPCC) für dieses Jahrhundert vorausgesagte Anstieg des Meeresspiegels von
18-59 cm basiere auf Daten, die bereits zwei Jahre alt seien, inzwischen gingen
Experten davon aus, dass es zu einem Anstieg von bis zu 2 m kommen könne.
David Adam, „Ice-Free Arctic Could be Here in 23 Years“, Guardian (London), 5. September 2007.
Ebenda.
Paul Brown, „Melting Ice Cap Triggering Earthquakes“, Guardian (London), 8. September 2007.
Ebenda.
Ebenda.
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Ende August 2007 hieß es in der Einleitung eines Berichts bei Reuters: „Die
derzeitige Schneeschmelze in der Antarktis übertrifft alle Vorhersagen des UNKlimarats und könnte nach Aussage eines der führenden Experten auf diesem
Gebiet schlimmstenfalls sogar dazu führen, dass der Meeresspiegel weltweit
bis zum Jahr 2100 um bis zu 2 m steigt.“ Der Vorsitzende des British Antarctic
Survey Chris Rapley sagte dazu: „Sowohl in Grönland als auch in der Antarktis bewegt sich das Eis inzwischen schneller, als die Glaziologen vorhergesagt
hatten.“
Mehrere Monate zuvor hatten Wissenschaftler berichtet, der Gangotri­
Gletscher, der wichtigste Gletscher für die Speisung des Ganges, schmelze
ebenfalls zunehmend schneller ab und könnte in einigen Jahrzehnten bereits
völlig verschwunden sein, wodurch der Ganges zu einem Saison-Fluss würde,
der nur noch während der Monsun-Zeit Wasser führen würde.
Die Gletscher des Tibet-Qinghai-Plateaus, aus denen der Hwangho und der
Jangtse gespeist werden, schmelzen pro Jahr um 7 % zusammen. Yao Tandong,
einer der führenden Glaziologen Chinas, geht davon aus, dass bei diesem Tempo
zwei Drittel der Gletscher bis 2060 vollkommen verschwunden sein könnten.
Aus den Gletschern im Himalaja und auf dem Tibet-Qinghai-Plateau werden alle großen Flüsse in Asien gespeist, einschließlich des Indus, des Ganges,
des Mekong, des Jangtse und des Hwangho, und mit dem Wasser dieser Flüsse
werden die Reis- und Weizenfelder der Region bewässert.
Wir überschreiten natürliche Grenzen, die wir nicht sehen können, und
Fristen, die uns nicht bewusst sind. Die Natur hält die Stoppuhr in der Hand,
doch wir können sie nicht sehen. Zu den Trends im Umweltbereich, die unsere
Zukunft gefährden, gehören unter anderem das Zusammenschrumpfen der
Waldbestände, die Ausdehnung der Wüsten, das Absinken der Wasserstände,
das Zusammenbrechen der Fischbestände, das Artensterben und der Anstieg
der Temperaturen weltweit. Mit dem Anstieg der Temperaturen kommen Hitzewellen, die unsere Ernten verdorren lassen, Stürme, die immer mehr Zerstörungskraft haben, Dürren, die immer länger andauern, zunehmende Waldbrände und natürlich das Abschmelzen der Eiskappen.
Schon das verstärkte Abschmelzen der Eisflächen für sich wäre ein deutliches
Anzeichen dafür, dass unsere Zivilisation in großen Schwierigkeiten steckt,
denn wenn der Grönländische Eisschild schmilzt, führt das zu einem Anstieg
des Meeresspiegels um 7 m. Und wenn der Westantarktische Eisschild zusammenschmilzt und auseinanderbricht – wobei viele Experten davon ausgehen,
dass dies früher geschehen wird als im Falle des Grönländischen – kommt es zu
einem zusätzlichen Anstieg um 5 m, womit der Gesamtanstieg bei 12 m läge.
Alister Doyle, „Sea Rise Seen Outpacing Forecasts Due to Antarctica“, Reuters, 23. August 2007.
Emily Wax, „A Sacred River Endangered By Global Warming“, Washington Post,
17. Juni 2007.
Clifford Coonan, „China’s Water Supply Could be Cut Off as Tibet’s Glaciers Melt“,
The Independent (London), 31. Mai 2007; „Glacier Study Reveals Chilling Prediction“,
China Daily, 23. September 2004.
U.N. Environment Programme (UNEP), Global Outlook for Ice and Snow (Nairobi:
10
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die Wissenschaftler vom International Institute for Environment and Development haben sich in einer Studie aus dem Jahr 2007 eingehend mit den zu erwartenden Auswirkungen eines Anstiegs des Meeresspiegels um 10 m beschäftigt und sind zu dem Schluss gekommen, dass infolge eines solchen Anstiegs
600 Mio. Menschen obdachlos und zu Flüchtlingen würden, sodass insgesamt
mehr Menschen gezwungen wären, vor den ansteigenden Wassermassen ins Inland zu migrieren, als derzeit in den USA und Westeuropa leben.10
Da wir diese Trends und die Notwendigkeit, sie umzukehren, erst so spät
erkannt haben, läuft uns nun die Zeit davon. Unsere politischen und die natür­
lichen Systeme unserer Erde steuern jeweils auf ihren kritischen Punkt zu. Doch
welche der beiden Seiten wird zuerst an diesem Punkt ankommen? Werden wir
den Punkt erreichen, ab dem das Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes
nicht mehr aufzuhalten ist oder wird es uns gelingen, vorher schrittweise unsere Kohlekraftwerke vom Netz zunehmen?
Der Anstieg der Temperaturen bis zu dem Punkt, ab dem die Eisschilde und
Gletscher der Erde abschmelzen, ist jedoch nur einer der kritischen Punkte, die
unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn gleichzeitig mit diesem Temperaturanstieg sinken weltweit die Grundwasserspiegel ab. Hier besteht die Herausforderung darin, die Wassereffizienz zu erhöhen und die Bevölkerungszahlen zu
stabilisieren, bevor der Wassermangel lebensbedrohlich wird.11
Alle hier genannten Probleme stehen außerdem im Zusammenhang mit
dem Anwachsen der Bevölkerungszahlen, das seinen eigenen kritischen Punkt
hat. Dutzende von Ländern haben sich zwar wirtschaftlich weit genug entwickelt, um die Sterberaten drastisch senken zu können, allerdings noch nicht
weit genug, um die Fruchtbarkeitsraten ebenfalls zu senken. Infolgedessen
sitzen sie in der demographischen Falle: Das schnelle Bevölkerungswachstum
führt zu Armut und diese wiederum zu einem erhöhten Bevölkerungswachstum. In dieser Situation kippen Länder letztlich immer in die eine oder die
andere Richtung – entweder gelingt es ihnen, den Kreislauf zu durchbrechen,
oder sie brechen zusammen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich eine ganze Reihe ungelöster Probleme
aufgestaut, darunter auch die eben bereits erwähnten. Da die Belastungen,
die sich aus diesen Problemen ergeben, ebenfalls stetig zunehmen, beginnen
die schwächeren Regierungen bereits einzubrechen, wodurch ihre Länder zu
sogenannten gescheiterten Staaten werden.
Gescheiterte Staaten oder solche, die auf dem besten Wege dazu sind, sind
ein erstes Anzeichen dafür, dass auch die Zivilisation, der sie angehören, im
Niedergang begriffen ist. Die Namen der Staaten, die auf der stetig länger wer2007), S.103; J. Hansen et al., „Climate Change and Trace Gases“, Philosophical Transactions of the Royal Society A, Vol. 365 (15. Juli 2007), S. 1949f.
10 Gordon McGranahan et al., „The Rising Tide: Assessing the Risks of Climate Change
and Human Settlements in Low Elevation Coastal Zones“, Environment and Urbanization,
Vol. 18, Nr. 1 (April 2007), S. 17-37; U.N. Population Division, World Population Prospects:
The 2006 Revision Population Database unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007.
11 Lester R. Brown, Outgrowing the Earth (New York: W. W. Norton and Company,
2004), S. 101f.; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10.
11
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
denden Liste der gescheiterten Staaten ganz oben stehen, bergen keine großen
Überraschungen. Unter anderem finden sich hier der Irak, der Sudan, Somalia,
der Tschad, Afghanistan, die Demokratische Republik Kongo und Haiti. Die
Tatsache, dass diese Liste mit jedem Jahr länger wird, wirft eine beängstigende
Frage auf: Wie viele Staaten können scheitern, bevor die gesamte Zivilisation
kippt? Und auch wenn niemand die Antwort auf diese Frage kennt, muss sie
doch gestellt werden.12
EIN MASSIVES VERSAGEN DES MARKTES
Als Nicholas Stern, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Ende 2006 seine
bahnbrechende Studie zu den zukünftigen Kosten des Klimawandels veröffent­
lichte, sprach er von einem massiven Versagen des Marktes und meinte damit,
dass der Markt den Preis für Kosten des Klimawandels infolge der Verbrennung fossiler Brennstoffe bei der Preisfestlegung nicht mitberücksichtigte, obwohl diese seiner Ansicht nach in die Billionen gehen würden. Dabei wäre der
Unterschied zwischen dem Marktpreis für fossile Brennstoffe und einem Preis,
bei dem die Kosten, die der Gesellschaft durch den Klimawandel entstehen,
berücksichtigt würden, enorm.13
Die meisten unserer derzeitigen Probleme wurzeln in dem starken Wachstum, das das Unternehmen Menschheit im vergangenen Jahrhundert erfahren
hat. Seit 1900 ist die Weltwirtschaft auf das 20-Fache angewachsen, während
die Weltbevölkerung sich gleichzeitig vervierfacht hat. Es gab zwar auch schon
um 1900 Orte, an denen der Bedarf die Kapazitäten der natürlichen Systeme überstieg, doch es war kein Problem von globaler Bedeutung. Es gab auch
damals schon ein gewisses Abforsten, doch das Problem der Überpumpung
der Wasserbestände war etwas, das es damals nicht gab. Auch das Problem der
Überfischung kam selten auf und die Kohlenstoffemissionen waren so gering,
dass sie keine ernstzunehmenden Auswirkungen auf das Klima haben konnten.
Insgesamt kann man sagen, dass die indirekten Kosten dieser frühen Exzesse zu
vernachlässigen waren.14
Bei der jetzigen Größe der Weltwirtschaft können die indirekten Kosten für
die Verbrennung von Kohle – die Kosten, die durch Luftverschmutzung, sauren
Regen, zerstörte Ökosysteme und Klimawandel entstehen – leicht die direkten
Kosten für den Bergbau und den Transport der Kohle in die Kraftwerke übersteigen. Da der Markt die indirekten Kosten bei der Preisbildung vernachlässig,
werden eine ganze Reihe von Waren und Dienstleistungen unter ihrem eigentlichen Wert verkauft, was zu einer wirtschaftlichen Verzerrung führt.15
12 Fund for Peace und Carnegie Endowment for International Peace, „The Failed States
Index“, Foreign Policy, Juli/August 2005, Juli/August 2006 und Juli/August 2007.
13 Nicholas Stern, The Stern Review on the Economics of Climate Change (London: HM
Treasury, 2006).
14 Agnus Maddison, „World Population, GDP, and Per Capita GDP, 1-2003 AD“, unter
www.ggdc.net/maddison, angesehen am 8. August 2007; U.N. Population Division, op.
cit. Anmerkung 10.
15 Kosten für die Verbrennung von Kohle aus: DSS Management Consultants Inc. und
12
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Als wirtschaftliche Entscheidungsträger sind wir alle, egal ob Verbraucher,
Unternehmensplaner, politische Entscheidungsträger der Regierung oder Investmentbanker, auf die Informationen angewiesen, die der Markt uns liefert.
Damit der Markt funktionieren kann und die wirtschaftlichen Akteure sinnvolle Entscheidungen treffen können, muss uns der Markt aber auch stimmige
Informationen liefern, wozu auch die tatsächlichen Kosten für die von uns gekauften Produkte gehören. Da uns der Markt jedoch mit falschen Informationen versorgt, treffen wir eben auch falsche Entscheidungen – zum Teil sind sie
so falsch, dass sie den Fortbestand unserer Zivilisation gefährden.
In vielerlei Hinsicht ist der Markt eine phantastische Institution. Er verteilt
Ressourcen mit einer Effizienz, mit der es keine zentrale Planungseinrichtung
aufnehmen kann, und schafft mit Leichtigkeit einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage. Doch er hat auch einige grundlegende Schwächen, indem
er zum Beispiel die indirekten Kosten für die Herstellung bestimmter Produkte nicht berücksichtigt, den Wert der Dienste, die uns unsere Natur leistet,
nicht ausreichend würdigt und die Grenzen der natürlichen Systeme für eine
nachhaltige Nutzung nicht respektiert. Außerdem gibt er dem kurzzeitigen
Nutzen den Vorzug vor langfristigem und arbeitet damit zulasten zukünftiger
Generationen.
Eines der anschaulichsten Beispiele für dieses massive Versagen des Marktes
ist der Preis für Benzin in den USA, der Mitte 2007 bei 3 $ pro Gallone lag. (1
Gallone entspricht etwa 3,8 Litern.; Anm. d. Übers.) Doch bei der Festsetzung
dieses Preises wurden nur die Kosten für die Entdeckung und Förderung des
Rohöls, seine Raffinierung zu Benzin und die Auslieferung an die Tankstellen
berücksichtigt, nicht jedoch die Kosten, die durch den Klimawandel entstehen, sowie die für Steuervorteile für die Erdölindustrie (wie beispielsweise die
Oil Depletion Allowance), die wachsenden Militärausgaben zur Sicherung des
Zugangs zu den Erdöllagerstätten im politisch instabilen Nahen Osten oder
die Kosten im Gesundheitswesen für die Behandlung von durch die Luftverschmutzung verursachten Atemwegserkrankungen.16
Würde man diese Kosten, die das International Center for Technology Assessment in einer Studie für die Vereinigten Staaten mit etwa 12 $ pro verbrannter
Gallone Benzin (etwa 3,17 $ pro Liter) bezifferte, auf die 3 $ für das Benzin
selbst aufschlagen, so müssten Kraftfahrer an der Tankstelle pro Gallone Benzin
etwa 15 $ zahlen. Tatsächlich ist die Verbrennung von Benzin sehr teuer, doch
der Markt gaukelt uns das Gegenteil vor, was zu einer starken Verzerrung der
Wirtschaftsstruktur führt. Die Herausforderung für die Regierungen besteht
nun darin, das Steuersystem so umzustrukturieren, dass die indirekten Kosten
in Form von Steuern in den Marktpreis integriert werden, um so sicherzustellen, dass der Produktpreis die Gesamtkosten für die Gesellschaft widerspiegelt,
RWDI Air Inc., Cost-Benefit Analysis: Replacing Ontario’s Coal-Fired Electricity Generation
(Ontario, Kanada: April 2005), S. v.
16 U.S. Department of Energy (DOE), Energy Information Administration, „Weekly
Retail Gasoline and Diesel Prices“, unter tonto.eia.doe.gov/dnav/pet/pet_pri_gnd_dcus_
nus_w.htm, angesehen am 8. August 2007.
13
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
und diese Erhöhung später durch eine Absenkung der Einkommenssteuer auszugleichen.17
Eine weitere Entartung des Marktes trat offen zutage, als im Sommer 1998
das Jangtse-Tal in China, in dem 400 Mio. Menschen leben, von einer der
schlimmsten Überschwemmungen seit Menschengedenken heimgesucht wurde. Der daraus resultierende Schaden von 30 Mrd. $ überstieg den Wert der
jährlichen Reisernte des gesamten Landes bei Weitem.18
Nachdem die Überschwemmungen mehrere Wochen angedauert hatten,
erließ die Regierung in Peking Mitte August ein Verbot für das Schlagen von
Bäumen im Jangtsebecken. Man begründete das Verbot damit, dass die Bäume
an ihrem derzeitigen Standort dreimal mehr wert seien, als wenn man sie schlagen und verkaufen würde: Der Wert der Dienste, die die Wälder beim Schutz
vor Überschwemmungen leisteten, war also weitaus höher als der Verkaufswert
des Holzes, der tatsächlich sogar dreimal niedriger war.19
Gelegentlich gibt es Parallelen zu dieser Situation in der freien Wirtschaft.
Ende der 90er Jahre war der Name der Firma Enron, eines Unternehmens der
Energiebranche mit Sitz in Texas, häufiger auf den Titelseiten verschiedener
Wirtschaftsmagazine zu lesen als der irgendeiner anderen amerikanischen Firma. Enron war einfach unglaublich erfolgreich. Im Jahr 2001 war die Firma
nicht nur der Liebling der Wall Street, sondern auch das siebentwertvollste
Unternehmen in den Vereinigten Staaten. Als jedoch unabhängige Wirtschaftsprüfer Ende 2001 begannen, die Geschäftsunterlagen genauer zu prüfen, stellte sich leider heraus, dass bestimmte Kosten in den Büchern gar nicht
auftauchten. Nachdem man diese Kosten mit eingerechnet hatte, war Enron
keinen Pfifferling mehr wert. Die Aktien der Firma, die zuvor zu Preisen von
bis zu 90 $ pro Anteil gehandelt worden waren, brachten plötzlich nur noch
Pennies ein. Enron ging bankrott. Das Unternehmen brach vollständig zusammen und existiert heute nicht mehr.20
17 International Center for Technology Assessment (ICTA), The Real Cost of Gasoline: An
Analysis of the Hidden External Costs Consumers Pay to Fuel Their Automobiles (Washington,
DC: 1998); ICTA, Gasoline Cost Externalities Associated with Global Climate Change: An
Update to CTA’s Real Price of Gasoline Report (Washington, DC: September 2004); ICTA,
Gasoline Cost Externalities: Security and Protection Services: An Update to CTA’s Real Price of
Gasoline Report (Washington, DC: Januar 2005); Terry Tamminen, Lives Per Gallon: The
True Cost of Our Oil Addiction (Washington, DC: Island Press, 2006), S. 60; angepasst an
die Preise von 2007 mithilfe von: Bureau of Economic Analysis, „Table 3–Price Indices
for Gross Domestic Product and Gross Domestic Purchases“, GDP and Other Major Series,1929-2007 (Washington, DC: August 2007); DOE, op. cit. Anmerkung 16.
18 Munich Re, Topics Annual Review: Natural Catastrophes 2001 (München: 2002), S.
16f.; Wert der Reis- und Weizenernte Chinas aus: USDA, Production, Supply and Distribution, elektronische Datenbank unter www.fas.usda.gov/psdonline, aktualisiert am
12. Juli 2007 unter Bezug auf Preisangaben des Internationalen Währungsfonds (IMF),
International Financial Statistics, elektronische Datenbank unter ifs.apdi.net/imf.
19 „Forestry Cuts Down on Logging“, China Daily, 26. Mai 1998; Erik Eckholm, „China
Admits Ecological Sins Played Role in Flood Disaster“, New York Times, 26. August 1998.
20 Eric Pfanner, „Failure Brings Call for Tougher Standards: Accounting for Enron: Global Ripple Effects“, International Herald Tribune, 17. Januar 2002; Angaben über die Preise
für ENRON-Anteile von: www.marketocracy.com, angesehen am 9. August 2007.
14
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Heute tun wir genau das, was Enron getan hat. Auch wir lassen bestimmte
Kosten außen vor – allerdings in einem weitaus größeren Maßstab. Wenn wir
uns einzig auf wichtige wirtschaftliche Indikatoren, wie Wirtschaftswachstum
und Zunahme des internationalen Handels und der Investitionen, konzentrieren, erhalten wir ein positives Bild. Doch wenn wir all die indirekten Kosten,
die der Markt bei der Festlegung der Preise auslässt, in unsere Betrachtungen
mit einbeziehen, entsteht ein ganz anderes Bild. Wenn wir auch weiter darauf
beharren, diese Kosten nicht mit einzukalkulieren, droht uns dasselbe Schicksal wie Enron.
Heute brauchen wir mehr als je zuvor politische Führer, die das große Ganze sehen und denen der Zusammenhang zwischen der Wirtschaft und ihren
ökologischen Stützsystemen bewusst ist. Und da die wichtigsten Regierungsberater aus dem Wirtschaftsbereich stammen, brauchen wir Wirtschaftsexperten,
die in der Lage sind, wie Umweltexperten zu denken. Leider gibt es davon nur
sehr wenige. Ray Anderson, Gründer und Geschäftsführer der Firma Interface,
die ihren Hauptsitz in Atlanta hat und einer der führenden Produzenten von
Industrieteppichen ist, äußert sich besonders kritisch darüber, wie Wirtschaftswissenschaften an vielen Universitäten gelehrt werden. Er sagt: „Obwohl die
‚unsichtbare Hand’ des Marktes ganz offensichtlich die externen Effekte nicht
mit in Betracht zieht und so tut, als seien massive Fördermaßnahmen, wie
ein Krieg zur Sicherung des Öls für die Erdölfirmen, verdient, bringen wir
den Studenten der Wirtschaftswissenschaften immer noch bei, dieser ‚unsichtbaren Hand’ des Marktes zu vertrauen. Aber können wir bei einer unsichtbaren Hand, die so blind ist, wirklich darauf vertrauen, dass sie die Ressourcen
sinnvoll verteilt?“21
DER ZUSAMMENHANG ZWISCHEN
UMWELT UND ZIVILISATION
Wenn man unser derzeitiges Dilemma im Hinblick auf die Situation im Umweltbereich verstehen will, kann es sich als nützlich erweisen, einen Blick auf
die Geschichte früherer Zivilisationen zu werfen, die sich ebenfalls mit Umweltproblemen konfrontiert sahen.
Unsere Zivilisation des 21. Jahrhunderts ist nicht die erste, die sich mit der
Aussicht auf einen durch ökologische Probleme verursachten wirtschaftlichen
Niedergang konfrontiert sieht. Die Frage ist, wie wir darauf reagieren.
Wie Jared Diamond in Collapse aufzeigt, haben einige der früheren Zivilisationen rechtzeitig auf bestehende ökologische Probleme reagiert und so einen
wirtschaftlichen Niedergang und damit den Untergang ihrer Zivilisation verhindert. Vor 600 Jahren mussten beispielsweise die Isländer feststellen, dass die
Überweidung ihres grasbewachsenen Hochlandes zu massiven Bodenerosionen
21 World Business Academy, „Interface’s Ray Anderson: Mid-Course Correction“, Global
Reconstruction, Vol. 19, 5 (2. Juni 2005); Ray Anderson, „A Call for Systemic Change“,
Rede auf der National Conference on Science, Policy, & the Environment: Education for a
Secure and Sustainable Future, Washington, DC, 31. Januar 2003.
15
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
der ohnehin dünnen Böden der Region führte. Um die Grasflächen nicht völlig
einzubüßen und einen wirtschaftlichen Niedergang zu vermeiden, kamen die
Bauern zusammen, um zu entscheiden, wie viele Schafe für das Hochland verträglich waren und legten anschließend Quoten fest, sodass es ihnen letztlich
gelang, ihre Grasflächen zu erhalten. Den Isländern waren die Konsequenzen
einer Überweidung bewusst und sie beschränkten ihren Schafbestand auf ein
ökologisch verträgliches Maß. Bis heute verfügen sie über eine blühende Wollwarenwirtschaft und auch die Wollproduktion ist nach wie vor sehr hoch.22
Doch nicht alle Gesellschaften haben so vernünftig gehandelt wie die Isländer. Die frühe Zivilisation der Sumerer aus dem 4. Jahrtausend vor Christus
war außergewöhnlich hoch entwickelt, weitaus höher als irgendeine andere vor
ihr. Dank ihres ausgeklügelten Bewässerungssystems verfügte sie über eine so
produktive Landwirtschaft, dass die Bauern einen Nahrungsmittelüberschuss
erwirtschaften konnten, was die Entstehung der ersten Städte begünstigte. Das
Betreiben dieses Bewässerungssystems erforderte auch ein hoch entwickeltes soziales Gefüge. Die Sumerer waren die ersten, die Städte bauten, und verfügten
mit der Keilschrift als erste über eine Schriftsprache.23
Obwohl es sich zweifellos um eine außerordentliche Zivilisation handelte,
hatte ihr Bewässerungssystem doch einen ökologischen Haken, der letztlich
die Lebensmittelversorgung gefährden sollte. Das durch quer über den Euphrat gebaute Dämme aufgestaute Wasser wurde durch ein Netzwerk kleiner Kanäle, die sich durch die Anziehungskraft mit Wasser füllten, über das
Land verteilt. Wie bei den meisten Bewässerungssystemen versickerte ein Teil
des Wassers im Boden. Da die natürliche Entwässerung des Bodens in dieser
Region sehr schwach war, erhöhte sich durch das Sickerwasser langsam der
Grundwasserspiegel. Als das Wasser dann nur noch wenige Zentimeter von der
Erd­oberfläche entfernt war, verdunstete es in die Atmosphäre. Zurück blieb
nur das Salz, das sich im Boden anreicherte und im Laufe der Zeit die Produktivität der Böden sinken ließ.24
Als die Böden immer mehr versalzten und die Weizenernten zunehmend
schlechter ausfielen, stiegen die Sumerer auf den Anbau von Gerste um, weil
diese weniger empfindlich auf Salz reagiert. Dadurch wurde der Niedergang
der Zivilisation zwar hinausgezögert, doch behandelte man letztlich nur die
Symptome, nicht die Ursache der sinkenden Erträge. Da die Salzkonzentration
weiter stieg, begannen schließlich auch die Gerstenerträge zu sinken. Durch
die daraus resultierende Lebensmittelverknappung wurde dieser vormals so
großen Zivilisation die wirtschaftliche Grundlage entzogen, und mit dem Verfall der Böden zerfiel auch die Zivilisation.25
Der Archäologe Robert McC. Adams hat die Ausgrabungsstätten der Sumerer in der zentralen Talaue des Euphrat untersucht, einem öden, trostlosen
22 Jared Diamond, Collapse: How Societies Choose to Fail or Succeed (New York: Penguin
Group, 2005).
23 Sandra Postel, Pillar of Sand (New York: W. W. Norton & Company, 1999), S. 13ff.
24 Ebenda.
25 Ebenda.
16
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Gebiet, das heute außerhalb der Grenzen landwirtschaftlich nutzbarer Gebiete
liegt. Er schreibt, die „verwobenen Dünen, die schon lange nicht mehr benutzten Kanaldämme und die mit Schutt übersäten Hügel ehemaliger Siedlungen bilden nur ein niedriges, formloses Relief. Die Vegetation ist spärlich
und in vielen Gebieten fehlt sie fast völlig. [...] Und doch befand sich hier einst
das Zentrum, das Herzstück, der ältesten urbanen Zivilisation der Welt mit
eigener Schrift.“26
Die Zivilisation der Maya, die sich im Tiefland des heutigen Guatemala
entwickelte, bildet das Gegenstück zu den Sumerern in der „neuen Welt“. Ihre
Blütezeit begann um 250 n. Chr. und setzte sich bis zu ihrem Untergang um
900 fort. Ebenso wie die Sumerer verfügten auch die Maya über eine komplexe
und höchst produktive Landwirtschaft, die in diesem Fall auf erhöht gelegenen
Anbauflächen basierte, die mithilfe von sie umgebenden Kanälen mit Wasser
versorgt wurden.27
Ähnlich wie im Falle der Sumerer stand auch der Untergang der Maya
offen­sichtlich im Zusammenhang mit einer Verknappung der Nahrungsmittel.
Im Falle dieser neuweltlichen Zivilisation waren Entwaldung und Bodenerosion der Grund für den Niedergang der landwirtschaftlichen Erträge und auch
klimatische Ver­änderungen könnten eine Rolle gespielt haben. Durch die Verknappung der Lebensmittel kam es offensichtlich zu offenen Konflikten zwischen den verschiedenen um die Lebensmittel konkurrierenden Mayastädten.
Inzwischen hat sich die Natur das Gebiet zurückerobert, es ist vollständig vom
Dschungel überwachsen.28
Die Isländer gelangten an einen kritischen Punkt und beschlossen gemeinsam, die Beweidung ihrer Grasflächen einzuschränken, um diese nicht ganz zu
verlieren. Die Sumerer und die Maya haben es versäumt, eine so vernünftige
Entscheidung zu treffen, und schließlich ist ihnen die Zeit davongelaufen.
Unsere heutigen Probleme haben ihren Ursprung größtenteils in dem enor­
men Wachstum der Weltwirtschaft im vergangenen Jahrhundert. Heute wird
das jährliche Wirtschaftswachstum, das einst noch in Milliarden Dollar gemessen wurde, in Billionen Dollar angegeben. Tatsächlich ist allein der Zuwachs in
der Produktionsleistung im Bereich der Waren und Dienstleistungen im Jahr
2007 größer gewesen als die gesamte Produktionsleistung der Weltwirtschaft
im Jahr 1900.29
Während die Weltwirtschaft exponentiell wächst, haben sich die Kapazitäten der natürlichen Systeme der Erde, wie die zur Bereitstellung von frischem
Wasser, Forst- oder Meeresprodukten, nicht erhöht. Eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung von Mathis Wackernagel kam in einer im Jahr
2002 von der U. S. National Academy of Sciences veröffentlichten Studie zu dem
26 Robert McC. Adams zitiert in Joseph Tainter, The Collapse of Complex Societies (Cambridge, GB: Cambridge University Press, 1988), S. 1.
27 „Maya“, Encyclopedia Britannica, Online-Enzyklopädie, eingesehen am 13. Sept 2007.
28 Guy Gugliotta, „The Maya: Glory and Ruin“, National Geographic, August 2007.
29 Maddison, op. cit. Anmerkung 14; IMF, World Economic Outlook Database 2007,
elektronische Datenbank unter www.imf.org/external/pubs, aktualisiert im April 2007.
17
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Schluss, dass die kollektive Nachfrage der Menschheit die regenerativen Kapazitäten der Erde erstmals um 1980 überschritten hat. Heute liegt die weltweite
Nachfrage laut Schätzungen bereits etwa 25 % über dem, was im Hinblick auf
eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Systeme noch vertretbar wäre. Das
bedeutet, dass wir die derzeitige Nachfrage befriedigen, indem wir die natürlichen Reserven der Erde langsam aufbrauchen, womit wir einem Niedergang
und schließlich sogar unserem eigenen Untergang den Boden bereiten.30
In unserer modernen, hoch technisierten Welt kann man leicht vergessen,
dass unsere Wirtschaft, ja eigentlich sogar unsere ganze Existenz, von den natürlichen Systemen und Ressourcen unserer Erde abhängig ist. So sind wir beispielsweise auf das Klimasystem der Erde angewiesen, damit die Bedingungen
für eine landwirtschaftliche Nutzung entstehen können, oder auf den hydrologischen Kreislauf, damit wir frisches Wasser haben, oder auf die langfristigen geologischen Prozesse, durch die aus Felsen Ackerböden werden, sodass die Erde
letztlich zu dem biologisch so produktiven Planeten werden konnte, der sie ist.
Inzwischen ist die Weltbevölkerung so stark angewachsen, dass die Erde
völlig überlastet ist und wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse ihre natürlichen Kapazitäten bereits überbeanspruchen. Die Waldbestände sinken. Jedes
Jahr verwandeln sich große Grasflächen in Wüsten. In den Ländern, in denen
ohnehin schon mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, übersteigt die
Menge an abgepumptem Grundwasser die Menge, die auf natürliche Weise
wiederangereichert werden kann, sodass die Brunnen austrocknen und viele
Menschen nicht mehr mit ausreichend Wasser versorgt werden können.31
Jeder von uns ist auf die Produkte und Dienstleistungen angewiesen, die
durch die Ökosysteme der Erde, von Wäldern oder Feuchtgebieten, Korallenriffen oder Grasflächen, hervorgebracht werden. Zu den Dienstleistungen, die diese Ökosysteme erbringen, gehören unter anderem die Filterung von Wasser, Bestäubung, Kohlenstoffaufnahme, Flutkontrolle und Konservierung der Böden.
Im Millennium Ecosystem Assessment, einer von 1.360 Wissenschaftlern über vier
Jahre geführten Studie zu den Ökosystemen der Erde, heißt es, die Ökosysteme
der Erde würden abgebaut oder über ihre Grenzen hinaus belastet und seien
deshalb in 15 von 24 Fällen grundlegender Dienstleistungen nicht mehr in der
Lage, diese zu leisten. So werden beispielsweise drei Viertel der Meeresfischgründe, die eine wichtige Proteinquelle für die Ernährung des Menschen darstellen, bereits bis an die Grenze der Belastbarkeit befischt und zum Teil sogar
überfischt, sodass viele von ihnen bereits kurz vor dem Kollaps stehen.32
30 Mathis Wackernagel et al., „Tracking the Ecological Overshoot of the Human Economy“, Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 99, Nr. 14 (9. Juli 2002), S. 9,
266ff.; Global Footprint Network, WWF und Zoological Society of London, Living Planet
Report 2006 (Oakland, CA: Global Footprint Network, 2006), S. 14.
31 Brown, op. cit. Anmerkung 11, S. 101f.; Peter H. Gleick et al., The World’s Water
2004-2005 (Washington, DC: Island Press, 2004), S. 88; U.N. Population Division, op.
cit. Anmerkung 10.
32 Millennium Ecosystem Assessment (MA), Ecosystems and Human Well-Being: Synthesis
(Washington, DC: Island Press, 2005); MA, Ecosystems and Human Well-Being: Policy Res­
ponses (Washington, DC: Island Press, 2005), S. 180.
18
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Ein weiteres Ökosystem, das unter enormer Belastung steht, sind die tropischen Regenwälder einschließlich der des Amazonasgebietes. Bisher sind
etwa 20 % des Regenwaldes abgeholzt worden – entweder um Platz für Weideflächen oder für den Anbau von Soja zu schaffen. Weitere 22 % sind durch
Baumschlag und Straßenbau stark in Mitleidenschaft gezogen, wodurch das
Sonnenlicht bis in die unteren Schichten des Waldes vordringen, sie austrocknen und das Holz in Zündelholz verwandeln kann. Wenn dieser Punkt erreicht
ist, verliert der Regenwald seine Widerstandsfähigkeit gegen Waldbrände und
kann bereits durch einen Blitzschlag in Brand geraten.33
Wissenschaftler gehen davon aus, dass der kritische Punkt, ab dem dieses
Ökosystem nicht mehr zu retten wäre, erreicht ist, wenn die Hälfte des
Amazonas­regenwaldes abgeholzt sei. Wenn wir diesen kritischen Punkt überschreiten, wird das Folgen haben, die auf der ganzen Welt zu spüren sein werden. Der Amazonasexperte Philip Fearnside dazu: „Mit jedem geschlagenen
Baum im Amazonas tragen wir dazu bei, dass dieser kritische Punkt erreicht
wird.“ Geoff­rey Lean schreibt in einem Artikel im Independent, in dem er die
Ergebnisse eines Symposiums zum Amazonas zusammenfasst, wenn der Regenwald im Amazonas verschwunden wäre, wäre da „im besten Falle noch
Trockensavanne, im schlimmsten Falle aber Wüste“.34
Das Zukunftsbild von Daniel Nepstad, einem im Amazonasgebiet ansässigen bekannten Wissenschaftler vom Woods Hole Research Center, enthält
Visionen von sogenannten „Megafeuern“, die sich durch den vertrocknenden
Dschungel fressen. Nepstad sagt, die Menge des im Amazonasregenwald gespeicherten Kohlenstoffs entspricht etwa dem, was der Mensch in 15 Jahren an
Kohlenstoffemissionen in die Atmosphäre blasen könnte. Wenn wir also den
kritischen Punkt in Bezug auf den Amazonas erreichen, lösen wir damit noch
eine weitere klimatische Reaktion aus und unternehmen damit einen weiteren
Schritt, der das Schicksal unserer Zivilisation endgültig besiegeln könnte.35
Normalerweise beginnen die exzessiven Belastungen im Hinblick auf eine
bestimmte Ressource in einigen wenigen Ländern und breiten sich dann langsam aus. Nigeria und die Philippinen, die einst Netto-Exporteure für Forstprodukte waren, sind inzwischen auf diesem Gebiet Importeure. Thailand, wo es
inzwischen fast keine Waldflächen mehr gibt, hat das Schlagen von Bäumen
ebenso bereits verboten wie China. China bezieht jetzt das benötigte Holz aus
Sibirien oder aus einem der wenigen Länder in Südostasien, die noch über
ausreichende Waldflächen verfügen, wie Myanmar oder Papua-Neuguinea.36
33 Geoffrey Lean, „A Disaster to Take Everyone’s Breath Away“, Independent (London),
24. Juli 2006; Daniel Nepstad, „Climate Change and the Forest“, Tomorrow’s Amazonia:
Using and Abusing the World’s Last Great Forests (Washington, DC: The American Prospect,
September 2007).
34 Lean, op. cit. Anmerkung 33.
35 Ebenda.; Nepstad, op. cit. Anmerkung 33.
36 U.N. Food and Agriculture Organization (FAO), ForesSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org, aktualisiert am 22. Dezember 2006; Patrick B. Durst et al., Forests Out of Bounds: Impacts and Effectiveness of Logging Bans in Natural Forests in Asia-Pacific
(Bangkok: FAO, Asia-Pacific Forestry Commission, 2001); Eckholm, op. cit. Anmerkung
19
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Ganz ähnlich ist die Lage bei den Fischbeständen. Zunächst waren es nur
wenige Bestände, die zu stark befischt wurden, vor allem in der Nordsee, vor
der Ostküste Nordamerikas und vor der Küste Ostasiens. Jetzt, da die Fangflotten mit neuester Technologie ausgerüstet sind und mit Fabrikschiffen, an Bord
derer der Fang auch gleich verarbeitet werden kann, ist die Überfischung der
Bestände keine Ausnahme mehr, sondern der die Regel. Wenn niemand etwas
dagegen unternimmt, werden Fischgründe immer mehr zusammenschrumpfen und letztlich kollabieren. Einige, wie beispielsweise die Fischgründe für
Kabeljau vor der Küste Neufundlands oder die für Thunfisch im Atlantik, werden sich vielleicht nie wieder erholen. Auch die chilenischen Fischgründe für
Seebarsch im Südmeer und die für Stör im Kaspischen Meer steuern bereits auf
den Punkt zu, ab dem es kein Zurück mehr gibt.37
Wenn die Brunnen austrocknen, die Grasflächen sich in Wüsten verwandeln und die Böden erodieren, sehen sich die Menschen gezwungen, sich entweder innerhalb ihres Landes eine neue Heimat zu suchen, oder aber in andere Länder zu emigrieren. Und dadurch, dass die natürlichen Kapazitäten der
Erde auf lokaler Ebene völlig überlastet werden und damit die wirtschaftlichen
Möglichkeiten schrumpfen, entstehen weltweit Ströme von sogenannten Umweltflüchtlingen.
Durch die fortdauernde Erosion der ökologischen Stützsysteme der Wirtschaft sind zwar unter anderem Umweltschützer, Ökologen und Naturwissenschaftler von der Notwendigkeit überzeugt worden, die Weltwirtschaft
umzugestalten, viele andere dagegen sehen es nach wie vor nicht ein. Doch
möglicherweise überzeugt sie das, was derzeit in China geschieht.
CHINA ODER WARUM DAS BESTEHENDE
WIRTSCHAFTSMODELL HIER SCHEITERN WIRD
Solange wie ich denken kann, hieß es immer, die USA würden, obwohl dort
nur 5 % der Weltbevölkerung leben, ein Drittel der Erdressourcen verbrauchen, wenn nicht sogar mehr. Dies entsprach auch lange Zeit der Wahrheit,
doch jetzt tut es das nicht mehr. Inzwischen hat nämlich China die Vereinigten
Staaten als größten Konsumenten grundlegender Rohstoffe abgelöst.38
Wenn man die wichtigsten Rohstoffe wie Getreide, Fleisch, Erdöl, Kohle
und Stahl betrachtet, so hat China die Vereinigten Staaten im Verbrauch all
dieser Güter überholt – mit Ausnahme des Erdöls, wo die USA immer noch
19; Andy White et al., China and the Global Market for Forest Products: Transforming Trade to
Benefit Forests and Livelihood (Washington, DC: Forest Trends, März 2006), S. 12.
37 FAO, The State of World Fisheries and Aquaculture 2004 (Rom: 2004), S. 24, 30ff.; Ted
Williams, „The Last Bluefin Hunt“ in: Valerie Harms et al., The National Audubon Society
Almanac of the Environment (New York: Grosset/Putnam, 1994), S. 18; Konstantin Volkov,
„The Caviar Game Rules“, Reuters-IUCN Environmental Media Award winner, 2001;
Camillo Catarci, World Markets and Industry of Selected Commercially-Exploited Aquatic Species (Rom: FAO, 2004).
38 The New Road Map Foundation, „All-Consuming Passion: Waking up from the
American Dream“, Datenblatt, EcoFuture, aktualisiert am 17. Januar 2002.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
einen großen Vorsprung haben, der allerdings auch bereits abnimmt. China
verbraucht ein Drittel mehr Getreide als die USA, der Fleischverbrauch ist fast
doppelt so groß wie der der Vereinigten Staaten und der Stahlverbrauch sogar
dreimal so hoch.39
Doch diese Zahlen spiegeln nur den Gesamtverbrauch des Landes wider.
Was aber geschieht, wenn China die Vereinigten Staaten im Pro-Kopf-Verbrauch einholt? Wenn wir einmal annehmen, dass das Wirtschaftswachstum
sich etwas verlangsamt und von derzeit 10 % auf 8 % zurückgeht, so wird das
Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen im Jahr 2030 ebenso hoch sein wie heute
in den USA.40
Wenn man nun weiter annimmt, dass die Verbrauchsmuster der chinesischen
Bevölkerung dann in etwa denen der amerikanischen Bevölkerung heute entsprechen, dann können wir aus dem Einkommen auf den Verbrauch schließen.
Wenn beispielsweise jeder Chinese im Jahr 2030 genauso viel Papier verbraucht
wie ein Amerikaner heute, so werden die geschätzten 1,46 Mrd. Menschen, die
zu diesem Zeitpunkt in China leben werden, doppelt soviel Papier benötigen,
wie heute weltweit produziert wird. Und damit wären die Waldbestände der
Erde dahin.41
Geht man weiter davon aus, dass in China im Jahr 2030 auf 4 Personen
3 Autos kommen, wie es derzeit in den USA der Fall ist, so würde dies eine
Autoflotte von 1,1 Mrd. Fahrzeugen bedeuten – momentan gibt es weltweit
860 Mio. Wollte man für diese riesige Autoflotte die notwendigen Straßen,
Autobahnen und Parkmöglichkeiten schaffen, so müsste das Land dafür zusätzlich eine Fläche von der Größe der Gesamtanbaufläche für Reis in China
asphaltieren.42
Im Jahr 2030 würde China bereits 98 Mio. Barrel Erdöl pro Tag benötigen,
wobei man bedenken muss, dass heute weltweit nur 85 Mio. Barrel pro Tag
produziert werden und die Welt wohl nicht in der Lage sein wird, die Produktion noch einmal wesentlich zu erhöhen. Und so wären auch die Ölreserven
der Erde dahin.43
Das Beispiel Chinas zeigt uns, dass das westliche Wirtschaftsmodell – eine
auf Treibstoff basierende, rund um das Auto aufgebaute Wegwerfwirtschaft – für
China nicht funktionieren wird. Und wenn es schon für China nicht funktioniert, wird es für Indien, dessen Bevölkerung im Jahr 2030 Schätzungen zufolge
39 USDA, op. cit. Anmerkung 18; International Iron and Steel Institute, Steel Statistical
Yearbook 2006 (Brüssel: 2006), S. 77ff.
40 IMF, op. cit. Anmerkung 29; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10.
41 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10; FAO, op. cit. Anmerkung 36.
42 Ward’s Automotive Group, World Motor Vehicle Data 2006 (Southfield, MI: Ward’s
Automotive Group, 2006); zu asphaltierende Fläche geschätzt auf Grundlage von 0,02
Hektar pro Auto aus: Lester R. Brown, „Paving the Planet: Cars and Crops Competing for
Land“, Issue Alert (Washington, DC: Earth Policy Institute, 14. Februar 2001); USDA, op.
cit. Anmerkung 18.
43 BP, Statistical Review of World Energy 2007 (London: 2007); U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10; International Energy Agency (IEA), Oil Market Report (Paris:
Juli 2007).
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sogar noch größer sein wird als die Chinas, erst recht nicht funktionieren. Und
auch nicht für die restlichen 3 Mrd. Menschen, die in den Entwicklungsländern
leben und ebenfalls den „amerikanischen Traum“ träumen. Ja, in einer zunehmend interdependenten Weltwirtschaft, in der alle Staaten um die dieselben
Rohstoffe, ob Getreide, Öl oder Stahl, konkurrieren, wird es noch nicht einmal
mehr für die Industriestaaten funktionieren.44
Die große Herausforderung, vor der unsere Generation jetzt steht, ist der
Aufbau einer neuen Wirtschaft, einer Wirtschaft, die größtenteils auf der Nutzung erneuerbarer Energien basiert, über ein diversifiziertes Transportsystem
verfügt und in der Wiederverwendbarkeit und Recycling zu den zentralen
Konzepten gehören. Wir verfügen bereits über die dazu nötigen Technologien zum Aufbau dieser neuen Wirtschaft, die uns außerdem auch erlaubt,
den wirtschaftlichen Fortschritt zu bewahren. Die einzige Frage ist, ob es uns
gelingen wird, sie schnell genug aufzubauen, bevor unsere sozialen Systeme
zusammenbrechen.
ZUNEHMENDE BELASTUNG UND GESCHEITERTE STAATEN
Staaten scheitern immer dann, wenn die entsprechende Regierung die Kontrolle über einen Teil des Staatsgebietes oder das gesamte Staatsgebiet verliert
und nicht mehr in der Lage ist, für die persönliche Sicherheit der Bevölkerung
zu garantieren. Wenn eine Regierung das Machtmonopol einbüßt, beginnen
Recht und Ordnung, sich in Luft aufzulösen. Wenn sie grundlegende Dienstleistungen des Staates, wie die Bereitstellung von Bildung und Gesundheitsfürsorge oder die Garantie der Nahrungsmittelsicherheit, nicht länger gewährleisten kann, büßt sie ihre Legitimität ein. Eine Regierung in dieser Lage
nimmt wahrscheinlich auch nicht mehr genügend Geld ein, um eine effektive
Regierungstätigkeit finanzieren zu können. Und manchmal zersplittert die
Gesellschaft soweit, dass sie nicht mehr in der Lage ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, weil der Zusammenhalt fehlt.
Staaten, die am Rande des Scheiterns stehen, stürzen oft in einen Bürgerkrieg, und da sich der interne Konflikt auch über die Grenzen des Landes
hinaus ausweiten kann, werden die Krieg führenden Gruppen in ihrem Kampf
um die Macht schnell auch zur Bedrohung für benachbarte Staaten. Solche im
Scheitern begriffenen oder bereits gescheiterten Staaten werden zu möglichen
Ausbildungsplätzen für internationale Terrorgruppen, wie in Afghanistan, im
Irak oder in Somalia, oder zu Drogenproduzenten, wie im Fall von Myanmar
(ehemals Burma) oder Afghanistan, auf das im Jahr 2006 92 % der weltweiten
Opiumproduktion entfielen. Da sie nicht über funktionierende Gesundheitssysteme verfügen, können solche ohnehin geschwächten Staaten auch zu Herden für Infektionskrankheiten werden, wie es Nigeria für Polio wurde.45
44 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10.
45 Carlotta Gall, „Opium Harvest at Record Levels in Afghanistan“, New York Times, 3.
Sept. 2006; Ania Lichtarowica, „Conquering Polio’s Last Frontier“, BBC News, 2. Aug. 2007.
22
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
In gescheiterten Staaten, in denen die Regierung die Kontrolle über das Land
verloren hat, übernehmen oft andere gesellschaftliche Elemente die Macht. In
Afghanistan waren es die örtlichen Warlords, in Somalia die Stammes­chefs und
in Haiti die Straßengangs. Auch Ringe von Drogenhändlern oder das organisierte Verbrechen können zu den neuen Machthabern gehören.
In der Vergangenheit waren die Regierungen oft besorgt darüber, dass ein
einzelner Staat zuviel Macht erringt, wie im Falle von Nazi-Deutschland, dem
Japanischen Kaiserreich oder der Sowjetunion. Heute dagegen sind es die im
Scheitern begriffenen oder bereits gescheiterten Staaten, die die größte Bedrohung für die weltweite Ordnung und Stabilität darstellen. In der Zeitschrift
Foreign Policy hieß es dazu: „Früher haben sich die Führer der Welt Sorgen
darüber gemacht, ob in einem Land jemand zu viel Macht anhäuft, heute sind
sie besorgt, wenn niemand die Macht hat.“46
Laut Schätzungen der CIA liegt die Zahl der Staaten, die kurz davor stehen
zu scheitern, bei etwa 20. Die Experten der britischen Regierung für internationale Entwicklung haben 46 sogenannte „anfällige“ Staaten ausgemacht und
die Weltbank konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf 35 Staaten mit geringem
Einkommen, die größeren Belastungen ausgesetzt sind, und die man ebenfalls
als „anfällige Staaten“ bezeichnet.47
Der derzeit systematischste Ansatz zur Analyse gescheiterter und im Scheitern begriffener Staaten stammt vom Fund for Peace in Zusammenarbeit mit
der Carnegie Endowment for International Peace. Die gemeinsamen Analysen
werden jährlich aktualisiert und in der Juli/August-Ausgabe von Foreign Policy
veröffentlicht. In diesen wertvollen Arbeiten, bei deren Erstellung auf Tausende
Informationsquellen weltweit zurückgegriffen wird, zeigt sich ein hohes Maß
an Einsicht in die Veränderungen, die überall auf der Welt vor sich gehen, und
sie geben im weitesten Sinne Aufschluss darüber, in welche Richtung sich die
Welt entwickelt.48
In diesen Analysen werden die einzelnen Länder nach 12 sozialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Indikatoren bewertet, wobei die
Punkteskala von 1 bis 10 reicht. Die Punktzahlen für jeden Indikator werden
dann in einem einzigen Wert für das jeweilige Land zusammengefasst, dem
sogenannten Failed States Index. Wenn ein Land einen Index von 120 hat, was
der höchsten möglichen Punktzahl entspricht, so muss die jeweilige Gesellschaft in jeder Hinsicht als gescheitert betrachtet werden.49
Als die Liste 2005 das erste Mal in Foreign Policy veröffentlicht wurde,
wobei die Daten von 2004 ausgewertet worden waren, hatten sieben Staaten
einen Index von 100 oder mehr. Für 2005 erhöhte sich diese Zahl bereits auf
46 Fund for Peace und Carnegie Endowment, Juli/August 2005, op. cit. Anmerkung 12.
47 World Bank, Global Monitoring Report 2007: Millennium Development Goals (Wa­
shington, DC: 2007) S. 5; Department for International Development, Why We Need to
Work More Effectively in Fragile States (London: Januar 2005), S. 27f.
48 Fund for Peace und Carnegie Endowment, Juli/August 2005, 2006, and 2007, op.
cit. Anmerkung 12.
49 Fund for Peace and Carnegie Endowment, Juli/August 2005, op. cit. Anmerkung 12.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
neun Staaten und für 2006 waren es bereits 12, womit sich die Zahl der als gescheitert anzusehenden Staaten innerhalb von nur zwei Jahren fast verdoppelt
hatte. Natürlich kann man aus einer so kurzen Beobachtung eines Trends noch
keine definitiven Schlüsse ziehen, doch sowohl die Tatsache, dass die Punktzahlen der Länder, die ganz oben auf der Liste stehen, immer höher werden, als
auch die Tatsache, dass sich die Zahl der Staaten mit 100 und mehr Punkten
fast verdoppelt hat, legen den Schluss nahe, dass immer mehr Staaten auf dem
Weg sind, zu gescheiterten Staaten zu werden.50
Die meisten der 10 Staaten, die 2006 die Liste anführten (siehe Tabelle
1-1) standen auch schon in den beiden vorangegangenen Jahren ganz weit
oben. In einer Bewertung der Daten für 2006 hieß es in Foreign Policy, dass
es „2006 nur wenige ermutigende Anzeichen dafür gab, dass die Welt sich auf
dem Weg zu mehr Frieden und Stabilität befindet“. Der einzige Lichtblick war
die Verbesserung der Lage in Liberia. 2004 hatte das Land noch auf Platz 9
gelegen und sich am Rande des Scheiterns befunden, 2006 war es auf Platz 27
gerutscht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Land durch die Präsidentschaftswahlen, in deren Folge Ellen Johnson-Sirleaf Ende 2005 Präsidentin
wurde, sowohl ein gewisses Maß an politischer Stabilität zurückerlangte als
auch eine gewisse Hoffnung für die Zukunft des Landes.51
Tabelle 1-1:
Top 20 der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten, 2006
Rang
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Land
Sudan
Irak
Somalia
Simbabwe
Tschad
Côte d‘Ivoire
Demokratische Republik Kongo
Afghanistan
Guinea
Zentralafrikanische Republik
Haiti
Pakistan
Nordkorea
Burma
Uganda
Bangladesch
Nigeria
Äthiopien
Burundi
Timor-Leste
Punktzahl
113,7
111,4
111,1
110,1
108,8
107,3
105,5
102,3
101,3
101,0
100,9
100,1
97,7
97,0
96,4
95,9
95,6
95,3
95,2
94,9
50 Fund for Peace and Carnegie Endowment, Juli/August 2005, 2006, and 2007, op.
cit. Anmerkung 12.
51 Tabelle 1–1 aus: ebenda.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Es besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen dem Platz, den ein Land
innerhalb dieser Liste einnimmt, und bestimmten demographischen und ökologischen Indikatoren. In 17 der Top-20-Staaten auf der Liste ist das Bevölkerungswachstum enorm hoch, in vielen Fällen wächst die Bevölkerung um fast
3 % im Jahr bzw. verzwanzigfacht sich in 100 Jahren. In 5 dieser 17 Länder
haben Frauen im Durchschnitt fast sieben Kinder. Wenn man es vom demographischen Standpunkt aus betrachtet, sitzen diese 17 Länder in der Falle. Sie
haben sich wirtschaftlich weit genug entwickelt, um die Sterberaten senken zu
können, doch noch nicht weit genug, um die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für einen Rückgang der Fruchtbarkeitsraten zu schaffen.52
In 14 der 20 Staaten an der Spitze der Liste sind mindestens 40 % der
Bevölkerung jünger als 15. Ein so hoher Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung ist of ein Zeichen dafür, dass das Land in Zukunft politisch
nicht besonders stabil sein wird. Junge Menschen, die keine Möglichkeit sehen, Arbeit zu finden, werden unzufrieden, was es Aufständischen leicht macht,
sie als Rekruten anzuwerben.53
Ebenso wenig kann überraschen, dass es oft einen Zusammenhang zwischen
dem Maß des Scheiterns eines Staates und der Zerstörung der ökologischen
Stützsysteme gibt. In einer ganzen Reihe der Länder auf der Liste – darunter der Sudan, Somalia und Haiti – sind Probleme wie Verlust an Wald- und
Weideflächen oder Bodenerosion, weitverbreitet. In den Ländern mit hohem
Bevölkerungswachstum besteht außerdem das Problem, dass die jeweilige ProKopf-Menge an Ackerland und Wasser stetig sinkt. Da sich das hohe Bevölkerungswachstum, die Zerstörung der ökologischen Stützsysteme und die Armut
gegenseitig verstärken und zu einem hohen Maß an Instabilität führen, wird es
nach einer Weile enorm schwierig, ausländische Investoren ins Land zu locken.
Selbst die Geberländer stellen oft ihre Hilfsprogramme ein, weil die Sicherheit
der Entwicklungshelfer nicht mehr gewährleistet werden kann, sodass sie das
Land verlassen müssen.
Wenn ein Staat scheitert, so bleibt das Problem nicht auf das Staatsgebiet
des betroffenen Landes beschränkt, sondern wirkt sich häufig auch auf die
Nachbarstaaten aus. Ein Beispiel dafür ist der Völkermord in Ruanda, der sich
auch auf die Demokratische Republik Kongo ausdehnte, wobei letztlich noch
mehrere andere Länder mit in diesen Krieg hineingezogen wurden, der mehrere Jahre andauern und mehr als 3,9 Mio. Todesopfer allein im Kongo fordern
sollte. Ein anderes, aktuelleres Beispiel sind die Morde in der Region Darfur,
die sich auch auf den Tschad ausgeweitet haben.54
52 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10; Fund for Peace und Carnegie
Endowment, Juli/August 2007, op. cit. Anmerkung 12.
53 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10; Fund for Peace und Carnegie
Endowment, Juli/August 2007, op. cit. Anmerkung 12; Richard Cincotta und Elizabeth
Leahy, „Population Age Structure and Its Relation to Civil Conflict: A Graphic Metric“,
Woodrow Wilson International Center for Scholars Environmental Change and Security Program Report, Vol. 12 (2006-07), S. 55ff.
54 Lydia Polgreen, „In Congo, Hunger and Disease Erode Democracy“, New York Times,
23. Juni 2006; Richard Brennan und Anna Husarska, „Inside Congo, An Unspeakable
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Nachdem die Zahl der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten
steigt, wird es zunehmend schwieriger, auf verschiedene internationale Krisen
zu reagieren. Maßnahmen, die in einer relativ geordneten Welt mit funktionierenden Nationalstaaten ganz einfach zu bewerkstelligen wären, wie die Verhinderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten, können in einer Welt, in
der viele Staaten dabei sind auseinanderzufallen, schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden. Selbst die Aufrechterhaltung eines geregelten Flusses von Rohstoffen könnte dann zur Herausforderung werden. Und es kommt der Punkt,
an dem die zunehmende politische Instabilität in der Welt den weltweiten wirtschaftlichen Fortschritt behindert – also müssen wir uns mit den Ursachen für
das Scheitern von Staaten auseinandersetzen und zwar sehr schnell.
EIN KRITISCHER PUNKT FÜR UNSERE ZIVILISATION
In den vergangenen Jahren hat die Sorge um eine mögliche Überschreitung natürlicher Grenzen und das Erreichen kritischer Punkte stark zugenommen. So
fragen sich beispielsweise Wissenschaftler, wann bei einer gefährdeten Spezies
der Punkt erreicht ist, ab dem das Absinken der Populationszahlen nicht mehr
aufzuhalten ist und sich die Population nicht mehr erholt. Meeresbiologen
machen sich Gedanken darüber, wann der Punkt erreicht sein wird, an dem
die Überfischung eines Fischbestandes zu seinem Kollaps führt.
Wir wissen, dass es in früheren Zivilisationen auch in sozialer Hinsicht
kritische Punkte gab, an denen sie von den Kräften, die sie bedrohten, einfach
überwältigt wurden. So erreichte beispielsweise die Menge an Salz, die sich aufgrund des speziellen Bewässerungssystems der Sumerer im Boden anreicherte,
einen Punkt, ab dem die Sumerer keine Lösung mehr für das Problem sahen.
Und für die Maya kam der Zeitpunkt, an dem sie die Folgen des übermäßigen
Baumschlages und des damit verbundenen Verlusts an wertvollem Oberboden
nicht mehr ausgleichen konnten.55
Es ist nicht immer leicht vorherzusagen, wann der kritische Punkte in so­
zi­aler Hinsicht erreicht ist, der letztlich zu Niedergang und Verschwinden der
jeweiligen Zivilisation führt, der Punkt, an dem eine Zivilisation von einer
einzigen Bedrohung oder mehreren gleichzeitig auftretenden überfordert ist.
Im Allgemeinen sind wirtschaftlich höher entwickelte Länder eher in der Lage,
neu auftretende Bedrohungen effektiv zu bekämpfen, als Entwicklungslän­der.
So ist es beispielsweise den Regierungen der Industrieländer gelungen, die
HIV-Infektionsrate unter Erwachsenen auf unter 1 % zu senken und auf die­
sem Niveau zu halten, während dies in vielen Entwicklungsländern nicht der
Fall war, sodass diese jetzt mit weitaus höheren Infektionsraten zu kämpfen
haben. Besonders auffällig ist dies in einigen Ländern des südlichen Afri­kas,
wo bis zu 20 % der Erwachsenen infiziert sind, manchmal sogar noch mehr.56
Toll“, Washington Post, 16. Juli 2006; Lydia Polgreen, „Hundreds Killed Near Chad’s Border
With Sudan“, New York Times, 14. November 2006.
55 Postel, op. cit. Anmerkung 23, S. 13ff.; Gugliotta, op. cit. Anmerkung 28.
56 UNAIDS, „HIV and AIDS Estimates and Data, 2003 and 2005“, 2006 Report on the
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Ähnlich ist die Lage in Bezug auf das Bevölkerungswachstum. Während
die Bevölkerungszahlen in fast allen Industriestaaten, mit Ausnahme der USA,
nicht mehr zunehmen, steigen sie in fast allen Ländern Afrikas, des Nahen Ostens und des indischen Subkontinents weiter rapide an. Fast alle der 70 Mio.
Menschen, um die die Weltbevölkerung pro Jahr anwächst, werden in Ländern
geboren, in denen die natürlichen Stützsysteme immer mehr verfallen, weil
sie durch den massiven Bevölkerungsdruck einfach überbeansprucht werden.
Aus diesem Grund sind diese Länder am wenigsten in der Lage, eine so große
Bevölkerung zu erhalten, und das Risiko, dass sie zu gescheiterten Staaten werden, wächst rapide.57
Doch einige Probleme scheinen sogar die Fähigkeiten der höher entwickelten Länder zu übersteigen. Als man erstmals feststellte, dass in einigen Ländern die Grundwasserspiegel sinken, war es nur logisch zu erwarten, dass die
Regierungen der betroffenen Länder schnell reagieren und Maßnahmen zur
Erhöhung der Effizienz bei der Wassernutzung und zur Stabilisierung der Bevölkerungszahlen ergreifen würden, um die Grundwasserleiter zu entlasten
und die Lage wieder zu stabilisieren. Leider hat nicht ein einziges Land, weder
unter den Industrie- noch unter den Entwicklungsländern, dies getan. Zwei
Staaten, die ohnehin schon am Rande des Scheiterns stehen – Pakistan und der
Jemen – beanspruchen ihre Grundwasserreserven auch weiterhin so stark, dass
es bereits zu einem bedrohlichen Wassermangel gekommen ist.
Obwohl bereits seit einiger Zeit klar ist, dass wir die CO2-Emissionen senken müssen, ist es bisher keinem einzigen Land, egal ob Industrie- oder Entwicklungsland, gelungen, eine CO2-Neutralität zu erreichen. Bisher hat sich
dies sogar für die technologisch am höchsten entwickelten Länder als politisch zu schwierig erwiesen. Es stellt sich die Frage, ob es unserer Zivilisation
im 21. Jahrhundert ebenso unmöglich sein wird, das Problem der steigenden
CO2-Level in der Atmosphäre zu lösen, wie vor 6.000 Jahren für die Sumerer,
mit dem steigenden Salzgehalt im Boden fertig zu werden.
Die bevorstehende Verknappung des Erdöls könnte sich ebenfalls als massive Belastung für die Regierungen der Welt erweisen. Obwohl die weltweite
Ölproduktion seit 20 Jahren bei Weitem größer ist als die Menge in neu entdeckten Lagerstätten, sind die einzigen Länder, die bisher tatsächlich so etwa
Ähnliches wie einen Plan zum effektiven Umgang mit dem Problem sinkender
Erdölreserven entwickelt haben, Schweden und Island.58
Das bisher Gesagte stellt natürlich keine allumfassende Liste der ungelösten Probleme dar, doch das ist auch nicht beabsichtigt gewesen. Es geht darum,
dass wir anfangen müssen, die bestehenden Probleme zu lösen, denn wenn
wir es nicht tun, stauen sie sich auf und drohen zusammen mit den neuen
Global Aids Epidemic (Genf: Mai 2006).
57 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 10.
58 Colin J. Campbell, „Short Written Submission to the National Petroleum Council“,
E-Mail an Frances Moore, Earth Policy Institute, 14. August 2007, S. 5; „Iceland Launches
Energy Revolution“, BBC News, 24. Dezember 2001; John Vidal, „Sweden Plans to be
World’s First Oil-Free Economy“, The Guardian (London), 8. Februar 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Problemen, die ohnehin ständig dazukommen, uns zu erdrücken. In diesem
Falle besteht das Risiko, dass immer mehr Regierungen unter der Last der aufgestauten Probleme und ihrer Folgen zusammenbrechen, sodass es zu einem
breiten Scheitern von Staaten kommt, das letztlich womöglich zum Untergang
unserer gesamten Zivilisation führt.
Analytisch betracht besteht die Herausforderung darin, die Folgen der zunehmenden Belastung des globalen Systems realistisch einzuschätzen. Am vielleicht deutlichsten zeigt sich diese Belastung in ihren Folgen für die Sicherung
der Nahrungsmittelversorgung, die sich bereits bei früheren, inzwischen untergegangenen Zivilisationen als Schwachpunkt erwiesen hat. Aufgrund mehrerer
Trends, die sich gegenseitig bedingen und verstärken, wird es für Landwirte
überall auf der Welt zunehmend schwieriger, den wachsenden Bedarf an Lebensmitteln zu befriedigen. Die wichtigsten dieser Trends sind das Absinken
der Grundwasserspiegel, die zunehmende Umwandlung von Ackerflächen in
nicht landwirtschaftlich genutzte Flächen und die immer extremeren Klimaerscheinungen, wie starke Hitzewellen, die die Ernten verdorren lassen, lang anhaltende Dürreperioden oder massive Überschwemmungen. Infolge all dieser
Dinge reichte die weltweite Getreideproduktion in 7 der vergangenen 8 Jahre
nicht aus, um den Bedarf zu decken, sodass die weltweiten Getreidereserven
auf den tiefsten Punkt seit 34 Jahren gesunken sind. Zwischen Ende 2005 und
Ende 2007 hat sich der Maispreis fast verdoppelt und der Weizenpreis sogar
fast verdreifacht.59
Gerade als es schien, als könne es nicht mehr schlimmer kommen, entschlossen sich die Vereinigten Staaten, der Brotkorb der Welt, den Anteil seiner
Getreideernte, der in Ethanolkraftstoff umgewandelt wird, von 16 % (2006)
auf bis zu 30 % (2008) zu erhöhen und damit fast zu verdoppeln. Durch diesen starken Anstieg der Getreidemenge, die in den USA in Kraftstoff umgewandelt wird, steigt der Weltmarktpreis für Getreide ebenfalls enorm an und
bewegt sich rapide auf die Höhe des Ölpreises zu. Dieses unüberlegte Vorgehen der USA, die sich damit weniger abhängig vom Erdöl machen wollen, hat
dazu geführt, dass die Weltmarktpreise für Getreide zur Zeit auf dem höchsten
Stand aller Zeiten sind. Dadurch wird wiederum die Nahrungsmittelsicherheit
stark gefährdet, was dazu führen kann, dass die Liste der gescheiterten Staaten
noch länger werden könnte.60
Das Scheitern eines Staates kann sehr schnell vor sich gehen und kommt
oft genug unerwartet. Wenn wir uns das Schicksal früherer Zivilisationen vor
59 USDA, op. cit. Anmerkung 18; Chicago Board of Trade, „Market Commentaries“,
Weizen- bzw. Maispreis aus: www.cbot.com, im September 2007 mehrfach eingesehen; frühere Preise aus: futures.tradingcharts.com, eingesehen am 3. Oktober 2007.
60 Ethanolbedarf für 2008 aus: Renewable Fuels Association, „Ethanol Biorefinery Locations“, unter www.ethanolrfa.org, aktualisiert am 28. September 2007; Getreideernte
2008 aus: Interagency Agricultural Projections Committee, Agricultural Projections to 2016
(Washington, DC: USDA, Februar 2007); Menge an Mais, die 2006 in Ethanol umgewandelt wurde, aus: USDA Economic Research Service, Feed Grains Database unter www.ers.
usda.gov/Data/FeedGrains, aktualisiert am 28. September 2007; Angaben zur Getreideernte von 2006 aus: USDA, op. cit. Anmerkung 18.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Augen führen, so war es oft ein einziger ökologischer Trend, der zu ihrem Untergang führte. Heute sehen sich die Länder dagegen gleichzeitig mit mehreren
solcher Trends konfrontiert, die sich zum Teil gegenseitig verstärken. Frühere
Zivilisationen, wie die Sumerer oder die Maya, waren lokal oft eng begrenzt,
sodass ihr Aufstieg und Fall praktisch isoliert vom Rest der Welt stattfand. Im
Gegensatz dazu umspannt unsere Zivilisation die ganze Welt und wir müssen
weltweit alle Kräfte mobilisieren, um sie zu retten – sonst werden wir alle zu
potentiellen Opfern, wenn sie auseinanderbricht.
PLAN B – EIN PLAN DER HOFFNUNG
Unser Plan B orientiert sich nicht daran, was derzeit politisch machbar erscheint, sondern vielmehr daran, was getan werden muss, um unsere Zivilisation zu retten. Er lässt sich keinem bestimmten Fachgebiet, Sektor oder einer
bestimmten Reihe von Annahmen zuordnen.
Bei der Umsetzung von Plan B müssen wir mehrere Probleme gleichzeitig
in Angriff nehmen, darunter die Ausrottung der Armut weltweit, die Stabilisierung der Bevölkerungszahlen und den Wiederaufbau der natürlichen Systeme
der Erde. Außerdem gehört dazu eine Senkung der CO2-Emissionen um 80 %
bis zum Jahr 2020, was größtenteils durch eine Erhöhung der Energieeffizienz
und eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien erreicht werden soll.
Doch unser Rettungsplan stellt nicht nur in Bezug auf sein Ausmaß, sondern auch auf die Geschwindigkeit, mit derer umgesetzt werden muss, ein
ehrgeiziges Ziel dar. Wir müssen bei der Umstrukturierung der internationalen Energiewirtschaft ein Tempo vorlegen, das dem der Umstrukturierung der
amerikanischen Wirtschaft nach dem Angriff der Japaner 1941 auf Pearl Harbor in Nichts nachsteht. Damals war die Produktion innerhalb weniger Monate von Autos auf Flugzeuge, Panzer und Schusswaffen umgestellt worden,
wobei einer der Schlüssel zum Erfolg dieser schnellen Umstellung in einem
Verbot zum Verkauf von Autos bestand, das übrigens fast drei Jahre lang aufrechterhalten wurde.61
Selbst bei den außergewöhnlich großen Herausforderungen, vor denen wir
stehen, gibt es doch vieles, was uns optimistisch stimmen sollte. Alle Probleme,
mit denen wir uns konfrontiert sehen, können mithilfe bereits existierender
Technologien gelöst werden. Im Grunde ist sogar alles, was wir tun müssen, um
die Weltwirtschaft wieder auf einen ökologisch vertretbaren Weg zu bringen,
bereits in einem oder mehreren Ländern in Angriff genommen worden.
Die Komponenten von Plan B – dem Gegenstück zu „Business as usual“
– sind in den neuen bereits auf dem Markt befindlichen Technologien sichtbar. Im Energiebereich beispielsweise kann eine hochmoderne Windturbine
genauso viel Energie produzieren wie eine Ölquelle. Japanische Ingenieure haben einen vakuum-verschließbaren Kühlschrank entwickelt, der im Vergleich
zu den Kühlschränken, die vor zehn Jahren auf den Markt kamen, nur ein
61 John B. Rae, The American Automobile Industry (Boston: Thwayne Publishers, 1984),
S. 87-97.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Achtel der Energie verbraucht. Und Fahrzeuge mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb sind mit einer Fahrleistung von rund 90 km pro Gallone Benzin doppelt
so effizient wie ein Durchschnittsfahrzeug.62
In mehreren Ländern gibt es bereits Beispiele für die Umsetzung von verschiedenen Komponenten von Plan B. Dänemark erzeugt bereits heute etwa
20 % seiner Elektrizität mithilfe von Wind und plant eine Erhöhung dieses
Anteils auf 50 % bis 2025. Etwa 60 Mio. Europäer beziehen bereits heute die
Energie für ihre Haushalte aus Windkraftwerken. Bis Ende 2007 war geplant,
dass etwa 40 Mio. Haushalte in China ihr Warmwasser mithilfe von auf dem
Dach installierten, solarbetriebenen Heizanlagen erwärmen. In Island werden
bereits fast 90 % der Haushalt mithilfe von geothermaler Energie beheizt, sodass inzwischen praktisch keine Kohle mehr für die Beheizung von Haushalten
benutzt wird.63
Im Lebensmittelbereich hat Indien – mit einem auf Kleinproduzenten
basierenden Molkereiproduktionsmodell, das als Futterquelle praktisch vollständig auf Erntereste setzt – seine Milchproduktion seit 1970 mehr als vervierfacht und damit die Vereinigten Staaten als größten Milchproduzenten
abgelöst. Inzwischen übersteigt der Wert der Molkereiproduktion in Indien
sogar den der Reisernte.64
In China haben Fortschritte in der Fischzucht, deren Herzstück die Nutzung ökologisch gut durchdachter Karpfen-Polykulturen bildet, dazu geführt,
dass China heute das erste Land ist, in dem mehr Fische aus Fischfarmen als
aus dem Meer kommen. Tatsächlich entsprechen die 32 Mio. t Fisch, die 2005
62 James Brooke, „Japan Squeezes to Get the Most of Costly Fuel“, New York Times,
4. Juni 2005; Fahrleistung bei Hybridfahrzeugen basiert auf neueren EPA-Schätzungen,
aus: www.fueleconomy.gov, eingesehen am 23. August 2007; Durchschnittsleistung aus:
Robert M. Heavenrich, Light Duty Automotive Technology and Fuel Economy Trends: 1975
Through 2006 (Washington, DC: EPA Office of Transportation and Air Quality, Juli 2006),
aktualisiert unter Einbeziehung der Daten aus: EPA Office of Transportation and Air Quality, „EPA Issues New Test Method for Fuel Economy Window Stickers“, Mitteilung zu
neuen Regelungen (Washington, DC: EPA, Dezember 2006).
63 Berechnung des Anteils der Windenergie an der insgesamt erzeugten Energie in
Dänemark unter Bezugnahme auf BP, op. cit. Anmerkung 43 sowie Global Wind Energy
Council, Global Wind 2006 Report (Brüssel: 2007), S. 4, Kapazitätsfaktor aus: National
Renewable Energy Laboratory, Power Technologies Energy Data Book (Oak Ridge, TN:
DOE, August 2006); Flemming Hansen, „Denmark to Increase Wind Power to 50% by
2025, Mostly Offshore“, Renewable Energy Access, 5. Dezember 2006; Global Wind Energy
Council, „Global Wind Energy Markets Continue to Boom-2006 Another Record Year“,
Pressemitteilung (Brüssel: 2. Februar 2007), Pro-Kopf-Nutzung von Windenergie in Europa aus: European Wind Energy Association, „Wind Power on Course to Become Major
European Energy Source by the End of the Decade“, Pressemitteilung (Brüssel: 22. November 2004); Berechnung der Nutzung von Wasseraufwärmanlagen in China nach: Renewable
Energy Policy Network for the 21st Century, Renewables Global Status Report, 2006 Update
(Washington, DC: Worldwatch Institute, 2006), S. 21 sowie Bingham Kennedy, Jr., Dissecting China’s 2000 Census (Washington, DC: Population Reference Bureau, Juni 2001);
Iceland National Energy Authority and Ministries of Industry and Commerce, Geothermal
Development and Research in Iceland (Reykjavik, Island: April 2006), S. 16.
64 FAO, FAOSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org, aktualisiert am
30. Juni 2007.
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aus chinesischen Fischfarmen kamen, ungefähr einem Drittel der Menge, die
weltweit aus dem Meer gefangen wurden.65
Auch in den wiederaufgeforsteten Bergen Südkoreas sehen wir, wie die Umsetzung von Plan B aussehen könnte. Südkorea war einst ein karges, fast baumloses Land, doch die 65 % der Landesfläche, die inzwischen wieder von Bäumen bewachsen sind, bieten dem Land einen wirksamen Schutz gegen Überschwemmungen und Bodenerosionen und geben der Landschaft so ein Stück
ihrer Gesundheit und ein gewisses Maß an ökologischer Stabilität wieder.66
Die Vereinigten Staaten, die in den vergangenen 20 Jahren ein Zehntel
ihrer Anbauflächen stillgelegt haben – der größte Teil davon stark von der
Erosion bedrohtes Land – und stattdessen auf bodenschonende Praktiken der
Bestellung umgeschwenkt sind, konnten damit die Bodenerosion um 40 %
senken, während die Landwirte gleichzeitig ihre Getreideernte um mehr als ein
Fünftel steigern konnten.67
Einige der innovativsten Ideen sind auf urbaner Ebene entstanden. In Curitiba, einer brasilianischen Großstadt mit etwa 1 Million Einwohnern, hat man
1974 damit begonnen, den öffentlichen Verkehr umzustrukturieren. Seither
hat sich zwar die Bevölkerungszahl verdreifacht, doch der Autoverkehr ist um
30 % zurückgegangen. In Amsterdam hat man ein sehr vielseitiges städtisches
Transportsystem entwickelt, in dem heute fast 40 % der Wege innerhalb der
Stadt mit Fahrrädern zurückgelegt werden, und auch für Paris gibt es Pläne zur
Neuordnung des städtischen Verkehrs, in denen Fahrräder eine wichtige Rolle
spielen und durch die der Autoverkehr um etwa 40 % gesenkt werden soll. In
London dagegen setzt man zur Erreichung eines ähnlichen Ziels auf eine Maut,
die bei Einfahrt in die Innenstadt von den Autofahrern erhoben wird.68
Doch nicht genug damit, dass uns heute schon zahlreiche neue Technologien
zur Verfügung stehen. Einige dieser Technologien können sogar noch miteinander kombiniert werden und lassen völlig neue Möglichkeiten entstehen. Wenn
man zum Beispiel Fahrzeuge mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb und zweiter
65 FAO, FISHSTAT Plus, elektronische Datenbank unter www.fao.org, aktualisiert im
März 2007.
66 Se-Kyung Chong, „Anmyeon-do Recreation Forest: A Millennium of Management“
in: Patrick B. Durst et al., In Search of Excellence: Exemplary Forest Management in Asia and
the Pacific, Asia-Pacific Forestry Commission (Bangkok: FAO Regional Office for Asia and
the Pacific, 2005), S. 251ff.
67 Daniel Hellerstein, „USDA Land Retirement Programs“, in: USDA, Agricultural
Resources and Environmental Indicators 2006 (Washington, DC: Juli 2006); USDA, Economic Research Service, Agri-Environmental Policy at the Crossroads: Guideposts on a Changing Landscape, Agricultural Economic Report No. 794 (Washington, DC: Januar 2001);
USDA, op. cit. Anmerkung 18.
68 Amsterdam, „Bike Capital of Europe“, auf www.iamsterdam.com/visiting_exploring, eingesehen am 23. August 2007; Molly O’Meara, Reinventing Cities for People and the
Planet, Worldwatch Paper 147 (Washington, DC: Worldwatch Institute, Juni 1999), S. 47;
Bevölkerungszahlen aus: U.N. Population Division, World Urbanization Prospects: The 2005
Revision Population Database, elektronische Datenbank unter esa.un.org/unup, aktualisiert
2006; Serge Schmemann, „I Love Paris on a Bus, a Bike, a Train and in Anything but a Car“,
New York Times, 26. Juli 2007; Randy Kennedy, „The Day The Traffic Disappeared“, New
York Times Magazine, 20. April 2003, S. 42ff.
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Speicherbatterie sowie der Möglichkeit zur Aufladung über das Stromnetz mit
Investitionen in Windparks kombinieren würde, durch die das Netz mit preiswerter Energie gespeist würde, so könnte ein Großteil unserer täglichen Fahrten
mithilfe von Elektrizität bestritten werden, wobei sich ein Kostenäquivalent zu
einer Gallone Benzin zum Preis von 1 $ ergeben würde. So könnte in großen
Teilen der Welt die im eigenen Land erzeugte Windenergie importiertes Erdöl
ersetzen.69
Die eigentliche Herausforderung besteht nun darin, in Blitzgeschwindigkeit eine neue Wirtschaft aufzubauen, bevor wir so viele von der Natur gesetzte Fristen überschreiten, dass sich unser Wirtschaftsystem aufzulösen beginnt.
Diesem einleitenden Kapitel folgen nun fünf weitere, in denen die größten
ökologischen, demographischen und wirtschaftlichen Herausforderungen für
unsere globale Zivilisation beschrieben werden, gefolgt von sieben Kapiteln,
in denen unser Plan B umrissen werden soll. Dies soll einen Überblick geben,
wohin wir wollen und wie wir dorthin gelangen können.
Unsere Zivilisation befindet sich in großen Schwierigkeiten, und das aufgrund von Trends, die wir selbst ausgelöst haben. Die gute Neuigkeit ist, dass
die Bemühungen zur Umkehrung dieser Trends immer mehr zunehmen. Hier
ein Beispiel dafür: Anfang 2007 verkündete die australische Regierung, man
wolle bis 2010 ein Verbot für alle normalen Glühbirnen durchsetzen. Diese
sollten durch hoch effiziente Kompaktleuchtstofflampen ersetzt werden, die
drei Viertel weniger Energie verbrauchen würden. Schon bald darauf folgte Kanada mit einer ähnlichen Initiative und es steht zu erwarten, dass Europa, die
Vereinig­ten Staaten und China bald ebenfalls folgen werden. Möglicherweise
befindet sich die Welt hier an einem Punkt, an dem es möglich ist, durch eine
politische Initiative den weltweiten Stromverbrauch um 12 % zu senken, wodurch 705 Kohlekraftwerke vom Netz genommen werden könnten. Diese Bewegung zum Verbot des Einsatzes herkömmlicher Glühbirnen könnte einer der
ersten wichtigen Schritte im Kampf um die Stabilisierung des Klimas sein.70
Am Aufbau dieser nachhaltigen neuen Wirtschaft teilzuhaben, ist ebenso
aufregend wie die Aussicht auf die höhere Lebensqualität, die damit einhergehen wird. Wir werden reine Luft atmen können, unsere Städte werden weniger
verstopft, weniger laut, weniger verschmutzt und dafür zivilisierter sein. Es
liegt in unserer Hand, eine Welt zu schaffen, in der die Bevölkerungszahlen
sich stabilisiert haben, die Wälder sich wieder ausdehnen und die CO2-Emissionen sinken.
69 CalCars, „All About Plug-In Hybrids“, unter www.calcars.org, eingesehen am 22. August 2007.
70 Tim Johnston, „Australia Is Seeking Nationwide Shift to Energy-Saving Light Bulbs“,
New York Times, 21. Feb. 2007; Rob Gillies, „Canada Announces Greenhouse Gas Targets“,
Associated Press, 25. April 2007; Matthew L. Wald, „A U.S. Alliance to Update the Light
Bulb“, New York Times, 14. März 2007; Ian Johnston, „Two Years to Change EU Light Bulbs“,
Scotsman (GB), 10. März 2007; Deborah Zabarenko, „China to Switch to Energy-Efficient
Lightbulbs“, Reuters, 3. Oktober 2007; Energieeinsparungen basieren auf Berechnungen des
Earth Policy Institute unter Bezug auf: IEA, Light’s Labour’s Lost: Policies for Energy-Efficient
Lighting (Paris: Februar 2006) sowie IEA, World Energy Outlook 2006 (Paris: 2006).
32
I.
UNSERE ZIVILISATION
IN GROSSEN
SCHWIERIGKEITEN
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 2
Der Verlust der Erdöl- und Lebensmittelsicherheit
Das 20. Jahrhundert war ganz eindeutig das Jahrhundert des Erdöls. Im Jahr
1900 lag die weltweite Erdölproduktion bei 150 Mio. Barrel, im Jahr 2000
waren es bereits 28 Mrd., was einem Anstieg um mehr als das 180-Fache entspricht. Es war das Jahrhundert, in dem das Erdöl die Kohle als wichtigste
Energiequelle weltweit ablöste.
Das schnell anwachsende Angebot an billigem Erdöl führte weltweit zu
einem explosionsartigen Anstieg der Lebensmittelproduktion und der Bevölkerungszahlen sowie zu einer verstärkten Urbanisierung und einer erhöhten
Mobilität der Menschen. Im Jahr 1900 lebten nur 13 % der Weltbevölkerung
in Städten, heute sind es etwa 50 %. Die weltweiten Getreideerträge haben
sich im vergangenen Jahrhundert verdreifacht, und kaum jemand hätte sich zu
Beginn des vergangenen Jahrhunderts träumen lassen, mit welcher Geschwindigkeit die Menschen heute mit Bahn, Auto oder Flugzeug große Distanzen
zurücklegen.
Heute bildet Erdöl die Grundlage unserer modernen Zivilisation und wir
sind vollständig abhängig von einem Rohstoff, dessen Produktion schon sehr
bald zurückgehen wird. Seit 1981 war die Menge des geförderten Erdöls stets
höher als die in möglichen neu erschlossenen Lagerstätten. Und die Differenz
wurde und wird stetig größer. Im Jahr 2006 wurden weltweit 31 Mrd. Barrel
Erd­öl gefördert, die Menge des in neu entdeckten Lagerstätten vorhandenen
Erd­öls lag aber bei weniger als 9 Mrd. Barrel. Die weltweiten konventionellen
Erd­ölreserven befinden sich im freien Fall und nehmen mit jedem Jahr weiter
ab.
Die bisher entdeckten konventionellen Erdölreserven liegen bei insgesamt
etwa 2 Billionen Barrel, von denen etwa 1 Billion bereits gefördert wurden,
sodass nur noch etwa 1 Billion Barrel übrig sind. Wenn man allerdings nur die
Zahlen an sich betrachtet, übersieht man einen wichtigen Punkt. Michael Klare schreibt, die ersten 1 Billion Barrel waren leicht zugängliches Öl: „Öl, das
Informationen über die Erdölproduktion aus: International Energy Agency (IEA), Oil
Market Report (Paris: August 2001), enthält Informationen über Erdöl, Flüssigerdgas, Ver­
arbeitungsgewinne; historische Daten aus: U.S. Department of Defense, Twentieth Century Petroleum Statistics (Washington, DC: 1945), zitiert in: Christopher Flavin und Seth
Dunn, „Reinventing the Energy System“, in Lester R. Brown, Christopher Flavin und Hilary French, State of the World 1999 (New York: W. W. Norton & Company, 1999), S. 25;
Bezug zu Kohle aus: Seth Dunn, „Coal Use Continues Rebound“, in Lester R. Brown et al.,
Vital Signs 1998 (New York: W. W. Norton & Company, 1998), S. 52f.
U.N. Population Division, World Urbanization Prospects: The 2005 Revision (New York:
2006), S. 1; U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population Database unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007; Getreideproduktion im Jahr 1900
entspricht Schätzung des Autors basierend auf historischen Trends.
IEA, Oil Market Report (Paris: Oktober 2007); Collin J. Campbell, „Short Written
Submission to the National Petroleum Council“, E-Mail an Frances Moore, Earth Policy
Institute, 14. August 2007.
35
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
an der Küste oder in Küstennähe, dicht unter der Oberfläche oder in großen
Reservoirs konzentriert lagert und dessen Lagerstätten sich an netten, sicheren,
einladenden Orten befinden“. Die andere Hälfte, so Klare, ist schwieriger zu
erreichen, „die Lagerstätten sind weit von der Küste entfernt oder befinden
sich tief unter der Erde, das Öl ist auf kleine, schwer zugängliche Reservoirs
verteilt und die Lagerstätten befinden sich an unfreundlichen, politisch gefährlichen oder insgesamt riskanten Orten“.
Irgendwann in der nicht allzu fernen Zukunft wird die weltweite Erdölproduktion ihren Höhepunkt erreichen und von da an stetig absinken. Wenn
dieser Prozess einsetzt, wird das ein erdbebenartiges Ereignis werden. In der
einzigen Welt, die wir alle kennen, ist die Ölproduktion stets gestiegen. In der
neuen Welt jedoch, in der die Ölproduktion nicht weiter ansteigen kann, kann
ein Land nur dann mehr Erdöl verbrauchen, wenn ein anderes dafür weniger
erhält.
Wir stehen vor einer fundamentalen Veränderung in der Wechselbeziehung
zwischen Erdöl und Lebensmitteln, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet. Zwischen 1950 und 1972 konnte man auf dem Weltmarkt einen Scheffel
Weizen für ein Barrel Öl eintauschen. In dieser Zeit war der Preis sowohl für
Erdöl als auch für Weizen erstaunlich stabil und lag im Durchschnitt bei 2
$ pro Barrel bzw. Scheffel. Seither ist der Preis für Erdöl deutlich gestiegen
und so wären Ende 2007 – ungeachtet des kürzlichen Preisanstiegs bei Weizen
– bereits 8 Scheffel Weizen nötig gewesen, um ein Barrel Öl zu kaufen.
Bereits seit Langem äußern sich Agraranalysten besorgt wegen der Auswirkungen des zukünftigen Anstiegs der Ölpreise auf die Produktionskosten für
Lebensmittel, doch inzwischen ist die Preisdifferenz so groß, dass man in den
Vereinigten Staaten beginnt, Getreide in Autokraftstoffe umzuwandeln, was
bereits ab einem Erdölpreis von etwa 60 $ pro Barrel ein äußerst profitables
Unternehmen ist. Im Jahr 2006 wurden geschätzte 16 % der gesamten Getrei­
de­ernte in den USA in Autokraftstoffe umgewandelt und für die Ernte 2008
könnte der Anteil bereits bei fast 30 % liegen.
Michael T. Klare, „Entering the Tough Oil Era“, TomDispatch.com, 16. August 2007;
Campbell, op. cit. Anmerkung 3.
Historische Daten aus: Internationaler Währungsfond (IMF), International Financial
Statistics, Online-Datenbank unter ifs.apdi.net, aktualisiert im Juli 2007; aktuelle Weizenpreise aus: Chicago Board of Trade, „Market Commentaries“ unter www.cbot.com, im September und Oktober 2007 mehrfach eingesehen.
Gary Schnitkey, Darrel Good und Paul Ellinger, „Crude Oil Price Variability and Its
Impact on Break-Even Corn Prices“, Farm Business Management, 30. Mai 2007; zu Ethanol verarbeitete Getreidemenge für 2006 aus: U.S. Department of Agriculture (USDA),
Economic Research Service (ERS), Feed Grains Database unter www.ers.usda.gov, aktualisiert am 28. September 2007; Getreideerträge für 2006 aus: USDA, Production, Supply and
Distribution, elektronische Datenbank unter www.fas.usda.gov/psdonline, aktualisiert am
12. September 2007; Ethanolbedarf für 2008 aus: Renewable Fuels Association, „Ethanol
Biorefinery Locations“ unter www.ethanolrfa.org, aktualisiert am 28. September 2007; Getreideerträge für 2008 aus: Interagency Agricultural Projections Committee, Agricultural
Projections to 2016 (Washington, DC: USDA, Februar 2007).
36
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die Grenze zwischen Energie- und Lebensmittelwirtschaft wird zunehmend fließender, da die beiden nach und nach immer mehr miteinander verschmelzen. Als Folge dieser Entwicklung ist der Weltmarktpreis für Getreide
derzeit im Steigen begriffen und nähert sich zunehmend dem Erdölpreis an.
Und wenn der Wert eines Rohstoffs bei Umwandlung in einen Kraftstoff seinen Wert als Lebensmittel übersteigt, entscheidet sich der Markt zugunsten
der Energiewirtschaft.
DIE BEVORSTEHENDE ABNAHME DER ÖLRESERVEN
Als der Ölpreis Ende 2004 auf über 50 $ pro Barrel anstieg, begann sich die
Öffentlichkeit verstärkt dafür zu interessieren, ob die Ölreserven der Welt wohl
ausreichen würden – und besonders dafür, wann genau die Produktion ihren Zenit erreichen und dann zurückgehen würde. Es gibt zwar bisher keinen
Konsens, was diese Fragen angeht, doch zahlreiche Experten sind der Ansicht,
der sogenannte „Peak Oil“ stünde kurz bevor.
Die Aussichten für den Erdölbereich können mithilfe verschiedener Ansätze analysiert werden. Bei Prognosen über Erdölproduktion und -preise arbeiten
Ölfirmen, Consultingfirmen und nationale Regierungen sehr häufig mit Computermodellen, deren Ergebnisse je nach Qualität der eingespeisten Daten und
in Abhängigkeit von den Annahmen, auf denen diese Modelle basieren, sehr
stark schwanken können.
Bei einer anderen Herangehensweise – die 1956 erstmals vom legendären
M. King Hubbert, einem Geologen bei Shell Oil und später bei U.S. Geological
Survey, vorgestellt wurde – wird anhand der Beziehung zwischen vorhandenen
Reserven und Produktion versucht, zukünftige Trends in der Produktion zu
prognostizieren. Aus dem Wesen der Erdölproduktion leitete Hubbert ab, dass
die zeitliche Verzögerung zwischen dem Erreichen des Höchststandes bei Neuentdeckungen und dem Höchststand der Produktion vorhersagbar sei. Da die
Entdeckung neuer Reserven in den USA bereits um 1930 ihren Höchststand
erreicht hatte, ging er davon aus, dass die US-Erdölproduktion um 1970 ihren
Höchststand erreichen würde, womit er den Nagel auf den Kopf traf. Da sein
Modell nicht nur auf dieses Beispiel zutraf, sondern, wie sich in jüngerer Zeit
gezeigt hat, auch auf andere Länder, wird es inzwischen von vielen Erdölanalysten benutzt.
In einem dritten Ansatz werden die Erdöl produzierenden Länder der Welt
in drei große Gruppen eingeteilt: jene, in denen die Erdölproduktion bereits
sinkt, jene, in denen sie immer noch ansteigt, und jene, die sich an der Grenze
U.S. Department of Energy (DOE), Energy Information Administration (EIA), „Select
Crude Oil Spot Prices“ unter www.eia.doe.gov/emeu/international/crude1.html, aktuali­siert
am 20. Oktober 2007; John Vidal, „“The End of Oil Is Closer Than You Think“, Guardian
(London), 21. April 2005; Alfred J. Cavallo, „Oil: Caveat Empty“, Bulletin of the Atomic
Scientists, Vol. 61, Nr. 3 (Mai/Juni 2005), S. 16ff.
Vidal, op. cit. Anmerkung 7; M. King Hubbert, „Nuclear Energy and the Fossil Fuels“,
Beitrag zum Frühjahrstreffen der Southern District Division of Production des American
Petroleum Institute, März 1956.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
zum Absinken befinden. Interessant ist hierbei, dass die Erdölproduktion in
etwa einem Dutzend der führenden Erdöl produzierenden Länder ihren Zenit
bereits überschritten zu haben scheint und in lediglich neun Ländern noch ein
deutlicher Anstieg zu verzeichnen ist.
Zu den Ländern, in denen die Produktion ihren Zenit bereits überschritten hat, gehören unter anderem die Vereinigten Staaten, wo die Ölproduktion
ihren Höchststand bereits 1970 bei 9,6 Mio. Barrel pro Tag erreichte und bis
2006 auf 5,1 Mio. Barrel pro Tag gesunken war, was einem Rückgang um
47 % entspricht. Ebenfalls zu dieser Gruppe zählen Venezuela, wo der Zenit
der Ölproduktion ebenfalls bereits 1970 erreicht war, sowie die beiden Erdölproduzenten in der Nordsee, Großbritannien und Norwegen, die ihren Produktionshöchststand jeweils 1999 bzw. 2000 erreichten.10
Unter den Ländern, in denen der Höchststand der Erdölproduktion noch
nicht erreicht ist, dominiert Russland, das 2006 Saudi-Arabien als weltweit
führenden Erdölproduzenten ablöste. Weitere Länder mit einem erheblichen
Potenzial zur weiteren Erhöhung ihrer Erdölproduktion sind Kanada, hauptsächlich wegen seiner Ölsandvorkommen, Kasachstan, das derzeit das große
Kaschagan-Ölfeld im Kaspischen Meer erschließt, sowie Algerien, Angola,
Brasilien, Nigeria, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Libyen, dessen Ölproduktion derzeit bei 1,7 Mio. Barrel pro Tag liegt, plant seine Produktion auf mehr als 3 Mio. Barrel pro Tag zu verdoppeln, womit man dicht an
die Produktionsmenge von 1970 herankäme, als die Produktion bei 3,3 Mio.
Barrel pro Tag lag.11
Die dritte Gruppe besteht aus den Ländern, die sich einem Produktionsrückgang nähern, wie Saudi-Arabien, Mexiko und China. Von allen großen
Erdölproduzenten steht hinter Saudi-Arabien allerdings ein großes Fragezeichen. Saudische Vertreter behaupten zwar, das Land könne noch weitaus mehr
Erdöl produzieren als bisher, doch das Ghawar-Ölfeld, dessen Produktion bisher etwa die Hälfte der gesamten saudischen Erdölproduktion ausmacht, ist
inzwischen seit 50 Jahren in Nutzung und viele Experten gehen davon aus,
dass sein Förderzenit bereits überschritten ist. Nachdem neben älteren saudischen Ölfeldern nun auch dieses Kronjuwel unter den Ölfeldern der Welt
größtenteils leer gepumpt ist, bleibt abzuwarten, ob die Förderung der neuen
Ölfelder ausreichen wird, um mehr als nur die Verluste aus den alten Ölfeldern
auszugleichen. Die Daten für die ersten 8 Monate des Jahres 2007 verheißen
nichts Gutes: Die Fördermenge der saudischen Ölfelder lag hier durchschnitt DOE, EIA, „Table 4.1: World Crude Oil Production, 1970-2006, Selected Countries“
unter www.eia.doe.gov/emeu/international/oilproduction.html, eingesehen am 14. September 2007.
10 Die Produktionszahlen beziehen sich auf Rohöl einschließlich der Kondensate. Quelle: DOE, op. cit. Anmerkung 9; Vidal, op. cit. Anmerkung 7; DOE, EIA, „Petroleum (Oil)
Production“, International Petroleum Monthly unter www.eia.doe.gov/ipm/supply.html, aktualisiert am 12. Juli 2007.
11 DOE, op. cit. Anmerkung 9; Klare, op. cit. Anmerkung 4; Paula Dittrick, „CGES:
OPEC Pushing Limits of Oil Production Capacity“, Oil and Gas Journal, 20. Oktober 2004.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
lich bei 8,37 Mio. Barrel pro Tag und ist damit im Vergleich zu den 8,93 Mio.
Barrel pro Tag im Jahr 2006 um 6 % gesunken. Wenn Saudi-Arabien, wie zu
erwarten ist, nicht in der Lage ist, die derzeitige Fördermenge stark zu erhöhen,
dann steht „Peak Oil“ unmittelbar bevor.12
In Mexiko, das nach Kanada der zweitwichtigste Erdöllieferant der Vereinigten Staaten ist, hat die Erdölproduktion offenbar bereits 2004 bei 3,4 Mio.
Barrel pro Tag ihren Höhepunkt erreicht. Der Geologe Walter Youngquist
merkt dazu an, dass die Produktion des Cantarell-Ölfeldes, des größten des
Landes, immer stärker abnimmt, sodass Mexiko bis 2015 bereits eines der
Länder sein könnte, die Erdöl importieren müssen. Auch China, dessen Produktion etwas höher liegt als die Mexikos, könnte sich bereits kurz vor seinem
Produktionshöhepunkt befinden. Die Frage ist, ob die Fördermengen der Länder, in denen der Produktionshöchststand noch nicht erreicht ist, ausreichen
werden, um die Verluste auszugleichen, die sich aus der sinkenden Produktion
der Länder ergeben, in denen er bereits überschritten wurde.13
Man kann auch versuchen, aus dem Vorgehen der großen Ölfirmen selbst
auf die Aussichten im Erdölbereich zu schließen, denn obwohl der Ölpreis
inzwischen auf mehr als 100 $ pro Barrel gestiegen ist, sind die Bemühungen
zur Erkundung und Entwicklung neuer Ölfelder nicht übermäßig verstärkt
worden. Dies lässt vermuten, dass die Firmen mit den Erdölgeologen einer
Meinung sind, die behaupten, 95 % der weltweit vorhandenen Erdölreserven seien bereits entdeckt. „Inzwischen ist die ganze Welt seismisch abgesucht
und ausgebeutet worden“, so der unabhängige Geologe Colin Campbell. „Der
geologische Kenntnisstand hat sich in den letzten 30 Jahren enorm erweitert
und inzwischen ist es praktisch unvorstellbar, dass es noch große Ölfelder zu
entdecken gibt.“ Daraus ergibt sich als Fazit, dass die Erdölreserven der großen
Ölfirmen jährlich abnehmen.14
Sadad al-Husseini, ehemals Leiter der Abteilung für Erkundung und Produktion bei der staatlichen saudischen Ölgesellschaft Aramco, sagte in einem
Interview, dass neu in Produktion gehende Ölfelder in der Lage sein müssten, sowohl das jährliche Wachstum der weltweiten Nachfrage von mindestens
2 Mio. Barrel pro Tag als auch den jährlichen Produktionsrückgang der bereits
vorhandenen Ölfelder von mehr als 4 Mio. Barrel am Tag abzudecken. „Das
würde bedeuten, man bräuchte alle paar Jahre ein neues Saudi-Arabien. Und
das ist einfach nicht machbar.“15
12 Neil Chatterjee, „’Peak Oil’ Gathering Sees $ 100 Crude This Decade“, Reuters,
26. April 2005; Adam Porter, „Expert Says Saudi Oil May Have Peaked“, Al Jazeera, 20. Februar 2005; James D. Hamilton, „Running Dry?“, The Atlantic, Okt. 2007; IEA, op. cit.
Anmerkung 3.
13 DOE, op. cit. Anmerkung 9; Vidal, op. cit Anmerkung 7; Walter Youngquist, Geologe, Brief an den Autor, 12. September 2007.
14 Michael T. Klare, „The Energy Crunch to Come“, TomDispatch.com, 22. März 2005;
Jad Mouawad, „Big Oil’s Burden of Too Much Cash“, New York Times, 12. Februar 2005;
Mark Williams, „The End of Oil?“, Technology Review, Februar 2005; Vidal, op. cit. Anmerkung 7.
15 Peter Maass, „The Breaking Point“, New York Times Magazine, 21. August 2005.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die geologischen Daten legen den Schluss nahe, dass die weltweite Ölproduktion ihren Höhepunkt eher früher als später erreichen wird. Matt Simmons, ein bekannter Investmentbanker mit Schwerpunkt Erdölsektor, sagt
über die neuen Ölfelder: „Wir haben praktisch keine guten Projekte mehr.
Das ist keine Frage des Geldes [...] wenn diese Erdölfirmen fantastische Projekte hätten, wären sie da draußen [um neue Ölfelder zu erschließen].“ Kenneth Deffeyes, ein hoch angesehener Geologe und ehemaliger Angestellter
in der Erdölindustrie, der jetzt in Princeton lehrt, schreibt in seinem 2005
erschienenen Buch Beyond Oil: „Meiner Meinung nach wird der Zenit Ende
2005 oder in den ersten Monaten des Jahres 2006 erreicht sein.“ Und Walter
Youngquist und A. M. Samsam Bakhtiari von der National Iranian Oil Company gehen jeweils davon aus, dass der Höhepunkt der Erdölproduktion 2007
erreicht sein wird.16
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Deffeyes, Youngquist und Bakhtiari mit
ihren Schätzungen schon sehr dicht an der Wahrheit sind. In Berichten der International Energy Agency (IEA) heißt es, die weltweite Ölproduktion, die 2005
noch bei 84,39 Mio. Barrel pro Tag lag, sei 2006 auf 85,01 Mio. Barrel pro
Tag angestiegen. Für die ersten 9 Monate des Jahres 2007 habe sie aber durchschnittlich nur bei 84,75 Mio. Barrel gelegen und sei somit im Vergleich zu
2006 leicht zurückgegangen. Ob die Produktion in den letzten drei Monaten
des Jahres 2007 noch einmal ausreichend ansteigen wird, um einen höheren
Jahresdurchschnitt als 2006 zu erreichen, bleibt abzuwarten. Doch ganz egal,
ob es nun so ist oder nicht, das Wachstum der Erdölproduktion hat eindeutig
an Schwung verloren, was angesichts des ständig steigenden Erdölbedarfs fast
zwangsläufig dazu führen muss, dass die Erdölpreise in naher Zukunft noch
stärker ansteigen.17
Eine weitere Möglichkeit zur Einschätzung der Aussichten im Erdölbereich
besteht darin, sich ganz einfach anzuschauen, wie lange die großen Ölfelder
schon in Benutzung sind. Von den 20 Ölfeldern mit den größten bisher entdeckten Reserven wurden 18 zwischen 1917 (Bolivar in Venezuela) und 1968
(Shaybah in Saudi-Arabien) entdeckt. Die einzigen beiden neueren Entdeckungen, Cantarell in Mexiko und das Ostbagdad-Ölfeld im Irak, wurden in
den 70er Jahren entdeckt, doch seither hat es keine neuen vergleichbar großen
Entdeckungen gegeben. Selbst Kaschagan, die einzige größere Entdeckung der
letzten Jahre, schafft es nicht unter die Top 20 der Ölfelder. Da so viele der
großen Ölfelder inzwischen schon so lange betrieben werden und ihre Produktion immer mehr abnimmt, wird es zunehmend schwieriger werden, die daraus entstehenden Verluste in der weltweiten Erdölproduktion durch Neuent16 James Picerno, „If We Really Have the Oil“, Bloomberg Wealth Manager, September
2002, S. 45; Klare, op. cit. Anmerkung 14; Kenneth S. Deffeyes, Beyond Oil: The View from
Hubbert’s Peak (New York: Hill and Wang, 2005); Richard C. Duncan und Walter Youngquist, „Encircling the Peak of World Oil Production“, Natural Resource Research, Vol. 12,
Nr. 4 (Dezember 2003), S. 222; A. M. Samsam Bakhtiari, „World Oil Production Capacity
Model Suggests Output Peak by 2006-07“, Oil and Gas Journal, 26. April 2004, S. 18ff.
17 IEA, op. cit. Anmerkung 3; IEA, Oil Market Report (Paris: Mai 2007).
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deckungen und eine Erhöhung der Produktion bestehender Ölfelder mithilfe
neuester Fördermethoden auszugleichen.18
Wenn sich herausstellen sollte, dass das Jahr 2006 das Jahr des sogenannten
„Peak Oil“ war und der Produktionstrend einer glockenförmigen Kurve folgt,
bei der auf- und absteigender Teil mehr oder weniger symmetrisch sind (wie in
der klassischen Hubbert-Kurve), so könnten wir historische Daten aus der jüngeren Vergangenheit heranziehen, um vorhersagen zu können, wie der Trend
sich wahrscheinlich in Zukunft entwickeln wird. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Höhe der Ölproduktion oft von politischen Entscheidungen
und der Höhe der Preise beeinflusst worden, doch es könnte sein, dass jetzt die
Ära der alternden Ölfelder beginnt, in der die Trends in der Erdölproduktion
größtenteils durch geologische Gegebenheiten bestimmt werden.
Auf dieser Grundlage gehen wir für die Vorhersage der Entwicklung der
Erdölproduktion zwischen 2006 und 2020 einfach 14 Jahre zurück bis zum
Jahr 1992. Damals lag die Erdölproduktion bei durchschnittlich 67 Mio. Barrel pro Tag. Bis 2006 stieg die Produktion dann um 18 Mio. Barrel auf 85 Mio.
pro Tag an. Wenn 2006 der Höchststand erreicht war und der Rückgang der
Produktion demselben Verlauf folgt, so müsste die Produktion 2020 wiederum
bei 67 Mio. Barrel pro Tag liegen, was einem Absinken um 21 % entspräche.
Wenn wir weiter annehmen, dass die Weltbevölkerung zwischen 2006 und
2020 stetig um 1,1 % pro Jahr und damit insgesamt bis 2020 um 16 % anwächst, so würde die Menge Öl, die auf jeden Einzelnen entfällt, in nur 14
Jahren um erschreckende 32 % sinken. Die Schätzungen der IEA für die Erdölproduktion im Jahr 2020 stehen in absolutem Gegensatz zu den gerade auf
der Grundlage der Hubbert-Kurve getroffenen Aussagen – statt von 67 Mio.
Barrel pro Tag ist dort die Rede von 106 Mio. Barrel pro Tag.19
Wenn nun aber die Produktion tatsächlich schon 2006 ihren Höhepunkt erreicht hat und die Entwicklung anschließend der Hubbert-Kurve folgt, welche
Optionen haben wir dann? Eine Option besteht darin, an immer entlegeneren
Orten nach Erdöl zu suchen. Ein Teil der geschätzten 5 % des konventionellen
Erdöls, das bisher noch nicht entdeckt wurde, könnte in der Arktis lagern. Da
die Aussicht besteht, dass der Arktische Ozean in wenigen Jahrzehnten eisfrei
sein wird, denken einige der Anrainerstaaten bereits über die Option einer
Suche nach Erdöl in der Region nach. Doch dies würde zahllose geopolitische
Fragen aufwerfen, unter anderem danach, welches Land welchen Teil der Arktis kontrolliert und welche Umweltschutzgesetze Anwendung finden sollten,
wenn tatsächlich irgendwelche Erdöllagerstätten gefunden und anschließend
erschlossen würden.
Neben dem herkömmlichen Erdöl, das leicht an die Oberfläche gepumpt
werden kann, lagern riesige Mengen in Ölsand oder können aus ölhaltigem
18 Fredrik Robelius, Giant Oil Fields – The Highway to Oil (Uppsala, Schweden: Uppsala
University Press, 9. März 2007).
19 IEA, op. cit. Anmerkung 3; IEA, Oil Market Report (Paris: Juli 1993); U.N. Population Division, World Population Prospects, op. cit. Anmerkung 2; IEA, World Energy Outlook
2006 (Paris: 2006), S. 85, 492.
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Schiefer extrahiert werden. Die Ölsandvorkommen von Athabasca in der kanadischen Provinz Alberta werden auf insgesamt 1,8 Billionen Barrel geschätzt,
allerdings gelten lediglich 300 Mio. Barrel davon als förderbar. Venezuela verfügt über große Vorkommen an Schwerstöl, die auf bis zu 1,2 Billionen Barrel
geschätzt werden, doch nur etwa ein Drittel davon kann leicht gefördert werden.20
Der in den Vereinigten Staaten vor allem in Colorado, Wyoming und Utah
vorkommende ölhaltige Schiefer enthält große Mengen an Kerogen, einem
organischen Material, das leicht in Öl und Gas umgewandelt werden kann. In
den späten 70er Jahren starteten die USA eine große Initiative zur Erschließung
von Ölschieferlagerstätten an den westlichen Hängen der Rocky Mountains in
Colorado. Als 1982 dann der Ölpreis stark sank, brach die Ölschieferindustrie
zusammen. Exxon zog sich schnellstmöglich aus seinem 5-Milliarden-DollarProjekt in Colorado zurück, bald folgten auch die restlichen Firmen diesem
Beispiel. Und da der Prozess mehrere Barrel Wasser für jedes gewonnene Barrel
Öl erfordert, könnte auch der Wassermangel der Region ein großes Hindernis
für die Wiederbelebung des Projekts darstellen.21
Das einzige Projekt, das sich derzeit positiv entwickelt, ist die Nutzbarmachung von Ölsand in der kanadischen Provinz Alberta. Diese Initiative, deren
Anfänge in den 80er Jahren liegen, produziert inzwischen 1,4 Mio. Barrel Öl
pro Tag, genug um damit 7 % des derzeitigen Erdölbedarfs der USA abzudecken. Die Gewinnung des Öls aus Ölsand ist jedoch nicht billig und richtet
verheerende Umweltschäden an.22
Die Produktion von Öl aus Ölsand ist sehr karbon-intensiv. Zur Erhitzung
und Extraktion des Öls aus dem Sand werden große Mengen Erdgas benötigt,
dessen Produktion in Nordamerika ihren Zenit ebenfalls überschritten hat.
Richard Heinberg, ein Spezialist auf dem Gebiet des „Peak Oil“, sagt dazu:
„Derzeit müssen wir 2 t Ölsand abbauen, um ein Barrel Erdöl zu erhalten.“
Somit ist die Nettoenergieausbeute sehr gering, wozu sich Walter Youngquist
folgendermaßen äußert: „Um die Kosten für die zur Extraktion des Öls aus
dem Ölsand benötigte Energiemenge sowie die anderen damit im Zusammenhang stehenden Kosten zu decken, ist der Verkaufspreis aus 2 von 3 Barrel des
erhaltenen Erdöls nötig.“23
20 Robert Collier, „Canadian Oil Sands: Vast Reserves Second to Saudi Arabia Will
Keep America Moving, But at a Steep Environmental Cost“, San Francisco Chronicle,
22. Mai 2005; Vidal, op. cit. Anmerkung 7; Walter Youngquist, „Survey of Energy Resources: Oil Shale“, Energy Bulletin, 24. April 2005.
21 Gargi Chakrabarty, „Shale’s New Hope“, Rocky Mountain News, 18. Oktober 2004;
Walter Youngquist, „Alternative Energy Sources“, in: Lee C. Gerhard, Patrick Leahy und Victor Yannacone (Hrsg.), Sustainability of Energy and Water through the 21st Century, Procee­dings
of the Arbor Day Farm Conference, 8-11. Oktober 2000 (Lawrence, KS: Kansas Geological
Survey, 2002), S. 65; Cavallo, op. cit. Anmerkung 7.
22 Collier, op. cit. Anmerkung 20; Alberta Energy and Utilities Board, Alberta Energy
Resource Industries Monthly Statistics unter www.eub.ca, eingesehen am 8. August 2007; BP,
BP Statistical Review of World Energy (London: Juni 2007).
23 „Exxon Says N. America Gas Production Has Peaked“, Reuters, 21. Juni 2005; Collier,
op. cit. Anmerkung 20; Richard Heinberg, „The End of the Oil Age“, Earth Island Journal,
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Obwohl also die in Ölsand und Ölschiefer gebundenen Erdölreserven riesig sind, ist deren Gewinnung doch ein sehr kosten- und zeitintensiver und
außerdem klimaschädigender Prozess, wobei die Erschließung und Nutzung
von Ölsand und -schiefer den Rückgang der weltweiten Erdölproduktion
günstigsten­falls verlangsamen wird.24
Einer der am schwersten zu kalkulierenden Einflüsse auf die Erdölproduktion in den nächsten Jahren ist etwas, das ich gern „Schwundpsychologie“
nenne. Wenn die Ölfirmen und die Erdöl exportierenden Länder erst einmal
merken, dass die Produktion kurz davor steht, ihren Scheitelpunkt zu erreichen, werden sie anfangen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sie ihre noch
verbliebenen Reserven möglichst weit strecken können. Da immer deutlicher
wird, dass bereits eine geringfügige Absenkung der Ölproduktion dazu führen
könnte, dass sich der weltweite Ölpreis mehr als verdoppelt, wird ihnen der
langfristige Wert ihrer Reserven immer stärker bewusst werden.
DIE ERDÖLINTENSITÄT VON LEBENSMITTELN
Auch die moderne Landwirtschaft ist stark von der Nutzung fossiler Brennstoffe abhängig. So werden die Traktoren größtenteils mit Benzin und Dieseltreibstoffen und die Bewässerungspumpen mithilfe von Dieseltreibstoff,
Erdgas oder Elektrizität aus Kohlekraftwerken betrieben. Auch für die Düngerherstellung wird viel Energie benötigt. So braucht man Erdgas, um den
grundlegenden Ammoniak-Baustein in Stickstoffdüngern künstlich herzustellen, und auch die Gewinnung, Verarbeitung und der internationale Transport
von Phosphaten und Pottasche sind vom Erdöl abhängig.25
Jede Erhöhung der Effizienz bei der Nutzung fossiler Brennstoffe trägt
dazu bei, diese Abhängigkeit zu verringern. Im Falle der Vereinigten Staaten ist der Gesamtverbrauch von Benzin und Dieselkraftstoffen in der Landwirtschaft von einem historischen Höchststand von 7,7 Mrd. Gallonen (etwa
29,1 Mrd. Liter) im Jahr 1973 auf 4,2 Mrd. Gallonen im Jahr 2005 gefallen,
das entspricht einem Rückgang um 45 %. Somit ist die Anzahl der Gallonen Benzin, die zur Produktion einer Tonne Getreide benötigt werden, von
33 Gallonen 1973 auf 12 im Jahr 2005 gesunken ist – ein beeindruckender
Rückgang von 64 %.26
Vol. 18, Nr. 3 (Herbst 2003).
24 Youngquist, op. cit. Anmerkung 20; Youngquist, op. cit. Anmerkung 21, S. 64; Vidal,
op. cit. Anmerkung 7; WWF-Canada, „Oil Sands Pushing Canada Further from Kyoto,
WWF and UK Think-Tank Warn“, Pressemitteilung (Toronto: 6. Juni 2007).
25 Danielle Murray, „Oil and Food: A Rising Security Challenge“, Eco-Economy Update
(Washington, DC: Earth Policy Institute, 9. Mai 2005); „Energy Use in Agriculture“, in:
USDA, U.S. Agriculture and Forestry Greenhouse Gas Inventory: 1990–2001, Technical Bulletin No. 1907 (Washington, DC: Global Change Program Office, Office of the Chief
Economist, 2004), S. 94.
26 James Duffield, USDA, E-Mail an Danielle Murray, Earth Policy Institute,
31. März 2005; James Duffield, USDA, E-Mail an Frances Moore, Earth Policy Institute,
17. August 2007; USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
43
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Eine Ursache dieser Entwicklung war sicher, dass man auf zwei Fünfteln
des amerikanischen Ackerlandes zur minimalen Bodenkultivierung bis hin zu
Methoden, bei denen der Boden praktisch gar nicht mehr bearbeitet wurde,
übergegangen ist. Doch während in der amerikanischen Landwirtschaft die
Verwendung von Benzin und Dieselkraftstoffen zurückgegangen ist, steigt er
in vielen Entwicklungsländern nach dem Übergang von Zugtieren zu Traktoren weiter an. Noch vor einer Generation wurden Ackerflächen in China
größtenteils mithilfe von Zugtieren bearbeitet, heute dagegen wird vielfach mit
Traktoren gepflügt.27
20 % des Energieverbrauchs amerikanischer Farmen entfällt auf Düngemittel, weltweit könnte die Zahl etwas höher sein. Mit der zunehmenden Urbanisierung weltweit steigt auch der Düngemittelverbrauch, denn wenn immer
mehr Menschen vom Land in die Stadt ziehen, wird die Menge menschlicher
Abfälle, die als Nährstoffe wieder in den Boden gelangen, immer geringer, sodass zur Aufwertung der Böden mehr Dünger eingesetzt werden muss. Außerdem sind dank des internationalen Handels mit Lebensmitteln Produzenten
und Verbraucher mitunter Tausende Kilometer voneinander entfernt, wodurch
der Nährstoffzyklus weiter unterbrochen wird. So exportieren die Vereinigten
Staaten jährlich etwa 80 Mio. t Getreide – Getreide, das große Mengen grundlegender Pflanzennährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kalium enthält.
Wenn diese Nährstoffe nicht in chemischer Form wieder zugeführt würden,
würden die amerikanischen Ackerflächen durch ihren fortdauernden Export
nach und nach ihre Fruchtbarkeit verlieren.28
Da weltweit die Grundwasserspiegel sinken, verschlingen auch die Bewässe­
rungsanlagen, die ohnehin große Energieverbraucher sind, weltweit immer
mehr Energie. In den USA entfallen fast 19 % des Energieverbrauchs in der
Landwirtschaft auf Wasserpumpen, und in einigen indischen Bundesstaaten,
in denen die Grundwasserspiegel bereits stark abgesunken sind, muss mehr als
die Hälfte der gesamten in der Landwirtschaft verbrauchten Energie darauf verwendet werden, das Wasser an die Oberfläche zu pumpen. Einige Trends, wie
der Übergang zu Methoden minimaler Bodenkultivierung, führen dazu, dass in
der Landwirtschaft weniger Erdöl verbraucht wird, doch der steigende Bedarf
an Düngemitteln, die Ausbreitung der mechanisierten Land­wirtschaft und das
Absinken der Wasserspiegel bewirken genau das Gegen­teil.29
27 Conservation Technology Information Center, „Conservation Tillage and Other Tillage
Types in the United States – 1990-2004“, in: 2004 National Crop Residue Management Survey
(West Lafayette, IN: Purdue University, 2004); Duffield, E-Mail an Murray, op. cit. Anmerkung 26; Einsatz von Traktoren bzw. Zugtieren aus: U.N. Food and Agriculture Organization
(FAO), FAOSTAT Statistics Database, unter apps.fao.org, aktualisiert am 4. April 2005.
28 Daten zum Energieverbrauch im Düngemittelbereich aus: Duffield, E-Mail an Murray,
op. cit. Anmerkung 26; USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
29 DOE, EIA, Annual Energy Outlook 2003 (Washington, DC: 2004); „Table 20: Energy
Expenses for On-Farm Pumping of Irrigation Water by Water Source and Type of Energy:
2003 and 1998“, in: USDA, National Agricultural Statistics Service, 2003 Farm & Ranch
Irrigation Survey, Census of Agriculture (Washington, DC: 2004); Fred Pearce, „Asian Far­
mers Sucking the Continent Dry“, New Scientist.com, 28. August 2004.
44
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Obwohl sich allgemein die Aufmerksamkeit stark auf den Energieverbrauch in der Landwirtschaft konzentriert, macht dieser in den Vereinigten
Staaten nur etwa ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs innerhalb des
Lebensmittelbereiches aus, der Rest entfällt auf Transport, Verarbeitung, Verpackung, Marketing und Zubereitung in der Küche. Tatsächlich verbraucht
die amerikanische Lebensmittelwirtschaft ebenso viel Energie wie die gesamte
britische Wirtschaft zusammengenommen.30
Die 14 % der Energie, die im Lebensmittelsektor für den Transport der
Waren vom Produzenten zum Konsumenten verbraucht werden, entsprechen
etwa zwei Dritteln der Energie, die zur Produktion der Lebensmittel benötigt
wird. Geschätzte 16 % des Energieverbrauchs innerhalb des Lebensmittelsektors entfallen auf die Verarbeitung – also die Konservierung, Frostung und
Trocknung aller Arten von Lebensmitteln, von gefrorenem Orangensaftkonzentrat bis hin zu Dosenerbsen.31
Grundnahrungsmittel wie Weizen sind traditionell per Schiff über große
Distanzen transportiert worden, beispielsweise von den Vereinigten Staaten
nach Europa. Neu dagegen ist der Transport von frischem Obst und Gemüse
über große Strecken per Flugzeug. Es gibt nur wenige wirtschaftliche Aktivitäten, die mehr Energie verbrauchen.32
Die Distanz, die die Lebensmittel vom Produzenten bis hin zum Verbraucher zurücklegen – sogenannte „food miles“ oder Lebensmittelmeilen – ist
dank des billigen Erdöls zunehmend größer geworden. Im Winter kommen
die frischen Weintrauben in meinem Supermarkt mitten in Washington, DC
meist per Flugzeug aus Chile und haben somit schon über 8.000 km zurückgelegt. Einer der häufigsten Langstreckentransporte für Frischwaren ist der aus
Kalifornien an die dicht besiedelte amerikanische Ostküste, wobei der größte
Teil dieser Frischwaren in Kühlwagen transportiert wird. In einer Einschätzung
der Zukunftsaussichten dieser Langstreckentransporte bemerkte ein Analyst,
die Tage der Caesar-Salate, die vor ihrem Verzehr bereits fast 5.000 km weit
transportiert worden sind, könnten schon bald gezählt sein.33
Auch die Verpackung von Lebensmitteln ist überraschend energieintensiv,
auf sie entfallen immerhin 7 % des gesamten Energieverbrauchs im Lebens30 Murray, op. cit. Anmerkung 25; DOE, EIA, „Total Primary Energy Consumption,
All Countries, 1980-2004“, unter www.eia.doe.gov/emeu/international/energyconsumption.html, eingesehen am 2. August 2007.
31 Murray, op. cit. Anmerkung 25; Martin C. Heller und Gregory A. Keoleian, Life-Cycle
Based Sustainability Indicators for Assessment of the U.S. Food System (Ann Arbor, MI: Center
for Sustainable Systems, University of Michigan, 2000), S. 42.
32 U.S. Department of Transportation (DOT), Bureau of Transportation Statistics
(BTS), Freight Shipments in America (Washington, DC: 2004), S. 9f.; Andy Jones, Eating
Oil – Food in a Changing Climate (London: Sustain and Elm Farm Research Centre, 2001),
S. 2 der Zusammenfassung.
33 „Shipment Characteristics by Three-Digit Commodity and Mode of Transportation:
2002“, in: BTS und U.S. Census Bureau, 2002 Commodity Flow Survey (Washington, DC:
Dezember 2004); Jones, op. cit. Anmerkung 32; James Howard Kunstler, Autor von: Geography of Nowhere, in: The End of Suburbia: Oil Depletion and the Collapse of The American
Dream, Dokumentarfilm (Toronto, ON: The Electric Wallpaper Co., 2004).
45
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
mittelsektor. Es kommt nicht selten vor, dass die Energie, die zur Verpackung
der Lebensmittel aufgewendet wird, die im Lebensmittel selbst enthaltene
übersteigt.34
Ein amerikanischer Landwirt erhält von jedem Dollar, den der Verbraucher für ein Lebensmittel zahlt, etwa 20 %, wobei der Anteil bei bestimmten
Lebensmitteln sogar noch niedriger ist. Einer der Analysten in diesem Bereich
dazu: „Wenn man eine leere Müslischachtel an einen Lebensmittelladen liefert,
kostet das ungefähr genauso viel, wie eine volle zu liefern.“35
Das energieintensivste Segment in der Lebensmittelkette ist die Küche. Es
wird weitaus mehr Energie verbraucht, um Lebensmittel kühl zu lagern und
zuzubereiten, als zu ihrer Produktion notwendig war. Der Großverbraucher
in Sachen Energie im Lebensmittelsektor ist nicht der Traktor auf der Farm,
sondern der Kühlschrank in der Küche. Während der Produktionsteil des Lebensmittelsektors vom Einsatz von Öl dominiert wird, dominiert im Bereich
des Verbrauchs von Lebensmitteln der Einsatz von Strom. Deshalb wird das
ölintensive moderne Lebensmittelsystem, das entstand, als das Erdöl noch billig zu haben war, in dieser Form nicht überlebensfähig sein.36
VERÄNDERTE AUSSICHTEN IM LEBENSMITTELBEREICH
Seit 1950 ist die weltweite Getreideernte von 630 Mio. t auf 2 Mrd. t angestiegen und hat sich damit mehr als verdreifacht. Der größte Anstieg erfolgte
zwischen 1950 und 1973, da sich in dieser Zeit die Getreideernte verdoppelte.
In diesen 23 Jahren waren die Landwirte in der Lage, ihre Erträge ebenso stark
zu erhöhen, wie in den 11.000 Jahren von den Anfängen der Landwirtschaft
bis zum Jahr 1950.37
Gegen Mitte des 20. Jahrhundert verschwanden die Grenzen der landwirtschaftlichen Siedlungen zusehends, was einen unerwarteten Wendepunkt in der
Geschichte der Landwirtschaft weltweit bildete. Vorher waren die Zuwächse
bei den Ernten größtenteils darauf zurückzuführen gewesen, dass Landwirte
von Tal zu Tal und von Kontinent zu Kontinent zogen und sich somit die
bebauten Flächen immer mehr ausweiteten. Allerdings wuchsen die Ernten in
34 Heller und Keoleian, op. cit. Anmerkung 31, S. 42; Menge der in Lebensmitteln selbst
enthaltenen sowie der für die Verpackung aufgewendeten Energie berechnet von Danielle
Murray, Earth Policy Institute unter Bezugnahme auf Daten der USDA über Nährwerte
und zu den Energiekosten für Verpackung aus: David Pimentel und Marcia Pimentel, Food,
Energy and Society (Boulder, CO: University Press of Colorado, 1996).
35 Center for American Progress, Resources for Global Growth: Agriculture, Energy and
Trade in the 21st Century (Washington, DC: 2005); USDA, ERS, „Price Spreads from Farm
to Consumer“, unter www.ers.usda.gov/Data, aktualisiert am 22. Juni 2007.
36 Murray, op. cit. Anmerkung 25, S. 1, 3; Duffield, E-Mail an Murray, op. cit. Anmerkung 26; John Miranowski, „Energy Demand and Capacity to Adjust in U.S. Agricultural Production“, Präsentation auf dem Agricultural Outlook Forum 2005, Arlington, VA,
24. Februar 2005, S.11.
37 Daten für 1950-59 aus: Worldwatch Institute, Signposts 2001, CD-Rom (Washington, DC: 2001); Daten für 1960-2006 aus: USDA, Production, Supply and Distribution, op.
cit. Anmerkung 6.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
der Regel so langsam, dass es innerhalb eines einzigen Menschenlebens nicht
wahrnehmbar war. Im Gegensatz dazu sind vier Fünftel des Wachstums seit
1950 auf die Erhöhung der Produktivität des Landes zurückzuführen, wobei
ein Großteil davon vom Erdöl abhängig war.38
Zwischen 1950 und 1990 ist es dank der systematischen Anwendung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse gelungen, die Getreideerträge von weniger als 1,1 t pro Hektar Anbaufläche auf fast 2,5 t zu steigern. Weltweit war die
Ertragsleistung um jährlich 2,1 % gestiegen, seit 1990 sind es allerdings nur
noch etwa 1,2 %, da bis 1990 bereits alle Maßnahmen zu einer schnellen und
leichten Steigerung der Getreideerträge ergriffen worden waren.39
Die Steigerung der Landproduktivität nach 1990 beruhte im Wesentlichen
auf drei Trends: der fast Verdreifachung der bewässerten Flächen weltweit, der
Verzehnfachung der ausgebrachten Düngermenge und der rasanten Ausbreitung ertragreicher Züchtungen, in deren Zentrum in den USA der Hybridmais
und in Asien die höchst ertragreichen Zwergweizen- und Reisarten stehen.40
Während die weltweite Getreideproduktion zunächst kontinuierlich gestiegen war, ist das Wachstum in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen
und nach 1984 sogar unter das Niveau des Bevölkerungswachstums gesunken.
Infolgedessen war 1984 mit 342 kg pro Person der Zenit der Pro-Kopf-Produktion von Getreide erreicht, die bis 2006 auf 302 kg absank. Nun hätte man
erwarten können, dass dieses dramatische Absinken um 12 % zu einer massiven Verstärkung der weltweiten Hungersnöte führen würde, doch dies war
nicht der Fall. Die Zahl der Menschen, die weltweit Hunger leiden mussten,
nahm zwischen 1950 und 1984 stark ab, ein Trend, der sich bis Ende der 90er
Jahre fortsetzen sollte.41
Der Grund dafür, dass das Absinken der Pro-Kopf-Produktion an Getreide
nicht sofort zu einer Erhöhung der Zahl der Hungernden führte, lag in der
enormen Ertragssteigerung bei der weltweiten Sojaernte, die von 68 Mio. t im
Jahr 1984 auf 222 Mio. t im Jahr 2006 angestiegen war. In Futtermitteln für
Vieh, Geflügel und Fische, die früher fast ausschließlich aus Getreide bestanden, wird inzwischen Sojabohnenschrot, der proteinreiche Rest der Sojabohne,
der nach der Extraktion des Öls übrig bleibt, zugesetzt. So konnte ein Teil
des zuvor als Futtermittel verwendeten Getreides eingespart und gleichzeitig
die Effizienz, mit der Getreide in tierisches Eiweiß umgewandelt wird, erhöht
werden. Inzwischen bilden Futtermittel, die etwa vier Fünftel Getreide und ein
Fünftel Sojabohnenschrot enthalten, bei der Fütterung von Vieh, Geflügel und
Fisch den Standard. Auf diese Weise lässt sich denn auch erklären, dass sich
38 Daten für Getreide für 1950-59 aus: Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 37;
für 1960-2006 aus: USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
39 Worldwatch Institute, Signposts 2002, CD-Rom (Washington, DC: 2002); USDA,
Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
40 Lester R. Brown, Outgrowing the Earth (New York: W. W. Norton & Company,
2004), S. 60ff.
41 USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6; U. N. Population
Division, World Population Prospects, op. cit. Anmerkung 2; FAO, FAOSTAT Food Security,
elektronische Datenbank unter www.fao.org/faostat, aktualisiert am 30. Juni 2006.
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die Situation im Ernährungsbereich weltweit stabilisieren konnte, obwohl die
Pro-Kopf-Produktion an Getreide abnahm.42
Die Sojabohne, die ursprünglich vor 5.000 Jahren von Bauern in Zentralchina kultiviert wurde, nimmt inzwischen eine wichtige Position in der
weltweiten Landwirtschaft ein und die Produktion von Soja ist in den letzten
Jahren rasant angestiegen. In Brasilien und Argentinien zog die Produktion
jeweils nach 1980 an und erreichte 2005 in beiden Ländern jeweils bereits das
Niveau der Getreideproduktion – oder lag sogar höher. Und in den USA sind
schon seit 1990 die Flächen, die mit Sojabohnen bepflanzt wurden, größer als
die Weizenanbauflächen.43
Letzten Endes wird für die Aussichten im Bereich der weltweiten Nahrungsmittelversorgung aber entscheidend sein, wie sich die Produktion der drei
wichtigsten Getreidesorten, Weizen, Reis und Mais, entwickelt. In 7 der letzten 8 Jahre war die weltweite Getreideproduktion nicht ausreichend hoch, um
den Bedarf zu decken, sodass die weltweiten Getreidereserven aus den Vorjahren inzwischen auf dem niedrigsten Stand seit 34 Jahren sind. Die Landwirte
überall auf der Welt haben ohnehin schon große Mühe, die Produktion soweit
auszudehnen, dass auch die zusätzlichen 70 Mio., um die die Erdbevölkerung
jedes Jahr anwächst, noch ernährt werden können, und es einigen Ländern mit
geringem Einkommen zu ermöglichen, dass ihre Bevölkerung in Zukunft auch
Nahrungsmittel zu sich nehmen kann, die innerhalb der Nahrungsmittelkette
höher angesiedelt sind.44 Jetzt aber stehen sie durch den in den letzten Jahren
entstandenen und stetig steigenden Bedarf an Getreide zur Umwandlung in
Ethanol für Autokraftstoffe zusätzlich unter Druck.45
Bei ihrem Versuch, diesen Rekordbedarf an Getreide zu decken, stoßen die
Landwirte schnell an ihre Grenzen. Denn obwohl die bewässerten Flächen in
den letzten 50 Jahren ständig zugenommen haben, wird im neuen Jahrhundert in einigen Ländern bereits das zur Bewässerung benötigte Wasser knapp.
Die Brunnen versiegen und das wenige vorhandene Wasser wird in die Städte
umgeleitet. Erstmals in der Geschichte fallen die Ernten in großen Ländern,
42 USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6; Brown, op. cit.
Anmerkung 40, S. 50.
43 USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6; Kelly Day Rubenstein et al., Crop Genetic Resources: An Economic Appraisal (Washington, DC: USDA
Economic Research Service, Mai 2005), S. 19.
44 Anm. d. Übers.: Wenn Menschen Lebensmittel zu sich nehmen, die „innerhalb der
Nahrungsmittelkette höher angesiedelt sind“, so bedeutet das, dass sie, statt größtenteils Obst
oder Gemüse sowie Getreide direkt zu sich zu nehmen (beispielsweise in Form von Reis, Weizen, Mais, etc.), nun dazu übergehen, vermehrt Fleisch zu essen und damit Getreide und andere Pflanzen indirekt zu sich zu nehmen (indem sie das Fleisch von Tieren essen, die zuvor
die Pflanzen oder das Getreide gefressen haben). Wer mehr Lebensmittel aus dem „Produzenten“-Bereich der Nahrungsmittelkette (z. Bsp. Pflanzen) zu sich nimmt, isst Lebensmittel,
die in der Nahrungsmittelkette niedriger angesiedelt sind. Wer mehr Lebensmittel aus dem
„Verbraucher“-Bereich der Nahrungsmittelkette (z. Bsp. Fleisch von Rind oder Geflügel) zu
sich nimmt, isst Lebensmittel, die in der Nahrungsmittelkette höher angesiedelt sind.
45 USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6; U.N. Population
Division, World Population Prospects, op. cit. Anmerkung 2.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
wie China, geringer aus, weil nicht genügend Wasser zur Bewässerung vorhanden ist. Am auffälligsten ist dies bei Weizen, der in den trockeneren Gebieten
Nordchinas angebaut wird. Dort sinken die Grundwasserspiegel zusehends
und einige Brunnen sind inzwischen schon versiegt. Die Weizenproduktion
in China hatte bereits 1997 bei 123 Mio. t ihren Höchststand erreicht und ist
seither kontinuierlich gesunken. Heute sind es kaum mehr 100 Mio. Tonnen
– ein Rückgang um fast 20 %.46
Der entscheidende Faktor für die Aussichten im Lebensmittelbereich ist
der Klimawandel. Ökologen, die sich intensiv mit der Entwicklung der Ernten
beschäftigen, gehen davon aus, dass mit jedem Grad Celsius, um das die Normaltemperatur während der Wachstumszeit der Pflanzen überschritten wird,
die Getreideproduktion um etwa 10 % zurückgeht. Außerdem müssen wir
bei weltweit gestiegenen Temperaturen auch mit immer extremeren Wettererscheinungen, wie massiven Überschwemmungen und lang andauernden Dürren, rechnen.47
Zusätzlich geraten die Landwirte dadurch unter Druck, dass immer mehr
Kulturland nicht landwirtschaftlicher Nutzung zugeführt wird. In vielen Teilen der Welt nimmt dieser Prozess immer mehr Fahrt auf, besonders in Ländern wie den Vereinigten Staaten, in denen die Städte immer mehr ausufern,
oder in solchen, die ohnehin bereits dicht besiedelt sind und in denen die
Industrialisierung rasant voranschreitet, wie dies bei China der Fall ist. Vom
Central Valley in Kalifornien bis zum Jangtsebecken in China werden einige
der fruchtbarsten Flächen der Welt zunehmend von neu gebauten Wohnhäusern, Fabriken, Straßen, Autobahnen und Parkplätzen verschlungen.
AUTOS UND MENSCHEN IM WETTSTREIT UM DIE ERNTEN
Das Programm zur Umwandlung von Kulturpflanzen in Ethanol für Kraftstoffe startete in den Vereinigten Staaten im Jahr 1978. In den meisten der darauffolgenden 25 Jahre waren die Investitionen in den Bau von Destillerien so
gering, dass sie praktisch nicht auffielen. Doch als der Ölpreis 2005 plötzlich
auf über 60 $ pro Barrel und damit der Benzinpreis in den USA auf 3 $ pro
Gallone stieg, wurden Investitionen in Destillerien, in denen Mais in Ethanol
für Autokraftstoffe umgewandelt wurde, plötzlich zu einem höchst profitablen
Geschäftsansatz, sodass ein wahrer Investmentboom in diesem Bereich ein46 USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6; U.N. Population
Division, World Population Prospects, op. cit. Anmerkung 2; Michael Ma, „Northern Cities
Sinking as Water Table Falls“, South China Morning Post, 11. August 2001; Anteil der Weizenernte aus der Nordchinesischen Ebene an der Gesamtgetreideernte Chinas basiert auf:
Hong Yang und Alexander Zehnder, „China’s Regional Water Scarcity and Implications for
Grain Supply and Trade“, Environment and Planning A, Vol. 33 (2001) sowie auf: USDA,
Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
47 Shaobing Peng et al., „Rice Yields Decline with Higher Night Temperature from
Global Warming“, Proceedings of the National Academy of Sciences, 6. Juli 2004, S. 997175; Intergovernmental Panel on Climate Change, Summary for Policymakers in: Climate
Change 2007: Impacts, Adaptation, and Vulnerability (New York: Cambridge University
Press, 2007), S. 15f.
49
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setzte. Plötzlich waren nicht mehr die Subventionen von 51 Cent pro Gallone
Ethanol ausschlaggebend für Investitionen in amerikanische Ethanoldestillerien, sondern hauptsächlich der hohe Ölpreis. Mitte 2007 lagen die Kapazitäten der noch im Bau befindlichen Destillerien bereits geringfügig höher als
die aller seit Beginn des Programms 1978 gebauten Destillerien zusammen.
Oder anders gesagt: Wenn die jetzt im Bau befindlichen Destillerien fertiggestellt sein werden, wird sich die Menge des Getreides, das in Ethanol umgewandelt wird, verdoppeln.48
Schon 2005 lösten die Vereinigten Staaten Brasilien als führenden Produzenten von Ethanol ab. Während in Brasilien meist Zuckerrohr die Grundlage
des Ethanols bildet, ist es in den USA Getreide, meist Mais. Die geschätzten
81 Mio. t Mais, die 2007/2008 in den USA in 8,3 Mrd. Gallonen Ethanol
umgewandelt werden, machen ein Fünftel der Gesamternte der USA an Getreide aus, doch der daraus gewonnene Kraftstoff reicht nicht einmal aus, um
4 % des Gesamtbedarfs an Autokraftstoffen zu decken.49
Brasilien, der weltweit größte Produzent und Exporteur von Zucker, wandelt derzeit schon die Hälfte seiner gesamten Zuckerrohrernte in Kraftstoffethanol um. Da auf diese Weise etwa 10 % der Weltproduktion an Zucker in
die Ethanolproduktion gehen, steigt natürlich der Weltmarktpreis für Zucker
erheblich an, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zeiten, da Zucker eine
preiswerte Ware war, endgültig vorbei sind.50
In Europa liegt der Fokus eher auf der Herstellung von Biodiesel. Im Jahr
2006 wurden in der Europäischen Union 1,2 Mrd. Gallonen Biodiesel aus
Pflanzenöl produziert, der größte Teil davon in Frankreich und Deutschland.
Außerdem wurden in Frankreich, Spanien und Deutschland 417 Mio. Gallonen Ethanol hergestellt, hauptsächlich aus Getreide. Um ihr Ziel zu erreichen,
bis 2020 10 % ihres Bedarfs an Autokraftstoffen über Kraftstoffe auf Pflanzenbasis decken zu können, greift die EU verstärkt auf Palmenöl zurück, das aus
48 F.O. Licht, „Too Much Too Soon? World Ethanol Production to Break Another
Record in 2005“, World Ethanol and Biofuels Report, Vol. 3, Nr. 20 (21. Juni 2005), S.
429-35; DOE, World Crude Oil Prices, and U.S. All Grades All Formulations Retail Gasoline Prices, unter http://tonto.eia.doe.gov/dnav/pet/pet_pri_wco_k_w.htm, eingesehen am
31. Juli 2007; Renewable Fuels Association, op. cit. Anmerkung 6.
49 F.O. Licht, „World Ethanol Production 2007 to Hit New Record“, World Ethanol
and Biofuels Report, Vol. 5, Nr. 17 (8. Mai 2007); Menge an Mais, die im Marketingjahr
2007 (von September 2007 bis August 2008), in Ethanol umgewandelt wurde und wird
aus: USDA, ERS, op. cit. Anmerkung 6; umgewandelte Menge Ethanol Schätzung des
Autors auf Grundlage von Daten aus: Keith Collins, Chefökonom, USDA, Aussage vor
dem U.S. Senate Committee on Environment and Public Works, 6. September 2006, S. 8;
in Ethanol enthaltene Energiemenge im Verhältnis zu Benzin aus: Oak Ridge National Laboratory (ORNL), „Bioenergy Conversion Factors“, unter bioenergy.ornl.gov/papers/misc/
energy_conv.html, eingesehen am 3. August 2007; Benzinverbrauch in den USA für 2007
aus „Table 2: Energy Consumption by Sector and Source“, in: DOE, EIA, Annual Energy
Outlook 2007 (Washington, DC: Februar 2007); USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
50 Sergio Barros, Brazil-Sugar-Annual Report-2006, GAIN Report BR6002 (Washington,
DC: USDA, Foreign Agricultural Service, April 2006); CEPEA, Indicadores de Preços Açúcar Cristal, unter www.cepea.esalq.usp.br/acucar, eingesehen am 31. Juli 2007.
50
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Indonesien oder Malaysia importiert wird. Allerdings führt dies dazu, dass dort
zunehmend Regenwald gerodet wird, um Anbauflächen für Palmen zu schaffen. Die Niederlande planten ursprünglich auch den Import von Palmöl für
die Biodieselproduktion, doch inzwischen zeigt man sich bezüglich der oben
genannten Auswirkungen für den Regenwald besorgt und hat sich entschlossen, den Plan nochmals zu überdenken.51
In Asien sieht die Lage folgendermaßen aus: China verarbeitete 2006 etwa
4 Mio. t Getreide zu Ethanol, der größte Teil davon Mais. In Indien dagegen
bildet, ähnlich wie in Brasilien, hauptsächlich Zuckerrohr die Grundlage für
die Ethanolproduktion. Und Malaysia und Indonesien investieren verstärkt in
Palmenplantagen und neue Biodieselraffinerien.52
Vor ungefähr 10 Jahren überstieg die weltweite Produktion vom Mais – der
heute nicht nur das wichtigste Futtergetreide, sondern auch die wichtigste
Grundlage für die Produktion von Ethanol ist – erstmals die von Weizen. Im
Jahr 2006 lag die Weltproduktion von Mais bei über 700 Mio. t, während es
bei Weizen kaum 600 Mio. t waren und bei Reis sogar nur 420 Mio. t, womit
die Produktion dieser drei wichtigsten Getreidearten 85 % der gesamten Getreideproduktion von 2 Mrd. t weltweit ausmacht.53
Die Maisproduktion in den USA ist enorm, sie macht 40 % der gesamten
Ernte weltweit aus und zwei Drittel der weltweiten Maisexporte. Zur Illustration: Die Maisproduktion in Iowa, dem Bundesstaat, in dem am meisten Mais
produziert wird, ist höher als die Gesamtgetreideproduktion in Kanada.54
Außerdem werden in Iowa die meisten neuen Ethanoldestillerien gebaut.
Robert Wisner, Ökonom von der Iowa State University, schrieb, dass der Maisbedarf der Destillerien in diesem Bundesstaat, die Ende 2006 bereits in Betrieb
waren, sowie derer, die sich zu diesem Zeitpunkt in Planung oder bereits im
Bau befanden, bei insgesamt 2,7 Mrd. Scheffeln lag. Doch selbst in einem sehr
guten Erntejahr liegt die Gesamternte in Iowa nur bei 2,2 Mrd. Scheffeln.
Nachdem die Destillerien zu Mitbewerbern um den Mais werden, der auch zur
Fütterung von Vieh und Geflügel benötigt wird, könnte Iowa schnell zu einem
Bundesstaat mit Mais-Defizit werden – was auch bedeuten würde, dass von
hier kein Mais mehr in den Rest der Welt exportiert werden könnte.55
51 F.O. Licht, op. cit. Anmerkung 48; „Stung by Bad Experience, Dutch Propose Tough
Criteria for Importing Sustainable Biofuels“, International Herald Tribune, 26. April 2007;
„EU Ministers Agree Biofuel Target“, BBC News, 15 Februar 2007.
52 F.O. Licht, op. cit. Anmerkung 48; Menge Mais, die in Ethanol umgewandelt wurde,
Schätzung des Autors basierend auf Angaben aus: Collins, op. cit. Anmerkung 48; F.O. Licht, „E-5 Mandate to be Introduced by May“, World Ethanol and Biofuels Report, Vol. 4, Nr.
15 (7. April 2006), S. 355; Eric Unmacht, „Faced with Soaring Oil Prices, Indonesia Turns
to Biodiesel“, Christian Science Monitor, 5. Juli 2006; Naveen Thukral, „Malaysia Approves
52 Biodiesel Plants So Far“, Reuters, 16. August 2006.
53 USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
54 Ebenda.; USDA, Crop Production 2006 Summary (Washington, DC: 2007).
55 Robert Wisner, E-Mail an Janet Larsen, Earth Policy Institute, 2. Januar 2007, Daten
aktualisiert am 29. Dezember 2006 in Vorbereitung auf das Iowa State University Crop
Advantage Seminar in Cedar Rapids und Burlington, IA, 4.-5. Januar 2007; Daten über
frühere Produktionsmengen bei Mais für Iowa aus: USDA, National Agricultural Statistics
51
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Offensichtlich hat die Entwicklung der Maisernte der USA Auswirkungen
auf die ganze Welt. Besonders Japan, Ägypten und Mexiko, die führenden Importeure von amerikanischem Mais, würden die Folgen selbst einer geringen
Absenkung der Exportmenge deutlich spüren.
Die Tatsache, dass der Teil der amerikanischen Getreideernte, der in die
Ethanolproduktion fließt, immer größer wird, führt dazu, dass weltweit die
Lebensmittelpreise ansteigen. Im September 2007 lag der Preis für Mais im
Vergleich zu zwei Jahren zuvor fast doppelt so hoch. Der Weizenpreis hatte sich
mehr als verdoppelt und damit einen vorläufigen historischen Höchststand
erreicht. Und auch der Preis für Sojabohnen hatte sich um mehr als die Hälfte
erhöht.56
Als erstes bekamen Länder, in denen Mais ein Grundnahrungsmittel ist,
die Steigerung bei den Lebensmittelpreisen zu spüren. Mexiko ist eines von
mehr als 20 Ländern, in dem viele Nahrungsmittel auf Mais basieren und
Anfang 2007 war hier der Tortillapreis um etwa 60 % gestiegen. Die Mexikaner machten ihren Protesten in wütenden Demonstrationen Luft, zu denen
teilweise mehr als 75.000 Menschen kamen, sodass sich die Regierung letztlich
gezwungen sah, die Tortillapreise gewaltsam zu regulieren. Im Sommer 2007
organisierten italienische Verbraucher echte Pasta-Boykotts, um so ihren Protest gegen die rapide gestiegenen Preise für Pasta zum Ausdruck zu bringen,
während die Sorge der Briten den gestiegenen Brotpreisen galt.57
Aus landwirtschaftlicher Sicht ist es einfach unmöglich, den weltweiten Bedarf an Kraftstoffen auf Pflanzenbasis zu befriedigen. Von der Getreidemenge,
die nötig ist, um genug Ethanol zu produzieren, um einen durchschnittlichen
Geländewagen mit einem Tankfassungsvermögen von 25 Gallonen auch nur
ein Mal vollzutanken, könnte man einen Menschen ein ganzes Jahr lang ernähren. Und selbst wenn die gesamte Getreideernte der USA in Ethanol umgewandelt würde, so könnten damit doch höchstens 18 % des amerikanischen
Bedarfs an Autokraftstoffen gedeckt werden.58
Service, „Quick Stats“, Agricultural Statistics Database unter www.nass.usda.gov, eingesehen
am 27. Dezember 2006.
56 Madelene Pearson und Danielle Rossingh, „Wheat Price Rises to Record $9 a Bushel
on Global Crop Concerns“, Bloomberg, 12. September 2007; Angaben zu Weizen, Mais und
Sojabohnen aus: Chicago Board of Trade, op. cit. Anmerkung 5; frühere Preise aus: futures.
tradingcharts.com, eingesehen am 3. Oktober 2007.
57 Ronald Buchanan, „Mexico Protest Prompts Food Price Assurance“, Financial Times,
1. Februar 2007; Carolyn Said, „Nothing Flat about Tortilla Prices: Some in Mexico Cost
60 Percent More, Leading to a Serious Struggle for Low-Income People“, San Francisco
Chronicle, 13. Januar 2007; „Italy Urged to go on Pasta Strike“, BBC News, 13. September 2007; Karen Atwood, „Rising Price of Wheat Signals End of Low-Cost Food, Warns
Premier Chief“, The Independent (London), 5. September 2007.
58 Lester R. Brown, „Distillery Demand for Grain to Fuel Cars Vastly Understated:
World May be Facing Highest Grain Prices in History“, Eco-Economy Update (Washington,
DC: Earth Policy Institute, 4. Januar 2007); Umwandlung von Mais in Ethanol Schätzung
des Autors basierend auf: Collins, op. cit. Anmerkung 48; in Ethanol enthaltene Energiemenge im Vergleich zu Benzin aus: ORNL, op. cit. Anmerkung 48; Benzinverbrauch in den
USA für 2007 aus: DOE, op. cit. Anmerkung 48; USDA, Production, Supply and Distribution, op. cit. Anmerkung 6.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Früher waren Energie- und Lebensmittelwirtschaft voneinander getrennt,
doch angesichts der Tatsache, dass immer mehr Destillerien gebaut werden,
um Getreide in Kraftstoff umzuwandeln, verschmelzen die beiden zusehends.
Diese neue Situation führt auch dazu, dass der Weltmarktpreis für Getreide
sich dem für Erdöl immer mehr annähert. Wenn der Wert des Getreides als
Rohstoff zur Herstellung von Kraftstoff seinen Wert als Nahrungsmittel übersteigt, so wird der Markt ganz einfach dafür sorgen, dass der Rohstoff in die
Energiewirtschaft fließt. Und egal, ob der Ölpreis auf 100 $ oder 120 $ pro
Barrel steigt, der Getreidepreis wird diesem Aufwärtstrend in jedem Fall folgen, denn die beiden Preise sind inzwischen fest miteinander verknüpft. Der
somit entstandene Wettbewerb zwischen den 860 Mio. Autobesitzern weltweit und den 2 Mrd. Menschen, die zu den Ärmsten der Armen gehören,
stellt für die Menschheit absolutes Neuland dar. Die Frage, ob das Getreide
lieber zu Kraftstoff verarbeitet oder zur Ernährung der Menschen verwendet
werden soll, hat sowohl eine politische als auch eine moralische Dimension.
Das Durchschnittseinkommen eines der oben erwähnten Autobesitzer liegt bei
etwa 30.000 $ im Jahr, dass eines jener Ärmsten der Armen bei nicht einmal
3.000 $. Die Antwort des Marktes ist eindeutig: Lasst uns aus dem Getreide
Kraftstoff für unsere Autos herstellen.59
Es besteht ein recht hohes Risiko, dass die steigenden Lebensmittelpreise
den Getreideweltmarkt ins Chaos stürzen und dazu führen werden, dass es in
Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen, die auf Getreideimporte
angewiesen sind, zu Unruhen wegen der Lebensmittelknappheit kommt. Eine
sehr wahrscheinliche Folge sind weitere gescheiterte Staaten, weil die Regierungen ihre Legitimität einbüssen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, ihre
Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Die daraus entstehende politische Instabilität könnte leicht dazu führen, dass der weltweite wirtschaftliche
Fortschritt gestoppt wird. Ab diesem Punkt wären die Auswirkungen der massiven Umlenkung des Getreidestroms auf die Produktion von Autokraftstoffen
nicht mehr allein auf die Lebensmittelpreise beschränkt, sondern würden sich
auf den Nikkei-Index und den Dow Jones ausweiten.
Es gibt zwar keine Alternative zu Lebensmitteln, wenn es um die Ernährung der Menschen geht, doch bei Kraftstoffen für Autos gibt es Alternativen
zu Kraftstoffen auf Nahrungsmittelbasis. So wäre es beispielsweise durch eine
Erhöhung der Standards für die Effizienz von Autokraftstoffen um nur 20 %
leicht und mit weitaus geringerem Einsatz möglich, die 4 %, die der Anteil der
Ethanolkraftstoffe am derzeitigen Gesamtverbrauch ausmacht, zu erreichen
– und sogar um ein Vielfaches mehr.60
59 Ward’s Communications, Ward’s World Motor Vehicle Data 2006 (Southfield, MI:
2006), S. 240; Einkommenskalkulation auf Grundlage der Daten aus: Weltbank, „GNI Per
Capita 2006, Atlas Method and PPP“, World Development Indicators, unter siteresources.
worldbank.org, aktualisiert am 1. Juli 2007 sowie aus: U.N. Population Division, World
Population Prospects, op. cit. Anmerkung 2.
60 Menge des 2007 in Ethanol umgewandelten Mais’ aus: USDA, Feed Grains Database,
op. cit. Anmerkung 6; Umwandlung von Mais in Ethanol Schätzung des Autors basierend
auf: Collins, op. cit. Anmerkung 48; in Ethanol enthaltene Energiemenge im Vergleich zu
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Eine andere Möglichkeit zur Senkung des Bedarfs an Autokraftstoffen sind
die hoch effizienten Benzin-Elektro-Hybridautos mit Auflademöglichkeit einer Speicherbatterie über das Stromnetz. (siehe Kapitel 12). Auf diese Weise könnten Autofahrer kurze Strecken, wie die tägliche Fahrt zur Arbeit, mit
Elektroantrieb zurücklegen. Wenn Länder, in denen gute Bedingungen für die
Nutzung von Windenergie herrschen, wie in den Vereinigten Staaten, China
und den entsprechenden europäische Staaten, dann massiv in den Bau von
Windparks investieren würden, könnten Autos praktisch vollständig mit der
preiswert erzeugten Windenergie, die in Strom umgewandelt würde, fahren
– und die Kosten wären so gering, als könne man eine Gallone Benzin für
weniger als 1 $ kaufen.61
Wie man sieht, ergibt es keinen Sinn, Autokraftstoffe aus Nutzpflanzen
herzustellen, wenn man damit die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt. Doch
es gibt noch eine andere Option: Autokraftstoffe lassen sich auch aus schnell
wachsenden Bäumen, Rutenhirse, einer Mischung verschiedener Präriegräser
und anderen zellulosehaltigen Materialien herstellen, die auf Brachland angebaut werden können. Die nötigen Technologien zur Umwandlung dieser zellulosehaltigen Materialien in Ethanol sind bereits vorhanden, doch die Kosten
für diese Art der Ethanolproduktion sind immer noch doppelt so hoch wie
im Falle der Nutzung von Getreide. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die
Forschung in diesem Bereich auszudehnen.62
Eine weitere Option, die zunehmend Aufmerksamkeit erregt, ist die Nutzung von Brachland für die Purgiernussproduktion. Die Früchte dieses etwa
1,20 m hohen holzigen Strauchs sind ungefähr so groß wie ein Golfball und
nicht essbar, enthalten aber Samen, deren Öl in Biodiesel umgewandelt werden
kann. Abgesehen von der Tatsache, dass die Pflanze äußerst dürreresistent ist,
wenig Pflege braucht und bis zu 50 Jahre alt werden kann, benötigt sie auch
kaum Dünger.63
Die staatliche Eisenbahngesellschaft von Indien hat entlang ihrer Gleislinien 7,5 Mio. Purgiernusssträucher angepflanzt und nutzt das Öl zum Antrieb ihrer Diesel-Lokomotiven. Die indische Regierung hat etwa 11 Mio. ha
Brachland ausgewählt, die für die Anpflanzung von Purgiernusssträuchern genutzt werden können. O. P. Singh, der als Gartenbauexperte für das indische
Eisenbahnministerium tätig ist, war einer der ersten, der von dieser Methode
begeistert war. Er meint, eines Tages würde „jedes Haus über Purgiernusspflanzungen verfügen“.64
Benzin aus: ORNL, op. cit. Anmerkung 48; Benzinverbrauch in den USA für 2007 aus:
DOE, op. cit. Anmerkung 48.
61 California Cars Initiative (CalCars), „All About Plug-In Hybrids (PHEVs)“, unter
www.calcars.org/vehicles.html, eingesehen am 27. Dezember 2006.
62 Patrick Barta, „Jatropha Plant Gains Steam in Global Race for Biofuels“, Wall Street
Journal, 24. August 2007.
63 Ebenda.
64 Ebenda; Ben Macintyre, „Poison Plant Could Help to Cure the Planet“, The Times
(London), 28. Juli 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Der Preis für die Produktion von Diesel aus Purgiernussöl liegt bei 43 $
pro Barrel und ist damit etwa so hoch wie der für Ethanol auf Zuckerrohrbasis,
jedoch weitaus niedriger als der für andere Arten von Biokraftstoffen. Firmen,
die Pflanzenöl verarbeiten, bieten inzwischen indischen Landwirten langfristige Verträge zum Aufkauf ihrer Purgiernussernten zum Festpreis an. Der britische Biodieselproduzent D1 Oils hat in Swasiland, Sambia und Südafrika bereits 150.000 ha mit Purgiernusssträuchern bepflanzen lassen, die holländische
Firma BioKing arbeitet an Pflanzungen im Senegal und auch China erwägt, in
großem Maßstab Purgiernuss anzubauen.65
DIE WELT NACH DEM „PEAK OIL“
Nur wenige Länder planen derzeit eine Reduzierung ihres Ölverbrauchs. Tatsächlich gehen sowohl die Internationale Energiebehörde (IEA) als auch das
amerikanische Energieministerium (DOE) davon aus, dass der weltweite Erdölverbrauch von derzeit etwa 85 Mio. Barrel pro Tag bis 2030 auf 120 Mio.
Barrel pro Tag ansteigen wird. Es fragt sich nur, wie diese Institutionen zu dem
Schluss kamen, die Aussichten seien so „rosig“. Sehr wahrscheinlich haben sie
sich vorrangig auf den Bedarf konzentriert und sind dann davon ausgegangen,
dass dieser Bedarf auch würde befriedigt werden können. Oder, um es einmal mit den Worten von Thomas Wheeler, dem Herausgeber der Alternative
Press Review, zu sagen: Viele Analysten und Inhaber von führenden Positionen
scheinen „gar nicht zu bemerken, dass an der Benzinuhr der Welt ein rotes
Warnlämpchen blinkt“.66
Obwohl der „Peak Oil“ kurz bevor stehen könnte, rechnen viele Länder
für die nächsten Jahrzehnte immer noch damit, dass sie noch weitaus mehr Öl
als bisher werden verbrauchen können. Sie bauen Autowerke, Straßen, Autobahnen, Parkplätze und Vorortsiedlungen, als würden die Quellen des billigen
Erdöls nie versiegen. Tausende neuer Flugzeuge werden ausgeliefert, weil man
davon ausgeht, dass der Personen- und Frachtverkehr in der Luftfahrt unbegrenzt ausgeweitet werden kann. Doch in einer Welt, in der die Erdölproduktion sinkt, kann kein Land zusätzliches Öl verbrauchen, ohne dass ein anderes
weniger erhält.67
Darrin Qualman, der Forschungsdirektor der National Farmer’s Union of
Canada, dazu: „Das Problem ist nicht einfach nur der bevorstehende ‚Peak
Oil’. [...] Es ist vielmehr die Kombination aus ‚Peak Oil’ und einer Welt, in
der [...] ‚niemand mehr das Ruder in der Hand hält’. In unserem System gibt
65 Barta, op. cit. Anmerkung 61; Rebecca Renner, „Green Gold in a Shrub: Entrepreneurs Target the Jatropha Plant as the Next Big Biofuel“, Scientific American, Juni 2007.
66 IEA, op. cit. Anmerkung 3; Schätzungen für 2030 aus: DOE, EIA, International
Energy Outlook 2007 (Washington, DC: Mai 2007), S. 29 sowie aus: IEA, World Energy
Outlook 2006, op. cit. Anmerkung 19, S. 86; Thomas Wheeler, „It’s the End of the World
as We Know It“, Baltimore Chronicle, 3. August 2004.
67 „Table 1–12: U.S. Sales or Deliveries of New Aircraft, Vehicles, Vessels, and Other
Conveyances“, in: BTS, National Transportation Statistics 2005 (Washington, DC: DOT,
2005).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
es niemanden, der dafür zuständig wäre, über die Profite des nächsten Jahres
hinauszuschauen und zu planen oder zu untersuchen, welche Auswirkungen
die Produktion von heute auf das Wetter in zehn Jahren haben könnte, [...]
und in diesem System verbrauchen wir immer mehr Energie, doch niemand
behält die Benzinuhr im Auge.“68
Einige Teile der Weltwirtschaft, darunter die Automobil-, Lebensmittelund die Flugzeugindustrie, werden stärker betroffen sein als andere, ganz
einfach weil sie mehr Erdöl benötigen. In der Autoindustrie ist dies bereits
deutlich sichtbar. General Motors und Ford, die beide auf den Verkauf ihrer
benzinfressenden Geländewagen angewiesen sind, mussten zusehen, wie Investmentanalysten ihre Firmenanleihen abwerteten und sie so zu sogenannten
Schrottanleihen oder Junk Bonds wurden.69
Ein weiteres Produkt des Erdölzeitalters sind die modernen Städte. Von
der Entstehung der ersten Städte vor etwa 6.000 Jahren in Mesopotamien bis
etwa 1900 war die Urbanisierung, bis auf wenige Ausnahmen, ein langsamer,
kaum wahrnehmbarer Prozess. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gab
es nur eine Handvoll Millionenstädte. Heute gibt es mehr als 400 davon und
außerdem 20 Megastädte mit 10 Mio. Einwohnern oder mehr.70
Der Stoffwechsel der Städte hängt von der Konzentration riesiger Mengen
an Lebensmitteln, Wasser und Material sowie der anschließenden Entsorgung
des dadurch entstandenen Mülls und der menschlichen Abfälle ab. Doch dazu
sind große Mengen an Energie notwendig. Durch die begrenzte Reichweite
und Leistungsfähigkeit von Pferdewagen wurde deshalb die Entstehung großer
Städte zunächst sehr erschwert, doch mit der Entdeckung des billigen Erdöls
und der damit verbundenen Möglichkeit des Einsatzes großer Lastwagen änderte sich dies grundlegend.
In Folge der zunehmenden Größe der Städte und der beginnenden Überlastung der nahegelegenen Mülldeponien muss der Müll über immer größere
Strecken zu immer weiter entfernten Müllplätzen transportiert werden, sodass
angesichts der steigenden Ölpreise und der immer größeren Entfernung zwischen Städten und Mülldeponien auch die Kosten für die Müllentsorgung immer weiter ansteigen. Es wird die Zeit kommen, da viele Wegwerfprodukte aus
Kostengründen nicht mehr hergestellt werden.
Der absehbare Rückgang der Ölproduktion wird die Städte hart treffen,
doch die Vororte noch viel härter. Die Menschen, die in den schlecht geplanten Vororten, den Ergebnissen der Zersiedlung, leben, sind oft räumlich
68 Darrin Qualman, „‘Peak Oil’: The Short, Medium, and Long-Term“, Union Farmer
Monthly, Vol. 56, Nr. 4 (August 2005).
69 Oliver Prichard, „SUV Drivers Reconsider“, Philadelphia Inquirer, 1. Juni 2005;
Danny Hakim und Jonathan Fuerbringer, „Fitch Cuts G.M. to Junk, Citing Poor S.U.V.
Sales“, New York Times, 24. Mai 2005; Fitch Corporate Ratings, unter fitchratings.com,
eingesehen am 8. August 2007.
70 U.N. Human Settlements Programme, The State of the World’s Cities 2004/2005 (London: Earthscan, 2004), S. 24f.; U.N. Population Division, Urban Agglomerations 2005,
Schautafel (New York: März 2006).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
so stark von ihren Arbeitsplätzen und von Einkaufsmöglichkeiten isoliert, dass
sie schon ein Auto brauchen, um auch nur einen Laib Brot zu kaufen.
Die Vororte haben eine Art Pendlerkultur entstehen lassen, wobei das tägliche Pendeln in den Vereinigten Staaten im Durchschnitt etwa 1 h in Anspruch nimmt. Während die europäischen Städte größtenteils schon voll ausgebildet waren, als das Auto erfunden wurde, wurden die Städte in den USA,
die als Staat wesentlich jünger sind, stark vom Auto geprägt. Und während die
Geschwindigkeitsbegrenzungen innerhalb von Städten in Europa ziemlich klar
festgelegt sind und die Europäer ihr ertragreiches Ackerland nur widerwillig in
Bauland für Wohnsiedlungen umwandeln lassen, haben die Amerikaner aufgrund ihrer „Grenzmentalität“71 und da Ackerland lange Zeit als überschüssiges Gut angesehen wurde, diesbezüglich kaum Bedenken.72
Dieses unansehnliche, ästhetisch in sich nicht stimmige Auswuchern von
Vororten und Einkaufszentren über den Stadtrand hinaus ist aber nicht nur in
den Vereinigten Staaten zu beobachten, man findet es ebenso in Lateinamerika, Südostasien und zunehmend auch in China. Wenn man von Shanghai
nach Peking fliegt, kann man deutlich erkennen, wie zunehmend Gebäude,
darunter sowohl Wohnhäuser als auch Fabriken, entlang der neuen Straßen
und Autobahnen aus dem Boden schießen. Dieses Bild steht in mehr als deutlichem Gegensatz zu den kompakten Dörfern, die jahrtausendelang das Bild
Chinas in Bezug auf die Nutzung von Land als Wohnfläche prägten.
Auch die Einkaufszentren und großen Discountläden „auf der grünen
Wiese“ wurden durch das künstlich billig gehaltene Öl subventioniert. Doch
durch die hohen Ölpreise könnten die ausufernden Vorortsiedlungen isoliert
werden und sich schon bald als wirtschaftlich und ökologisch nicht tragbar erweisen. Thomas Wheeler dazu: „Wenn sich die weltweite Ölkrise zuspitzt und
der Wert der Häuser in den Vororten ins Bodenlose fällt, wird es letztlich ein
großes Gedrängel geben, weil jeder wieder aus den Vororten raus will.“73
Der Lebensmittelsektor wird gleich auf zwei Arten betroffen sein: Einerseits werden Lebensmittel teurer werden, weil die höheren Ölpreise die Produktions- und Transportkosten in die Höhe treiben werden, und durch die
höheren Ölpreise werden sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen
verändern. Viele werden sich in der Lebensmittelkette nach unten orientieren
und mehr regionale und saisongebundene Lebensmittel konsumieren, sodass
die Ernährungsweise stärker von lokal vorhandenen Lebensmitteln und der
jeweiligen Saison geprägt sein wird.
Auch die Fluglinien, sowohl für den Passagier- als auch für den Frachtverkehr, werden unter den steigenden Preisen für Treibstoff zu leiden haben, da
dieser den größten Ausgabenposten in der Luftfahrt darstellt. In den Progno71 Anm. d. Übers.: Der Begriff bezieht sich auf die Zeit der Kolonialisierung Amerikas,
als die Siedler nach und nach immer weiter nach Westen vordrangen. Der Grundgedanke
hier ist: Wenn in dem erschlossenen Gebiet zu wenig Platz ist und eine Außengrenze erreicht scheint, erschließe neuen Lebensraum.
72 U.S. Census Bureau, „American Spend More Than 100 Hours Commuting to Work
Each Year, Census Bureau Reports“, Pressemitteilung (Washington, DC: 30. März 2005).
73 Wheeler, op. cit. Anmerkung 65.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
sen für diesen Industriezweig wird zwar davon ausgegangen, dass der Passagierflugverkehr in den nächsten 10 Jahren jährlich um etwa 5 % zunimmt, doch
dies erscheint sehr unwahrscheinlich. Billige Flugtickets könnten schon bald
der Vergangenheit angehören.74
Den Luftfrachtsektor könnte es noch härter treffen, es könnte sogar zu
einem absoluten Niedergang kommen. Eines der ersten Opfer der höheren Ölpreise könnte die Nutzung von Jumbojets zum Transport von Frischwaren aus
der südlichen Hemisphäre in die Industrieländer der nördlichen Hemisphäre
wäh­rend des dortigen Winters sein, weil es dazu kommen könnte, dass der Preis
für Frischwaren außerhalb der Saison einfach nicht mehr erschwinglich ist.
Im Zeitalter des billigen Erdöls wurde in den Industrieländern eine riesige
Automobilinfrastruktur aufgebaut, für deren Erhaltung enorme Mengen an
Energie benötigt werden. In den Vereinigten Staaten beispielsweise gibt es etwa
4 Mio. km gepflasterter Straßen, der größte Teil davon asphaltiert, und mehr
als 2 Mio. km nicht gepflasterter Straßen. Und all das muss auch dann instand
gehalten werden, wenn die weltweite Ölproduktion weiter sinkt.75
Die politischen Führungspersönlichkeiten der einzelnen Länder scheinen
nicht gewillt, sich mit dem bevorstehenden Rückgang der Erdölproduktion
auseinanderzusetzen und für diesen Fall im Voraus zu planen, obwohl es sich
dabei um eine der großen Bruchlinien nicht nur der jüngeren Wirtschaftsgeschichte, sondern auch in der Geschichte unserer Zivilisation handelt. Wenn
das Öl erst einmal knapp und damit sehr teuer wird, könnten sich Trends,
die uns heute selbstverständlich scheinen, wie die schnelle Urbanisierung und
die Globalisierung, praktisch über Nacht verlangsamen. In Zukunft könnte es
unter Wirtschaftshistorikern, die über diese Zeit schreiben, üblich sein, dass sie
bei Zeitangaben zwischen „vor dem ‚Peak Oil’“ (v. PO.) und „nach dem ‚Peak
Oil’“ (n. PO.) unterscheiden.
Die Entwicklungsländer wird es doppelt hart treffen, da hier die immer
noch anwachsenden Bevölkerungszahlen in Kombination mit den abnehmenden Erdölreserven dazu führen, dass der Pro-Kopf-Verbrauch von Erdöl
stetig sinkt. Ohne eine schnelle Neuordnung der Energiewirtschaft könnte ein
solcher Abfall schnell zu einem Absinken des Lebensstandards führen, durch
das die Ärmsten der Armen unter die Überlebensgrenze abrutschen könnten.
Wenn die Vereinigten Staaten, die mehr Erdöl verbrauchen, als die nächsten
20 Länder auf der Verbrauchsliste zusammen, ihren Erdölverbrauch drastisch
reduzieren würden, könnten sie der Welt damit ein wenig mehr Zeit für einen
sanfteren Übergang in das Zeitalter nach dem Erdöl erkaufen.76
Im Zusammenhang mit dem Erreichen des Scheitelpunkts in der weltweiten Erdölproduktion drängen sich mehrere Fragen auf, die weitaus schwer74 Micheline Maynard, „Surging Fuel Prices Catch Most Airlines Unprepared, Adding
to the Industry’s Gloom“, New York Times, 26. April 2005; „Revealed: The Real Cost of Air
Travel“, The Independent (London), 29. Mai 2005; DOT und FAA, FAA Aerospace Forecasts
– Fiscal Years 2006-2017 (Washington, DC: 2006), S. 63.
75 „Table 1-4: Public Road and Street Mileage in the United States by Type of Surface“,
in: BTS, National Transportation Statistics 2007 (Washington, DC: DOT, 2007).
76 Gerhard Metschies, „Pain at the Pump“, Foreign Policy, Juli-August 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
wiegender sind, als irgendetwas, mit dem sich die Welt zuvor konfrontiert
sah. Hier zur Illustration ein Auszug aus einem Fragenkatalog, den man noch
endlos fortsetzen könnte: Wird es die Welt überleben, wenn trotz sinkender
Ölproduktion die Bevölkerungszahlen weiter ansteigen? Wie werden die sinkenden Mengen an Erdöl unter den Ländern der Erde aufgeteilt werden? Wird
die Verteilung vom Markt bestimmt werden, durch internationale Abkommen
oder durch Kriege? Kann die Zivilisation selbst die Belastungen überstehen,
die im Zusammenhang mit der sinkenden Ölproduktion entstehen, während
gleichzeitig die Lebensmittelpreise steigen und die durch den Klimawandel
verursachten Probleme zunehmen?
DER ZUSAMMENHANG ZWISCHEN UNSICHERHEITEN IN
DER NAHRUNGSMITTELVERSORGUNG UND
DEM SCHEITERN VON STAATEN
In der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat die Welt ständige
Fortschritte bei der Bekämpfung von Hunger und Armut gemacht, doch mit
dem Übergang in das neue Jahrhundert wendete sich das Blatt. Im Februar
2007 verkündete James Morris, Chef des Welternährungsprogramms der UNO
(WFP), derzeit müssten täglich 18.000 Kinder weltweit an Hunger und damit
verbundenen Krankheiten sterben. Zur Illustration: Die Zahl dieser jungen
Menschen, die an nur einem einzigen Tag ihr Leben lassen müssen, ist etwa
fünfmal höher als die Zahl der US-Soldaten, die in vier Jahren der Kampfhandlungen im Irak ums Leben kamen. Und auch wenn uns diese hohe Zahl
sterbender Kinder als Abstraktion erscheint, sollten wir uns vor Augen führen,
dass sie für 18.000 junge Leben steht, die viel zu früh zu Ende waren.77
Es gibt viele Möglichkeiten zur Bewertung des Ausmaßes von Hunger
weltweit. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) berechnet die Zahl der Hungernden weltweit zum Beispiel auf
der Grundlage der Menge an Nahrungsmitteln, die der Einzelne pro Tag zu
sich nehmen kann. Laut den Daten der FAO gibt der langfristige Trend zwar
Anlass zur Hoffnung, der aktuelle Trend jedoch leider nicht. Nachdem die
Zahl der Menschen in den Entwicklungsländern, die an Hunger oder Unterernährung leiden, zwischen 1970 und 1996 von 960 Mio. auf 800 Mio.
zurückgegangen war, ist sie in letzter Zeit wieder gestiegen und lag im Jahr
2003 bei 830 Mio.78
Laut den Prognosen, die C. Ford Runge und Benjamin Senauer von der
University of Minnesota vor vier Jahren gemacht haben, wird die Zahl der Hungernden und Unterernährten bis 2025 auf 625 Mio. zurückgehen. Als Anfang
77 Edith M. Lederer, „U.N.: Hunger Kills 18,000 Kids Each Day“, Associated Press,
17. Februar 2007; Iraq Coalition Casualty Count, icasualties.org/oif, aktualisiert am
31. Juli 2007.
78 Loganaden Naiken, „Keynote Paper: FAO Methodology for Estimating the Prevalence
of Undernourishment“, unter www.fao.org/docrep/005/y4249e/y4249e06.htm, eingesehen
am 1. August 2007; FAO, op. cit. Anmerkung 41.
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2007 im Rahmen einer Aktualisierung der Prognosen die Auswirkungen der
massiven Umlenkung eines Teils des Getreidestroms in die Ethanoldestillerien
auf die Lebensmittelpreise in die Berechnungen mit einbezogen wurden, stellte
sich heraus, dass die Zahl der Hungernden nicht nur nicht sinken, sondern
sogar ansteigen würde – und im Jahr 2025 bei 1,2 Mrd. läge.79
Eine der Folgen eines starken Anstiegs der Getreidepreise ist ein ebenso
starkes Absinken der Möglichkeiten zur Hilfeleistung im Rahmen von Nahrungsmittelhilfsprogrammen. Da das Budget für diese Hilfsprogramme ein
Jahr, manchmal sogar noch länger, im Voraus festgelegt wird, führt ein Anstieg
der Lebensmittelpreise zu einem Absinken der Menge an tatsächlich bereitgestellten Hilfsgütern. Die USA sind sicher das Land, das die meiste Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung stellt, doch da der Preis für eine Tonne Nahrungsmittel von 363 $ im Jahr 2004 auf 611 $ im Jahr 2007 angestiegen ist, wird die
Menge der Nahrungsmittel, die im Rahmen der US-Hilfsprogramme verteilt
werden können, um etwa 40 % sinken, wenn nicht zusätzliche Finanzmittel für diese Programme bereitgestellt werden. Für die Hauptempfänger der
Nahrungsmittel aus diesen Programmen, wie Äthiopien, Afghanistan oder der
Sudan, wird das ein schwerer Schlag.80
Die FAO und das WFP veröffentlichen jedes Jahr einen gemeinsamen Bericht, in dem die Lage der einzelnen Länder im Hinblick auf Ernteerträge und
Lebensmittelreserven bewertet und eine Liste der Länder erstellt wird, die am
dringendsten auf Hilfe aus Nahrungsmittelprogrammen angewiesen sind. Im
Mai 2007 standen 33 Länder mit einer Gesamtbevölkerungszahl von 763 Mio.
Menschen auf dieser Liste. Von diesen 33 Ländern waren 17 auf Nahrungsmittelhilfe aus dem Ausland angewiesen, weil sie aktuell in einem Bürgerkrieg
oder einem ähnlichen internen Konflikt steckten. Viele dieser Länder, darunter Afghanistan, Burundi, Côte d’Ivoire, die Demokratische Republik Kongo,
Guinea, Pakistan, Somalia, der Sudan oder Simbabwe, gehören auch zu den 20
Ländern, die auf der Liste der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten ganz oben stehen. Fazit: Unsicherheiten bei der Nahrungsmittelversorgung
und politische Instabilität gehen oft Hand in Hand.81
Die Gesellschaften der Länder, die auf der Liste des WFP stehen, befinden
sich in der Regel in einer Zwickmühle aus gesunkenen Sterberaten und weiterhin hohen Fruchtbarkeitsraten. Einer solchen Situation muss Einhalt geboten
werden, da es ansonsten zum endgültigen Scheitern des betroffenen Staates
kommen kann. Außerdem wird die persönliche Sicherheit der Entwicklungshelfer gefährdet, was dazu führt, dass es immer schwieriger wird, den Landwirten vor Ort technische Unterstützung zu garantieren und einen zeitgerechten
79 C. Ford Runge und Benjamin Senauer, „How Biofuels Could Starve the Poor“, Fo­
reign Affairs, Mai/Juni 2007.
80 Missy Ryan, „Commodity Boom Eats into Aid for World’s Hungry“, Reuters, 5. September 2007.
81 FAO, Crop Prospects and Food Situation, Nr. 3, Mai 2007; Fund for Peace und
Carnegie Endowment for International Peace, „The Failed States Index 2007“, Foreign
Policy, Juli/August 2007; U.N. Population Division, World Population Prospects, op. cit.
Anmerkung 2.
60
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Fluss von Saatmaterial und Düngemitteln zu gewährleisten, sodass letztlich oft
die landwirtschaftliche Entwicklung in den betroffenen Staaten unterbrochen
wird.
Wenn ein Staat scheitert und die persönliche Sicherheit der Mitarbeiter der
Hilfsprogramme nicht mehr gewährleistet ist, ist es praktisch unmöglich, diese
Programme aufrechtzuerhalten. Der Chef des WFP, James Morris, sagte im
Zusammenhang mit der Anfang 2007 durchgeführten Hilfsoperation zur Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln in der von Gewalt und Unsicherheit geprägten Region Darfur im Sudan: „Fast täglich wurden unsere Konvois
angegriffen. Ende des vergangenen Jahres wurde einer unserer Fahrer getötet.
Unsere Konvois, die von Libyen über den Tschad ins Land kommen, sind
ständig in Gefahr.“ Doch auch wenn gescheiterte oder im Scheitern begriffene
Staaten am dringendsten auf Hilfsleistungen aus Nahrungsmittelprogrammen
angewiesen sind, ist dies nicht immer gewährleistet. Und manchmal ist es, ungeachtet der Tatsache, dass Menschen hungern, einfach nicht möglich, ihnen
Lebensmittel zu bringen.“82
Die Gewährleistung der ausreichenden Versorgung der Menschen weltweit
mit Lebensmitteln wird auch zukünftig auf vielfältige Weise gefährdet, sei es
durch sinkende Grundwasserspiegel oder steigende Temperaturen. Doch die
wohl unmittelbarste Bedrohung würde die Umlenkung eines noch größeren
Teils der amerikanischen Getreideernten in Fabriken zur Herstellung von Auto­
kraftstoffen darstellen. Nur die US-Regierung ist in der Lage, hier zu intervenieren und diese Umlenkung zu beschränken – und damit den lebensbedrohlichen Anstieg der weltweiten Getreidepreise zu verhindern.
82 Lederer, op. cit. Anmerkung 75.
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Kapitel 3
Steigende Temperaturen und Meeresspiegel
Die Entstehung unserer Zivilisation fiel in eine Zeit, in der das Klima bemerkenswert stabil war, doch diese Ära neigt sich nun langsam ihrem Ende zu. Wir
stehen am Beginn einer neuen Ära, einer Ära der schnellen und oft nicht vorhersagbaren Klimaveränderungen. Die neue Norm im Hinblick auf das Klima
heißt Veränderung.
Im Frühjahr 2007 sagte ich bei einer Vorlesung an der Universität in Kioto,
es habe in den zehn Jahren seit den Verhandlungen zum Kioto-Protokoll eine
deutliche Veränderung gegeben. 1997 sprach man noch im Futur vom Klimawandel, heute tut man es schon im Präsens. Der Klimawandel ist nicht mehr
länger etwas, das vielleicht passieren könnte, es passiert bereits.
Heute wissen wir nicht nur, dass sich die Erde immer mehr erwärmt, wir
sehen auch bereits einige der Folgen dieser Temperaturerhöhung. Fast überall
schmelzen die Berggletscher ab und die Gletscher im Himalaja, aus denen die
Flüsse gespeist werden, die für die Bewässerung der Reisfelder in China und der
Weizenfelder in Indien lebensnotwendig sind, sind dabei, völlig zu verschwinden.
Besonders das Abschmelzen der Eisschilde von Grönland und der Westantarktis erregen die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler. Wenn es uns nicht
ganz schnell gelingt, die Kohlenstoffemissionen so weit zu senken, dass diese
Eisschilde erhalten werden können, wird der Meeresspiegel um etwa 12 m ansteigen. Dies wird dazu führen, dass viele der Küstenstädte der Welt überflutet
werden und die mehr als 600 Mio. Menschen, die bisher an den Küsten leben,
gezwungen sind umzusiedeln.
Die zerstörerischen Folgen der erhöhten Temperaturen sind heute an vielen Stellen bereits sichtbar. So sind in den letzten Jahren die Getreideernten
in wichtigen lebensmittelproduzierenden Regionen wegen starker Hitzewellen,
die die Pflanzen verdorren ließen, deutlich geringer ausgefallen. 2002 haben die
Rekordtemperaturen und die damit einhergehende Dürre dazu geführt, dass die
Getreideernte in Indien, den Vereinigten Staaten und Kanada geringer ausfiel,
wodurch weltweit 90 Mio. t Getreide weniger zur Verfügung standen als gebraucht wurden, das ist ein Anteil von 5 %. Die rekordverdächtige Hitzewelle
in Europa im Jahr 2003 führte abermals zu einem Defizit von 90 Mio. t in der
weltweiten Ernte. Und 2005 trugen die starke Hitze und die Dürre im amerikanischen Corn Belt zu einem Defizit von weltweit 34 Mio. Tonnen bei.
U.N. Environment Programme (UNEP), Global Outlook for Ice and Snow (Nairobi:
2007).
Ebenda.
U.S. Department of Agriculture (USDA), Production, Supply and Distribution, elek­
tronische Datenbank unter www.fas.usda.gov/psdonline, aktualisiert am 11. Juni 2007;
Janet Larsen, „Record Heat Wave in Europe Takes 35,000 Lives“, Eco-Economy Update
(Washington, DC: Earth Policy Institute, 9. Oktober 2003); USDA, National Agricultural
Statistics Service, „Crop Production“, Pressemitteilung (Washington, DC: 12. Aug. 2005).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Derartig starke Hitzewellen fordern auch von den Menschen ihren Tribut.
Im Jahr 2003 kostete die enorme Hitzewelle, die in ganz Europa die Temperaturrekorde brach, mehr als 52.000 Menschen in neun Ländern das Leben.
Allein in Italien starben mehr als 18.000 Menschen und in Frankreich 14.800.
Zum Vergleich: Bei dieser Hitzewelle starben in Europa 18-mal mehr Menschen als bei dem Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon
am 11. September 2001.
Die Versicherungsindustrie ist sich der Beziehung zwischen steigenden
Temperaturen und der Stärke von Stürmen schmerzlich bewusst. Da die Schadensmeldungen im Zusammenhang mit Unwettern stark zugenommen haben,
sind die Erträge in den letzten Jahren gesunken, ebenso wie die Einstufung der
Kreditfähigkeit von Versicherungsunternehmen und Rückversicherern.
In Unternehmen, die als Grundlage für die Berechnung der Versicherungsprämien für zukünftige Sturmschäden historische Daten benutzen, stellt man
zunehmend fest, dass die Vergangenheit inzwischen keine verlässliche Orientierungshilfe für die Zukunft mehr bietet. Doch das ist nicht nur ein Problem
für die Versicherungsindustrie, sondern für jeden von uns. Durch uns verändert sich das Klima weltweit und wir setzen Entwicklungen in Gang, die wir
gar nicht immer begreifen und deren Folgen wir nicht vorhersehen können.
DER ANSTIEG DER TEMPERATUREN UND SEINE FOLGEN
Wissenschaftler am Goddard Institute for Space Studies der National Aeronautics
and Space Administration (NASA) sammeln Daten aus einem globalen Netzwerk von etwa 800 Klimaüberwachungsstationen, um die Veränderungen in
der weltweiten Durchschnittstemperatur zu messen. Die Aufzeichnungen über
direkte Messungen reichen bis zum Jahr 1880 zurück.
Seit 1970 ist die weltweite Durchschnittstemperatur um 0,6 ºC gestiegen.
Auch haben Meteorologen festgestellt, dass die 23 wärmsten Jahre innerhalb
ihrer Aufzeichnungen nach 1980 kamen. Und sieben der letzten neun Jahre
zählten zu den wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen 1880. In vier dieser
sieben Jahre – 2002, 2003, 2005 und 2006 – sind in großen lebensmittelproduzierenden Regionen die Ernten aufgrund rekordverdächtiger Hitze verdorrt.
Janet Larsen, „Setting the Record Straight: More than 52,000 Europeans Died from
Heat in Summer 2003“, Eco-Economy Update (Washington, DC: Earth Policy Institute,
26. Juli 2006); National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States, The
9/11 Commission Report (Washington, DC: U.S. Government Printing Office, 2004).
„Awful Weather We’re Having“, The Economist, 2. Oktober 2004; Richard Milne,
„Hurricanes Cost Munich Re Reinsurance“, Financial Times, 6. November 2004.
J. Hansen, NASA’s Goddard Institute for Space Studies (GISS), „Global Temperature
Anomalies in 0.1 C“, unter data.giss.nasa.gov/gistemp/tabledata/GLB.Ts.txt, aktualisiert
im Juni 2007; angaben über Stationen zur Klimaüberwachung aus: Reto A. Ruedy, GISS,
E-Mail an Janet Larsen, Earth Policy Institute, 14. Mai 2003.
Temperaturveränderungen berechnet auf Grundlagen von Daten aus: Hansen, op. cit.
Anmerkung 6; Angaben zu den Ernten aus: USDA, op. cit. Anmerkung 3; USDA, Grain:
World Markets and Trade (Washington, DC: verschiedene Monate).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Seit der Industriellen Revolution ist die CO2-Konzentration in der Atmosphäre deutlich gestiegen, von 277 ppm auf inzwischen 384 ppm. Der jährliche
Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist eine direkte Folge der
7,5 bzw. 1,5 Mrd. t Kohlenstoff, die durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe bzw. die Entwaldung jährlich in die Atmosphäre gelangen. Und so ist dieser
jährliche Konzentrationsanstieg zu einem der vorhersagbarsten Umwelttrends
geworden. Heute steigt die Konzentration von CO2 pro Jahr etwa viermal stärker an als noch in den 50er Jahren, was hauptsächlich auf die vermehrte Verbrennung fossiler Brennstoffe zurückzuführen ist. Und mit dem Anstieg der
CO2-Konzentration in der Atmosphäre steigen auch die Temperaturen.
Vor dem Hintergrund dieser rekordverdächtigen Anstiege erscheinen die
neuesten Vorhersagen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC),
einer Institution von mehr als 2.500 Wissenschaftlern aus aller Herren Länder,
über einen Anstieg der durchschnittlichen Temperatur um 1,1 bis 6,4 ºC weltweit innerhalb dieses Jahrhunderts durchaus nicht unwahrscheinlich. 2007
legte das IPCC einen Bericht vor, in dem die Wissenschaftler bestätigten, dass
die Menschheit zumindest eine Mitschuld am Klimawandel trifft.
Praktisch gesehen handelt es sich bei dem vom IPCC prognostizierten
Temperaturanstieg um einen weltweiten Durchschnittswert, tatsächlich werden die Anstiege aber sehr unterschiedlich ausfallen. Über Landflächen wird
der Temperaturanstieg weitaus größer sein als über den Ozeanen, in den höheren Breitengraden größer als am Äquator und im Kernland eines Kontinents
größer als in den Küstenregionen.10
Höhere Temperaturen lassen die Ernteerträge sinken, bringen die Schneeund Eisreservoire in den Bergen, durch die die Flüsse gespeist werden, zum
Schmelzen, verursachen heftigere Stürme, führen dazu, dass die von einer Dürre betroffenen Flächen immer größer werden und verursachen häufigere und
weitaus zerstörerischere Flächenbrände.
Im Bericht eines Forschungsteams des National Center for Atmospheric Research, der im Januar 2005 auf der Jahrestagung der American Meteorological
Society in San Diego, Kalifornien, vorgestellt wurde, heißt es, es hätte in den
Kohlendioxid-Daten aus: Pieter Tans, „Trends in Atmospheric Carbon Dioxide–Mauna Loa“, NOAA/ESRL, unter www.cmdl.noaa.gov, eingesehen am 16. Oktober 2007, Angaben zu historischen Schätzungen aus: Seth Dunn, „Carbon Emissions Dip“, in: Worldwatch Institute, Vital Signs 1999 (New York: W. W. Norton & Company, 1999), S. 60f.;
Berechnung der Kohlenstoffemissionen aus fossilen Brennstoffen auf Grundlage von Daten aus: International Energy Agency, World Energy Outlook 2006 (Paris: 2006), S. 493;
Emissionsmenge infolge von Entwaldung aus: Vattenfall, Global Mapping of Greenhouse Gas
Abatement
Opportunities up to 2030: Forestry Sector Deep-Dive (Stockholm: Juni 2007), S. 27.
Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Summary for Policymakers, in:
Climate Change 2007: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the
Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (Cambridge und
New York: Cambridge University Press, 2007), S. 13; IPCC, „Intergovernmental Panel on
Climate Change and Its Assessment Reports“, Datenblatt unter www.ipcc.ch/press, einge­
sehen am 27. Juli 2007.
10 IPCC, Summary for Policymakers, op. cit. Anmerkung 9, S. 15.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
letzten Jahrzehnten einen dramatischen Anstieg der Landfläche, die von Dürren betroffen ist, gegeben. Das Team berichtete, der Anteil der Landoberfläche
der Erde, der als sehr trocken einzustufen ist, sei zwischen 1970 und 2002 von
weniger als 15 % auf etwa 30 % angestiegen. Diesen Anstieg schreibt man
einerseits den steigenden Temperaturen und andererseits den abnehmenden
Niederschlägen zu, wobei die steigenden Temperaturen im letzten Teil dieser
Periode an Bedeutung gewonnen haben. Der Hauptautor des Berichts, Aiguo
Dai, berichtete, die Austrocknung konzentriere sich auf Europa und Asien,
Kanada, den Westen und Süden Afrikas und auf den Osten Australiens.11
Forscher des Forest Service des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums haben Aufzeichnungen über die Temperaturen und die Brände in der
Region aus 85 Jahren analysiert und kamen dabei zu dem Schluss, dass sich die
Fläche der Waldbrände in den elf westlichen Bundesstaaten bei einem Anstieg
der Sommertemperaturen um nur 1,6 ºC bereits verdoppeln könnte.12
Die erhöhten Temperaturen werden sich auf die Ökosysteme überall auf
der Welt auswirken und manchmal in einer Art und Weise, die wir nicht ohne
Weiteres vorhersehen können. In dem Bericht des IPCC aus dem Jahr 2007
stand, wenn die Temperaturen nur um 1 ºC stiegen, könnte das dazu führen,
dass mehr als 30 % aller Arten plötzlich vom Aussterben bedroht wären. Das
Pew Center for Global Climate Change hat eine groß angelegte Studie finanziert,
in der etwa 40 wissenschaftliche Berichte zum Zusammenhang zwischen Temperatur und Veränderung innerhalb der Ökosysteme analysiert wurden. Zu
den vielen in den einzelnen Abhandlungen aufgeführten Veränderungen zählen Berichte über einen um zwei Wochen verfrühten Frühlingsbeginn in den
Vereinigten Staaten, über drei Schwalben, die neun Tage früher nisteten als 40
Jahre zuvor, und eine Verschiebung des Lebensraums des Rotfuchses gen Norden, sodass er inzwischen in den Lebensraum des Polarfuchses eindringt. Und
die Inuit waren sehr überrascht, plötzlich auf die ihnen bis dahin unbekannten
Wanderdrosseln zu stoßen, tatsächlich kennt die Sprache der Inuit noch nicht
einmal ein Wort für „Wanderdrossel“.13
Die National Wildlife Federation (NWF) berichtet, dass bis 2040 einer
von fünf Flüssen in der Region des Pazifischen Nordwestens zu heiß wäre, als
dass Lachse, Stahlkopfforellen und andere Forellen dort überleben könnten,
sollten die Temperaturen weiter ansteigen. Paula Del Guidice, Direktorin des
11 National Center for Atmospheric Research und UCAR Office of Programs, „Drought’s
Growing Reach: NCAR Study Points to Global Warming as Key Factor“, Pressemitteilung
(Boulder, CO: 10. Januar 2005); Aiguo Dai, Kevin E. Trenberth und Taotao Qian, „A
Global Dataset of Palmer Drought Severity Index for 1870–2002: Relationship with Soil
Moisture and Effects of Surface Warming“, Journal of Hydrometeorology, Vol. 5 (Dezember
2004), S. 1117-30.
12 Donald McKenzie et al., „Climatic Change, Wildfire, and Conservation“, Conservation Biology, Vol. 18, Nr. 4 (August 2004), S. 890-902.
13 Camille Parmesan und Hector Galbraith, Observed Impacts of Global Climate Change
in the U.S. (Arlington, VA: Pew Center on Global Climate Change, 2004); DeNeen L.
Brown, „Signs of Thaw in a Desert of Snow“, Washington Post, 28. Mai 2002; IPCC, Summary for Policymakers, op. cit. Anmerkung 9, S. 13.
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Northwest Natural Resource Centers der NWF, sagte: „Durch die globale Erwärmung wird sich der Druck auf das, was vom wichtigsten Lebensraum für
Kaltwasserfische in der Region noch übrig ist, stark erhöhen.“14
Douglas Inkley, einer der führenden wissenschaftlichen Berater der NWF
und Hauptautor eines Berichts für die Wildlife Society, merkt an: „Wenn wir es
nicht verhindern, wird es die Welt der wild lebenden Tiere und Pflanzen, wie
wir sie kennen – und viele der Orte, in die wir Jahrzehnte harter Arbeit investiert haben, um sie als Rückzugsgebiete und als Lebensraum für Wildtiere und
-pflanzen zu erhalten – vielleicht bald schon nicht mehr geben.“15
DIE FOLGEN FÜR DIE ERNTEERTRÄGE
Die Art der Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen, ist von einem klimatischen System geprägt, das sich in den 11.000 Jahren seit Beginn der Geschichte der Landwirtschaft nur wenig verändert hat. Mit der Zeit wurden immer
wieder Nutzpflanzen entwickelt, die auf diese klimatischen Verhältnisse abgestimmt waren und unter diesen Bedingungen maximale Erträge erzielen sollten.
Doch je stärker die Temperaturen ansteigen, desto weniger werden Landwirtschaft und natürliche Umgebung miteinander harmonieren, und das zeigt sich
nirgendwo so deutlich wie in der Wechselbeziehung zwischen Temperaturen
und Ernteerträgen.
In vielen Ländern werden die Pflanzen jetzt schon fast an ihrem thermischen
Optimum angebaut, wodurch sie für Temperaturerhöhungen sehr anfällig
sind. Bereits ein relativ geringer Anstieg von 1 oder 2 ºC in der Vegetationszeit
kann dazu führen, dass die Getreideernte in den wichtigen Lebensmittel produzierenden Regionen, wie der Nordchinesischen Ebene, dem Gangesbecken
in Indien oder dem Corn Belt in den USA, sinken.16
Durch höhere Temperaturen kann die Photosynthese gestört oder sogar
ganz gestoppt werden, die Bestäubung kann verhindert werden und es kann
dazu kommen, dass die Pflanzen vertrocknen. Obwohl die erhöhte Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre, aufgrund derer die Temperaturen
ansteigen, auch dafür sorgen könnte, dass die Erträge steigen, heben die schädlichen Auswirkungen der höheren Temperaturen auf die Erträge den Dünge­
effekt von CO2 für die Hauptnutzpflanzen auf.
14 Patty Glick, Fish Out of Water: A Guide to Global Warming and Pacific Northwest Rivers
(Seattle: National Wildlife Federation, März 2005); Elizabeth Gillespie, „Global Warming
May Be Making Rivers Too Hot: Cold-Water Fish Will Struggle, Report Says“, Seattle PostIntelligencer, 24. März 2005.
15 Douglas B. Inkley et al., Global Climate Change and Wildlife in North America (Bethesda, MD: The Wildlife Society, Dezember 2004); J. R. Pegg, „Global Warming Disrupting
North American Wildlife“, Environment News Service, 16. Dezember 2004.
16 John E. Sheehy, International Rice Research Institute, E-Mail an Janet Larsen, Earth
Policy Institute, 1. Oktober 2002; Pedro Sanchez, „The Climate Change–Soil Fertility–
Food Security Nexus“, Rede auf der Konferenz „Sustainable Food Security for All by 2020“,
Bonn, 4.-6. September 2002; USDA, op. cit. Anmerkung 3.
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In einer Studie zur Zukunftsfähigkeit der lokalen Ökosysteme haben Mohan Wali und seine Kollegen von der Ohio State University festgestellt, dass die
Photosyntheseaktivität der Pflanzen bei höheren Temperaturen solange steigt,
bis die 20 ºC-Marke erreicht ist. Ab diesem Punkt bleibt die Photosyntheseaktivität solange konstant, bis 35 ºC erreicht werden, danach beginnt sie zu
sinken, bis sie bei 40 ºC ganz aufhört.17
Die Befruchtungszeit ist der Teil des Lebenszyklus einer Pflanze, in dem sie
am anfälligsten ist. Von den drei wichtigsten Nahrungsmittelpflanzen – Reis,
Weizen und Mais – ist Mais besonders anfällig. Damit Mais sich fortpflanzen
kann, muss der Pollen von der Narbe auf die seidigen Fasern fallen, die am
Ende jedes Maiskolbens austreten und von denen jeder innerhalb des Kolbens
mit einem Maiskorn verbunden ist. Damit sich das Korn entwickeln kann,
muss ein Pollenkorn auf den seidigen Faden fallen und dann bis zum Kern
wandern. Wenn nun die Temperaturen ungewöhnlich hoch sind, vertrocknen
die Fäden sehr schnell, werden braun und können ihre Aufgabe im Befruchtungsprozess nicht mehr wahrnehmen.
Auf den Philippinen hat man die Auswirkungen erhöhter Temperaturen
auf die Befruchtung von Reis im Detail untersucht. Dortige Wissenschaftler
berichten, die Befruchtungsrate bei Reis fiele von 100 % bei 34ºC auf praktisch null Prozent bei etwa 38ºC, wodurch es dann zu Missernten käme.18
Hohe Temperaturen können außerdem dazu führen, dass die Pflanzen verdorren. Während man möglicherweise ein ganzes Team an Wissenschaftlern
braucht, um die Auswirkungen erhöhter Temperaturen auf die Befruchtung
von Reis zu verstehen, kann jeder Mensch leicht sehen, wenn ein Maisfeld
unter der Hitze leidet. Wenn eine Maispflanze ihre Blätter einrollt, um so der
Sonne weniger Angriffsfläche zu bieten, verringert sich die Photosyntheseaktivität. Wenn sich die Spaltöffnungen auf der Blattunterseite verschließen, um
so den Feuchtigkeitsverlust einzudämmen, wird auch die Aufnahme von CO2
reduziert und somit die Möglichkeit zur Photosynthese eingeschränkt. Und so
verfällt die unter Idealbedingungen so ungeheuer produktive Maispflanze bei
erhöhten Temperaturen in eine Art thermischen Schock.
In den letzten Jahren haben sich in verschiedenen Ländern Ökologen, die
sich auf Nahrungsmittelpflanzen spezialisiert haben, eingehend mit dem genauen Zusammenhang zwischen Temperatur und Ernteertrag beschäftigt. Die
Ergebnisse ihrer Forschungen sind im Zeitalter der steigenden Temperaturen
äußerst beunruhigend. Eine der umfassendsten dieser Studien wurde am International Rice Research Institute (IRRI) auf den Philippinen, der weltweit besten
Forschungseinrichtung für Reis, durchgeführt. Ein Team angesehener Spezialisten auf dem Gebiet der Nahrungsmittelpflanzen wertete die Daten über die
Ernteerträge von Feldstücken aus, die man zu Experimenten mit bewässertem
Reis unter optimalen Bedingungen angelegt hatte, und bestätigte mit seiner
Arbeit eine unter Spezialisten für Nahrungsmittelpflanzen gängige Daumenre17 Mohan K. Wali et al., „Assessing Terrestrial Ecosystem Sustainability“, Nature & Resources, Oktober-Dezember 1999, S. 21-33.
18 Sheehy, op. cit. Anmerkung 16; Sanchez, op. cit. Anmerkung 16.
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gel – dass ein Temperaturanstieg um 1 ºC über der Norm bei Weizen, Reis und
Mais zu einem Absinken der Ernteerträge um etwa 10 % führt, was auch mit
den Ergebnissen anderer, kurz zuvor durchgeführter Forschungsprojekte übereinstimmte. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, es würde „durch die
Temperaturerhöhungen infolge der globalen Erwärmung zunehmend schwerer
werden, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren.“19
Zwei Wissenschaftler in Indien, K. S. Kavi Kumar und Jyoti Parikh, haben die Auswirkungen höherer Temperaturen auf die Weizen- und Reiserträge
berechnet. Ihr Modell basiert auf Daten von zehn Anbauorten und sie kamen
zu dem Schluss, dass in Nordindien ein Anstieg der Durchschnittstemperatur
um 1 ºC die Weizenernte nicht ernsthaft beeinträchtigen würde, doch an fast
allen Anbauorten führte schon ein Anstieg um 2 ºC zu einem Absinken der
Erträge. Sie stellten fest, dass wenn man nur die Veränderungen der Temperaturen betrachtete, ein Anstieg um 2 ºC bei bewässerten Weizenfeldern zu
einem Absinken der Erträge um 37 bis 58% führte. Wenn man die negativen
Auswirkungen der erhöhten Temperaturen gegen die positive Wirkung von
CO2 als Dünger abwägte, ergab sich zwar ein etwas weniger starkes Absinken
der Erträge, doch es lag immer noch bei zwischen 8 und 38%. Für ein Land,
bei dem man davon ausgeht, dass es bis Mitte des Jahrhunderts 500 Mio. mehr
Einwohner haben wird, ist dies eine äußerst beunruhigende Aussicht.20
DIE HIMMLISCHEN WASSERSPEICHER
Die Schnee- und Eismassen in den Bergen sind die Süßwasserreservoire der
Natur – ihre Art, das Wasser aufzubewahren, mit dem während der Trockenzeit im Sommer die Flüsse gespeist werden sollen. Doch diese Reservoire sind
durch den weltweiten Temperaturanstieg nun in Gefahr. In einer Bergregion
kann schon ein Temperaturanstieg um 1 ºC den Anteil der Niederschläge in
Form von Schnee deutlich zurückgehen und den in Form von Regen deutlich
steigen lassen. Dies wiederum erhöht die Gefahr von Überschwemmungen in
der Regenzeit und senkt die Menge an Schnee, die in der Trockenzeit schmelzen kann und so zur Speisung der Flüsse zur Verfügung steht.
Darüber hinaus schmelzen auch die Gletscher, die während der Trockenzeit die Flüsse speisen, zunehmend ab und einige sind bereits vollständig verschwunden. Doch nirgendwo auf der Welt ist das Abschmelzen der Gletscher
so besorgniserregend wie in Asien, wo 1,3 Mrd. Menschen darauf angewiesen
19 Shaobing Peng et al., „Rice Yields Decline with Higher Night Temperature from
Global Warming“, Proceedings of the National Academy of Sciences, 6. Juli 2004, S. 9971ff.;
Proceedings of the National Academy of Sciences, „Warmer Evening Temperatures Lower Rice
Yields“, Pressemitteilung (Washington, DC: 29. Juni 2004).
20 K. S. Kavi Kumar und Jyoti Parikh, „Socio-Economic Impacts of Climate Change
on Indian Agriculture“, International Review for Environmental Strategies, Vol. 2, Nr. 2
(2001), S. 277-93; U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population Database unter esa.un.org/unpp, aktualisiert im Jahr 2007.
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sind, dass die Flüsse, die im Himalaja oder im Tibet-Qinghai-Plateau entspringen, sie mit Wasser versorgen.21
Der Gangotri-Gletscher in Indien, der 70 % zum Wasserhaushalt des
Ganges beiträgt, schmilzt nicht nur einfach ab, er tut es mit beunruhigender,
stetig steigender Geschwindigkeit. Wenn sich diese Schmelze weiter beschleunigt, wird die Lebenserwartung des Gangotri-Gletschers nur noch in Jahrzehnten zu bemessen sein. Der Ganges würde zu einem Saisonfluss werden, der
nur noch während der Regenzeit Wasser führt, was für die Wasserversorgung
der 407 Mio. Inder und Bangladeschis, die im Gangesbecken leben, katastrophale, wenn nicht gar lebensbedrohliche Folgen hätte.22
Für China, das noch stärker als Indien auf das Wasser der Flüsse angewiesen ist, um seine Felder bewässern zu können, wäre die Situation besonders
schwierig. Aus Daten der chinesischen Regierung lässt sich ablesen, dass die
Gletscher des Tibet-Qinghai-Plateaus, die sowohl den Jangtse als auch den
Hwangho speisen, durch Abschmelzen um 7 % pro Jahr zusammenschrumpfen. Im Fall des Hwangho, in dessen Becken 147 Mio. Menschen leben,
könnte es dazu kommen, dass er während der Trockenzeit deutlich weniger
Wasser führt als bisher. Und auch der Jangtse, der weitaus größere der beiden
Flüsse, ist durch das Abschmelzen der Gletscher in Gefahr. Ganz zu schweigen von den 369 Mio. Bewohnern des Jangtsebeckens, die stark von dem Reis
abhängig sind, der auf den Feldern wächst, die mit dem Wasser des Flusses
bewässert werden.23
Yao Tandong, ein führender chinesischer Glaziologe, geht davon aus, dass
bis 2060 zwei Drittel der chinesischen Gletscher verschwunden sein werden.
Er sagt: „Ein großflächiges Abschmelzen der Gletscher der Region könnte
letztlich zu einer ökologischen Katastrophe führen.“24
Auch andere Flüsse Asiens entspringen im Himalaja, dem sogenannten
„Dach der Welt“, so beispielsweise der Indus, in dessen Becken 178 Mio.
Menschen in Indien und Pakistan leben, der Brahmaputra, der unter anderem
durch Bangladesch fließt, und der Mekong, der Kambodscha, Laos, Thailand
und Vietnam mit Wasser versorgt.25
Die bisher noch schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo in Tansania
könnten ebenfalls bald schnee- und eisfrei sein. Die Studie des Glaziologen
Lonnie Thompson von der Ohio State University zum Kilimandscharo zeigt,
21 UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 131.
22 Emily Wax, „A Sacred River Endangered by Global Warming“, Washington Post,
17. Juni 2007; UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 131.
23 Clifford Coonan, „China’s Water Supply Could be Cut Off as Tibet’s Glaciers Melt“,
The Independent (London), 31. Mai 2007; UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 131; Angaben
zur Reisbewässerung aus: „Yangtze River–Agriculture“, Encyclopedia Britannica, Online-Enzyklopädie, eingesehen am 25. Juli 2007.
24 Jonathan Watts, „Highest Icefields Will Not Last 100 Years, Study Finds: China’s
Glacier Research Warns of Deserts and Floods Due to Warming“, Guardian (London),
24. September 2004; „Glacier Study Reveals Chilling Prediction“, China Daily, 23. September 2004.
25 UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 131.
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dass der höchste Berg Afrikas zwischen 1989 und 2000 33 % seiner Eisflächen
eingebüßt hat. Thompson geht davon aus, dass die Schneespitze des Kilimandscharo bis 2015 völlig verschwunden sein wird. Der nahe gelegene Mount
Kenia hat bereits 7 seiner 18 Gletscher eingebüßt. Die Flüsse, die aus diesen
Gletschern gespeist werden, verkommen zu Saisonflüssen, sodass es unter den
2 Mio. Menschen, die darauf angewiesen sind, dass diese Flüsse sie während
der Trockenzeit mit Wasser versorgen, zu massiven Konflikten kommt.26
Bernard Francou, Forschungsdirektor des Institut de recherche pour le développement (Institut für Forschung und Entwicklung) der französischen Regierung, glaubt, dass 80 % der südamerikanischen Gletscher in den nächsten 15
Jahren verschwunden sein werden. Das sind keine guten Neuigkeiten für Länder wie Bolivien, Peru und Ecuador, die zur Deckung ihres Wasserbedarfs für
die Haushalte und zur Bewässerung auf die Gletscher angewiesen sind.27
In Peru, das sich über etwa 1.600 km entlang der riesigen Gebirgskette der
Anden erstreckt, befinden sich 70 % der tropischen Gletscher. Inzwischen sind
etwa 22 % der dortigen Gletscher, aus denen sich die zahlreichen Flüsse des
Landes speisen, die wiederum die Städte in der semi-ariden Küstenregion mit
Wasser versorgen, verschwunden, womit sich die Lage für Peru zunehmend
zuspitzt. Lonnie Thompson berichtet, dass sich der Quelccaya-Gletscher im
Süden Perus, der sich in den 60er Jahren um nur etwa 6 m pro Jahr zurückgezogen hatte, nun jährlich um 60 m zurückzieht.28
Viele der Bauern in Peru bewässern ihre Weizen- und Kartoffelpflanzungen
mit dem Wasser der Flüsse, die aus den schwindenden Gletschern gespeist
werden. In der Trockenzeit sind diese Bauern vollständig auf eine Bewässerung ihrer Anpflanzungen angewiesen, sodass für die 28 Mio. Menschen in
Peru eine sinkende Wasserversorgung gleichbedeutend ist mit einer sinkenden
Menge an Lebensmitteln.29
Lima, eine Stadt mit etwa 7 Mio. Einwohnern, bezieht den Großteil ihres
Wassers aus drei Flüssen, die hoch in den Anden entspringen und zumindest
teilweise durch das Schmelzwasser der Andengletscher gespeist werden. Solange die Gletscher schmelzen, führen diese Flüsse mehr Wasser als normal, doch
wenn die Gletscher erst einmal verschwunden sind, wird die von den Flüssen
geführte Wassermenge stark absinken, sodass es in Lima zu einer massiven
Wasserverknappung kommen wird.30
26 Lonnie G. Thompson, „Disappearing Glaciers Evidence of a Rapidly Changing
Earth“, Jahrestreffen der American Association for the Advancement of Science, San Francisco, Februar 2001; „The Peak of Mt Kilimanjaro As It Has Not Been Seen for 11,000
Years“, Guardian (London), 14. März 2005; Bancy Wangui, „Crisis Looms as Rivers Around
Mt. Kenya Dry Up“, East Africa Standard, 1. Juli 2007.
27 Eric Hansen, „Hot Peaks“, OnEarth, Herbst 2002, S. 8.
28 Leslie Josephus, „Global Warming Threatens Double-Trouble for Peru: Shrinking
Glaciers and a Water Shortage“, Associated Press, 12. Februar 2007; Citation World Atlas
(Union, NJ: Hammond World Atlas Corporation, 2004).
29 Josephus, op. cit. Anmerkung 28; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 20.
30 James Painter, „Peru’s Alarming Water Truth“, BBC News, 12. März 2007; U.N.
Population Division, Urban Agglomerations 2005 Wall Chart, unter www.un.org/esa/population, eingesehen am 28. September 2007.
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In vielen Landwirtschaftsregionen bilden Schnee- und Eismassen die wichtigste Quelle für Trinkwasser und Wasser zur Bewässerung. So ist im Südwesten der USA der Colorado – die Hauptquelle der Region für Wasser zur Bewässerung – stark von den großen Schneefeldern in den Rocky Mountains
abhängig. Kalifornien ist für seine Wasserversorgung nicht nur stark auf das
Wasser aus dem Colorado angewiesen, sondern auch auf das Wasser aus der
Schneeschmelze in der im östlichen Teil des Bundesstaates gelegenen Sierra
Nevada. Und das kalifornische Central Valley, der Obst- und Gemüsekorb der
Welt, bezieht sein Wasser zur Bewässerung sowohl aus der Sierra Nevada als
auch aus der Küstenregion.31
Die vorläufigen Ergebnisse einer Untersuchung zu den Auswirkungen der
steigenden Temperaturen auf die drei größten Flusssysteme im Westen der
USA – Columbia, Sacramento und Colorado – deuten darauf hin, dass im
Winter weitaus weniger Schnee zur Speisung der Flüsse im Sommer abgelagert
werden wird und dass die Regenfälle und Überschwemmungen im Winter entsprechend zunehmen werden.32
Sollte es energiepolitisch so weitergehen wie bisher, so prognostizieren
weltweite Klimamodelle für den Westen der Vereinigten Staaten bis Mitte
des Jahrhunderts eine Abnahme der abgelagerten Schneemenge um 70 %.
Eine vom Pacific Northwest National Laboratory des US-Energieministeriums
durchgeführte ausführliche Studie zum Yakima River Valley, einem riesigen
Obstanbaugebiet im Bundesstaat Washington, hat ergeben, dass die Ernteerträge infolge der abnehmenden Schneeablagerungen und der daraus resultierenden Abnahme der Menge an Wasser zur Bewässerung immer mehr
sinken.33
In Zentralasien ist die Landwirtschaft in mehreren Ländern – Usbekistan,
Turkmenistan, Kirgisistan, Kasachstan, Tadschikistan und Afghanistan – zur
Deckung ihres Bedarfs an Wasser zur Bewässerung stark von der Schneeschmelze aus dem Hindukusch, dem Pamir und den Bergen des Tienschan
abhängig. Der nahe gelegene Iran bezieht einen Großteil seines Wassers aus der
Schneeschmelze in den 5.700 m hohen Bergen des zwischen Teheran und dem
Kaspischen Meer gelegenen Elbursgebirges.34
Die Menschen betrachten die Schnee- und Eismassen in den großen
Gebirgsketten der Welt und das dort in Form von Schnee und Wasser gespei31 Michael Kiparsky und Peter Gleick, Climate Change and California Water Resources:
A Survey and Summary of the Literature (Oakland, CA: Pacific Institute, 2003); Timothy
Cavagnaro et al., Climate Change: Challenges and Solutions for California Agricultural Landscapes (Sacramento, CA: California Climate Change Center, 2006).
32 John Krist, „Water Issues Will Dominate California’s Agenda This Year“, Environmental News Network, 21. Februar 2003.
33 Michael J. Scott et al., „Climate Change and Adaptation in Irrigated Agriculture–A
Case Study of the Yakima River“, in: UCOWR/NIWR Conference, Water Allocation: Economics and the Environment (Carbondale, IL: Universities Council on Water Resources,
2004); Pacific Northwest National Laboratory, „Global Warming to Squeeze Western
Mountains Dry by 2050“, Pressemitteilung (Richland, WA: 16. Februar 2004).
34 UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 131; Mehrdad Khalili, „The Climate of Iran: North,
South, Kavir (Desert), Mountains“, San’ate Hamlo Naql, März 1997, S. 48ff.
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cherte Wasser als Selbstverständlichkeit, weil es eben schon lange vor Beginn
der Landwirtschaft da war. Doch das ändert sich jetzt. Wir riskieren, diese
himmlischen Reservoire, auf die die Städte genauso angewiesen sind wie die
Bauern, zu verlieren, wenn wir weiter dazu beitragen, dass die Temperaturen
auf der Erde steigen.
DAS EIS SCHMILZT UND DER MEERESSPIEGEL STEIGT
Die Eisschmelze in den bergigen Regionen hat jedoch nicht nur Auswirkungen
auf die daraus gespeisten Flüsse, sondern auch auf die Höhe des Meeresspiegels. Im größeren Maßstab betrachtet würde das Abschmelzen der beiden
größten Eisschilde der Welt, des Antarktischen und des Grönländischen – sogar zu einem enormen Anstieg des Meeresspiegels führen. Sollte beispielsweise der Westantarktische Eisschild schmelzen, so würde dies zu einem Anstieg
des Meeresspiegels um 5 m führen, ein Abschmelzen des Grönländischen
Eisschildes sogar zu einem Anstieg von 7 m. Doch selbst ein nur teilweises
Abschmelzen dieser Eisschilde hätte bereits dramatische Auswirkungen. Das
IPCC hatte vorhergesagt, dass der Meeresspiegel in diesem Jahrhundert um
18 bis 59 cm steigen würde, hochrangige Wissenschaftler sind allerdings der
Ansicht, diese Vorhersagen seien bereits überholt und ein Anstieg um 2 m sei
durchaus im Rahmen des Möglichen.35
Um eine Aussage über die Zukunftsaussichten des Grönländischen Eisschildes treffen zu können, ist ein Blick auf die Daten zur Erwärmung in
der Arktisregion notwendig. Eine Studie aus dem Jahr 2005 mit dem Titel
Impacts of a Warming Arctic ergab, dass sich die Arktis etwa doppelt so schnell
erwärmt wie der Rest der Erde. In der Studie des aus 300 internationalen
Wissenschaftlern bestehenden Teams von Arctic Climate Impact Assessment
(ACIA) hieß es, die Wintertemperaturen in den Regionen rund um die Arktis, darunter Alaska, der Westen Kanadas und der Osten Russlands, seien in
den vergangenen 50 Jahren bereits um 3 bis 4 ºC gestiegen. Robert Corell,
der Vorsitzende von ACIA, bemerkte dazu, diese Region, mache „gerade so
rapide und drastische klimatische Veränderungen durch wie kaum eine andere Region weltweit.“36
Sheila Watt-Cloutier, eine Inuit, die als Vertreterin der 155.000 in Alaska,
Kanada, Grönland und der Russischen Föderation lebenden Inuit vor dem
Handelskomitee des US-Senats aussagte, bezeichnete den Kampf der Inuit ums
Überleben in dem sich rasant verändernden Klima der Arktis als „Momentaufnahme dessen, was mit diesem Planeten geschieht“ und die Erwärmung der
35 UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 103; IPCC, Summary for Policymakers, op. cit. Anmerkung 9, S. 13; Paul Brown, „Melting Ice Cap Triggering Earthquakes“, Guardian (London), 8. September 2007.
36 Arctic Climate Impact Assessment (ACIA), Impacts of a Warming Arctic (Cambridge,
U.K.: Cambridge University Press, 2004); ACIA-Wesite unter www.acia.uaf.edu, aktuali­
siert am 13. Juli 2005; „Rapid Arctic Warming Brings Sea Level Rise, Extinctions“, Environment News Service, 8. November 2004; UNEP, op. cit. Anmerkung 1, S. 103.
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Arktis als „entscheidendes Ereignis in der Geschichte dieses Planeten“. Weiter
sagte sie: „Es ist so, als ob die Erde buchstäblich wegschmilzt.“37
In dem ACIA-Bericht wird beschrieben, welche verheerenden Folgen der
Rückzug des Meereises für die Eisbären hat, deren Überleben dadurch gefährdet sein könnte. In einem späteren Bericht heißt es dann, die Eisbären würden
in ihrem Kampf ums Überleben inzwischen sogar zu Kannibalen. Auch die
im Eis lebenden Robben, eine grundlegende Nahrungsquelle der Inuit, sind
bereits bedroht.38
Seit Veröffentlichung dieses Berichts im Jahr 2005 häufen sich die Beweise
dafür, dass das Problem weitaus ernster ist als zunächst angenommen. Ein
Team aus Wissenschaftlern des National Snow and Ice Data Center und des
National Center for Atmospheric Research hat Daten über die Sommerschmelze im Arktischen Ozean in den Jahren zwischen 1953 und 2006 zusammengetragen und kam bei deren Auswertung zu dem Schluss, dass das Eis viel
schneller schmelze, als Klimamodelle hatten vermuten lassen. Seit 1979, so
die Wissenschaftler in ihrem Bericht, habe sich die Sommerschmelze stark beschleunigt und habe 2006 bei 9,1 % pro Dekade gelegen. Im Jahr 2007 sank
die Masse des Meereises der Arktis auf ein Niveau von 20 % unter dem vorherigen Tiefstwert aus dem Jahr 2005. Unter diesen Umständen könnte die
Arktis weit vor dem Jahr 2050 vollständig eisfrei sein, das die Wissenschaftler
des IPCC in ihrem Bericht von 2007 als frühest möglichen Termin für diese
Entwicklung benannt hatten. Die Arktisexpertin Julienne Stroeve merkt dazu
an, das Zusammenschrumpfen der arktischen Eismassen habe inzwischen sehr
wahrscheinlich einen kritischen Punkt erreicht, „an dem es eine Kaskade von
Klimaveränderungen auslösen könnte, die auch Auswirkungen auf die gemäßigten Zonen der Erde haben könnten“.39
Diese Sorge wird auch durch eine neuere Studie von Joséfino Comiso, einem
hochrangigen Wissenschaftler am Goddard Space Flight Center der NASA, bestärkt. In Comisos Bericht wird zum ersten Mal überhaupt festgehalten, dass
auch die winterlichen Eismassen in der Arktis schrumpfen, in den Jahren 2005
und 2006 jeweils um 6 %. Zusammen mit der Tatsache, dass die Meereseisdecke immer dünner wird, stellt diese neue Entwicklung einen weiteren Beweis
dafür dar, dass sich die Eisdecke nach ihrer Schmelzphase im Sommer nicht
wieder erholt, sodass es sein könnte, dass das Sommereis im Arktischen Ozean
bereits viel früher verschwunden ist als bisher angenommen.40
37 J. R. Pegg, „The Earth is Melting, Arctic Native Leader Warns“, Environment News
Service, 16. September 2004.
38 ACIA, op. cit. Anmerkung 36; Steven Armstrup et al., „Recent Observations of
Intraspecific Predation and Cannibalism among Polar Bears in the Southern Beaufort Sea“,
Polar Biology, Vol. 29, Nr. 11 (Oktober 2006), S. 997ff.
39 Julienne Stroeve et al., „Arctic Sea Ice Decline: Faster than Forecast“, Geophysical
Research Letters, Vol. 34 (Mai 2007); National Snow and Ice Data Center (NSIDC), „Arctic
Sea Ice Shatters all Previous Record Lows“, Pressemitteilung (Boulder, CO: 1. Oktober
2007); Stroeve zitiert in: „Arctic Ice Retreating 30 Years Ahead of Projections“, Environment
News Service, 30. April 2007.
40 Marc Kaufman, „Decline in Winter Arctic Ice Linked to Greenhouse Gases“, Wa­shing­
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Walt Meier vom U. S. National Snow and Ice Data Center untersucht die
Ver­änderungen in Bezug auf das Eis der Arktis und auch er sieht das Schrumpfen der Eismassen im Winter mit Besorgnis. Seiner Ansicht nach stehen „die
Chancen gut“, dass der kritische Punkt in der Arktis bereits erreicht wurde.
„Viele Menschen haben sich den Kopf über Möglichkeiten zerbrochen, dahin
zurückzukehren, wo wir vorher waren. Wir kriechen immer tiefer in das Loch
hinein und damit wird es immer schwerer, wieder herauszukommen.“ Einige
Wissenschaftler sind inzwischen der Meinung, eine Eisfreiheit des Arktischen
Ozeans im Sommer könne schon 2030 Realität sein.41
Jetzt sind Wissenschaftler besorgt, es könne zu sogenannten „positiven
Rückkopplungsschleifen“ kommen. Dieser Terminus bezieht sich auf Situationen, in denen ein bereits in Gang gesetzter Trend beginnt, sich selbst zu
verstärken. Dabei sind zwei dieser potentiellen Rückkopplungsmechanismen
in den Augen der Wissenschaftler besonders besorgniserregend. Der erste ist
der sogenannte Albedo-Effekt in der Arktis. Wenn einfallende Sonnenstrahlen
auf das Eis im Arktischen Ozean treffen, werden etwa 70 % davon reflektiert
und nur 30 % als Hitze absorbiert. Da nun aber die Eismassen in der Arktis
schrumpfen, trifft ein größerer Teil der einfallenden Sonnenstrahlen auf das
dunklere Wasser, von wo aus nur 6 % reflektiert werden, während 94 % in Hitze umgewandelt werden. Dies könnte eine Erklärung für das immer schnellere
Zusammenschrumpfen der Eismassen in der Arktis und die stetig steigenden
Temperaturen in der Region sein, von denen auch der Grönländische Eisschild
direkt betroffen ist.42
Selbst wenn das gesamte Eis im nördlichen Polarmeer schmelzen sollte,
hätte dies keine Auswirkungen auf die Höhe des Meeresspiegels, da sich das Eis
bereits im Wasser befindet. Allerdings würden die Temperaturen in der Region
dadurch weiter steigen, weil ein größerer Teil des einfallenden Sonnenlichts
als Hitze absorbiert würde. Dies ist besonders deshalb besorgniserregend, weil
der größte Teil Grönlands sich innerhalb des nördlichen Polarkreises befindet.
Wenn die Temperaturen in der Arktisregion steigen, beginnt der an einigen
Stellen fast 1,6 km dicke Grönländische Eisschild zu schmelzen.43
Auch der zweite mögliche positive Rückkopplungseffekt steht im Zusammenhang mit der Eisschmelze. Früher glaubten Wissenschaftler, es handle sich
dabei um einen relativ linearen Prozess, bei dem in Abhängigkeit von der Höhe
der Temperaturen jährlich eine bestimmte Menge Eis an der Oberfläche eines
Eisschildes abschmilzt. Inzwischen weiß man, dass die dabei ablaufenden Prozesse deutlich komplexer sind. Wenn das Eis an der Oberfläche der Eisschollen
schmilzt, dringt ein Teil des Schmelzwassers in Brüche an der Oberfläche ein,
ton Post, 14. September 2006; Joséfino C. Comiso, „Abrupt Decline in the Arctic Winter
Sea Ice Cover“, Geophysical Research Letters, Vol. 33, 30. September 2006.
41 David Adam, „Meltdown Fear as Arctic Ice Cover Falls to Record Winter Low“,
Guardian (London), 15. Mai 2006.
42 NSIDC, „Processes: Thermodynamics: Albedo“, unter nsidc.org/seaice/processes/albedo.html, eingesehen am 26. Juli 2007.
43 UNEP, op. cit. Anmerkung 1.
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sodass die Oberfläche zwischen dem jeweiligen Gletscher und dem darunter
liegenden Boden gleitfähiger gemacht wird. Dadurch wird der Gletscherfluss
beschleunigt und das Abbrechen von Eisschollen vom Gletscher gefördert, die
dann in den Ozean absinken. Außerdem gelangt über das relativ warme Wasser, das in die Brüche eindringt, die Hitze von der Oberfläche viel schneller ins
Gletscherinnere, als es sonst der Fall wäre.44
Aus mehreren neueren Studien geht hervor, dass der Grönländische Eisschild immer schneller abschmilzt. In einer im September 2006 in Science
veröffentlichten Studie hieß es, die Rate, mit der das Eis auf dieser riesigen
Insel schmilzt, habe sich in den letzten Jahren verdreifacht. Im selben Monat
veröffentlichte ein Team von Wissenschaftlern der University of Colorado in der
Zeitschrift Nature eine Studie, aus der hervorging, dass die Schmelzrate des
grönländischen Eises zwischen April 2004 und April 2006 2,5 mal so hoch
war wie im vorangegangenen Zweijahreszeitraum. Im Oktober 2006 berichtete dann ein Team von NASA-Wissenschaftlern, dass die Gletscher immer
schneller ins Meer abgleiten. Eric Rignot, ein Glaziologe vom Jet Propulsion
Laboratory der NASA, dazu: „Die numerischen Modelle waren nicht in der
Lage, irgendeine dieser Entwicklungen vorherzusagen, sodass alle Voraussagen
über den Beitrag Grönlands zum [Anstieg der] Meeresspiegel weit unter den
tatsächlichen Werten liegen.“45
Auch der 2 km dicke Antarktische Eisschild, der am anderen Ende der Erde einen Kontinent bedeckt, der etwa doppelt so groß ist wie Australien, und etwa
70 % des Süßwassers der Welt speichert, beginnt zu schmelzen. Immer mehr
Eisschollen, die vom Kontinent aus in das umliegende Meer ragen, brechen ab
– und das in einem alarmierenden Tempo.46
Im Mai 2007 berichtete ein Team aus Wissenschaftlern der NASA und
der University of Colorado, auf Satellitenaufnahmen sei zu sehen, dass im inneren Bereich des Antarktischen Eisschildes auf einem Gebiet von der Größe
Kaliforniens bereits der Schnee zu schmelzen begann. Im Jahr 2005 lag dieser
Schmelzbereich etwa 900 m von der Küste entfernt landeinwärts, in nur etwa
500 km Entfernung vom Südpol. Konrad Steffens, einer der Wissenschaftler,
die an der Untersuchung beteiligt waren, sagte dazu: „Wenn man von der Antarktischen Halbinsel absieht, ist es in der Region der Antarktis in der Vergan-
44 H. Jay Zwally et al., „Surface Melt-Induced Acceleration of Greenland Ice-Sheet
Flow“, Science, Vol. 297 (12. Juli 2002), S. 218ff.
45 J. L. Chen, C. R. Wilson und B. D. Tapley, „Satellite Gravity Measurements Confirm
Accelerated Melting of Greenland Ice Sheet“, Science, Vol. 313 (29. September 2006), S.
1958ff.; Isabella Velicogna und John Wahr, „Acceleration of Greenland Ice Mass Loss in
Spring 2004“, Nature, Vol. 443 (21. September 2006), S. 329ff.; S. B. Luthke et al., „Recent
Greenland Ice Mass Loss from Drainage System from Satellite Gravity Observations“,
Science, Vol. 314 (24. November 2006), S. 1286ff.; „Gravity Measurements Confirm
Greenland’s Glaciers Precipitous Meltdown“, Scientific American, 19. Oktober 2006.
46 U.S. Department of Energy, Energy Information Administration, „Antarctica: Fact
Sheet“ unter www.eia.doe.gov, September 2000.
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genheit praktisch nicht zu einer erkennbaren Erwärmung gekommen. Inzwischen zeigen sich jedoch regional die ersten Folgen einer Erwärmung.“47
Die Eisschilde, die die Antarktis umgeben, bilden sich größtenteils dadurch, dass Teile der Gletscher vom Kontinent abbrechen und ins Meer absinken. Dieser Eisfluss, der durch die ständige Entstehung neuen Eises auf dem
Kontinent gefördert wird und im Abbrechen von Eisschollen an den Rändern
der Gletscher und dem Abkalben von kleineren Eisbergen gipfelt, ist keine
neue Erscheinung. Doch die Geschwindigkeit, mit der er abläuft, ist es. Als
sich 1995 Larsen A, eine große Eisscholle an der Ostküste der Antarktischen
Halbinsel, löste, war dies ein klares Zeichen, dass in der Region etwas nicht
stimmte. Und im Jahr 2000 löste sich dann ein riesiger Eisberg, der mit 11.000
km2 fast so groß war wie Connecticut, von der sogenannten Ross-Eisscholle.48
Nachdem sich Larsen A gelöst hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis die
benachbarte Eisscholle Larsen B folgen würde, sodass es keine Überraschung
war, als der nördliche Teil von Larsen B im März 2002 ins Meer stürzte. Etwa
zur selben Zeit löste sich ein Eisblock, der mit 5.500 km2 die Größe von Rhode
Island hatte, vom Thwaites-Gletscher.49
Selbst erfahrene Eisforscher sind überrascht, wie schnell sich diese Auflösung
der Gletscher vollzieht. Dr. David Vaughan, Glaziologe vom British Antarctic
Survey, der die Larsen-Eisscholle intensiv beobachtet hat, dazu: „Das Tempo ist
erschreckend.“ Dazu ist interessant zu wissen, dass die Durchschnittstemperatur entlang der Antarktischen Halbinsel, in unmittelbarer Nachbarschaft von
Larsen, in den letzten 50 Jahren um 2,5 ºC gestiegen ist.50
Wenn sich bereits im Wasser befindliche Eisschollen von der kontinentalen
Eismasse lösen, hat das kaum direkte Auswirkungen auf den Meeresspiegel an
sich. Doch ohne diese Eisschollen, die das Gletschereis, das sich normalerweise
mit 400 bis 900 m pro Jahr bewegt, in seiner Bewegung bremsen, könnte sich
die Bewegung des Kontinentaleises Richtung Ozean beschleunigen, wodurch
der Eisschild an den Rändern der Antarktis ausdünnen könnte und der Meeresspiegel entsprechend ansteigen würde.51
Die Ergebnisse einer Untersuchung von Wissenschaftlern des International
Institute for Environment and Development (IIED) zu den möglichen Folgen
eines Anstiegs des Meeresspiegels um 10 m illustrieren, welche Folgen ein Abschmelzen der größten Eisschilde der Erde haben könnte. Zunächst weisen
47 University of Colorado, „NASA, CU-Boulder Study Shows Vast Regions of West
Antarctica Melted in Recent Past“, Presseerklärung (Boulder: 15. Mai 2007).
48 „Breakaway Bergs Disrupt Antarctic Ecosystem“, Environment News Service,
9. Mai 2002; „Giant Antarctic Ice Shelves Shatter and Break Away“, Environment News
Service, 19. März 2002.
49 NSIDC, „Antarctic Ice Shelf Collapses“, unter nsidc.org/iceshelves/larsenb2002,
19. März 2002; „Breakaway Bergs Disrupt Antarctic Ecosystem“, op. cit. Anmerkung 48;
„Giant Antarctic Ice Shelves Shatter and Break Away“, op. cit. Anmerkung 48.
50 „Giant Antarctic Ice Shelves Shatter and Break Away“, op. cit. Anmerkung 48;
Vaughan zitiert in: Andrew Revkin, „Large Ice Shelf in Antarctica Disintegrates at Great
Speed“, New York Times, 20. März 2002.
51 Michael Byrnes, „New Antarctic Iceberg Split No Threat“, Reuters, 20. Mai 2002.
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die Wissenschaftler in ihrer Studie darauf hin, dass etwa 634 Mio. Menschen
in „Regionen in Küstennähe mit geringer Höhe“ leben, d. h. in diesem Fall in
Küstenregionen bzw. in Regionen, die weniger als 10 m über dem Meeresspiegel liegen. Zu dieser riesigen Gruppe von Menschen, die von einem Anstieg
des Meeresspiegels um etwa 10 m betroffen wäre, gehört auch ein Achtel aller
Stadtbewohner weltweit.52
Eines der Länder, die im Falle einer solchen Entwicklung den größten Schaden nehmen würden, ist China, hier würden in diesem Falle etwa 144 Mio.
Menschen zu Klimaflüchtlingen. Mit 63 bzw. 62 Mio. potentiellen Flüchtlingen wären Indien und Bangladesch die nächsten in der Reihe, gefolgt von
Vietnam mit 43 Mio. und Indonesien mit 42 Mio. potentiellen Flüchtlingen.
Weitere Staaten in der Top-10-Liste der am stärksten betroffenen Staaten sind
Japan mit 30 Mio. Betroffenen, Ägypten mit 26 Mio. und die Vereinigten
Staaten mit 23 Mio.53
Nie zuvor mussten irgendwo auf der Welt so viele Menschen ihre bisherige
Heimat aufgeben und umsiedeln. Einige dieser Klimaflüchtlinge könnten ganz
einfach in höher gelegene Gebiete ihres Heimatlandes umsiedeln, andere dagegen müssten angesichts der Tatsache, dass die Inlandsregionen ihres Heimatlands ohnehin überbevölkert sind, in andere Länder emigrieren. Für die höher
gelegenen Gebiete im Inland von Bangladesch wäre die Lage besonders prekär:
Hier würden zu den 97 Mio. Menschen, die jetzt schon dort leben, weitere
62 Mio. hinzukommen. Obwohl ein weniger dicht besiedeltes Land, wie beispielsweise die Vereinigten Staaten, bereit wäre, einen solchen Zustrom von
Klimaflüchtlingen aufzunehmen, während es selbst gerade versucht, 23 Mio.
seiner eigenen Staatsbürger neu unterzubringen?54
Im Falle eines derartigen Anstiegs des Meeresspiegels würden nicht nur einige der größten Städte der Welt, darunter Shanghai, Kalkutta, London und New
York, teilweise oder vollständig überflutet, auch riesige Gebiete fruchtbaren
Ackerlandes wären für immer verloren. Die zum Reisanbau genutzten Talauen und Deltas der Flüsse in den asiatischen Ländern würden von Salzwasser
überflutet, sodass Asien einen Teil seiner Nahrungsmittelversorgung einbüßen
würde. Dieser Verlust an hochwertigem Ackerland käme zudem zur selben Zeit
wie der Verlust der Wasserversorgung aus den Gletschern des Himalajas.55
Letzten Endes wird entscheidend sein, ob die Regierungen stark genug sein
werden, den politischen und wirtschaftlichen Belastungen standzuhalten, die
sich aus der Zwangsumsiedlung einer so großen Zahl von Menschen und dem
gleichzeitigen Verlust so vieler Wohnmöglichkeiten und Industriegebäude erge52 Gordon McGranahan et al., „The Rising Tide: Assessing the Risks of Climate Change
and Human Settlements in Low Elevation Coastal Zones“, Environment and Urbanization,
Vol. 18, Nr. 1 (April 2007), S. 17-37.
53 Ebenda.
54 Ebenda; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 20.
55 International Institute for Environment and Development, „Climate Change: Study
Maps Those at Greatest Risk from Cyclones and Rising Seas“, Pressemitteilung (London:
28. März 2007); Catherine Brahic, „Coastal Living–A Growing Global Threat“, New Scientist.com, 28. März 2007; UNEP, op. cit. Anmerkung 1.
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ben. Und da ein Großteil der von den prognostizierten Überschwemmungen
betroffenen Menschen in andere Länder emigrieren wollen wird, betrifft diese
Umsiedlung nicht nur die Heimatländer der Flutflüchtinge. Werden also die
Regierungen diesem Druck standhalten können oder werden noch mehr Staaten scheitern?
STÜRME MIT IMMER GRÖSSERER ZERSTÖRUNGSKRAFT
Die steigenden Meeresspiegel sind jedoch nicht die einzige Folge der höheren
Temperaturen weltweit. Höhere Temperaturen des Oberflächenwassers in den
tropischen Ozeanen führen dazu, dass mehr Energie in die Atmosphäre gelangt und dort tropische Sturmsysteme auslöst, wodurch es immer häufiger zu
Stürmen mit immer größerer Zerstörungskraft kommt – und die Kombination
aus steigenden Meeresspiegeln, heftigeren Stürmen und stärkeren Sturmfluten
könnte verheerend sein.56
Das Ausmaß der Zerstörung, die sich aus dieser Kombination ergeben kann,
zeigte sich Ende August 2005, als Hurrikan Katrina in der Nähe von New Orleans auf die Golfküste der USA traf. In einigen Städten an der Golfküste blieb
angesichts der bis zu 8,5 m hohen Flutwellen, die Katrina auslöste, kein Stein
auf dem anderen. New Orleans überlebte zwar das ursprüngliche Auftreffen
des Hurrikans relativ unbeschadet, doch als die Inlandsdämme brachen, wurde
die Stadt überflutet, bis in großen Teilen der Stadt alles unter Wasser stand und
nur noch die Dächer zu sehen waren, auf die sich Tausende Menschen geflüchtet hatten, um sich zu retten. Noch ein Jahr nach dem Sturm, im August 2006,
gab es in den vom Sturm am stärksten zerstörten Teilen der Stadt weder Wasser
noch Strom und auch die Abwasser- und Telefonleitungen waren noch nicht
repariert und die Müllabfuhr nicht wieder aufgenommen worden.57
Dank der vorherigen Sturmwarnungen und der offiziellen Aufrufe dazu,
die Küstenregion zu verlassen, waren etwa 1 Mio. Menschen nordwärts nach
Louisiana oder in die benachbarten Bundesstaaten Texas und Arkansas geflohen. 290.000 von ihnen sind bisher nicht in ihre Häuser zurückgekehrt und
werden es vermutlich auch nie mehr tun. Diese Menschen bildeten die erste
große Welle von Klimaflüchtlingen weltweit.58
56 Thomas R. Knutson und Robert E. Tuleya, „Impact of CO2-Induced Warming on
Simulated Hurricane Intensity and Precipitation: Sensitivity to the Choice of Climate Mo­
del and Convective Parameterization“, Journal of Climate, Vol. 17, Nr. 18 (15. September
2004), S. 3477-3495.
57 Lester R. Brown, „Global Warming Forcing U.S. Coastal Population to Move Inland“, Eco-Economy Update (Washington DC: Earth Policy Institute, 16. August 2006);
Angaben über fehlendes Wasser und fehlenden Strom aus: Connie Kline, „New Orleans
Looks Like Katrina Hit Yesterday; U.S. Needs to Step Up“, Ventura County Star, 6. August
2006; Angaben über nicht wieder aufgenommene Müllentsorgung aus: Susan Saulny, „Despite a City’s Hopes, an Uneven Repopulation“, New York Times, 30. Juli 2006; Angaben
über fehlende Telefonleitungen aus: Gary Rivlin, „Patchy Recovery in New Orleans“, New
York Times, 5. April 2006; Angaben über nicht repariertes Abwassersystem aus: „Katrina
Recovery Deemed a Mixed Bag“, Associated Press, 15. August 2006.
58 Peter Grier, „The Great Katrina Migration“, Christian Science Monitor, 12. Septem-
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Unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet war Katrina der bisher zerstörerischste Sturm aller Zeiten – weltweit. Und es war nur einer von insgesamt acht Hurrikans, die in den Jahren 2004 und 2005 die Südostküste der
USA heimsuchten. Infolge des bisher nie dagewesenen Ausmaßes der Schäden
haben sich die Versicherungsprämien verdoppelt oder verdreifacht und an einigen besonders gefährdeten Orten sogar verzehnfacht. Durch diese enorme
Erhöhung der Versicherungsprämien ist der Wert von Grundstücken an der
Küste enorm gesunken, sodass immer mehr Menschen besonders gefährdete
Bundesstaaten wie Florida verlassen und ihren Wohnsitz und ihr Geschäft an
einen anderen Ort verlagern.59
Doch Katrina und die Zerstörung, die dadurch angerichtet wurde, sind keineswegs Einzelerscheinungen. Im Herbst 1998 traf der Hurrikan Mitch – mit
Windgeschwindigkeiten von bis zu 320 km/h einer der stärksten Stürme, die je
von der Atlantikseite gekommen waren – auf die Ostküste Mittelamerikas. Da
der übliche Abzug des Sturms in nördlicher Richtung durch atmosphärische
Bedingungen behindert wurde, fielen in Teilen von Honduras und Nicaragua
innerhalb weniger Tage etwa 2 m Regen. Durch diese Sintflut stürzten Häuser, Fabriken und Schulen ein, Straßen und Brücken wurden zerstört. In Honduras wurden 70 % der Ernte und ein Großteil des Mutterbodens – der sich
über große geologische Zeiträume gebildet hatte – einfach weggespült. Große
Schlammlawinen zerstörten ganze Dörfer und begruben in einigen Fällen sogar
die Einwohner unter sich.60
Der Sturm forderte 11.000 Todesopfer, Tausende weitere waren unter den
Lawinen begraben oder ins Meer gespült worden und wurden nie gefunden.
Die grundlegende Infrastruktur – Straßen und Brücken in Honduras und Nicaragua – wurde größtenteils zerstört. Flores, der Präsident von Honduras,
fasste es folgendermaßen zusammen: „Insgesamt kann man sagen, dass es uns
50 Jahre gekostet hat, das aufzubauen, was jetzt innerhalb weniger Tage zerstört wurde.“ Durch die Sturmschäden, die das jährliche Bruttosozialprodukt
der beiden Länder noch überstiegen, wurden sie in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung um 20 Jahre zurückgeworfen.61
ber 2005; Louisiana Recovery Authority, Migration Patterns: Estimates of Parish Level Migrations Due to Hurricanes Katrina and Rita (Baton Rouge, LA: August 2007), S. 7ff.
59 National Weather Service National Hurricane Center, NHC Archive of Hurricane
Seasons, unter www.nhc.noaa.gov, aktualisiert im Juni 2007; Kevin E. Trenberth, „Warmer
Oceans, Stronger Hurricanes“, Scientific American, Juli 2007; Joseph Treaster, „High Winds,
Then Premiums“, New York Times, 26. September 2006.
60 Janet N. Abramovitz, „Averting Unnatural Disasters“, in: Lester R. Brown et al.,
State of the World 2001 (New York: W. W. Norton & Company, 2001) S. 123-42.
61 Zahl der Todesopfer des Sturmes aus: National Climatic Data Center, National Oceanic & Atmospheric Administration, „Mitch: The Deadliest Atlantic Hurricane Since 1780“
unter www.ncdc.noaa.gov, aktualisiert am 1. Juli 2004; Flores zitiert in: Arturo Chavez et
al., „After the Hurricane: Forest Sector Reconstruction in Honduras“, Forest Products Journal, November/Dezember 2001, S. 18ff.; Angaben zum Bruttosozialprodukt aus: Internationaler Währungsfond (IMF), World Economic Outlook Database unter www.imf.org,
aktualisiert im April 2003.
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2004 gab es in Japan rekordverdächtige zehn Taifune, die einen Gesamtschaden von 10 Mrd. $ verursachten. In der gleichen Zeit wurde Florida von
vier der zehn heftigsten Hurrikans der US-Geschichte getroffen, die zusammen zu Versicherungsansprüchen in Höhe von 22 Mrd. $ führten.62
Vor diesem Hintergrund wird es für Versicherer und Rückversicherer zunehmend schwieriger, ein sicheres Prämienniveau zu berechnen, denn die
traditionell als Berechnungsgrundlage für Versicherungsprämien benutzten
historischen Daten eignen sich inzwischen nicht mehr als Richtlinie für die
Zukunft. So ist beispielsweise die Zahl der großen Flutkatastrophen weltweit
in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen, von sechs großen Überflutungen
in den 50er Jahren auf 26 in den 90er Jahren.63
Die Versicherungsunternehmen sind davon überzeugt, dass die Verluste in
Zukunft infolge der höheren Temperaturen und der heftigeren Stürme noch
größer sein werden. Die Unternehmen sind deshalb besorgt, ob die Industrie
angesichts dieser Attacken wachsender Zerstörung überhaupt solvent bleiben
kann. Ebenso sieht man es bei Moody’s Investor Service, der in den vergangenen
sechs Jahren die Kreditwürdigkeit mehrerer der weltweit führenden Rückversicherer zurückgestuft hat.64
Thomas Loster, ein Klimaexperte bei der Münchner Rück (Munich Re), sagt,
die Gesamtbilanz der Naturkatastrophen würde „klar von wetterbedingten
Katastrophen dominiert, von denen viele als außergewöhnlich und extrem bezeichnet werden können. [...] Wir müssen dieses gefährliche Experiment, das
die Menschheit da mit der Erdatmosphäre betreibt, unbedingt stoppen.“65
Die Münchner Rück hat eine Liste mit Stürmen veröffentlicht, bei denen der
Versicherungsschaden bei 1 Mrd. $ oder mehr lag. Die erste derartige Naturkatastrophe gab es 1983, als der Hurrikan Alicia die Vereinigten Staaten heimsuchte und Versicherungsschäden im Wert von 1,5 Mrd. $ hinterließ. Unter
den 58 Naturkatastrophen mit einem Versicherungsschaden von 1 Mrd. $ oder
mehr, die bis Ende 2006 zu verzeichnen waren, gab es drei Erdbeben, einschließlich des verheerenden Tsunamis in Asien 2004, bei den restlichen 55 handelte
es sich um wetterbedingte Katastrophen – Stürme, Überflutungen, Hurrikans
und Waldbrände. In den 80er Jahren gab es drei derartige Ereignisse, in den
90er Jahren insgesamt 26 und für das laufende Jahrzehnt liegt die Zahl bereits
für den Zeitraum zwischen 2000 und 2006 wiederum bei 26.66
62 Michael Smith, „Bad Weather, Climate Change Cost World Record $90 Billion“,
Bloomberg, 15. Dezember 2004; „Insurers See Hurricane Costs as High as $23 Billion“,
Reuters, 4. Oktober 2004.
63 „Awful Weather We’re Having“, op. cit. Anmerkung 5; Munich Re, Topics Geo Annual Review: Natural Catastrophes 2006 (München: 2007), S. 47.
64 „Disaster and Its Shadow“, The Economist, 14. September 2002, S. 71; „Moody’s
Downgrades Munich Re’s Ratings to ‚Aa1’“, Insurance Journal, 20. September 2002;
Moody’s Investor Service, „Issuer Research“ für Munich Re, Hanover Re und Swiss Re,
unter www.moodys.com, eingesehen am 26. Juli 2007.
65 Tim Hirsch, „Climate Change Hits Bottom Line“, BBC News, 15. Dezember 2004.
66 Munich Re, „Natural Disasters: Billion-$ Insurance Losses“, in: Louis Perroy, „Impacts
of Climate Change on Financial Institutions’ Medium to Long Term Assets and Liabilities“,
Präsentation vor der Staple Inn Actuarial Society, 14. Juni 2005; Munich Re, Topics Geo Si­g­
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die beiden größten Katastrophen im Hinblick auf die angerichteten Schäden vor Hurrikan Katrina waren Hurrikan Andrew 1992, der 60.000 Häuser zerstörte und Schäden im Gesamtwert von 30 Mrd. $ hinterließ, und die
Überschwemmung im Jangtsebecken in China 1998, bei dem die Schäden
ebenfalls einen Wert von 30 Mrd. $ erreichten – eine Summe, die etwa dem
Wert der chinesischen Reisernte entspricht. Die wachsenden Schadenssummen
sind teilweise der zunehmenden Entwicklung der Städte und der Industrie in
den Küstengebieten und den Talauen der Flüsse zuzuschreiben, aber auch den
immer häufiger auftretenden Stürmen mit ihrer zunehmend größeren Zerstörungskraft.67
Im Westen sind die Atlantik- und die Golfküste der Vereinigten Staaten
und die Karibikstaaten die Regionen, die derzeit am anfälligsten für heftige
Stürme sind. Im Osten sind es vor allem die ost- und südostasiatischen Länder,
darunter China, Japan, die Philippinen, Taiwan und Vietnam, die die volle
Wucht der vom Pazifik kommenden starken Stürme zu spüren bekommen,
während im Golf von Bengalen Bangladesch und die Ostküste Indiens besonders gefährdet sind.
In Westeuropa, wo es üblicherweise nur einmal alle einhundert Jahre einen
Wintersturm mit großen Schäden gibt, gab es 1987 erstmals einen Wintersturm, der einen Schaden von mehr als 1 Mrd. $ anrichtete – die Schadenssumme belief sich auf 3,7 Mrd. $, von denen 3,1 Mrd. $ durch Versicherungen
abgedeckt waren. Seither gab es in Westeuropa neun große Winterstürme mit
Versicherungsschäden zwischen 1,3 und 5,9 Mrd. $.68
Da sich das Klima zunehmend verändert, ist auch mit immer extremeren wetterbedingten Ereignissen zu rechnen. So sagt Andrew Dlugolecki, ein führender Experte auf dem Gebiet der Klimaveränderungen und ihrer Auswirkungen auf Finanzinstitutionen, die durch atmosphärisch bedingte Ereignisse
hervorgerufenen Schäden seien um etwa 10 % pro Jahr gestiegen. „Wenn
sich dieser Anstieg unendlich fortsetzen sollte“, so Dlugolecki, „würden die
Sturmschäden bis 2065 das Weltsozialprodukt übersteigen. Doch offensichtlich stünde die Welt bereits lange vorher vor dem Bankrott.“ In der realen
Welt setzen sich nur wenige Wachstumsraten im zweistelligen Bereich mehrere
Jahrzehnte lang fort, doch Dlugolecki wollte im Grunde damit sagen, dass
sich der Klimawandel als enorm zerstörerisch, spaltend und sehr kostspielig
erweisen könnte.69
nificant Natural Catastrophes in 2004, 2005, and 2006 (München: 2005, 2006 und 2007).
67 Munich Re, Topics Annual Review: Natural Catastrophes 2001 (München: 2002),
S. 16f.; Angaben zum Wert der chinesischen Reisernte aus: USDA, op. cit. Anmerkung 3,
Bezug auf Preise aus: IMF, International Financial Statistics, elektronische Datenbank unter
ifs.apdi.net/imf, aktualisiert in Juni 2007.
68 Munich Re, „Natural Disasters“, op. cit. Anmerkung 66; Munich Re, Significant
Natural Catastrophes in 2005 and 2006, op. cit. Anmerkung 66.
69 Andrew Dlugolecki, „Climate Change and the Financial Services Industry“, Rede
auf der Eröffnung des UNEP Financial Services Roundtable, Frankfurt/Main, 16. November 2000; „Climate Change Could Bankrupt Us by 2065“, Environment News Service,
24. November 2000.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Wenn wir zulassen, dass das Klima weiter außer Kontrolle gerät, riskieren
wir damit die Entstehung enormer finanzieller Kosten. In einem Bericht von
Ende 2006 sagte der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nicholas Stern,
voraus, langfristig könnten die durch den Klimawandel verursachten Kosten
bei mehr als 20 % des Bruttoweltprodukts liegen. Im Vergleich dazu wären die
kurzfristigen Kosten für die Senkung der Treibgasemissionen zur Stabilisierung
des Klimas, die Stern auf etwa 1 % des Bruttoweltprodukts schätzt, geradezu
„Peanuts“.70
SENKUNG DER KOHLENSTOFFEMISSIONEN
UM 80 PROZENT BIS 2020
Im Jahr 2004 veröffentlichten Stephen Pacala und Robert Socolow von der
Princeton University in der Zeitschrift Science einen Artikel, in dem sie Möglichkeiten aufzeigten, die in den nächsten 50 Jahren bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe anfallende Menge an Kohlenstoffemissionen bei nur etwa 7
Mrd. t pro Jahr zu halten, statt durch die Fortsetzung unseres „Business-asUsual“-Verhaltens einen Anstieg auf 14 Mrd. t zu riskieren. Dabei besteht das
Ziel des Ökologen Pacala und des Ingenieurs Socolow darin, einen Anstieg der
Konzentration von CO2 in der Atmosphäre von derzeit etwa 375 ppm auf über
500 ppm zu verhindern.71
In ihrem Artikel führen die beiden Wissenschaftler 15 Möglichkeiten auf,
mit deren Hilfe unter Verwendung bereits vorhandener und erprobter Technologien bis 2054 jährlich jeweils 1 Mrd. t CO2-Emissionen eingespart werden könnten. Sieben dieser Optionen in beliebiger Kombination können dazu
verwendet werden, einen Anstieg der CO2-Emmissionen bis einschließlich
2054 zu verhindern. Weiter vertraten Socolow und Pacala in dem Artikel die
Ansicht, der technologische Fortschritt würde dazu führen, dass die jährliche
Menge an CO2-Emmissionen bis 2104 auf 2 Mrd. t gesenkt werden könnte
und damit auf ein Niveau, das von den natürlichen Kohlenstoffspeichern im
Boden und im Meer absorbiert werden könnte.72
Dieses Konzept von Pacala und Socolow hat sich als ausgesprochen hilfreich erwiesen, als es darum ging, eine Diskussion über Möglichkeiten zur
Senkung der CO2-Emissionen in Gang zu bringen. Inzwischen sind seit Erscheinen des Artikels drei Jahre vergangen und es ist mehr als offensichtlich,
dass wir schneller und in weitaus größerem Maßstab handeln müssen als bisher angenommen. Außerdem müssen wir über den konzeptionellen Ansatz
hinausgehen und nicht mehr alle Optionen gleich behandeln, sondern uns auf
jene konzentrieren, die am meisten Erfolg versprechen.
70 Sir Nicholas Stern, The Stern Review on the Economics of Climate Change (London:
HM Treasury, 2006), S. vi–ix.
71 S. Pacala und R. Socolow, „Stabilization Wedges: Solving the Climate Problem for
the Next 50 Years with Current Technologies“, Science, Vol. 305 (13. August 2004), S.
968ff.
72 Ebenda.
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Forscher wie James Hansen, einer der führenden Klimaforscher bei der
NASA, sind der Meinung, die globale Erwärmung beschleunige sich zunehmend und stehe kurz davor, einen kritischen Punkt zu erreichen, an dem der
Klimawandel eine Eigendynamik entwickelt und nicht mehr aufzuhalten ist.
Diese Forscher glauben, es blieben uns im günstigsten Falle noch zehn Jahre,
um den Trend umzukehren und ein Überschreiten der natürlichen Grenze in
diesem Bereich zu verhindern – und ich kann ihnen nur zustimmen.73
Es wird viel darüber geredet, was wir in den nächsten Jahrzehnten oder
bis 2050 tun müssten, um „gefährliche Klimaveränderungen“ zu vermeiden.
Doch tatsächlich sehen wir uns damit bereits konfrontiert. Zwei Drittel der
Gletscher, aus denen der Jangtse und der Hwangho gespeist werden, werden
bis 2060 verschwunden sein, wenn die Gletscher auch in Zukunft um 7 %
pro Jahr abschmelzen. Und auch im Falle des Gangotri-Gletschers in Indien,
dessen Schmelzwasser in der Trockenzeit 70 % zur Speisung des Ganges beitragen, berichten Glaziologen, er könne innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig
abgeschmolzen sein.74
Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt etwas geben kann, das die Gewährleistung der ausreichenden Lebensmittelversorgung für alle Menschen der
Welt stärker gefährdet als das Abschmelzen jener Gletscher, aus denen sich die
großen Flüsse Asiens in der Trockenzeit speisen, die letztlich die Weizen- und
Reisfelder der Region bewässern. In einer Region, in der die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, könnte dieser Wasserverlust in der Trockenzeit nicht nur
dazu führen, dass Menschen Hunger leiden müssen, sondern sogar dazu, dass
unvorstellbar viele Menschen letztlich verhungern müssen.
Ein weiterer Tiefschlag für die Sicherung der Lebensmittelversorgung in
Asien wäre die Tatsache, dass die zum Reisanbau genutzten Talauen und Deltas
der Flüsse unter Wasser stünden. Laut Angaben der Weltbank würde bei einem
Anstieg des Meeresspiegels um nur 1 m die Hälfte der Reisanbauflächen in
Bangladesch überschwemmt. Und auch wenn ein solcher Anstieg nicht über
Nacht kommt, ist es doch besorgniserregend, dass eine solche Entwicklung unabwendbar werden könnte, wenn das Abschmelzen der Eismassen im derzeitigen Tempo weitergeht. Weiter muss darauf hingewiesen werden, dass dieses
gefährliche Abschmelzen der Eismassen keine Zukunftsvision für den Fall weiter steigender Temperaturen ist, sondern bereits jetzt, unter den derzeitigen
Temperaturbedingungen, Realität ist.75
Als sich 2007 der Sommer seinem Ende näherte, gab es Berichte aus Grönland, dass die Gletscher zunehmend schneller ins Meer gleiten würden, viel
schneller, als es Glaziologen je vorhergesehen hatten. Riesige Eisschollen, die
73 „Earth’s Climate Approaches Dangerous Tipping Point“, Environment News Service,
1. Juni 2007; James Hansen et al., „Climate Change and Trace Gases“, Philosophical Transactions of the Royal Society A, Vol. 365 (2007), S. 1925-1954.
74 Wax, op. cit. Anmerkung 22; Coonan, op. cit. Anmerkung 23; Watts, op. cit. Anmerkung 24; „Glacier Study Reveals Chilling Prediction“, op. cit. Anmerkung 24.
75 World Bank, World Development Report 1999/2000 (New York: Oxford University
Press, September 1999).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
jeweils mehrere Milliarden Tonnen wiegen, lösten sich und glitten ins Meer,
wobei sie sogar kleinere Erdbeben auslösten.76
Da die Oberfläche zwischen Gletscher und darunter liegendem Felsboden
durch das Schmelzwasser gleitfähig gemacht wird, wird die Bewegung des Eises
über den Boden beschleunigt, sodass es mit einer Geschwindigkeit von etwa
2 m/h ins Meer gleitet. An dieser beschleunigten Bewegung und den durch
das Abgleiten verursachten Erdbeben lässt sich ablesen, wie groß das Potenzial
dafür ist, dass sich der gesamte Eisschild ablöst und zusammenschmilzt.77
Neben all den bereits in Gang gesetzten Entwicklungen sieht sich die Welt
noch mit dem Problem konfrontiert, dass möglicherweise bald Rückkopplungsmechanismen einsetzen, durch die die Erwärmung noch weiter beschleunigt wird. Wissenschaftler, die einst noch davon ausgingen, dass frühestens im
Jahr 2100 der Punkt erreicht wäre, an dem der Arktische Ozean im Sommer
eisfrei wäre, sehen heute das Jahr 2030 als realistischere Schätzung an – und
selbst das könnte sich noch als äußerst konservative Schätzung erweisen.78
Diesbezüglich machen sich die Wissenschaftler besondere Sorgen, hauptsächlich wegen eines möglichen Albedo-Effekts. Hierbei schwindet die Masse
an gut reflektierendem Eis zunehmend, während im Verhältnis dazu immer
mehr schwächer reflektierendes, dunkles Wasser vorhanden ist. Dadurch wird
die aus dem Sonnenlicht absorbierte Menge an Hitze im Wasser im größer,
was natürlich potentiell dazu führen könnte, dass der Grönländische Eisschild
noch schneller abschmilzt.
Ein weiterer Rückkopplungsmechanismus, der Anlass zur Sorge gibt, ist
das Aufschmelzen der Permafrostflächen. In diesem Falle würden Milliarden
Tonnen Kohlenstoff freigesetzt, einige davon in Form von Methangas. Dieses
ist ein starkes Treibgas, das im Hinblick auf seine Auswirkungen auf die globale
Erwärmung pro Tonne 25-mal stärker ist als Kohlendioxid.79
Das Risiko, mit dem sich die Menschheit konfrontiert sieht, besteht da­
rin, dass der Klimawandel außer Kontrolle geraten könnte und es nicht mehr
möglich wäre, bestimmte Trends, wie das Abschmelzen der Eismassen oder das
Ansteigen der Meeresspiegel, aufzuhalten. Wenn dieser Punkt erreicht würde,
könnte der Fortbestand der gesamten Zivilisation in Gefahr sein.
Diese Kombination aus schmelzenden Gletschern, steigenden Meeresspiegeln und den Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Absicherung der
weltweiten Lebensmittelversorgung sowie auf die Küstenstädte weltweit könnte
die Fähigkeiten der Regierungen zum Umgang mit solch großen Problemen
leicht übersteigen. Heute sind es noch vorwiegend schwächere Staaten, die
unter dem zunehmenden Druck der Umweltbelastungen zusammenbrechen,
doch die gerade beschriebenen Veränderungen könnten selbst für die stärksten
76 Brown, op. cit. Anmerkung 35.
77 Ebenda.
78 Adam, op. cit. Anmerkung 41.
79 IPCC, Summary for Policymakers, op. cit. Anmerkung 9, S. 33; Sergey A. Zimov et al.,
„Permafrost and the Global Carbon Budget“, Science, Vol. 312, Nr. 3780 (16. Juni 2006),
S. 1612f.
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Staaten zuviel werden, sodass sich letztlich unsere gesamte Zivilisation angesichts dieser extremen Belastungen beginnen könnte aufzulösen.
Im Gegensatz zu Pacala und Socolow, deren Ziel darin bestand, das Niveau der CO2-Emissionen bis 2054 konstant zu halten, wollen wir mit Plan B
eine umfassende Initiative zur Reduzierung der CO2-Emissionen um 80 % bis
2020 starten. Unser Ziel besteht darin zu verhindern, dass die Konzentration
von CO2 in der Atmosphäre den Wert von 400 ppm überschreitet, um so den
weiteren Anstieg der Temperaturen zu begrenzen.80
Es ist ein außergewöhnlich ehrgeiziges Unternehmen. Es bedeutet zum
Beispiel, dass wir bis 2020 alle Kohlekraftwerke vom Netz nehmen und gleichzeitig den Erdölverbrauch massiv einschränken müssen. Das wird nicht leicht
werden.
Doch wir können bereits vorhandene, fortschrittliche Technologien nutzen, um diesen Wechsel möglich zu machen. Unser Plan zur Senkung der Kohlenstoffemissionen besteht aus drei Kernkomponenten: Stopp der Entwaldung
bei gleichzeitiger Anpflanzung neuer Bäume zur Aufnahme von Kohlenstoff
(siehe Kapitel 8), Anhebung der Energieeffizienz weltweit (siehe Kapitel 11)
und Nutzung erneuerbarer Energien (siehe Kapitel 12). Zur Umsetzung von
Plan B müssen wir bei der Beleuchtung, Beheizung und Kühlung von Gebäuden und im Bereich des Transports die Technologien zum Einsatz bringen, bei
denen Energie am effizientesten genutzt wird. Außerdem müssen wir endlich
die Sonnen- und Windenergie sowie die geothermische Energie, die uns die
Erde zur Verfügung stellt, konsequenter nutzen und beispielsweise auf Hybridfahrzeuge mit zusätzlicher Speicherbatterie umsteigen, die größtenteils mit
Strom betrieben werden, der aus Windenergie erzeugt wurde.
Ein wichtiger Teil von Plan B ist es, die gesamte Weltenergiewirtschaft vollständig neu zu strukturieren und zwar in Blitzgeschwindigkeit. Ein Beispiel
dafür, wie dieses Tempo aussehen muss, bieten die USA, die im Zweiten Weltkrieg ihre Industrie innerhalb weniger Monate auf kriegswichtige Produktion
umgestellt haben. (siehe Kapitel 13) Im Zweiten Weltkrieg stand eine ganze
Menge auf dem Spiel, doch im Vergleich zu heute war das noch gar nichts.
Heute steht das Überleben unserer gesamten Zivilisation auf dem Spiel und
die große Frage ist, ob wir in der Lage sein werden, schnell genug zu handeln,
um sie zu retten.
80 Wert von 400 ppm berechnet auf Grundlage von Angaben über Emissionen aus der
Verwendung fossiler Brennstoffe aus: G. Marland et al., „Global, Regional, and National
CO2 Emissions“, in: Trends: A Compendium of Data on Global Change (Oak Ridge, TN:
Carbon Dioxide Information and Analysis Center, Oak Ridge National Laboratory, 2007)
sowie auf Grundlage der Emissionen aufgrund der veränderten Landnutzung aus: R. A.
Houghton und J. L. Hackler, „Carbon Flux to the Atmosphere from Land-Use Changes“,
in: Trends: A Compendium of Data on Global Change (Oak Ridge, TN: Carbon Dioxide Information and Analysis Center, Oak Ridge National Laboratory, 2002), Abfallkurve zitiert
in: J. Hansen et al., „Dangerous Human-Made Interference with Climate: A GISS ModelE
Study“, Atmospheric Chemistry and Physics, Vol. 7 (2007), S. 2287-2312.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 4
Die bevorstehende Wasserknappheit
Der Tschadsee in Afrika, einst ein Orientierungspunkt für die Astronauten im
All, ist heute für diese kaum mehr auszumachen. Der See, an den der Tschad,
Kamerun, Niger und Nigeria angrenzen – alles Länder mit schnell anwachsenden Bevölkerungszahlen – ist seit den 60er Jahren um 95 % geschrumpft. Der
steigende Bedarf an Wasser zur Bewässerung in dieser Region lässt die Flüsse
und Bäche, die den See speisen, austrocknen, sodass der Tschadsee bald völlig
verschwunden sein könnte und sein Verbleib für zukünftige Generationen ein
Rätsel wäre.
Doch das Verschwinden des Tschadsees ist kein Einzelfall. Die Welt steht
vor dem Problem eines riesigen – größtenteils unsichtbaren, geschichtlich noch
neuen und schnell wachsenden – Wasserdefizits. Da ein Großteil dieses Wasserdefizits in der Überbeanspruchung unterirdischer Wasserreservoire begründet
liegt, tritt es nicht immer offen zu Tage und wird oft erst bemerkt, wenn ein
Brunnen versiegt. Dieser weltweite Wassermangel ist das Ergebnis der Verdreifachung der Nachfrage in den letzten 50 Jahren. Die Bohrung von Millionen
von Bewässerungsbrunnen hat dazu geführt, dass die Menge an Wasser, die
den Grundwasserleitern entnommen wurde, in vielen Fällen von ihnen nicht
wieder nachgebildet werden konnte. Da die Regierungen es versäumt haben,
die Menge an abgepumpten Wasser auf ein für die Grundwasserleiter verträgliches Maß zu begrenzen, sinken jetzt in Ländern, in denen mehr als die Hälfte
der Weltbevölkerung lebt, die Grundwasserspiegel ab, wobei zu diesen Ländern auch die drei wichtigsten Getreideproduzenten der Welt, China, Indien
und die Vereinigten Staaten, gehören.
Neben diesen traditionellen Gefahren für die Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung aller Menschen mit Wasser beginnt inzwischen auch
der Klimawandel, sich auf die Wasserversorgung auszuwirken. Angesichts der
steigenden Temperaturen steigt die Verdunstungsrate stark an, die Regenmuster verändern sich und die Gletscher, die in der Trockenzeit die Flüsse speisen,
schmelzen ab. Durch das starke Abschmelzen der Gletscher drohen Flüsse, die
normalerweise ganzjährig Wasser führen, wie der Ganges in Indien oder der
U.N. Environment Programme (UNEP), Africa’s Lakes: Atlas of Our Changing Environment (Nairobi: 2006); M. T. Coe und J. A. Foley, „Human and Natural Impacts on
the Water Resources of the Lake Chad Basin“, Journal of Geophysical Research (Atmospheres),
Vol. 106, Nr. D4 (2001), S. 3349-56; Angaben über das Bevölkerungswachstum aus: U.N.
Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population Database,
unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007.
Angaben über Verdreifachung des Wasserverbrauchs aus: I. A. Shiklomanov, „Assessment of Water Resources and Water Availability in the World“, Report for the Comprehensive Assessment of the Freshwater Resources of the World (St. Petersburg, Russland: Staatliches
Hydrologisches Institut, 1998), zitiert in: Peter H. Gleick, The World’s Water 2000-2001
(Washington, DC: Island Press, 2000), S. 52; Angaben zur Getreideproduktion aus: U.S.
Department of Agriculture (USDA), Production, Supply and Distribution, elektronische
Datenbank unter www.fas.usda.gov/psd/psdonline, aktualisiert am 11. Juni 2007.
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Hwangho in China, zu bloßen Saisonflüssen zu werden, wodurch nicht nur
die Versorgung der Menschen mit Wasser, sondern auch mit Lebensmitteln
gefährdet wäre. Und angesichts der Tatsache, dass das klimatische System der
Erde so eng mit dem Wasserkreislauf verknüpft ist, schlägt sich jede klimatische Veränderung auch im Wasserkreislauf nieder.
Zu den eher sichtbaren Auswirkungen des Wassermangels gehören austrocknende Flüsse und Seen, und zwischen den Wasserabnehmern flussauf- und
flussabwärts, sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischen unterschiedlichen Ländern, bildet sich eine „Wassermangelpolitik“ heraus. Inzwischen ist
das Problem der Wasserknappheit durch den internationalen Getreidehandel
bereits zu einem grenzüberschreitenden Problem geworden. In Ländern, die an
die Grenzen ihrer Wasserkapazitäten stoßen, wird der wachsende Wasserbedarf
der Städte und der Industrie üblicherweise dadurch gedeckt, dass Wasser, das
ursprünglich für die Bewässerung in der Landwirtschaft gedacht war, in die
Städte umgeleitet wird. Da durch dieses Vorgehen die Getreideernten geringen
ausfallen, wird anschließend versucht, diese Verluste durch Getreideimporte
wieder auszugleichen.
Zwischen Wasser- und Lebensmittelversorgung besteht ein sehr enger Zusammenhang. Jeder Mensch nimmt pro Tag durchschnittlich 4 l Wasser in der
einen oder anderen Form zu sich, während zur Herstellung unseres täglichen
Bedarfs an Nahrungsmitteln insgesamt mindestens 2.000 l – 500 Mal so viel
– benötigt werden. So erklärt sich auch, warum 70 % des Gesamtverbrauchs
von Wasser nur einem Zweck dienen – der Bewässerung. Weitere 20 % werden von der Industrie verbraucht, und nur 10 % in Privathaushalten. Da der
Wasserbedarf in allen drei Bereichen immer mehr ansteigt, wird der Wettbewerb untereinander immer härter, wobei die Bauern fast immer den Kürzeren
ziehen. Das Problem ist, dass die meisten Menschen zwar inzwischen begriffen
haben, dass die Welt in Zukunft vor einem akuten Wassermangel stehen wird,
doch vielen ist noch nicht klar, dass dadurch auch ein Mangel an Lebensmitteln entstehen wird.
DIE WASSERSPIEGEL SINKEN
Bei dem Versuch, ihren wachsenden Bedarf an Wasser zu decken, überbeanspruchen sehr viele Länder ihre Grundwasserleiter. Die meisten, aber eben
nicht alle, Grundwasserleiter gehören zur Gruppe der sich wiederauffüllenden
Grundwasserleiter, so auch die meisten der Grundwasserleiter in Indien und
der dicht unter der Oberfläche liegende Grundwasserleiter unter der Nord­
Emily Wax, „A Sacred River Endangered by Global Warming“, Washington Post,
17. Juni 2007; Clifford Coonan, „China’s Water Supply Could be Cut Off as Tibet’s Glaciers Melt“, The Independent (London), 31. Mai 2007.
Jacob W. Kijne, Unlocking the Water Potenzial of Agriculture (Rom: U.N. Food and
Agriculture Organization (FAO), 2003), S. 26; Wasserverbrauch aus: Shiklomanov, op. cit.
Anmerkung 2, S. 53.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
chinesischen Ebene. Wenn sie erschöpft sind, wird die Abpumpmenge automatisch auf das zur erfolgreichen Wiederauffüllung nötige Maß reduziert.
Die zweite Gruppe von Grundwasserleitern sind die fossilen, die sich nicht
wiederauffüllen. Bei dieser Art von Grundwasserleitern, zu denen auch der riesige Ogallala-Aquifer in den USA, der tief liegende Grundwasserleiter unter
der Nordchinesischen Ebene oder der saudische Grundwasserleiter gehören,
erschöpft sind, kann überhaupt kein Wasser mehr abgepumpt werden. Wenn
es die Niederschlagsmenge zulässt, können Bauern, die auf diese Weise ihren
Zugang zu Wasser für die Bewässerung verlieren, auf das weniger ertragreiche
Bewirtschaften von Trockenland umsteigen. In wasserärmeren Regionen, wie
dem Südwesten der Vereinigten Staaten oder im Nahen Osten, bedeutet der
Verlust von Wasser zur Bewässerung das Ende für die Landwirtschaft.
In einigen Ländern, darunter mit China auch der größte Konkurrent der
USA um den Platz als weltweit größter Getreideproduzent, haben sinkende
Wasserspiegel bereits jetzt negative Auswirkungen auf die Ernten. Eine im
August 2001 in Peking veröffentlichte Studie zum Grundwasser zeigte, dass
der Wasserspiegel unterhalb der Nordchinesischen Ebene, in der mehr als die
Hälfte des Weizens in China sowie ein Drittel des Maises angebaut werden, rapide absinkt. Die Überbeanspruchung hat zur fast vollständigen Erschöpfung
des dicht unter der Oberfläche liegenden Grundwasserleiters geführt, sodass
die Brunnenbohrer gezwungen waren, den tief gelegenen fossilen, sich also
nicht wieder auffüllenden Leiter anzubohren.
In der Studie hieß es, unter der Provinz Hebei im Herzen der Nordchinesischen Ebene sänke der Grundwasserspiegel des tief gelegenen Grundwasserleiters im Durchschnitt um fast 3 m pro Jahr, in der Nähe einiger Städte in der
Provinz sogar doppelt so schnell. He Quingcheng, der Leiter des Grundwasserüberwachungsteams, sagte, wenn der tief liegende Grundwasserleiter erschöpft
sei, verlöre die Region ihre letzte Wasserreserve – und damit ihr einziges Sicher­
heitspolster.
Die gleichen Bedenken finden sich in einem Bericht der Weltbank: „Einzelne Berichte deuten darauf hin, dass die tiefen Brunnen rund um Peking inzwischen bis zu 1.000 m tief gebohrt werden müssen, um Zugang zu Süßwasser
zu erhalten, wodurch sich die Kosten für die Wasserversorgung drastisch erhöhen.“ Außerdem enthält der Bericht eine für einen Bankbericht ungewöhnlich
scharf formulierte Prognose über „katastrophale Folgen für zukünftige Generationen“, sollten Wasserangebot und -nachfrage nicht schnellstens wieder ins
Gleichgewicht gebracht werden.
Michael Ma, „Northern Cities Sinking as Water Table Falls“, South China Morning
Post, 11. August 2001; Anteil der Ernte aus der Nordchinesischen Ebene an der Gesamternte Chinas basiert auf Informationen aus: Hong Yang und Alexander Zehnder, „China’s
Regional Water Scarcity and Implications for Grain Supply and Trade“, Environment and
Planning A, Vol. 33 (2001), sowie aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2.
Ma, op. cit. Anmerkung 5.
Weltbank, China: Agenda for Water Sector Strategy for North China (Washington, DC:
April 2001), S. vii, xi.
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Aus der amerikanischen Botschaft in Peking kommen Berichte darüber,
dass Weizenbauern in einigen Gegenden das Wasser bereits aus einer Tiefe von
300 m pumpen. Ein Abpumpen aus dieser Tiefe lässt die Pumpkosten so stark
ansteigen, dass die Bauern oft gezwungen sind, ganz auf die Bewässerung ihrer
Pflanzungen zu verzichten.
Die sinkenden Wasserspiegel, die Überführung von Ackerland in nicht
landwirtschaftlich genutztes Land sowie der Verlust von Arbeitsplätzen in der
Landwirtschaft in den rasch industrialisierten Provinzen tragen gemeinsam
dazu bei, dass Chinas Getreideernte immer geringer ausfällt. Der hauptsächlich im halbtrockenen Norden Chinas angebaute Weizen ist besonders anfällig
für den Wassermangel. Nachdem sie 1997 mit 123 Mio. t ihren Höchststand
erreicht hatte, ist die Weizenernte seither stark gesunken und erreichte 2007
nur noch 105 Mio. t – ein Rückgang um 15%.
Laut der Weltbank-Studie werden im Norden Chinas drei Flusseinzugsgebiete übermäßig beansprucht – der Hai, der durch Peking und Tianjin fließt,
der Hwangho und der Huai, der nächste Fluss südlich des Hwangho. Da 1.000
t Wasser benötigt werden, um 1 t Getreide zu produzieren, bedeutet der Verlust von 40 Mrd. t Wasser pro Jahr (1 t entspricht 1 m3) im Hai-Gebiet, dass
bei Erschöpfung des Wasserleiters die Getreideernte um 40 Mio. t sinken wird
– genug, um 120 Mio. Chinesen zu ernähren.10
Obwohl der sich abzeichnende Wassermangel in China ein ernsthaftes Problem darstellt, ist die Situation in Indien noch schlimmer, weil das Überleben
hier viel enger vom tatsächlichen Lebensmittelverbrauch abhängt. Bisher haben die 100 Mio. indischen Landwirte 21 Mio. Brunnen gebohrt, wobei sie
etwa 12 Mrd. $ in Brunnen und Pumpen investierten. Im Zusammenhang
mit einer im New Scientist veröffentlichten Untersuchung zur Wassersituation
in Indien berichtet Fred Pearce: „Die Hälfte der traditionell von Hand gegrabenen Brunnen und Millionen der nicht allzu tief gehenden Röhrenbrunnen sind bereits ausgetrocknet, was zu einer Welle an Selbstmorden unter den
Menschen geführt hat, die auf das Wasser aus diesen Brunnen angewiesen sind.
In den Bundesstaaten, in denen etwa die Hälfte des Stroms dazu benötigt wird,
Wasser aus Tiefen von bis zu 1.000 m zu pumpen, nehmen Stromausfälle epidemische Ausmaße an.“11
In Tamil Nadu, einem südindischen Bundesstaat mit mehr als 62 Mio. Einwohnern, trocknen fast überall die Brunnen aus. Laut Kuppannan Palanisami
von der Landwirtschaftlichen Universität Tamil Nadu sind infolge der sinken John Wade, Adam Branson und Xiang Qing, China Grain and Feed Annual Report 2002
(Peking: USDA, 21. Februar 2002).
Angaben zur Weizenernte aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2.
10 World Bank, op. cit. Anmerkung 7, S. viii; Berechnungen basieren auf der Annahme, dass 1.000 t Wasser benötigt werden, um 1 t Getreide zu produzieren, aus: FAO, Yield
Response to Water (Rom: 1979).
11 Zahl der Bauern und Höhe der Investitionen in den Brunnenbau aus: Peter H. Gleick
et al., The World’s Water 2006-2007 (Washington, DC: Island Press, 2006), S. 148; Zahl
der Brunnen und Ausmaß der Abpumpung aus: Fred Pearce, „Asian Farmers Sucking the
Continent Dry“, New Scientist.com, 28. August 2004.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
den Wasserspiegel 95 % der Brunnen der Kleinbauern bereits ausgetrocknet,
wodurch die bewässerte Fläche in diesem Bundesstaat innerhalb der letzten 10
Jahre um die Hälfte geschrumpft ist, sodass viele Bauern zum TrockenlandAckerbau zurückkehren mussten.12
Da die Wasserspiegel immer weiter absinken, nutzen Brunnenbohrer inzwischen modifizierte Technologien aus dem Bereich der Ölbohrungen, mit denen
in einigen Fällen bis zu 1.000 m tief gebohrt werden muss, um auf Wasser zu
stoßen. In Gegenden, in denen die unterirdischen Wasserquellen vollständig
ausgetrocknet sind, werden die Ackerflächen nur noch durch Regen bewässert,
Trinkwasser muss mit Lastwagen gebracht werden. Tushaar Shah, Leiter der
Grundwasserstation des International Water Management Institute in Gujarat,
sagt über die Wassersituation in Indien: „Wenn die Seifenblase platzt, werden
die ländlichen Gegenden Indiens in absoluter Anarchie versinken.“13
Indiens Getreideernte, die sowohl durch den Wassermangel als auch durch
die zunehmende Umwandlung von Ackerland in nicht landwirtschaftlich genutztes Land in Mitleidenschaft gezogen wird, ist seit dem Jahr 2000 nicht
mehr angestiegen. Dies erklärt auch zumindest teilweise, warum Indien 2006
wieder einer der führenden Importeure von Weizen war. In einer WeltbankStudie aus dem Jahr 2005 heißt es, 15 % der Lebensmittelversorgung in Indien
sei abhängig von der Nutzung von Grundwasser zur Produktion. Oder anders
ausgedrückt: 175 Mio. Inder werden mit Getreide ernährt, zu dessen Anbau
und Reife Wasser aus Bewässerungsbrunnen nötig ist, die schon bald ausgetrocknet sein werden.14
Mit dem Absinken der Wasserspiegel steigen auch die Energiemengen, die
zum Abpumpen des Wassers nötig sind. Und sowohl in Indien als auch in
China wird versucht, den steigenden Energiebedarf für die Bewässerung größtenteils durch den Bau neuer Kohlekraftwerke zu decken.15
In den Vereinigten Staaten berichtet das US-Landwirtschaftsministerium,
der Grundwasserspiegel sei in Teilen von Texas, Oklahoma und Kansas – drei
der führenden Bundesstaaten in der Getreideproduktion – um mehr als 30 m
gesunken. Infolgedessen sind auf Tausenden von Farmen im Süden der Great
Plains die Brunnen ausgetrocknet, sodass auch hier die Bauern oft gezwungen sind, auf den weniger ertragreichen Trockenland-Ackerbau umzusteigen.
Dieses Abpumpen der unterirdischen Wasserreserven fordert zwar auch in den
12 Pearce, op. cit. Anmerkung 11; Angaben zur Bevölkerung von Tamil Nadu aus Volkszählung 2001, „Tamil Nadu at a Glance: Area and Population“, unter www.tn.gov.in.
13 Pearce, op. cit. Anmerkung 11.
14 Angaben zu Getreideproduktion und Getreideimporten aus: USDA, op. cit. Anmerkung
2; John Briscoe, India’s Water Economy: Bracing for a Turbulent Future (New Delhi: Weltbank,
2005); Angaben zur Bevölkerungszahl aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1.
15 Angaben zur für das Abpumpen benötigten Energie aus: Tingju Zhu et al., „Energy Price and Groundwater Extraction for Agriculture: Exploring the Energy-Water-Food
Nexus at the Global and Basin Level“, Präsentation auf der Konferenz „Linkages Between
Energy and Water Management for Agriculture in Developing Countries“, Hyderabad, Indien, Januar 2007; Angaben zur Nutzung von Kohle aus: U.S. Department of Energy, Ener­
gy Information Administration, Country Analysis Briefs: India and Country Analysis Briefs:
China (Washington, DC: aktualisiert im Januar 2007 und im August 2006).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
USA seinen Tribut in Form von Einbußen bei der Getreideernte, doch im Gegensatz zu Indien und China, wo fast drei bzw. vier Fünftel der Getreideernte
auf bewässertem Gebiet produziert werden, ist es im Falle der USA nur etwa
ein Fünftel.16
Die Studie des US-Landwirtschaftsministeriums zeigt auch, dass in den 7
Bundesstaaten, die dem Colorado Wasser entnehmen (Arizona, Kalifornien,
Colorado, Nevada, New Mexico, Utah und Wyoming), die bewässerten Flächen zwischen 1997 und 2002 mit jedem Jahr kleiner geworden sind. In den
beiden Staaten mit den größten bewässerten Flächen, Kalifornien und Colorado, sind diese Flächen um 2 bzw. 24 % geschrumpft, wobei die entsprechenden Studien für 2007 aller Wahrscheinlichkeit nach eine noch größere
Abnahme der bewässerten Flächen zeigen werden.17
Auch Pakistan, ein Land mit einer Einwohnerzahl von 164 Mio., die jährlich noch um etwa 3 Mio. wächst, greift seine unterirdischen Wasserreserven
an. Im pakistanischen Teil der fruchtbaren Punjab-Ebene scheint der Wasserspiegel ähnlich stark zu sinken wie in Indien. Grundwassermessstellen in der
Nähe der Zwillingsstädte Islamabad und Rawalpindi verzeichneten zwischen
1982 und 2000 sinkende Wasserspiegel von 1 bis fast 2 m pro Jahr.18
In Belutschistan, einer Provinz an der Grenze zu Afghanistan, sinken die
Wasserspiegel rund um die Hauptstadt Quetta jährlich um 3,5 m. Richard
Garstang, ein Wasserexperte des World Wildlife Fund19 und Mitarbeiter an einer Studie über die Wassersituation in Pakistan, sagte 2001: „Sollte der derzeitige Verbrauch beibehalten werden, wird es in Quetta innerhalb von 15 Jahren
kein Wasser mehr geben.“20
Der Wassermangel in Belutschistan betrifft die gesamte Provinz. Sardar
Riaz A. Khan, der ehemalige Direktor des pakistanischen Arid Zone Research
Institute in Quetta, berichtet, in sechs Strombecken seien die unterirdischen
Wasserreserven bereits aufgebraucht, und die durch sie bewässerten Nutzflächen seien nun unfruchtbar. Khan ist der Ansicht, dass in 10 bis 15 Jahren
praktisch alle Stromgebiete außerhalb der durch Kanalsysteme bewässerten
Gebiete ihre unterirdischen Wasserreserven aufgebraucht haben werden, wodurch die Provinz einen großen Teil ihrer Getreideernte einbüßen wird.21
16 USDA, Agricultural Resources and Environmental Indicators 2000 (Washington, DC:
Februar 2000), Kapitel 2.1, S. 6; Anteil der bewässerten Flächen berechnet auf Grundlage von
Angaben aus: FAO, ResourceSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org/site/405/
default.aspx, aktualisiert am 30. Juni 2007; Angaben zur Ernte aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2; Sandra Postel, Pillar of Sand (New York: W. W. Norton & Company, 1999), S. 77.
17 USDA, „Table 10: Irrigation 2002 and 1997“, 2002 Census of Agriculture, Vol. 1
(Washington, DC: Juni 2004), S. 319ff.
18 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Angaben über sinkende Wasserstände aus: „Pakistan: Focus on Water Crisis“, U.N. Integrated Regional Information Networks News, 17. Mai 2002.
19 Anm. d. Übersetzers: Die Organisation heißt inzwischen weltweit – außer in Kanada
und den USA – World Wide Fund for Nature, die Abkürzung WWF ist geblieben.
20 „Pakistan: Focus on Water Crisis“, op. cit. Anmerkung 18; Garstang zitiert in: „Water Crisis Threatens Pakistan: Experts“, Agence France-Presse, 26. Januar 2001.
21 Sardar Riaz A. Khan, „Declining Land Resource Base“, Dawn (Pakistan), 27. Sept. 2004.
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Wenn in Zukunft das Wasser aufgrund der Erschöpfung der Grundwasserleiter knapper wird, wird auch die Getreideernte Pakistans zweifellos geringer
ausfallen. Momentan steigt die Weizenernte – Weizen ist das wichtigste Grundnahrungsmittel – landesweit noch an, doch weitaus weniger stark als bisher.22
Der Iran, ein Land mit 71 Mio. Einwohnern, verzeichnet eine Überbelastung seiner Grundwasserleiter um etwa 5 Mrd. t Wasser jährlich; das entspricht
der Wassermenge, die nötig ist, um ein Drittel der gesamten iranischen Getreideernte zu produzieren. Unter der kleinen, aber landwirtschaftlich bedeutsamen
Chenaran-Ebene im Nordosten des Iran sank der Wasserspiegel in den späten
90er Jahren jährlich um 2,8 m – Grund dafür waren neu gebohrte Bewässerungsbrunnen sowie Brunnen zur Versorgung der nahe gelegenen Stadt Maschad.
Wegen der austrocknenden Brunnen verlassen im Osten des Iran immer mehr
Menschen ihre Dörfer und bilden einen Strom von „Wasserflüchtlingen“.23
Saudi-Arabien mit seinen 25 Mio. Einwohnern ist ebenso arm an Wasser,
wie es reich an Öl ist. Mithilfe massiver Subventionen hat man eine bewässerungsintensive Landwirtschaft aufgebaut, die größtenteils von dem tief gelegenen fossilen Grundwasserleiter des Landes abhängig ist. Nachdem man
mehrere Jahre lang den Weizenpreis künstlich auf einem Niveau gehalten hatte, das fünfmal höher lag als der Weltmarktpreis, musste sich die Regierung
schließlich der finanzwirtschaftlichen Realität stellen und die Subventionen
streichen. Daraufhin sank die Weizenernte zwischen 1992 und 2007 von 4,1
Mio. t auf 2,7 Mio. t – ein Rückgang um 34 %.24
Craig Smith dazu in der New York Times: „Aus der Luft sehen die runden
Weizenfelder dieses dürren Landes aus wie grüne Pokerchips, die man über
die braune Wüste verstreut hat. Doch sind sie zahlenmäßig den geisterhaften
Silhouetten der Felder unterlegen, die man sich selbst überlassen hat, damit sie
wieder im Sand versinken – Orte, an denen das Glückspiel des Königreichs mit
der Landwirtschaft dazu geführt hat, dass wertvolle Grundwasserleiter völlig
ausgesaugt wurden.“ Inzwischen pumpen saudische Bauern ihr Wasser teilweise aus Brunnen, die bis zu 1.200 m tief sind.25
In einer saudischen Studie aus dem Jahr 1984 heißt es, die fossilen Wasserreserven des Landes beliefen sich auf 462 Mrd. t, wobei nach Aussage von
Smith die Hälfte davon inzwischen höchstwahrscheinlich nicht mehr vorhanden ist. Dies lässt vermuten, dass die mithilfe von zusätzlicher Bewässerung
betriebene Landwirtschaft hier nur noch etwa 10 Jahre Bestand haben, danach
aber größtenteils verschwinden wird.26
22 USDA, op. cit. Anmerkung 2.
23 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Übermäßige Beanspruchung
der Wasserleiter unter der Chenaran-Ebene aus: Chenaran Agricultural Center, Landwirtschaftsministerium, Angaben von Hamid Taravati, Verleger, Iran, E-Mail an den Autor dieses Buches, 25. Juni 2002.
24 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung S. Smith, „Saudis Worry as They
Waste Their Scarce Water“, New York Times, 26. Januar 2003; Angaben zur Getreideproduktion aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2.
25 Smith, op. cit. Anmerkung 23.
26 Ebenda.
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Im benachbarten Jemen mit seinen 21 Mio. Einwohnern sinkt der Wasserspiegel im größten Teil des Landes jährlich um etwa 2 m, weil der Wasserverbrauch die für die Grundwasserleiter verträgliche Menge übersteigt. Im
Sanaa-Becken im Westen des Jemen übersteigt die geschätzte jährliche Entnahmemenge von 224 Mio. t die jährliche Auffüllmenge von 42 Mio. t um
das Fünffache, wodurch der Wasserspiegel jährlich um 6 m sinkt. Prognosen
der Weltbank deuten darauf hin, dass das Sanaa-Becken – in dem auch die
Landeshauptstadt Sanaa liegt und in dem 2 Mio. Menschen leben – bis 2010
leer gepumpt sein wird.27
Auf der Suche nach Wasser hat die jemenitische Regierung im Becken Testbohrungen vornehmen lassen, die bis zu 1.600 m tief gehen – das sind Tiefen,
die man normalerweise eher im Zusammenhang mit Ölbohrungen kennt – und
trotzdem ist man nicht auf Wasser gestoßen. Im Jemen muss man sich nun sehr
bald entscheiden, Sanaa möglicherweise von außen mit Wasser zu versorgen
– wenn man es sich leisten kann, über eine Pipeline von den Entsalzungsanlagen an der Küste aus – oder aber die Hauptstadt zu verlegen. Jede der beiden
Alternativen wäre kostspielig und hätte potenziell traumatische Folgen.28
Bei landesweit sinkenden Grundwasserspiegeln und einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 3 % wird der Jemen sehr schnell zu einem hydrologischen
Pflegefall werden. Nachdem die Getreideernten in den vergangenen 20 Jahren
um zwei Drittel zurückgegangen sind, ist der Jemen inzwischen gezwungen,
vier Fünftel seines Getreidebedarfs durch Importe zu decken, und da das Land
sowohl im Hinblick auf den Wasserverbrauch als auch in zeitlicher Hinsicht
„auf Pump“ lebt, ist es nicht verwunderlich, dass es jetzt bereits Platz 24 auf der
Liste der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten einnimmt.29
Obwohl Israel ein Vorreiter bei der Effizienzerhöhung in der Bewässerung
ist, beansprucht es doch seine beiden wichtigsten Grundwasserleiter – den an
der Küste und den in den Bergen, den man sich mit den Palästinensern teilt
– über die Maßen. Inzwischen hat Israel wegen der Wasserknappheit sogar die
Bewässerung von Weizen verboten, und auch die Konflikte zwischen den Israelis
und den Palästinensern wegen der Aufteilung des Wassers nehmen kein Ende.30
Auch in Mexiko, einem Land mit 107 Mio. Einwohnern, von dem man
annimmt, dass es bis 2050 132 Mio. sein werden, übersteigt der Bedarf an
27 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Angaben zur Wassersituation im
Jemen aus: Christopher Ward, „Yemen’s Water Crisis“, basierend auf einem Vortrag vor der
British Yemeni Society im September 2000, Juli 2001; Christopher Ward, The Political Economy of Irrigation Water Pricing in Yemen (Sanaa, Yemen: Weltbank, November 1998).
28 Marcus Moench, „Groundwater: Potenzial and Constraints“” in: Ruth S. MeinzenDick und Mark W. Rosegrant (Hrsg.), Overcoming Water Scarcity and Quality Constraints
(Washington, DC: International Food Policy Research Institute, Oktober 2001).
29 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Angaben zur Wassersituation im
Jemen aus: Ward, Political Economy of Irrigation Water Pricing, op. cit. Anmerkung 26; Angaben zu Getreideproduktion und -importen aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2, Aktualisiert am 13. September 2005; Fund for Peace und Carnegie Endowment for International
Peace, „The Failed States Index 2007“, Foreign Policy, Juli/August 2007, S. 57.
30 Deborah Camiel, „Israel, Palestinian Water Resources Down the Drain,” Reuters,
12. Juli 2000.
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Wasser die vorhandenen Reserven. Die Wasserprobleme von Mexiko-Stadt
sind allgemein bekannt, doch auch die ländlichen Gegenden leiden darunter.
Im landwirtschaftlich wichtigen Bundesstaat Guanjuato sinkt der Wasserspiegel jährlich um 2 m oder mehr. Im Bundesstaat Sonora im Nordwesten Mexikos haben die Landwirte ihr Wasser früher aus dem Hermosillo-Grundwasserleiter aus einer Tiefe von etwa 11 m gepumpt, inzwischen sind es mehr als
120 m. Wenn man das gesamte Land betrachtet, so stammen 51 % des aus
unterirdischen Reservoiren gepumpten Wassers aus bereits überbeanspruchten
Grundwasserleitern.31
Da in vielen Ländern praktisch simultan die Grundwasserleiter überbeansprucht werden, könnten auch die vollständige Erschöpfung derselben und die
daraus resultierende Abnahme der Ernten in mehreren Ländern ungefähr zur
gleichen Zeit eintreten. Und da die Entleerung der Grundwasserleiter immer
schneller fortschreitet, könnte dieser Tag schon sehr bald kommen – und einen
Lebensmittelmangel mit sich bringen, der sich als kaum noch beherrschbar
erweist.
DIE FLÜSSE TROCKNEN AUS
Während sinkende Grundwasserspiegel uns optisch größtenteils verborgen
bleiben, sind Flüsse, die vor dem Erreichen des Meeres austrocknen, deutlich
sichtbar. Zwei der Flüsse, bei denen dieses Phänomen bereits zu beobachten
ist, sind der Colorado, der größte Fluss im Südwesten der Vereinigten Staaten,
und der Hwangho, der größte Fluss in Nordchina. Zu den großen Flüssen,
die entweder dabei sind auszutrocknen oder in der Trockenzeit kaum mehr als
ein Rinnsal sind, gehören auch die Lebensader Ägyptens, der Nil; der Indus,
der den größten Teil des Wassers für die pakistanischen Bewässerungssysteme liefert, und der Ganges in Indiens dicht bevölkertem Gangesbecken. Viele
kleinere Flüsse sind bereits verschwunden.32
Da sich der weltweite Wasserbedarf in den letzten 50 Jahren verdreifacht hat
und der Bedarf an Wasserkraft noch schneller gestiegen ist, haben Dämme und
Umleitungen dazu geführt, dass viele Flüsse ausgetrocknet sind. Aufgrund der
gesunkenen Wasserspiegel sind die Quellen, die normalerweise die Flüsse speisen, ausgetrocknet, sodass die Flüsse nun weniger Wasser führen als zuvor.33
31 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Tushaar Shah et al., The Global
Groundwater Situation: Overview of Opportunities and Challenges (Colombo, Sri Lanka:
International Water Management Institute, 2000); Karin Kemper, „Groundwater Ma­
nagement in Mexico: Legal and Institutional Issues“, in: Salman M. A. Salman, (Hrsg.),
Groundwater: Legal and Policy Perspectives, Proceedings of a World Bank Seminar (Washington, DC: World Bank, 1999), S. 117; U.N. Development Programme (UNDP), Human
Development Report 2006 (Gordonsville, VA: Palgrave Macmillan, 2006), S. 146.
32 Angaben zu Colorado, Ganges, Indus und Nil aus: Postel, op. cit. Anmerkung 16, S. 59,
71ff., 94, 261f.; Angaben zum Hwangho aus: Lester R. Brown und Brian Halweil, „China’s
Water Shortages Could Shake World Food Security“, World Watch, Juli/August 1998, S. 11.
33 Angaben zur Verdreifachung des Wasserverbrauchs aus: Shiklomanov, op. cit. Anmerkung 2, S. 52.
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Seit 1950 ist die Zahl der großen Dämme, also derer, die über 15 m hoch
sind, von 5.000 auf 45.000 angewachsen. Jeder Damm entzieht dem jeweiligen Fluss einen Teil seines Wassers. Ingenieure behaupten zwar gern, die zur
Gewinnung von Elektrizität gebauten Dämme würden dem Fluss kein Wasser
entziehen, sondern lediglich seine Energie, doch das ist nicht ganz richtig, da
durch die Reservoire die Verdunstung höher ist. In ariden oder semi-ariden
Regionen, in denen die Verdunstungsraten ohnehin sehr hoch sind, verliert ein
Reservoir jährlich eine Wassermenge, die etwa 10 % seiner Speicherkapazität
entspricht.34
Der Colorado erreicht heute nur noch selten das Meer, weil die Bundesstaaten Colorado, Utah, Arizona, Nevada und vor allem Kalifornien, die auf das
Wasser des Colorado angewiesen sind, dem Fluss einfach alles Wasser entziehen, noch bevor er den Golf von Kalifornien erreicht. Durch diesen unglaublich hohen Wasserverlust wird langsam das gesamte Ökosystem des Flusses
einschließlich seiner Fischbestände zerstört.35
In Zentralasien ist die Situation ganz ähnlich. Dem Amu-Darja – der zusammen mit dem Syr-Darja den Aralsee speist – wird von den usbekischen
und turkmenischen Baumwollbauern flussaufwärts bereits das Wasser entzogen.
Ohne den Zufluss des Amu-Darja verhindert nur der Syr-Darja, der ebenfalls
zunehmend weniger Wasser führt, dass der Aralsee völlig austrocknet.36
Der chinesische Hwangho, der etwa 4.000 km weit durch fünf Provinzen
fließt, bevor er das Gelbe Meer erreicht, ist schon seit Jahrzehnten einem zunehmenden Druck ausgesetzt. 1972 trocknete er zum ersten Mal aus, und seit 1985
ist es häufig vorgekommen, dass er das Meer nicht mehr erreicht hat.37
Der Nil, Heimat einer anderen alten Zivilisation, schafft es inzwischen kaum
noch bis zum Meer. Die Wasserexpertin Sandra Postel stellt in Pillar of Sand fest,
dass vor dem Bau des Assuanstaudamms jährlich etwa 32 Mrd. m3 Wasser über
den Nil ins Mittelmeer gelangten. Nach Fertigstellung des Staudamms haben
der zunehmende Wasserbedarf zur Bewässerung, die Verdunstung und andere
Beanspruchungen dazu geführt, dass diese Zahl auf unter 2 Mrd. m3 sank.38
Ebenso wie im Falle Ägyptens bildet auch in Pakistan ein Fluss die zivilisatorische Grundlage des Landes, und so ist das Land stark vom Indus abhängig.
Dieser Fluss, der im Himalaja entspringt und gen Westen in den Indischen
Ozean abfließt, liefert nicht nur überirdisch Wasser, sondern füllt auch die
Grundwasserleiter auf, die die Bewässerungsbrunnen überall in Pakistan speisen. Angesichts des steigenden Wasserbedarfs beginnt jedoch auch dieser Fluss
an seinem Unterlauf bereits auszutrocknen. Das heißt, dass Pakistan, von dem
man annimmt, dass die Bevölkerungszahl von derzeit 164 Mio. bis 2050 auf
34 Sandra Postel, Last Oasis (New York: W. W. Norton & Company, 1997), S. 38f.;
World Commission on Dams, Dams and Development: A New Framework for Decision-Making (London: Island Press, 2000), S. 8.
35 Postel, op. cit. Anmerkung 16, S. 261f.; Jim Carrier, „The Colorado: A River Drained
Dry“, National Geographic, Juni 1991, S. 4-32.
36 UNEP, Afghanistan: Post-Conflict Environmental Assessment (Genf: 2003), S. 60.
37 Brown and Halweil, op. cit. Anmerkung 31.
38 Postel, op. cit. Anmerkung 16, S. 71, 146.
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292 Mio. ansteigen wird, und das auf der Liste der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten bereits jetzt Rang 12 einnimmt, vor einem ernsten
politischen Problem steht.39
In Südostasien nimmt die Wassermenge des Mekong durch die Dämme, die
die Chinesen an seinem Oberlauf bauen, stetig ab. Die stromabwärts gelegenen
Länder wie Kambodscha, Laos, Thailand und Vietnam – Länder mit insgesamt
172 Mio. Einwohnern – beklagen sich über die verminderte Wassermenge des
Mekong, doch bislang hatte dies kaum einen Einfluss auf Chinas Bestrebungen,
das Wasser und die Wasserkraft des Flusses auszunutzen.40
An Euphrat und Tigris, die in der Türkei entspringen und über Syrien und
den Irak in den Persischen Golf fließen, besteht das gleiche Problem. Dieses
Flusssystem, einst Siedlungsort der sumerischen und anderer früher Zivilisationen, wird ebenfalls überbeansprucht. Durch die großen Dämme in der
Türkei und im Irak nimmt die Wassermenge, die in das Gebiet des einstigen
„fruchtbaren Halbmondes“ fließt, immer mehr ab, wodurch bereits 80 % der
einst riesigen und fruchtbaren Feuchtgebiete des Deltas zerstört wurden.41
In jedem der eben erwähnten Flusssysteme wird buchstäblich das gesamte
Wasser des Beckens genutzt. Wenn aber die Menschen flussaufwärts mehr
Wasser entnehmen, so ist es unausweichlich, dass diejenigen flussabwärts weniger bekommen. Aus diesem Grunde wird die Verteilung des vorhandenen
Wassers zu einem wichtigen Bestandteil der neuen Politik im Zusammenhang
mit dem zunehmenden Mangel an bestimmten Ressourcen werden, wobei das
Problem darin bestehen wird, einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen
Interessengruppen, sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischen mehreren
Ländern, zu erreichen.
DIE SEEN VERSCHWINDEN
Wenn den Flüssen das Wasser entzogen wird oder sie sogar ganz austrocknen
und die Wasserspiegel wegen Überbeanspruchung sinken, schrumpfen auch
die Seen und in einigen Fällen verschwinden sie ganz. Wie meine Kollegin
Janet Larsen feststellte, handelt es sich bei den Seen, die dabei sind auszutrocknen, um einige der bekanntesten Seen der Welt – darunter der Tschadsee in
Zentralafrika, der Arasee in Zentralasien und der See Genezareth, der auch als
See von Tiberias bekannt ist.42
Megan Goldin, Reporterin bei Reuters, schreibt, aufgrund zurückweichender Ufer könne inzwischen „jeder einfache Sterbliche das Wunder vollbringen, über den See Genezareth zu gehen“. Als ich das erste Mal sah, wie der
39 Ebenda, S. 56ff.; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Fund for Peace
und Carnegie Endowment, op. cit. Anmerkung 28. S. 57.
40 Moench, op. cit. Anmerkung 27; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1.
41 Curtis J. Richardson et al., „The Restoration Potenzial of the Mesopotamian Marshes
of Iraq“, Science, Vol. 307 (25. Februar 2005), S. 1307ff.
42 Janet Larsen, „Disappearing Lakes, Shrinking Seas“, Eco-Economy Update (Washington, DC: Earth Policy Institute, 7. April 2005).
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Jordan aus Syrien nach Israel fließt, offenbarte sich mir, wie schwach der Fluss
ist; in vielen Ländern hätte man ihn wohl höchstens als Flüsschen oder Bach
bezeichnet. Und doch bildet der Jordan den Hauptzufluss des Sees Genezareth,
in den er am Nordende einmündet und ihn am Südende wieder verlässt, bevor
er nach weiteren 105 km in südlicher Richtung ins Tote Meer mündet.43
Da die vom Jordan geführte Wassermenge auf seinem Weg durch Israel
weiter abnimmt, schrumpft das Tote Meer noch weitaus schneller als der See
Genezareth. In den vergangenen 40 Jahren ist sein Wasserspiegel um etwa 25
m gesunken und bis 2050 könnte es völlig verschwunden sein.44
Von allen schrumpfenden Seen und Binnenmeeren hat wohl keiner bzw.
keines so viel Aufmerksamkeit erhalten wie der Aralsee. Seine Häfen, einst die
Handelszentren der Region, liegen jetzt verlassen da und sehen aus wie die
Geisterstädte der Goldgräber im amerikanischen Westen. Der Aralsee, einst einer der größten Süßwasserseen der Welt, hat seit 1960 vier Fünftel seiner Größe eingebüßt. Die Schiffe, die einst auf seinen Wasserrouten unterwegs waren,
stecken jetzt im Sand des alten Seebodens fest – und kein Wasser in Sicht.45
Der Untergang des Aralsees wurde schon 1960 eingeleitet, als die sowjetischen Zentralplaner in Moskau entschieden, die Region um Syr-Darja und
Amu-Darja sollte als riesiges Baumwollanbaugebiet zur Versorgung der Textilindustrie des Landes dienen.46
Mit der Ausweitung des Baumwollanbaus wurde auch immer mehr Wasser
aus den beiden Zuflüssen des Aralsees umgeleitet. Als der See zu schrumpfen
begann, stieg die Salzkonzentration so stark an, dass die Fische starben. Die
einst blühende Fischindustrie, die jährlich 50.000 t Meeresprodukte lieferte,
verschwand und mit ihr die Arbeitsplätze auf den Fischereischiffen und in den
Fisch verarbeitenden Betrieben.47
Nachdem dem See aus den beiden Flüssen statt vorher 65 Mrd. m3 jährlich
nur noch 1,5 Mrd. m3 Wasser zufließen, stehen die Chancen für eine Umkehrung des Schrumpfungsprozesses nicht gut, auch wenn lokal einzelne Erfolge
zu verzeichnen sind. Da die Küstenlinie inzwischen 250 km von den alten
Hafenstädten entfernt verläuft, liegt jetzt ein riesiges Areal des alten Seebodens frei. Jeden Tag nimmt der Wind Tausende Tonnen an Sand und Salz von
diesem freiliegenden trockenen Seeboden auf und verteilt die Partikel durch
43 Megan Goldin, „Israel’s Shrinking Sea of Galilee Needs Miracle“, Reuters, 14. August
2001; Angaben zum Jordan aus: Annette Young, „Middle East Conflict Killing the Holy
Water“, The Scotsman, 12. September 2004.
44 Caroline Hawley, „Dead Sea ‘to Disappear by 2050“, BBC, 3. August 2001; Gidon
Bromberg, „Water and Peace“, World Watch, Juli/August 2004, S. 24ff.
45 Quirin Schiermeier, „Ecologists Plot to Turn the Tide for Shrinking Lake“, Nature,
Vol. 412 (23. August 2001), S. 756.
46 „Sea to Disappear within 15 Years“, News 24, 22. Juli 2003; Caroline Williams,
„Long Time No Sea“, New Scientist, 4. Januar 2003, S. 34ff.
47 Fred Pearce, „Poisoned Waters“, New Scientist, 21. Oktober 1995, S. 29ff; Williams,
op. cit. Anmerkung 45.
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die Luft über das umliegende Gras- und Ackerland, wodurch diese stark an
Fruchtbarkeit einbüßen.48
Auf einer Konferenz der sowjetischen Akademie der Wissenschaften im Jahr
1990 zur Zukunft des Aralsees gab es für ausländische Teilnehmer die Möglichkeit, an einem Rundflug über den See teilzunehmen. Als wir in einem
altmodischen einmotorigen Doppeldeckerflugzeug, das aussah, als stamme es
noch aus dem Zweiten Weltkrieg, in geringer Höhe über den trockenen, salzbedeckten Boden des Sees flogen, erschien es mir, als blickten wir auf die Oberfläche des Mondes. Es gab keine Vegetation, kein Anzeichen für irgendwelches
Leben, nur absolute Einöde.
In China ist das Verschwinden von Seen wohl am auffälligsten. In der Provinz Qinghai im Westen Chinas, durch die auch der Hauptarm des Hwangho
fließt, gab es einst 4.077 Seen, doch in den letzten 20 Jahren sind mehr als
2.000 davon verschwunden. In der Provinz Hebei, in der auch Peking liegt, ist
die Situation noch weitaus schlimmer. Da in der gesamten Region die Wasserspiegel rasend schnell sinken, hat die Provinz inzwischen 969 ihrer einst 1.052
Seen eingebüßt.49
Auch in Mexiko wächst die Bevölkerung so stark, dass die Wasserversorgung
bald nicht mehr gewährleistet sein könnte. Der Chapalasee ist der größte See
des Landes und die Hauptwasserquelle für Guadalajara, eine Stadt mit 4 Mio.
Einwohnern. Doch die Ausweitung der Bewässerung in der Region hat dazu geführt, dass die Wassermenge des Sees stark gesunken ist, insgesamt um 80 %.50
Auf allen Kontinenten verschwinden Seen von den Landkarten und die
Gründe sind überall dieselben: exzessive Umleitungen des Wassers aus den
Flüssen und massive Überbeanspruchung der Grundwasserleiter. Zwar kann
niemand genau sagen, wie viele Seen in den letzten 50 Jahren verschwunden
sind, doch eines wissen wir: Tausende Seen sind inzwischen nur noch auf alten
Landkarten zu finden.
DIE BAUERN VERLIEREN DEN ZUNEHMEND AUSSICHTSLOSEREN KAMPF GEGEN DIE STÄDTE
Die Schlagzeilen werden heute beherrscht von den Wasserkonflikten zwischen
einzelnen Ländern. Doch innerhalb der Länder müssen sich die Politiker auf
lokaler Ebene eher mit dem Wettbewerb zwischen den Städten und den Bauern
um das vorhandene Wasser auseinandersetzen. Unter dem Gesichtspunkt der
Wirtschaftlichkeit des Wasserverbrauchs stehen die Chancen für die Bauern
48 Larsen, op. cit. Anmerkung 41; NASA, Earth Observatory, „Aral Sea“ unter earthobservatory.nasa.gov/Newsroom/NewImages/images.php3?img_id=16277, eingesehen am
25. Januar 2005; Alex Kirby, „Kazakhs ‘to Save North Aral Sea’“ BBC, 29. Oktober 2003.
49 Li Heng, „20 Natural Lakes Disappear Each Year in China“, People’s Daily, 21. Oktober 2002; „Glaciers Receding, Wetlands Shrinking in River Fountainhead Area“, China
Daily, 7. Januar 2004.
50 Jim Carlton, „Shrinking Lake in Mexico Threatens Future of Region“, Wall Street
Journal, 3. September 2003; U. N. Population Division, World Urbanization Prospects: 2005
Revision, elektronische Datenbank unter esa.un.org/unup, aktualisiert im Oktober 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
in diesem Wettbewerb nicht gut, weil bei der Lebensmittelproduktion einfach
sehr viel Wasser verbraucht wird. Während man zur Herstellung von 1 t Stahl
im Wert von 560 $ nur 14 t Wasser benötigt, braucht man 1.000 t Wasser, um
1 t Weizen zu produzieren, die nur 200 $ wert ist. In Ländern, die in erster Linie damit beschäftigt sind, ihre Wirtschaft auszubauen und neue Arbeitsplätze
zu schaffen, muss deshalb die Landwirtschaft in der Regel hintanstehen.51
Viele der größten Städte der Welt liegen an Einzugsgebieten von Flüssen,
wo bereits das gesamte verfügbare Wasser verbraucht wird. Solche Städte, wie
Mexiko-Stadt, Kairo oder Peking, können einen erhöhten Wasserverbrauch nur
über den Import von Wasser aus anderen Stromgebieten decken oder indem sie
es von der Landwirtschaft abzweigen, und so kommt es, dass die Städte der Welt
ihren Wasserbedarf heute zunehmend dadurch befriedigen, dass sie den Bauern
das Wasser für die Bewässerung streitig machen. In den USA gilt das unter anderem für die Städte San Diego, Los Angeles, Las Vegas, Denver und El Paso.52
Der Wettbewerb zwischen Bauern und Städten um das vorhandene Wasser
verschärft sich in ganz Indien, doch in Chennai (ehemals Madras), einer Stadt
mit 7 Mio. Einwohnern an der Ostküste Südindiens, ist dieser Konflikt besonders deutlich zu spüren. Da sich die Stadtregierung als unfähig erwiesen hat,
alle Einwohner der Stadt mit Wasser zu versorgen, ist eine blühende Industrie
entstanden, die den Bauern außerhalb der Stadt Wasser abkauft und es in Tankwagen in die Stadt bringt, um die durstigen Einwohner zu versorgen.53
Die Bauern tun dies, weil der Preis, den sie mit dem Verkauf des Wassers
erzielen, weitaus größer ist als der, den sie mit den von ihnen produzierten Lebensmitteln erzielen könnten. Unglücklicherweise stammt jedoch das Wasser,
das die Tankwagen nach Chennai bringen, aus unterirdischen Wasserreservoiren, sodass die Wasserspiegel sinken und nicht allzu tief gehende Brunnen bereits ausgetrocknet sind. Wenn schon bald auch die tiefer gehenden Brunnen
versiegen, werden die dortigen Gemeinden sowohl ihrer Nahrungsmittelversorgung als auch ihrer Lebensgrundlage beraubt sein.54
Im Jahr 2004 mussten chinesische Bauern am Fluss Juma südlich von Peking plötzlich feststellen, dass der Fluss einfach verschwunden war. Nahe der
Hauptstadt hatte man einen Damm gebaut, um für Yanshan Petrochemical,
ein staatliches Unternehmen, einen Teil des Flusswassers umzuleiten. Die Bauern protestierten zwar heftig dagegen, doch letztlich war es ein aussichtsloser
51 Angaben über zur Stahlherstellung benötigte Wassermenge aus: Postel, op. cit. Anmerkung 33; Angaben darüber, dass zur Produktion einer Tonne Getreide 1.000 Tonnen
Wasser benötigt werden, aus: FAO, op. cit. Anmerkung 10; Stahlpreis aus: Internationaler
Währungsfond, International Financial Statistics unter ifs.apdi.net, Juli 2007; Weizenpreis
aus: Chicago Board of Trade, „Market Commentaries“, verschiedene Daten, unter www.
cbot.com.
52 Noel Gollehon und William Quinby, „Irrigation in the American West: Area, Water
and Economic Activity“, Water Resources Development, Vol. 16, Nr. 2 (2000), S. 187ff.;
Postel, op. cit. Anmerkung 33, S. 137.
53 R. Srinivasan, „The Politics of Water“, Info Change Agenda, Ausgabe 3 (Oktober
2005); U. N. Population Division, op. cit. Anmerkung 49.
54 Srinivasan, op. cit. Anmerkung 52; Pearce, op. cit. Anmerkung 11.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kampf. Und das, obwohl der Damm und der daraus resultierende Wasserverlust für die 120.000 Bewohner von Dörfern flussabwärts bedeuten könnte, dass
sie nicht mehr in der Lage wären, mit der Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt
zu verdienen.55
Auch Hunderte Städte in anderen Ländern decken ihren wachsenden Wasserbedarf, indem sie einen Teil des Wassers von den Bauern abzweigen. Die
historische Stadt Izmir im Westen der Türkei beispielsweise ist stark von den
Brunnenfeldern (ein Netzwerk von Brunnen, die untereinander durch Röhren
verbunden sind) des angrenzenden Landwirtschaftsgebiets Manisa abhängig.56
Im Süden der Great Plains und im Südwesten der USA, wo inzwischen
praktisch alles Wasser fest verplant ist, kann der wachsende Wasserbedarf der
Städte und Tausender kleinerer Orte nur dadurch gedeckt werden, dass man
der Landwirtschaft Wasser entzieht. In jeder Ausgabe der in Kalifornien monatlich erscheinenden Zeitschrift The Water Strategist werden einige Seiten lang
die Verkäufe von Wasserrechten im Westen der Vereinigten Staaten im Vormonat aufgelistet. Es vergeht praktisch kein Tag ohne einen solchen Verkauf. Laut
einer Studie der University of Arizona, in der mehr als 2.000 solcher Wassertransfers zwischen 1987 und 2005 untersucht wurden, verkaufen in 8 von 10
Fällen einzelne Bauern oder ganze Bewässerungsbezirke ihre Rechte an Städte
oder Gemeinden.57
Colorado, ein Bundesstaat mit hoher Zuwanderungsrate, hat einen der aktivsten Wassermärkte der Welt, auf dem die schnell anwachsenden Städte aller Größenordnungen den Landwirten ihre Wasserrechte abkaufen. Colorado
Springs und Aurora (ein Vorort von Denver), beide im oberen Becken des Arkansas gelegen, das den südöstlichen Teil des Bundesstaates einnimmt, haben
bereits die Wasserrechte für ein Drittel des Ackerlandes im Becken aufgekauft.
Aurora beispielsweise hält die Rechte an Wasser, das einst dazu benutzt wurde,
9.600 ha Ackerland im Tal des Arkansas zu bewässern.58
Doch die Städte in Kalifornien tätigen noch weit größere Käufe. 2003 kaufte San Diego von Bauern im nahegelegenen Imperial Valley die Jahresrechte
für 247 Mio. t Wasser auf. Das war der größte Wassertransfer zwischen Stadt
und Land in der US-Geschichte, und das Abkommen gilt für die nächsten 75
Jahre. 2004 hat der Metropolitan Water District, der 18 Mio. Menschen in Südkalifornien mit Wasser versorgt, mit Farmern über den Verkauf von jährlich
137 Mio. m3 Wasser für die nächsten 35 Jahre verhandelt. Ohne das Wasser
zur Bewässerung ist das fruchtbare Land dieser Bauern nur noch Ödland. Die
Bauern, die ihre Wasserrechte verkaufen, würden gern weiterhin Landwirtschaft betreiben, doch die Vertreter der Städte bieten ihnen für das Wasser
55 „China Politics: Growing Tensions Over Scarce Water“, The Economist, 21. Juni 2004.
56 Shah et al., op. cit. Anmerkung 30.
57 Gollehon und Quinby, op. cit. Anmerkung 51; The Water Strategist, verschiedene
Ausgaben, einsehbar unter www.waterstrategist.com; Jedidiah Brewer et al., „Water Markets
in the West: Prices, Trading and Contractual Forms“, Arizona Legal Studies Discussion Paper
No. 07-07 (8. Februar 2007).
58 Angaben zum Arkansas-Becken aus: Joey Bunch, „Water Projects Forecast to Fall
Short of Needs: Study Predicts 10% Deficit in State“, Denver Post, 22. Juli 2004.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
weitaus mehr, als sie je verdienen könnten, wenn sie es zur Bewässerung ihrer
Felder nutzen würden.59
Die Bauern weltweit verlieren den Kampf um das Wasser: ob durch eine
offene Enteignung durch den Staat, durch die Niederlage gegenüber den Städten im Wettbewerb um das Wasser oder dadurch, dass Städte einfach tiefere
Brunnen bohren, als die Bauern es sich leisten können. In vielen Fällen sehen
sie sich nicht nur mit sinkenden Wasserreserven konfrontiert, sondern auch
noch mit dem Zusammenschrumpfen ihres Anteils an diesen sinkenden Reserven. Langsam aber sicher graben die Städte den Bauern weltweit buchstäblich
das Wasser ab, während die Bauern ihr Möglichstes tun, jährlich etwa 70 Mio.
Menschen mehr mit Nahrung zu versorgen.60
DER MANGEL ÜBERSCHREITET DIE LANDESGRENZEN
Historisch gesehen war Wassermangel immer ein lokales Problem, und es
war die Aufgabe der jeweiligen Regierung, Wasserangebot und -nachfrage im
Gleichgewicht zu halten. Jetzt, da die Knappheit infolge des internationalen
Getreidehandels zu einem grenzüberschreitenden Problem wird, ändert sich
das. Da man, wie bereits erwähnt, zur Produktion von 1 t Getreide 1.000 t
(1.000 m3) Wasser benötigt, ist der Import von Getreide der effizienteste Weg,
Wasser zu importieren. Tatsächlich benutzen einige Länder Getreide, um ihre
Wasserbilanzen auszugleichen, denn im Grunde genommen ist der Handel mit
Termingeschäften für Getreide ein Handel mit Termingeschäften für Wasser.61
Hinter China und Indien rangieren weitere Länder mit großen Wasserdefiziten – Algerien, Ägypten, der Iran, Mexiko und Pakistan. Drei von ihnen
– Algerien, Ägypten und Mexiko – importieren bereits einen Großteil ihres
Getreides, und angesichts der Tatsache, dass seine Bevölkerungszahl bereits so
groß ist, dass die Wasserkapazitäten kaum mehr ausreichen, wird wohl auch
Pakistan bald dazu übergehen, Getreide auf dem Weltmarkt aufzukaufen.62
Der Nahe Osten und Nordafrika – von Marokko im Westen bis zum Iran
im Osten – haben sich zum weltweit am schnellsten wachsenden Importmarkt
für Getreide entwickelt. Die wachsende Nachfrage nach Getreide ist einerseits
auf die schnell anwachsende Bevölkerung und andererseits auf den wachsenden Wohlstand zurückzuführen, der größtenteils auf den Erdölexporten basiert. Da praktisch jedes Land in dieser Region im Bezug auf die Wasserversorgung bereits an seine Grenzen stößt, kann die wachsende Wassernachfrage aus
den Städten nur dadurch befriedigt werden, dass die Landwirtschaft weniger
Wasser zur Bewässerung erhält.63
59 Dean Murphy, „Pact in West Will Send Farms’ Water to Cities“, New York Times,
17. Oktober 2003; Tim Molloy, „California Water District Approves Plan to Pay Farmers
for Irrigation Water“, Associated Press, 13. Mai 2004.
60 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1.
61 FAO, op. cit. Anmerkung 10.
62 Angaben zum Getreide aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2.
63 Angaben zum Getreide aus: USDA, Foreign Agricultural Service, Grain: World Markets and Trade (Washington, DC: diverse Jahrgänge).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Ägypten mit seinen etwa 75 Mio. Einwohnern ist in den letzten Jahren zu
einem der größten Importeure von Weizen geworden und konkurriert heute
mit Japan – einst der führende Weizenimporteur weltweit – um den ersten
Platz. Das Land importiert inzwischen 40 % seines Gesamtbedarfs an Getreide
und diese Zahl steigt stetig, da der Bedarf der weiter anwachsenden Bevölkerung durch die Getreideernte an den Wassern des Nil nicht mehr gedeckt
werden kann. Und auch Algerien mit seinen 34 Mio. Einwohnern importiert
bereits mehr als die Hälfte seines Getreidebedarfs.64
Insgesamt entsprach die Wassermenge, die zur Produktion des Getreides
und anderer im vergangenen Jahr in den Nahen Osten und Nordafrika importierter landwirtschaftlicher Produkte benötigt wurde, ungefähr der Wassermenge, die dem Nil jährlich bei Assuan entzogen wird. Im Grunde kann man
sich das Wasserdefizit der Region als einen zweiten Nil vorstellen, der in Form
von importierten Lebensmitteln in die Region fließt.65
Es wird oft behauptet, in Zukunft würden die Kriege im Nahen Osten eher
um Wasser als um Erdöl geführt werden, doch der Wettbewerb um das Wasser
findet auf dem Weltmarkt für Getreide statt. Und in diesem Wettbewerb werden nicht notwendigerweise die militärisch stärksten Länder die besten Chancen haben, sondern die finanziell stärksten.
Um zu wissen, wo der Bedarf für Getreideimporte in Zukunft am höchsten sein wird, muss man sich anschauen, wo sich heute schon Wasserdefizite
entwickeln. Bisher waren es die eher kleineren Länder, die einen Großteil ihres
Getreides importieren mussten. Doch jetzt sehen wir die rasant anwachsenden
Wasserdefizite in China und Indien, beides Länder mit mehr als 1 Mrd. Einwohnern.66
Wie bereits angemerkt ist die Überbeanspruchung der Grundwasserleiter
ein Weg zur Befriedigung des wachsenden Nahrungsmittelbedarfs, bei dem
nach Erschöpfung derselben ein Rückgang der Lebensmittelproduktion praktisch garantiert ist. Viele Länder schaffen momentan im Grunde eine „Seifenblasenwirtschaft im Lebensmittelbereich“ – eine Wirtschaft, in der die Lebensmittelproduktion durch das ökologisch nicht mehr verträgliche Abpumpen des Grundwassers künstlich aufgeblasen wird. Doch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wann der Punkt erreicht sein wird, ab dem der
Wassermangel sich direkt in einen Nahrungsmittelmangel verwandelt. David
Seckler und seine Kollegen vom International Water Management Institute, der
weltweit führenden Forschungsgruppe im Bereich Wasser, hat dieses Problem
sehr gut zusammengefasst: „Viele der bevölkerungsreichsten Länder der Welt
– China, Indien, Pakistan, Mexiko und fast alle Länder des Nahen Ostens und
64 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Angaben zum Getreide aus:
USDA, op. cit. Anmerkung 2.
65 Vergleich zum Nil aus: Postel, op. cit. Anmerkung 16, S. 77; Angaben zu Getreideimporten aus: USDA, op. cit. Anmerkung 2; Berechnung basiert auf der Annahme, dass
man 1.000 t Wasser benötigt, um 1 t Getreide zu produzieren, aus: FAO, op. cit. Anmerkung 10.
66 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1; Angaben zum Getreide aus:
USDA, op. cit. Anmerkung 2.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Nordafrikas – sind in den vergangenen 20 oder 30 Jahren durch das Leerpumpen ihrer Grundwasserreservoire quasi ,schwarz gefahren’. Die Strafe für den
falschen Umgang mit dieser wertvollen Ressource wird nun fällig, und es ist
nicht übertrieben zu sagen, dass die Folgen für diese Länder – und angesichts
ihrer Bedeutung die Folgen für die ganze Welt – katastrophal sein könnten.“67
Da sich die weltweite Getreideernte zwischen 1950 und 2000 dank der
Ausweitung der Bewässerung verdreifacht hat, ist es nicht überraschend, dass
die Wasserverluste nun zu einem Absinken der Ernten führen können. Beim
Wasser zur Bewässerung befinden sich viele Länder im klassischen Modus der
Überbeanspruchung und des anschließenden Rückgangs. Wenn die Länder,
die ihre Reserven überbeanspruchen, nicht schnellstmöglich beginnen, ihren
Wasserverbrauch zu reduzieren und ihre Grundwasserspiegel zu stabilisieren,
ist ein Rückgang der Lebensmittelproduktion letztlich fast unausweichlich.68
DIE WASSERKNAPPHEIT FÜHRT ZU POLITISCHEM DRUCK
Normalerweise machen wir den Reichtum und Wohlstand eines Landes an
wirtschaftlichen Faktoren fest, doch wenn es um Wasser geht, müssen wir ihn
daran messen, wie viele Kubikmeter oder Tonnen Wasser jedem Einzelnen
in diesem Land zur Verfügung stehen. Ein Land, in dem jeder Einwohner
pro Jahr 1.700 m3 Wasser verbrauchen kann, verfügt sicher über ausreichend
Wasser und ist ohne Schwierigkeiten in der Lage, den Bedarf seiner Landwirtschaft, seiner Industrie und den persönlichen Bedarf seiner Einwohner zu
decken. Verfügt ein Land über weniger, stellen sich die ersten Probleme ein.
Sinkt die Wassermenge, die pro Kopf zur Verfügung steht, unter 1.000 m3, so
tritt bereits ein Mangel ein, und unterhalb von 500 m3 ist der Mangel bereits
akut. Ab diesem Punkt spricht man davon, dass Menschen unter Wasserarmut
leiden – ihnen steht nicht genügend Wasser zur Verfügung, um Lebensmittel produzieren zu können und in einigen Fällen nicht einmal genügend für
grundlegende Gesundheitspflege.69
Die Länder, die in dieser Hinsicht den stärksten Belastungen ausgesetzt
sind, sind die in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Menschen in Marokko
und Ägypten haben pro Kopf und Jahr nur 1.000 m3 Wasser zur Verfügung,
in Algerien, Tunesien und Libyen sind es sogar nur 500 m3. Und in einigen
Ländern, darunter Saudi-Arabien, der Jemen, Kuwait und Israel, müssen die
Menschen mit weniger als 300 m3 auskommen. Auch einige Länder südlich
der Sahara, darunter Kenia und Ruanda, spüren die aus dem Wassermangel
resultierenden Belastungen bereits deutlich.70
67 David Seckler, David Molden und Randolph Barker, „Water Scarcity in the TwentyFirst Century“, Water Brief 1 (Colombo, Sri Lanka: International Water Management Institute, 1999), S. 2.
68 USDA, op. cit. Anmerkung 2; FAO, op. cit. Anmerkung 16.
69 UNDP, op. cit. Anmerkung 30, S. 135.
70 FAO, AQUASTAT, elektronische Datenbank unter www.fao.org/nr/aquastat, aktualisiert am 11. Februar 2003.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Obwohl die statistischen Angaben darüber, wie viel Wasser den Menschen
in den drei bevölkerungsreichsten Ländern der Erde – China, Indien und den
Vereinigten Staaten – pro Kopf durchschnittlich zur Verfügung steht, vermuten lassen, dass die Bewohner dieser Länder ausreichend mit Wasser versorgt
sind, gibt es in diesen Ländern doch Regionen, die jetzt bereits unter akutem
Wassermangel leiden. So ist in der Nordhälfte Chinas Wasser absolute Mangelware, das Gleiche gilt für den Nordwesten Indiens und für die südwestlichen
Bundesstaaten der USA, von Texas bis Kalifornien.71
Obwohl die Gefahr weltweiter Wasserkonflikte sehr real ist, hat es bisher
doch bemerkenswert wenige Kriege um Wasser gegeben. Derartige Spannungen
wegen der Verteilung von Wasserressourcen bauen sich in der Regel eher innerhalb einer Gesellschaft auf, insbesondere wenn Wasser ohnehin bereits knapp
und das Bevölkerungswachstum sehr hoch ist. In den vergangenen Jahren hat
es in zahlreichen Ländern derartige Wasserkonflikte gegeben. Die häufigste
Form dabei ist sicher der bereits beschriebene Wettbewerb von Bauern und
Stadtbewohnern um Wasser, besonders in Ländern wie China, Indien und dem
Jemen. In anderen Ländern, wie beispielsweise in Kenia, finden die Konflikte
eher zwischen verschiedenen Stämmen statt, in Ländern wie Indien und China
eher zwischen verschiedenen Dörfern und in wieder anderen, wie in Pakistan
und teilweise in China, zwischen flussaufwärts und flussabwärts lebenden Verbrauchern. In einigen Ländern, beispielsweise in Kenia, Pakistan und China, ist
es lokal sogar schon zu gewalttätigen Auseinandersetzungen über die Wasserver­
teilung gekommen, die zum Teil sogar Todesopfer gefordert haben.72
In der ariden Provinz Belutschistan im Südwesten Pakistans sinken überall
die Grundwasserspiegel, weil die durch die Zuwanderung afghanischer Flüchtlinge noch schneller wachsende Bevölkerung den Grundwasserleitern schneller das Wasser entziehen, als diese sich wieder auffüllen können. Wie bereits
erwähnt ist die Situation in Quetta, der Hauptstadt der Provinz, besonders angespannt. Naser Faruqui, Forscher am kanadischen International Development
Research Centre, beschreibt die Situation folgendermaßen: „Derzeit leben dort
mehr als 1 Million Menschen, viele von ihnen Flüchtlinge aus Afghanistan,
sodass die Möglichkeit, dass es wegen der Verteilung der abnehmenden Wasserressourcen zu Konfrontationen oder sogar zu einer Massenmigration heraus
aus der Stadt kommt, nur allzu real ist.“73
Etwas weiter westlich, im Irak, macht man sich große Sorgen, dass Dammbauten über den Euphrat in der Türkei und, wenn auch in geringerem Maße,
in Syrien, dazu führen könnten, dass der Irak nicht mehr genügend Wasser
71 Durchschnittswerte für die einzelnen Länder aus: ebenda; World Resources Institute, Annual Renewable Water Supply per Person by River Basin, 1995, unter earthtrends.wri.
org/maps_spatial, aktualisiert 2000.
72 „World Conflict Chronology“, Tabelle in: Gleick et al., op. cit. Anmerkung 11, S.
192-213; UNDP, op. cit. Anmerkung 30, S. 177f.; „At Least 14 Killed as Kenyan Tribes
Clash over Scarce Water Supplies“, Associated Press, 25. Januar 2005; „Pakistanis Clash Over
Water, 12 Hurt“, Reuters, 20. Juni 2006.
73 Naser I. Faruqui, „Responding to the Water Crisis in Pakistan“, Water Resources Development, Vol. 20, Nr. 2 (Juni 2004), S. 177-192.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse des Landes erhält. Die Wassermenge, die der Euphrat – einst Geburtsstätte der sumerischen Zivilisation
– noch führt, wenn er im Irak ankommt, ist in den letzten Jahrzehnten bereits
um etwa die Hälfte gesunken.74
Ein weiterer Krisenherd ist Israel, hier bietet die Art und Weise, wie die
Wasserressourcen zwischen Israelis und Palästinensern aufgeteilt werden, immer wieder Konfliktstoff. In einem Bericht der UN heißt es: „Nirgendwo sonst
treten die Probleme in Bezug auf Kontrolle über die Wasserverteilung so deutlich zutage wie in den besetzten Gebieten“. Die Palästinenser gehören zu den
Völkern, die wohl am stärksten unter Wassermangel leiden. Doch das Problem
liegt nicht nur im Wassermangel an sich, die Streitigkeiten entzünden sich auch
immer wieder an der ungleichen Verteilung der Wasserressourcen. Die israelische Bevölkerung ist ungefähr doppelt so groß wie die palästinensische, erhält
aber die siebenfache Wassermenge, sodass, wie auch andere bereits angemerkt
haben, der Frieden in der Region auch von einer gerechteren Verteilung des
Wassers in der Region abhängt. Sollte dies nicht umgesetzt werden, könnte der
Friedensprozess selbst bald im Wüstensand verlaufen.75
Wenn man einmal das Gesamtbild betrachtet, ergeben sich folgende Aussichten: Der größte Teil des prognostizierten weltweiten Bevölkerungszuwachses
von fast 3 Mrd. Menschen bis zum Jahr 2050 wird auf jene Länder entfallen,
in denen die Grundwasserspiegel schon jetzt absinken. Die Staaten, die durch
den Wassermangel am stärksten unter Druck geraten, sind die in den ariden
und semi-ariden Regionen der Welt, in denen sowohl das Bevölkerungswachstum als auch der Widerstand gegen jede Form von Familienplanung sehr hoch
ist. Viele der Länder, die bereits jetzt weit oben auf der Liste der gescheiterten
oder im Scheitern begriffenen Staaten stehen, wie beispielsweise der Sudan, der
Irak, Somalia, der Tschad, Afghanistan, Pakistan und der Jemen, sind Staaten,
in denen die Bevölkerungszahl so hoch ist, dass die Wasserreserven schon jetzt
nicht mehr ausreichen, um den Bedarf zu decken. Wenn es nicht gelingt, die
Bevölkerungszahlen in diesen Ländern zu stabilisieren, wird die Wassermenge,
die den Menschen dort pro Kopf und Jahr zur Verfügung steht, weiter sinken,
sodass die ohnehin bereits überlasteten Regierungen dieser Länder noch stärker unter Druck geraten werden.76
Natürlich ist es beängstigend, wie stark sich der Wassermangel ausbreitet,
doch wir verfügen über die Technologien, um die Effizienz im Wasserverbrauch
zu erhöhen und uns so ein wenig Zeit zur Stabilisierung der Bevölkerungszahlen zu erkaufen, wobei die wichtigsten dieser Technologien die Bereiche Bewässerung sowie Wasserrecycling in der Industrie und in den Städten betreffen
(siehe Kapitel 9 und 10).
74 Pete Harrison, „Iraq Calls for Water Treaty to Avert Crisis“, Reuters, 23. August
2007.
75 UNDP, op. cit. Anmerkung 30, S. 216.
76 Prognosen zum Bevölkerungswachstum aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 5
Die natürlichen Systeme unter massivem Druck
1938 reiste Walter Lowdermilk, einer der führenden Mitarbeiter im Soil Conservation Service des US-Landwirtschaftsministeriums, ins Ausland, um sich
dort Gebiete anzuschauen, die seit Tausenden von Jahren kultiviert wurden,
und herauszufinden, wie die alten Zivilisationen mit dem Problem der Bodenerosion umgegangen waren. Er stellte fest, dass einige mit ihrem Land verantwortungsvoll umgegangen waren und erreicht hatten, dass es über historisch
lange Zeiträume fruchtbar blieb, sodass die jeweiligen Zivilisationen blühten
und gediehen. Andere hatten in dieser Hinsicht versagt, sodass inzwischen nur
noch die Überreste der jeweiligen Zivilisation von ihrer einstigen Glanzzeit
zeugen.
In einem Abschnitt seines Berichts beschreibt Lowdermilk unter der Überschrift „Die einhundert toten Städte“ eine Gegend im Norden Syriens, in der
Nähe von Aleppo, wo alte Gebäude nur noch als gänzlich isolierte Reliefs auf
nacktem Gestein aufragen. Infolge von Invasionen in das Gebiet im 7. Jahrhundert, zunächst durch eine persische Armee und später durch Nomaden
aus der Arabischen Wüste, waren die Praktiken zur Erhaltung der Böden und
der Wasserreserven, die hier seit Jahrhunderten Anwendung gefunden hatten,
aufgegeben worden. Lowdermilk bemerkt dazu: „Die Erosion hatte hier allerschlimmste Folgen gezeitigt [...] ungeachtet der Zerstörung der Städte und der
Zerstreuung der Bevölkerung wäre das Gebiet möglicherweise wieder bevölkert
und die Städte wiederaufgebaut worden, wenn die Böden erhalten geblieben
wären. Doch mit dem Verlust des Bodens war alles verloren.“
Und nun ein Zeitsprung direkt ins Jahr 2002, als ein UN-Team nach Lesotho reiste – ein kleines Land mit 2 Mio. Einwohnern, eine Enklave inmitten
Südafrikas – um sich ein Bild von der dortigen Lebensmittelsituation zu machen. Sie kamen zu einer eindeutigen Einschätzung: „Die Zukunftsaussichten
für die Landwirtschaft in Lesotho sind katastrophal. Sollten nicht schnellstens Maßnahmen zur Bekämpfung der Bodenerosion, der Verschlechterung
der Bodenqualität und der Abnahme der Fruchtbarkeit der Böden getroffen
werden, so werden die Ernten sinken und in großen Teilen des Landes könnte
die Lebensmittelproduktion völlig zusammenberechen.“ Michael Grunwald
schreibt in der Washington Post, in Lesotho sei fast die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren körperlich unterentwickelt. „Viele“, so schreibt er, „sind sogar
zu schwach, um in die Schule zu gehen.“
Walter C. Lowdermilk, Conquest of the Land Through 7,000 Years, USDA Bulletin
No. 99 (Washington, DC: U.S. Department of Agriculture (USDA), Natural Resources
Conservation Service, 1939).
Ebenda, S. 10.
U.N. Food and Agriculture Organization (FAO), „FAO/WFP Crop and Food
Assessment Mission to Lesotho Special Report“, unter www.fao.org, eingesehen am
29. Mai 2002; Michael Grunwald, „Bizarre Weather Ravages Africans’ Crops“, Washington
Post, 7. Januar 2003.
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Unabhängig davon, ob sich diese Landstriche nun im Norden Syriens,
in Lesotho oder anderswo befinden, steht die Gesundheit der dort lebenden
Menschen doch immer im direkten Zusammenhang mit der Gesundheit der
Böden. Ein Großteil der weltweit 862 Mio. Hunger leidenden Menschen lebt
in Gebieten, deren Böden durch Erosion stark ausgedünnt sind.
Durch die gnadenlos steigende Nachfrage der Menschen werden die Wälder, die Weideflächen und die Fischbestände so stark beansprucht, dass es
ökologisch kaum noch verträglich ist. Außerdem sorgen wir durch unser Verhalten dafür, dass viele der Tier- und Pflanzenarten, mit denen wir uns den
Lebensraum Erde teilen, aussterben. Mittlerweile sterben vorhandene Arten
tausendmal schneller aus als sich neue entwickeln – wir haben gewissermaßen
den Schnellvorlauf der Ausrottung gestartet.
DAS ZUSAMMENSCHRUMPFEN DER BAUMBESTÄNDE – UND
WAS ES UNS KOSTET
Laut Nachrichtenmeldungen hat die philippinische Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo Anfang 2004 „angeordnet, dass Polizei und Militär hart gegen
das illegale Schlagen von Bäumen durchgreifen, nachdem plötzliche Überflutungen und Erdrutsche, die durch die unkontrollierte Abholzung ausgelöst
worden waren, fast 340 Menschen das Leben gekostet hatten.“ 15 Jahre zuvor,
im Jahr 1989, hatte die thailändische Regierung nach heftigen Überschwemmungen und nachdem bei Erdrutschen viele Menschen ums Leben gekommen
waren, ein landesweites Verbot für das Schlagen von Bäumen verhängt. Und
auch die chinesische Regierung hat – nachdem die mehrere Wochen andauernden Rekordüberschwemmungen im Jangtsebecken Schäden im Gesamtwert
von unglaublichen 30 Mrd. $ hinterlassen hatten – im August 1998 jegliches
Schlagen von Bäumen in dem Becken, in dem 400 Mio. Menschen leben, verboten. Jede dieser Regierungen hat einen hohen Preis gezahlt, doch sie haben
ihre Lektion gelernt: Die Dienste, die diese Wälder leisten – wie beispielsweise
die Flutkontrolle – könnten einen weitaus höheren Wert für die Gesellschaft
haben als das Schnittholz dieser Bäume.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die bewaldeten Flächen der Erde
auf insgesamt 5 Mrd. ha geschätzt. Seither ist diese Fläche auf unter 4 Mrd.
FAO, Number of Undernourished Persons, unter www.fao.org/faostat/foodsecurity,
aktualisiert am 30. Juni 2006.
Species Survival Commission, 2000 IUCN Red List of Threatened Species (Gland, Schweiz und Cambridge, GB: World Conservation Union–IUCN, 2000), S. 1.
Teresa Cerojano, „Decades of Illegal Logging Blamed for High Death Toll in Philippine Storm“, Associated Press, 1. Dezember 2004; Angaben zu Thailand aus: Patrick B.
Durst et al., Forests Out of Bounds: Impacts and Effectiveness of Logging Bans in Natural
Forests in Asia-Pacific (Bangkok: FAO, Asia-Pacific Forestry Commission, 2001); Munich
Re, „Munich Re’s Review of Natural Catastrophes in 1998“, Pressemitteilung (München:
19. Dezember 1998); Harry Doran, „Human Activities Aid Force of Nature: Massive Destruction Has Worsened the Floods Which Have Struck Throughout History, But Lessons
Are Being Learned“, South China Morning Post, 24. Juli 2003.
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ha zusammengeschrumpft, wobei sich die verbleibenden Waldflächen relativ
gleichmäßig auf die tropischen und subtropischen Wälder in den Entwicklungsländern und auf die Wälder der gemäßigten und borealen Zone in den
Industrieländern verteilen.
Seit 1990 sind die Waldbestände in den Entwicklungsländern jährlich um
etwa 13 Mio. ha zurückgegangen. Dieser Verlust von etwa 3 % der gesamten
Waldflächen alle 10 Jahre entspricht etwa einer Gesamtfläche von der Größe Griechenlands. Die Waldflächen in den Industrieländern dagegen wachsen
jährlich um geschätzte 5,6 Mio. ha. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass aufgegebene Ackerflächen sich wieder in Waldflächen verwandeln
sowie darauf, dass zunehmend kommerziell wiederaufgeforstet wird. So gesehen liegt die Nettofläche, die die Welt jährlich an Waldbeständen verliert, bei
etwas über 7 Mio. ha.
Leider spiegeln diese offiziellen Zahlen der Food and Agriculture Organisation (FAO) der UNO in keiner Weise wider, wie ernst die Lage tatsächlich ist.
So erholen sich beispielsweise tropische Wälder nach einer Großflächen- oder
Brandrodung nur selten wieder. Sie verwandeln sich in Ödland oder bestenfalls in Strauchwald, werden aber nach wie vor offiziell zu den Waldflächen
gezählt. Und auch Neuanpflanzungen gelten als Waldflächen, obwohl sie sich
bei Weitem nicht mit den altgewachsenen Wäldern vergleichen können, die sie
zum Teil ersetzen sollen.
Das World Resources Institute (WRI) berichtet, bei dem überwiegenden Teil
der noch verbliebenen Waldflächen handle es sich um „kaum mehr als kleine
oder stark geschädigte Teile der einstmals voll funktionsfähigen Ökosysteme“.
Nur 40 % der weltweit verbliebenen Waldflächen können noch als „Grenzwälder“ bezeichnet werden, die das WRI als „große, intakte, natürliche und relativ
unbeschädigte Waldsysteme“ definiert, „deren Größe es erlaubt, ihre gesamte
Artenvielfalt zu erhalten, einschließlich lebensfähiger Populationen der vielen
für die jeweilige Waldart typischen Arten.“
Doch der Druck auf die Wälder nimmt weiter zu, da die Nachfrage nach
Brennholz, Papier und Schnittholz immer mehr zunimmt. Von den mehr
als 3,5 Mrd. m3 Holz, die im Jahr 2005 weltweit geschlagen wurden, wurde
mehr als die Hälfte als Brennstoff benutzt. In den Entwicklungsländern macht
Brennholz sogar fast drei Viertel des Gesamtverbrauchs aus.10
In der Sahelzone in Afrika und auf dem indischen Subkontinent wird besonders viel Holz als Brennholz geschlagen. Da der Bedarf der Städte an Brennholz die ökologisch verträgliche Menge übersteigt, die aus den nahe gelegenen
Wäldern entnommen werden kann, wird der Abstand zwischen der Stadt und
Angaben über die bewaldeten Flächen weltweit aus: FAO, Global Forest Resources Assessment 2005 (Rom: 2006), S. 16.
Ebenda, S. xii-xvi.
Forest Frontiers Initiative, The Last Frontier Forests: Ecosystems and Economies on the Edge
(Washington, DC: World Resources Institute (WRI), 1997).
10 FAO, ForesSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org, aktualisiert am
22. Dezember 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
der Waldgrenze immer größer, ein Prozess, der auf über einen längeren Zeitraum gemachten Satellitenaufnahmen deutlich sichtbar ist. Je größer der Abstand wird, desto höher werden die Transportkosten für Brennholz, wodurch
die Entwicklung einer Holzkohleindustrie angestoßen wird, da es sich hier
um eine konzentriertere Form von Energie handelt. March Turnbull schreibt
in Africa Geographic Online: „Jede größere Stadt in der Sahelzone ist von einer
sterilen Mondlandschaft umgeben. Dakar und Khartum sind inzwischen mehr
als 500 km von der nächsten Bezugsquelle für Holzkohle entfernt, die sich in
einigen Fällen sogar bereits in benachbarten Ländern befindet.“11
Auch die Abholzung zur Gewinnung von Schnittholz fordert einen hohen
Tribut, was in Südostasien und Afrika besonders deutlich sichtbar wird. In
fast allen Fällen werden die Bäume durch ausländische Firmen geschlagen, die
kaum Interesse an einem System haben, in dem immer wieder eine ökologisch
vertretbare Menge Holz gefällt werden kann. Sie interessieren sich ausschließlich für die Maximierung ihres kurzfristigen Profits. Wenn die Waldflächen
eines Landes dann abgeholzt sind, ziehen die Firmen weiter und zurück bleibt
nur verwüstetes Land. Sowohl Nigeria als auch die Philippinen haben ihre
einst blühende Exportindustrie für tropische Harthölzer eingebüßt und gehören inzwischen zu den Nettoimporteuren von Forstprodukten.12
Der wohl zerstörerischste Einfluss auf die noch verbliebenen Waldflächen
der Erde in diesem Jahrhundert wird dem explosionsartigen Anwachsen der
Forstproduktindustrie in China zuzuschreiben sein, die inzwischen Menschen
auf der ganzen Welt mit Möbeln, Bodenbelägen, Spanplatten und anderen
Baumaterialien versorgt. Um den Holzbedarf zur Versorgung des einheimischen sowie der ausländischen Märkte zu decken, ist China dazu übergegangen,
massiv außerhalb der eigenen Landesgrenzen – hauptsächlich in Indonesien,
Myanmar, Papua-Neuguinea und Sibirien ­– Holz zu schlagen, was größtenteils
auch noch illegal geschieht. Inzwischen sind chinesische Firmen sogar schon
auf dem Weg in den Amazonas und ins Kongobecken.13
In einem bahnbrechenden Artikel, der im April 2007 in der Washington
Post erschien, beschrieben Peter Goodman und Peter Finn, wie sich die Chinesen daran machten, einen der wenigen noch verbliebenen, natürlichen TeakBestände in Myanmar an der Grenze zu China abzuholzen. Die beiden Journalisten berichteten, der Chef einer chinesischen Holzfällerfirma „habe zwei
Agenten mit Kontakten ins burmesische Grenzgebiet einen Reissack überge11 Alain Marcoux, „Population and Deforestation“, in: Population and the Environment
(Rom: FAO, 2000); March Turnbull, „Life in the Extreme“, Africa Geographic Online,
4. April 2005.
12 Nigel Sizer und Dominiek Plouvier, Increased Investment and Trade by Transnational
Logging Companies in Africa, the Caribbean, and the Pacific (Belgien: World Wide Fund for
Nature (WWF) and WRI Forest Frontiers Initiative, 2000), S. 21-35; Lester R. Brown,
„Nature’s Limits“, in: Lester R. Brown et al., State of the World 1995 (New York: W. W.
Norton & Company, 1995), S. 9.
13 Peter S. Goodman und Peter Finn, „Corruption Stains Timber Trade“, Washington
Post, 1. April 2007; Evan Osnos, „China Feeds U.S. Demand for Wood as Forests Suffer“,
Chicago Tribune, 18. Dezember 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
ben, der mit chinesischem Geld im Gegenwert von 8.000 $ vollgestopft war.
[…] Sie benutzten dieses Geld, um jeden auf dem Weg zwischen China und
dem Teakholz zu bestechen. Dann kamen die chinesischen Holzfäller, und
kurz darauf verließen riesige Holzstämme das Land gen China – auf von den
Chinesen gebauten Straßen.“14
Laut Schätzungen von Forest Trends, einer aus Vertretern der Forstindustrie
und Umweltschutzgruppen bestehenden Nichtregierungsorganisation, werden
die natürlichen Waldbestände in Indonesien und Myanmar in etwa 10 Jahren
vollständig abgeholzt sein, wenn der Holzschlag im jetzigen Maße weitergeht.
Für Papua-Neuguinea liegen die Schätzungen bei 16 Jahren und selbst den
riesigen Waldgebieten im äußersten Osten Russlands gibt man nicht mehr viel
länger als 20 Jahre.15
Besonders im Amazonasbecken in Brasilien, im Kongobecken und auf Borneo gehen große Waldflächen durch die Brandrodung zur Gewinnung neuer
Anbau- und Weideflächen verloren. Nachdem Brasilien bereits 93 % seines
Regenwaldes am Atlantik eingebüßt hat, ist man jetzt dabei, auch den Regenwald am Amazonas zu zerstören. Diese riesige Waldfläche, die etwa so groß ist
wie Europa, war bis 1970 noch größtenteils intakt. Seither sind bereits 20 %
davon zerstört worden.16
Das Kongobecken in Afrika ist das zweitgrößte Regenwaldgebiet der Erde
und verteilt sich auf zehn Länder, und ebenso wie der Amazonas ist auch der
Regenwald im Kongobecken in Gefahr – hauptsächlich durch Holzfäller, Bergarbeiter und Bauern. Jedes Jahr schrumpft der Regenwald im Kongobecken,
der sich im Moment noch über 19 Mio. ha erstreckt und über 400 Säugetierarten – darunter den weltweit größten Populationen von Gorillas, Bonobos,
Schimpansen und Waldelefanten – eine Heimat bietet, um 1,6 Mio. ha.17
Infolge des rasant steigenden Bedarfs an Palmenöl wurden im malaysischen
Teil Borneos (Sarawak und Sabah) zwischen 1998 und 2003 die Flächen für
Palmenplantagen um jährlich 8 % ausgedehnt, in Kalimantan, dem indonesischen Teil Borneos, sind es sogar mehr als 11 %. Und nachdem sich Palmenöl
derzeit zu einem der führenden Biodieselkraftstoffe entwickelt, wird der Anbau
von Palmen wohl noch weiter ausgeweitet werden. Auch für die noch verbliebenen Tropenwälder auf Borneo und in anderen Ländern stellt die praktisch
unbegrenzte Nachfrage nach Biodiesel mittlerweile eine Bedrohung dar.18
14 Goodman und Finn, op. cit. Anmerkung 13.
15 Andy White et al., China and the Global Market for Forest Products (Washington, DC:
Forest Trends, 2006).
16 Angaben über den Verlust an Regenwald am Atlantik aus: World Land Trust, „REGUA Project, Brazil“, unter www.worldlandtrust.org/projects/brazil.htm, eingesehen am
6. Sept. 2007; verbliebene Waldfläche am Amazonas berechnet auf Grundlage von Angaben
aus: WWF, „Amazon Deforestation“, unter www.panda.org/about_wwf/where_we_work/
latin_america_and_caribbean, eingesehen am 6. September 2007, sowie aus: Raymond
Colitt, „Amazon Deforestation Drops Sharply: Brazilian Gov’t“, Reuters, 10. August 2007.
17 Christian Tsoumou, „Britain Gives US$98 Mln to Protect Congo-Forests“, Reuters,
29. März 2007.
18 Mario Rautner, Martin Hardiono und Raymond J. Alfred, Borneo: Schatzinsel in Gefahr (Frankfurt: WWF Deutschland), S. 7.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Haiti, ein Land mit 8 Mio. Einwohnern, war einst größtenteils mit Wald
bedeckt. Heute machen Waldflächen nur noch knapp 4 % der Gesamtfläche
des Landes aus, da die Bäume als Brennholz geschlagen oder gerodet werden,
um neues Ackerland zu schaffen. Erst verschwinden die Bäume, dann die Böden.19
Haiti, einst ein tropisches Paradies, ist inzwischen eine Fallstudie für ein
Land, das in einem ökologisch-ökonomischen Teufelskreis gefangen ist, aus
dem es sich nicht mehr befreien kann. Haiti ist ein gescheiterter Staat, der
nur noch durch internationale Hilfsleistungen in Form von Lebensmittellieferungen und Wirtschaftshilfe am Leben erhalten wird.
Auch Madagaskar, ein Inselstaat mit 18 Mio. Einwohnern, wandelt auf
den Spuren Haitis, denn auch hier nimmt der Regenwald mit seiner großen
Artenvielfalt rasant ab. Die Bäume werden entweder zur Holzkohleproduktion
geschlagen oder um Anbauflächen für Lebensmittel zu schaffen, und die Abfolge der Ereignisse erscheint nur allzu vertraut. Umweltschützer warnen, dass
die Landschaft in Madagaskar schon sehr bald nur noch aus Gestrüpp und
Sand bestehen könnte.20
Während durch die Entwaldung einerseits das Wasser immer schneller in
den Ozean zurückfließt, könnte andererseits die Umwandlung in Regenwasser
für das Landesinnere dadurch behindert werden. Vor etwas mehr als 20 Jahren haben zwei brasilianische Wissenschaftler, Eneas Salati und Peter Vose, in
einem Artikel in Science darauf hingewiesen, dass ein Viertel des Regenwassers
aus den von der Atlantikseite kommenden Wolken an den Bäumen abfloss,
wenn es auf den gesunden Regenwald im Amazonas traf, während drei Viertel
in die Atmosphäre verdunsteten und dort weiter ins Landesinnere transportiert
wurden, wo sie wiederum als Regen niedergingen. Wenn nun Regenwaldflächen zur Gewinnung von Weide- oder Anbauflächen gerodet werden, so würde die Menge, die ab- und ins Meer zurückfließt deutlich ansteigen, während
der Teil, der erneut zu Regenwasser für das Landesinnere wird, dramatisch
abnehmen würde.21
Der Ökologe Philip Fearnside, der sich dem Studium des Amazonas verschrieben hat, stellte fest, dass der landwirtschaftlich wichtige mittlere und
südliche Teil Brasiliens auf das Regenwasser angewiesen ist, das dem Landesinneren mithilfe des Regenwaldes im Amazonas zugeführt wird. Wenn aber immer mehr Regenwald zur Gewinnung von Weide- oder Anbauflächen gerodet
wird, beginnt der Wald auszutrocknen und wird ab einem bestimmten Punkt
sehr anfällig für Waldbrände durch Blitzeinschläge. Der Regenwald im Ama-
19 U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population
Database unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007; FAO, op. cit. Anmerkung 7, S. 193.
20 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 19; „Madagascar’s Rainforest Faces
Destruction“, Guardian (London), 29. Juni 2003.
21 Eneas Salati and Peter B. Vose, „Amazon Basin: A System in Equilibrium“, Science,
Vol. 225 (13. Juli 1984), S. 129ff.
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zonas wird zunehmend geschwächt und bewegt sich dadurch immer schneller
auf den kritischen Punkt zu, ab dem er nicht mehr zu retten sein wird.22
Auch in Afrika, wo Entwaldung und Landrodungen immer schneller voranschreiten, weil der Brennholzbedarf immer weiter steigt und Holzfällerfirmen immer größere Teile der Wälder abholzen, sieht es so aus, als entwickele
sich eine ähnliche Lage. In Malawi, einem Land in Ostafrika mit 14 Mio.
Einwohnern, ist der Anteil der Waldflächen an der Gesamtfläche des Landes
seit den 70er Jahren um fast 25 % gesunken, wobei fast 1 Mio. ha Wald verloren gingen. Das Schlagen der Bäume zur Herstellung von Holzkohle und zur
Trocknung von Tabak führt zu einer Abfolge der Ereignisse, die denen in Haiti
ähneln.23
Mit dem Verschwinden der Bäume steigt die Menge des Regenwassers,
das abfließt, und es bleibt immer weniger Wasser, das über die Verdunstung
dem Regenkreislauf wieder zugeführt werden könnte. Der Hydrogeologe Jim
Anscombe bemerkt dazu: „Infolge der hohen Sonneneinstrahlung pumpen
die Bäume im Laufe des Transpirationsprozesses über Wurzeln, Stamm und
Blätter Wasser aus dem Grundwasser nach oben. Wenn man nun alle Bäume
des Waldes zusammennimmt, so pumpen sie täglich eine Gesamtmenge von
mehreren Millionen Liter Wasser in die Atmosphäre.“ Bei den dortigen klimatischen Bedingungen wird dieses Wasser in sommerliche Regenfälle umgewandelt, durch die die Ernten versorgt werden. Wenn die Wälder nicht mehr da
wären, würde dieser Regen immer mehr abnehmen – und infolgedessen auch
die Ernten.24
Immer mehr Länder beginnen zu begreifen, welche Risiken die Entwaldung birgt. Zu den Ländern, die inzwischen völlige oder teilweise Verbote
für das Abholzen von Primärwäldern verhängt haben, gehören unter anderem
China, Neuseeland, die Philippinen, Sri Lanka, Thailand und Vietnam. Leider
führen Verbote in einem Land oft nur dazu, dass die Abholzung in einem anderen Land weitergeht oder dass Bäume illegal geschlagen werden.25
22 Philip Fearnside zitiert in: Barbara J. Fraser, „Putting a Price on the Forest“, LatinamericaPress.org, 10. November 2002; Philip M. Fearnside, „The Main Resources of Amazonia“, Präsentationsmaterial für den XX. Internationalen Kongress der Latin American Studies Association, Guadalajara, Mexiko, 17.-19. April 1997; Geoffrey Lean, „Dying Forest:
One Year to Save the Amazon“, The Independent, 23. Juli 2006; Geoffrey Lean, „A Disaster
to Take Everyone’s Breath Away“, The Independent, 24. Juli 2006.
23 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 19; Malawi Ministry of Mines, Natural Resources, and the Environment, State of the Environment Report for Malawi 2002
(Lilongwe, Malawi: 2004); FAO, op. cit. Anmerkung 7, S. 196.
24 Anscombe zitiert in: Charles Mkoka, „Unchecked Deforestation Endangers Malawi
Ecosystems“, Environment News Service, 16. November 2004.
25 Patrick B. Durst et al., Forests Out of Bounds: Impacts and Effectiveness of Logging
Bans in Natural Forests in Asia-Pacific (Bangkok: FAO, Asia-Pacific Forestry Commission,
2001); Zhu Chunquan, Rodney Taylor und Feng Guoqiang, China’s Wood Market, Trade
and Environment (Monmouth Junction, NJ, und Peking: Science Press USA Inc. und WWF
International, 2004).
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DER VERLUST DER BÖDEN
Die dünne Schicht des Oberbodens, die die Landflächen der Erde bedeckt,
bildet die Grundlage dafür, dass sich unsere Zivilisation entwickeln konnte.
Diese Bodenschicht, die nur wenige Zentimeter stark ist, hat sich über lange
geologische Zeiträume gebildet, als die Entstehung neuer Erde noch schneller
vonstatten ging als die natürliche Erosion des Bodens. Der Boden, der sich
über Äonen ansammelte, bildete den Nährboden für das Wachstum von Pflanzen, die wiederum den Boden vor der Erosion schützen. Durch das Eingreifen
des Menschen wird diese Wechselbeziehung nun gestört.
Irgendwann im vergangenen Jahrhundert begann die Bodenerosion in
vielen Gebieten schneller vonstatten zu gehen als die Bildung neuen Bodens.
Etwa ein Drittel der Anbauflächen verlieren schneller an Boden als neuer gebildet wird, wodurch die Produktivität des Bodens abnimmt und die Grundlage
der Zivilisation beginnt sich aufzulösen.26
Die Folgen der zunehmenden Erosion der Böden im vergangenen Jahrhundert zeigen sich deutlich in den sogenannten „Dust Bowls“27, die sich
überall dort bilden, wo die Vegetation zerstört wurde und die Erosion durch
den Wind unkontrollierbar wütet. Zu den größten „Dust Bowls“ gehören die
in den Great Plains in den 30er Jahren, die in den sogenannten „NeulandGebieten“28 in der Sowjetunion in den 60er Jahren, das große, das sich derzeit
im Nordwesten Chinas bildet, und dasjenige, das in der Sahelzone in Afrika
entsteht. Jedes dieser „Staubbecken“ steht im Zusammenhang mit dem altbekannten Muster aus Überweidung, Entwaldung und Ausdehnung der Landwirtschaft auf Grenzertragsböden, die dann wegen der Bodenverluste aber
wieder eingeschränkt werden musste.29
Die starke Zunahme der Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert führte in vielen Ländern dazu, dass auch sehr anfällige Böden landwirtschaftlich genutzt
wurden. Und so kam es infolge des übermäßigen Pflügens Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts dazu, dass sich in den 30er Jahren in den Great
Plains in den USA ein „Staubbecken“ bildete. Es war eine schlimme Zeit in der
amerikanischen Geschichte, in der Hunderttausende Farmer und ihre Familien
gezwungen waren, die Great Plains zu verlassen. Viele von ihnen gingen nach
Kalifornien, um dort ein neues Leben zu beginnen – eine Reise, der John Steinbeck in Früchte des Zorns ein ewiges Denkmal gesetzt hat.30
26 Bei der Angabe bezüglich ein Drittel der Anbauflächen handelt es sich um eine Schätzung des Autors.
27 Anm. d. Übers.: wörtlich: Staubbecken; Gegenden, die infolge der Zerstörung der
Vegetation und der damit einhergehenden Bodenerosion von verheerenden Staubstürmen
heimgesucht werden.
28 Anm. d. Übers.: Es handelt sich um eine große Kampagne unter Chruschtschow zur
Urbarmachung von großen Teilen der landwirtschaftlich bis dahin nicht genutzten Steppe
in Kasachstan und in anderen Gebieten der Sowjetunion.
29 Yang Youlin, Victor Squires und Lu Qi (Hrsg.), Global Alarm: Dust and Sandstorms
from the World’s Drylands (Bangkok: Secretariat of the U.N. Convention to Combat Desertification, 2002), S. 15-28.
30 John Steinbeck, The Grapes of Wrath (New York: Viking Penguin, Inc., 1939).
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Dreißig Jahre später wiederholte sich die Geschichte in der Sowjetunion.
Das Hauptziel des Projekts zur Neulandgewinnung zwischen 1954 und 1960
bestand darin, ein Steppenareal, das größer war als die Weizenanbauflächen in
Kanada und Australien zusammen, umzupflügen und für den Weizenanbau
zu kultivieren. Zunächst führte dies zu einem beeindruckenden Anstieg der
sowjetischen Getreideproduktion, doch der Erfolg war nur von kurzer Dauer,
denn auch hier bildete sich ein „Staubbecken“.31
Kasachstan, das im Zentrum des Projekts stand, verzeichnete um 1980 bei
knapp über 25 Mio. ha den Höchststand bei seinen Getreideanbauflächen, die
heute jedoch auf 15 Mio. ha zusammengeschrumpft sind. Doch selbst auf den
noch verbliebenen Anbauflächen beträgt die durchschnittliche Weizenausbeute kaum mehr als 1 t/ha und ist damit weit entfernt von den fast 7 t/ha, die
die französischen Bauern, die führenden Weizenproduzenten in Westeuropa,
ernten können.32
Ganz ähnlich ist die Lage in der Mongolei. Dort musste in den vergangenen 20 Jahren die Hälfte der Weizenanbauflächen aufgegeben werden, wodurch die Weizenertragsleistung um die Hälfte und die Ernte um drei Viertel
zurückgegangen sind. Heute sieht sich die Mongolei – ein Land mit 2,6 Mio.
Einwohnern, das etwa dreimal so groß ist wie Frankreich – gezwungen, fast 60
% seines Weizenbedarfs zu importieren.33
Inzwischen werden die Staubstürme, die sich in den neuen „Staubbecken“
bilden, mithilfe von Satellitenaufnahmen getreulich dokumentiert. Am 9.
Januar 2005 hat die NASA Bilder eines gigantischen Staubsturms veröffent­
licht, der sich von Zentralafrika aus westwärts bewegte. Diese riesige Wolke aus
bräunlichem Staub erstreckte sich über etwa 5.300 km. Die NASA merkte an,
wenn man diesen Sturm auf die Vereinigten Staaten „übertrüge“, so würde er
quer über das ganze Land reichen und sich auf beiden Seiten noch bis in den
jeweiligen Ozean erstrecken.34
Andrew Goudie, Professor für Geographie an der Oxford University, berichtet, Staubstürme in der Sahara – einst eine Seltenheit – seien inzwischen
praktisch alltäglich. Nach seinen Schätzungen hat sich ihre Häufigkeit in den
letzten 50 Jahren etwa verzehnfacht. Zu den Ländern in der Region, die vom
Verlust des Oberbodens durch Winderosion am stärksten betroffen sind, gehören Niger, der Tschad, Mauretanien, der Norden Nigerias und Burkina Faso.
In Mauretanien, einem der westlichsten afrikanischen Länder, ist die Anzahl
31 FAO, The State of Food and Agriculture 1995 (Rom: 1995), S. 175.
32 Ebenda; USDA, Production, Supply and Distribution, elektronische Datenbank
unter www.fas.usda.gov/psdonline, aktualisiert am 12. Juli 2007; Angaben zu den Erträgen aus: FAO, ProdSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org, aktualisiert am
30. Juni 2007.
33 U.N. Environment Programme (UNEP), Mongolia: State of the Environment 2002
(Pathumthani, Thailand: Regional Resource Centre for Asia and the Pacific, 2001), S. 3ff.;
USDA, op. cit. Anmerkung 30; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 19.
34 National Aeronautics and Space Administration (NASA) Earth Observatory, „Dust
Storm off Western Sahara Coast“, unter earthobservatory.nasa.gov, eingesehen am 9. Ja­
nuar 2005.
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der Staubstürme sprungartig angestiegen – waren es in den frühen 60er Jahren
noch zwei pro Jahr, so sind es heute 80.35
Der Wind trägt jährlich geschätzte 1,3 Mrd. t an Boden aus der Bodélé-Senke im Tschad – eine Verzehnfachung gegenüber den ersten Messungen
1947. Die 2 bis 3 Mrd. t feiner Bodenpartikel, die jedes Jahr in Staubstürmen
aus Afrika hinaustransportiert werden, sorgen dafür, dass der Kontinent langsam an Fruchtbarkeit und damit an biologischer Produktivität verliert. Außerdem bewegen sich die Staubstürme aus Afrika kommend westwärts über den
Atlantik und lagern so viel Staub in der Karibik ab, dass er das Wasser trübt
und die Korallenriffe angreift.36
Auch die Erosion durch Wasser verlangt vom Boden ihren Tribut. Dies
kann man deutlich an der Versandung der Reservoire und den trüben, verschlammten Flüssen auf ihrem Weg ins Meer sehen. Die beiden großen Staubecken Pakistans, Mangla und Tarbela, in denen das Wasser des Indus zur
Versorgung des riesigen Bewässerungsnetzes des Landes gestaut wird, verliert
jährlich etwa 1 % der Speicherkapazität an den Schlamm aus den entwaldeten
Einzugsgebieten, der sich in ihnen ablagert.37
Es wird geschätzt, dass Äthiopien, ein bergiges Land mit stark erodierenden
Böden an steilen Hängen, durch die Auswaschung durch Regen jährlich fast 2
Mrd. t an Oberboden verliert. Dies ist auch einer der Gründe, warum Äthiopien ständig am Rande einer Hungerkatastrophe steht und nicht in der Lage
ist, genug Getreidereserven anzulegen, um ein gesundes Maß an Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten.38
WENN WEIDELAND ZUR WÜSTE WIRD
Ein Zehntel der Landoberfläche der Erde wird als Ackerland genutzt, die Fläche, die als Weideland genutzt wird, ist dagegen etwa viermal so groß. Dabei
handelt es sich um Flächen, die zu trocken sind, an steilen Abhängen liegen
oder nicht fruchtbar genug sind, um dort Nutzpflanzen anzubauen. Diese Flächen, die etwa zwei Fünftel der Landoberfläche der Erde ausmachen und die
zur Hälfte semi-arid sind, bilden die Nahrungsgrundlage für den Großteil der
weltweit 3,3 Mrd. Rinder, Schafe und Ziegen – alles Wiederkäuer, deren komplexe Verdauungssysteme es ihnen ermöglichen, auch Ballaststoffe zu verdauen
und sie in Rindfleisch, Hammelfleisch und Milch umzuwandeln.39
35 Paul Brown, „4x4s Replace the Desert Camel and Whip Up a Worldwide Dust
Storm“, Guardian (London), 20. August 2004.
36 Ebenda.
37 Asif Farrukh, Pakistan Grain and Feed Annual Report 2002 (Islamabad, Pakistan:
USDA Foreign Agricultural Service, 2003).
38 UNEP, Africa Environment Outlook: Past, Present, and Future Perspectives (Nairobi:
2002), unter www.unep.org/dewa/Africa.
39 Größe der Flächen sind Schätzungen aus: Stanley Wood, Kate Sebastian und Sara
J. Scherr, Pilot Analysis of Global Ecosystems: Agroecosystems (Washington, DC: International
Food Policy Research Institute und WRI, 2000), S. 3; Zahl der Nutztiere aus: FAO, op. cit.
Anmerkung 30.
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Geschätzte 200 Mio. Menschen leben weltweit von ihrer Arbeit als Rinder-, Schaf- und Ziegenhirten. Viele afrikanische Länder sind zur Lebensmittelversorgung und bei der Bereitstellung von Arbeitsplätzen sehr stark auf
ihre Viehindustrie angewiesen. Das Gleiche gilt für große Bevölkerungsteile
im Nahen Osten, in Zentralasien, der Mongolei und im Nordwesten Chinas.
Doch während in anderen Teilen der Erde die Weideflächen Privateigentum
einzelner Landwirte sind, ist das Weideland in diesen von Pastoralwirtschaft
geprägten Ländern größtenteils Gemeinschaftseigentum, sodass es außerordentlich schwierig ist zu kontrollieren, ob das Land nicht überweidet wird.40
In Australien, dessen Landmasse größtenteils aus Weideland besteht, gibt
es 100 Mio. Schafe – fünfmal mehr als Menschen. Auch in Argentinien, Brasilien, Mexiko und Uruguay dominieren die Grasfresser in der Viehwirtschaft,
und in den amerikanischen Great Plains werden die semi-ariden Flächen, die
nicht zum Weizenanbau geeignet sind, als Weideflächen genutzt.41
Und da die Wiederkäuer, die so ungeheuer effektiv Ballaststoffe in Nahrungsmittel umwandeln, gleichzeitig auch noch Leder und Wolle liefern, sind
die Woll- und die Lederwarenindustrie, in denen weltweit Millionen Menschen
ihren Lebensunterhalt verdienen, ebenfalls darauf angewiesen, dass genug Weideland zur Verfügung steht, damit ihre Rohstoffversorgung gewährleistet ist.
Obwohl man sich in der Öffentlichkeit häufig auf die Rolle der Mastanlagen bei der Rindfleischproduktion konzentriert, ist die Zahl der Rinder in
Mastanlagen im Vergleich zu den riesigen Herden, die auf den Grasflächen
weiden, enorm gering. Selbst in den Vereinigten Staaten, die weltweit über die
meisten Mastanlagen verfügen, verbringt ein Ochse in der Regel nicht mehr als
ein paar Monate in einer solchen Anlage.
Weltweit ist fast die Hälfte aller Grasflächen bereits leicht bis mittelschwer
geschädigt und 5 % sind sogar schwer angegriffen. In ganz Afrika, dem Nahen
Osten, in Zentralasien und Indien, wo die Zahl der Nutztiere ebenso stark zunimmt wie die Bevölkerungszahl, ist das Problem am deutlichsten sichtbar. So
wurden 1950 in Afrika 238 Mio. Menschen mithilfe von 273 Mio. Nutztieren
versorgt, 2006 waren es bereits 738 Mio. Nutztiere für 926 Mio. Menschen.
Oft übersteigt der Bedarf der Nutztierindustrie an Weideflächen die Kapazitäten der Grasflächen um die Hälfte und mehr.42
Am Beispiel des Iran mit seinen 71 Mio. Einwohnern lässt sich der Druck,
unter dem die Länder des Nahen Ostens stehen, gut ablesen. Bei mehr als 9
Mio. Rindern und 80 Mio. Schafen und Ziegen – die die Wolle für die welt-
40 Zahl der Hirten aus: FAO, The State of Food Insecurity in the World 2003 (Rom
2003), S. 15; FAO, op. cit. Anmerkung 30.
41 FAO, op. cit. Anmerkung 30; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 19.
42 Robin P. White, Siobhan Murray und Mark Rohweder, Pilot Analysis of Global Ecosystems: Grassland Ecosystems (Washington, DC: WRI, 2000); FAO, op. cit. Anmerkung
30; U.N. Population Fund (UNFPA), State of World Population 2006 (New York: 2006), S.
98; Southern African Development Coordination Conference, SADCC Agriculture: Toward
2000 (Rom: FAO, 1984).
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berühmten iranischen Teppiche liefern – verschlechtert sich die Qualität der
Weideflächen im Iran wegen der Überweidung massiv.43
Auch China steht vor ähnlichen Problemen. Nach den Wirtschaftsreformen
aus dem Jahr 1978, infolge derer die Verantwortung für die Landwirtschaft
von den staatlich organisierten Produktionsgruppen auf die Bauernfamilien
überging, hat die Regierung die Kontrolle über die Anzahl der Nutztiere verloren, sodass die Bestände an Rindern, Schafen und Ziegen in China massiv
angestiegen sind. Zum Vergleich: In den USA, einem Land mit ähnlich großen
Kapazitäten an Weideflächen, gibt es nur 97 Mio. Rinder, in China dagegen
bereits 115 Mio., hier ist der Unterschied noch relativ gering. Doch während
es in den USA nur 9 Mio. Schafe und Ziegen gibt, sind es in China 366 Mio.,
die vor allem in den nördlichen und westlichen Provinzen gehalten werden
und dort die den Boden schützende Vegetation zerstören. Anschließend tut
der Wind ein Übriges, indem er den Boden abträgt und so einst produktives
Weideland in eine Wüstenlandschaft verwandelt.44
In fast allen Entwicklungsländern übersteigt der Futterbedarf der Nutztiere
inzwischen die ökologisch noch verträglichen Kapazitäten der Weideflächen
und anderer Futterquellen. Aus diesem Grund gibt es in Indien, wo der Futterbedarf das Angebot bei Weitem übersteigt, bereits eine Vielzahl abgemagerter
und unproduktiver Rinder.45
Die Verschlechterung der Böden durch Überweidung fordert auch einen
hohen wirtschaftlichen Tribut in Form eines Produktivitätsverlusts in der
Nutztierindustrie. In den frühen Stadien der Überweidung sinkt zunächst die
Produktivität der Böden, doch mit dem Fortschreiten des Prozesses wird die
schützende Vegetation zerstört, es kommt zur Erosion der Böden und letztlich
bleiben nur Ödland und Wüste zurück. Ab einem bestimmten Punkt beginnt
die biologisch produktive Fläche infolge des Anwachsens der Nutztierpopulation zusammenzuschrumpfen und mit ihr sinken die Kapazitäten der Erde zur
Erhaltung unserer Zivilisation.46
DIE WÜSTEN BREITEN SICH AUS
Die Desertifikation – der Prozess, bei dem sich produktives Land durch Überbeanspruchung und Misswirtschaft in Ödland verwandelt – ist leider ein nur
allzu vertrautes Phänomen. Alles, was dazu beiträgt, dass die schützenden
Pflanzen und Bäume verschwinden, führt dazu, dass die Böden anfällig sind
für die Erosion durch Wind und Wasser. In den frühen Stadien der Desertifikation trägt der Wind die feineren Bodenpartikel davon, wodurch die bereits
43 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 19; FAO, op. cit. Anmerkung 30.
44 FAO, op. cit. Anmerkung 30.
45 B. S. Sathe, „Dairy/Milk Production“, in: Livestock Investment Opportunities in India,
FAO-Website unter www.fao.org/DOCREP/ARTICLE/AGRIPPA/657_en00.htm, eingesehen am 9. September 2005.
46 H. Dregne et al., „A New Assessment of the World Status of Desertification“, Desertification Control Bulletin, Nr. 20, 1991.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
erwähnten Staubstürme entstehen. Wenn diese feineren Partikel abgetragen
sind, erfasst der Wind die gröberen Partikel – den Sand – und trägt sie ebenfalls in lokalen Sandstürmen davon.
Vor allem in Asien und Afrika – zwei Regionen, in denen zusammengenommen fast 5 der weltweit 6,7 Mrd. Menschen leben – breiten sich die Wüsten
stark aus. So werden beispielsweise die Menschen in den Ländern im Norden
Afrikas durch die Ausbreitung der Sahara gen Norden in ihrem Lebensraum
immer mehr eingeschränkt.47
In dem breiten semi-ariden Streifen zwischen der Sahara und den bewaldeten Regionen im Süden, der sich quer über den afrikanischen Kontinent
zieht, befindet sich die Sahelzone, eine Region, in der sich Landwirtschaft
und Tierhaltung überschneiden. In den Ländern dieser Zone, von Senegal
und Mauretanien im Westen bis zum Sudan, Äthiopien und Somalia im Osten, verwandeln sich infolge der stark wachsenden Anforderungen durch die
steigenden Bevölkerungs- und Nutztierzahlen zunehmend größere Flächen in
Wüsten.48
Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, büßt durch die Desertifikation jährlich 351.000 ha an Weide- und Anbauflächen ein, und während
die Bevölkerung Nigerias zwischen 1950 und 2006 von 34 Mio. auf 145 Mio.
angestiegen ist und sich damit vervierfacht hat, ist die Nutztierpopulation auf
das Elffache angewachsen, von etwa 6 Mio. auf 67 Mio. Da der Futterbedarf
der 16 Mio. Rinder und 51 Mio. Schafe und Ziegen in Nigeria die ökologisch
verträglichen Kapazitäten der Weideflächen des Landes bei Weitem übersteigt,
verwandelt sich der nördliche Teil des Landes langsam in eine Wüste. Und
wenn die Bevölkerung in Nigeria sich weiter der für 2050 prognostizierten
Marke von 289 Mio. nähert, wird die Desertifikation sogar noch schneller
voranschreiten.49
Auch der Iran ist dabei, den Kampf gegen die Ausbreitung der Wüsten
zu verlieren. Mohammad Jarian, der Vorsitzende der Anti-Desertifikationsorganisation im Iran, berichtete 2002, 124 Dörfer in der südöstlichen Provinz
Sistan-Belutschistan seien von Sandstürmen so stark geschädigt worden, dass
sie letztlich aufgegeben werden mussten. Der Sand hatte sich auf die Weideflächen gelegt, sodass das Vieh verhungerte und den Dorfbewohnern die Lebensgrundlage entzogen wurde.50
47 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 19.
48 „Case Studies of Sand-Dust Storms in Africa and Australia“, in: Yang Youlin, Victor
Squires und Lu Qi (Hrsg.), Global Alarm: Dust and Sandstorms from the World’s Drylands
(Bangkok: Secretariat of the U.N. Convention to Combat Desertification, 2002), S. 123166.
49 Regierung von Nigeria, Combating Desertification and Mitigating the Effects of
Drought in Nigeria, Revised National Report on the Implementation of the United Nations
Convention to Combat Desertification (Nigeria: April 2002); U.N. Population Division,
op. cit. Anmerkung 19; Nutztierzahlen aus: FAO, op. cit. Anmerkung 30.
50 Iranische Nachrichtenagentur, „Official Warns of Impending Desertification Catastrophe in Southeast Iran“, BBC International Reports, 29. September 2002.
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Im benachbarten Afghanistan ist die Lage ähnlich. Die Registan-Wüste
dehnt sich immer weiter westwärts aus und greift bereits auf die landwirtschaftlichen Gebiete des Landes über. In einem Bericht eines Teams des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) heißt es: „Bis zu 100 Dörfer
sind von dem Staub und Sand, die der Wind mit sich gebracht hat, zugedeckt
worden“. Im Nordwesten des Landes bewegen sich die Sanddünen auf die
landwirtschaftlich genutzten Flächen des oberen Amu-Darja-Beckens zu, wobei ihnen der Weg dadurch bereitet wurde, weil die schützende Vegetation
bereits als Feuerholz verbrannt oder durch Überweidung zerstört wurde. Das
UNEP-Team sah sogar bis zu 15 m hohe Dünen, die die Straßen blockierten,
sodass die Menschen gezwungen waren, sich neue Wege zu suchen.51
Mehr als jedes andere große Land ist China von der Ausbreitung der Wüsten betroffen. Wang Tao, der Direktor des Instituts für Kälte- und Dürreforschung, sagt zu der zunehmenden Wüstenbildung in China, zwischen 1950
und 1975 hätten sich jährlich im Durchschnitt 1.560 km2 Land in Wüste
verwandelt, zwischen 1975 und 1987 sei diese
Zahl auf 2.100 km2 gestiegen und bis zum Ende des Jahrhunderts seien es
jährlich sogar 3.600 km2 gewesen.52
China befindet sich nun im Krieg, doch der Gegner im Kampf um das Land
sind nicht etwa einfallende Armeen, es ist die Wüste. Alte Wüsten dehnen sich
aus und neue entstehen. Sie sind wie Guerillatruppen, die unerwartet angreifen und Peking dazu zwingen, an mehreren Fronten gleichzeitig zu kämpfen.
Wang Tao berichtet, in den letzten 50 Jahren seien etwa 24.000 Dörfer im
Norden und Westen Chinas ganz oder teilweise aufgegeben worden, nachdem
sie von wandernden Sandmassen bedrängt wurden.53
Die Menschen in China sind inzwischen nur allzu vertraut mit dem Phänomen der Staubstürme, die sich im Nordwesten des Landes und der westlichen Mongolei bilden, doch der Rest der Welt erfährt von dieser schnell
wachsenden ökologischen Katastrophe in der Regel erst, wenn die massiven
Staubstürme die Region verlassen. Am 18. April 2001 sah sich der Westen der
Vereinigten Staaten – von der nördlichen Grenze von Arizona bis hinauf nach
Kanada – mit Staub überzogen. Dieser war von einem großen Staubsturm,
der sich am 5. April im Nordwesten Chinas und der Mongolei gebildet hatte,
hierher transportiert worden. Als er China verließ, hatte er einen Durchmesser
von 1.800 km und führte mehrere Millionen Tonnen Oberboden mit sich
51 UNEP, Afghanistan: Post-Conflict Environmental Assessment (Genf: 2003), S. 52.
52 Wang Tao et al., „A Study on Spatial-temporal Changes of Sandy Desertified Land
During Last 5 Decades in North China“, Acta Geographica Sinica, Vol. 59 (2004), S. 203312.
53 Wang Tao, Cold and Arid Regions Environmental and Engineering Research Institute (CAREERI), Chinesische Akademie der Wissenschaften, E-Mail an den Autor dieses
Buches, 4. April 2004; Wang Tao, „The Process and Its Control of Sandy Desertification
in Northern China“, CAREERI, Chinesische Akademie der Wissenschaften, Seminar zur
Desertifikation, gehalten in Lanzhou, China, Mai 2002.
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– eine lebenswichtige Ressource, deren Neubildung durch natürliche Prozesse
mehrere Hundert Jahre dauern wird.54
Fast genau ein Jahr später, am 12. April 2002, wurde Südkorea von einem
ursprünglich aus China stammenden Staubsturm heimgesucht, der so schlimm
war, dass die Menschen in Seoul buchstäblich keine Luft mehr bekamen. Schulen mussten geschlossen und Flüge gestrichen werden und die Krankenhäuser
wurden von Patienten mit Atemproblemen überschwemmt. Die Absätze im
Einzelhandel sanken und die Koreaner fürchten sich inzwischen vor der sogenannten „fünften Jahreszeit“ – den Staubstürmen gegen Ende des Winters und
zu Beginn des Frühlings.55
Die beiden genannten Staubstürme – zwei von zehn oder mehr großen
Staubstürmen, die es jedes Jahr in China gibt – stellen einen der von außen
sichtbaren Indikatoren für die ökologische Katastrophe dar, die sich im Norden und Westen Chinas abzeichnet und deren Hauptursache die Überweidung
ist.56
In einem Bericht der US-Botschaft in Peking mit dem Titel „Desert Mergers and Acquisitions“ (dt. etwa: Zusammenschluss und Neuentstehung von
Wüsten; Anm. d. Übers.) werden Satellitenaufnahmen beschrieben, auf denen
zu erkennen ist, dass sich zwei Wüsten im nördlichen Teil Zentralchinas immer
mehr ausdehnen und zu einer einzigen großen Wüste zusammenwachsen, die
sich über die beiden Provinzen der Inneren Mongolei und Gansu erstreckt. In
der Provinz Xinjiang sind zwei noch größere Wüsten – die Wüste Taklamakan
und die Wüste Kumtag – ebenfalls dabei zusammenzuwachsen. Straßen, die
durch die immer kleiner werdenden Regionen führen, die zwischen den beiden
Wüsten liegen, werden regelmäßig von Sanddünen überlagert.57
In Lateinamerika dehnen sich sowohl in Brasilien als auch in Mexiko die
Wüsten ebenfalls aus. In Brasilien sind etwa 58 Mio. ha Land davon betroffen
und die wirtschaftlichen Verluste durch die Desertifikation werden auf jährlich
300 Mio. $ geschätzt, wobei sich der Großteil davon im Nordosten des Landes
konzentriert. Mexiko ist wegen seines deutlich größeren Anteils an ariden und
semi-ariden Flächen noch anfälliger. Die Verschlechterung der Qualität der
Anbauflächen hat hier dazu geführt, dass inzwischen jährlich 700.000 Mexikaner auf der Suche nach Arbeit vom Land in die nahe gelegenen Städte oder
in die Vereinigten Staaten abwandern.58
54 Ann Schrader, „Latest Import From China: Haze“, Denver Post, 18. April 2001;
Brown, op. cit. Anmerkung 33.
55 Howard W. French, „China’s Growing Deserts Are Suffocating Korea“, New York
Times, 14. April 2002.
56 Zur Zahl der Stürme siehe Tabelle 1–1 in: Lester R. Brown, Janet Larsen und Bernie
Fischlowitz Roberts, The Earth Policy Reader (New York: W. W. Norton & Company, 2002),
S. 13.
57 US-Botschaft in Peking, „Desert Mergers and Acquisitions“, Beijing Environment,
Science, and Technology Update (Peking: 19. Juli 2002), S. 2.
58 Siehe Tabelle 5–2 in: Lester Brown, Outgrowing the Earth (New York: W. W. Norton
& Company, 2005), S. 86f.
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Infolge der wachsenden Einwohner- und Nutztierzahlen nehmen in vielen
Ländern die Überweidung, die übermäßige Kultivierung der Böden und das
unverhältnismäßige Abholzen der Wälder, durch die der Prozess der Desertifikation vorangetrieben wird, weiter zu. Wenn wir verhindern wollen, dass sich
noch mehr einst produktives Land in Wüste verwandelt, bleibt uns vermutlich
keine andere Wahl, als das weitere Anwachsen der Weltbevölkerung und der
Anzahl der Nutztiere zu stoppen.
DIE FISCHBESTÄNDE KOLLABIEREN
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben das hohe Bevölkerungswachstum und
die stetig steigenden Einkommen zu einer rasant wachsenden Nachfrage nach
Fisch geführt. Gleichzeitig waren die Fischer dank neuer Technologien, wie
beispielsweise großer Kühlschiffe, mit deren Hilfe nun auch weit entfernte Gebiete im Ozean abgefischt werden konnten, in der Lage, diesen wachsenden
weltweiten Bedarf auch zu befriedigen, sodass der Hochseefang zwischen 1950
und 2000 von 19 Mio. t auf einen historischen Höchstwert von 96 Mio. t anstieg. Diese Verfünffachung – ein Anstieg, der doppelt so groß war wie der der
Bevölkerung im gleichen Zeitraum – führte dazu, dass 1988 jedem Menschen
statt der 7 kg pro Jahr im Jahr 1950 bereits 17 kg an wild lebendem Fisch zur
Verfügung standen. Seit Erreichung dieses Höchststandes ist diese Zahl allerdings stetig gesunken und liegt derzeit bei 14 kg.59
In Anbetracht der Tatsache, dass die Bevölkerungszahlen weiter steigen
und dass dank moderner Marketingsysteme für Lebensmittel immer mehr
Menschen Zugang zu diesen Lebensmitteln haben, wächst der Verbrauch an
Meeres­früchten. Tatsächlich übersteigt die Nachfrage nach Meeresfrüchten
inzwischen die ökologisch verträgliche Entnahmemenge der Hochseefischereizonen, sodass 75 % aller Fischereizonen derzeit bereits überfischt werden oder
kurz davor stehen. Infolgedessen beginnen viele Fischbestände zu schrumpfen
und einige sind sogar bereits zusammengebrochen.60
Natürlich sind die Meeresfischbestände vielerlei Gefahren ausgesetzt, doch
durch die Überfischung wird ihr Überleben direkt bedroht, besonders da dank
der Entwicklung neuer Technologien – von Sonargeräten zum Aufspüren von
Schwärmen bis hin zu großen Treibnetzen, die zusammengenommen groß genug wären, um die Erde mehrfach damit zu umwickeln – der Hochseefischfang ausgedehnt und die Fangmenge erhöht werden konnte.
In einer in Nature veröffentlichten, bahnbrechenden Studie kam ein kanadisch-deutsches Wissenschaftlerteam 2003 zu dem Schluss, dass in den vergangenen 50 Jahren 90 % der großen Fische aus den Ozeanen verschwunden sind.
Ransom Myers, Fischereibiologe an der kanadischen Dalhousie University und
einer der führenden an der Studie beteiligten Wissenschaftler, sagte: „Vom riesigen Blauen Marlin bis hin zum großen Blauflossenthun und vom tropischen
59 FAO, FishStat Plus, elektronische Datenbank unter www.fao.org, aktualisiert im
März 2007.
60 FAO, The State of World Fisheries and Aquaculture 2006 (Rom: 2007), S. 29.
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Zackenbarsch bis zum Atlantikdorsch – die Industriefischerei hat die Ozeane
von ihnen allen gesäubert. Es gibt praktisch keine Gewässer mehr, die nicht
befischt würden.“61
Weiter sagt Myers: „Seit dem Beginn der Industriefischerei 1950 haben wir
dafür gesorgt, dass die Ressourcenbasis innerhalb kurzer Zeit auf weniger als
10 % zusammengeschrumpft ist – und das nicht nur in einigen wenigen Gebieten oder für einige wenige Arten, sondern für ganze Gruppen dieser großen
Fischarten von den Tropen bis hin zu den Polen.“62
In der ganzen Welt brechen die Fischbestände zusammen. Anfang der 90er
Jahre verloren etwa 40.000 Angestellte in der Fischereiindustrie und der Fisch
verarbeitenden Industrie ihre Arbeit, nachdem der 500 Jahre alte Dorschbestand in Kanada zusammengebrochen war. Die Fischereizonen vor der Küste
Neuenglands folgten kurze Zeit später. Und auch in Europa schrumpfen die
Fischereizonen für Dorsch und nähern sich dem freien Fall. Auch die europäischen Dorschbestände wären, wie die kanadischen, fast soweit überfischt
worden, dass sie sich nicht mehr erholt hätten. In den Ländern, die die Grenzen der Natur nicht erkennen und der Überfischung keinen Einhalt gebieten,
werden die Fischbestände bald massiv zusammenschrumpfen und dann ganz
zusammenbrechen.63
Die stark befischten Bestände des Blauflossenthuns im Atlantik, von denen ein großes Exemplar bei Verkauf an die Sushi-Restaurants in Tokio leicht
100.000 $ einbringen kann, sind um erschreckende 94 % zurückgegangen.
Selbst wenn man die Befischung dieser Bestände ganz einstellen würde,
bräuchte eine so langlebige Spezies Jahre, um sich wieder zu erholen. Die
Fangmenge des Störs im Kaspischen Meer, der den teuersten Kaviar der Welt
liefert, ist von einem Rekordhoch von 27.700 t 1977 auf nur noch 461 t im
Jahr 2000 gesunken, für 2007 wurde die Fangquote auf 368 t festgesetzt. Der
Hauptgrund für diesen drastischen Rückgang ist die Überfischung, wobei ein
Großteil davon illegal stattfindet.64
Und die Region um die Chesapeake Bay in den USA, die noch vor knapp
50 Jahren mehr als 15.900 t Austern pro Jahr hervorbrachte, bringt es heute
kaum auf 450 t. Schuld daran ist eine tödliche Kombination aus Überfischung,
Umweltverschmutzung, Austern-Krankheiten und Verschlammung infolge
von Bodenerosion.65
61 Ransom A. Myers und Boris Worm, „Rapid Worldwide Depletion of Predatory Fish
Communities“, Nature, Vol. 432 (15. Mai 2003), S. 280ff.; Charles Crosby, „’Blue Frontier’
is Decimated“, Dalhousie News, 11. Juni 2003.
62 Myers und Worm, op. cit. Anmerkung 59; Crosby, op. cit. Anmerkung 59.
63 Myers und Worm, op. cit. Anmerkung 59.
64 Stephen Leahy, „Atlantic Bluefin Going Way of Northern Cod“, Interpress Service
News Agency, 24. August 2007; Ted Williams, „The Last Bluefin Hunt“, in: Valerie Harms et
al., The National Audubon Society Almanac of the Environment (New York: Grosset/Putnam,
1994), S. 185; Callum Roberts, The Unnatural History of the Sea (Washington, DC: Island
Press, 2007), S. 280; Konstantin Volkov, „The Caviar Game Rules“, Gewinner des ReutersIUCN Environmental Media Award 2001; Fangquote für 2007 aus: UNEP, „2006 Ban on
Caviar Lifted“, Pressemitteilung (Genf: 2. Januar 2007).
65 Fangmengen aus: National Marine Fisheries Service, National Oceanic and Atmos-
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Selbst bei den Ländern, die es gewohnt sind, bei wichtigen Fragen eng
zusammenzuarbeiten, wie im Falle der Länder der Europäischen Union, kann
eine Einigung auf Beschränkungen im Fischfang auf eine ökologisch verträgliche Menge zur Herausforderung werden. Nach langwierigen Verhandlungen
einigten sich die EU-Mitgliedsstaaten im April 1997 in Brüssel darauf, die Kapazitäten der Fangflotten innerhalb der EU für gefährdete Arten, wie Dorsch,
Hering und Seezunge aus der Nordsee, um 30 % und für überfischte Bestände,
wie Dorsch aus der Ostsee, Blauflossenthun und Schwertfisch von der Iberischen Halbinsel, um 20 % zurückzufahren. Die gute Nachricht war, dass
man sich innerhalb der EU schließlich auf eine Beschränkung der Fangmengen geeinigt hatte, die schlechte, dass dies nicht ausreichen würde, um den
Rückgang der Fischbestände in der Region aufzuhalten.66
Nachdem die jährliche Fangmenge für Dorsch aus der Nordsee, der die
wichtigste Stütze der britischen Fischer war, von 300.000 t Mitte der 80er
Jahre auf nur noch 50.000 t im Jahr 2000 gefallen war, wurde die Fangquote
für 2006 auf 23.000 t gesenkt. Trotzdem sanken die Bestände weiter, sodass
sich die EU entschloss, die Quote für 2007 um weitere 14 % abzusenken. Die
Vertreter der EU sind sich zwar sehr wohl darüber im Klaren, dass sich die
riesigen kanadischen Dorschbestände von Neufundland nach ihrem Kollaps
1992 trotz des damals verhängten absoluten Fangverbots nicht wieder erholt
hatten, doch ungeachtet dieser Tatsache haben sie es immer wieder versäumt,
schnell genug zu handeln.67
Wenn ein Teil der Fischbestände zusammenbricht, erhöht sich der Druck
auf die verbleibenden, und lokale Engpässe werden schnell zu weltweiten. Nachdem der Fischfang in den überfischten Gewässern der EU beschränkt worden
war, wandte sich die riesige Fischfangflotte der EU der Westküste Afrikas zu
und kaufte Fischereilizenzen für die Küsten der Kap Verden, Guinea-Bissaus,
Mauretaniens, Marokkos und des Senegal, wo sie mit den Fangflotten aus China, Japan, Russland, Südkorea und Taiwan konkurrieren. In armen Ländern
wie Mauretanien oder Guinea-Bissau machen die Einnahmen aus dem Verkauf
der Fischereilizenzen bis zu 50 % der Regierungseinnahmen aus.68
pheric Administration, Annual Commercial Landing Statistics, elektronische Datenbank unter www.st.nmfs.noaa.gov/st1/commercial/landings/annual_landings.html, aktualisiert am
12. Februar 2007.
66 Caroline Southey, „EU Puts New Curbs on Fishing“, Financial Times,
16. April 1997.
67 Alex Kirby, „UK Cod Fishing ‘Could be Halted’“, BBC News, 6. Nov. 2000; Norwegisches Ministerium für Fischerei- und Küstenangelegenheiten, „Norway and EU Agree Fish
Quotas for 2006“, Pressemitteilung (Oslo, Norwegen: 2. Dez. 2005); Europäische Kommission, „Council Decision on 2007 Fish Quotas Confirms Gradual Approach to Sustainable
Fisheries“, Pressemitteilung (Brüssel: 21. Dez. 2006); Europäische Kommission, „Outcome
of the Fisheries Council of 16-20 Dec. 2002“, unter ec.europa.eu/fisheries/press_corner,
aktualisiert am 23. Dez. 2002; Indrani Lutchman et al., Indicators of Environmental Integration: Final Report (London: Institute for European Environmental Policy, Juni 2006).
68 Diadie Ba, „Senegal, EU Prepare for Fisheries Deal Tussle“, Reuters, 28. Mai 2001;
Charles Clover, The End of the Line: How Overfishing is Changing the World and What We Eat
(London: Ebury Press, 2004), S. 37ff.
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Zum Unglück der Afrikaner kollabieren mittlerweile auch ihre Fischbestände. Im Senegal, dessen Fischer ihre kleinen Boote einst sehr schnell mit
Fischen füllen konnten, können sie heute an vielen Tagen nicht einmal genug
Fische fangen, um auch nur ihre Kraftstoffkosten zu decken. Ein Stammesältester im Senegal brachte es auf den Punkt: „Mit diesen Fischereiabkommen
kam die Armut in den Senegal.“69
John Miller beschreibt in einem Artikel im Wall Street Journal, wie er nördlich der mauretanischen Hafenstadt Nouadhibou einen 39-jährigen Fischer,
Vater von 6 Kindern, beobachtete, der 2 der 3 Fischerboote, mit denen er einst
auf Oktopusfang gefahren war, inzwischen an Land lassen musste. Dabei sagte
er dem Reporter: „Früher konnte man die Fische direkt im Hafen fangen, doch
inzwischen ist das einzige, das man hier fängt, Wasser.“70
Doch die Überfischung ist nicht die einzige Bedrohung für die Bewohner
der Weltmeere. Etwa 90 % der im Meer lebenden Fische brauchen die Feuchtgebiete an den Küsten, die Mangrovensümpfe oder die Flüsse als Laichgebiete.
Doch gut die Hälfte der Mangrovenwälder in den tropischen und subtropischen
Ländern ist bereits verschwunden und die Feuchtgebiete vor den Küsten der Industrieländer haben sogar noch stärker abgenommen. In Italien beispielsweise,
wo sie vielen Fischarten des Mittelmeeres als „Kinderstuben“ dienen, sind die
küstennahen Feuchtgebiete um erschreckende 95 % zurückgegangen.71
Die Korallenriffe, die vielen Fischen in tropischen und subtropischen Gewässern als Laichgründe dienen, werden durch gestiegene Temperaturen in den
Ozeanen und die Übersäuerung des Wassers durch höhere CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre sowie durch Umweltverschmutzung und Sedimentation geschädigt und sind deshalb in großer Gefahr. So ist der Anteil zerstörter
Riffe – also jener, in denen es nur noch etwa 10 % lebender Korallen gibt
– zwischen 2000 und 2004 weltweit von 11 auf 20 % gestiegen. Weiter berichtet das Global Coral Reef Monitoring Network, 24 % der noch verbliebenen
Riffe stünden kurz davor, ebenfalls zu kollabieren, und weitere 26 % würden
angesichts der zunehmenden durch Menschenhand verursachten Belastungen
in den nächsten Jahrzehnten deutliche Verluste erleiden, wobei nicht vergessen
werden sollte, dass mit dem Verfall der Riffe auch die von ihnen abhängigen
Fischbestände geschädigt werden.72
In einem Bericht des World Resources Institute über den Zustand der Korallenriffe in der Karibik heißt es, 35 % von ihnen seien durch Abwässer, Sedimentablagerungen und die Verschmutzung mit Dünger bedroht und 15 %
durch Verschmutzung durch Abwässer von Kreuzfahrtschiffen. Hierbei ist zu
69 Clover, op. cit. Anmerkung 66, S. 38.
70 John W. Miller, „Global Fishing Trade Depletes African Waters“, Wall Street Journal,
23. Juli 2007.
71 Lauretta Burke et al., Pilot Analysis of Global Ecosystems: Coastal Ecosystems (Wa­
shington, DC: WRI, 2001), S. 19, 51; Angaben über die Verluste an Feuchtgebieten an
den italienischen Küsten aus: Lester R. Brown und Hal Kane, Full House (New York: W. W.
Norton & Company, 1994).
72 Clive Wilkinson (Hrsg.), Status of Coral Reefs of the World: 2004 (Townsville, Austra­
lien: Global Coral Reef Monitoring Network, 2004), S. 9.
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bedenken, dass die Dienste, die die Korallenriffe der Karibik leisten, und die
Güter, die sie liefern, wirtschaftlich betrachtet einen Wert von jährlich mindestens 3,1 Mrd. $ haben.73
Und auch die spektakulären Korallenriffe des Roten Meeres, die zu den
schönsten Riffen überhaupt gehören, stehen wegen zerstörerischer Fischereipraktiken, Ausbaggerungen, der Sedimentation und der Ableitung von Abwässern ins Meer kurz davor zu verschwinden, da alles, was das Durchdringen
von Sonnenlicht behindert, auch das Wachstum der Korallen behindert und
zu ihrem Absterben führt.74
Auch die zunehmende Verschmutzung der Gewässer fordert ihren Tribut.
Dies zeigt sich unter anderem darin, dass überall auf der Welt durch den zusätzlichen Nährstoffzufluss aus Düngemitteln und ungeklärten Abwässern, die
in die Meere eingeleitet werden, sogenannte „tote Zonen“ entstehen. Eine davon befindet sich in der Nähe des Golfs von Mexiko und entsteht dadurch,
dass der Mississippi auf seinem Weg dorthin Nährstoffe aus dem Corn Belt
und Abwässer aus den Städten, an denen er vorbeifließt, aufnimmt und sie bis
zum Golf trägt. Dieser erhöhte Nährstoffzufluss verursacht dort ein massiv verstärktes Wachstum von Algen, die, wenn sie dann absterben, beim Abbauprozess den gesamten freien Sauerstoff im Wasser absorbieren, sodass die Fische
dort zugrunde gehen. Auf diese Weise entsteht dort in jedem Sommer eine tote
Zone, die teilweise die Größe von New Jersey erreicht.75
In einem Bericht des UNEP aus dem Jahr 2006 hieß es, es gäbe weltweit
bereits mehr als 200 solcher toten Zonen – zwei Jahre zuvor waren es noch 149
gewesen. Zu diesen toten Zonen gehörten unter anderem die in der Ostsee, im
Schwarzen Meer, im Golf von Thailand, in der Fosu-Lagune in Ghana und in
der Bucht von Montevideo in Uruguay. In diesen ozeanischen „Wüsten“ gibt es
keine Fischtrawler, weil es dort einfach keine Fische mehr gibt.76
Inzwischen ist die kommerzielle Fischerei größtenteils ein Wettstreit zwischen der Gegenwart und der Zukunft. Die Regierungen versuchen, die Fangausbeuten von morgen zu retten, indem sie die Fischer zwingen, ihre Schiffe
stillzulegen, während die Gemeinschaften der Fischer hin- und hergerissen
sind zwischen der Notwendigkeit, heute ein Einkommen zu erzielen, und der
Aussicht auf zukünftige Einkommen. Ironischerweise waren es auch die langjährigen, von der Regierung subventionierten Darlehen zur Investition in neue
73 Lauretta Burke und Jonathan Maidens, Reefs at Risk in the Caribbean (Washington,
DC: WRI, 2004), S. 12ff., 27ff.
74 Mohammed Kotb et al., „Status of Coral Reefs in the Red Sea and Gulf of Aden in
2004“, in: Wilkinson, op. cit. Anmerkung 70, S. 137ff.
75 UNEP und Global Programme of Action for the Protection of the Marine Environment from Land-Based Activities, The State of the Marine Environment: Trends and
Processes (Den Haag: 2006); Nancy Rabalais und Gene Turner, „Dead Zone Size Near
Top End“, Pressemitteilung (Cocodrie, LA: Louisiana Universities Marine Consortium,
28. Juli 2007).
76 UNEP, „Further Rise in Number of Marine ‚Dead Zones’“, Pressemitteilung (Peking
und Nairobi: 19. Oktober 2006); UNEP, GEO Yearbook 2003 (Nairobi: 2004), S. 58.
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Boote und Fangausrüstungen, die dazu geführt haben, dass die Fangflotten
heute über so enorme Kapazitäten verfügen.77
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass die wachsende weltweite Nachfrage
nach Meeresfrüchten nicht mehr durch eine Erhöhung der Fangmenge befriedigt werden kann, sondern – wenn überhaupt – nur noch durch einen Ausbau
von Fischfarmen. Doch in Teichen oder Käfigen gehaltene Fische müssen gefüttert werden, in der Regel mit Futtermitteln auf Mais- und Sojamehlbasis,
sodass wiederum ein erhöhter Druck auf die Landressourcen entstünde.
VIELE TIER- UND PFLANZENARTEN STERBEN AUS
Archäologische Erkenntnisse zeigen, dass es seit Entwicklung des Lebens auf
unserem Planeten fünf große Schübe des Artensterbens gab, von denen jeder einen evolutionären Rückschlag und eine große Verarmung für das Leben
auf unserem Planeten darstellte. Die letzte große Welle gab es vor etwa 65
Mio. Jahren, höchstwahrscheinlich infolge eines Asteroideneinschlags, bei dem
große Mengen an Staub und Geröll in die Atmosphäre geschleudert wurden.
Die daraus resultierende Abkühlung führte zum Aussterben der Dinosaurier
und mindestens eines Fünftels aller anderen damals lebenden Arten.78
Derzeit befinden wir uns im Frühstadium der sechsten großen Welle des
Artensterbens. Im Gegensatz zu früheren derartigen Wellen, die durch natürliche Phänomene verursacht wurden, wird diese von uns Menschen verursacht.
Zum ersten Mal in der langen Geschichte unseres Planeten ist eine Spezies so
hoch entwickelt, wenn man es denn so nennen will, dass sie einen Großteil des
übrigen Lebens auslöschen kann.
Mit dem Verschwinden verschiedener Lebensformen können bestimmte
Abläufe in der Natur, wie die Befruchtung, die Verteilung von Samen, die
Insektenkontrolle oder der Nährstoffkreislauf, nicht mehr in vollem Maße gewährleistet werden. Durch den Verlust dieser Arten wird das Netzwerk des
Lebens geschwächt und wenn sich dieser Prozess so fortsetzt, könnte dies große
Löcher in das Netz reißen und zu irreversiblen Schäden am Ökosystem der
Erde führen.
Viele Arten sind inzwischen vom Aussterben bedroht, weil ihr Lebensraum zunehmend zerstört wird, wobei der Verlust immer größerer Teile des
tropischen Regenwaldes eine der größten Bedrohungen für die Artenvielfalt der
Erde darstellt. Im Grunde verbrennen wir durch die Brandrodung des Regenwaldes am Amazonas ein riesiges Reservoir an genetischer Information, und
unsere Nachkommen werden möglicherweise eines Tages die Verbrennung dieser genetischen Bibliothek ähnlich betrachten wie wir die der Bibliothek von
Alexandria 48 v. Chr.
Auch die Veränderung der Lebensräume durch steigende Temperaturen,
chemische Verschmutzung oder die Einführung von Arten, die in diesem Le77 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD Environmental Outlook (Paris: 2001), S. 109-120.
78 David Quammen, „Planet of Weeds“, Harper’s Magazine, Oktober 1998.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
bensraum nicht heimisch sind, kann zur Dezimierung von Tier- und Pflanzenarten beitragen. Je stärker die Weltbevölkerung anwächst, desto stärker sinkt
die Zahl der Arten, mit denen wir unseren Planeten teilen, doch unser eigenes
Schicksal ist untrennbar mit dem des gesamten Lebens auf der Erde verbunden.
Wenn die große Artenvielfalt, die wir von früheren Generationen übernommen
haben, immer mehr abnimmt, werden auch wir selbst letztlich verarmen.
Der Anteil der Vogel-, Säugetier- und Fischarten, die schon stark dezimiert
sind oder bereits kurz vor dem Aussterben stehen, wird inzwischen in zweistelligen Prozentzahlen angegeben – und so reden wir heute bereits von 12 % der
fast 10.000 Vogelarten weltweit, 20 % der 5.416 Säugetierarten und 39 % der
untersuchten Fischarten.79
Bei den Säugetieren sind die 296 bekannten Primatenarten – mit Ausnahme des Menschen – am stärksten gefährdet, wobei laut Aussagen der World
Conservation Union-IUCN 114 dieser Arten schon jetzt vom Aussterben bedroht sind. Etwa 95 % der Primatenarten der Welt leben in Brasilien, wo die
Zerstörung ihres Lebensraumes eine besondere Bedrohung darstellt. Eine weitere Bedrohung ist die Jagd auf diese Tiere, besonders in West- und Zentral­
afrika, wo durch die schlechte Nahrungsmittelsituation und die neu gebauten
Holzfällerstraßen ein blühender Markt für „Buschfleisch“ entstanden ist.80
Die westafrikanischen Bonobos sind Menschenaffen, die etwas kleiner sind
als die ostafrikanischen Schimpansen und sowohl genetisch als auch in Bezug
auf das Sozialverhalten unsere vermutlich nächsten Verwandten. Doch dies
schützt sie nicht davor, zu Opfern im Handel mit „Buschfleisch“ zu werden
oder davor, dass ihr Lebensraum durch Abholzung zerstört wird. Heute leben
sie größtenteils in den dichten Wäldern der Demokratischen Republik Kongo
– einem gescheiterten Staat mit einem andauernden Bürgerkrieg – und ihre
Zahl ist seit 1980 von geschätzten 100.000 auf heute nur noch 10.000 gesunken. Das bedeutet, dass innerhalb von nur einer Menschengeneration 90 %
der Bonobos verschwunden sind.81
Da Vögel zu den gut sichtbaren und auffälligeren Tierarten gehören, sind
sie ein guter Indikator für die Artenvielfalt. Bei etwa 70 % der 9.817 bekannten
Vogelarten nimmt die Anzahl ihrer Vertreter ab und geschätzte 1.217 dieser
Arten stehen kurz vor dem Aussterben. Bereits 91 % der bedrohten Vogelarten
sind vom Verlust bzw. Verfall ihres Lebensraums betroffen. So sind beispielsweise infolge des massiven Verlusts an Tieflandregenwald in Singapur 61 % der
Vogelarten in dieser Region lokal bereits nicht mehr existent, und bei einigen
Arten, die einst im Überfluss vorhanden waren, könnte die Population bereits
bis auf einen Punkt zusammengeschrumpft sein, ab dem sie sich nicht mehr
erholt. Die Großtrappe, einst in Pakistan und den benachbarten Ländern weit
79 Species Survival Commission, 2007 IUCN Red List of Threatened Species unter www.
iucnredlist.org, aktualisiert am 12. September 2007.
80 Ebenda; TRAFFIC, Food for Thought: The Utilization of Wild Meat in Eastern and
Southern Africa (Cambridge, GB: 2000).
81 Danna Harman, „Bonobos’ Threat: Hungry Humans“, Christian Science Monitor,
7. Juni 2001; „Video: New Bonobo Ape Population Discovered“, National Geographic
News, 6. März 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
verbreitet, wird so stark gejagt, dass sie inzwischen ganz auszusterben droht,
und auch zehn der 17 Pinguinarten weltweit sind bereits vom Aussterben bedroht, sie sind Opfer der globalen Erwärmung. Çagan Sekercioglu, Biologe an
der Stanford University, hat eine separate Studie zum Status der Vogelarten der
Welt durchgeführt und sagte in diesem Zusammenhang: „Wir verändern die
Welt so stark, dass sich nicht einmal die Vögel daran anpassen können.“82
Eine besonders beunruhigende Entwicklung der letzten Zeit ist der starke
Rückgang der Population der verbreitetsten britischen Singvögel. In den vergangenen 30 Jahren sind die Populationen der bekanntesten Arten, wie des Fitis, der Singdrossel und des Grauschnäppers, um 50 bis 80 % zurückgegangen
und niemand scheint den Grund dafür zu kennen, obwohl es Spekulationen
darüber gibt, dass die Zerstörung der Lebensräume und die Ausbringung von
Pestiziden eine Rolle dabei spielen könnten. Ohne Kenntnis über die Ursache
für den Rückgang ist es schwer, Maßnahmen zu ergreifen, durch die diese Entwicklung aufgehalten werden könnte.83
Eine weitere besorgniserregende Entwicklung, die Ende 2006 einsetzte und
bereits direkte wirtschaftliche Konsequenzen hatte, ist der Rückgang der Population der Honigbiene, die eines der wichtigsten Glieder der Bestäubungskette
in den USA ist, sowohl für Obst als auch für andere Nutzpflanzen. In einer
zwischen September 2006 und März 2007 von den Apiary Inspectors of America durchgeführten Untersuchung kamen amerikanische Imker zu dem Schluss,
dass die Bienen in fast einem Viertel der amerikanischen Bienenkolonien infolge einer Krankheit, die Experten als „Colony Collapse Disorder“, zu Deutsch
etwa „Koloniekollaps-Störung“, bezeichnen, einfach verschwunden sind. Das
gleiche Schicksal ereilte einen Großteil der Bienenkolonien in Europa, Brasilien
und Guatemala.84
Den Wissenschaftlern gibt diese Krankheit, die die Franzosen – in Anlehnung an BSE – „Bienenwahnsinn“ getauft haben, viele Rätsel auf. Sie führt
dazu, dass Bienen, nachdem sie den Bienenstock verlassen und sich auf einen Bestäubungsflug begeben haben, offensichtlich die Orientierung verlieren
und nicht mehr in den Stock zurückkehren. Zum Zeitpunkt der Entstehung
dieses Buches gingen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass höchstwahrscheinlich der Israeli Acute Paralysis Virus, der ursprünglich wohl aus Australien
stammt, für diese Entwicklung verantwortlich ist. Wenn es den Wissenschaft82 Species Survival Commission, op. cit. Anmerkung 77; „Great Indian Bustard Fa­cing
Extinction“, India Abroad Daily, 12. Februar 2001; Çagan Sekercioglu, Gretchen C. Daily
und Paul R. Ehrlich, „Ecosystem Consequences of Bird Declines“, Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 101, Nr. 52 (28. Dezember 2004).
83 Michael McCarthy, „Mystery of the Silent Woodlands: Scientists Are Baffled as
Bird Numbers Plummet“, Independent (London), 25. Februar 2005; British Trust for Ornithology, „Tough Time for Woodland Birds“, Pressemitteilung (Thetford, Norfolk, GB:
25. F­ebruar 2005); J. A. Thomas et al., „Comparative Losses of British Butterflies, Birds, and
Plants and the Global Extinction Crisis“, Science, Vol. 303 (19. März 2004), S. 1879ff.
84 Dennis Van Engelsdorp et al., „An Estimate of Managed Colony Losses in the Winter of 2006-2007: A Report Commissioned by the Apiary Inspectors of America“, American
Bee Journal (Juli 2007), S. 599ff.; Alexei Barrionuevo, „Bees Vanish, and Scientists Race for
Reasons“, New York Times, 24. April 2007.
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lern nicht gelingt, diese Bienenkrankheit schnell zu entschlüsseln und Präventivmaßnahmen zu entwickeln, könnte die Welt vor einer bisher nie dagewesenen Störung der Obst- und Gemüseproduktion stehen.85
Am stärksten sind vermutlich die Fische vom Aussterben bedroht. Die
Hauptursachen dafür sind Überfischung, Wasserverschmutzung und die massive Umleitung von Wasser aus den Flüssen und anderen Süßwasser-Ökosystemen. Laut Untersuchungen der IUCN sind geschätzte 65 % der Fischarten,
die einst die Flüsse und Seen Nordamerikas bevölkerten, entweder bereits ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. In Europa ist die Lage noch ernster,
denn dort sind 109 der insgesamt 265 untersuchten Süßwasserfischarten bereits gefährdet, bedroht oder bedürfen besonderen Schutzes. Und in Südafrika
muss ein Drittel der 97 Fischarten besonders geschützt werden, damit sie nicht
völlig aussterben.86
Auch die Lederschildkröte, die bis zu 360 kg schwer werden kann und eine
der ältesten Tierarten der Welt bildet, stirbt sehr schnell aus. Ihre Zahl sank
zwischen 1982 und 1996 von 115.000 auf nur noch 34.500. In den Schildkrötenkolonien vom Playa Grande und Playa Langosta an der Westküste Costa
Ricas ist die Zahl der Weibchen zwischen 1989 und 2003 von 1.504 auf 62
gesunken. 2004 stieg sie wieder leicht an und lag bei 174. In einem Artikel in
Nature erklärten James Spotila und seine Kollegen: „Wenn diese Schildkröten
gerettet werden sollen, müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden, damit
weniger Tiere in den Netzen der Fischer sterben und mehr Junge zur Welt
kommen.“87
Eine der am schnellsten wachsenden Bedrohungen für die Artenvielfalt bei
Pflanzen und Tieren ist die massive Ausdehnung der Landwirtschaft, die derzeit in Brasilien zu beobachten ist und bei der Flächen gerodet werden, um
Weideflächen für das Vieh, Anbauflächen für Sojabohnen und neuerdings für
das zur Ethanolproduktion verwendete Zuckerrohr zu schaffen. Bauern und
Viehzüchter erschließen riesige Flächen im Amazonasgebiet und im Cerrado,
einem südlich des Amazonasbeckens gelegenen savannenartigen Gebiet von
der Größe Westeuropas. Obwohl es Maßnahmen gibt, die dazu dienen sollen,
die große Artenvielfalt des Amazonasgebietes zu schützen – wie die Auflage,
dass Landbesitzer nicht mehr als ein Fünftel ihres Landes roden dürfen – fehlt
es der Regierung doch an Kapazitäten zur Durchsetzung dieser Auflagen.88
85 Joel Garreau, „Honey, I’m Gone“, Washington Post, 1. Juni 2007; Erik Stokstad,
„Puzzling Decline of U.S. Bees Linked to Virus from Australia“, Science, Vol. 317, 5843 (7.
September 2007), S. 1304f.
86 Species Survival Commission, 2004 IUCN Red List of Threatened Species (Gland,
Schweiz sowie Cambridge, GB: IUCN, 2004), S. 89; Species Survival Commission, op. cit.
Anmerkung 77.
87 James R. Spotila et al., „Pacific Leatherback Turtles Face Extinction“, Nature, Vol. 405
(1. Juni 2000), S. 529f.; „Leatherback Turtles Threatened“, Washington Post, 5. Juni 2000;
Pilar Santidrián Tomillo et al., „Reassessment of the Leatherback Turtle (Dermochelys coriacea) Nesting Population at Parque Nacional Marino Las Baulas, Costa Rica: Effects of
Conservation Efforts“, Chelonian Conservation and Biology, Vol. 6, Nr. 1 (2007), S. 54ff.
88 David Kaimowitz et al., Hamburger Connection Fuels Amazon Destruction (Jakarta,
Indonesien: Center for International Forestry Research, 2004).
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Ebenso wie das Amazonasgebiet verfügt auch der Cerrado über einen gro­
ßen Artenreichtum. Es gibt hier Tausende endemischer Tier- und Pflanzenarten, darunter den Mähnenwolf, das Riesengürteltier, den Großen Ameisenbär, Rotwild und verschiedene Großkatzen – darunter der Jaguar, der Puma,
das Ozelot und der Jaguarundi (auch Wieselkatze genannt). Außerdem leben
im Cerrado 607 Vogelarten – darunter der Nandu, ein bis zu 1,80 m großer
Verwandter des Strauß – und mehr als 1.000 Arten von Schmetterlingen. Außerdem gibt es im Cerrado laut Angaben von Conservation International etwa
10.000 verschiedene Pflanzenarten, von denen mindestens 4.400 endemisch
sind, also nur dort vorkommen.89
Eine der neueren Bedrohungen für die weltweite Artenvielfalt – und noch
dazu eine, die gewöhnlich unterschätzt wird – ist die Einführung fremder
Arten, durch die sich die lokalen Lebensräume und die Gemeinschaften verändern können, was zum Aussterben einheimischer Arten führen kann. So
könnten beispielsweise nicht einheimische Arten bei 29 % der bedrohten Vogelarten auf der Roten Liste der IUCN dafür verantwortlich sein, dass diese
auf die Liste gesetzt werden mussten. Bei Pflanzen geht man davon aus, dass
die Einführung fremder Arten bei 5 % der auf der Liste befindlichen Arten mit
eine Rolle gespielt hat.90
Bei den Bemühungen zum Schutz der wild lebenden Tiere und Pflanzen
hat man sich bisher in der Regel auf die Schaffung von Parks oder Reservaten
konzentriert. Leider könnte sich dieser Ansatz heute als wenig effektiv erweisen, denn wenn es uns nicht gelingt, das Klima zu stabilisieren, können wir
kein einziges Ökosystem auf Erden retten, da sich die ganze Welt komplett
verändern würde.
In der von uns angestrebten neuen Welt werden wir uns beim Schutz der
Artenvielfalt nicht mehr nur auf die Bereitstellung und Einzäunung bestimmter Flächen beschränken können, denen wir den Status von Naturparks und
Reservaten verleihen. Der Erfolg unserer Bemühungen wird entscheidend davon abhängen, ob es uns gelingt, sowohl das Klima als auch die Bevölkerungszahlen zu stabilisieren.
Positiv ist, dass wir heute mehr Informationen über den Zustand der Erde
und der darauf lebenden Arten haben als je zuvor. Obwohl dieses Wissen kein
Ersatz für entsprechendes Handeln ist, bildet es doch die Voraussetzung für die
Rettung der natürlichen Systeme unserer Erde – und unserer Zivilisation, die
stark auf sie angewiesen ist.
89 Conservation International, „The Brazilian Cerrado“, unter www.biodiversityhotspots.org, eingesehen am 19. Juli 2007; Center for Applied Biodiversity Science,
„Hotspots Revisited: Cerrado“, unter www.biodiversityscience.org/publications/hotspots/
Cerrado.html, eingesehen am 19. Juli 2007; Angaben zur Artenvielfalt bei Schmetterlingen
aus: Helena C. Morais et al., „Caterpillar Seasonality in a Central Brazilian Cerrado“, Revista de Biología Tropical, Vol. 47, Nr. 4 (1999), S. 1025ff.
90 Species Survival Commission, op. cit. Anmerkung 77.
130
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 6
Erste Anzeichen des Niedergangs
Obwohl in vielen Bereichen bereits Fortschritte zu verzeichnen sind, zeigen sich
doch auch immer wieder Anzeichen dafür, dass sich unsere Zivilisation im Niedergang befindet – eine sehr beunruhigende Entwicklung. In den letzten Jahren
haben UN-Demographen die Welt mit ihren Vorhersagen darüber geschockt,
dass die Lebenserwartung der Menschen in den 38 von AIDS besonders stark
betroffenen afrikanischen Ländern südlich der Sahara auf 45 Jahre gesunken ist,
während sie ohne den Einfluss des Virus etwa 10 Jahre höher läge.
Damit ist zum ersten Mal in der Moderne die Lebenserwartung, ein wichtiger Indikator für den allgemeinen Fortschritt, für einen großen Teil der
Weltbevölkerung gesunken. Durch das Versagen Dutzender Regierungen bei
der Eindämmung von AIDS im eigenen Land ist der Fortschritt buchstäblich
umgekehrt worden. Es stellt sich die Frage, ob dieses Versagen des politischen
Systems eine Anomalie darstellt oder ein erstes Anzeichen dafür ist, dass schwächere Regierungen angesichts der Komplexität der immer neuen Probleme
überfordert sind.
Doch die Probleme beschränken sich nicht auf Afrika. In Russland beispielsweise ist die Lebenserwartung für Männer seit 1990 von 64 Jahren auf 59
Jahre gesunken. In China, einem Land mit enorm hoher Umweltverschmutzung, sterben mehr Menschen an Krebs als an irgendeiner anderen Krankheit.
Die Vereinigten Staaten verfügen zwar über eine der produktivsten Wirtschaften weltweit, doch die gesellschaftlichen Verhältnisse geben Anlass zur Sorge:
Insgesamt gibt es hier 960.000 Landwirte und 2 Mio. Gefängnisinsassen, womit doppelt so viele Menschen in Gefängnissen leben wie auf dem Lande.
Die Kluft zwischen Arm, und Reich wird immer größer, wodurch das internationale System zunehmend stärker unter Druck gerät, und die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den verschiedenen Ländern sind
heute größer als je zuvor. Am niedrigsten ist sie in Swasiland und Botswana,
wo die Menschen im Durchschnitt weniger als 40 Jahre alt werden, und am
höchsten in Japan und Schweden, deren Einwohner in der Regel 80 Jahre und
älter werden. HIV ist ein Grund für diese großen Unterschiede in der Lebenserwartung, ein weiterer ist der Hunger in der Welt, denn nachdem die Zahl
U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2002 Revision – Volume
III: Analytical Report (New York: 2004), S. 136-158, 169.
Angaben zu Krebstoten in China aus: World Health Organization (WHO), „Death
by Causes, Sex and Mortality Stratum in WHO Regions, Estimates for 2002“, World Health
Report 2004 (Genf: Mai 2004); U.N. Population Division, World Population Prospects: The
2006 Revision Population Database, elektronische Datenbank unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007; „Number of Inmates in State or Federal Prisons and Local Jails by Gender,
Race, Hispanic Origin, and Age, June 30, 2006“, Bureau of Justice Statistics, U.S. Department of Justice, unter www.ojp.gov/bjs/prisons.htm, aktualisiert am 18. Juli 2007; U.S. Environmental Protection Agency (EPA), „Ag 101: Agricultural Demographics“, Datenblatt,
unter www.epa.gov/oecaagct, eingesehen am 3. September 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
der Menschen, die weltweit Hunger leiden mussten, in den vorangegangenen
Jahrzehnten stetig zurückgegangen war, steigt sie seit Ende der 90er Jahre wieder an.
Die Belastungen für unsere Zivilisation im 21. Jahrhundert zeigen sich auf
verschiedenste Weise. In wirtschaftlicher Hinsicht ist eine von ihnen sicher
die stetig größer werdende Einkommenskluft zwischen armen und reichen
Bewohnern unserer Welt. Im sozialen Bereich sind es die wachsenden Unterschiede im Bereich der Bildung und der Gesundheitsfürsorge sowie der immer
größer werdende Strom von Menschen, die aufgrund der Tatsache, dass sich
immer mehr ehemals produktive Böden in Wüsten verwandeln und immer
mehr Quellen versiegen, zu Umweltflüchtlingen werden. Politisch zeigen sich
die Belastungen in Form von Auseinandersetzungen um die Verteilung grundlegender Ressourcen wie Anbau- und Weideflächen und natürlich um Wasser.
Doch der deutlichste Indikator dafür, dass die Belastungen für unsere Zivilisation immer größer werden, ist die wachsende Zahl von Staaten, die bereits
gescheitert sind oder zumindest kurz davor stehen.
EINE WELT MIT SOZIALEN TRENNGRÄBEN
Nie war die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen der 1 Mrd. der reichsten Menschen weltweit und der 1 Mrd. der ärmsten so groß wie heute. Doch
nicht genug damit, dass die Kluft bereits jetzt sehr groß ist, sie wird auch immer größer. Während die 1 Mrd. der ärmsten Menschen weltweit auf einem
Niveau festhängt, dass sie gerade so ihr Auskommen haben, wird die 1 Mrd.
der Reichen mit jedem Jahr reicher. Erkennbar ist diese wirtschaftliche Kluft
deutlich an den Unterschieden in der Ernährung, der Bildung, in den Krankheitsmustern, der Familiengröße und in der Lebenserwartung.
Die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lassen darauf schließen, dass rund 862 Mio. Menschen weltweit unterernährt sind und häufig
Hunger leiden, während gleichzeitig rund 1,6 Mrd. Menschen weltweit überernährt und übergewichtig sind. Viele von ihnen nehmen deutlich zu viele Kalorien zu sich oder bewegen sich zu wenig – in vielen Fällen beides. Während
sich also fast 1 Mrd. Menschen Gedanken machen, ob sie überhaupt etwas zu
essen haben, sorgen sich etwa 1,6 Mrd. andere viel mehr darüber, dass sie zu
viel zu essen.
Hunger ist das wohl am deutlichsten sichtbare Merkmal von Armut. Menschen, die chronisch Hunger leiden, erhalten nicht genug Nährstoffe, um sich
körperlich und geistig voll entwickeln und ein gesundes Maß an körperlicher
Aktivität aufrechterhalten zu können. Die Mehrheit der Unterernährten und
Angaben zur Lebenserwartung in den verschiedenen Ländern aus: WHO, World
Health Statistics 2007 (Genf: 2007), S. 22ff.; Angaben zur Zahl der Hungerleidenden aus:
U.N. Food and Agriculture Organization (FAO), Number of Undernourished Persons, unter
www.fao.org/faostat/foodsecurity, aktualisiert am 30. Juni 2006.
FAO, op. cit. Anmerkung 3; WHO, „Obesity and Overweight“, Datenblatt (Genf:
September 2006).
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Untergewichtigen lebt auf dem indischen Subkontinent und in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara – in Regionen, in denen 1,4 Mrd. bzw. 800
Mio. Menschen leben. Vor 25 Jahren war die Ernährungssituation in Indien
und China, den beiden bevölkerungsreichsten Ländern Asiens, ganz ähnlich,
doch seither hat China den Hunger größtenteils ausgemerzt, während Indien
nur sehr begrenzte Fortschritte gemacht hat. In diesem letzten Vierteljahrhundert hat China den Übergang zu kleineren Familien vorangetrieben, und während die Zugewinne in der Lebensmittelproduktion in Indien in dieser Zeit
größtenteils durch das Bevölkerungswachstum geschluckt wurden, haben sie
in China einen erhöhten Verbrauch des Einzelnen ermöglicht.
Den höchsten Tribut fordert die Unterernährung von den jungen Menschen, die in dieser Phase der schnellen körperlichen und geistigen Entwicklung besonders anfällig sind. Sowohl in Indien als auch in Bangladesch ist fast
die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren untergewichtig und unterernährt und
in Äthiopien und Nigeria – zwei der bevölkerungsreichsten Länder Afrikas
– sind 47 % bzw. 29 % aller Kinder unternährt.
Obwohl es nicht überraschen kann, dass die meisten unterernährten Menschen in Entwicklungsländern leben, ist es vielleicht doch überraschend, dass
die meisten von ihnen in ländlichen Gesellschaften leben. In den allermeisten
Fällen verfügen unterernährte Menschen über gar kein Land oder sie leben auf
Landstücken, die so klein sind, dass es praktisch nicht ins Gewicht fällt.
Das Problem der Unterernährung beginnt schon mit der Geburt. In einem
UN-Bericht heißt es, jedes Jahr kämen 20 Mio. unterernährte Kinder zur Welt
und sie würden von Müttern geboren, die ebenfalls unterernährt sind. In der
Studie wird außerdem gesagt, diese Kinder litten unter dauerhaften Schädigungen in Form von „geschwächten Immunsystemen, neurologischen Schäden und verzögerter körperlicher Entwicklung“. David Barker von der University of Southampton in Großbritannien bemerkt dazu nüchtern: „60 % aller
Neugeborenen in Indien lägen auf der Intensivstation, wenn sie in Kalifornien
zur Welt gekommen wären.“
Auch in den Krankheitsmustern zeigt sich die größer werdende Kluft. Die
1 Mrd. der ärmsten Menschen weltweit leiden größtenteils an Infektionskrankheiten – Malaria, Tuberkulose, Diarrhöe und Aids. Durch die Mangel­
ernährung sind Kinder, vor allem Kleinkinder, besonders anfällig für diese
Infektionskrankheiten. Für ein durch Hunger geschwächtes Immunsystem ist
verschmutztes Trinkwasser besonders gefährlich, und jedes Jahr gibt es deswegen mehrere Millionen Todesopfer. Im Gegensatz dazu sterben die meisten der
1 Mrd. reicher Menschen eher an Krankheiten, die durch ihr Alter oder durch
FAO, The State of Food Insecurity in the World 2006 (Rom: 2006), S. 8, 32, 33; FAO,
The State of Food Insecurity in the World 2002 (Rom: 2002); U.N. Population Division, op.
cit. Anmerkung 2.
FAO, The State of Food Insecurity in the World 2005 (Rom: 2005), S. 33.
FAO, The State of Food Insecurity in the World 2004 (Rom: 2004).
Gary Gardner und Brian Halweil, „Nourishing the Underfed and Overfed“, in: Lester
R. Brown et al., State of the World 2000 (New York: W. W. Norton & Company, 2000), S.
70ff.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Risikofaktoren in ihrem Lebenswandel bedingt sind, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleibigkeit, Rauchen, zuviel Fett und Zucker und mangelnde
Bewegung.
Auch in der Demographie zeigen sich die Trenngräben: Fast eine Milliarde
Menschen leben in Ländern, in denen die Bevölkerungszahl relativ stabil ist,
doch eine weitere Milliarde oder mehr lebt in Ländern, für die bis 2050 eine
Verdopplung der derzeitigen Bevölkerungszahl prognostiziert wird.10
Das Bildungsniveau ist ein weiterer Indikator für die deutliche Kluft zwischen Arm und Reich. In einigen Industrieländern – wie beispielsweise Japan
und Kanada – verlassen mehr als die Hälfte aller jungen Menschen die Universität mit einem 2- bzw. 4-Jahres-Abschluss, während in den Entwicklungsländern 72 Mio. Kinder im Grundschulalter überhaupt nicht zur Schule gehen.
Obwohl seit der Erfindung der Buchpresse durch Gutenberg inzwischen mehr
als 500 Jahre vergangen sind, können immer noch mehr als 781 Mio. Erwachsene weder lesen noch schreiben, was ihnen außerdem die Möglichkeit nimmt,
Computer oder das Internet zu benutzen – und ohne Programme zur Bekämpfung des Analphabetentums bei Erwachsenen haben sie kaum eine Chance,
der Armut zu entfliehen.11
Die meisten Analphabeten leben in einigen wenigen, stark bevölkerten
Ländern, die sich zumeist in Asien und Afrika befinden. Zu den bekanntesten von ihnen zählen Ägypten, Äthiopien, Bangladesch, China, Indien, Indonesien, Nigeria und Pakistan sowie Brasilien und Mexiko in Lateinamerika.
Zwischen 1990 und 2000 haben China und Indonesien große Fortschritte im
Kampf gegen das Analphabetentum gemacht, und auch in Brasilien, Mexiko
und Nigeria war eine deutliche Besserung zu verzeichnen. Doch in vier anderen stark bevölkerten Ländern – Ägypten, Bangladesch, Indien und Pakistan
– ist die Zahl der Analphabeten sogar gestiegen.12
In vielen Fällen verstärken Analphabetentum und Armut einander, da Frauen, die nicht lesen und schreiben können, in der Regel viel größere Familien
haben als solche, die lesen und schreiben können, und weil mit jedem Jahr, das
ein Kind die Schule besucht hat, die späteren Verdienstmöglichkeiten um 10
bis 20 % steigen. In Brasilien beispielsweise haben Frauen, die nicht lesen und
WHO und UNICEF, Global Water Supply and Sanitation Assessment 2000 Report (New
York: 2000), S. v, 2; WHO, op. cit. Anmerkung 2.
10 Angaben über Länder mit relativ stabilen Bevölkerungszahlen aus: Population Reference Bureau, Datafinder, elektronische Datenbank unter www.prb.org/DataFind/datafinder7.htm, aktualisiert 2007; Prognosen über eine Verdopplung der aktuellen Bevölkerungszahlen aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2.
11 „Population That Has Attained Tertiary Education (2003)“, in: Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Education at a Glance 2005
(Paris: 2005); Angaben über die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen können, aus:
United Nations, Millennium Development Goals Report 2007 (New York: 2007), S. 11; Angaben zur Zahl der erwachsenen Analphabeten aus: UNESCO, EFA Global Monitoring
Report 2007: Strong Foundations (Paris: 2006), S. 2.
12 Hilaire A. Mputu, Literacy and Non-Formal Education in the E-9 Countries (Paris:
UNESCO, 2001), S. 5-13; UNESCO Institute for Statistics, „National Illiteracy Rates Youths
(15–24) and Adults (15+)“, unter www.uis.unesco.org, aktualisiert am 19. Juni 2007.
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schreiben können, im Durchschnitt mehr als sechs Kinder, während Frauen,
die lesen und schreiben können, nur zwei Kinder haben.13
Armut bedeutet häufig auch eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten.
Ebenso wie zwischen Armut und Analphabetentum gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Armut und schlechtem Gesundheitszustand. Ob die
Gesundheit eines Menschen stabil ist, hängt unter anderem stark davon ab,
ob er Zugang zu sauberem Trinkwasser hat, was bei etwa 1,1 Mrd. Menschen
nicht der Fall ist. Jedes Jahr sterben etwa 3 Mio. Menschen an Krankheiten, die
durch verschmutztes Wasser ausgelöst wurden, meist an Diarrhöe oder Cholera
– und die meisten dieser Todesopfer sind Kinder. Zum Vergleich: In Überflussgesellschaften liegt die Kindersterblichkeit im Durchschnitt bei 8 von 1.000
Neugeborenen, in den 50 ärmsten Ländern der Erde liegt der Wert mit 95 von
1.000 Neugeborenen fast 12-mal so hoch.14
Obwohl Armut und Krankheit eng miteinander verbunden sind, konnte
dieser Teufelskreis in großen Teilen der Welt dank der wirtschaftlichen Entwicklung doch durchbrochen werden. Jetzt besteht die Herausforderung darin, dies auch für jene noch verbliebene Minderheit zu erreichen, die bislang
keinen Zugang zu sauberem Wasser, Impfstoffen, Bildung und grundlegender
Gesundheitsfürsorge hat.
DIE WACHSENDEN HERAUSFORDERUNGEN IM BEREICH
DER GESUNDHEITSFÜRSORGE
Angesichts immer neuer Infektionskrankheiten wie SARS, des Westnilvirus
und der Vogelgrippe nehmen die gesundheitlichen Bedrohungen immer mehr
zu, während die immer stärkere chemische Verschmutzung unserer Umwelt
einen zusätzlichen Tribut verlangt. Im Gegensatz zu bestimmten Infektionskrankheiten, wie Malaria und Cholera, die bereits seit Längerem bekannt sind
und mit denen die Gesundheitsbehörden deshalb gut vertraut sind, weiß man
im Falle vieler Umweltgifte noch nicht, welche Auswirkungen sie auf die Gesundheit der Menschen haben.
Von den bekanntesten Infektionskrankheiten fordert Malaria jährlich mehr
als 1 Mio. Todesopfer, 89 % von ihnen in Afrika, wobei die Zahl der Infizierten, die oft ein Leben lang unter der Krankheit leiden, noch um ein Vielfaches größer ist. Der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs, Direktor des
Earth Institute an der Columbia University, geht davon aus, dass die sinkende
Produktivität der Arbeiter und andere mit Malaria in Zusammenhang stehen-
13 Gene B. Sperling, „Toward Universal Education“, Foreign Affairs, September/Oktober 2001, S. 7ff.
14 Angaben zum Zugang zu sauberem Trinkwasser aus: Weltbank, Global Monitoring Report 2007: Millennium Development Goals (Washington, DC: 2007), S. 13; Peter H. Gleick,
Dirty Water: Estimated Deaths from Water-Related Disease 2000-2020 (Oakland, CA: Pacific
Institute, 2002); U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2.
135
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de Kosten in Ländern mit einem hohen Anteil Infizierter dazu führen, dass das
Wirtschaftswachstum um einen vollen Prozentpunkt sinkt.15
Obwohl Krankheiten wie Malaria und Cholera viele Opfer fordern, sind
die Zahlen doch nichts im Vergleich zu den Zahlen der von der HIV-Epidemie Betroffenen. Wenn man nach etwas sucht, das auch nur annähernd mit
den potentiell verheerenden Verlusten an Menschenleben durch dieses Virus
vergleichbar ist, muss man bis ins 16. Jahrhundert zurückgehen, zu der Pocken­
epidemie unter den Indianern, oder bis ins 14. Jahrhundert, als die Beulenpest
fast ein Viertel der Bevölkerung Europas dahinraffte. Aids ist eine Epidemie
von unglaublichen Ausmaßen, die, wenn sie nicht schnellstmöglich eingedämmt wird, in diesem Jahrhundert mehr Menschenleben fordern könnte als
alle Kriege des vergangenen Jahrhunderts zusammen.16
Seit seiner Entdeckung 1981 hat sich das Immunschwächevirus weltweit
ausgebreitet. Bis Ende 2006 hatten sich bereits 86 Mio. Menschen mit dem
Virus infiziert, von denen 40 Mio. inzwischen gestorben sind. Derzeit leben
25 Mio. der HIV-Infizierten in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara,
doch nur etwa 1 Million von ihnen werden mit antiretroviralen Medikamenten
behandelt.17
Die Infektionsraten steigen weiter und ohne effektive Behandlungsmöglichkeiten werden in den Gebieten südlich der Sahara, in denen die Infektionsraten am höchsten sind, schon sehr bald sehr viele Menschen daran sterben,
und Länder wie Botswana oder Simbabwe könnten innerhalb von zehn Jahren
mehr als ein Fünftel ihrer erwachsenen Bevölkerung einbüßen.18
Doch die HIV-Epidemie ist kein isoliertes Phänomen, jeder Lebensbereich
und jeder Wirtschaftssektor ist davon betroffen. Da die Anzahl der Feldarbeiter sinkt, sinkt auch die in den meisten Ländern südlich der Sahara ohnehin
niedrige Pro-Kopf-Produktion von Lebensmitteln noch weiter. Mit dem Rückgang der Lebensmittelproduktion nimmt der Hunger bei Kindern und älteren
Menschen zu, da sie besonders auf Lebensmittel angewiesen sind. Der Abwärts­
trend in Bezug auf die Sozialfürsorge für Familien beginnt in der Regel dann,
wenn der erste Erwachsene in der Familie erkrankt – und diese Entwicklung
15 Anzahl der Todesopfer berechnet auf Grundlage von Informationen aus: U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2004 Revision (New York: 2005) sowie aus:
WHO/UNICEF, World Malaria Report 2005 (Genf: 2005); Sachs aus: Center for International Development at Harvard University and London School of Hygiene and Tropical Medicine, „Executive Summary for Economics of Malaria“, unter www.rbm.who.int,
eingesehen am 3. August 2005.
16 Vergleich der möglichen Todesopfer von AIDS mit denen aller Kriege des vergangenen Jahrhunderts aus: Lawrence K. Altman, „U.N. Forecasts Big Increase in AIDS Death
Toll“, New York Times, 3. Juli 2002.
17 Angaben zur Zahl der insgesamt bereits verstorbenen AIDS-Infizierten und historische Schätzungen basieren auf Statistiken von UNAIDS in: Worldwatch Institute, Signposts 2004, CD-Rom (Washington, DC: 2004) sowie in: UNAIDS, AIDS Epidemic Update
(Genf: mehrere Jahre); Angaben zu den Ländern südlich der Sahara aus: UNAIDS, 2006
AIDS Epidemic Update (Genf: Dezember 2006), S. 10.
18 UNAIDS, 2006 Report on the Global AIDS Epidemic (Genf: Mai 2006), S. 2ff., 320,
488.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
ist doppelt schlimm, weil jeder Erkrankte, der nicht mehr arbeiten kann, von
einem weiteren Erwachsenen betreut werden muss.19
Auch der Bildungssektor ist betroffen: Durch Infektion mit dem Virus lichten sich auch die Reihen der Lehrer zunehmend, und wenn eines der Elternteile eines Kindes im Schulalter stirbt – oder sogar beide – kann das betroffene
Kind oft nicht mehr zur Schule gehen, weil einfach kein Geld für Schulbücher
oder die Schulgebühren da ist.
Die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem sind ebenfalls verheerend.
In vielen Krankenhäusern im Osten und Süden Afrikas sind die meisten Krankenbetten inzwischen durch AIDS-Patienten belegt, sodass wenig Platz für Patienten mit anderen Krankheiten bleibt. Die ohnehin überarbeiteten Ärzte und
Schwestern müssen oft bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gehen. Da die
Gesundheitssysteme nicht mehr in der Lage sind, auch nur die grundlegende
Versorgung zu gewährleisten, nehmen auch die Sterberaten bei traditionellen
Krankheiten zu. Die Lebenserwartung geht nicht nur wegen der hohen AIDSRate zurück, sondern auch wegen der damit einhergehenden allgemeinen Verschlechterung im Gesundheitswesen der betroffenen Länder.20
Eine weitere Folge der AIDS-Epidemie sind viele Millionen verwaister Kinder. Man geht davon aus, dass es in den Ländern südlich der Sahara bis 2010
etwa 18 Mio. „AIDS-Waisen“ – Kinder, die mindestens ein Elternteil durch
AIDS verloren haben – geben wird, eine nie da gewesene Anzahl von Straßenkindern in Afrika. Inzwischen sind auch die ausgedehnten Familienstrukturen,
die einst in der Lage waren, verwaiste Kinder aufzufangen, durch den massiven
Verlust an Erwachsenen soweit zusammengeschrumpft, dass Kinder zum Teil
gezwungen sind, ihre Eltern selbst zu begraben und sich anschließend selbst
überlassen bleiben. Einigen Mädchen bleibt nur eine Chance – sogenannter
„Überlebenssex“. Michael Grunwald von der Washington Post schreibt über
Swasiland: „Für fünf Dollar pro ‚Nummer’ verkaufen junge Mädchen im Teenageralter in den ländlichen Gegenden von Swasiland Sex – und verbreiten HIV.
Genau so viel kostet es, für einen Tag Ochsen zum Pflügen zu mieten.“21
Inzwischen ist die HIV-Epidemie auch zu einem Problem für die Entwicklung geworden, durch das nicht nur der weitere Fortschritt in Gefahr ist,
sondern auch bereits Erreichtes wieder verloren gehen kann. Sie stellt ein Problem für die Lebensmittelsicherheit dar, verursacht Probleme im Bildungssystem und ist ein Hindernis für ausländische Investitionen. Außerdem führt sie
dazu, dass immer mehr Regierungen überfordert sind und immer mehr Staaten scheitern. Als Stephen Lewis noch UN-Sondergesandter für HIV/AIDS
in Afrika war, sagte er einmal, die Epidemie könne aufgehalten und der Trend
19 UNAIDS, 2004 Report on the Global AIDS Epidemic (Genf: 2004), S. 39-66; FAO,
„The Impact of HIV/AIDS on Food Security“, 27. Tagung des Committee on World Food
Security, Rom, 28. Mai-1. Juni 2001.
20 UNAIDS, op. cit. Anmerkung 18, S. 95.
21 UNAIDS, UNICEF und U.S. Agency for International Development, Children
on the Brink 2004: A Joint Report on New Orphan Estimates and a Framework for Action
(Washington, DC: 2004), S. 29; Michael Grunwald, „Sowing Harvests of Hunger in
Africa“, Washington Post, 17. November 2002.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
bei Infektionen umgekehrt werden, doch dazu wäre eine verstärkte Hilfe der
internationalen Gemeinschaft nötig. Weiter bezeichnete er die Tatsache, dass
der Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria finanziell nicht ausreichend ausgestattet wird, als „Massenmord durch Selbstgefälligkeit“.22
Alex de Waal, einer der Berater von UNICEF und der Wirtschaftskommission der UN für Afrika, fasst in der New York Times die Auswirkungen
der Epidemie sehr treffend zusammen: „Ebenso wie HIV das Immunsystem
zerstört, zerstört die HIV- und AIDS-Epidemie den Staatskörper. Durch den
HI-Virus haben die am schlimmsten betroffenen afrikanischen Länder einen
sozialen Schaden erlitten, der dabei ist, ein ganz neues Niveau zu erreichen:
Die Kapazitäten der afrikanischen Gesellschaften zum Schutz vor Hungersnöten sinken immer mehr, und Hunger und Krankheiten haben begonnen, sich
gegenseitig zu verstärken. So entmutigend die Aussichten auch sein mögen,
wir müssen beides gemeinsam bekämpfen, oder wir werden keines von beidem
besiegen können.“23
Während sich die HIV-Epidemie derzeit hauptsächlich auf Afrika konzen­
triert, sind Wasser- und Luftverschmutzung ein gesundheitliches Risiko für die
Menschen überall auf der Welt. Laut einer gemeinsamen Studie der University
of California und des Boston Medical Center gibt es etwa 200 Erkrankungen
bei Menschen, von Hodenatrophie (auch Schrumpfhoden genannt) bis hin zu
zerebralen Lähmungen24, die im Zusammenhang mit bestimmten Schadstoffen stehen. Zu den weiteren Erkrankungen, die durch Schadstoffe verursacht
werden können, gehören erschreckende 37 Arten von Krebs sowie Herz- und
Nierenerkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, Kontaktdermatitis, Bronchitis, Hyperaktivität, Taubheit, Schädigung der Spermien, Alzheimer und Parkinson.25
Es gibt wohl kaum ein Land auf der Welt, in dem die Umweltverschmutzung die Gesundheit der Menschen so stark beeinträchtigt wie in China. Hier
sterben inzwischen mehr Menschen an Krebs als an Herzerkrankungen oder
Schlaganfällen. Eine 2007 veröffentlichte Studie des chinesischen Gesundheitsministeriums, in der 30 Städte und 78 Landkreise untersucht worden waren,
ergab, dass die Zahl der Krebsfälle in China massiv angestiegen ist. In einigen
Fällen wird die Bevölkerungszahl in sogenannten „Krebsdörfern“ durch die
Erkrankung bereits zunehmend dezimiert.26
22 Stephen Lewis, Presseinformation, New York, 8. Januar 2003; Edith M. Lederer,
„Lack of Funding for HIV/AIDS is Mass Murder by Complacency, Says U.N. Envoy“, Associated Press, 9. Januar 2003.
23 Alex de Waal, „What AIDS Means in a Famine“, New York Times, 19. November 2002.
24 Anm. d. Übers.: Lähmungen, deren Ursachen im Gehirn liegen
25 Sarah Janssen, Gina Solomon und Ted Schettler, Chemical Contaminants and Human
Disease: A Summary of Evidence (Boston: Alliance for a Healthy Tomorrow, 2004); Geoffrey
Lean, „US Study Links More than 200 Diseases to Pollution“, Independent News (London),
14. November 2004.
26 Jonathan Watts, „Beijing Blames Pollutants for Rise in Killer Cancers“, Guardian
(London), 22. Mai 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die nördlich von Shanghai an der Küste gelegene Provinz Jiangsu ist nicht
nur eine der wohlhabendsten Provinzen Chinas, sondern auch eine der Provinzen mit den meisten Krebsfällen. Obwohl in Jiangsu nur etwa 5 % der
Gesamtbevölkerung Chinas leben, liegt der Anteil der Krebstoten bei 12 %,
und in einem der Flüsse der Provinz wurden 93 verschiedene Karzinogene
entdeckt, von denen die meisten durch ungeklärte Industrieabwässer in den
Fluss gelangt waren.27
Der Stellvertretende Umweltschutzminister Chinas, Pan Yue, ist der Ansicht, sein Land stünde „gefährlich dicht davor, einen kritischen Punkt zu
erreichen.“ Der Grund dafür liegt seiner Meinung nach darin, dass der Marxismus „einem ununeingeschränkten Streben nach materiellen Gewinnen
ohne jede moralische Grundlage“ Platz gemacht habe. Dabei habe man, so
Pan Yue weiter, „die traditionelle chinesische Kultur, in der viel Wert auf ein
harmonisches Verhältnis zwischen Mensch und Natur gelegt wird, einfach
weggeworfen“.28
Inzwischen ist es so, dass China nicht nur mit jedem Jahr reicher wird, sondern auch kränker. Es wird zwar immer wieder verkündet, es müssten schnellstens Maßnahmen zur Eindämmung der Umweltverschmutzung ergriffen werden, doch diese offiziellen Erklärungen werden größtenteils ignoriert. Bisher
zeigt die chinesische Regierung kein echtes Engagement, wenn es darum geht,
die Umweltverschmutzung zu kontrollieren und einzudämmen. Das Umweltschutzministerium Chinas verfügt über weniger als 300 Mitarbeiter, die alle in
Peking sitzen. Zum Vergleich: Die Umweltschutzbehörde der USA (EPA) hat
17.000 Mitarbeiter, von denen die meisten in regionalen Büros arbeiten, die
über das ganze Land verteilt sind und von denen aus sie die Umweltverschmutzung vor Ort direkt beobachten und überwachen können.29
Doch auch in den Vereinigten Staaten sind die Auswirkungen der Umweltverschmutzung deutlich spürbar. Im Juli 2005 veröffentlichte die Environmental Working Group in Zusammenarbeit mit Commonweal eine Studie über
Blut, das man aus den Nabelschnüren von zehn zufällig ausgewählten Neugeborenen in amerikanischen Krankenhäusern entnommen und analysiert hatte.
Bei den Tests waren 287 Chemikalien festgestellt worden. „Von 180 der 287
dabei gefundenen Chemikalien, […] ist bekannt, dass sie bei Menschen und
Tieren Krebs verursachen können; 217 sind Gifte, die das Hirn und das Nervensystem schädigen können, und 208 haben bei Tierversuchen zu Geburtsfehlern oder anormaler Entwicklung geführt.“ Jeder auf diesem Planeten trägt
in seinem Körper einen Teil der Belastung durch diese giftigen Chemikalien,
doch Kleinkinder sind weitaus stärker gefährdet, da sie sich in der prägenden
Frühphase ihrer Entwicklung befinden.30
27 Ebenda.
28 Pan Yue, „View: China’s Green Debt“, Daily Times (Pakistan), 1. Dezember 2006.
29 Kent Ewing, „“Behind the Hysteria About China’s Tainted Goods“, Asia Times,
18. Juli 2007; EPA, „About EPA“, unter www.epa.gov, eingesehen am 25. Juli 2007.
30 Jane Houlihan et al., Body Burden: The Pollution in Newborns (Washington, DC:
Environmental Working Group, 2005).
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Laut Berichten der Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich geschätzte 3
Mio. Menschen durch Schadstoffe in der Luft – dreimal mehr als bei Verkehrsunfällen. In den USA sterben infolge der Luftverschmutzung jährlich 70.000
Menschen – im Gegensatz dazu sind es bei Verkehrsunfällen nur 45.000.31
2004 berichtete ein britisches Wissenschaftlerteam, in zehn Industrieländern – sechs europäischen Ländern sowie den Vereinigten Staaten, Japan, Kanada und Australien – hätten die Fälle von Alzheimer und Parkinson sowie
Amy­otropher Lateralsklerose überraschend stark zugenommen. In England
und Wales hat sich die Zahl der Sterbefälle bei diesen Erkrankungen von jährlich 3.000 in den späten 70er Jahren auf 10.000 in den späten 90er Jahren
erhöht. Über einen Zeitraum von 18 Jahren haben sich die Sterberaten bei
diesen Demenzkrankheiten, vor allem bei Alzheimer, bei Frauen fast verdoppelt und bei Männern sogar mehr als verdreifacht. Dieser Anstieg bei den Demenzkrankheiten wird mit einer erhöhten Konzentration von Pestiziden, Industrieabwässern, Autoabgasen und anderen Schadstoffen in unserer Umwelt
in Zusammenhang gebracht. Und Wissenschaftler der Harvard School of Public
Health kamen in einer Studie aus dem Jahr 2006 zu dem Schluss, dass das
Risiko, an Parkinson zu erkranken, um 70 % steigt, wenn ein Mensch längere
Zeit geringen Mengen an Pestiziden ausgesetzt ist.32
Wissenschaftler sind auch zunehmend besorgt wegen der verschiedenen
Auswirkungen, die Quecksilber haben kann. Quecksilber ist ein starkes Neurotoxin, das inzwischen die Umwelt in praktisch allen Ländern, die über Kohlekraftwerke verfügen, und in vielen, die über Goldminen verfügen, verseucht.
Jedes Jahr wird das Ökosystem am Amazonas mit geschätzten 130 t Quecksilber aus den Goldminen vergiftet, und Kohlekraftwerke in den Vereinigten
Staaten pusten mehr als 45 t Quecksilber in die Luft. In einem Bericht der EPA
heißt es, das „Quecksilber aus den Kraftwerken legt sich über die Wasserwege,
verschmutzt Flüsse und Seen und vergiftet die Fische.“33
31 Bernie Fischlowitz-Roberts, „Air Pollution Fatalities Now Exceed Traffic Fatalities by
3 to 1“, Eco-Economy Update (Washington, DC: Earth Policy Institute, September 2002),
zitiert: WHO, „Air Pollution“, Datenblatt 187 (Genf: überarbeitet im September 2000);
Angaben zu Verkehrstoten aus: WHO, „Estimated Total Deaths, by WHO Member State,
2002“, Tabelle als Download von der WHO-Website, „Burden of Disease Statistics“, www.
who.int/healthinfo; Zahl der jeweiligen Todesopfer in den USA aus: Joel Schwartz, zitiert
in: Harvard School of Public Health, „Air Pollution Deadlier Than Previously Thought“,
Pressemitteilung (Cambridge, MA: 2. März 2000).
32 C. Pritchard, D. Baldwin und A. Mayers, „Changing Patterns of Adult (45–74 years)
Neurological Deaths in the Major Western World Countries 1979–1987“, Public Health,
Vol. 118, 4 (Juni 2004), S. 268-283; Juliette Jowit, „Pollutants Cause Huge Rise in Brain
Diseases: Scientists Alarmed as Number of Cases Triples in 20 Years“, The Observer (London), 15. August 2004; A. Ascherio et al., „Pesticide Exposure and Risk for Parkinson’s
Disease“, Annals of Neurology, Vol. 60, 2 (August 2006), S. 197ff.
33 Global Environment Facility, U.N. Development Programme (UNDP) sowie United
Nations Industrial Development Organization, „Removal of Barriers to the Introduction
of Cleaner Artisanal Gold Mining and Extraction Technologies“, UNDP Global Mercury
Project Inception Document GLO/01/G34 (Washington, DC: April 2002), S. 8; Ilan Levin
und Eric Schaeffer, Dirty Kilowatts: America’s Most Polluting Power Plants (Washington, DC:
Environmental Integrity Project, Juli 2007), S. 2; EPA, „EPA Decides Mercury Emissions
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Im Jahr 2006 haben 48 von 50 US-Bundesstaaten (alle außer Alaska und
Wyoming) insgesamt 3.080 Warnungen ausgegeben, in denen wegen des hohen Quecksilbergehalts vom Verzehr von Fisch aus lokalen Seen und Flüssen
abgeraten wurde. Die Ergebnisse der EPA lassen darauf schließen, dass eine
von sechs amerikanischen Frauen im gebärfähigen Alter so viel Quecksilber
im Blut hat, dass es dem Fötus schaden könnte. Das bedeutet, dass 630.000
der 4 Mio. Babys, die jedes Jahr in diesem Land zur Welt kommen, neurologische Schäden aufweisen könnten, weil sie vor der Geburt höheren Mengen
an Quecksilber ausgesetzt waren.34
Niemand kann genau sagen, wie viele Chemikalien heute hergestellt werden, doch mit dem Aufkommen synthetischer Chemikalien ist die Zahl der
insgesamt benutzten Chemikalien auf mehr als 100.000 gestiegen. Ein Bluttest
an nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Personen in Amerika würde messbare Mengen an mindestens 200 Chemikalien zeigen, die es vor einhundert
Jahren noch gar nicht gab.35
Dabei sind viele dieser neuen Chemikalien noch nicht umfassend auf ihre
Giftigkeit hin untersucht worden. In den USA wurden die Chemikalien, von
denen bekannt ist, dass sie toxisch wirken, in einer Liste von insgesamt 650
Chemikalien zusammengefasst, deren Freisetzung in die Umwelt durch die
Industrie bei der EPA meldepflichtig ist. Dieser sogenannte Toxic Release Index
(TRI), der inzwischen im Internet abgerufen werden kann, enthält auch Informationen auf kommunaler Ebene, sodass den örtlichen Gruppen die Daten
zur Verfügung gestellt werden können, um potentielle Risiken für ihre Gesundheit und die ihrer Umwelt einschätzen zu können. Seit Einführung des
TRI im Jahr 1988 haben die Meldungen über die Emission toxischer Gifte
drastisch abgenommen.36
DIE WEGWERFGESELLSCHAFT UNTER DRUCK
Die Entwicklung einer Wegwerfwirtschaft in den letzten 50 Jahren stellt einen weiteren sehr ungesunden wirtschaftlichen Trend dar. Nach dem Zweiten
Weltkrieg war sie nur ein Mittel, Konsumenten mit Gütern zu versorgen, doch
from Power Plants Must Be Reduced“, Pressemitteilung (Washington, DC: 15. Dezember 2000).
34 EPA, Office of Science and Technology, „National Listing of Fish Advisories: 2005–
06 National Listing“, Datenblatt (Washington, DC: Juli 2007); Kathryn Mahaffey, EPA,
Methylmercury: Epidemiology Update, Präsentation auf dem National Forum on Contaminants in Fish, San Diego, CA, Januar 2004, unter www.epa.gov/waterscience.
35 Anne Platt McGinn, Why Poison Ourselves? A Precautionary Approach to Synthetic
Chemicals, Worldwatch Paper 153 (Washington, DC: Worldwatch Institute, 2000), S. 7;
Angaben über den möglichen Nachweis von 200 verschiedenen Chemikalien im Körper
aus: Pete Myers, Diskussion zu neuen Umweltproblemen beim USAID Environmental Officers Training Workshop, „Meeting the Environmental Challenges of the 21st Century“,
Airlie Center, Warrenton, VA, 26. Juli 1999.
36 EPA, „Toxics Release Inventory (TRI) Program“, Datenblatt unter www.epa.gov/tri,
aktualisiert am 9. Juni 2006; EPA, „EPA Issues New Toxics Report, Improves Means of
Reporting“, Pressemitteilung (Washington, DC: 11. April 2001).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
bald schon wurde sie auch als Möglichkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen
und zur Erhaltung des Wirtschaftswachstums angesehen. Der Grundgedanke
dabei war: Je mehr Güter verbraucht und dann weggeworfen wurden, desto
mehr Arbeitsplätze würde es geben.
Vor allem ihre Bequemlichkeit führte dazu, dass sich Wegwerfprodukte gut
verkauften. So waren die Verbraucher beispielsweise begeistert von Handtüchern und Servietten aus Papier, weil sie jetzt die Stoffhandtücher und -servietten nicht mehr zu waschen brauchten. Und so wurden Stofftaschentücher
und, -servietten durch Wegwerfprodukte aus Papier ersetzt und wiederbefüllbare Getränkebehälter durch Einwegverpackungen. Selbst die Einkaufstüten,
in denen wir unsere Wegwerfprodukte nach Hause tragen, werden zu einem
Teil des Müllstroms.
Die Wegwerfwirtschaft befindet sich auf Kollisionskurs mit den geologischen Grenzen der Erde. Abgesehen davon, dass es fast keinen Platz mehr
für Mülldeponien in der Nähe von Städten gibt, wird auch langsam das billige
Erdöl knapp, das zur Herstellung und zum Transport der Wegwerfprodukte
benötigt wird. Und ein vielleicht noch grundlegenderes Problem besteht darin,
dass es nicht genug leicht zugängliche Reserven an Blei, Zinn, Kupfer, Eisenerz
und Bauxit gibt, um die Wegwerfgesellschaft länger als noch zwei oder drei
Generationen zu erhalten. Daten des U.S. Geological Survey lassen, ausgehend
von einem jährlichen Zuwachs von 2 % bei der Gewinnung der jeweiligen
Rohstoffe aus leicht zugänglichen Reserven, darauf schließen, dass die weltweiten Bleireserven noch 17, die Zinnreserven 19, die Kupferreserven 25, die
Eisenerzreserven 54 und die Bauxitreserven noch 68 Jahre reichen werden.37
Da die Kapazitäten der Mülldeponien in der Nähe der Städte zusehends
ihre Grenze erreichen und die Kosten für Erdöl immer mehr ansteigen, nehmen auch die Kosten für den Abtransport des Mülls aus den Städten zu. Eine
der ersten Städte, bei denen die Kapazitäten der nahe gelegen Mülldeponien
erschöpft waren, war New York. Als Fresh Kills, die primäre Mülldeponie für
New York, im März 2001 endgültig geschlossen werden musste, sah sich die
Stadt plötzlich gezwungen, ihren Müll zur Entsorgung bis nach New Jersey,
Pennsylvania und sogar Virginia zu bringen – und einige der Müllhalden waren
fast 500 km entfernt.38
Bei 12.000 Tonnen Müll, die täglich in New York anfallen und bei einem
angenommenen Fassungsvermögen der für die Langstreckentransporte benutzten Sattelzüge von 20 t, braucht man etwa 600 von ihnen, um die tägliche Müllladung aus New York abzutransportieren. Diese Sattelzüge bilden
einen Konvoi von über 14 km Länge, der den Verkehr behindert, die Luft verschmutzt und die Karbonemissionen in die Höhe treibt. Dieser Konvoi brachte den Stellvertretenden Bürgermeister von New York, Joseph J. Lhota, der
die Schließung der Müllhalde Fresh Kills beaufsichtigte, zu der Aussage, dass
37 Berechnet auf der Grundlage von Informationen aus: U.S. Geological Survey, Mineral
Commodity Summaries 2007 (Washington, DC: U.S. Government Printing Office, 2007).
38 Eric Lipton, „The Long and Winding Road Now Followed by New York City’s
Trash“, New York Times, 24. März 2001.
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die Entsorgung des städtischen Mülls inzwischen das Ausmaß „einer täglich
durchgeführten mittleren Militäroperation angenommen hat“.39
Andere Gemeinden, die über zu wenig Steuereinnahmen verfügen, sind
gern bereit, den Müll von New York zu übernehmen – wenn sie dafür gut
genug bezahlt werden. Einige sehen darin eine wirtschaftliche Goldgrube. Die
Regierungen der Bundesstaaten jedoch müssen sich mit den erhöhten Kosten
für die Instandhaltung der Straßen, mit häufigeren Verkehrsstaus, erhöhter
Luftverschmutzung und Lärmbelastung, potentieller Wasserverschmutzung
durch Lecks in den Mülldeponien und mit den Beschwerden der nahe gelegenen Gemeinden auseinandersetzen.
Der Gouverneur von Virginia, Jim Gilmore, schrieb 2001 an den damaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani und beklagte sich darüber, dass
New York seinen Müll nun in Virginia ablud. Er schrieb: „Ich verstehe das
Problem, vor dem New York steht, sehr gut, doch Virginia, der Bundesstaat, in
dem George Washington, Thomas Jefferson und James Madison geboren wurden, wird sich nicht zum Müllabladeplatz von New York machen lassen.“40
Diese Art von Müllproblemen beschränkt sich jedoch nicht nur auf New
York City. Toronto, die größte Stadt in Kanada, hat ihre letzte noch verbliebene Müllhalde am 31. Dezember 2002 geschlossen und verschickt die gesamten
750.000 Tonnen Müll, die dort jährlich anfallen, seither nach Wayne County
in Michigan. Es ist fast eine Ironie des Schicksals, dass der Bundesstaat New
Jersey, der einen Teil des New Yorker Mülls aufnimmt, inzwischen täglich bis
zu 1.000 Tonnen an Abrissschutt fast 1.000 Kilometer weit zur Entsorgung
verschickt – und zwar ebenfalls nach Wayne County in Michigan.41
In Athen, der Hauptstadt sowohl des antiken als auch des modernen Griechenlands, waren die Kapazitäten der einzigen verfügbaren Müllhalde Ende
2006 erschöpft. Da die kommunalen Regierungen anderer Orte in Griechenland nicht gewillt waren, den Müll aus Athen zu übernehmen und bei sich zu
entsorgen, begannen die täglich 6.000 Tonnen Müll, die in Athen anfielen,
sich auf den Straßen der Stadt zu sammeln, sodass es zu einer regelrechten
„Müllkrise“ kam. Erst jetzt begann man in Griechenland, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was Stavros Dimas, Umweltkommissar der Europäischen
Union und selbst Grieche, als „Müllhierarchie“ bezeichnet. Hierbei liegt das
Hauptaugenmerk auf der Vermeidung der Entstehung von Müll, erst danach
39 Lester R. Brown, „New York: Garbage Capital of the World“, Eco-Economy Update
(Washington, DC: Earth Policy Institute, April 2002); Berechnungen des Autors, aktualisiert mithilfe von Informationen aus: The City of New York Department of Sanitation,
„DSNY-Fact Sheet“, aktualisiert am 27. Oktober 2003; Kirk Johnson, „To City’s Burden,
Add 11,000 Tons of Daily Trash“, New York Times, 24. März 2001; Lhota zitiert in: Lipton,
op. cit. Anmerkung 37.
40 Gilmore zitiert in: Lipton, op. cit. Anmerkung 37.
41 Joel Kurth, „N.J. Piles Demolition Trash on Michigan“, Detroit News, 28. Dezember
2004; City of Toronto, Canada, Solid Waste Management Division, „Facts about Toronto’s Trash“, Datenblatt unter www.toronto.ca/garbage/facts.htm, aktualisiert am 10. August
2006; Lipton, op. cit. Anmerkung 37.
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kommen die Wiederverwertung, das Recycling und die Entsorgung von bereits
entstandenem Müll.42
Seit Neuestem ist auch in China die Entstehung einer Müllkrise zu beobachten. Denn wie alles andere in China wächst auch die Menge des produzierten Mülls rasant an. Xinghua, eine chinesische Nachrichtenagentur, berichtet, bei einer Untersuchung seien mithilfe eines luftgestützten Fernsensors
in den Randgebieten von Peking, Tianjin, Shanghai und Chongqing 7.000
Müllhalden entdeckt worden, die jeweils größer waren als 50 m2. Zwar wird
ein großer Teil des Mülls in China recycelt, verbrannt oder kompostiert, doch
der weitaus größere Teil wird, soweit vorhanden, auf Müllhalden gebracht oder
einfach auf ungenutzten Flächen aufgeschüttet.43
Die Herausforderung besteht nun darin, die Wegwerfwirtschaft durch eine
Wirtschaft zu ersetzen, in der weniger Müll produziert, Verpackungen mehrfach verwendet und Rohstoffe recycelt werden. Die Behörden sollten sich zukünftig weniger Gedanken darüber machen, wohin der Müll entsorgt werden
soll, sondern vielmehr darüber, wie verhindert werden kann, dass er überhaupt
entsteht.
DER KONFLIKT ZWISCHEN WACHSENDER
BEVÖLKERUNGSZAHL UND VORHANDENEN RESSOURCEN
Da die Land- und Wasserreserven immer mehr abnehmen, ist davon auszugehen, dass sich der Wettbewerb innerhalb der Gesellschaften um diese wichtigen Ressourcen verschärfen wird, besonders zwischen der reichen Schicht
und den Armen und Besitzlosen. Das durch den starken Anstieg der Bevölkerungszahlen verursachte Sinken des Pro-Kopf-Anteils an lebensnotwendigen
Ressourcen könnte dazu führen, dass der Lebensstandard von Millionen Menschen unter die Überlebensgrenze absinkt, wodurch es zu nicht mehr kontrollierbaren sozialen Spannungen kommen könnte.44
Eine der Hauptursachen für soziale Spannungen ist der Zugang zu Landbesitz. Das immer stärkere Anwachsen der Weltbevölkerung hat dazu geführt,
dass der Pro-Kopf-Anteil an den Getreideanbauflächen zwischen 1950 und
2007 um die Hälfte, von 0,23 ha auf 0,10 ha, gesunken ist. Zum Vergleich:
Ein Zehntel Hektar entspricht der Hälfte eines durchschnittlichen Baugrundstücks in einem der wohlhabenden amerikanischen Vororte. Dieses fortschreitende Absinken des Pro-Kopf-Anteils an den Getreideanbauflächen macht es
für die Bauern weltweit immer schwieriger, dafür zu sorgen, dass die 70 Mio.
42 Niki Kitsantonis, „Athens Is in the Grip of a Garbage Crisis“, International Herald
Tribune, 28. Januar 2007.
43 „Fast Urbanization Dumps Garbage in Chinese Cities“, Xinhua News Agency, 18. August 2006.
44 Günther Baechler, „Why Environmental Transformation Causes Violence: A Synthesis“, Environmental Change and Security Project Report, Ausgabe 4 (Frühjahr 1998), S.
24-44.
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Menschen, um die die Weltbevölkerung jährlich anwächst, angemessen ernährt werden können.45
Der sinkende Pro-Kopf-Anteil an den Anbauflächen stellt jedoch nicht
nur eine Bedrohung für die Erwirtschaftung des Lebensunterhalts dar – in
Ländern, in denen die Menschen bereits größtenteils am Existenzminimum
leben, ist sogar das nackte Überleben dadurch gefährdet. Und je mehr der
Landbesitz sich einem Punkt nähert, an dem er zur Sicherung des Überlebens
nicht mehr ausreicht, desto stärker werden die Spannungen innerhalb dieser
Gesellschaften.
Die Sahelzone in Afrika ist nicht nur eines der Gebiete mit dem höchsten
Bevölkerungswachstum, sondern auch mit dem höchsten Konfliktpotenzial.
Im Sudan, einem Land mit vielen Problemen, sind in dem seit mehr als 20
Jahren andauernden Konflikt zwischen der muslimischen Bevölkerung im
Norden und den Christen im Süden bereits 2 Mio. Menschen ums Leben
gekommen und mehr als 4 Mio. Menschen wurden vertrieben. In dem im Jahr
2003 ausgebrochenen Konflikt in Darfur im Westen des Sudan zeigen sich
die wachsenden Spannungen zwischen zwei Gruppen innerhalb der sudanesischen Muslime – den Kamelhirten und den Bauern, die von dem leben, was
sie anbauen, ohne einen Überschuss zu erwirtschaften. Die Regierungstruppen
unterstützen in diesem Konflikt die arabischen Milizen, die im großen Stil die
Schwarzafrikaner abschlachten, um sie von ihrem Land zu vertreiben, oder sie
in Flüchtlingslager im benachbarten Tschad treiben. Bis heute sind in diesem
Konflikt etwa 200.000 Menschen getötet worden und weitere 250.000 sind in
den Flüchtlingslagern an Hunger und Krankheiten gestorben.46
Die Geschichte von Darfur ist im Grunde ein Abbild der Geschichte der
Sahelzone, jener semi-ariden Region, die sich quer über den afrikanischen
Kontinent erstreckt, von Senegal im Westen bis Somalia im Osten, und in der
sowohl Weidewirtschaft als auch Ackerbau betrieben wird. Im nördlichen Teil
der Sahelzone beginnt sich das Weideland langsam in Wüste zu verwandeln,
sodass die Hirten mit ihren Herden gezwungen sind, weiter nach Süden zu
ziehen, womit sie zunehmend in die Gebiete vordringen, in denen Ackerbau
betrieben wird. Grund für den Verfall der Weideflächen ist eine Kombination
aus nachlassenden Regenfällen und Überweidung.
Nachdem die Bevölkerungszahl des Sudan zwischen 1950 und 2007 von 9
Mio. auf 39 Mio. anwuchs, war die Saat für diesen Konflikt allerdings schon
45 U.S. Department of Agriculture (USDA), Production, Supply, and Distribution Country Reports (Washington, DC: Oktober 1990); Anteil an Getreideanbauflächen für 2007
aus: USDA, Production, Supply and Distribution, elektronische Datenbank unter www.fas.
usda.gov/psdonline, aktualisiert am 10. August 2007; U.N. Population Division, op. cit.
Anmerkung 2.
46 „Time for Action on Sudan“ (Leitartikel), New York Times, 18. Juni 2004; „A First
Step to Save Darfur“ (Leitartikel), New York Times, 3. August 2007; Coalition for International Justice, „Estimates from Retrospective Mortality Surveys in Darfur and Chad
Displacement Camps, Circa February 2003–April 2005“, unter www.cij.org, April 2005;
„Sudan“ in: U.S. Central Intelligence Agency, The World Fact Book, unter www.cia.gov/library/publications, aktualisiert am 6. September 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
gesät, lange bevor die Niederschlagsmengen zurückgingen. Im gleichen Zeitraum versechsfachte sich die Zahl der Rinder fast und wuchs von unter 7 Mio.
auf 40 Mio. an, während sich die Zahl der Schafe und Ziegen verachtfachte
und von unter 14 Mio. auf 113 Mio. anstieg. Ein so rapides, fortdauerndes
Anwachsen der Viehpopulationen verkraftet keine Weidefläche.47
In Nigeria, wo 148 Mio. Menschen auf einer Fläche leben, die nicht viel
größer ist als Texas, führen Überweidung und übermäßige Kultivierung dazu,
dass sich die Weide- und Anbauflächen zunehmend in Wüsten verwandeln,
sodass sich Bauern und Viehzüchter inzwischen im Krieg ums nackte Überleben befinden. Somini Sengupta berichtete dazu 2004 in der New York Times:
„Durch die Ausbreitung der Wüsten, das Fällen der Bäume und den starken
Bevölkerungsanstieg sowohl bei den Bauern als auch bei den Viehzüchtern hat
sich der Kampf um das Land in den vergangenen Jahren noch verschärft.“48
Leider verlaufen die Trennlinien zwischen Bauern und Viehhaltern auch
hier nur allzu oft entlang der religiösen Trennlinien zwischen Christen und
Muslime. Und so hat der Wettbewerb um das Land, verstärkt durch die religiösen Unterschiede und die Tatsache, dass eine große Zahl frustrierter junger
Männer im Besitz von Waffen war, schließlich zur Entstehung dessen geführt,
was in der New York Times als „explosive Mischung“ beschrieben wurde, die „in
diesem fruchtbaren Bundesstaat im Herzen Nigerias [Plateau] eine neue Welle
der Gewalt entfacht hat. Kirchen und Moscheen wurden zerstört, Nachbarn
gingen aufeinander los und es gab viele Vergeltungsangriffe, bis die Regierung
Mitte Mai [2004] schließlich den Ausnahmezustand verhängte.“49
Ein ähnlicher Konflikt besteht zwischen den Bauern und Viehzüchtern
im Norden Malis. Die New York Times schreibt dazu: „Nachdem sich der
Wettbewerb zwischen den größtenteils schwarzafrikanischen Bauern und den
Viehzüchtern, die überwiegend zu den Tuareg und Fulbe gehören, infolge der
fortschreitenden Desertifikation und des Bevölkerungsanstiegs verschärft hatte, hat man die Schwerter und Stöcke gegen Kalaschnikows eingetauscht. Die
Nerven liegen auf beiden Seiten blank. In diesem Kampf geht es immerhin um
den Lebensunterhalt und mehr noch – um eine bestimmte Art zu leben.“50
Ruanda hat sich zu einer klassischen Fallstudie dafür entwickelt, wie der
Druck durch eine stark anwachsende Bevölkerung zu politischen Spannungen,
Konflikten und letztlich zu einer gesellschaftlichen Tragödie führen kann. James
Gasana, zwischen 1990 und 1992 Landwirtschafts- und Entwicklungsminister
in Ruanda, gewährt einige Einblicke in die Lage. Als Vorsitzender der Nationalen Landwirtschaftskommission hatte er im Jahr 1990 davor gewarnt, dass
47 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2; Viehzahlen aus: FAO, Prod-STAT,
elektronische Datenbank unter faostat.fao.org, aktualisiert am 30. Juni 2007.
48 Somini Sengupta, „Where the Land is a Tinderbox, the Killing Is a Frenzy“, New
York Times, 16. Juni 2004; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2; Government
of Nigeria, Combating Desertification and Mitigating the Effects of Drought in Nigeria, National Report on the Implementation of the United Nations Convention to Combat Desertification (Nigeria: November 1999).
49 Sengupta, op. cit. Anmerkung 47.
50 Ebenda.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Ruanda ohne „tief greifende Transformationen in der Landwirtschaft nicht in
der Lage sein wird, seine Bevölkerung bei der derzeitigen Wachstumsrate ausreichend zu ernähren.“ Obwohl die Demographen des Landes für die Zukunft
einen großen Bevölkerungszuwachs prognostiziert haben, sagte Gasana 1990,
er sähe nicht, wie Ruanda es
auf 10 Mio. Einwohner bringen sollte, ohne dass ein soziales Chaos entstünde – „es sei denn, es gäbe deutliche Fortschritte sowohl in der Landwirtschaft als auch in anderen Wirtschaftssektoren.“51
Gasanas Warnungen über ein mögliches soziales Chaos erwiesen sich als
geradezu prophetisch. Er beschrieb weiter, dass üblicherweise die Kinder – im
Durchschnitt sieben pro Familie – das Land von ihren Eltern erbten und dass
dann ohnehin kleine Landstücke noch weiter zerstückelt würden. Viele Bauern
haben versucht, neues Land zu finden, und sind auf Böden an steilen Abhängen ausgewichen. 1989 befand sich fast die Hälfte des kultivierten Landes in
Ruanda an Hängen mit Steigungen von 10 bis 35 Grad – Landflächen, die
allgemein als nicht kultivierbar gelten.52
1950 lag die Bevölkerungszahl von Ruanda bei 2,4 Mio., bis 1993 hatte
sie sich verdreifacht und erreichte bereits 7,5 Mio., wodurch Ruanda zum am
dichtesten bevölkerten Land in Afrika wurde. Mit der Zunahme der Bevölkerung stieg auch der Bedarf an Brennholz. 1991 war der Bedarf bereits doppelt
so groß wie die Menge an Holz, die den Wäldern des Landes unter ökologischen Gesichtspunkten noch entnommen werden konnte, ohne sie stärker
zu schädigen. Nachdem die Bäume verschwunden waren, benutzte man Stroh
und andere Ernterückstände als Brennmaterial und da dadurch weniger organisches Material zurück in den Boden gelangte, sank auch die Produktivität
der Böden.53
Mit der Verschlechterung des Zustandes der Böden verschlechterte sich
auch die Situation der Menschen, die davon abhängig waren. Letztlich gab
es einfach nicht mehr genug Lebensmittel für alle und es entstand eine stille
Verzweiflung. Wie eine von einer Dürre heimgesuchte Landfläche, die schon
durch einen kleinen Funken entzündet werden kann, so hätte auch hier der
geringste Anlass gereicht, um die Situation eskalieren zu lassen. Als am 6. April
1994 ein Flugzeug mit Präsident Juvenal Habyarimana an Bord beim Landeanflug auf die Hauptstadt Kigali abgeschossen wurde und der Präsident dabei
ums Leben kam, geschah genau das. Der Absturz löste einen organisierten
Angriff der Hutu aus, der innerhalb von 100 Tagen etwa 800.000 Todesopfer
unter den Tutsi und den gemäßigten Hutu forderte. In einigen Dörfern wur-
51 James Gasana, „Remember Rwanda?“ World Watch, September/Oktober 2002, S.
24ff.
52 Ebenda.
53 U.S. Census Bureau, Population Division, International Programs Center, International Database, unter www.census.gov/ipc/www/idbacc.html, aktualisiert am 26. April
2005; Gasana, op. cit. Anmerkung 50.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
den ganze Familien ausgerottet, damit kein Erbe zurückblieb, der das Land der
Familie hätte beanspruchen können.54
In vielen afrikanischen Ländern, die größtenteils ländlich geprägt sind,
gleicht die Bevölkerungsentwicklung der in Ruanda. Im Falle von Tansania,
dessen Bevölkerungszahl 2007 bei 40 Mio. lag, wird bis zum Jahr 2050 mit
einem Anstieg der Bevölkerung auf 85 Mio. gerechnet. Die Bevölkerung in
Eritrea, wo jede Familie im Durchschnitt sechs Kinder hat, wird bis 2050 voraussichtlich von 5 auf 11 Mio. anwachsen und in der Demokratischen Republik Kongo soll sich die Bevölkerungszahl verdreifachen – von 63 auf 187
Mio.55
Doch Afrika ist nicht allein in dieser Entwicklung. In Indien schwelen die
Spannungen zwischen Hindus und Muslime stets dicht unter der Oberfläche.
Da die Landstücke mit jeder neuen Generation immer kleiner werden, ist der
Druck auf das Land enorm groß und der auf die Wasserreserven noch größer.
Da für Indien ein Bevölkerungswachstum von 1,2 Mrd. im Jahr 2007 auf
1,7 Mrd. im Jahr 2050 prognostiziert wird, scheint eine Kollision zwischen
den wachsenden Bevölkerungszahlen und den sinkenden Wasserreserven unvermeidlich. Es besteht ein hohes Risiko, dass es in Indien zu sozialen Kon­
flikten kommen könnte, die die in Ruanda bei Weitem in den Schatten stellen.
Wie Gasana bereits sagte – ein Missverhältnis zwischen Bevölkerungszahl und
natürlichen Systemen kann zu einem Problem für die nationale Sicherheit werden und zu Konflikten zwischen verschiedenen Ländern, Stämmen, Ethnien
und Religionen führen.56
Eine alltägliche Ursache für internationale politische Konflikte sind Unstimmigkeiten über die Verteilung des Wassers zwischen Ländern, die gemeinsam Anteil am selben Flusssystem haben. Dies gilt insbesondere dann, wenn
die Bevölkerungszahlen so stark anwachsen, dass die Wassermenge des Flusses
nicht ausreicht, um alle ausreichend zu versorgen. Nirgendwo wird dieses Konfliktpotenzial deutlicher sichtbar als in den Streitigkeiten zwischen Ägypten,
dem Sudan und Äthiopien um die Verteilung des Wassers aus dem Nil. Im
regenarmen Ägypten ist die Landwirtschaft vollständig auf das Wasser aus dem
Nil angewiesen. Momentan erhält Ägypten den Löwenanteil des Nilwassers,
doch die derzeitige Bevölkerungszahl von 75 Mio. soll laut Prognosen bis 2050
auf 121 Mio. ansteigen, wodurch der Bedarf an Getreide und Wasser stark
ansteigen würde. Die Bevölkerung im Sudan, die zur Lebensmittelproduktion
ebenfalls auf das Nilwasser angewiesen ist, soll bis 2050 von derzeit 39 Mio.
auf 73 Mio. ansteigen. Und die Bevölkerungszahl von Äthiopien, einem Land,
das 85 % des Quellgebiets des Nils kontrolliert, soll von 83 auf 183 Mio. anwachsen.57
54 Gasana, op. cit. Anmerkung 50; Emily Wax, „At the Heart of Rwanda’s Horror:
General’s History Offers Clues to the Roots of Genocide“, Washington Post, 21. September
2002.
55 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2.
56 Ebenda; Gasana, op. cit. Anmerkung 50.
57 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2; Sandra Postel, Pillar of Sand (New
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Der Nil führt ohnehin nur noch wenig Wasser, wenn er das Mittelmeer erreicht, und wenn entweder der Sudan oder Äthiopien dem Fluss mehr Wasser
entnähmen, so würde Ägypten noch weniger Wasser erhalten, wodurch es zunehmend schwerer würde, weitere 46 Mio. Menschen zu ernähren. Obwohl es
ein Abkommen über die Wasserrechte zwischen den drei Ländern gibt, erhält
Äthiopien bisher nur einen winzigen Teil des Wassers. Da die Menschen dort
aber auch Anspruch auf ein besseres Leben erheben und die Quellgebiete des
Nils zu den wenigen natürlichen Ressourcen des Landes gehören, wird Äthiopien dem Fluss zweifellos in Zukunft mehr Wasser entnehmen wollen.58
Im Norden teilen sich die Türkei, Syrien und der Irak das Wasser aus dem
Flusssystem von Euphrat und Tigris. Die Türkei, die die Kontrolle über die
Quellgebiete hat, plant ein Großprojekt am Tigris, um so die Menge des zur
Bewässerung und zur Energieerzeugung zur Verfügung stehenden Wassers zu
steigern. Syrien und der Irak, deren Bevölkerungszahlen von 20 bzw. 29 Mio.
sich laut Prognosen jeweils fast verdoppeln sollen, betrachten das geplante Projekt mit Sorge, da auch sie zukünftig mehr Wasser benötigen werden.59
Im Aralseebecken in Zentralasien gibt es ein wackliges Abkommen zwischen
fünf Ländern über die Nutzung des Wassers aus Amu-Darja und Syr-Darja,
den beiden Zuflüssen des Aralsees. Der Wasserbedarf in Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan übersteigt bereits jetzt die
Kapazitäten der beiden Flüsse um 25 %, (siehe Kapitel 3) und Turkmenistan,
das am Oberlauf des Amu-Darja liegt, plant eine weitere halbe Million Hektar
Land zur bewässerten Landwirtschaft nutzbar zu machen. In der von Aufständen gebeutelten Region mangelt es an der nötigen Kooperation zur sinnvollen
Verwaltung der knappen Wasserreserven. Außerdem will Afghanistan, das die
Kontrolle über die Quellgebiete des Amu-Darja hat, einen Teil des Wassers für
die eigene Entwicklung nutzen. Die Geografin Sarah O’Hara von der University of Nottingham, die das Wasserproblem der Region untersucht, sagt dazu:
„Wir reden immer über die Welt der Entwicklungsländer und die Welt der
Industrieländer, aber das hier ist die Welt der verfallenden Länder.“60
DIE ZAHL DER UMWELTFLÜCHTLINGE STEIGT
Angesichts der zunehmenden Ausbreitung der Wüsten in den Gebieten südlich der Sahara, besonders in der Sahelzone, sehen sich immer mehr Menschen gezwungen, ihre angestammten Wohnräume zu verlassen und entweder
in weiter südlich gelegene Gebiete oder nach Nordafrika zu migrieren. Auf
einer 2006 in Tunesien abgehaltenen Konferenz der UN zum Thema DesertiYork: W. W. Norton & Company, 1999), S. 141ff.
58 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2, S. 43; Postel, op. cit. Anmerkung
56, S. 141ff.
59 Postel, op. cit. Anmerkung 56, S. 141ff; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2.
60 O’Hara zitiert in: Michael Wines, „Grand Soviet Scheme for Sharing Water in Central Asia is Foundering“, New York Times, 9. Dezember 2002.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
fikation erklärten Experten, bis zum Jahr 2020 könnten bis zu 60 Mio. Menschen gezwungen sein, aus den Ländern südlich der Sahara nach Nordafrika
und Europa zu migrieren – und dieser Flüchtlingsstrom ist bereits seit vielen
Jahren unterwegs.61
Mitte Oktober 2003 haben die italienischen Behörden ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika auf dem Weg nach Italien entdeckt. Sie waren bereits seit
mehr als zwei Wochen unterwegs und hatten keine Lebensmittel, kein Wasser
und keinen Treibstoff mehr, sodass viele Passagiere bereits tot waren. Zunächst
hatte man die Toten einfach über Bord geworfen, doch nach einer Weile hatten die verbliebenen Passagiere nicht mehr die Kraft, die leblosen Körper über
Bord zu hieven, und so glich laut Aussagen der Rettungskräfte der Anblick der
am Leben Gebliebenen und der Verstorbenen, die sich das Boot teilten, „einer
Szene aus Dantes Inferno“.62
Man nahm an, die Flüchtlinge stammten aus Somalia und seien in Libyen
an Bord gegangen, doch sie selbst wollten nicht preisgeben, woher sie kamen.
Es ist auch nicht bekannt, ob es sich um politische Flüchtlinge, Wirtschaftsoder Umweltflüchtlinge handelte, doch gescheiterte Staaten wie Somalia bringen alle drei Arten von Flüchtlingen hervor. Es ist jedoch bekannt, dass Somalia ein in ökologischer Hinsicht praktisch aussichtsloser Fall ist, und dass die
Überbevölkerung, die Überweidung und die Ausbreitung der Wüsten bereits
dabei sind, die Pastoralwirtschaft des Landes zu zerstören.63
Am 30. April 2006 entdeckte ein Mann, der vor der Küste von Barbados
auf Fischfang war, ein etwa 6 m langes Boot, das führungslos im Meer trieb.
An Bord des Schiffes befanden sich die leblosen Körper von 11 jungen Männern, die durch die Kombination aus Sonneneinstrahlung und Salzwassergischt „buchstäblich mumifiziert“ worden waren. Einer der Passagiere hatte
kurz vor seinem Tod noch eine Nachricht hinterlassen, die er zwischen die
Leichen zweier anderer Passagiere gesteckt hatte: „Ich möchte meiner Familie
in Basada [im Senegal] etwas Geld schicken. Verzeiht mir und lebt wohl.“ Bei
dem Autor dieser Nachricht handelte es sich offensichtlich um einen von 52
Passagieren, die den Senegal an Heiligabend an Bord eines Schiffes in Richtung
Kanarische Inseln, die einen beliebten Ausgangspunkt für die Einwanderung
nach Europa bilden, verlassen hatten. Offensichtlich war das Schiff dann etwa
3.000 km weit abgetrieben und schließlich in der Karibik gelandet. Doch dies
ist kein Einzelfall. Am ersten Septemberwochenende des Jahres 2006 fingen
spanische Polizeikräfte mehrere Schiffe aus Mauretanien mit insgesamt fast
1.200 Flüchtlingen an Bord ab.64
61 „Scientists Meeting in Tunis Called for Priority Activities to Curb Desertification“,
UN News Service, 21. Juni 2006.
62 Alan Cowell, „Migrants Found off Italy Boat Piled With Dead“, International Herald
Tribune, 21. Oktober 2003.
63 Ebenda.
64 Miranda Leitsinger, „African Migrants Die an Ocean Away“, Washington Post,
2. Juni 2006; Mar Roman, „A New Record For Africans Risking Boat Route to Europe“,
Washington Post, 4. September 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Für die mittelamerikanischen Länder wie Honduras, Guatemala, Nicaragua und El Salvador führt der Weg in die Vereinigten Staaten oftmals über
Mexiko. Im Jahr 2006 haben die mexikanischen Behörden etwa 240.000 illegale Immigranten festgenommen und abgeschoben, was im Vergleich zu 2002
einen Anstieg um 74 % bedeutet.65
In Tapachula an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko stehen immer wieder junge Männer auf der Suche nach einem Job an den Gleisen und
warten auf einen langsam fahrenden Frachtzug, der die Stadt auf seinem Weg
nach Norden passiert. Einige schaffen es in den Zug, andere nicht. Im „Jesús
el Buen Pastor“-Asyl leben 25 Männer, die Gliedmaßen verloren haben, als sie
beim Aufspringen auf den Zug den Halt verloren und unter den Zug geraten
waren. Olga Sánchez Martínez, Direktorin des Heims, sagt, für diese jungen
Männer sei das Heim das „Ende des amerikanischen Traumes“, und ein örtlicher Priester, Flor María Rigoni, nennt die Migranten, die versuchen, auf den
Zug aufzuspringen, „die Kamikaze-Krieger der Armut.“66
Der Anblick von Leichen, die an den Küsten von Italien, Spanien und
der Türkei angeschwemmt werden, ist inzwischen alltäglich – das Ergebnis
einer Verzweiflungstat. Und jeden Tag riskieren Dutzende Mexikaner ihr Leben in der Wüste von Arizona, weil sie einen Job in den USA wollen. 400 bis
600 Mexikaner verlassen täglich die ländlichen Gegenden und zurück bleiben
Landstücke, die zu klein oder zu stark von der Erosion betroffen sind, als das
man seinen Lebensunterhalt damit verdienen könnte. Sie machen sich auf den
Weg in die mexikanischen Städte oder versuchen, illegal die Grenze in die
USA zu überqueren. Viele von denen, die versuchen, die Wüste von Arizona
zu durchqueren, um in die USA zu kommen, sterben in der gnadenlosen Hitze
und jedes Jahr werden Dutzende von Leichen entlang der Grenze von Arizona
gefunden.67
Nachdem der Großteil der 3 Mrd. Menschen, um die die Weltbevölkerung bis 2050 anwachsen soll, sich auf Länder konzentrieren wird, in denen
schon jetzt die Grundwasserspiegel sinken, werden wohl Wasserflüchtlinge in
Zukunft ganz alltäglich sein, besonders in ariden und semiariden Regionen,
in denen die Bevölkerungszahl bereits so groß ist, dass die Wasserreserven
nicht mehr ausreichen, alle zu versorgen, und die unter akuter Wasserarmut
leiden. Schon jetzt werden Dörfer im Nordwesten Indiens aufgegeben, weil
65 Ginger Thompson, „Mexico Worries About Its Own Southern Border“, New York
Times, 18. Juni 2006.
66 „Mexico’s Immigration Problem: The Kamikazes of Poverty“, The Economist, 31. Januar 2004.
67 Frank Bruni, „Off Sicily, Tide of Bodies Roils Immigrant Debate“, New York Times,
23. September 2002; Flora Botsford, „Spain Recovers Drowned Migrants“, BBC News,
25. April 2002; „Boat Sinks Off Coast of Turkey: One Survivor and 7 Bodies Found“,
Agence France-Presse, 22. Dezember 2003; Mary Jordan und Kevin Sullivan, „Trade Brings
Riches, But Not to Mexico’s Poor“, Washington Post, 22. März 2003; Robert McLeman und
Barry Smit, „Climate Change, Migration and Security“, Commentary No. 86 (Ottawa: Canadian Security Intelligence Service, 2. März 2004); Opferzahlen in der Wüste von Arizona
aus: „Humane Approach to Border“, Denver Post, 24. April 2003.
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die Grundwasserleiter leer gepumpt sind und die Menschen kein Wasser mehr
finden, und auch im Norden und Westen Chinas sowie in Teilen Mexikos
könnten die Menschen bald gezwungen sein, sich neue Lebensräume zu suchen, weil sie in den alten kein Wasser mehr finden.68
Auch durch die Ausbreitung der Wüsten, durch die die wachsende Bevölkerung der jeweiligen Gebiete auf immer kleinere Flächen zurückgedrängt wird,
sind Menschen gezwungen, ihre Wohnorte aufzugeben. Während durch die
Ausbildung des „Staubbeckens“ in den USA nur einige Millionen Menschen
zum Umsiedeln gezwungen waren, sind von der Ausbreitung der Wüsten in
den Provinzen, auf die sich das chinesische „Staubbecken“ erstreckt, zig Millionen Menschen betroffen.69
Im Iran bewegt sich die Anzahl der Dörfer, die wegen Wassermangels oder
sich ausbreitender Wüsten aufgegeben werden müssen, bereits im Tausenderbereich. In der Nähe von Damawand, einer kleinen Stadt etwa eine Stunde Fahrt
von Teheran entfernt, sind bereits 88 Dörfer aufgegeben worden. Und auch
in Nigeria sind die Bauern und Viehzüchter gezwungen umzusiedeln, da sich
die Wüste in Nigeria immer stärker ausbreitet, und so sehen sie sich auf einer
zunehmend kleiner werdenden Fläche produktiven Landes zusammengedrängt.
In der Regel enden solche Wüstenflüchtlinge in den Städten, die meisten von
ihnen in illegalen Siedlungen, doch viele emigrieren auch ins Ausland.70
Auch der steigende Meeresspiegel ist ein Grund, warum Menschen zu
Flüchtlingen werden – potentiell sogar sehr viele. Die durch sinkende Grundwasserspiegel und sich ausbreitende Wüsten verursachten Flüchtlingsströme
haben bereits eingesetzt, während die Ausprägung der durch steigende Meeresspiegel verursachten Ströme erst beginnt. Doch da die Zahl der Betroffenen
gigantisch sein könnte, ist das ein weiterer guter Grund, endlich Maßnahmen
zur Stabilisierung des Klimas und der Bevölkerungszahlen zu ergreifen.
ZUNEHMENDE BELASTUNGEN UND
SCHEITERNDE STAATEN
Nachdem man sich gut ein halbes Jahrhundert lang mit der Schaffung neuer
Staaten aus ehemaligen Kolonien und der Entstehung neuer Staaten nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion beschäftigt hatte, konzentriert sich die inter68 Angaben über verlassene Dörfer in Indien aus: Tushaar Shah et al., The Global
Groundwater Situation: Overview of Opportunities and Challenges (Colombo, Sri Lanka:
International Water Management Institute, 2000); U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2, S. 42.
69 Wang Tao, Cold and Arid Regions Environmental and Engineering Research Institute (CAREERI), Chinesische Akademie der Wissenschaften, E-Mail an den Autor dieses
Buches, 4. April 2004; Wang Tao, „The Process and Its Control of Sandy Desertification
in Northern China“, CAREERI, Chinesische Akademie der Wissenschaften, Seminar zur
Desertifikation in Lanzhou, China, Mai 2002.
70 Iranische Nachrichtenagentur, „Official Warns of Impending Desertification Catastrophe in Southeast Iran“, BBC International Reports, 29. September 2002; Government of
Nigeria, op. cit. Anmerkung 47, S. 6.
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nationale Gemeinschaft jetzt auf das Auseinanderfallen der Staaten. Das Problem der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten bildet inzwischen
einen integralen Bestandteil der internationalen Politik. In einer Studie des Fund
for Peace und der Carnegie Endowment for International Peace heißt es dazu treffend: „Das Problem der gescheiterten Staaten hat eine bemerkenswerte Odyssee
hinter sich – von der Peripherie der Weltpolitik direkt ins Zentrum.“71
Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt haben die beiden Organisationen in gemeinsamer Arbeit einen Index zusammengestellt, in dem 60 Staaten nach
„ihrer Anfälligkeit für gewalttätige interne Konflikte und gesellschaftlichen
Verfall“ gelistet sind. Der Rang jedes Landes innerhalb der Liste, die jährlich
in der Zeitschrift Foreign Policy veröffentlicht wird, wird durch Auswertung
von 12 gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Indikatoren bestimmt, wodurch der Sudan in der Liste des vergangenen Jahres
auf Platz 1 lag, gefolgt vom Irak, Somalia, Simbabwe und dem Tschad. Auch
drei Erdöl exportierende Länder, der Sudan, der Irak und Nigeria, gehören
zu den Top 20 der Liste, Indonesien und der Iran folgen weiter unten auf der
Liste. Der bisher einzige Staat auf der Liste, der über Atomwaffen verfügt, ist
Pakistan auf Rang 12.72
Drei der zwölf Indikatoren, die bei der Erstellung der Liste herangezogen
werden, sind ungleichmäßige Entwicklung, Verlust der Legitimierung der Regierung und demographischer Druck. Ungleichmäßige Entwicklung bedeutet in der Regel, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung immer reicher wird,
während der Großteil der Gesellschaft eine stetige Verschlechterung des Lebensstandards hinnehmen muss. Diese Ungerechtigkeit, die oft mit politischer
Korruption einhergeht, verursacht Unruhen und kann sogar bis zum Bürgerkrieg führen.73
Regierungen, die nicht in der Lage sind, auftauchende Probleme effektiv
zu lösen und dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung grundlegende Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann, werden schnell als nutzlos angesehen. Dies
führt dazu, dass Teile der Bevölkerung sich selbsternannten lokalen Machthabern, sogenannten „Warlords“, oder Stammesoberhäuptern bzw. religiösen
Führern zuwenden. Aus diesem Grund ist ein Verlust der Legitimierung einer
Regierung ein frühes Zeichen für den Niedergang eines Staates.
Der dritte wichtige Indikator ist demographischer Druck. In vielen der Länder, in denen die Bevölkerung bereits seit mehreren Jahrzehnten stark zunimmt,
sind die Regierungen vom demographischen Druck bereits ermüdet und deshalb unfähig, mit den Problemen des sinkenden Pro-Kopf-Anteils an Anbaufläche und den sinkenden Wasserreserven umzugehen oder schnell genug neue
Schulen für die immer größer werdende Zahl an Kindern zu bauen.74
71 Fund for Peace und Carnegie Endowment for International Peace, „The Failed States
Index“, Foreign Policy, Juli/August 2005, S. 56ff.
72 Fund for Peace und Carnegie Endowment for International Peace, „The Failed States
Index“, Foreign Policy, Juli/August 2007, S. 54ff.
73 Fund for Peace und Carnegie Endowment, op. cit. Anmerkung 70.
74 Fund for Peace und Carnegie Endowment, op. cit. Anmerkung 71.
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Der Sudan, der 2007 an der Spitze der Liste stand, ist ein klassisches Beispiel für ein Land, das in der demographischen Falle sitzt – es ist wirtschaftlich
und gesellschaftlich weit genug entwickelt, um eine Senkung der Sterberaten
erreicht zu haben, jedoch nicht weit genug, um auch eine Senkung der Fruchtbarkeitsrate zu erreichen. So haben sudanesische Frauen im Durchschnitt fünf
Kinder, obwohl zum Ausgleich der Zahl der Verstorbenen durch Neugeburten
ein Durchschnitt von zwei Kindern ausreichend wäre. Infolgedessen wächst
die Bevölkerung von derzeit 39 Mio. täglich um 2.400 Menschen an, sodass
der Sudan, ebenso wie zahlreiche andere Länder, Gefahr läuft, unter dem demographischen Druck zusammenzubrechen.75
Jedes der ersten 20 Länder auf der Liste – mit Ausnahme von Simbabwe
und Nordkorea – sitzt in dieser demographischen Falle fest und wird vermutlich nicht in der Lage sein, sich selbstständig daraus zu befreien. Wenn die
politische Situation in diesen Ländern sich nicht noch weiter verschlechtern
soll, werden sie Hilfe von außen benötigen.76
Auch das Ausbleiben ausländischer Investitionen und die damit verbundene steigende Arbeitslosigkeit sind Symptome des Niedergangs. Eine frühere
Studie von Population Action International zeigt, dass die Zahl der arbeitslosen
jungen Männer – eine Zahl, die im Falle der Länder an der Spitze der in Foreign Policy veröffentlichten Liste sehr hoch ist – ein wichtiger Indikator für
politische Instabilität ist.77
Ein weiteres Charakteristikum für Staaten, die zu scheitern drohen, ist ein
allgemeiner Verfall der Infrastruktur, beispielsweise der Straßen und Energienetze, sowie der Wasserversorgung und Abwassersysteme. Auch die Sorge um
die natürlichen Systeme findet beim Kampf ums Überleben der Menschen
kaum Beachtung. Wälder, Gras- und Kulturflächen verfallen und es entsteht
ein wirtschaftlicher Abwärtstrend.
Der Zusammenbruch von Recht und Ordnung und ein damit in Zusammenhang stehender Verlust an persönlicher Sicherheit ist einer der auffälligsten Indikatoren für das Scheitern eines Staates. In Haiti beispielsweise haben
bewaffnete Gangs die Kontrolle über die Straßen, und es ist völlig alltäglich,
dass Menschen, die das Glück haben, zu den 30 % der Bevölkerung zu gehören, die in Lohn und Brot stehen, entführt werden, um Lösegeld zu erpressen.
In Afghanistan wird das Land außerhalb von Kabul nicht von der Zentralregierung kontrolliert, sondern von regionalen Warlords. Und in Somalia, das
als einheitliches Land inzwischen nur noch auf Karten existiert, herrschen die
Stammesführer und jeder von ihnen beansprucht einen Teil dessen, was einst
ein geschlossenes Land war.78
75 Ebenda; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2.
76 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 2.
77 Richard Cincotta, Robert Engelman und Daniele Anastasion, The Security Demographic: Population and Civil Conflict After the Cold War (Washington, DC: Population Action International, 2003).
78 Ginger Thompson, „A New Scourge Afflicts Haiti: Kidnappings“, New York Times,
6. Juli 2005; Madeleine K. Albright und Robin Cook, „The World Needs to Step It Up
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
In einigen dieser Länder herrscht seit vielen Jahren Bürgerkrieg. In der Demokratischen Republik Kongo, die einen großen Teil des Kongobeckens im
Herzen Afrikas einnimmt, gab es zwischen 1998 und 2003 gewalttätige Konflikte, und seither wurde das Land mehrfach von erneuten Ausbrüchen von
Gewalt heimgesucht. Dieser andauernde Konflikt forderte bisher 4 Mio. Todesopfer und machte mehrere Millionen mehr heimatlos. Nach Angaben des
International Rescue Committee sind die meisten Todesfälle in diesem Konflikt
nicht durch Gewalt verursacht worden, sondern unter anderem durch Verhungern, Atemwegserkrankungen, Diarrhöe und andere Krankheiten.79
Die internationale Gemeinschaft ist deshalb so besorgt um gescheiterte
Staaten, weil sie häufig zum Nährboden für Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel und zur Quelle von Flüchtlingsströmen werden. So wurden in Afghanistan nicht nur Terroristen ausgebildet, es wurde während der Besatzung
der Alliierten auch schnell zum weltweit führenden Heroinproduzenten. Inzwischen ist der Irak, der in der Liste der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten auf Rang 2 liegt, die Nr. 1, wenn es um die Ausbildung von
Terroristen geht. Und die Flüchtlinge aus Ruanda, darunter Tausende bewaffneter Soldaten, haben mit zur Destabilisierung des Kongo beigetragen. In der
Wochenzeitung The Economist hieß es dazu im Dezember 2004: „Ebenso wie
ein stark verhaltensgestörter Mensch ist ein gescheiterter Staat nicht nur eine
Gefahr für sich selbst, sondern auch für andere um ihn herum.“80
In vielen Ländern versuchen die UNO oder andere internationale Friedensmissionen, den Frieden zu sichern, leider meist erfolglos. Zu den Ländern,
in denen UN-Friedenstruppen stationiert sind, gehören die Demokratische
Republik Kongo, Liberia und Sierra Leone. Andere Arten multinationaler
Friedensmissionen gibt es unter anderem in Afghanistan, Haiti und im Sudan.
Leider bilden diese Friedenstruppen nur zu häufig lediglich einen Tropfen auf
den heißen Stein, sie reichen nicht einmal annähernd aus, um eine Stabilisierung zu erreichen.81
in Afghanistan“, International Herald Tribune, 5. Oktober 2004; Desmond Butler, „5-Year
Hunt Fails to Net Qaeda Suspect in Africa“, New York Times, 14. Juni 2003.
79 Abraham McLaughlin, „Can Africa Solve African Problems?“, Christian Science
Monitor, 4. Januar 2005; Marc Lacey, „Beyond the Bullets and Blades“, New York Times,
20. März 2005; „World Refugee Day: Testimony of Anne C. Richard, International Rescue
Committee“, Aussage vor dem Subcommittee on Africa and Global Health des US House
of Representatives Committee on Foreign Affairs, Washington, DC, 20. Juni 2007.
80 „Afghanistan: The Ignored War“, in: Christy Harvey, Judd Legum und Jonathan
Baskin, The Progress Report (Washington, DC: American Progress Action Fund, 2005);
Fund for Peace und Carnegie Endowment, op. cit. Anmerkung 71; McLaughlin, op. cit.
Anmerkung 78; „A Failing State: The Himalayan Kingdom Is a Gathering Menace“, The
Economist, 4. Dezember 2004.
81 United Nations, „United Nations Peacekeeping Operations“, Datenblatt mit Hintergrundinformationen unter www.un.org/Depts/dpko/dpko/bnote.htm, 31. Juli 2007; „US
Official Calls for NATO Flexibility in Afghanistan“, Agence France-Presse, 6. September
2007; Marc Lacey, „Congo Tribal Killings Create a New Wave of Refugees“, New York
Times, 6. März 2005.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Länder wie Afghanistan oder Haiti können heute nur deshalb überleben,
weil sie am Tropf der internationalen Gemeinschaft hängen. Die geleistete
Wirtschaftshilfe – und dazu gehören, wie ich erwähnen möchte, auch Lebensmittellieferungen – trägt dazu bei, dass sie überhaupt erhalten werden können.
Doch bisher reicht die Hilfe nicht aus, um die sich gegenseitig verstärkenden Trends des Verderbens aufzuhalten und sie durch staatliche Stabilität und
nachhaltigen wirtschaftlichen Fortschritt zu ersetzen.82
In einer Zeit zunehmender Globalisierung und wirtschaftlicher Integration
hängt die Funktionsfähigkeit des globalen Systems und damit das Wohlergehen jedes einzelnen Staates von der Existenz eines funktionierenden Netzwerks
miteinander kooperierender, gesunder Nationalstaaten ab. Wenn eine Regierung keine echte Regierungsgewalt mehr über ihr Land hat, ist sie nicht mehr
in der Lage, Steuern einzutreiben, geschweige denn ihre Auslandsschulden zu
bezahlen, sodass wenn die Zahl der gescheiterten Staaten immer größer wird,
auch die Summe der Schulden, die nicht mehr abbezahlt werden, wächst.
Wenn es darum geht, den internationalen Terrorismus einzudämmen, ist die
Welt auf funktionierende Nationalstaaten angewiesen, die ihre Bemühungen
auf diesem Gebiet koordinieren. Sobald aber ein Staat nicht mehr funktionsfähig ist und scheitert, werden diese Bemühungen insgesamt geschwächt.
Auch zum Schutz gefährdeter Arten braucht es fast immer eine enge internationale Zusammenarbeit. In Ländern wie beispielsweise der Demokratischen Republik Kongo, wo die Regierungsgewalt bereits zusammengebrochen ist und überall im Land Hunger und allgemeines Chaos herrschen, sind
die Populationen der Tiefland- und Berg-Gorillas jäh zusammengeschrumpft.
Und das ist kein Einzelfall, diese Entwicklung ist in ganz Afrika, wo so viele
der noch verbliebenen Großsäugetierarten leben, immer und immer wieder zu
beobachten.83
Ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass es funktionierende Nationalstaaten
braucht, die miteinander zusammenarbeiten, um Probleme zu lösen, ist das
internationale Netzwerk zur Kontrolle von Infektionskrankheiten wie Vogelgrippe, SARS und Polio oder von Krankheiten, die vorrangig Tiere befallen,
wie BSE und Maul-und-Klauen-Seuche. Im Jahr 1988 leitete die internationale Gemeinschaft eine Reihe von Maßnahmen ein, mit deren Hilfe Polio weltweit ausgerottet werden sollte, wobei man sich an dem äußerst erfolgreichen
Programm zur Ausrottung von Pocken orientierte. Ziel des Polio-Programms
war es, diese furchtbare Krankheit, durch die jeden Tag durchschnittlich 1.000
Kinder weltweit gelähmt wurden, ein für alle mal auszumerzen. Bis zum Jahr
2003 war es gelungen, die Krankheit bis auf wenige Ausnahmen, darunter
Afghanistan, Indien, Nigeria und Pakistan, weltweit auszurotten.84
82 U.N. World Food Programme (WFP), „New Operation Provides WFP Food Aid to
550,000 Haitians“, Pressemitteilung (Rom: 5. Mai 2005); WFP, „India Helps WFP Feed
Afghan Schoolchildren“, Pressemitteilung (Rom: 17. Mai 2005).
83 Stephanie McCrummen, „In an Eastern Congo Oasis, Blood amid the Greenery“,
Washington Post, 22. Juli 2007.
84 Roland Ogbonnaya, „Polio Pandemic … Is Nigeria Winning the Fight?“ This Day
(Lagos), 22. Juli 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Doch im Jahr 2003 begannen einige religiöse Führer im Norden Nigerias,
sich gegen das Impfprogramm zu stellen, weil die Impfungen angeblich Teil
einer Verschwörung zur Verbreitung von AIDS seien und zu Unfruchtbarkeit
führten. Infolgedessen stieg die Zahl der Polio-Erkrankungen in Nigeria wieder rapide an und verdreifachte sich innerhalb der folgenden drei Jahre. Auch
in anderen Ländern, in denen die Krankheit bereits ausgerottet war, darunter
Indonesien, der Tschad und Somalia, trat die Krankheit wieder auf und es
wird vermutet, dass nigerianische Muslime die Krankheit auf ihrer jährlichen
Pilgerfahrt nach Mekka weitergetragen haben. Als Reaktion darauf haben die
saudischen Behörden eine Verordnung erlassen, laut der jeder junge Mensch
aus einem Land, in dem Polio-Fälle gemeldet wurden, vor seiner Einreise gegen Polio geimpft sein muss.85
Ende 2007 war die Krankheit in Afghanistan, Nigeria, Indien und Pakistan
immer noch endemisch und in insgesamt zehn Ländern wurden immer noch
Fälle von Polio gemeldet. Auch wenn etwa 190 Länder bereits „polio-frei“ sind,
könnte das Ziel einer Welt ganz ohne Polio angesichts der Tatsache, dass die
Krankheit in gescheiterten oder im Scheitern begriffener Staaten immer wieder
auftaucht, in weite Ferne rücken. Und wenn es der internationalen Gemeinschaft nicht gelingt, das Problem der scheiternden Staaten effektiv anzugehen,
könnten sich auch die Aussichten für die Lösung anderer Probleme stark verschlechtern.86
85 David Brown, „A Blow to Anti-Polio Campaign“, Washington Post, 10. Mai 2005;
Donald G. McNeil, Jr., „Muslims’ New Tack on Polio: A Vaccine en Route to Mecca“, New
York Times, 20. August 2005; Angaben über die Verdreifachung der Polio-Fälle in Nigeria
aus: „Wild Poliovirus 2000–2007“, in: WHO Global Polio Eradication Initiative, „Wild
Poliovirus Weekly Update“, unter www.polioeradication.org, aktualisiert am 2. Oktober
2007.
86 „Wild Poliovirus 2000–2007“, op. cit. Anmerkung 84; Schätzung über Anzahl der
bereits polio-freien Staaten aus: Celia W. Dugger, „Nigeria and India Cited in Rise of Polio
Cases“, New York Times, 13. Oktober 2006.
157
II.
DIE ANTWORT AUF DIE
PROBLEME – PLAN B
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 7
Beseitigung der Armut und Stabilisierung der Bevölkerungszahlen
Das neue Jahrhundert begann mit einer inspirierenden Note, als die Mitgliedsstaaten der UNO es sich zum Ziel setzten, die Zahl derer, die in Armut leben,
bis 2015 zu halbieren. Und bis zum Jahr 2007 lag die Welt bei der Erreichung
dieses Ziels wirklich gut im Zeitplan. Dafür gab es zwei Hauptgründe: China
und Indien. Gemeinsam trugen Chinas Wirtschaftswachstum von jährlich fast
10 % in den letzten 20 Jahren und Indiens beschleunigtes Wachstum von fast
7 % pro Jahr in den letzten Jahren dazu bei, dass Hunderte Millionen Menschen nicht länger in Armut leben mussten.
In China sank die Zahl derer, die in Armut leben, zwischen 1981 und 2001
von 648 Mio. auf nur noch 218 Mio., das ist der wohl größte Rückgang der
Armutszahlen in der Geschichte. Auch Indien macht beeindruckende Fortschritte im wirtschaftlichen Bereich. Unter der dynamischen neuen Führung
von Premierminister Manmohan Singh, der das Amt im Jahr 2004 übernahm,
und seines fähigen Teams wird der Kampf gegen die Armut direkt angegangen, indem man die Infrastruktur bereits von ganz unten an, in den Dörfern,
modernisiert und gezielte Investitionen tätigt, um den Ärmsten der Armen zu
helfen.
Wenn die internationale Gemeinschaft diese Bemühungen im reformorientierten Indien aktiv unterstützen würde, könnten Hunderte Millionen Menschen mehr aus ihrem Leben in Armut befreit werden. Da Indien sich inzwischen wirtschaftlich im Aufwind befindet, kann sich die Welt nun intensiv mit
der Armut in anderen Ländern beschäftigen, besonders in den afrikanischen
südlich der Sahara und einer Reihe kleinerer Länder in Lateinamerika und
Zentralasien.
Mehrere Länder in Südostasien, darunter Thailand, Vietnam und Indonesien, machen ebenfalls beeindruckende Fortschritte. Sollte es keine größeren
wirtschaftlichen Rückschläge geben, so wären diese Fortschritte in Asien praktisch die Garantie dafür, dass das U.N. Millenium Development Goal zur Senkung der Armutszahlen bis 2015 erreicht werden kann. Tatsächlich kamen
Experten der Weltbank in einer Studie zum Stand der Dinge in Bezug auf
die Umsetzung der U.N. Millenium Development Goals im Jahr 2007 zu dem
Schluss, dass die Entwicklungsländer weltweit, mit Ausnahme der Länder süd UN-Generalversammlung, „United Nations Millennium Declaration“, Resolution
von der UN-Generalversammlung angenommen am 8. September 2000; Weltbank, Global
Monitoring Report 2007: Millennium Development Goals (Washington, DC: 2007), S. 39;
Internationaler Währungsfond (IMF), World Economic Outlook, elektronische Datenbank
unter www.imf.org, aktualisiert im März 2007.
Weltbank, World Development Report 2005 (New York: Oxford University Press,
2004); Jeffrey D. Sachs, „India Takes the Lead“, Korea Herald, 4. August 2004.
Anm. d. Übers.: Millenium Development Goals sind Ziele, auf die sich die UN-Mitglieder im September 2000 auf der 5. UN-Generalversammlung geeinigt hatten.
160
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
lich der Sahara, auf dem besten Wege seien, bis 2015 die Zahl derer, die in
Armut leben müssen, zu halbieren.
Dafür versinken die afrikanischen Länder südlich der Sahara – in denen
insgesamt 800 Mio. Menschen leben – immer tiefer in Armut. Hungersnöte,
Analphabetentum und Krankheiten sind auf dem Vormarsch und heben damit
praktisch einige der in China und Indien gemachten Fortschritte zahlenmäßig
wieder auf, wobei Afrika hier besondere Aufmerksamkeit verdient. Auch die
Gruppe der gescheiterten Staaten rutscht immer mehr ab. Eine interregionale
Liste der Weltbank über Staaten, die zu scheitern drohen, gibt wenig Anlass
zur Hoffnung, denn schließlich liegt in diesen Ländern der Anteil derer, die
in extremer Armut leben, an der Gesamtbevölkerung bei mehr als 50 % und
damit deutlich höher als noch 1990.
Neben dem Ziel der Halbierung der Zahl der in Armut Lebenden bis 2015
gehören zu den UN-Millennium Goals auch die Halbierung der Zahl der Hungerleidenden weltweit, das Erreichen eines Zugangs zu Grundschulbildung für
alle, die Halbierung der Zahl derer, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, und die Eindämmung von Infektionskrankheiten, besonders HIV
und Malaria. Weitere Ziele, die eng mit diesen im Zusammenhang stehen,
sind die Senkung der Wöchnerinnensterblichkeit um drei Viertel und die Senkung der Sterblichkeitsrate bei den unter 5-Jährigen um zwei Drittel.
Während sich die Welt bei der Erreichung des Ziels der Halbierung der
Armutszahlen bis 2015 im Zeitplan zu befinden scheint, ist dies bei der Reduzierung der Zahl der Hungerleidenden leider nicht so. Tatsächlich hat sich der
Abwärtstrend bei der Zahl der Hungerleidenden und Unterernährten inzwischen sogar umgekehrt. Die Zahl der Kinder, die eine Grundschulbildung erhalten, scheint deutlich anzusteigen, doch dies ist größtenteils den Fortschritten in Indien zuzuschreiben.
Als sich die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen auf die Millenniumsziele verständigten, nahmen sie unerklärlicherweise keinerlei Ziele zur Stabilisierung der Bevölkerungszahlen oder zur besseren Familienplanung mit in
das Programm auf. Als Reaktion darauf veranlasste die britische All Party Parliamentary Group on Population Development and Reproductive Health unter
Vorsitz des britischen Parlamentsmitglieds Christine McCafferty Anhörungen
mit internationalen Experten zu diesem Thema. In einem 2007 veröffentlich United Nations, „Poverty, Percentage of Population Below $1 (PPP) Per Day, Percentage“, Millennium Development Goals Indicators Database, aktualisiert am 27. Juli 2007;
Weltbank, op. cit. Anmerkung 1, S. 1, 3.
U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population
Database, unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007; Führer der G-8-Länder, „Gleneagles
Communiqué on Africa, Climate Change, Energy and Sustainable Development“, Dokument vom G8-Gipfel in Gleneagles, Schottland, Juli 2005; Angaben zu den „anfälligen“
Staaten aus: Weltbank, op. cit. Anmerkung 1, S. 4.
U.N. General Assembly, op. cit. Anmerkung 1.
Weltbank, op. cit. Anmerkung 1, S. 1ff.; U.N. Food and Agriculture Organization
(FAO), Number of Undernourished Persons, at www.fao.org/faostat/foodsecurity, aktualisiert
am 30. Juni 2006; UNICEF, Excluded and Invisible: The State of the World’s Children 2006
(New York: 2005), S. vii, 114ff.
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ten Bericht über die Ergebnisse dieser Anhörungen kommt Richard Ottaway,
ebenfalls Mitglied des britischen Parlaments, zu dem Schluss, dass es sich als
„schwierig, wenn nicht gar unmöglich erweisen könnte, die Millenniumsziele umzusetzen, wenn das Bevölkerungswachstum in den am schlechtesten
entwickelten Ländern und Regionen der Welt auf dem derzeitigen Niveau
bleibt“.
Martha Campbell und ihre Kollegen erklärten in einem Artikel in Science,
in dem sie die Ergebnisse des Berichts zusammenfassten, „die Mittel für die
Familienplanung in diesen Ländern“ müssten „deutlich erhöht werden, insbesondere für die 2 Mrd. Menschen weltweit, die derzeit von weniger als 2 $ am
Tag leben müssen“. Inzwischen hat die UNO den Millenniumszielen, wenn
auch verspätet, ein weiteres hinzugefügt: die Forderung nach Zugang zu Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin für alle Menschen bis 2015.
Überall auf der Welt haben die Regierungen der einzelnen Länder kaum
eine andere Wahl, als auf einen Durchschnittswert von zwei Kindern pro Familie hinzuarbeiten, denn es gibt einfach keine sinnvolle Alternative. Wenn
in einem Land die Bevölkerungszahl über längere Zeit kontinuierlich ansteigt
oder absinkt, ist das einfach letztlich nicht tragbar.
In einer immer stärker interdependenten Welt, in der eine immer größer
werdende Zahl von Staaten zu scheitern droht, sind Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut und zur Stabilisierung der Bevölkerungszahlen inzwischen zu
Fragen der nationalen Sicherheit geworden. Eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums trägt zur Bekämpfung der Armut bei, was wiederum dazu
führt, dass sich das Bevölkerungswachstum verlangsamt. Da die Zeit langsam
knapp wird, ist klar, dass wir an beiden Fronten gleichzeitig ansetzen müssen.
GRUNDLEGENDE BILDUNG FÜR ALLE
Eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich
kleiner wird, besteht darin, allen Menschen den Zugang zu grundlegender Bildung zu ermöglichen. Praktisch bedeutet das, 72 Mio. Kindern, die bisher
nicht zur Schule gehen, die Möglichkeit zu geben, es zu tun. Kinder ohne
schulische Bildung haben von Anfang an einen deutlichen Nachteil im Leben.
Dieser ist sogar so groß, dass praktisch von vornherein klar ist, dass sie auch
weiterhin in Armut und Elend werden leben müssen und dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. In einer immer stärker miteinander
verknüpften Welt kann diese stetig wachsende Kluft zum Auslöser von Instabilität werden. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya
All Party Parliamentary Group on Population Development and Reproductive
Health, Return of the Population Growth Factor: Its Impact on the Millennium Development
Goals (London: Her Majesty’s Stationery Office, Januar 2007), S. 1, 3ff.; Martha Campbell
et al., „Return of the Population Growth Factor“, Science, Vol. 315 (16. März 2007), S.
1501f.
Campbell et al., op. cit. Anmerkung 7; Martha Campbell, Gespräch mit Janet
Larsen, Earth Policy Institute, 8. Oktober 2007; All Party Parliamentary Group, op. cit.
Anmerkung 7, S. 4.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Sen bringt es auf den Punkt: „Die Tatsache, dass viele Menschen nicht lesen,
schreiben und rechnen können, stellt eine größere Bedrohung für die Menschheit dar als der Terrorismus.“10
Mit ihrem „Education for All“ -Plan, laut dem jedes Land, das einen gut
durchdachten Plan zur Sicherung des Zugangs zu grundlegender Bildung für
alle, Anrecht auf finanzielle Unterstützung durch die Weltbank hat, hat diese bei der Erreichung eines Zugangs zu grundlegender Bildung für alle die
Führung übernommen. Dafür müssen die Länder drei Hauptvoraussetzungen
erfüllen: Sie müssen einen vernünftigen Plan zur Sicherung des Zugangs zu
grundlegender Bildung für alle vorlegen, einen bedeutenden Teil ihrer eigenen
Ressourcen in seine Umsetzung investieren und die Haushalts- und Buchführung muss transparent sein. Wenn dieser Plan der Weltbank vollständig umgesetzt würde, könnten alle Kinder in den armen Ländern bis 2015 Zugang zu
grundlegender Bildung erhalten, wodurch sie letztlich auch die Möglichkeit
erhielten, sich aus ihrer Armut zu befreien.11
Auf dem Weg zur Erreichung dieses Ziels sind bereits einige Fortschritte
erzielt worden. Im Jahr 2000 erhielten etwa 78 % aller Kinder eine Grundschulbildung, 2005 waren es schon 83 %. Doch auch wenn dies ein starker
Zuwachs ist, so verteilt er sich doch nicht gleichmäßig, sodass die Experten
der Weltbank der Meinung sind, dass nur 95 der 152 Entwicklungsländer, für
die diesbezüglich überhaupt Daten vorliegen, das Ziel einer grundlegenden
Schulbildung für alle bis 2015 werden erreichen können.12
Armut ist größtenteils ererbt. Die überwältigende Mehrheit derer, die heute in Armut leben, wurde in Familien hineingeboren, die ebenfalls bereits in
Armut lebten. Der Schlüssel zum Durchbrechen des Teufelskreises der Armut
heißt Bildung, besonders Bildung für Frauen, denn je höher das Bildungsniveau von Frauen in einer Gesellschaft ist, desto niedriger ist die Geburtenrate
dort. Und Mütter, die zumindest fünf Jahre lang zur Schule gegangen sind,
verlieren seltener ihre Kinder bei der Geburt oder durch Krankheiten im Säuglingsalter als Mütter, die eine geringere Bildung haben. Der Wirtschaftswissenschaftler Gene Sperling kam bei einer 2001 durchgeführten Studie, bei der 72
Länder einbezogen wurden, zu dem Schluss, „die Verbesserung des Zugangs
zu höherer Schulbildung könnte das beste Mittel sein, um die Geburtenraten
deutlich zu senken.“13
10 United Nations, Millennium Development Goals Report 2007 (New York: 2007),
S. 11; Hilaire A. Mputu, Literacy and Non-Formal Education in the E-9 Countries (Paris:
UNESCO, 2001), S. 5; Polly Curtis, „Lack of Education ‘a Greater Threat than Terrorism’:
Sen“, Guardian (London), 28. Oktober 2003.
11 Paul Blustein, „Global Education Plan Gains Backing“, Washington Post, 22. April
2002; Weltbank, „World Bank Announces First Group of Countries for ‘Education For All’
Fast Track“, Pressemitteilung (Washington, DC: 12. Juni 2002); Gene Sperling, „The G-8
– Send 104 Million Friends to School“, Bloomberg News, 20. Juni 2005.
12 Weltbank, op. cit. Anmerkung 1, S. 5, 24.
13 Gene Sperling, „Toward Universal Education“, Foreign Affairs, September/Oktober
2001, S. 7ff..
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Der Zugang zu grundlegender Bildung erhöht auch die Produktivität in
der Landwirtschaft. Landwirtschaftliche „Extension Services“14 die zur Verbreitung von Informationen über bessere landwirtschaftliche Praktiken Druck­
erzeugnisse verwenden können, sind eindeutig im Vorteil – ebenso wie Bauern,
die in der Lage sind, die Anweisungen auf einem Sack Dünger zu lesen und zu
verstehen. Und die Fähigkeit, die Anweisungen auf einem Behälter mit Pestiziden lesen zu können, kann einem sogar das Leben retten.
In einer Zeit, da HIV sich in der ganzen Welt immer mehr ausbreitet,
bilden Schulen eine gute institutionelle Möglichkeit, Kinder über die Risiken
einer Infektion aufzuklären. Die Aufklärung über das Virus und die Lebensführung, die zu seiner Verbreitung beiträgt, muss bereits im Kindesalter beginnen, nicht erst, wenn die Menschen bereits infiziert sind. Außerdem sollte
man versuchen, junge Menschen zu mobilisieren, um Aufklärungskampagnen
unter Gleichaltrigen durchzuführen.
In den Entwicklungsländern, besonders dort, wo sich die Reihen der Lehrer durch AIDS immer mehr lichten, besteht eines der wichtigsten Erfordernisse in einer verstärkten Lehrerausbildung. Dabei könnten sich Stipendien für
die Lehrerausbildung für vielversprechende Studenten aus armen Familien, die
an die Bedingung geknüpft wären, für eine bestimmte Zeit, etwa fünf Jahre,
als Lehrer zu arbeiten, als äußerst gewinnbringende Investition erweisen. So
wäre gesichert, dass genug Lehrer vorhanden wären, um das Ziel einer grundlegenden Bildung für alle erreichen zu können, und gleichzeitig würde aufstrebenden jungen Menschen aus den ärmsten Gesellschaftsschichten eine Tür
geöffnet.
Gene Sperling ist der Ansicht, jeder Plan sollte Möglichkeiten aufzeigen,
die am schwersten zu erreichenden Gesellschaftsschichten, besonders die Mädchen in den ländlichen Gegenden, dennoch zu erreichen. Er merkt an, dass
Äthiopien hier mit seinen Beratungsgruppen für Mädchen vorbildliche Arbeit
leistet. Vertreter dieser Gruppen wenden sich an Eltern, die ihre Töchter sehr
früh verheiraten wollen, und ermutigen sie, ihre Kinder weiter zur Schule zu
schicken. In einigen Ländern, darunter auch Brasilien und Bangladesch, gibt es
sogar kleine Stipendien für bedürftige Mädchen oder, wo nötig, auch für Eltern,
was dazu beiträgt, dass auch Mädchen aus ärmeren Familien eine grundlegende
Bildung erhalten.15
Da die Welt wirtschaftlich immer stärker miteinander verknüpft ist, sind
die weltweit fast 800 Mio. erwachsenen Analphabeten klar im Nachteil gegenüber anderen. Der wohl beste Weg, dieses Problem zu lösen, sind Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene, die größtenteils von Freiwilligen getragen
werden. Die internationale Gemeinschaft könnte dort, wo es nötig ist, eine
finanzielle Starthilfe anbieten, mit deren Hilfe Lehrmaterialien und ausländische Berater bezahlt werden könnten. Dabei könnten Bangladesch und der
14 Anm. d. Übers.: Organisationen, die über ein breites Themenspektrum informieren;
für den landwirtschaftlichen Bereich z. Bsp. Düngemittel, Bewässerung, Agrarökonomie
etc.
15 Gene Sperling, „Educate Them All“, Washington Post, 20. April 2002.
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Iran, die beide sehr erfolgreiche Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene
vorweisen können, als Vorbild dienen.16
Nach Schätzungen der Weltbank wären zusätzliche externe Finanzmittel
in Höhe von jährlich etwa 10 Mrd. $ nötig, um sicherzustellen, dass bis 2015
alle Menschen Zugang zu grundlegender Bildung erhalten. In einer Zeit, da
Bildung Kindern nicht nur den Zugang zu Büchern ermöglicht, sondern auch
zu PCs und zu den riesigen Informationsquellen im Internet, ist es nicht länger
hinnehmbar, dass einige Kinder überhaupt nicht zur Schule gehen.17
Der wohl effektivste Anreiz dafür, dass Kinder in die Schule gehen, sind
Schulspeisungsprogramme, ganz besonders in armen Ländern. Seit 1946 hat
jedes Kind in einer öffentlichen Schule in den USA Zugang zu einem solchen Programm, sodass gewährleistet ist, dass es zumindest einmal am Tag eine
ordentliche Mahlzeit erhält, ein Vorteil, den sicher niemand in Frage stellen
wird.18
Kinder, die krank sind oder Hunger leiden, verpassen viele Schultage. Und
selbst wenn sie in der Schule sind, können sie nicht so gut lernen wie andere Kinder. Jeffrey Sachs vom Earth Institute der Columbia University dazu:
„Wegen der vielen Fehltage in der Schule und den kognitiven und physischen
Beeinträchtigungen leiden Kinder, die häufig krank sind, oft lebenslang unter
einer verminderten Produktivität.“ Doch wenn in Ländern mit geringem Einkommen Schulspeisungsprogramme eingeführt werden, steigt auch die Zahl
der Kinder, die die Schule besuchen, die Leistungen der Kinder sind besser
und die Kinder gehen insgesamt länger zur Schule.19
Besonders Mädchen profitieren davon. Nachdem die Schulspeisung dazu
beigetragen hat, dass sie in die Schule gehen, bleiben sie länger in der Schule,
heiraten später und haben weniger Kinder. Dies ist eine Situation, die für alle
Beteiligten nur Vorteile bringt. Die Einführung von Schulspeisungsprogrammen in den 44 ärmsten Ländern der Erde würde geschätzte 6 Mrd. $ im Jahr
zusätzlich zu dem kosten, was die Vereinten Nationen derzeit für ihre Bemühungen zur Bekämpfung des Hungers in der Welt ausgeben.20
Damit sie später von der Schulspeisung profitieren können, ist es aber auch
notwenig, mehr für die Ernährung der Kinder zu tun, bevor sie das Schulalter
erreichen. Der ehemalige US-Senator George McGovern merkt dazu an, es
sollte auch in den armen Ländern „ein Programm für Frauen und Kinder aller
Altersstufen“ geben, „durch das bedürftige Schwangere und stillende Mütter
16 UNESCO, EFA Global Monitoring Report 2007: Strong Foundations (Paris: 2006),
S. 2; U.N. Commission on Population and Development, 36. Session, Population, Education, and Development, Pressemitteilungen, 31. März-4. April 2003; UNESCO, „Winners
of UNESCO Literacy Prizes 2003“, Pressemitteilung, 27. Mai 2003.
17 U.K. Treasury, From Commitment to Action: Education (London: Department for
International Development, September 2005).
18 George McGovern, The Third Freedom: Ending Hunger in Our Time (New York:
Simon & Schuster: 2001), Kapitel 1.
19 Jeffrey Sachs, „A New Map of the World“, The Economist, 22. Juni 2000; George
McGovern, „Yes We CAN Feed the World’s Hungry“, Parade, 16. Dezember 2001.
20 McGovern, op. cit. Anmerkung 17.
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mit nahrhaften Nahrungsergänzungen versorgt werden“. In den USA werden
solche Programme für Frauen und Kinder bereits seit 33 Jahren mit enormem
Erfolg durchgeführt und aus dieser Erfahrung weiß man, dass sie sehr stark
dazu beitragen, den Ernährungs- und Gesundheitszustand sowie die allgemeine Entwicklung von Vorschulkindern aus Familien mit geringem Einkommen
zu verbessern. Wenn diese Programme auch auf Schwangere, stillende Mütter
und kleine Kinder in den 44 ärmsten Ländern der Welt ausgedehnt würden,
so könnte dies dazu beitragen, dass Millionen kleiner Kinder in einer Phase
ihres Lebens, in der es einen großen Unterschied machen könnte, nicht länger
hungern müssten.21
Obwohl die Ausgaben für diese Bemühungen sehr hoch sind, sind sie doch
nichts im Vergleich zu den jährlichen Produktivitätsverlusten, die durch Hunger verursacht werden. McGovern ist der Meinung, diese Initiative könnte dazu
beitragen, „den Sumpf des Hungers und der Verzweiflung trockenzulegen, der
dem Terrorismus den Boden bereitet“. Und es geht nicht an, dass es in einer
Welt, in der die Reichen immer größere Mengen an Reichtümern anhäufen,
immer noch Kinder gibt, die hungrig zur Schule gehen müssen.22
DIE STABILISIERUNG DER BEVÖLKERUNGSZAHLEN
Derzeit gibt es etwa 43 Länder, in denen die Bevölkerungszahlen grundlegend
stabil oder bereits leicht rückläufig sind, und in den Ländern mit den niedrigsten Fruchtbarkeitsraten, darunter Japan, Russland, Deutschland und Italien,
werden die Bevölkerungszahlen innerhalb der nächsten 50 Jahre höchstwahrscheinlich auch leicht zurückgehen.23
Einer größeren Anzahl von Ländern, darunter auch China und die Vereinigten Staaten, ist es gelungen, die Geburtenraten auf das Bestandserhaltungsniveau oder sogar leicht darunter zu senken. Nachdem viele junge Leute dort
ihre zur Fortpflanzung geeigneten Jahre hinter sich gelassen haben, werden
sich die Bevölkerungszahlen dort bald stabilisieren. Bei einer weiteren Gruppe
von Ländern, darunter Äthiopien, die Demokratische Republik Kongo und
Uganda, ist jedoch davon auszugehen, dass sich ihre Bevölkerungszahlen bis
2050 mehr als verdoppeln werden.24
Die UN hat – in Abhängigkeit von den Fruchtbarkeitsraten – drei unterschiedliche Prognosen über das Wachstum der Weltbevölkerung gemacht.
Laut der mittleren Vorhersage, die am häufigsten benutzt wird, wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,2 Mrd. Menschen ansteigen. Im Falle der ungüns21 Ebenda.
22 Ebenda.
23 Angaben über Länder mit stabilen oder rückläufigen Bevölkerungszahlen aus: Population Reference Bureau (PRB), Datafinder, elektronische Datenbank unter www.prb.org/DataFind/datafinder7.htm, aktualisiert 2007; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4.
24 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4; United Nations, „Total Population
(Both Sexes Combined) By Major Area, Region and Country, Annually for 1950-2050“,
Tabelle in: World Population Prospects: The 2006 Revision, Extended Dataset, CD-ROM
(Rom: 15. Juni 2007).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
tigsten Vorhersage wären es 10,8 Mrd., und im Falle der günstigsten, bei der
davon ausgegangen wird, dass die Geburtenraten weltweit sehr schnell unter
das Bestandserhaltungsniveau auf 1,6 Kinder pro Paar sinken werden, wird die
Weltbevölkerung 2041 mit knapp unter 8 Mrd. Menschen ihren Höchststand
erreichen und dann zurückgehen. Wenn wir Armut, Hunger und Analphabetentum wirklich ausrotten wollen, haben wir keine andere Wahl, als darauf
hinzuarbeiten, dass die günstigste Prognose eintrifft.25
Wenn das Anwachsen der Weltbevölkerung verlangsamt werden soll, müssen alle Frauen, die die Größe ihrer Familie vorausplanen wollen, Zugang zu
den dazu nötigen Möglichkeiten der Familienplanung haben. Leider haben derzeit 201 Mio. Paare keinen Zugang zu solchen Möglichkeiten, um die Größe
ihrer Familie zu beschränken. J. Joseph Speidel, ehemaliger Mitarbeiter in der
U. S. Agency for International Development, merkt dazu an: „Wenn man Anthropologen, die mit den Ärmsten der Armen in ihren Dörfern zusammen leben
und dort mit ihnen arbeiten, [zu diesem Thema] befragt, […] so berichten sie
häufig, die Frauen dort lebten in ständiger Angst, wieder schwanger zu werden,
da sie das eigentlich nicht wollen.“ Möglicherweise ist die Überbrückung der
Kluft im Bereich der Familienplanung das dringlichste Thema auf der globalen
Agenda. Die Kosten dafür wären minimal, der Nutzen jedoch enorm.26
Die gute Nachricht ist, dass Länder, die Paare dabei unterstützen wollen,
die Größe ihrer Familie zu beschränken, dies schnell tun können. Meine Kollegin Janet Larsen schreibt, dass es dem Iran in nur zehn Jahren gelungen ist,
die Wachstumsrate seiner Bevölkerung von einer der höchsten weltweit in eine
der niedrigsten unter den Entwicklungsländern zu verwandeln. Als Ayatollah
Khomeini 1979 die Macht im Iran übernahm, verbot er sofort die vom Schah
1967 eingeführten Programme zur Familienplanung und sprach sich für große
Familien aus. Im Krieg mit dem Irak zwischen 1980 und 1988 wollte Khomeini, dass die großen Familien möglichst viele Soldaten für den Islam stellten, wobei sein Ziel in einer Armee von 20 Mio. Mann bestand. Als Reaktion auf seine
Forderungen stiegen die Geburtenraten, sodass das Bevölkerungswachstum im
Iran Anfang der 80er Jahre mit 4,2 % seinen Höchststand erreichte – ein Niveau dicht am biologischen Maximum. Als dieses enorme Bevölkerungswachstum langsam zur Belastung für die Wirtschaft wurde, erkannte die Führung des
Landes, dass Überbevölkerung, Verschlechterung der Umweltbedingungen und
hohe Arbeitslosigkeit zu einer Gefahr für die Zukunft des Iran würden.27
25 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4.
26 Program for Appropriate Technology in Health (PATH) und U.N. Population Fund
(UNFPA), Meeting the Need: Strengthening Family Planning Programs (Seattle: 2006), S. 5ff.;
Zitat aus: All Party Parliamentary Group, op. cit. Anmerkung 7, S. 22.
27 Janet Larsen, „Iran’s Birth Rate Plummeting at Record Pace“, in: Lester R. Brown, Janet
Larsen und Bernie Fischlowitz-Roberts, The Earth Policy Reader (New York: W. W. Norton &
Company, 2002), S. 190ff.; siehe auch: Homa Hoodfar und Samad Assadpour, „The Politics
of Population Policy in the Islamic Republic of Iran“, Studies in Family Planning, März 2000,
S. 19-34 sowie Farzaneh Roudi, „Iran’s Family Planning Program: Responding to a Nation’s
Needs“, MENA Policy Brief, Juni 2002; Angaben zum Bevölkerungswachstum im Iran aus:
United Nations, World Population Prospects: The 2004 Revision (New York: 2005).
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Aus diesem Grund machte die iranische Regierung 1989 eine Kehrtwendung und führte die Programme zur Familienplanung wieder ein. Im Mai
1993 wurde ein nationales Gesetz zur Familienplanung verabschiedet. Die
Mittel verschiedener Regierungsministerien, darunter die Ministerien für Bildung, Kultur und Gesundheit, wurden mobilisiert, um für eine Hinwendung
zu kleineren Familien zu werben. Dem nationalen iranischen Nachrichtennetzwerk wurde die Verantwortung dafür übertragen, die Menschen über demographische Probleme und über die Verfügbarkeit von Möglichkeiten zur
Familienplanung zu informieren. Außerdem wurden etwa 15.000 „Gesundheitshäuser“ und Kliniken eingerichtet, um die Gesundheitsfürsorge und die
Bereitstellung von Angeboten zur Familienplanung für die ländliche Bevölkerung zu sichern.28
Religiöse Führer waren in diesen Prozess, der geradezu ein Kreuzzug für die
Etablierung kleinerer Familien war, direkt eingebunden. Der Iran bot eine ganze Palette von empfängnisverhütenden Maßnahmen an, darunter auch die Sterilisierung von Männern – ein absolutes Novum in den islamischen Ländern.
Alle Formen der Geburtenkontrolle, auch Kontrazeptiva wie die Pille oder
Sterilisation, waren kostenlos. Tatsächlich leistete der Iran hier Pionierarbeit
– er war das einzige Land, in dem Paare sich über moderne Empfängnisverhütung informieren lassen mussten, bevor sie eine offizielle Heiratserlaubnis
erhielten.29
Zusätzlich zu den direkten Interventionen der Gesundheitsfürsorge gab es
auch groß angelegte Bemühungen zur Bekämpfung des Analphabetentums unter Frauen, wodurch der Anteil der Frauen, die lesen und schreiben konnten,
zwischen dem Jahr 1970 und dem Jahr 2000 von 25 % auf mehr als 70 % und
der Anteil der weiblichen Schulbesucher von 60 auf 90 % anstieg. Man machte sich auch zunutze, dass 70 % der Haushalte in ländlichen Gegenden über
einen Fernseher verfügten und benutzte das Fernsehen, um Informationen
über Familienplanung im ganzen Land zu verbreiten. Infolge dieser Initiative
sank die Kinderzahl pro Familie im Iran von sieben auf weniger als drei. Auch
gelang es dem Iran, sein Bevölkerungswachstum zwischen 1987 und 1994 zu
halbieren, und mit 1,3 % lag die Gesamtwachstumsrate der Bevölkerung für
2006 nur geringfügig höher als die in den Vereinigten Staaten.30
Traditionell lag das Hauptaugenmerk der Experten stets auf der Rolle der
formalen Bildung, wenn es darum ging, die Fruchtbarkeitsraten zu senken, doch
inzwischen hat man festgestellt, dass Seifenopern in Radio und Fernsehen sehr
viel schneller dazu beitragen können, dass sich die Ansichten der Menschen zu
bestimmten Themen, wie Fortpflanzungsmedizin, Gleichberechtigung der Geschlechter, Familienplanung und Umweltschutz ändern. Eine gute Seifenoper
kann sich innerhalb kurzer Zeit sehr deutlich auf das Bevölkerungswachstum
28 Larsen, op. cit. Anmerkung 25.
29 Ebenda.
30 Ebenda; Angaben zum Bevölkerungswachstum aus: PRB, 2005 World Population
Data Sheet, Schautafel (Washington, DC: August 2005) sowie aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4.
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auswirken. Die damit verbundenen Kosten sind relativ gering und auch wenn
sie läuft, bedeutet das nicht, dass die traditionellen Bemühungen im Bildungsbereich nicht trotzdem weiter ausgedehnt werden könnten.
Als erster erkannte Miguel Sabido, einer der Vizepräsidenten des nationalen mexikanischen Fernsehens Televisa, die enormen Möglichkeiten, die ein
solcher Ansatz bot. Auslöser dafür war die Ausstrahlung einiger Folgen einer
Seifenoper, in denen es um das Thema Analphabetentum ging. Einen Tag nach
Ausstrahlung einer Folge, in der einer der Charaktere sich an entsprechende
Stellen gewandt hatte, um endlich lesen und schreiben zu lernen, meldete sich
etwa eine Viertelmillion Menschen in Mexiko-Stadt ebenfalls für Kurse an.
Im Endergebnis entschlossen sich 840.000 Mexikaner nach Ausstrahlung der
Serie, endlich lesen und schreiben zu lernen.31
In einer Serie mit dem Titel Acompáñeme (auf Deutsch etwa: Komm mit
mir), ließ Sabido das Thema Empfängnisverhütung verarbeiten. Diese Serie
trug dazu bei, dass die Geburtenrate in Mexiko im Verlauf von zehn Jahren
um 34 % zurückging.32
Auch andere Gruppen außerhalb von Mexiko griffen diesen Ansatz schnell
auf. Das in den USA ansässige und von William Ryerson geleitete Population
Media Center (PMC) initiierte bereits derartige Projekte in 15 Ländern, weitere
Projekte in anderen Ländern sind in Planung. Die Arbeit, die PMC in den letzten Jahren in Äthiopien geleistet hat, ist ein gutes Beispiel für den Erfolg dieses
Ansatzes. In von PMC gestarteten Serien im Radio, die in Amharisch und
Oromo ausgestrahlt werden, werden immer wieder Themen aus den Bereichen
Fortpflanzungsmedizin und Gleichheit der Geschlechter aufgegriffen, darunter
der Schutz vor HIV/AIDS, Familienplanung und Bildung für Mädchen. Eine
zwei Jahre nach Beginn der Ausstrahlung im Jahr 2002 durchgeführte Studie
ergab, dass 63 % aller neuen Patienten, die sich in einem der 48 Service-Center
in Äthiopien zum Thema Fortpflanzungsmedizin informieren und behandeln
ließen, nach eigenen Angaben Hörer der Serien von PMC waren.33
Unter den verheirateten Frauen in der Region Amhara, die sich diese Serien
anhörten, gab es einen Anstieg um 55 % in der Anwendung von Methoden
zur Familienplanung. Unter den männlichen Zuhörern war die Zahl derer, die
einen HIV-Test machen ließen, viermal höher als unter Männern, die nicht zu
den Zuhörern der Serien gehörten, während es bei den Frauen dreimal so viele
waren. Und die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Frau gebar, sank
von 5,4 auf 4,3, während gleichzeitig der Bedarf an Empfängnisverhütungsmitteln um 157 % anstieg.34
Verglichen mit den daraus entstehenden Vorteilen sind die Kosten für die
Bereitstellung von Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin und für Pro31 Pamela Polston, „Lowering the Boom: Population Activist Bill Ryerson is Saving the
World – One ‘Soap’ at a Time“, Seven Days, unter www.populationmedia.org/archives/archives2.html, eingesehen am 5. Oktober 2007.
32 Ebenda.
33 Ebenda.
34 Ebenda.
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gramme zur Familienplanung nicht besonders hoch. Wollte man diese Angebote so ausweiten, dass auch die Frauen in den Entwicklungsländern Zugang
dazu hätten, so würde dies laut Schätzungen von Joseph Speidel zusätzliche
Ausgaben von etwa 17 Mrd. $ erfordern – die von den Industrie- und den
Entwicklungsländern gemeinsam getragen werden müssten.35
Experten der Vereinten Nationen schätzen, dass jährlich etwa 52 Mio.
ungewollter Schwangerschaften, 22 Mio. damit in Zusammenhang stehender Abtreibungen und 1,4 Mio. Todesfälle bei Säuglingen verhindert werden
könnten, wenn man den weltweit 201 Mio. Frauen, die keinen Zugang zu effektiven Methoden der Empfängnisverhütung haben, diesen Zugang verschaffen würde. Oder einfacher gesagt: Der Preis, den die Gesellschaft dafür zahlt,
dass die Kluft im Bereich der Familienplanung nicht überbrückt wird, könnte
sich schon bald als zu hoch erweisen.36
Der Übergang zu kleineren Familien bringt auch enormen wirtschaftlichen
Profit. Im Fall von Bangladesch kamen Analysten zu dem Schluss, dass die Regierung, wenn sie nur 62 $ zur Verhinderung einer ungewollten Geburt ausgeben würde, dafür 615 $ an Ausgaben für andere Sozialdienstleistungen einsparen könnte. Eine Investition in die Fortpflanzungsmedizin und Programme zur
Familienplanung würden dazu führen, dass pro Kind mehr finanzielle Mittel
für Ausbildung und Gesundheitsfürsorge zur Verfügung stünden, wodurch sie
der Armut schneller entfliehen könnten. Und die Geberländer würden große
soziale Renditen in Form einer besseren Bildung und Gesundheitsversorgung
erhalten, wenn sie die insgesamt 7,9 Mrd. $ aufbrächten, die nötig sind, um
Paaren weltweit Zugang zu den nötigen Familienplanungsmöglichkeiten zu
verschaffen.37
BESSERE GESUNDHEITSFÜRSORGE FÜR ALLE
Während in den Industrieländern Herzkrankheiten und Krebs (beides Krankheiten, die hauptsächlich bei älteren Menschen auftreten), Fettsucht und
Rauchen zu den wichtigsten Gesundheitsproblemen zählen, sind es in den
Entwicklungsländern die Infektionskrankheiten. Neben AIDS sind Diarrhöe,
Atemwegserkrankungen, Tuberkulose, Malaria und Masern die häufigsten Erkrankungen und die Kindersterblichkeit ist sehr hoch.
Bei der Erreichung des Millenniumsziels der Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel bis 2015 hinkt die Weltgemeinschaft heillos hinterher. Im
35 Angaben über die Höhe der zusätzlichen Ausgaben aus: J. Joseph Speidel et al., Family
Planning and Reproductive Health: The Link to Environmental Preservation (San Francisco:
Bixby Center for Reproductive Health and Research Policy, University of California, 2007),
S. 10 sowie aus: J. Joseph Speidel, Gespräch mit J. Matthew Roney, Earth Policy Institute,
16. Oktober 2007.
36 PATH und UNFPA, op. cit. Anmerkung 24, S. 18.
37 „Bangladesh: National Family Planning Program“, Family Planning Programs: Diverse Solutions for a Global Challenge (Washington, DC: PRB, 1994); Angaben über die
noch fehlenden Finanzmittel aus: Speidel et al., op. cit. Anmerkung 33, S. 10 sowie aus:
Speidel, op. cit. Anmerkung 33.
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Jahr 2005 waren nur 32 der 147 Entwicklungsländer auf einem guten Weg,
dieses Ziel für ihr Land wirklich zu erreichen. In 23 Ländern ist die Kindersterblichkeit entweder unverändert hoch geblieben oder sogar noch angestiegen. Und unter den Ländern, denen bescheinigt wird, sie hätten gute Chancen,
das Ziel bis 2015 zu erreichen, sind nur 2 der 35 Länder, die von der Weltbank
als besonders „anfällig“ eingestuft werden.38
Neben der Ausrottung des Hungers ist die Sicherung des Zugangs zu einer verlässlichen Versorgung mit sauberem Wasser für die geschätzten 1,1 Mrd.
Menschen, denen es genau daran fehlt, mit entscheidend für die Gewährleistung eines besseren Gesundheitszustandes für alle Menschen. Eine realistische
Option für viele Städte könnte darin bestehen, die Errichtung kostspieliger
Abwasserbeseitigungs- und -aufbereitungssysteme auf Wasserbasis zu umgehen
und sich stattdessen für Abfallbeseitigungssysteme zu entscheiden, die praktisch
ohne Wasser auskommen und keine Krankheitserreger verbreiten. (Siehe Beschreibung von Trockenkompost-Toiletten in Kapitel 10) Ein solcher Wechsel
würde gleichzeitig den Wassermangel mindern, die Verteilung von Krankheitserregern in Wassersystemen reduzieren und dazu beitragen, den Nährstoffkreislauf zu schließen – eine weitere Situation, die allen Seiten nur Vorteile bringt.39
Einer der beeindruckendsten Fortschritte im Gesundheitsbereich wurde durch eine Kampagne erreicht, die von der wenig bekannten Nichtregierungsorganisation BRAC in Bangladesch initiiert worden war. Diese hatte den
Müttern in Bangladesch beigebracht, aus Wasser, Zucker und Salz selbst eine
Lösung zur oralen Rehydratation herzustellen, mit der sie ihre Kinder im Falle einer Diarrhöe-Erkrankung selbst behandeln können. Auf diese Weise trug
die von Fazle Hasan Abed gegründete Organisation dazu bei, dass die Zahl
der Kinder, die in Bangladesch – einem stark bevölkerten und von Armut
geprägten Land mit schlechten Bildungsmöglichkeiten – infolge von Diarrhöe
starben, drastisch sank.40
Als UNICEF sah, welche großen Erfolge mit dieser Methode erzielt wurden, entschied man sich, BRAC als Vorbild für das weltweite UNICEF-Programm zur Behandlung von Diarrhöe zu benutzen. Die weltweite Verwendung dieser bemerkenswert einfachen oralen Rehydratationstherapie hat sich
als ausgesprochen effektiv erwiesen – die Todesfälle bei Kindern infolge von
Diarrhöe sind zwischen 1980 und 2006 von 4,6 Mio. auf 1,6 Mio. gesunken.
Allein in Ägypten sind durch die Einführung dieser Methode die Todesfälle bei
Kindern infolge von Diarrhöe zwischen 1982 und 1989 um 82 % zurückgegangen – nur wenige Investitionen haben bei so geringem Kostenaufwand so
viele Menschenleben gerettet.41
38 Weltbank, op. cit. Anmerkung 1, S. 5.
39 Angaben über die Zahl derer, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, aus:
ebenda, S. 13.
40 Mustaque Chowdhury, Health Workforce for TB Control by DOTS: The BRAC Case,
Joint Learning Initiative Working Paper 5-2 (Global Health Trust, 2004).
41 Jeffrey D. Sachs and the Commission on Macroeconomics and Health, Macroeconomics and Health: Investing in Health for Economic Development (Genf: World Health Organization (WHO), 2001); „UNICEF Lists Top Causes of Child Deaths“, Reuters, 13. Sep-
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Der Krieg gegen die Infektionskrankheiten wird auf breiter Front geführt.
Die wohl wichtigste privat finanzierte Maßnahme zur Rettung von Menschenleben weltweit ist das Immunisierungsprogramm für Kinder. Um die Kluft in
diesem weltweiten Programm zu überbrücken, hat die Stiftung von Melinda
und Bill Gates im Jahr 2006 insgesamt mehr als 1,5 Mrd. $ investiert, damit
Kinder vor Infektionskrankheiten wie Masern geschützt werden können.42
Zusätzliche Investitionen könnten Ländern, die sich die Impfstoffe für
Kinderkrankheiten nicht mehr leisten können und deshalb mit ihren Impfprogrammen in Verzug geraten, sehr helfen, denn dafür, dass ihnen heute die
finanziellen Mittel für Investitionen in diesem Bereich fehlen, würden sie in
der Zukunft einen sehr hohen Preis zahlen. Und es gibt nur wenige Situationen, in denen ein paar Cents pro Kind einen so großen Unterschied machen
können wie im Fall von Impfprogrammen.43
Einer der schönsten Momente für die internationale Gemeinschaft war der,
als dank der von der WHO angeführten Bemühungen der UN die Pocken
ausgerottet werden konnten. Durch diese erfolgreiche Eliminierung einer gefürchteten Krankheit, zu der ein weltweites Immunisierungsprogramm nötig
war, konnte nicht nur der Tod von Millionen von Menschen verhindert werden, sondern auch mehrere Millionen Dollar jährlich für Pockenimpfungen
und mehrere Milliarden Dollar für Ausgaben im Gesundheitswesen eingespart
werden. Allein diese Leistung wäre ausreichend, um die Existenz der Vereinten
Nationen zu rechtfertigen.44
In ganz ähnlicher Weise führt eine internationale Koalition unter Führung
der WHO, zu der auch Rotary International, UNICEF, die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention45 und die UN-Stiftung von Ted Turner
gehörten, eine weltweite Kampagne zur Ausrottung von Polio, einer Krankheit,
durch die Millionen von Kindern weltweit zu Krüppeln wurden. Seit 1988
hat beispielsweise Rotary International die immense Summe von 600 Mio. $ zu
diesen Bemühungen beigesteuert, und so konnte dank der von der Koalition
finanzierten Initiative zur Ausrottung von Polio die Zahl der Polio-Fälle weltweit zwischen 1988 und 2003 von etwa 350.000 pro Jahr auf weniger als 700
gesenkt werden.46
tember 2007; Ruth Levine and the What Works Working Group, Millions Saved: Proven
Successes in Global Health (Washington, DC: Center for Global Development, 2004).
42 Bill and Melinda Gates Foundation, „Vaccine-Preventable Diseases“, unter www.
gatesfoundation.org/GlobalHealth, eingesehen am 13. September 2007.
43 John Donnelly, „U.S. Seeks Cuts in Health Programs Abroad“, Boston Globe, 5. Fe­
bruar 2003.
44 Sachs and Commission on Macroeconomics and Health, op. cit. Anmerkung 39;
WHO, „Smallpox“, Datenblatt unter www.who.int, eingesehen am 10. Oktober 2005.
45 Anm. d. Übers.: Die CDCs sind eine staatliche Behörde in den USA, die dem Schutz
der Bevölkerung vor Krankheiten und Epidemien dient, vergleichbar mit dem deutschen
Bundesgesundheitsamt.
46 WHO, „Polio Eradication: Now More Than Ever, Stop Polio Forever“, unter www.
who.int/features/2004/polio/en, eingesehen am 17. September 2007; Rotary International,
„About PolioPlus“, unter www.rotary.org/foundation/polioplus/index.html, eingesehen am
17. September 2007.
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Mitte 2007 wurden nur noch aus zehn Ländern Polio-Fälle gemeldet, darunter Afghanistan, Indien, Myanmar, Pakistan und einige Länder in Zentralafrika und am Horn von Afrika. Insgesamt ging die Zahl der weltweit gemeldeten Polio-Fälle deutlich zurück: Waren es im Jahr 2006 noch etwa 2.000
Fälle, so wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2007 nur noch 545
gemeldet, und dank des wiedereingeführten Polio-Impfprogramms ist auch
Nigeria inzwischen wieder auf dem besten Wege, die Krankheit vollständig
auszurotten.47
Für die internationale Koalition zur Bekämpfung von Polio schien das Ziel
einer vollständigen Ausrottung der Krankheit einmal mehr in greifbare Nähe
gerückt. Doch wider einmal meldeten sich klerikale Hard-Liner, diesmal in
einer der abgelegenen Regionen Pakistans, zu Wort und behaupteten, bei dem
Impfprogramm handele es sich um eine von den USA ausgehende Verschwörung, die darauf abziele, die Menschen unfruchtbar zu machen. Daraufhin
wurden Helfer der Gesundheitsorganisationen vermehrt angegriffen und aus
Teilen der Nordwestprovinz Pakistans, wo das Virus nach wie vor vorhanden
ist, vertrieben. Zwei Helfer wurden sogar getötet. Und so könnte eine kleine
Gruppe, die sich weigert, mit der internationalen Koalition zusammenzuarbeiten, verhindern, dass diese schreckliche Krankheit ein für alle Mal ausgerottet
wird.48
Eine weitere sehr bemerkenswerte Erfolgsgeschichte im Gesundheitsbereich
ist die der Kampagne der vom ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter ins
Leben gerufenen Carter Centers zur fast vollständigen Ausrottung von Dracontiasis, einer durch den Medina- oder Guineawurm ausgelösten Erkrankung.
Dieser Wurm, dessen Larven durch das Trinken von nicht gefiltertem Wasser
aus Flüssen und Seen aufgenommen werden, wächst im Körper des Menschen
zu einer Gesamtlänge von bis zu 60 cm heran und verlässt den Körper schließlich auf langsame, sehr schmerzvolle und lähmende Weise durch die Haut, was
zum Teil mehrere Wochen dauert.49
Da es keinen Impfstoff gibt, der eine Infektion verhindern könnte und
auch keine Medikamente zur Behandlung, kann die Dracontiasis nur ausge­
rottet werden, indem man dafür sorgt, dass die Menschen ausschließlich gefiltertes Wasser trinken. Auf diese Weise können die Larven gar nicht erst in den
Körper gelangen, wodurch die Ausbildung des Wurms verhindert wird, da dieser auf einen menschlichen Wirt angewiesen ist. Die Centers for Disease Control
(CDC) riefen diese Kampagne 1980 ins Leben und schon sechs Jahre später
übernahmen die Carter Centers die Zügel und leiten die Kampagne seither mit
zusätzlicher Unterstützung durch die WHO, UNICEF und die Gates-Founda47 Angaben über die gemeldeten Polio-Fälle aus: „Wild Poliovirus 2000–2007“, in:
WHO Global Polio Eradication Initiative, „Wild Poliovirus Weekly Update“, unter www.
polioeradication.org, aktualisiert am 2. Oktober 2007; Angaben zu Nigeria aus: WHO,
Global Polio Eradication Initiative: Annual Report 2006 (Genf: 2007), S. 6.
48 „Pakistan Polio Drive is Suspended“, BBC News, 8. August 2007.
49 Michele Barry, M.D., „The Tail of Guinea Worm-Global Eradication Without a
Drug or Vaccine“, New England Journal of Medicine, Vol. 356, Nr. 25 (21. Juni 2007), S.
2561ff.
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tion. Die Zahl derer, die sich mit Dracontiasis infizierten, ist zwischen 1986
und 2006 von 3,5 Mio. auf nur noch 25.217 gesunken – ein beeindruckender
Rückgang der Infektionen um 99 %. In Indien, Pakistan und dem Jemen, den
drei Ländern außerhalb Afrikas, in denen der Wurm ebenfalls ein Problem
darstellte, ist er inzwischen vollständig ausgerottet. Die verbliebenen Fälle beschränken sich auf eine Handvoll afrikanischer Länder, hauptsächlich aber auf
den Sudan und Ghana.50
Einige der Hauptursachen für einen frühen Tod stehen im Zusammenhang
mit dem Lebenswandel, beispielsweise mit dem Rauchen. Laut Schätzungen
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) starben im Jahr 2005 etwa 5,4 Mio.
Menschen – mehr als bei jeder Infektionskrankheit – an Erkrankungen, die
durch ihren Tabakgenuss hervorgerufen wurden. Heute gibt es etwa 25 Erkrankungen, darunter Herz- und Atemwegserkrankungen, Hirnschläge, verschiedene Formen von Krebs und Impotenz bei Männern, von denen man
weiß, dass sie im Zusammenhang mit dem Genuss von Tabak stehen. Jedes
Jahr sterben mehr Menschen an den Folgen von Zigarettenqualm als durch
alle anderen Giftstoffe in der Luft zusammengenommen – mehr als 5 Mio. im
Vergleich zu 3 Mio.51
Bei der Reduzierung des Rauchens sind beachtliche Fortschritte zu verzeichnen. Nachdem sich die Gewohnheit des Tabakrauchens über Jahrhunderte aufgebaut hatte, wendet sich die Welt inzwischen auch dank der TobaccoFree-Initiative der WHO von den Zigaretten ab. Diese Initiative gewann zusätzlichen Auftrieb durch die im Mai 2003 in Genf einstimmig verabschiedete
Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle, das erste internationale Abkommen, in
dem es ausschließlich um ein Gesundheitsproblem geht. Unter anderem enthält die Konvention die Forderung nach einer Einschränkung des Rauchens
an öffentlichen Orten sowie nach massiven Warnungen vor gesundheitlichen
Schäden auf den Zigarettenschachteln. Zusätzlich zur Initiative der WHO hat
es sich die vom ehemaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg
gegründete Bloomberg Global Initiative to Reduce Tobacco Use zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass auch in Ländern mit geringem und mittlerem
Einkommen, wie beispielsweise China, weniger geraucht wird.52
50 Ebenda; Informationen über die betroffenen Länder aus: „Reported Cases of Dracunculiasis by Country, 1972-2005“, in: Peter H. Gleick, The World’s Water 2006-2007
(Washington, DC: Pacific Institute, 2006), S. 293ff.
51 Angaben zu Todeszahlen infolge von Tabakgenuss aus: WHO, „Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD)“, Datenblatt (Genf: November 2006); „The Tobacco Epidemic: A Crisis of Startling Dimensions“, in: Botschaft des Generaldirektor der WHO
zum Weltnichtrauchertag 1998, unter www.who.int; Angaben zur Luftverschmutzung aus:
WHO, „Air Pollution“, Datenblatt 187 (Genf: überarbeitet im September 2000).
52 Alison Langley, „Anti-Smoking Treaty Is Adopted by 192 Nations“, New York Times,
22. Mai 2003; Informationen zur Tobacco Free Initiative der WHO unter www.who.int/
tobacco/index.cfm; Angaben zur Zielsetzung der Konvention und der Initiative von Bloom­
berg aus: Alexi A. Wright und Ingrid T. Katz, „Tobacco Tightrope – Balancing Disease
Prevention and Economic Development in China“, New England Journal of Medicine, Vol.
356, Nr. 15 (12. April 2007), S. 1493ff.
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Ironischerweise ist das Land, in dem der Tabak seine Wurzeln hat, nun
führend in der Abkehr davon. In den Vereinigten Staaten ist die Zahl der pro
Kopf gerauchten Zigaretten von 2.814 im Jahr 1976 auf 1.225 im Jahr 2006
gesunken – ein Rückgang um 56 %. Die Welt hinkt den USA in der Abwendung vom Rauchen zwar um etwa zehn Jahre hinterher, doch der weltweite
Verbrauch ist zwischen 1988 und 2004 um 16 % zurückgegangen – von einem
historischen Höchstwert von 1.027 gerauchten Zigaretten pro Person auf 859.
Die Berichterstattung der Medien über die Folgen des Rauchens, die obligatorischen Warnungen vor den Gesundheitsrisiken auf den Schachteln und der
deutliche Anstieg der Besteuerung haben sehr zu diesem stetigen Rückgang
beigetragen.53
Tatsächlich sinkt die Zahl der Raucher in fast allen größeren Ländern, in
denen Zigaretten geraucht werden, selbst in solchen Hochburgen des Rauchens
wie Frankreich, China und Japan. In Frankreich ist die Zahl der pro Kopf gerauchten Zigaretten seit der Erreichung ihres Höchststandes 1991 um 20 %
gesunken, in China sind es 5 % seit 1990 und in Japan 20 % seit 1992.54
Nach der Anerkennung der Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle hat eine
ganze Reihe von Ländern 2004 strikte Maßnahmen zur Reduzierung des Rauchens ergriffen. Irland hat ein landesweites Rauchverbot für Arbeitsplätze, Bars
und Restaurants verhängt, in Indien darf an öffentlichen Orten nicht mehr
geraucht werden, Norwegen und Neuseeland haben das Rauchen in Bars und
Restaurants untersagt und in Schottland sind öffentliche Gebäude jetzt rauchfreie Zonen. Und in Bhutan, einem kleinen Land im Himalaja, direkt zwischen Indien und China, ist der Verkauf von Tabak sogar ganz verboten.55
Seither hat eine ganze Reihe von Ländern Maßnahmen eingeleitet, mit
deren Hilfe das Rauchen insgesamt eingeschränkt und die Belästigung von
Nichtrauchern durch Tabakqualm gemindert werden soll. So ist seit 2005 in
Bangladesch das Rauchen an öffentlichen Orten verboten und in Italien in allen geschlossenen öffentlichen Gebäuden, einschließlich Bars und Restaurants.
Erst vor Kurzem erließ England ein Rauchverbot für Arbeitsplätze und öffentliche Orte und in Frankreich soll 2008 ein ähnliches Verbot in Kraft treten.56
53 Angaben zum Zigarettenkonsum aus: U.S. Department of Agriculture (USDA),
Production, Supply and Distribution, elektronische Datenbank unter www.fas.usda.gov/
psdonline, aktualisiert am 31. August 2006 sowie aus: Tom Capehart, Tobacco Outlook
(Washington, DC: USDA Economic Research Service, 24. April 2007); Schätzungen zum
Pro-Kopf-Verbrauch unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen aus: U.N. Population
Division, op. cit. Anmerkung 4; Daniel Yee, „Smoking Declines in U.S. – Barely“” CBS
News, 10. November 2004.
54 USDA, op. cit. Anmerkung 50; Schätzungen zum Pro-Kopf-Verbrauch unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4.
55 „Smoking Bans Around the World“, Reuters, 10. Januar 2005; „New Zealand Stubs
Out Smoking in Bars, Restaurants“, Reuters, 13. Dezember 2004.
56 „Bangladesh Bans Smoking in Many Public Places“, Reuters, 15. März 2005; Angaben zu Italien aus: „Europeans Back Public Smoking Ban“, BBC News, 31. Mai 2006;
„England Smoking Ban Takes Effect“, BBC News, 1. Juli 2007; Angaben zu Frankreich aus:
Howard K. Koh et al., „Making Smoking History Worldwide“, New England Journal of
Medicine, Vol. 356, Nr. 15 (12. April 2007), S. 1496ff.
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In den Vereinigten Staaten, wo es bereits strikte Restriktionen für das Rauchen gibt, hat sich die Union Pacific Corporation dafür entschieden, als Maßnahme zur Senkung der Kosten für die Gesundheitsfürsorge in sieben Bundesstaaten bereits keine Raucher mehr einzustellen und bei General Mills müssen
rauchende Mitarbeiter 20 $ im Monat mehr an Krankenversicherungsprämien
zahlen. Jede dieser Maßnahmen trägt dazu bei, dass der Markt die tatsächlich
durch das Rauchen verursachten Kosten genauer wiedergibt.57
In einer WHO-Studie von 2001 zu den wirtschaftlichen Aspekten der Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern kamen die Experten zu dem Schluss,
dass bereits die Bereitstellung der grundlegendsten Gesundheitsdienstleistungen, die Art, die bereits in jeder Dorfklinik angeboten werden könnte, den
Entwicklungsländern selbst und der Welt als Ganzes enorme wirtschaftliche
Gewinne bringen würde. Die Autoren der Studie schätzten, dass für die Gewährleistung einer grundlegenden Gesundheitsfürsorge für alle, in den Entwicklungsländern ein finanzieller Zuschuss von insgesamt 27 Mrd. $ im Jahr
2007 nötig wäre, der bis 2015 auf 38 Mrd. $ ansteigen würde, was einen
Durchschnitt von 33 Mrd. $ pro Jahr ergäbe. Neben den grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen schließen diese 33 Mrd. $ auch die finanzielle Ausstattung des Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria sowie Gelder
für universelle Impfprogramme für Kinder mit ein.58
DIE EINDÄMMUNG DER HIV-EPIDEMIE
Obwohl auf diesem Gebiet bereits erste Fortschritte zu verzeichnen sind, wurden für 2006 4,3 Mio. Fälle von Neuinfektionen gemeldet. Bis heute sind etwa
40 Mio. Menschen an AIDS gestorben, zwei Drittel davon in Afrika, dem
Epizentrum der Krankheit.59
Der Schlüssel zur Eindämmung der HIV-Epidemie, die den wirtschaftlichen
und sozialen Fortschritt in Afrika so nachhaltig gestört hat, liegt in der Aufklärung über Präventivmaßnahmen. Wir wissen, wie diese Krankheit übertragen
wird, das ist kein medizinisches Geheimnis. In Afrika, wo es einst schon verpönt
war, die Krankheit auch nur zu erwähnen, beginnen die Regierungen inzwischen mit dem Aufbau effektiver Aufklärungsprogramme. Das wichtigste Ziel
besteht dabei darin, die Anzahl der Neuinfektionen so schnell wie möglich soweit zu senken, dass sie unter die Zahl der an der Krankheit Verstorbenen sinkt,
wodurch die Zahl derer, die andere anstecken könnten, minimiert würde.
In diesem Zusammenhang hat es sich als besonders effektiv erwiesen, sich
auf die gesellschaftlichen Gruppen zu konzentrieren, bei denen es am wahr57 Bernard Wysocki, Jr., „Companies Get Tough With Smokers, Obese to Trim Costs“,
Wall Street Journal, 12. Oktober 2004.
58 Sachs and Commission on Macroeconomics and Health, op. cit. Anmerkung 39.
59 Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) und WHO, 2006
AIDS Epidemic Update (Genf: Dezember 2006), S. 3; Gesamtzahl der Todesfälle berechnet
auf Grundlage von Angaben aus UNAIDS-Statistiken in: Worldwatch Institute, Signposts
2004, CD-Rom (Washington, DC: 2004) und in: UNAIDS und WHO, AIDS Epidemic
Update (Genf: diverse Jahrgänge).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
scheinlichsten ist, dass sie die Krankheit weiterverbreiten. In Afrika nehmen
LKW-Fahrer, die über längere Zeiträume unterwegs sind und sich dabei weit
von ihrem Wohnsitz entfernen, oft die Dienste von Prostituierten in Anspruch
und verbreiten so das Virus über die Landesgrenzen hinaus. Auch Prostituierte spielen eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der Krankheit. Die 2 Mio.
weiblichen Prostituierten in Indien haben beispielsweise durchschnittlich
zwei Kunden pro Tag, sodass eine Aufklärung über die Risiken von HIV und
den lebensrettenden Wert eines Kondoms hier einen großen Nutzen bringen
könnte.60
Eine weitere Zielgruppe ist das Militär. Nachdem sich Soldaten infiziert
haben, meist durch Kontakt mit Prostituierten, kehren sie heim und verbreiten
das Virus zu Hause weiter. In Nigeria, wo die HIV-Infektionsrate unter Erwachsenen bei 4 % liegt, hat der ehemalige Präsident Olusegun Obasanjo angeordnet, kostenlos Kondome an das Militärpersonal auszugeben. Und in den
ehemaligen Sowjetrepubliken gibt es noch eine vierte Zielgruppe, die großen
Anteil an der Verbreitung des Virus dort hat – die der Drogenabhängigen, die
ihre Spritzen miteinander teilen.61
Auf der untersten Ebene sind zur Eindämmung der Bedrohung durch
das HI-Virus jährlich 13,1 Mrd. Kondome für die Entwicklungsländer und
die Länder Osteuropas nötig. Wenn man die zur Schwangerschaftsverhütung
benötigten Kondome dazunimmt, sind das weitere 4,4 Mrd. Doch statt der
benötigten 17,5 Mrd. Kondome werden nur 1,8 Mrd. ausgegeben, es bleibt
eine Fehlmenge von 15,7 Mrd. Dabei wären die Kosten für die Rettung vieler
Menschenleben durch die Ausgabe von Kondomen mit nur 3,5 Cents pro
Kondom, oder insgesamt 550 Mio. $, verschwindend gering.62
Die Kondomkluft ist groß, doch die Kosten zu ihrer Überbrückung sind
nur sehr gering. In der großartigen Studie Condoms Count: Meeting the Need in
the Era of HIV/AIDS von Population Action International heißt es: „Die Kosten
dafür, dass die Kondome in die Hände der Verbraucher gelangen – darunter
die Verbesserung des Zugangs zu Kondomen, die Kapazitäten für Logistik und
Verteilung, das Wecken eines Bewusstseins für das Problem, und die Werbung
60 Nita Bhalla, „Teaching Truck Drivers About AIDS“, BBC, 25. Juni 2001; C. B. S.
Venkataramana und P. V. Sarada, „Extent and Speed of Spread of HIV Infection in India
Through the Commercial Sex Networks: A Perspective“, Tropical Medicine and International
Health, Vol. 6, Nr. 12 (Dezember 2001), S. 1040-1061, zitiert in: „HIV Spread Via Female
Sex Workers in India Set to Increase Significantly by 2005“, Reuters Health, 26. Dezember 2001.
61 Mark Covey, „Target Soldiers in Fight Against AIDS Says New Report“, Pressemitteilung (London: Panos Institute, 8. Juli 2002); „Free Condoms for Soldiers“, South Africa
Press Association, 5. August 2001; Angaben über die Verbreitung von HIV aus: UNAIDS,
2006 Report on the Global AIDS Epidemic (Genf: Mai 2006), S. 421.
62 Angaben über benötigte Kondome aus: UNFPA, Donor Support for Contraceptives
and Condoms for STI/HIV Prevention 2005 (New York: 2005); Kosten pro Kondon aus:
UNFPA, Achieving the ICPD Goals: Reproductive Health Commodity Requirements 2000–
2015 (New York: 2005); Nada Chaya und Kai-Ahset Amen, zusammen mit Michael Fox,
Condoms Count: Meeting the Need in the Era of HIV/AIDS (Washington, DC: Population
Action International, 2002).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
für die Benutzung von Kondomen – sind um ein Vielfaches höher als die für
die eigentliche Versorgung.“ Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass diese
Kosten sechsmal höher sind als die für die Kondome selbst, so würde die Überbrückung der Kluft immer noch nur 3 Mrd. $ kosten.63
Doch obwohl Kondome nach wie vor die einzige Möglichkeit darstellen,
die Ausbreitung von HIV zu verhindern, spielt die US-Regierung ihre Bedeutung leider immer wieder herunter und besteht stattdessen darauf, dass der
Enthaltsamkeit absolute Priorität einzuräumen ist. Es ist natürlich wichtig, zur
Enthaltsamkeit zu ermutigen, doch eine effektive Kampagne zur Eindämmung
der HIV-Epidemie kommt nicht ohne Kondome aus.64
Uganda ist eines der wenigen afrikanischen Länder, in denen es gelungen
ist, die HIV-Infektionsraten zu senken, nachdem die Epidemie sich schon
recht weit ausgebreitet hatte. Unter der starken persönlichen Führung von
Präsident Yoweri Museveni ist der Anteil der infizierten Erwachsenen in den
90er Jahren deutlich zurückgegangen und seit 2000 stabil geblieben. Und im
Senegal, wo man sehr früh reagiert und entschlossene Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eingeleitet hat, liegt die Infektionsrate unter Erwachsenen
heute unter 1 %, was auch den Senegal zum Vorbild für andere afrikanische
Länder macht.65
Im Vergleich zum tatsächlichen Bedarf sind die finanziellen Ressourcen
und das medizinische Personal, die derzeit zur Betreuung von bereits mit HIV
infizierten Menschen zur Verfügung stehen, sehr begrenzt. So wurden im Jahr
2006 von den 4,6 Mio. Menschen in den afrikanischen Ländern südlich der
Sahara, bei denen sich bereits Symptome von AIDS zeigten, nur etwa 1 Mio.
mit den antiretroviralen Medikamenten behandelt, die in den Industrieländern praktisch überall erhältlich sind. Und obwohl damit nur ein Viertel aller
Patienten diese Behandlung erhalten, sind es doch schon zweimal mehr als
noch im Vorjahr.66
Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass die Aussicht auf eine Behandlung
die Menschen dazu bewegt, sich auf HIV testen zu lassen. Außerdem rückt
die Krankheit so stärker ins Bewusstsein der Menschen und das Wissen um
die Krankheit und ihre Übertragungsmechanismen wird erweitert. Außerdem
können Menschen, die wissen, dass sie sich infiziert haben, versuchen zu vermeiden, andere anzustecken. Da eine Behandlung das Leben eines Infizierten
63 Chaya und Amen, with Fox, op. cit. Anmerkung 59; Angaben zu den Kosten pro
Kondom aus: UNFPA, Achieving the ICPD Goals, op. cit. Anmerkung 59.
64 „Who Pays for Condoms“, in: Chaya und Amen, mit Fox, op. cit. Anmerkung 59;
Communications Consortium Media Center, „U.N. Special Session on Children Ends in
Acrimony“, PLANetWIRE.org, 14. Mai 2002; Adam Clymer, „U.S. Revises Sex Information, and a Fight Goes On“, New York Times, 27. Dezember 2002.
65 UNAIDS, Report on the Global HIV/AIDS Epidemic (Genf: Juni 2000), S. 9ff.;
UNAIDS, op. cit. Anmerkung 58, S. 20, 446, 487; UNAIDS, „Uganda: Country Situation Analysis“ unter www.unaids.org/en/Regions_Countries, eingesehen am 14. September 2007.
66 UNAIDS und WHO, op. cit. Anmerkung 56, S. 10; Zahl der 2005 behandelten
Patienten aus: UNAIDS und WHO, Progress on Global Access to HIV Antiretroviral Therapy:
An Update on “3 by 5” (Genf: 2005), S. 7, 13.
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deutlich verlängern kann – in den USA sind es im Durchschnitt 15 Jahre – ist
es nicht nur eine Frage der Humanität, sie zu gewähren, es bringt auch wirtschaftlich gesehen Vorteile. Wenn eine Gesellschaft einmal in das Heranwachsen, die schulische und auch die berufliche Ausbildung eines Menschen investiert hat, ist jede Verlängerung der Zeit, in der dieser Mensch arbeiten kann,
äußerst wertvoll.67
Auch wenn die Behandlung von HIV-Infizierten sehr kostspielig ist, wäre
es schon deshalb ein strategischer Fehler, die Notwendigkeit einer Behandlung
zu ignorieren, weil eine Behandlung die Bemühungen zur Prävention stützt.
Afrika zahlt inzwischen einen sehr hohen Preis dafür, dass es so lange nichts
gegen die Epidemie unternommen hat. Hier zeigt sich die Zukunft anderer
Länder, wie Indien und China, sollten diese nicht schnellstens handeln und
versuchen, das Virus einzudämmen, das sich innerhalb ihrer Länder bereits
sehr weit ausgebreitet hat.68
ABBAU DER LANDWIRTSCHAFTSSUBVENTIONEN UND
SCHULDENERLASS
Zur Ausrottung der Armut ist weit mehr nötig als internationale Hilfsprogramme. Für viele Entwicklungsländer könnten die Abschaffung der Subventionen für Bauern in den Ländern, aus denen sie Entwicklungshilfe erhalten,
und ein Erlass ihrer Schulden weitaus wichtiger sein. Oft würde ein erfolgreicher, exportorientierter Landwirtschaftssektor – der die geringen Lohnkosten und die natürlichen Gegebenheiten in Bezug auf vorhandene Land- und
Wasserreserven sowie ein günstiges Klima ausnutzt, um das Einkommen in
ländlichen Gegenden zu erhöhen und ausländische Devisen ins Land zu holen
– einen guten Ausweg aus der Armut bieten, doch leider ist vielen Entwicklungsländern dieser Weg durch die eigennützigen Subventionen für Bauern
in den wohlhabenden Ländern versperrt. Ingesamt ist die Summe dieser Subventionen in den wohlhabenden Ländern mit 280 Mrd. $ etwa 2,5-mal so
hoch wie die der Entwicklungshilfe, die die entsprechenden Regierungen in
die Entwicklungsländer senden.69
Die Größe des Landwirtschaftshaushalts der EU ist beeindruckend, er
macht mehr als ein Drittel des jährlichen Gesamthaushalts der EU aus. Im Jahr
2005 entfielen allein 134 der 280 Mrd. $, die in den wohlhabenden Ländern
67 Clive Bell, Shantayanan Devarajan und Hans Gersbach, „The Longrun Economic
Cost of AIDS: Theory and an Application to South Africa“, Policy Research Working Paper
Series (Washington, DC: World Bank, 2003); „AIDS Summit: The Economics of Letting
People Die“, Star Tribune, 16. Juli 2003; Deborah Mitchell, „HIV Treatment: 2 Million
Years of Life Saved“, Reuters Health, 28. Februar 2005.
68 „AIDS Summit“, op. cit. Anmerkung 64.
69 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Agricultural Policies in OECD Countries: At a Glance 2006 (Paris: 31. Juli 2006), S. 18, 19;
OECD, „Development Aid from OECD Countries Fell 5.1% in 2006“, Pressemitteilung
(Paris: 3. April 2007); „The Hypocrisy of Farm Subsidies“, New York Times, 1. Dezember
2002.
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für Landwirtschaftssubventionen ausgegeben wurden, auf die 25 EU-Mitgliedsstaaten. Zum Vergleich: In den USA waren es 43 Mrd. Dies führte dazu,
dass die Bauern zu einer Überproduktion von landwirtschaftlichen Produkten
ermutigt wurden, die dann mithilfe weiterer Exportsubventionen ins Ausland
verkauft wurden. Die Folge sind gedrückte Weltmarktpreise, vor allem bei
Baumwolle, einem der Güter, bei denen die Entwicklungsländer am meisten
zu verlieren haben.70
Obwohl mehr als die Hälfte der insgesamt 104 Mrd. $ Entwicklungshilfe
auf die EU entfallen, wurde ein Großteil der wirtschaftlichen Fortschritte, die
daraus erwuchsen, dadurch zunichte gemacht, dass die EU jährlich etwa 6 Mio.
t Zucker auf den Weltmarkt wirft. Zucker ist eines der landwirtschaftlichen
Erzeugnisse, bei denen die Entwicklungsländer einen starken Wettbewerbsvorteil haben und man sollte ihnen die Möglichkeit geben, davon auch zu
profitieren. Glücklicherweise hat die EU 2005 erklärt, sie würde den Stützpreis
für Zucker um 40 % senken, um so die exzessive Überproduktion einzudämmen, die beim Export den Weltmarktpreis für Zucker extrem gedrückt hätte.
Inzwischen kann sich der wohlhabende Teil der Welt eine Landwirtschaftspolitik, durch die Millionen von Menschen ständig in der Armutsfalle gefangen
bleiben, weil ihnen der wichtigste mögliche Ausweg daraus durch diese Politik
versperrt ist, einfach nicht mehr leisten.71
Weitere Hilfe bei der Hebung des Zuckerpreises könnte von ganz unerwarteter Seite kommen. Es scheint so, als würden die steigenden Ölpreise nicht nur
dazu führen, dass immer mehr Raffinerien für Ethanol auf Zuckerrohrbasis gebaut werden, sondern damit gleichzeitig auch dazu, dass die Zuckerpreise steigen. Tatsächlich könnte der Zucker- dem Erdölpreis bei seinem Anstieg direkt
folgen, wodurch die Wirtschaft in den Entwicklungsländern, in denen fast das
gesamte Zuckerrohr weltweit produziert wird, massiven Auftrieb erhielte.72
Neuere Entwicklungen könnten auch zu einem Anstieg des Baumwollpreises führen. Durch Subventionen für die Produktion von Baumwolle war
es den amerikanischen Baumwollproduzenten traditionell stets möglich, ihre
Baumwolle zu sehr niedrigen Preisen zu exportieren. Diese Subventionen für
die insgesamt nur 25.000 Baumwollproduzenten in den USA sind in ihrer
Summe größer als die gesamte finanzielle Unterstützung der USA für die 800
Mio. Menschen in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Und da die
USA der führende Exporteur von Baumwolle sind, werden durch diese Subventionen die Preise für alle Baumwollexporteure gedrückt.73
70 Europäische Kommission, General Budget of the European Union for the Financial
Year 2007: The Figures (Brüssel: Februar 2007), S. 4; OECD, Agricultural Policies, op. cit.
Anmerkung 66, S. 18ff.; „The Hypocrisy of Farm Subsidies“, op. cit. Anmerkung 66.
71 OECD, „Development Aid“, op. cit. Anmerkung 66; „South Africa: Weaning States
Off Subsidies“, Africa News, 19. August 2005.
72 Weitergehende Ausführungen zum Thema Ölpreis und Ethanol siehe Kapitel 2.
73 Angaben zur Zahl der Baumwollproduzenten aus: Oxfam International, „Oxfam
Dismisses US Cotton Market Access Offer as ‘Empty Promise’“, Pressemitteilung (London:
15. Dezember 2005); Julian Alston et al., Impacts of Reductions in US Cotton Subsidies on
West African Cotton Producers (Boston: Oxfam America, 2007); OECD, OECD Statistics,
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Starker Widerstand gegen die US-Subventionen für Baumwolle kam aus
vier Ländern in Zentralafrika, die selbst Baumwolle produzieren: Benin, Burkina Faso, dem Tschad und Mali. Außerdem hat sich auch Brasilien innerhalb
des Rahmenwerks der Welthandelsorganisation (WTO) erfolgreich gegen die
US-Subventionen für Baumwolle gewehrt. Mithilfe von Daten des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums überzeugte Brasilien die WTO davon,
dass die US-Subventionen für Baumwolle den Weltmarktpreis drücken und
den brasilianischen Baumwollproduzenten schaden. Daraufhin entschied die
WTO im Jahr 2004, dass die Vereinigten Staaten ihre Subventionen stoppen
müssen.74
Nach der Entscheidung der WTO widerriefen die Vereinigten Staaten einige der Kreditgarantien für Exporte und einige der Zahlungen an heimische
Mühlen und Exporteure zum Kauf amerikanischer Baumwolle. Daraufhin argumentierte Brasilien, die Weltmarktpreise für Baumwolle würden durch die
Zahlungen der US-Regierung an die amerikanischen Baumwollerzeuger nach
wie vor gedrückt, und die WTO entschied wieder zugunsten Brasiliens. Ungeachtet dieser Entscheidung sind in dem im Sommer 2007 vom amerikanischen
Repräsentantenhaus verabschiedeten Landwirtschaftsgesetz einmal mehr Subventionen für die amerikanischen Baumwollerzeuger vorgesehen – ein klarer
Verstoß gegen die Regeln der WTO.75
Neben der Eliminierung schädlicher Agrarsubventionen ist der Schuldenerlass eine weitere entscheidende Komponente der groß angelegten Bemühungen zur Ausrottung der Armut. So könnte beispielsweise ein Schuldenerlass im Falle der afrikanischen Länder südlich der Sahara, die viermal mehr
Geld für die Bedienung ihrer Auslandsschulden ausgeben als für ihr Gesundheitswesen, dazu beitragen, den Lebensstandard in dieser letzten Bastion der
Armut zu heben.76
Im Juli 2005 einigten sich die Staatsoberhäupter der G8-Staaten im schottischen Gleneagles darauf, einigen der ärmsten Länder der Welt ihre multilateralen Schulden gegenüber der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond
elektronische Datenbank unter stats.oecd.org/wbos, aktualisiert am 25. September 2007;
U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4.
74 Elizabeth Becker, „Looming Battle Over Cotton Subsidies“, New York Times, 24. Ja­
nuar 2004; Elizabeth Becker, „U.S. Will Cut Farm Subsidies in Trade Deal“, New York Times,
31. Juli 2004; Randy Schnepf, U.S. Agricultural Policy Response to WTO Cotton Decision
(Washington, DC: Congressional Research Service, aktualisiert am 8. September 2006).
75 Schnepf, op. cit. Anmerkung 71; Mark Drajem und Carlos Caminada, „WTO Rules
Against U.S. in Cotton Dispute With Brazil (Update 1)“, Bloomberg News, 27. Juli 2007;
Alan Bjerga, „Bush’s Opposition to ‘Soviet’ Farm Bill May Get Plowed Under“, Bloomberg
News, 23. Juli 2007.
76 „Ending the Cycle of Debt“, New York Times, 1. Oktober 2004; Angaben über die
Bedienung der Auslandsschulden aus: Weltbank, Little Data Book on External Debt in Global
Development Finance 2007 (Washington, DC: 2007), S. 8; Angaben zu den Ausgaben für
die Gesundheitsfürsorge aus: IMF, World Economic and Financial Surveys: Regional Economic
Outlook – Sub-Saharan Africa (Washington, DC: September 2006), S. 36, 43, aus: David
Goldsbrough, „IMF Programs and Health Spending“, Präsentation auf der Global Confe­
rence on Gearing Macroeconomic Policies to Reverse the HIV/AIDS Epidemic, Brasília,
Brasilien, 20. November 2006 sowie aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 4.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
und der Afrikanischen Entwicklungsbank zu erlassen. Diese Initiative, die 18
der ärmsten, von Schulden geplagten Länder (14 in Afrika und 4 in Lateinamerika) direkt betraf, bietet diesen Ländern eine neue Chance. Bis zu 20
weitere Länder, die zu den ärmsten der Welt gehören, könnten von dieser Ini­
tiative profitieren, wenn sie sich dafür qualifizieren. Der Schlüssel zu diesem
Durchbruch im Kampf gegen die Armut war eine Kombination aus starkem
Druck seitens der Nichtregierungsorganisationen, die sich in den vergangenen
Jahren massiv für einen Schuldenerlass einsetzen, und der starken Führung der
britischen Regierung.77
Ein Jahr nach Gleneagles berichtete Oxfam International, der Internationale
Währungsfond habe inzwischen 19 Ländern ihre Schulden erlassen, was den ersten großen Schritt auf dem Weg zur Erreichung des Ziels darstelle, das sich die
G8-Staaten im Hinblick auf den Schuldenerlass in Gleneagles gesetzt hatten.
Durch den Erlass von Schulden in Höhe von 6 Mrd. $ konnte der sambische
Präsident Levy Mwanawasa seinen Landsleuten verkünden, dass von nun an
die grundlegende gesundheitliche Versorgung für jedermann im Land kostenlos wäre, sodass nun laut Oxfam „das Privileg weniger zum Recht aller wurde“.
Und während man in Nigeria das durch den Schuldenerlass freigewordenen,
Geld zur Einrichtung eines Fonds zur Bekämpfung von Armut benutzte, der
teilweise auch zur Finanzierung der Ausbildung neuer Lehrer benutzt werden
wird, hat die Regierung des ostafrikanischen Landes Burundi die Abschaffung
der Schulgebühren verkündet, wodurch nun auch 300.000 Kinder aus armen
Familien die Möglichkeit erhalten, in die Schule zu gehen.78
Wenn die internationale Gemeinschaft den Weg des Schuldenerlasses
weitergeht, ist das sicher ein riesiger Schritt hin zur Erreichung des Ziels der
Ausrottung der Armut in der Welt. Doch es gibt immer Raum für weitere
Verbesserungen. So wurde den armen Ländern durch die Vereinbarungen, die
in Gleneagles getroffen wurden, nur ein kleiner Teil der Gesamtschulden gegen­
über den internationalen Finanzinstitutionen erlassen. Neben den 19 Ländern,
denen bisher ein Schuldenerlass gewährt wurde, gibt es aber noch mindestens
40 weitere Länder mit geringem Einkommen, die dringend auf Hilfe angewiesen sind. Die Organisationen, die sich für einen Schuldenerlass einsetzen,
wie beispielsweise Oxfam International, sind der Ansicht, es sei unmenschlich,
jene, die von gerade einmal 1 $ am Tag leben müssen, zu zwingen, einen Teil
davon auch noch auf die Bedienung ihrer Schulden zu verwenden. Sie haben
geschworen, solange weiter Druck zu machen, bis diesen ärmsten Ländern der
Welt all ihre Schulden erlassen werden.79
77 „G8 Finance Ministers’ Conclusions on Development“, Botschaft der Finanzminister der G8-Staaten vor dem Gipfel, London, 10.-11. Juni 2005; Oxfam International,
„Gleneagles: What Really Happened at the G8 Summit?“ Oxfam Briefing Note (London:
29. Juli 2005).
78 Oxfam International, „The View From the Summit – Gleneagles G8 One Year On“,
Briefingmitteilung (Oxford, GB: Juni 2006).
79 Abid Aslam, „18 Poor Countries to See Debt Slate Wiped Clean, Saving $10 Million
Per Week“, One World US, 26. September 2005; Oxfam International, op. cit. Anmerkung
75.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
EIN HAUSHALT ZUR AUSROTTUNG DER ARMUT
Viele Länder, in denen die Bevölkerungszahlen mehrere Jahrzehnte lang stark
angestiegen sind, zeigen Symptome einer demographischen Ermüdung. Diese
Länder stoßen im Kampf mit der Herausforderung, gleichzeitig Bildungsmöglichkeiten für die wachsende Zahl der Kinder bereitzustellen, Arbeitsplätze für
die stetig wachsende Zahl junger Arbeitssuchender zu schaffen und sich mit
den durch das starke Bevölkerungswachstum verursachten Umweltproblemen
auseinanderzusetzen, zunehmend an ihre Grenzen. Wenn dann noch eine neue
große Herausforderung auftritt – wie im Falle der HIV-Epidemie – können die
Regierungen damit häufig nicht mehr umgehen.
Probleme, die in den Industrieländern quasi routinemäßig gelöst werden,
wachsen sich in den Entwicklungsländern zu großen humanitären Krisen aus.
Der Anstieg der Todesrate in vielen afrikanischen Ländern stellt eine tragische
neue Entwicklung in der weltweiten Demographie dar. Ohne organisierte
gemeinsame Bemühungen der jeweiligen Regierungen und der internationalen Gemeinschaft zur Beschleunigung des Übergangs zu kleineren Familien
könnten die Ereignisse in einigen Ländern außer Kontrolle geraten, was zu
noch mehr Todesfällen sowie politischer Instabilität und wirtschaftlichem
Rückgang führen könnte.
Es gibt allerdings eine Alternative zu diesen trostlosen Aussichten. Sie besteht darin, Länder, die ihr Bevölkerungswachstum bremsen wollen, dabei zu
unterstützen, dass ihnen dies so schnell wie möglich gelingt. Dies würde zu
dem führen, was Ökonomen einen demographischen Bonus nennen. Wenn
Ländern ein schneller Übergang zu kleineren Familien gelingt, sinkt die Zahl
der zu versorgenden Kinder – also derer, die noch ernährt und zur Schule
geschickt werden müssen – im Verhältnis zur Anzahl arbeitsfähiger Erwachsener. In dieser Situation steigt die Produktivität, Ersparnisse und Investitionen
steigen und das Wirtschaftswachstum wird beschleunigt.80
Japan, das sein Bevölkerungswachstum zwischen 1951 und 1958 um die
Hälfte gesenkt hat, war eines der ersten Länder, das in den Genuss eines demographischen Bonus kam. Es folgten Südkorea und Taiwan und seit einiger
Zeit können auch China, Thailand und Vietnam von dem vorher in Gang
gebrachten deutlichen Rückgang der Geburtenraten profitieren. Dieser Effekt
dauert zwar nur wenige Jahrzehnte an, doch dies reicht in der Regel aus, um
ein Land in die Moderne zu katapultieren. Tatsächlich ist es bisher keinem
Entwicklungsland – mit Ausnahme einiger Länder mit großen Erdölreserven
– gelungen, Erfolge bei der Modernisierung zu erreichen, ohne dafür zu sorgen, dass das Bevölkerungswachstum sinkt.81
Es ist kein Geheimnis, welche Schritte notwendig sind, um die Armut auszurotten und den Übergang zu kleineren Familien zu beschleunigen. Unter
anderem gehört die Ausfüllung einiger Finanzierungslücken dazu, darunter
auch die zur Erreichung des Ziels einer grundlegenden Bildung für alle; au80 UNFPA, The State of World Population 2004 (New York: 2004), S. 14f.
81 United Nations, World Population Prospects: The 2004 Revision (New York: 2005);
UNFPA, op. cit. Anmerkung 77, S. 39.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
ßerdem die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, wie AIDS, Tuberkulose
und Malaria; die Bereitstellung von Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin
und die Eindämmung der HIV-Epidemie. Zusammengenommen würden die
in diesem Kapitel beschriebenen Maßnahmen geschätzte 77 Mrd. $ pro Jahr
zusätzlich kosten. (siehe Tabelle 7-1)82
Tabelle 7-1. Plan B-Haushalt: Zusätzliche jährliche Ausgaben zur Erreichung
grundlegender sozialer Zielsetzungen
Ziel
benötigte finanzielle Mittel
in Milliarden US-Dollar
grundlegende Schulbildung für alle
10
Beseitigung des Analphabetentums unter Erwachsenen
4
Schulspeisumngsprogramme für die 44 ärmsten Länder der Erde
6
Hilfsprogramme für Vorschulkinder und Schwangere in den 44
ärmsten Ländern der Erde
4
Zugang zu Fortpflanzungsmedizin
und Möglichkeiten der Familienplanung
17
grundlegende Gesundheitsfürsorge für alle
33
Überbrückung der Kondomkluft
3
Gesamt
77
Die größten Investitionen beträfen die Bereiche Bildung und Gesundheitsfürsorge, die Eckpfeiler sowohl für die Entwicklung des Humankapitals als
auch für die Stabilisierung der Bevölkerungszahlen. Zum Bereich Bildung
gehört sowohl der Zugang zu grundlegender Bildung für alle als auch eine
weltweite Kampagne zur Bekämpfung des Analphabetentums unter Erwachsenen, und zum Bereich Gesundheitsfürsorge gehören grundlegende Maßnahmen zur Kontrolle von Infektionskrankheiten, angefangen mit Kinderschutz­
impfungen.83
82 Die Angaben zu den Kosten für die Erreichung der in Tabelle 7-1 genannten Ziele basieren auf folgenden Quellen: Kosten für allgemeine Grundschulbildung aus: U.K. Treasury,
op. cit. Anmerkung 15; Kosten für eine Kampagne zur Bekämpfung des Analphabetentums
unter Erwachsenen sind Schätzung des Autors; Kosten für Schulspeisungsprogramm aus:
McGovern, op. cit. Anmerkung 17; Kosten für Hilfsprogramme für Vorschulkinder und
schwangere Frauen ist Schätzung des Autors auf Grundlage des Gedankens der Ausweitung
entsprechender amerikanischer Programme, Angaben dazu aus: ebenda; Kosten für Zugang
zu Maßnahmen der Fortpflanzungsmedizin und Möglichkeiten der Familienplanung aus:
Speidel et al., op. cit. Anmerkung 33, S. 10 sowie aus: Speidel, op. cit. Anmerkung 33;
Kosten für grundlegende gesundheitliche Versorgung aller aus: Sachs und Commission on
Macroeconomics and Health, op. cit. Anmerkung 39; Kosten für Überbrückung der Kondomkluft ist Schätzung basierend auf Angaben aus: UNFPA, Donor Support for Contraceptives and Condoms, op. cit. Anmerkung 59 sowie aus: UNFPA, Achieving the ICPD Goals,
op. cit. Anmerkung 59.
83 Sachs und Commission on Macroeconomics and Health, op. cit. Anmerkung 39.
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Jeffrey Sachs betont immer wieder, dass wir erstmals in der Geschichte der
Menschheit die technischen und finanziellen Möglichkeiten haben, um die
Armut tatsächlich auszurotten und er hat recht. Wie bereits angemerkt, haben
wir in den letzten 15 Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. China beispielsweise hat nicht nur die Zahl derer, die in diesem Land in Armut leben,
drastisch gesenkt, es unterstützt mit seinen Handels- und Investitionsinitiativen auch ärmere Länder in ihrer Entwicklung. So investiert China beispielsweise große Summen in Afrika, wobei diese Investitionen häufig im Zusammenhang damit stehen, die afrikanischen Länder dabei zu unterstützen, ihre
riesigen Vorkommen an Mineralien und an Energierohstoffen zu erschließen
– Ressourcen, die China dringend benötigt.84
Ländern mit geringem Einkommen dabei zu helfen, sich aus der demographischen Falle zu befreien, ist eine höchst profitable Investition für die wohlhabenden Länder. Die Investitionen der Industrieländer in die Bereiche Bildung,
Gesundheitsfürsorge und Schulspeisung sind nicht nur in gewissem Sinn die
humanitäre Antwort auf die Notlage der ärmsten Länder der Welt – sie sind
vor allem auch Investitionen, durch die wir mitbestimmen können, wie die
Welt aussehen wird, in der unsere Kinder leben werden.
84 Ebenda; Wu Xiaoling, „Statement of Madam Wu Xiaoling, Deputy Governor of the
People’s Bank of China“, Rede auf dem 39. Jahrestreffen des Direktoriums der Afrikanischen Entwicklungsbank (Gruppe), Kampala, Uganda, 25.-26. Mai 2004.
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Kapitel 8
Die Sanierung unseres Planeten
Wir alle sind abhängig von den natürlichen Systemen der Erde: Sie liefern
uns Güter von Baumaterialien bis zu Meeresfrüchten und leisten uns wichtige
Dienste von der Flutkontrolle bis zur Bestäubung unserer Nutzpflanzen. Wenn
also die Anbauflächen erodieren und die Ernten sinken, wenn die Wasserspiegel fallen und die Brunnen austrocknen, wenn Weideflächen sich in Wüsten
verwandeln und die Nutztiere sterben, dann stehen wir alle vor einem großen
Problem, denn wenn die natürlichen Systeme, auf die sich unsere Zivilisation
stützt, zunehmend verfallen, wird es nicht mehr lange dauern, bis auch unsere
Zivilisation selbst untergeht.
In Kapitel 5 wurden die Themen Entwaldung, Bodenerosion und die vollständige Zerstörung der Landschaft auf Haiti beschrieben. Nach einem Blick
auf die katastrophale Lage in Haiti schrieb Craig Cox, der Direktor der Soil and
Water Conservation Society, die ihren Hauptsitz in den USA hat: „Vor einiger
Zeit wurde ich wieder daran erinnert, dass viele Menschen die Vorteile, die
eine Bewahrung der Ressourcen – auf der untersten Ebene – mit sich bringt,
immer noch nicht nutzen können. Der ökologische und der wirtschaftliche
Zusammenbruch haben sich gegenseitig verstärkt und eine abwärts verlaufende Spirale ausgelöst, die in Armut, ökologischer Verwüstung, sozialer Ungerechtigkeit, Krankheiten und Gewalt endet.“ Leider ist es so, dass wenn wir
nicht schnellstmöglich eine Initiative zur Sanierung unseres Planeten einleiten,
die Zukunft vieler anderer Länder ebenso aussehen wird.
Zur Sanierung der Erde wird es großer gemeinsamer Anstrengungen der
internationalen Gemeinschaft bedürfen, und sie werden noch größer sein
müssen und noch anspruchsvoller sein als der oft zitierte Marshallplan, der
dazu beitrug, das vom Krieg zerstörte Europa und Japan wiederaufzubauen.
Und diese Initiative muss in Höchstgeschwindigkeit angegangen werden, bevor durch die bereits angerichteten Umweltschäden ein wirtschaftlicher Niedergang und ein zunehmendes Scheitern von Staaten ausgelöst werden, wie es
bei früheren Zivilisationen, die die Grenzen der Natur überschritten und die
von ihr gesetzten Fristen ignoriert haben, ja bereits der Fall war.
SCHUTZ UND WIEDERAUFFORSTUNG DER WÄLDER
Sowohl der Schutz der noch verbliebenen fast 4 Mrd. ha Wald als auch die
Wiederaufforstung der verlorenen Waldflächen sind von zentraler Bedeutung
für die Wiederherstellung der Gesundheit unseres Planeten, die eine wichtige
Basis für die neue Wirtschaft ist. Um den Anteil des Regenwassers, der ungenutzt abfließt, zu senken und gleichzeitig auch die damit verbundenen Überschwemmungen und die Bodenerosion einzudämmen, sowie den Anteil des
Craig A. Cox, „Conservation Can Mean Life or Death“, Journal of Soil and Water
Conservation, November/Dezember 2004.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Regenwassers, der über den Wasserkreislauf zu neuem Regenwasser für das
Inland wird, zu erhöhen und die Wiederauffüllung der Grundwasserleiter zu
sichern, muss gleichzeitig der Druck auf die Wälder verringert und die Wiederaufforstung vorangetrieben werden.
In allen Ländern der Welt gibt es ein riesiges ungenutztes Potenzial zur
Senkung des durch die hohe Nachfrage auf den Wäldern lastenden Drucks,
der dazu führt, dass die Waldflächen der Erde immer mehr schrumpfen. In
den Industrieländern besteht die beste Möglichkeit dazu in der Senkung der
Holzmenge, die zur Papierherstellung verwendet wird und in den Entwicklungsländern sollte die als Brennholz benutzte Menge gesenkt werden.
Im Vergleich der zehn führenden papierproduzierenden Länder schwankt
der Grad des Papierrecyclings erheblich, wobei sich China und Finnland mit
33 bzw. 38 % am unteren Ende der Skala befinden, während Südkorea und
Deutschland mit 77 bzw. 66 % führend sind. Die Vereinigten Staaten, der
weltweit größte Konsument von Papier, liegen zwar beim Papierrecycling weit
hinter Südkorea zurück, doch auch hier konnte der Anteil des recycelten Papiers deutlich gesteigert werden. Lag er Anfang der 80er Jahre noch bei etwa
einem Viertel, so waren es im Jahr 2005 bereits 50 %. Wenn jedes Land soviel
Papier recyceln würde wie Südkorea, so würde die zur Papierherstellung nötige
Menge an Holzfasern weltweit um ein Drittel sinken.
Der Papierverbrauch spiegelt vielleicht mehr als der Verbrauch jedes anderen Produkts die Wegwerfmentalität wider, die sich im vergangenen Jahrhundert entwickelt hat. Doch wenn man Papiertaschentücher, Papierservietten,
Wegwerfwindeln und Einkaufstüten aus Papier durch ihre wiederverwendbaren Äquivalente aus Stoff ersetzte, könnte der Verbrauch von Papier noch
um ein Vielfaches gesenkt werden.
Das als Brennholz verwendete Holz – der größte Einzelanteil am Gesamtbedarf an Holz – macht mehr als die Hälfte des gesamten aus den Wäldern
entnommenen Holzes aus. Einige internationale Hilfsorganisationen, wie die
U.S. Agency for International Development (AID), haben begonnen, Projekte
zur Erhöhung der Effizienz von Brennholz zu finanzieren. Eines der vielversprechendsten Projekte von AID ist die Ausgabe von 780.000 neuen Kochöfen
mit hoher Brennholzeffizienz in Kenia, die nicht nur weniger Brennholz verbrauchen, sondern auch die Umwelt weniger belasten.
Angaben über die Größe der verbliebenen Waldflächen aus: „Tabelle 2.1. Distribution of Forests by Subregion 2005“, in: U.N. Food and Agriculture Organization (FAO),
Forest Resources Assessment (FRA) 2005 (Rom: 2006).
FAO, ForesSTAT Statistics Database unter faostat.fao.org, aktualisiert am 22. Dezember 2006; U.S. Environmental Protection Agency, Municipal Solid Waste Generation, Recycling, and Disposal in the United States: Facts and Figures for 2005 (Washington, DC:
2005).
Angaben zum Anteil von Brennholz am Gesamtholzbedarf aus: FAO, op. cit. Anmerkung 3; Daniel M. Kammen, „From Energy Efficiency to Social Utility: Lessons from
Cookstove Design, Dissemination, and Use“, in: José Goldemberg und Thomas B. Johansson, Energy as an Instrument for Socio-Economic Development (New York: U.N. Development Programme, 1995).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Außerdem gibt es in Kenia ein Projekt mit solarbetriebenen Kochern, das
von Solar Cookers International gesponsert wird. Diese preiswerten Kocher, die
aus Pappe und Aluminiumfolie hergestellt werden und pro Stück nur 10 $
kosten, kochen langsam, ähnlich wie ein „Crock-Pot“. Da es weniger als zwei
Stunden Sonnenschein braucht, um darauf eine komplette Mahlzeit zuzubereiten, kann auf diese Weise der Brennholzbedarf auf preiswerte Weise gesenkt
werden. Außerdem können diese Kocher auch zum Pasteurisieren von Wasser
verwendet werden, sodass damit auch noch Menschenleben gerettet werden
können.
Langfristig ist die Entwicklung alternativer Brennstoffe zum Kochen der
Schlüssel zur Senkung des Drucks auf die Wälder in den Entwicklungsländern.
Wenn die Verwendung von Feuerholz durch Kocher oder Kochplatten ersetzt
wird, die mit Solar- oder Windenergie oder durch irgendeine andere Energiequelle betrieben werden, dann kann so der Druck auf die Wälder gesenkt werden.
Trotz des hohen Wertes intakter Wälder für die Gesellschaft sind nur etwa
290 Mio. ha der weltweiten Waldflächen rechtlich gegen die Abholzung geschützt. Weitere 1,4 Mrd. ha sind durch geographische Gegebenheiten oder
durch die geringe Qualität des Holzes wirtschaftlich nicht interessant. Von den
verbleibenden Waldflächen, die wirtschaftlich genutzt werden könnten, sind
665 Mio. ha bisher noch unberührt und fast 900 Mio. ha sind halb-natürlich
und befinden sich nicht in Waldanpflanzungen.
Wälder, die durch nationale Gesetze geschützt sind, werden oft nicht deshalb geschützt, damit langfristig die Kapazitäten zur Holzversorgung erhalten
bleiben, sondern um sicherzustellen, dass die Wälder ihre wichtigen Dienste,
wie die Flutkontrolle, weiter leisten können. Länder, in denen die Waldflächen
rechtlich geschützt sind, haben diese Schutzmaßnahmen oft eingeführt, nachdem sie die Folgen exzessiver Entwaldung zu spüren bekommen haben. Die
Philippinen beispielsweise haben hauptsächlich deswegen ein absolutes Abholzungsverbot für die noch verbliebenen altbestehenden Wälder und die Urwälder verhängt, weil das Land inzwischen so anfällig ist für Überflutungen, Erosion und Erdrutsche. Einst verfügte das Land über riesige Flächen tropischen
Hartholzwaldes, doch nach Jahren des massiven Kahlschlags muss es heute
nicht nur auf die Forstprodukte verzichten, die der Wald einst lieferte, sondern
Kevin Porter, „Final Kakuma Evaluation: Solar Cookers Filled a Critical Gap“, in:
Solar Cookers International, Solar Cooker Review, Vol. 10, Nr. 2 (November 2004); Angaben zu den Kosten aus: „Breakthrough in Kenyan Refugee Camps“ unter solarcooking.
org/kakuma-m.htm, eingesehen am 30. Juli 2007.
Anm. d. Übers.: halb-natürlich (im Original semi-natural) – Terminus aus dem Global Forest Resources Assessment der FAO; bezeichnet Wälder oder bewaldete Gebiete mit
einheimischen Baumarten, die grundlegend natürlich entstanden sind, aber durch zusätzliche Anpflanzungen, das Setzen neuer Bäume , aber auch nötigenfalls Ausdünnung des
Baumbestandes unterstützt werden.
FAO, Agriculture: Towards 2015/30, Technical Interim Report (Genf: Economic and
Social Department, 2000), S. 156f.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
auch auf die wertvollen Dienstleistungen der Wälder, und ist inzwischen ein
Nettoimporteur für Forstprodukte.
Seit Jahren kämpfen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gegen den
Kahlschlag, um die Wälder zu schützen, doch inzwischen betrachtet man auch
eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder als gute Möglichkeit zum Schutz
und Erhalt der noch bestehenden Waldflächen, denn wenn in einem Wald
nur wirklich ausgewachsene Bäume gefällt werden dürfen, und das zusätzlich
nur selektiv, so ist es möglich, den Wald und seine Produktivität dauerhaft
zu erhalten. Vor Kurzem begann dann auch die Weltbank, sich systematisch
mit der ökologisch verträglichen Forstwirtschaft zu beschäftigen. Im Jahr 1997
tat sie sich mit dem World Wide Fund for Nature zusammen und gemeinsam
gründeten sie die Alliance for Forest Conservation and Sustainable Use. Bis 2005
hatten sie bereits dazu beigetragen, 55 Mio. ha neuer geschützter Waldflächen
zu bestimmen und 22 Mio. ha Wald zu zertifizieren. Mitte 2005 verkündete
die Alliance ihr Ziel, die Nettoabholzungsrate weltweit bis 2020 auf Null zu
senken.
Es gibt mehrere Zertifizierungsprogramme für Forstprodukte, die umweltbewussten Konsumenten anzeigen, dass die Wälder, aus denen die Produkte
stammen, umweltverträglich bewirtschaftet werden. Das strengste internationale Programm, das von einer ganzen Reihe von NGOs zertifiziert wurde, ist der
Forest Stewardship Council (FSC). Weltweit wurden etwa 88 Mio. ha Wald in 76
Ländern von Organisationen, die vom FSC akkreditiert wurden, als verantwortungsvoll bewirtschaft zertifiziert. Führend bei den zertifizierten Waldflächen
sind Kanada mit fast 18 Mio. ha, Russland mit mehr als 15 Mio. ha, Schweden
mit 11 Mio. ha, die USA mit 9 Mio. ha und Brasilien und Polen mit jeweils
fast 5 Mio. ha.10
Auch Waldneuanpflanzungen können den Druck auf die verbliebenen
Waldflächen der Erde verringern, solange sie nicht die altbestehenden Wälder
ersetzen. Im Jahr 2005 gab es weltweit 205 Mio. ha derartiger Anpflanzungen.
Diese Fläche entsprach fast einem Drittel der 700 Mio. ha Gesamtanbaufläche
Johanna Son, „Philippines: Row Rages Over Lifting of Ban on Lumber Exports“,
InterPress Service, 17. April 1998; John Aglionby, „Philippines Bans Logging After Fatal
Floods“, Guardian (London), 6. Dezember 2004; Republic of the Philippines, „President
Okays Selective Lifting of Log Ban“, Pressemitteilung (Manila: 7. März 2005).
Alliance for Forest Conservation and Sustainable Use, „WWF/World Bank Forest
Alliance Launches Ambitious Program to Reduce Deforestation and Curb Illegal Logging“,
Pressemitteilung (New York: Weltbank/WWF, 25. Mai 2005); Angaben über die zertifizierten Waldgebiete aus: Alliance for Forest Conservation and Sustainable Use, „World Bank/
WWF Alliance for Forest Conservation & Sustainable Use: Questions & Answers“, World
Bank/WWF, unter www.worldwildlife.org/alliance, eingesehen am 30. Juli 2007; Angaben
über neue geschützte Waldgebiete aus: Alliance for Forest Conservation and Sustainable
Use, „WWF/World Bank Alliance Targets“, unter www.worldwildlife.org/alliance, eingesehen am 30. Juli 2007.
10 Forest Stewardship Council, FSC Certified Forests (Bonn, Deutschland: 2005), S.
34, 40, 53; Forest Stewardship Council, „FSC Certification: Maps, Graphs, and Statistics
(Juli 2007)“, PowerPoint-Präsentation, unter www.fsc.org/en/whats_new/fsc_certificates/
maps, eingesehen am 30. Juli 2007.
189
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
von Getreide. Das Holz aus diesen Anpflanzungen wird hauptsächlich in Papiermühlen oder in Kunstholzmühlen verwendet. Da sich die Industrie auf das
immer kleiner werdende Angebot an großen Baumstämmen aus natürlichen
Wäldern einstellen musste, ersetzt Kunstholz auf dem Weltmarkt zunehmend
das natürliche Holz.11
Die Produktionsmenge von Holz (-Stämmen) in Anpflanzungen wird auf
432 Mio. m3 jährlich geschätzt und macht damit 12 % der gesamten weltweiten Holzproduktion aus. Das bedeutet, dass der Löwenanteil des weltweit
geschlagenen Holzes, etwa 88 %, aus natürlichen Wäldern stammt.12
Etwa zwei Drittel solcher Baumanpflanzungen befinden sich in nur sechs
Ländern. Das größte davon ist China, das selbst nur noch über wenig ursprünglichen Wald verfügt, mit 54 Mio. ha. Danach kommen Indien und die
Vereinigten Staaten mit jeweils 17 Mio. ha, dicht gefolgt von Russland, Kanada und Schweden. Bei der Ausweitung der Waldgebiete nähern diese sich
geographisch zunehmend den feuchttropischen Gebieten, und anders als die
Getreideausbeuten, die üblicherweise mit der Entfernung vom Äquator und
den längeren Wachstumstagen im Sommer steigen, steigt die Ausbeute bei
Baumanpflanzungen mit der Nähe zum Äquator und den ganzjährigen gleichen Wachstumsbedingungen.13
Im Osten Kanadas produziert ein Hektar Waldanpflanzung durchschnittlich 4 m3 Holz pro Jahr. Im Südosten der USA, wo sich der Großteil der amerikanischen Baumanpflanzungen befindet, liegt die Ausbeute bereits bei 10
m3. Doch in Brasilien könnten neuere Anpflanzungen fast 40 m3 an Ausbeute
erreichen. Während die Maisausbeute in den USA fast dreimal so hoch ist
wie die in Brasilien, ist es bei der Holzausbeute genau umgekehrt, hier liegt
Brasilien mit fast 4 zu 1 im Vorteil. Um die derzeitige Nachfrage nach Holz befriedigen zu können, braucht Brasilien nur ein Viertel der Fläche, die die USA
benötigen würden, was erklärt, warum sich das Wachstum der Kapazitäten für
Zellstoff derzeit in den äquatorialen Regionen konzentriert.14
Laut Prognosen für das weitere Wachstum können Anpflanzungen teilweise
profitabel auf bereits entwaldeten, häufig schon abgetragenen Flächen etabliert
werden, doch es ist sehr wahrscheinlich, dass sie auf Kosten der bestehenden
Wälder gehen. Außerdem stehen sie im Wettbewerb mit der Landwirtschaft,
11 A. Del Lungo, J. Ball und J. Carle, Global Planted Forests Thematic Study: Results
and Analysis (Rom: FAO Forestry Department, Dezember 2006); Angaben über die Getreideanbaufläche aus: U.S. Department of Agriculture (USDA), Production, Supply and
Distribution, elektronische Datenbank unter www.fas.usda.gov/psdonline, aktualisiert am
10. August 2007.
12 R. James und A. Del Lungo, „Comparisons of Estimates of ‘High Value’ Wood With
Estimates of Total Forest Plantation Production“, Tabelle in: The Potenzial for Fast-Growing
Commercial Forest Plantations to Supply High Value Roundwood (Rom: FAO Forestry Department, Februar 2005), S. 24; FAO, op. cit. Anmerkung 3.
13 Angaben zu den Anpflanzungen aus: „Table 4. Total Planted Forest Area: Productive
and Protective – 61 Sampled Countries“ in: Del Lungo, Ball und Carle, op. cit. Anmerkung
10, S. 66ff.; Ashley T. Mattoon, „Paper Forests“, World Watch, März/April 1998, S. 20ff.
14 Angaben über die Ausbeuten der Pflanzungen aus: Mattoon, op. cit. Anmerkung
12; Angaben zu den Maiserträgen aus: USDA, op. cit. Anmerkung 10.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
da das für die Anpflanzung von Bäumen geeignete Land auch gut als landwirtschaftliche Nutzfläche geeignet wäre. Und da schnell wachsende Anpflanzungen sehr viel Feuchtigkeit benötigen, bildet auch der Wassermangel eine
natürliche Beschränkung für den Ausbau der Anpflanzungen.
Trotzdem geht die FAO (U.N. Food and Agriculture Organization) davon
aus, dass sich angesichts der Tatsache, dass die Anpflanzungsflächen wachsen
und die Ausbeuten steigen, der Baumschlag in den nächsten 30 Jahren mehr als
verdoppeln könnte. Dabei ist es durchaus vorstellbar, dass die Anpflanzungen
eines Tages den gesamten Bedarf an Industrieholz befriedigen könnten und
damit zum Schutz der verbliebenen natürlichen Wälder beitragen könnten.15
Reed Funk, Professor für Pflanzenbiologie an der Rutgers University, ist der
Ansicht, dass die riesigen entwaldeten Flächen dafür genutzt werden könnten,
Billionen genetisch modifizierter Bäume anzupflanzen, die Lebensmittel,
hauptsächlich Nüsse, und Brennstoff liefern würden. Funk sieht in den Nüssen eine gute Ergänzung zum Fleisch als Quelle hochwertiger Proteine für die
Menschen in den Entwicklungsländern. Außerdem könnten die Bäume, die
auf diesen inzwischen größtenteils zu Ödland verkommenen Flächen angepflanzt werden, in Ethanol für Autokraftstoffe umgewandelt werden.16
Historisch gesehen hat sich auf den stark von der Erosion bedrohten landwirtschaftlichen Flächen in den Industrieländern von selbst wieder Pflanzenwuchs angesiedelt und sie so quasi natürlich wieder aufgeforstet, so auch in
Neuengland in den Vereinigten Staaten. Die geographisch stark zerklüftete Region ist früh von europäischen Auswanderern besiedelt worden und da die Böden sehr dünn waren und das Land felsig, steil und anfällig für Erosion, verlor
der Boden schnell an Produktivität. Nachdem im 19. Jahrhundert fruchtbares
Land im Mittleren Westen und den Great Plains erschlossen wurde, sank der
Druck auf die landwirtschaftlich genutzten Flächen in Neuengland, sodass sie
sich wieder in Waldflächen verwandeln konnten. Die Walddecke in Neuengland ist von einem Tiefststand von etwa einem Drittel der Gesamtfläche noch
vor 200 Jahren auf heute bereits vier Fünftel angewachsen und gewinnt langsam ihre natürliche Gesundheit und Artenvielfalt zurück.17
Ähnlich ist die Lage derzeit in einigen Teilen der ehemaligen Sowjetunion und in mehreren osteuropäischen Ländern. Nachdem die zentral geplante
Landwirtschaft Anfang der 90er Jahre durch eine marktorientierte Landwirtschaft abgelöst wurde, wurde die Bewirtschaftung von Grenzertragsböden auf15 FAO, op. cit. Anmerkung 6, S. 185; Chris Brown und D. J. Mead (Hrsg.), „Future
Production from Forest Plantations“, Forest Plantation Thematic Paper (Rom: FAO, 2001),
S. 9.
16 Reed Funk, Brief an den Autor, 9. August 2005.
17 M. Davis et al., „New England – Acadian Forests“, in: Taylor H. Ricketts et al.
(Hrsg.), Terrestrial Ecoregions of North America: A Conservation Assessment (Washington,
DC: Island Press, 1999); David R. Foster, „Harvard Forest: Addressing Major Issues in Policy Debates and in the Understanding of Ecosystem Process and Pattern“, LTER Network
News: The Newsletter of the Long Term Ecological Network, Frühjahr/Sommer 1996; U.S.
Forest Service, „2006 Forest Health Highlights“, verschiedene Datenblätter, unter fhm.
fs.fed.us, eingesehen am 2. August 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
gegeben. Es ist zwar schwer, an konkrete Zahlen zu kommen, doch es ist davon
auszugehen, dass sich derzeit mehrere Millionen Hektar ehemaliger Nutzflächen wieder in Waldflächen verwandeln.18
In vielerlei Hinsicht ist Südkorea im Bereich der Wiederaufforstung ein
Vorbild für den Rest der Welt. Als der Koreakrieg vor mehr als 50 Jahren zu
Ende ging, war das bergige Land größtenteils entwaldet. Um 1960 startete
die Regierung Südkoreas unter der engagierten Führung des damaligen Präsidenten Park Chung Hee eine nationale Initiative zur Wiederaufforstung. Man
setzte auf die Schaffung von Dorfkooperativen und so wurden Hunderttausende Menschen mobilisiert, um Gräben auszuheben und Terrassen anzulegen,
die die Bäume auf den kargen Bergen stützen sollten. So eroberte Südkorea
nicht nur die kahlen Gebiete zurück, es unterstützte die Bemühungen auch
durch die spezielle Anpflanzung von Bäumen zur Nutzung als Brennholz. SeKyung Chong, Forscher am Korea Forest Research Institute, schreibt dazu: „Das
Ergebnis war eine geradezu wunderbare Wiedergeburt der Wälder auf dem
kargen Land.“19
Heute werden mit fast 6 Mio. ha wieder 65 % der Gesamtfläche des Landes
von Wald bedeckt. Als ich im November 2000 durch Südkorea reiste, war ich
hocherfreut, auf den Bergen, die eine Generation zuvor noch ganz kahl gewesen waren, nun üppige Baumbestände zu sehen. Das ist der Beweis: Es kann
gelingen, die Erde wiederaufzuforsten!20
In der Türkei, einem bergigen Land, das über Jahrtausende seine Waldflächen eingebüßt hat, hat die führende Umweltschutzgruppe TEMA (Türkiye Erozyona Mücadele, Agaclandirma) die Wiederaufforstung zu ihrem
Hauptanliegen gemacht. Die Gruppe wurde von zwei bekannten türkischen
Geschäftsleuten gegründet, Hayrettin Karuca und Nihat Gokyigit, und 1998
startete TEMA eine Kampagne zur Pflanzung von 10 Mrd. Eichen zur Wiederherstellung der Waldflächen, zur Senkung des Anteils an Regenwasser, das
ungenutzt abfließt, und zur Eindämmung der Erosion. Durch die Kampagne,
in deren Verlauf bisher 850 Mio. Eichen gepflanzt wurden, wird außerdem in
der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Dienste geweckt, die der Wald den
Menschen erweist.21
Angesichts der akuten Dürre und der zunehmenden Bodenerosion gingen
die Bauern in Niger in den 80er Jahren dazu über, die Sämlinge von Akazi18 C. Csaki, “Agricultural Reforms in Central and Eastern Europe and the Former
Soviet Union: Status and Perspectives” , Agricultural Economics, Vol. 22 (2000), S. 3754; Igor Shvytov, Agriculturally Induced Environmental Problems in Russia, Diskussionspapier Nr. 17 (Halle, Deutschland: Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa,
1998), S. 13.
19 Se-Kyung Chong, „Anmyeon-do Recreation Forest: A Millennium of Management“,
in: Patrick B. Durst et al., In Search of Excellence: Exemplary Forest Management in Asia and
the Pacific, Asia-Pacific Forestry Commission (Bangkok: FAO Regional Office for Asia and
the Pacific, 2005), S. 251ff.
20 Ebenda.
21 Turkish Foundation for Combating Soil Erosion (TEMA), unter english.tema.org.
tr, eingesehen am 31. Juli 2007.
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enbäumen, die zum Teil auf ihren Feldern aus dem Boden kamen, bei der
Vorbereitung der Felder nicht mehr zu entfernen, sondern sie dort zu belassen.
Wenn sie dann zu Bäumen herangewachsen sind, nehmen sie dem Wind einen
Teil seiner Stärke und tragen damit zu einer Verminderung der Bodenerosion
bei. Die Akazie, die zur Familie der Leguminosen gehört, bindet Stickstoff im
Boden und trägt damit dazu bei, dass der Nährstoffgehalt im Boden steigt und
damit auch die Ausbeute bei der Ernte. Außerdem können die Blätter und die
Hülsen der Akazien in der Trockenzeit als Futter für das Vieh und das Holz als
Feuerholz genutzt werden.22
Dieser Ansatz, bei dem auf insgesamt 3 Mio. ha Nutzfläche zwischen 20
und 150 Sämlingen pro Hektar auf den Feldern belassen wurden, hat dazu
beigetragen, dass die bäuerlichen Gemeinschaften im Niger eine deutliche
Wiederbelebung erfahren haben. Wenn man von der Annahme ausgeht, dass
40 Sämlinge pro Hektar tatsächlich zu Bäumen heranwachsen, so wären das
insgesamt 120 Mio. Bäume. Außerdem hat diese Praxis dazu geführt, dass
250.000 ha Land, die bereits aufgegeben worden waren, nun wieder landwirtschaftlich genutzt werden können. Der Schlüssel zu diesem Erfolg war der
Übergang dazu, dass die Bäume nicht mehr Besitz des Staates, sondern der
jeweiligen Bauern waren, die damit auch die Verantwortung für ihren Schutz
übernahmen.23
Wenn man die Subventionen, die derzeit für den Bau von Straßen für die
Abholzung gewährt werden, stattdessen auf die Pflanzung neuer Bäume verwenden würde, würde dies sehr zum Schutz der Wälder weltweit beitragen.
Und die Weltbank hätte auch die administrativen Kapazitäten für ein internationales Programm, mit dessen Hilfe der Erfolg Südkoreas bei der Wiederbewaldung von Bergen und Hügeln wiederholt werden könnte.
Außerdem könnten die FAO und die bilateralen Hilfsorganisationen mit
einzelnen Bauern in nationalen Agrarforstwirtschaftsprogrammen zusammenarbeiten. Bei diesen Programmen könnten dort, wo es möglich ist, Bäume
in die landwirtschaftlichen Operationen miteingebunden werden, sodass sie
– sorgfältig ausgewählt und wohl platziert – Schatten spenden, als Windschutz
gegen die Bodenerosion dienen, Stickstoff binden und den Bedarf an Dünger
senken würden.
Die Senkung des Holzverbrauchs durch die Entwicklung effizienterer Holzfeueröfen und alternativer Kochmöglichkeiten, ein systematisches Papierrecycling und ein Verbot der Nutzung von Wegwerfprodukten aus Papier könnten
alle zur Reduzierung des Drucks auf die Wälder der Erde beitragen. Doch letztlich können globale Bestrebungen zur Wiederaufforstung nur erfolgreich sein,
wenn sie mit Bemühungen zur Stabilisierung der Bevölkerungszahlen einher22 US-Botschaft, Niamey, Niger, „Niger: Greener Now Than 30 Years Ago“, Bericht
zirkulierte in einem Telegramm nach dem nationalen FRAME-Workshop, Oktober 2006;
Chris Reij, „More Success Stories in Africa’s Drylands Than Often Assumed“, Präsentation
vor dem Network of Farmers’ and Agricultural Producers’ Organisations of West Africa
(ROPPA) Forum on Food Sovereignty, 7.-10. November 2006.
23 US-Botschaft, op. cit. Anmerkung 21; Reij, op. cit. Anmerkung 21.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
gehen. Ein solcher ganzheitlicher Plan, der jeweils auf Landesebene koordiniert
würde, würde es uns letztlich ermöglichen, die Wälder der Erde tatsächlich wiederaufzuforsten.
SCHUTZ UND SANIERUNG DER BÖDEN
Wenn man sich mit der Literatur zur Bodenerosion beschäftigt, so wird dort
immer wieder auf den „Verlust der schützenden Vegetation“ verwiesen. In den
letzten 50 Jahren haben wir durch Kahlschlag, Überweidung und übermäßige
Kultivierung dafür gesorgt, dass ein so großer Teil dieser schützenden Decke
verschwindet, dass der Boden, der sich über geologisch lange Zeiträume gebildet hat, jetzt sehr schnell verschwindet. Wenn die biologische Produktivität
stark erosionsanfälliger Anbauflächen erhalten werden soll, ist es nötig, Gras
oder Bäume darauf anzupflanzen, bevor sie sich völlig in Brachland verwandeln.
Nachdem das „Staubbecken“ der 30er Jahre drohte, die amerikanischen
Great Plains in eine riesige Wüste zu verwandeln, hat diese traumatische Erfahrung zu revolutionären Veränderungen in den landwirtschaftlichen Methoden geführt. Zu diesen Methoden gehörten unter anderem die Anpflanzung
von Bäumen als Schutzgürtel – hierbei wurden Reihen von Bäumen an den
Rändern von Feldern angepflanzt, wo sie den Wind abhalten und damit die
Bodenerosion eindämmen sollten – und die Streifenkultur, bei der sich jedes
Jahr Streifen mit Weizen und brachliegende Streifen abwechseln. Durch diese
Anbauweise kann sich im Boden der brachliegenden Streifen Feuchtigkeit ansammeln, während die bepflanzten Streifen die Windgeschwindigkeit bremsen
und damit die Erosion auf den unbepflanzten Teilen eindämmen.24
1985 rief der US-Kongress mit starker Unterstützung der Umweltschützer
das Conservation Reserve Program (CRP) zur Eindämmung der Bodenerosion
und zur Kontrolle der Überproduktion grundlegender landwirtschaftlicher
Rohstoffe ins Leben. 1990 waren bereits 14 Mio. ha höchst erosionsanfälligen
Landes nach Abschluss von 10-Jahres-Verträgen mit den Besitzern des Landes,
im Rahmen derer die Bauern dafür bezahlt wurden, gefährdete Anbauflächen
mit Gras oder Bäumen zu bepflanzen, ständig von Vegetation bedeckt. Dank
der Aufgabe von 14 Mio. ha Anbaufläche im Rahmen des CRP und dank der
Anwendung schonender Kultivierungsmethoden auf 37 % aller Anbauflächen
ist die Bodenerosion in den USA in den 15 Jahren zwischen 1982 und 1997
von 3,1 Mrd. t auf 1,9 Mrd. t zurückgegangen. Auch für den Rest der Welt
könnte dieser amerikanische Ansatz zum Vorbild werden.25
24 Sekretariat der U.N. Convention to Combat Desertification, „The Great North
American Dust Bowl: A Cautionary Tale“, Global Alarm Dust and Sandstorms from the
World’s Drylands (Bangkok: 2002), S. 77-121.
25 Jeffrey Zinn, Conservation Reserve Program: Status and Current Issues (Washington,
DC: Congressional Research Service, 8. Mai 2001); USDA, Economic Research Service,
Agri-Environmental Policy at the Crossroads: Guideposts on a Changing Landscape (Washington, DC: 2001).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Eine weitere und noch relativ neue Möglichkeit zur Erhaltung des Bodens
sind bodenschonende Kultivierungsmethoden, zu denen sowohl solche gehören, bei denen der Boden nur minimal bearbeitet wird, als auch jene, bei denen gar nicht kultiviert wird. Statt der traditionellen Methoden des Pflügens
oder Eggens zur Vorbereitung des Bodens und schließlich der Benutzung einer
mechanischen Ackerfräse zur Unkrautkontrolle, pflanzen die Bauern hierbei
einfach die Saat zwischen die verbliebenen Erntereste des Vorjahres in unberührten Boden und kontrollieren den Unkrautwuchs mit Hilfe von Herbiziden. Der einzige Eingriff in den Boden ist der schmale Schlitz an der Bodenoberfläche zur Einbringung der Saat. Der restliche Boden bleibt unberührt und
da er außerdem durch die Decke aus Ernteresten geschützt ist, ist er weniger
anfällig für Wind- und Wassererosion. Durch diese Praxis wird nicht nur die
Erosion eingedämmt, sie trägt auch dazu bei, dass weniger Wasser ungenutzt
abfließt, dass mehr Kohlenstoff im Boden gespeichert wird und die Menge der
zur Kultivierung benötigten Energie sinkt.26
In den USA, wo die Bauern in den 90er Jahren einen Plan zum Schutz
höchst erosionsanfälliger Anbauflächen vorlegen mussten, um Anrecht auf
Stützpreise für bestimmte Produkte zu haben, ist die Größe der Flächen, die
überhaupt nicht bearbeitet werden, zwischen 1990 und 2004 von 7 Mio. ha
auf 25 Mio. ha angewachsen. Diese Nicht-Bearbeitung, die inzwischen beim
Anbau von Mais und Sojabohnen in den USA weit verbreitet ist, hat sich
in der westlichen Hemisphäre schnell verbreitet und fand im Jahr 2006 auf
25 Mio. ha Land in Brasilien, 20 Mio. ha in Argentinien und 13 Mio. ha in
Kanada Anwendung. Und mit 9 Mio. ha gehört schließlich auch Australien zu
den Top 5 bei der Nicht-Bearbeitung.27
Wenn die Bauern sich einmal an diese Anbaupraktiken gewöhnt haben,
kann sich die Anwendung schnell verbreiten, besonders wenn die Regierungen
wirtschaftliche Anreize dafür schaffen oder von den Bauern verlangen, Bodenschutzpläne vorzulegen, bevor sie ein Anrecht auf Agrarsubventionen haben.
26 USDA, Natural Resources Conservation Service, CORE4 Conservation Practices
Training Guide: The Common Sense Approach to Natural Resource Conservation (Washington, DC: August 1999); Rolf Derpsch, „Frontiers in Conservation Tillage and Advances in
Conservation Practice“, in: D. E. Stott, R. H. Mohtar und G. C. Steinhardt (Hrsg.), Sustaining the Global Farm, ausgewählte Dokumente des 10. International Soil Conservation
Organization Meeting, Purdue University und USDA-ARS National Soil Erosion Research
Laboratory, 24.-29. Mai 1999 (Washington, DC: 2001), S. 248ff.
27 Conservation Technology Information Center, Purdue University, „National Tillage
Trends (1990–2004)“, aus: 2004 National Crop Residue Management Survey Data; FAO, Intensifying Crop Production with Conservation Agriculture, unter www.fao.org/ag, eingesehen
am 20. Mai 2003; Angaben zu Brasilien, Argentinien und Australien aus: Rolf Derpsch,
Experte für Nicht- oder Minimalkultivierung, E-Mails an J. Matthew Roney, Earth Policy
Institute, 6. und 11. August 2007; Angaben zu Kanada aus: Doug McKell, Soil Conservation Council of Canada, „No-till Census Data-Canada“, Präsentation auf einem Treffen
der Confederation of American Associations for the Production of Sustainable Agriculture,
Bella Vista, Paraguay, 12.-14. September 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Laut neueren FAO-Berichten ist in Europa, Afrika und Asien bereits eine Zunahme der Anwendung dieser Anbaupraktiken zu verzeichnen.28
Doch es gibt auch noch andere Ansätze im Kampf gegen die Bodenerosion und das zunehmende Übergreifen der Wüsten auf die landwirtschaftlichen
Nutzflächen. So kündigte beispielsweise Algerien, das versucht, die Ausdehnung der Sahara nach Norden zu stoppen, im Dezember 2000 an, seine Obstplantagen und Weinanbaugebiete im Süden des Landes zu konzentrieren, da
man hoffe, diese beständigen Pflanzungen könnten die Desertifikation der
Kulturflächen aufhalten. Im Juli 2005 verkündete die marokkanische Regierung als Reaktion auf eine ernste Dürreperiode, sie würde 778 Mio. $ für die
Streichung der Schulden von Bauern und die Umwandlung der mit Getreide
bepflanzten Flächen in weniger erosionsgefährdete Oliven- und Obsthaine bereitstellen.29
Auch im Süden der Sahara gibt es ähnliche Bedenken wegen einer möglichen weiteren Ausdehnung der Wüste, die sich inzwischen in der ganzen Sahelzone, vom Senegal im Westen bis Dschibuti im Osten, immer weiter nach
Süden ausdehnt. Die Länder dort sind besorgt, weil dadurch, dass sich immer
mehr Weide- und Ackerland in Wüste verwandelt, immer mehr Menschen von
ihren angestammten Wohnorten vertrieben werden. Infolgedessen hat die afrikanische Union die sogenannte Green Wall Sahara Initiative ins Leben gerufen.
Ursprünglich stammte der Plan dazu vom ehemaligen nigerianischen Präsidenten Olusegun Obasanjo und er sieht vor, auf einem Landstreifen quer über
den afrikanischen Kontinent 3 Mio. ha Land mit 300 Mio. Bäumen zu bepflanzen, um eine weitere Ausdehnung der Sahara zu verhindern. Der Senegal,
der jährlich 50.000 ha produktiven Landes einbüßt, würde das westliche Ende
des Baumgürtels bilden, und der senegalesische Umweltminister, Modou Fada
Diagne, merkt dazu an: „Statt darauf zu warten, dass die Wüste uns erreicht,
sollten wir dagegen angehen.“30
Auch China pflanzt einen solchen Baumgürtel, der das Land vor der weiteren Ausdehnung der Wüste Gobi schützen soll. Diese grüne Mauer, eine
moderne Version der Großen Chinesischen Mauer, soll etwa 4.480 km lang
werden und von den Außenbezirken Pekings bis in die Innere Mongolei31 reichen. Zusätzlich bezahlt man die Bauern in den bedrohten Provinzen dafür,
dass sie ihre Anbauflächen mit Bäumen bepflanzen. Das Ziel besteht darin, 10
28 FAO, op. cit. Anmerkung 26.
29 „Algeria to Convert Large Cereal Land to Tree-Planting“, Reuters, 8. Dezember
2000; Souhail Karam, „Drought-Hit North Africa Seen Hunting for Grains“, Reuters,
15. Juli 2005.
30 Godwin Nnanna, „Africa’s Message for China“, China Dialogue, 18. April 2007;
International Institute for Sustainable Development, „African Regional Coverage Project“,
8. Gipfel der Afrikanischen Union ­– Briefingmitteilung, Vol. 7, 2 (Genf: 7. Februar 2007),
S. 8; Bundesrepublik Nigeria, Umweltministerium, „Green Wall Sahara Programme“, unter
www.greenwallsahara.org, eingesehen am 17. Oktober 2007.
31 Anm. d. Übers.: Die Innere Mongolei ist ein autonomes Gebiet in der Volksrepublik
China.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Mio. ha Getreideanbaufläche, und damit gut ein Zehntel der Gesamtanbau­
fläche für Getreide in China, mit Bäumen zu bepflanzen.32
In der Inneren Mongolei (Nei Monggol) pflanzt man Wüstensträucher zur
Stabilisierung der Sanddünen, um so eine weitere Ausdehnung der Wüsten zu
verhindern und das Land wieder für produktive Zwecke nutzbar zu machen.
In vielen Fällen wurden Schafe und Ziegen gänzlich verbannt. Im Gebiet von
Helin, südlich der Provinzhauptstadt Hohhot, hat sich dank der Anpflanzung
von Wüstensträuchern auf bereits aufgegebenen Kulturflächen der Boden auf
der ersten zurückeroberten Fläche des Gebiets mit einer Größe von 7.000 ha
stabilisiert, und aufgrund dieses Erfolgs werden die Bemühungen zur Rückeroberung verlorener Flächen jetzt weiter ausgedehnt.33
Im Mittelpunkt der Strategie des Gebietes von Helin steht der Wechsel von
einer großen Anzahl an Schafen und Ziegen zu Milchvieh, wobei die Anzahl
der Milchkühe zwischen 2002 und 2007 von 30.000 Tieren auf 150.000 erhöht werden sollte. Die Rinder werden in abgeschlossenen Gebieten gehalten,
sie ernähren sich von Maisstängeln, Weizenhalmen und einem dürreunempfindlichen luzernenartigen Viehfutter, das auf rückerobertem Land angebaut
wird. Offizielle Vertreter vor Ort schätzen, dass sich durch dieses Programm
das Einkommen in diesem Gebiet innerhalb dieses Jahrzehnts verdoppeln
wird.34
Um den Druck auf die Weideflächen des Landes zu senken, ermutigt Peking die Viehbauern dazu, die Größe ihrer Schaf- und Ziegenherden um 40 %
zu senken. Doch in Gegenden, in denen der Reichtum an der Anzahl der
Tiere gemessen wird und in denen die meisten Familien in Armut leben, sind
derartige Senkungen nicht nur nicht einfach, sondern sogar höchst unwahrscheinlich, es sei denn, man böte den Hirten, ähnlich wie in Helin, eine neue
Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.35
Der einzig mögliche Weg, die Überweidung auf den zwei Fünfteln der
Gesamtfläche der Erde, die als Weideland gelten, zu senken, besteht in einer
Reduzierung der Herdengröße. Die riesigen Herden von Rindern, vor allem
aber von Schafen und Ziegen, vernichten nicht nur die Vegetation, ihre Hufe
zertrampeln auch die schützende Bodenkruste, die durch den Regen entsteht
und den Boden gegen die Erosion schützt. In einigen Fällen besteht die einzige
Lösung darin, die Tiere in Umzäunungen zu halten und ihnen ihr Futter dorthin zu bringen. Indien, das diese Praxis erfolgreich für seine blühende Milchgüterwirtschaft nutzt, könnte anderen Ländern dabei als Vorbild dienen.36
32 Evan Ratliff, „The Green Wall of China“, Wired, April 2003; Wang Yan, „China’s
Forest Shelter Project Dubbed ‘Green Great Wall’“, Xinhua News Agency, 9. Juli 2006; Sun
Xiufang und Ralph Bean, China Solid Wood Products Annual Report 2002 (Peking: USDA,
2002).
33 Angaben aus einem Gespräch des Autors mit Vertretern des Gebiets Helin in der
Inneren Mongolei (Nei Monggol) am 17. Mai 2002.
34 Ebenda.
35 US-Botschaft, Grapes of Wrath in Inner Mongolia (Peking: Mai 2001).
36 Angaben zur Milchwirtschaft Indiens aus: A. Banerjee, „Dairying Systems in India“,
World Animal Review, Vol. 79/2 (Rom: FAO, 1994).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Da mit jedem Kahlschlag heftige Bodenverluste durch Erosion verbunden sind, bis sich der Wald wieder regeneriert hat, und so mit jedem weiteren
Schlagen von Bäumen die Produktivität weiter sinkt, rechtfertigt der Schutz
der verbliebenen Vegetation auch ein Verbot des Kahlschlags der Wälder zugunsten einer selektiven Holzentnahme. Durch eine Wiederherstellung der
Baum- und Grasdecke der Erde und die Anwendung bodenschonender Kultivierungstechniken würde der Boden vor der Erosion geschützt, das Überschwemmungsrisiko gesenkt und Kohlenstoff gebunden. Und es ist der einzige
Weg, die Erde soweit zu sanieren, dass auch unsere Kinder und Enkel noch auf
ihr leben können.
DIE WIEDERBELEBUNG DER FISCHBESTÄNDE
Seit Jahrzehnten versuchen die Regierungen, einzelne Fischbestände durch Beschränkungen der Fangmengen zu retten, und manchmal hat das auch funktioniert. Manchmal aber eben auch nicht, in diesen Fällen sind die Bestände
vollständig kollabiert. In den letzten Jahren gibt es zunehmend Unterstützung
für eine andere Herangehensweise an das Problem: die Schaffung von sogenannten Meeresschutzgebieten oder Meeresparks. Diese Schutzgebiete, in denen die Fischerei stark beschränkt ist, dienen als natürliche Brutplätze und
tragen dazu bei, dass die Fischpopulationen in der Umgebung wieder steigen.
Auf dem World Summit on Sustainable Development 2002 in Johannesburg
haben die Küstenländer zugesichert, nationale Netzwerke von Meeresschutzgebieten zu schaffen, die zusammen ein weltweites Netz derartiger Schutzgebiete
bilden würden, und auf dem World Parks Congress 2003 in Durban haben die
Delegierten die Empfehlung ausgesprochen, 20 bis 30 % jedes Meeresbiotops
ganz für den Fischfang zu sperren. Bisher gehören nur 0,6 % der Meeresgewässer zu Meeresschutzgebieten unterschiedlichster Größe, während es im Falle
der Landflächen, die zu Naturschutzgebieten gehören, etwa 13 % sind.37
Ein Team britischer Wissenschaftler unter der Führung von Dr. Andrew
Balmford von der Conservation Biology Group der Cambridge University hat auf
der Grundlage von Daten aus 83 relativ kleinen, sinnvoll verwalteten Schutzgebieten einmal die Kosten für derartige Meeresschutzgebiete im großen Maßstab analysiert. Dabei kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass das Betreiben von Schutzgebieten, die 30 % der Ozeane der Welt umfassten, jährlich
12 bis 14 Mrd. $ kosten würde – und dabei sind die zusätzlichen Einkünfte
aus den sich erholenden Fischbeständen noch gar nicht berücksichtigt worden,
durch die die tatsächlichen Ausgaben noch sinken würden.38
37 Andrew Balmford et al., „The Worldwide Costs of Marine Protected Areas“, Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 101, Nr. 26 (29. Juni 2004), S. 9694ff.;
„Costs of a Worldwide System of Marine Parks“, Pressemitteilung (York: The University of
York, 12. Juli 2004); Angaben zu derzeit geschützten Gebieten aus: World Wildlife Fund
(WWF), „Problems: Inadequate Protection“, unter www.panda.org, eingesehen am 9. August 2007.
38 Balmford et al., op. cit. Anmerkung 35; Tim Radford, „Marine Parks Can Solve
Global Fish Crisis, Experts Say“, Guardian (London), 15. Juni 2004.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Bei der Schaffung eines globalen Netzwerkes von Meeresschutzgebieten
stehen der Schutz und die mögliche Aufstockung des jährlichen Hochseefischfangs im Wert von 70 bis 80 Mrd. $ auf dem Spiel. Balmford sagte dazu: „Unsere Studie lässt vermuten, dass wir uns die Bewahrung der Meere und ihrer
Ressourcen unbegrenzt leisten könnten und die Kosten dafür wären weitaus
geringer als das, was wir derzeit für Subventionen ausgeben, um sie ökologisch
unverträglich auszubeuten.“39
Callum Roberts von der University of York, ein Co-Autor der Studie, merkt
an: „Wir haben die Aufgabe der Schaffung von Meeresschutzgebieten ja gerade
erst in Angriff genommen. Hier in Großbritannien gehört nur ein lausiges
Fünfzigstel eines Prozents unserer Meeresgewässer zu Meeresschutzgebieten
und nur ein Fünfzigstel der Gesamtheit all dieser Schutzgebiete ist für den
Fischfang gesperrt.“ Doch auch weiterhin werden die Meere durch ökologisch unverträgliche Befischung, Wasserverschmutzung und die Ausbeutung
von mineralischen Lagerstätten geschädigt. Dabei würden durch die Schaffung eines globalen Netzwerks von Meeresschutzgebieten – der „Serengetis der
Meere“, wie sie von einigen liebevoll genannt werden – auch noch mehr als 1
Mio. Arbeitsplätze entstehen. Roberts sagt: „Es gibt keinen effektiveren Weg,
dafür zu sorgen, dass die Meeresbewohner länger leben, größer werden und
mehr Nachwuchs haben, als bestimmte Gebiete komplett für den Fischfang
zu sperren.“40
Jane Lubchenco, die ehemalige Präsidentin der American Association for the
Advancement of Science, unterstrich das von Roberts Gesagte durch die Veröffentlichung eines von 161 führenden Meereswissenschaftlern unterzeichneten
Aufrufs zu schnellem Handeln bei der Schaffung eines globalen Netzwerks von
Meeresschutzgebieten. Unter Bezugnahme auf die Erfahrungen aus einer Reihe
von bereits bestehenden Meeresschutzgebieten sagte sie: „Überall auf der Welt
macht man unterschiedliche Erfahrungen, doch die grundlegende Botschaft
ist überall dieselbe: Die Idee der Meeresschutzgebiete hat sich als wirksam erwiesen, und das sehr schnell. Es ist nicht mehr die Frage, ob wir vollständig
geschützte Meeresgebiete einrichten sollen, sondern nur noch wo.“41
Die Unterzeichner des Aufrufs merken an, dass sich das Leben im Meer
nach der Schaffung solcher Schutzgebiete sehr schnell erholt. In einer Fallstudie über eine Schnapperkolonie vor der Küste Neuenglands hat sich gezeigt,
dass die Fischer, die zunächst vehement gegen die Einrichtung des Schutzgebiets protestiert hatten, die Idee heute verteidigen, weil sie gesehen haben, dass
die Schnapperpopulation seit Einrichtung des Schutzgebietes um das 40-Fache
gestiegen ist. In einer Studie im Golf von Maine wurden in drei Meeresschutz39 Balmford et al., op. cit. Anmerkung 35; Radford, op. cit. Anmerkung 36.
40 Radford, op. cit. Anmerkung 36; Richard Black, „Protection Needed for ‘Marine
Serengetis’“, BBC News, 6. August 2003; Balmford et al., op. cit. Anmerkung 35.
41 American Association for the Advancement of Science (AAAS), „Leading Marine
Scientists Release New Evidence that Marine Reserves Produce Enormous Benefits within
Their Boundaries and Beyond“, Pressemitteilung (Washington, DC: 12. März 2001); „Scientific Consensus Statement on Marine Reserves and Marine Protected Areas“, Präsentation
auf dem Jahrestreffen der AAAS, 15.-20. Februar 2001.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
gebieten mit einer Gesamtgröße von 17.000 km2 alle Arten des Fischfangs,
die Bodenfische gefährden, verboten. Ganz unerwartet profitierten von dieser
ungestörten Umgebung auch die Jakobsmuscheln und die Population stieg innerhalb von fünf Jahren um ein bis zu 14-Faches an. Dieser Anstieg innerhalb
der Schutzgebiete führte dazu, dass auch die Population außerhalb der Schutzgebiete stark anwuchs. Die 161 Wissenschaftler, die den Aufruf unterzeichnet
hatten, stellten fest, dass innerhalb von ein oder zwei Jahren nach Einrichtung
eines Meeresschutzgebietes die Dichte der Populationen um 91 % anstieg, die
Größe der Fische im Durchschnitt um 31 % zunahm und die Artenvielfalt um
20 % anwuchs.42
Obwohl die Schaffung solcher Meeresschutzgebiete ganz sicher absolute
Priorität bei den langfristigen Bemühungen zum Schutz der Ökosysteme der
Meere hat, sind doch auch noch andere Maßnahmen notwendig. Eine davon
besteht darin, den Nährstoffzufluss durch das Einleiten von Düngemitteln und
ungeklärten Abwässern ins Meer zu reduzieren, der zur Entstehung der mittlerweile etwa 200 „toten Zonen“ in den Weltmeeren geführt hat.43
Und schließlich müssen die Regierungen endlich die Fischfangsubven­tio­
nen abschaffen. Inzwischen gibt es so viele Schlepper, dass ihre Fangkapazitäten
fast doppelt so groß sind wie die Menge, die die Ozeane überhaupt umweltverträglich liefern können. Das Betreiben eines Netzwerks von Meeresschutzgebieten, die 30 % der Ozeane ausmachen würden, würde nur 12 bis 14 Mrd.
$ kosten – und das ist weitaus weniger als die 22 Mrd. $, die die Regierungen
heute in Form von Subventionen an die Fischer verteilen.44
DER SCHUTZ DER ARTENVIELFALT
IN FLORA UND FAUNA
Zwei Faktoren sind entscheidend für die Erhaltung der außerordentlichen
Artenvielfalt der Erde: die Stabilisierung der Bevölkerungszahlen und die des
Klimas. Wenn die Weltbevölkerung wie vorhergesagt bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 9 Mrd. Menschen ansteigt, könnten zahllose weitere Tier- und
Pflanzenarten ganz einfach keinen Platz mehr auf der Erde finden, und wenn
42 AAAS, op. cit. note 39; „Scientific Consensus Statement“, op. cit. Anmerkung 39,
S. 2.
43 R. J. Diaz, J. Nestlerode und M. L. Diaz, „A Global Perspective on the Effects of
Eutrophication and Hypoxia on Aquatic Biota“, in: G. L. Rupp und M. D. White (Hrsg.),
Proceedings of the 7th Annual Symposium on Fish Physiology, Toxicology and Water Quality,
Estonia, 12–15 May 2003 (Athens, GA: U.S. Environmental Protection Agency, Ecosystems
Research Division, 2004); U.N. Environment Programme (UNEP), GEO Yearbook 2003
(Nairobi: 2004).
44 WWF, Hard Facts, Hidden Problems: A Review of Current Data on Fishing Subsidies
(Washington, DC: 2001), S. ii; Balmford et al., op. cit. Anmerkung 35; Radford, op. cit.
Anmerkung 36; in Angaben zu den Fischereisubventionen sind auch „schlechte“ Subventionen sowie Subventionen für Kraftstoff enthalten, Grundlage sind Schätzungen aus: Fisheries
Center University of British Columbia, Catching More Bait: A Bottom-Up Re-Estimation of
Global Fisheries Subsidies (2. Version) (Vancouver, BC: The Fisheries Center, 2006), S. 21.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
die Kohlendioxidwerte und die Temperaturen weiter ansteigen, wird jedes
Ökosystem davon betroffen sein.
Einer der Gründe dafür, die Bevölkerungszahl bis 2040 bei einem Stand
von etwa 8 Mrd. zu stabilisieren, besteht im Schutz der Artenvielfalt unserer
Erde. Da es immer schwieriger wird, die Produktivität der Böden weiter zu
steigern, wären die Bauern im Falle eines fortdauernden Bevölkerungsanstiegs
gezwungen, immer größere Teile des tropischen Regenwaldes im Amazonasgebiet, im Kongobecken und auf den äußeren Inseln Indonesiens abzuholzen.45
Der Schlüssel zum Schutz des maritimen Lebens ist eine sinnvolle Wasserverwaltung, besonders in Zeiten zunehmender Wasserknappheit. Denn
wenn den Flüssen immer mehr Wasser zur Befriedigung des Wasserbedarfs der
Menschen für die Bewässerung und zur Wasserversorgung der Städte entzogen
wird, können beispielsweise die Fische nicht überleben.
Die vermutlich bekannteste und beliebteste Möglichkeit zu versuchen, bestimmte Tier- und Pflanzenarten zu schützen, ist die Einrichtung von Schutzgebieten. Viele Millionen Quadratkilometer wurden bereits in Naturparks
umgewandelt. Tatsächlich machen Naturparks und Naturschutzgebiete derzeit
etwa 13 % der festen Erdoberfläche aus. Einige derartige Schutzgebiete, die in
Entwicklungsländern eingerichtet werden sollen, existieren bisher nur auf dem
Papier, doch wenn es mehr Ressourcen für den Artenschutz und seine Umsetzung gäbe, könnten auch sie endlich Wirklichkeit werden.46
Vor etwa 20 Jahren haben Norman Myers und andere Wissenschaftler die
Idee sogenannter „Hotspots“ entwickelt – Gebiete, die aufgrund ihrer besonders großen Artenvielfalt besonders geschützt werden sollten. Einst machten
die 34 ausgewiesenen „Hotspots“ 16 % der Landoberfläche der Erde aus, heute sind es weniger als 3 %, was größtenteils der Zerstörung der Lebensräume
zuzuschreiben ist. Inzwischen ist es für Umweltschützer und Politiker ein übliches Vorgehen, die Bemühungen zum Artenschutz in diesen besonders artenreichen Gebieten zu konzentrieren.47
Im Jahr 1973 wurde in den Vereinigten Staaten der Endangered Species Act
verabschiedet. Nach diesem Gesetz sind jegliche Handlungen, die eine bedrohte
Spezies gefährden, verboten, darunter auch das Roden von Land für landwirtschaftliche Zwecke oder Wohnungsbau oder die Trockenlegung von Feuchtgebieten. Es gibt in den Vereinigten Staaten viele Arten, darunter auch der Weißkopfseeadler, die ohne dieses Gesetz inzwischen vielleicht schon ausgestorben
wären. Einige Umweltschützer hoffen, das Gesetz heute auch im Kampf gegen
die weltweite Erwärmung nutzen zu können, da steigende Temperaturen für
einige Arten, darunter Korallen und Eisbären, eine besondere Bedrohung darstellen.48
45 U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population
Database, unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007.
46 WWF, op. cit. Anmerkung 35.
47 Conservation International, „Biodiversity Hotspots“, unter www.biodiversityhotspots.org, eingesehen am 31. Juli 2007.
48 U.S. Fish and Wildlife Service, „The Endangered Species Act of 1973“, unter www.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Um einen effektiven Artenschutz zu betreiben, reicht es heute nicht mehr,
einen Zaun um ein bestimmtes Gebiet zu ziehen und es dann Naturschutzgebiet zu nennen, wie es bisher üblich war. Wenn wir auch nur ein einziges
Ökosystem der Erde retten wollen, muss es uns gelingen, sowohl die Bevölkerungszahlen als auch das Klima zu stabilisieren.
Die Spezies Mensch hat großen Einfluss darauf, ob dieser Planet für die
Millionen anderer Arten, mit denen wir ihn teilen, bewohnbar bleibt. Doch
dieser große Einfluss birgt auch eine große Verantwortung.
BÄUME ZUM AUFFANGEN VON KOHLENSTOFF
Im Jahr 2007 wurden in den tropischen Regionen 2,2 Mrd. t Kohlenstoff pro
Jahr in die Atmosphäre entlassen, weil die Wälder dort soweit zusammengeschrumpft waren, dass sie nicht mehr Kohlenstoff aufnehmen konnten. Die
wieder ausgeweiteten Waldflächen in den gemäßigten Zonen nahmen aber pro
Jahr nur 0,7 Mrd. t Kohlenstoff auf, sodass in der Gesamtbilanz etwa 1,5 Mrd.
t jährlich in die Atmosphäre gelangten und zur globalen Erwärmung beitrugen.49
Der Hauptgrund für die fortschreitende Abholzung der tropischen Wälder
in Asien ist der steigende Bedarf an Bauholz, während es in Lateinamerika
der steigende Bedarf an Anbauflächen für Sojabohnen und an Weideflächen
für die Rinder ist. In Afrika verschwinden die Wälder hauptsächlich, weil die
Menschen Feuerholz brauchen und weil sie Waldflächen roden, um neue Anbauflächen zu gewinnen, weil die Qualität der alten zu stark gesunken ist oder
sie ganz aufgegeben werden mussten. Mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs
der weltweiten Abholzungsmaßnahmen konzentriert sich auf nur zwei Länder,
Brasilien und Indonesien, und in der Demokratischen Republik Kongo, die
ebenfalls weit oben auf der Liste der Länder mit hohem Anteil an den weltweiten Waldverlusten steht, ist die sinnvolle Verwaltung der Waldflächen vor
allem deshalb extrem schwierig, weil das Land als gescheiterter Staat gilt.50
Eines der Ziele unseres Plan B ist es, die weltweiten Nettoverluste an Waldflächen zu stoppen und durch eine Reihe von Initiativen zur Neuanpflanzung
von Bäumen und die Anwendung von Methoden zur besseren Nutzung landwirtschaftlicher Flächen dafür zu sorgen, dass mehr Kohlenstoff auf der Erde
gebunden wird. Da die Waldflächen derzeit immer mehr abnehmen, gelangt
ein zunehmend größerer Teil des Kohlenstoffs in die Atmosphäre. Aus diesem
Grund wollen wir mit unserem Plan B dafür sorgen, dass die Waldflächen
fws.gov/endangered, eingesehen am 31. Juli 2007; Mark Clayton, „New Tool to Fight Global Warming: Endangered Species Act“, Christian Science Monitor, 7. September 2007; U.S.
Fish and Wildlife Service-Alaska, „Polar Bear Conservation Issues“, unter alaska.fws.gov/
fisheries/mmm/polarbear/issues.htm, aktualisiert am 5. Oktober 2007.
49 Vattenfall, Global Mapping of Greenhouse Gas Abatement Opportunities up to 2030:
Forestry Sector Deep-Dive (Stockholm: Juni 2007), S.1.
50 Ebenda, S. 6; World Resources Institute, Climate Analysis Indicator Tool, elektronische Datenbank unter cait.wri.org, aktualisiert 2007.
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weltweit wieder ausgedehnt werden und in der Lage sind, wieder mehr Kohlenstoff aufzunehmen.
Die Verluste der Waldflächen weltweit ganz stoppen zu wollen, erscheint
vielleicht als sehr hochgestecktes Ziel, doch es gibt bereits drei Länder – Thailand, die Philippinen und China – die sich aus umweltbedingten Gründen
gezwungen sahen, das Schlagen von Bäumen ganz oder teilweise zu verbieten. In allen drei Ländern waren der Entscheidung für das Verbot verheerende Überschwemmungen und Schlammlawinen vorausgegangen, die die Folge
exzessiver Abholzung und des damit verbundenen Verlusts der schützenden
Walddecke gewesen waren. Nachdem China durch wochenlang andauernde
starke Überschwemmungen im Jangtsebecken Rekordverluste erlitten hatte,
kam die Regierung in Peking zu dem Schluss, dass man bei der Forstpolitik
nicht vom Standpunkt des einzelnen Holzfällers ausgehen dürfe, sondern die
Interessen der gesamten Gesellschaft bedenken müsse und dass unter diesem
Gesichtspunkt eine weitere Abholzung der Wälder wirtschaftlich einfach nicht
sinnvoll sei. Vor dem Hintergrund, dass die Dienste, die diese Wälder bei der
Flutkontrolle leisteten, dreimal mehr wert sind als das Schnittholz, das aus den
gefällten Bäumen gewonnen werden könnte, fällte man in Peking eine ungewöhnliche Entscheidung: Man beschloss, die Holzfäller dafür zu bezahlen,
dass sie zukünftig Bäume pflanzen würden statt sie zu fällen – Wiederaufforstung statt Abholzung.51
Auch andere Länder, in denen große Waldflächen einfach abgeholzt werden, werden die Folgen dieses Tuns, beispielsweise in Form von schweren
Überflutungen, bald zu spüren bekommen. Wenn der Amazonasregenwald
in Brasilien noch weiter zusammenschrumpft, wird er auch immer stärker
austrocknen, sodass die Anfälligkeit für Walbrände steigt. Wenn der Amazonas ganz verschwindet, wird an seiner Stelle in vielen Fällen höchstens noch
Gestrüpp und Buschwerk und im schlimmsten Fall Wüste sein. Außerdem
würden die Kapazitäten des Regenwaldes zur Weiterleitung von Wasser ins
Landesinnere, unter anderem in die landwirtschaftlich so wichtigen Regionen
im Süden, verloren gehen. An diesem Punkt könnte sich die ökologische Katas­
trophe, die sich so enorm schnell ausbreitet, auch zu einem wirtschaftlichen
Desaster entwickeln. Und da durch das Abbrennen des Regenwaldes im Amazonas Milliarden Tonnen an Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangen, würde
auch die globale Erwärmung weiter beschleunigt.52
51 „Forestry Cuts Down on Logging“, China Daily, 26. Mai 1998; Erik Eckholm,
„China Admits Ecological Sins Played Role in Flood Disaster“, New York Times, 26. August
1998; Erik Eckholm, „Stunned by Floods, China Hastens Logging Curbs“, New York Times,
27. September 1998; Chris Brown, Patrick B. Durst und Thomas Enters, Forests Out of
Bounds: Impacts and Effectiveness of Logging Bans in Natural Forests in Asia-Pacific (Bangkok,
Thailand: FAO Regional Office for Asia Pacific, 2001); John Aglionby, „Philippines Bans
Logging After Fatal Floods“, Guardian (London), 6. Dezember 2004.
52 Geoffrey Lean, „A Disaster to Take Everyone’s Breath Away“, The Independent (London), 24. Juli 2006; Daniel Nepstad, „Climate Change and the Forest“, Tomorrow’s Amazonia: Using and Abusing the World’s Last Great Forests (Washington, DC: The American Prospect, September 2007); S. S. Saatchi et al., „Distribution of Aboveground Live Biomass in
the Amazon Rainforest“, Global Change Biology, Vol. 13, Nr. 4 (April 2007), S. 816-837.
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Ebenso wie die lokalen Interessen durch die landesweiten in den Hintergrund gedrängt werden, sind auch die weltweiten Interessen dabei, die nationalen Interessen der einzelnen Länder in den Hintergrund zu drängen, weil der
Verlust an Waldflächen im Hinblick auf die globale Erwärmung mittlerweile
ein weltweites Problem darstellt. Hier geht es nicht mehr nur darum, dass die
zunehmende Abholzung lokalen Überschwemmungen Vorschub leistet, sondern auch darum, dass dadurch weltweit die Meeresspiegel steigen sowie um
diverse andere Auswirkungen des Klimawandels. Damit hat die Natur, was den
Schutz der Wälder angeht, ganz einfach noch einmal die Einsätze erhöht.
Wenn es uns gelingen soll, die Nettoverluste an Waldflächen zu stoppen,
müssen wir dafür sorgen, dass der durch das starke Bevölkerungswachstum,
den wachsenden Wohlstand, den Bau von Ethanoldestillerien und den zunehmenden Papierverbrauch verursachte Druck auf die noch verbliebenen Waldflächen sinkt. Um unsere Wälder zu schützen, müssen wir das Bevölkerungswachstum so schnell wie möglich stoppen und die wohlhabenden Bewohner
dieser Erde, die für den wachsenden Bedarf an Rindfleisch und Sojabohnen
verantwortlich sind, aufgrund dessen der Amazonasregenwald immer mehr
abgeholzt wird, müssen sich auf der Nahrungsmittelkette nach unten orientieren. Möglicherweise muss sogar ein Verbot für den Bau neuer Biodiesel- und
Ethanoldestillerien verhängt werden.
Vor dem Hintergrund wachsender Besorgnis bezüglich der Zusammenhänge zwischen dem Zustand der weltweiten Wälder und dem Klima hat Vattenfall, eines der führenden Energieunternehmen aus Schweden, untersuchen
lassen, welche Möglichkeiten zur Aufnahme von Kohlenstoff eine Aufforstung
von Brachland im großen Maßstab bringen würde. Ausgangspunkt ist die Aussage, dass es derzeit weltweit etwa 1,86 Mrd. ha Brachland gibt – alles Land,
das einst mit Gras oder Wald bewachsen war oder als Ackerland genutzt wurde. Weiter heißt es in der Studie, im Falle von 930 Mio. ha davon, immerhin
etwa die Hälfte der Gesamtfläche, stünden die Chancen gut, sie profitabel zu
regenerieren. Etwa 840 Mio. ha der Gesamtfläche befinden sich in tropischen
Gebieten, wo die Aufnahme von Kohlenstoff noch höher wäre. (Eine Regeneration der Flächen ist hier besonders attraktiv, weil jeder Setzling, der in den
Tropen gepflanzt wird, der Atmosphäre in der Wachstumszeit durchschnittlich
50 kg CO2 pro Jahr entzieht, während es im Falle eines in den gemäßigten
Zonen gepflanzten Setzlings nur 13 kg sind.)53
Laut Schätzungen der Experten von Vattenfall liegt das maximale technische
Potenzial der 930 Mio. ha zur Absorption von CO2 bei etwa 21,6 Mrd. t pro
Jahr. Und wenn man der Absorption von Kohlenstoff im Rahmen der weltweiten Initiative zur Stabilisierung des Klimas einen Wert von 210 $ pro Tonne
53 Vattenfall, op. cit. Anmerkung 47, S. 16; Menge des pro Baum aufgenommenen
Kohlenstoffs berechnet ausgehend von einer Anzahl von 500 Bäumen pro Hektar aus:
UNEP Billion Tree Campaign, „Fast Facts“, unter www.unep.org/billiontreecampaign, eingesehen am 10. Oktober 2007; Angaben zur Wachstumsperiode aus: Robert N. Stavins und
Kenneth R. Richards, The Cost of U.S. Forest Based Carbon Sequestration (Arlington, VA:
Pew Center on Global Climate Change, Januar 2005), S. 10.
204
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
beimäße, so könnten nach Ansicht der Vattenfall-Experten 18 % des technischen Potenzials tatsächlich realisiert werden. Das würde bedeuten, dass 171
Mio. ha Land – eine Fläche, die größer ist als die Gesamtanbaufläche für Getreide in Indien – mit Bäumen bepflanzt würden, die dann pro Jahr 3,5 Mrd. t
CO2, bzw. 950 Mio. t Kohlenstoff, absorbieren würden. Die Gesamtkosten für
diese Kohlenstoffaufnahme lägen, wenn man einen Wert von 210 $ pro Tonne
zugrunde legt, bei etwa 200 Mrd. $. Verteilt auf die veranschlagten 10 Jahre
wären das jährliche Ausgaben von 20 Mrd. $, durch die die Bemühungen zur
Stabilisierung des Klimas einen großen und potentiell entscheidenden Schub
erhalten würden. Da der Großteil der Menge an CO2, die der Atmosphäre
durch diesen Plan entzogen werden soll, von den Industrieländern verursacht
wird, sollten diese den Aufforstungsplan auch finanzieren. Außerdem ist die
Gründung eines unabhängigen Gremiums vorgesehen, das die Finanzmittel
verwaltet und die Großinitiative überwacht.54
Neben dem Vorschlag von Vattenfall gibt es weltweit bereits viele andere
Aufforstungsinitiativen, deren Auslöser von der Sorge wegen des Klimawandels
oder der Ausbreitung der Wüsten über den Willen zum Schutz des Bodens
vor Erosion bis hin zu dem Wunsch, die Städte für ihre Bewohner attraktiver
und lebenswerter zu machen, reichen. Zu diesen Aufforstungsinitiativen gehört auch die weltweite Billion Tree Campaign, die 2007 ins Leben gerufen
wurde, aber auch die Große grüne Mauer, die derzeit in China gepflanzt wird,
und die Green Wall for the Sahara in Afrika. Außerdem gibt es in einer Reihe
von Ländern auf nationaler Ebene Bemühungen zur Ausdehnung der Neuanpflanzungen.
Die Billion Tree Campaign wurde von der kenianischen Nobelpreisträgerin
Wangari Maathai inspiriert, die zuvor Frauen in Kenia und mehreren umliegenden Ländern zur Neuanpflanzung von 30 Mio. Bäumen mobilisiert hatte.
In einem Bericht des Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), das die
Billion Tree Campaign leitet, vom Oktober 2007 hieß es, verschiedene Länder
hätten fest zugesagt, sich an der Kampagne zu beteiligen und bis Jahresende
insgesamt 1,2 Mrd. neue Bäume zu pflanzen, von denen 431 Mio. sogar bereits gepflanzt waren. Zu den führenden Ländern in dieser Kampagne gehören
Mexiko, das zugesagt hat, 250 Mio. Bäume zu pflanzen, und Äthiopien, das
anlässlich seiner Millenniumsfeierlichkeiten 60 Mio. Bäume pflanzen will.55
Der Senegal verpflichtete sich zur Pflanzung von 20 Mio. Bäumen.56
54 Vattenfall, op. cit. Anmerkung 47, S. 1, 16; Wechselkurs Dollar-Euro von 1,4 aus:
„Benchmark Currency Rates“, unter www.bloomberg.com/markets, eingesehen am 17. Oktober 2007.
55 In Äthiopien gilt der westliche Kalender nicht, das Land hat eine eigene Zeitrechnung, die auf altafrikanische Zeitmesstraditionen zurückgeht. Der westliche Kalender ist
dem äthiopischen etwa 7 Jahre voraus, sodass in Äthiopien das Jahr 2000 erst vor Kurzem
begangen wurde (Anm. d. Übers.).
56 UNEP Billion Tree Campaign unter www.unep.org/billiontreecampaign, eingesehen
am 12. Oktober 2007; „Mexico Celebrates Día del Arbol with a Commitment to Plant 250
Million Trees“, unter www.unep.org/billiontreecampaign/CampaignNews, eingesehen am
26. Oktober 2007; Angaben über Äthiopien aus: Daniel Wallis, „UN Wins Pledges to Plant
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Auch einige nationale, aber auch kommunale Regierungen beteiligen sich
an der Initiative. So verpflichtete sich beispielsweise der brasilianische Bundesstaat Paraná, der im Jahr 2003 schon eine Initiative zur Pflanzung von 90 Mio.
Bäumen ins Leben gerufen hatte, um seine Uferregionen wiederzubeleben, im
Jahr 2007 20 Mio. Bäumen zu pflanzen. Uttar Pradesh, der bevölkerungsreichste Bundesstaat Indiens, mobilisierte im Juli 2007 600.000 Menschen, die
an einem einzigen Tag auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, in den Wäldern
des Bundesstaates und auf Schulhöfen insgesamt 10,5 Mio. Bäume pflanzten.
Wenn das Ziel der Pflanzung von 1 Mrd. neuer Bäume erreicht wird und auch
nur die Hälfte dieser Bäume anschließend überlebt, so könnten sie jährlich 5,6
Mio. t Kohlenstoff absorbieren.57
Unabhängig von der Billion Tree Campaign verkündete die neuseeländische
Premierministerin Helen Clark im September 2007 die Verabschiedung eines
beeindruckenden Maßnahmenpakets zur Senkung der Kohlenstoffemissionen,
zu dem auch eine Ausdehnung der bewaldeten Flächen um 250.000 ha bis
zum Jahr 2020 gehörte. Das wären insgesamt ungefähr 125 Mio. Bäume, etwa
30 pro Einwohner Neuseelands.58
Auch viele Städte weltweit veranlassen Neuanpflanzungen von Bäumen.
In Tokio beispielsweise wurden auf den Dächern überall in der Stadt Bäume
und Sträucher angepflanzt, die dazu beitragen sollen, den Wärmeinsel-Effekt
auszugleichen und die Stadt etwas abzukühlen. Und auch Washington, DC
befindet sich im Frühstadium einer Kampagne zur Regeneration seiner Baumbestände.59
In einer Studie, die in fünf amerikanischen Städten, von Cheyenne in Wyo­
ming bis zu Berkeley in Kalifornien, durchgeführt wurde und in der es um
die Vorteile ging, die eine Anpflanzung von Bäumen auf den Straßen und in
den Parkanlagen von Städten mit sich brächte, kamen die Experten zu dem
Schluss, dass die jeweilige Gemeinde für jeden Dollar, den sie für die Anpflanzung und Aufzucht eines Baumes ausgab, mehr als 2 $ an Gewinn erhielte. Das
Blätterdach eines ausgewachsenen Baumes vor einem Gebäude spendet nicht
a Billion Trees“, Reuters, 22. Mai 2007; Angaben zum Senegal aus: „Global Tree Planting
Campaign Puts Down a Billion Roots on International Biological Diversity Day“, unter
www.unep.org/Documents.Multilingual, eingesehen am 12. Oktober 2007.
57 „The State of Parana in Brazil Undertakes a Major Reforestation Project“, unter www.
unep.org/billiontreecampaign/CampaignNews, eingesehen am 12. Oktober 2007; „31
July – The Greenest Day of the Calendar in India and a Tree Planting Record by 600,000
Vo­lunteers“, unter www.unep.org/Documents.Multilingual, eingesehen am 12. Oktober 2007; Angaben über die Aufnahme von Kohlenstoff unter der Voraussetzung, dass drei
Viertel der Bäume in den Tropen und ein Viertel in den gemäßigten Zonen stehen werden,
aus: Vattenfall, op. cit. Anmerkung 47, S. 16.
58 Ministry for the Environment, New Zealand’s Climate Change Solutions: An Overview (Wellington, New Zealand: September 2007), S. 19; U.N. Population Division, op.
cit. Anmerkung 43; Grundlage der Berechnung war die Annahme, dass pro Hektar 500
gesunde ausgewachsene Bäume vorhanden wären.
59 Chang-Ran Kim, „Tokyo Turns to Rooftop Gardens to Beat the Heat“, Reuters,
7. August 2002; Washington, D.C., Programm aus: Casey Trees, unter www.caseytrees.org,
eingesehen am 12. Oktober 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
nur Schatten, es trägt auch dazu bei, dass die Lufttemperatur um mehrere
Grad Celsius absinkt, sodass weniger Energie für die Klimaanlagen aufgewendet werden muss. In Städten wie Cheyenne, in denen die Winter oft sehr hart
sind, können immergrüne Bäume dazu beitragen, die Heizkosten zu senken,
indem sie die Geschwindigkeit der winterlichen Winde senken. So kommt
es auch, dass der Wert von Immobilien in Straßen mit vielen Bäumen in der
Regel 3-6 % höher liegt als in Straßen, in denen es nur wenige oder gar keine
Bäume gibt.60
Doch das Pflanzen neuer Bäume ist nur eine Maßnahme zur deutlichen
Senkung der Menge an Kohlenstoff, die in die Atmosphäre gelangt. Eine Maßnahme zur sinnvollen Nutzung von Brachland, die sich speziell in Afrika und
Asien bereits bewährt hat, ist die Anpflanzung von Purgiernussträuchern. Diese mehrjährigen Sträucher, die etwa 1,20 m groß werden, bilden nicht nur Samen aus, die später zur Produktion von Biodiesel verwendet werden können,
sie schützen auch den Boden des Brachlandes und binden Kohlenstoff.61
Eine Reihe verbesserter Methoden in der Landwirtschaft können dazu beitragen, die Menge des in organischem Material im Boden gebundenen Kohlenstoffs zu erhöhen. Auch der Einsatz von landwirtschaftlichen Methoden,
durch die die Bodenerosion minimiert und die Produktivität der Ackerfläche
erhöht wird, führt in der Regel zu einer Erhöhung des Kohlenstoffgehalts im
Boden. Dazu gehört auch der Übergang zu bodenschonenden Methoden, bei
denen der Ackerboden minimal oder gar nicht kultiviert wird, und zur vermehrten Anpflanzung von Deckpflanzen, aber auch die Rückführung allen
Vieh- und Geflügeldungs auf die Felder, die Ausdehnung der bewässerten Flächen unter Nutzung effizienterer Bewässerungstechnologien (siehe Kapitel 9),
die Rückkehr zu einer gemischten Landwirtschaft (sowohl Viehwirtschaft als
auch Ackerbau innerhalb desselben Betriebes) und die Aufforstung der Grenz­
ertragsflächen.
Rattan Lal, ein führender Agrarwissenschaftler am Carbon Management
and Sequestration Center der Ohio State University hat in einer breit gefächerten Studie untersucht, wie viel Kohlenstoff durch die Anwendung bestimmter
landwirtschaftlicher Methoden, unter anderem auch der eben erwähnten, potentiell gebunden werden könnte und wie groß die Spanne jeweils ist. Dabei
kam er zu dem Ergebnis, dass beispielsweise durch die verstärkte Pflanzung
von Deckpflanzen, durch die der Boden außerhalb der Pflanzsaison geschützt
bleibt, weltweit jährlich zwischen 68 und 338 Mio. t Kohlenstoff gebunden
werden könnten. Bei der Berechnung der Gesamtmenge an Kohlenstoff, die
durch die Anwendung aller untersuchten Methoden gebunden werden könnte,
legte er jeweils das untere Ende der Spanne zugrunde, und kam insgesamt auf
60 Kathy Wolf, „Urban Forest Values: Economic Benefits of Trees in Cities“, Datenblatt
(Seattle, WA: Center for Urban Horticulture, November 1998); Greg McPherson et al.,
„Municipal Forest Benefits and Costs in Five US Cities“, Journal of Forestry, Dezember
2005, S. 411ff.
61 Patrick Barta, „Jatropha Plant Gains Steam in Global Race for Biofuels“, Wall Street
Journal, 24. August 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
ein Potenzial zur Bindung von 400 Mio. t Kohlenstoff jährlich. Ist man optimistischer und geht für jede Methode vom höchsten Potenzial aus, so erhält
man sogar ein Gesamtpotenzial von 1,2 Mrd. t pro Jahr. Für unseren Karbonhaushalt in Plan B gehen wir von der vielleicht etwas konservativen Schätzung
von 600 Mio. Kohlenstoff aus, die jährlich gebunden werden könnten, wenn
die entsprechenden Methoden in der Landwirtschaft und der Landnutzung
Anwendung fänden.62
EIN HAUSHALTSPLAN ZUR SANIERUNG DER ERDE
Obwohl es in einigen Fällen an konkreten Daten mangelt, können wir die
Kosten für eine Wiederaufforstung der Erde, den Schutz des Oberbodens, die
Wiederherstellung der Weideflächen und Wiederbelebung der Fischbestände,
die Stabilisierung der Wasserspiegel und die Erhaltung der Artenvielfalt ungefähr abschätzen. In den Fällen, in denen keine konkreten Daten vorliegen,
arbeiten wir mit angenommenen Werten. Das Ziel besteht nicht darin, einen
Satz präziser Zahlen zu erhalten, sondern eher einen Satz plausibler Kostenvoranschläge für einen Haushaltsplan zur Sanierung unserer Erde. (siehe Tabelle
8-1)63
Die Berechnung der Kosten für die weltweite Wiederaufforstung wird
durch die vielen dabei benutzten Herangehensweisen erschwert. Wie bereits
erwähnt ist eine der größten Erfolgsgeschichten die von Südkorea, das in den
vergangenen 40 Jahren mit Hilfe lokal mobilisierter Arbeitskräfte seine einst
kahlen Berge und Hügel wiederaufgeforstet hat. Doch auch andere Länder,
darunter auch China, haben ausgedehnte Wiederaufforstungsversuche unternommen, meist unter noch schlechteren, arideren Bedingungen und mit weitaus weniger Erfolg.64
Da die bewaldeten Flächen in den Industrieländern der nördlichen Hemisphäre bereits wieder zunehmen, liegt der Schwerpunkt bei der Berechnung der
Kosten für eine weltweite Wiederaufforstung auf den Entwicklungs­ländern.
62 Rattan Lal, „Soil Carbon Sequestration Impacts on Global Climate Change and
Food Security“, Science, Vol. 304 (11. Juni 2004), S. 1623ff.
63 Zur Berechnung der Summen in Tabelle 8-1 wurden folgende Quellen herangezogen: Anpflanzung von Bäumen zum Schutz vor Überschwemmungen und vor Bodenerosion aus: Lester R. Brown und Edward C. Wolf, „Reclaiming the Future“, in: Lester R.
Brown et al., State of the World 1988 (New York: W. W. Norton & Company, 1988), S. 174,
unter Heranziehung von Daten aus: FAO, Fuelwood Supplies in the Developing Countries,
Forestry Paper 42 (Rom: 1983); Angaben zur Anpflanzung von Bäumen zur Aufnahme
von Kohlenstoff aus: Vattenfall, op. cit. Anmerkung 47, S. 16; Angaben zur Sanierung der
Weideflächen aus: UNEP, Status of Desertification and Implementation of the United Nations
Plan of Action to Combat Desertification (Nairobi: 1991), S. 73-92; Angaben zur Wiederbelebung der Fischbestände aus: Balmford et al., op. cit. Anmerkung 35; Angaben zum Schutz
der Artenvielfalt aus: World Parks Congress, Recommendations of the Vth IUCN World Parks
Congress (Durban, Südafrika: 2003), S. 17ff. sowie aus: World Parks Congress, „The Durban
Accord“, unter www.iucn.org/themes/wcpa, eingesehen am 19. Oktober 2007; Angaben
zur Stabilisierung der Wasserspiegel Schätzung des Autors.
64 Se-Kyung Chong, „Anmyeon-do Recreation Forest: A Millennium of Management“,
in: Durst et al., op. cit. Anmerkung 18.
208
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Zur Deckung des Bedarfs an Brennholz in diesen Ländern wären zusätzliche
55 Mio. ha Waldflächen nötig, und zur Befestigung des Bodens und zur Wiederherstellung der hydrologischen Stabilität bedürfte es weiterer rund 100
Mio. ha Wald in Tausenden Flusseinzugsgebieten. Da es bei diesen beiden zu
Überlappungen kommt, können wir die Gesamtfläche von 155 Mio. ha auf
150 Mio. ha senken, doch außerdem bräuchte man noch 30 Mio. ha zur Produktion von Schnittholz, Papier und anderen Forstprodukten.65
Tabelle 8-1. Plan B-Haushalt: Zusätzliche jährliche Ausgaben zur Sanierung unserer Erde
Maßnahme
benötigte finanzielle Mittel
in Milliarden US-Dollar
Anpflanzung von Bäumen zum Schutz
vor Überschwemmungen und vor Bodenerosion
6
Anpflanzung von Bäumen zur Bindung von Kohlenstoff
20
Schutz des Oberbodens auf Ackerflächen
24
Sanierung der Weideflächen
9
Wiederbelebung der Fischbestände
13
Schutz der Artenvielfalt
31
Stabilisierung der Wasserstände
10
Gesamt
113
Höchstwahrscheinlich wird nur ein kleiner Teil der benötigten Bäume durch
zusammenhängende Baumanpflanzungen entstehen. Der Großteil wird vielmehr an den Rändern von Dörfern, an Feldgrenzen, Straßenrändern, auf kleinen Grenzertragslandstücken und auf kahlen Hügeln angepflanzt werden. Die
Arbeitskräfte werden vor Ort rekrutiert, einige werden bezahlte Arbeitskräfte
sein, andere freiwillige Helfer. Und fast alle Bemühungen werden außerhalb
der Saison in ländlichen Gebieten stattfinden. In China hat man sich dafür
entschieden, die Bauern, die dort, wo sie einst Getreide anbauten, jetzt Bäume pflanzen, in den fünf Jahren, in denen die Bäume noch wachsen müssen,
durch Kompensationszahlungen in Form von Getreide aus staatlichen Lagern
zu entschädigen.66
Wenn man von Schätzungen der Weltbank ausgeht, laut denen 1.000 Setzlinge etwa 40 $ kosten und weiter davon, dass normalerweise 2.000 Setzlinge
pro Hektar gesetzt werden, so ergeben sich pro Hektar Gesamtkosten von 80 $
für die Setzlinge. Die Arbeitskosten für das Anpflanzen von Bäumen wären
normalerweise sehr hoch, da aber ein Großteil der Arbeit von Freiwilligen vor
Ort übernommen würde, gehen wir davon aus, dass sich für die Setzlinge und
65 Brown and Wolf, op. cit. Anmerkung 60, S. 175.
66 Runsheng Yin et al., „China’s Ecological Rehabilitation: The Unprecedented Efforts and Dramatic Impacts of Reforestation and Slope Protection in Western China“, in:
Woodrow Wilson International Center for Scholars, China Environment Forum, China
Environment Series, Ausgabe 7 (Washington, DC: 2005), S. 17-32.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
die Arbeitskosten insgesamt eine Summe von 400 $ pro Hektar ergäbe. Da in
den nächsten 10 Jahren 150 Mio. ha Wald, und damit 15 Mio. ha pro Jahr,
angepflanzt werden müssten, ergäben sich bei Kosten von 400 $ pro Hektar
jährliche Gesamtausgaben von 6 Mrd. $.67
Die angepflanzten Bäume würden zwar nicht nur vor Überschwemmungen
schützen und Feuerholz liefern, sondern auch große Mengen an Kohlenstoff
aufnehmen, doch da die Stabilisierung des Klimas ein essentieller Bestandteil unseres Plans ist, wollen wir die Kosten für die Anpflanzung von Bäumen
zur Aufnahme von Kohlenstoff gesondert aufführen. Wenn man sich bei den
diesbezüglichen Maßnahmen an den Vorschlägen von Vattenfall orientierte, so
könnten innerhalb von 10 Jahren 171 Mio. ha Brachland aufgeforstet werden.
Da es sich dabei aber um ein stärker kommerzialisiertes Vorgehen handeln
würde, bei dem es ausschließlich darum geht, verloren geglaubte Flächen zurückzugewinnen und die von Bäumen aufgenommene Menge an Kohlenstoff
zu erhöhen, wäre es auch kostspieliger. Wenn wir den Wert für jede Tonne
Kohlenstoff, die von Bäumen aufgenommen wird und nicht in der Atmosphäre verbleibt, mit 210 $ ansetzen, würde dieses Unterfangen etwa 20 Mrd. $
jährlich kosten. Zum Vergleich: Das ist weniger, als die USA für zwei Monate
Militäreinsatz im Irak ausgeben.68
Zum Schutz des Oberbodens durch die Reduzierung der Erosion auf ein
Maß, das mit dem der Neubildung von Boden übereinstimmt oder darunter liegt, sind zwei grundlegende Schritte notwendig. Einerseits muss höchst
erosionsgefährdetes Land, das nicht kultiviert werden kann – und damit das
geschätzte eine Zehntel der weltweiten Kulturflächen, auf dem etwa die Hälfte
der weltweiten Erosion stattfindet – als landwirtschaftliche Nutzfläche aufgegeben werden. Für die Vereinigten Staaten bedeutete das die Aufgabe von 14
Mio. ha Kulturfläche. Die Kosten dafür, dass diese Flächen nicht mehr produktiv genutzt werden können, liegen bei etwa 125 $ pro Hektar. Insgesamt
liegt die jährliche Summe, die den Bauern dafür bezahlt wird, dass sie im Rahmen von 10-Jahres-Verträgen auf diesen Flächen Bäume und Gras anpflanzen,
bei fast 2 Mrd. $.69
Der zweite Schritt betrifft die verbleibenden Flächen, auf denen die Ero­
sion ebenfalls sehr stark ist – also stärker als die Neubildung der Böden – und
den dortigen Einsatz von Methoden zur Erhaltung des Bodens. Dazu gehört
unter anderem, Anreize für die Bauern zu schaffen, bodenschonende Methoden einzusetzen, wie den Anbau quer zur Hangneigung, Zwischenfruchtanbau
und zunehmend auch Methoden mit minimaler bzw. ohne Bearbeitung des
Bodens. Die Ausgaben dafür liegen in den Vereinigten Staaten bei jährlich
rund 1 Mrd. $.70
67 Brown und Wolf, op. cit. Anmerkung 60, S. 176.
68 Vattenfall, op. cit. Anmerkung 47, S. 16; Amy Belasco, The Cost of Iraq, Afghanistan
and Other Global War on Terror Operations Since 9/11 (Washington, DC: Congressional
Research Service, 16. Juli 2007).
69 Brown und Wolf, op. cit. Anmerkung 60, S. 173f.
70 Ebenda, S. 174.
210
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Wenn man diese Schätzungen in den Weltmaßstab setzt, so ist davon
auszugehen, dass rund 10 % der weltweiten Kulturflächen zu den höchst ero­
sionsgefährdeten Böden zählen und mit Gras oder Bäumen bepflanzt werden
sollten, bevor der Oberboden abgetragen wird und das Land zu Ödland wird.
Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in China, den beiden führenden
Produzenten von Lebensmitteln, auf die zusammen ein Drittel der weltweiten
Getreideernte entfällt, besteht das offizielle Ziel darin, ein Zehntel der Anbauflächen stillzulegen. In Europa wären es vermutlich weitaus weniger als
10 %, doch in Afrika und den Andenstaaten läge der Wert dafür wahrscheinlich deutlich höher. Für die Welt insgesamt scheint die Umwandlung von etwa
10 % der höchst erosionsgefährdeten Kulturflächen in Waldflächen und Grasland ein angemessenes Ziel zu sein. Da dies in den Vereinigten Staaten, die nur
ein Achtel der weltweiten Anbauflächen repräsentieren, etwa 2 Mrd. $ kostet,
würden die Kosten weltweit bei jährlich etwa 16 Mrd. $ liegen.71
Wenn man annimmt, dass die Notwendigkeit zur Anwendung von Methoden zum Schutz vor Erosion im Rest der Welt genauso hoch ist wie in den
Vereinigten Staaten, multiplizieren wir die Ausgaben in den USA wieder mit
8 und erhalten so eine Gesamtsumme von 8 Mrd. $ für die ganze Welt. Wenn
man nun die beiden Komponenten addiert – 16 Mrd. $ für die Aufgabe von
höchst erosionsgefährdeten Flächen und 8 Mrd. $ für den Einsatz von Methoden zur Erhaltung des Bodens – so ergeben sich für alle Länder der Welt
zusammengenommen jährliche Ausgaben von 24 Mrd. $.72
Bezüglich der Kosten für den Schutz und die Wiederherstellung der Weideflächen berufen wir uns auf die Angaben im United Nations Plan of Action to
Combat Desertification73. Laut diesem Plan, dessen Schwerpunkt die Trockengebiete der Welt bilden, in denen fast 90 % aller Weideflächen liegen, würden
die Kosten dafür bei geschätzten 183 Mrd. $ über einen Zeitraum von 20 Jahren liegen – oder bei 9 Mrd. $ pro Jahr. Zu den wichtigsten Maßnahmen bei
der Sanierung der Weideflächen gehören eine bessere Verwaltung der Flächen,
finanzielle Anreize zur Eliminierung der Überbestände bei Vieh und eine Wiederbepflanzung mit angemessenen Ruheperioden, in denen die Beweidung der
Flächen komplett verboten wäre.74
Dies ist ein kostspieliges Unterfangen, doch jeder einzelne Dollar, der in
die Sanierung der Weideflächen investiert würde, brächte einen Gewinn von
2,50 $ in Form von Einnahmen durch die erhöhte Produktivität der Ökosysteme der Weideflächen. Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten gehören die
Länder mit den größten Viehbeständen – in denen sich der Großteil der Weideflächen, deren Qualität sich verschlechtert hat, konzentriert – ausnahmslos
71 Ebenda.
72 Ebenda.
73 Anm. d. Übers.: wörtlich: Aktionsplan der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der
Ausbreitung der Wüsten.
74 UNEP, op. cit. Anmerkung 60, Dollarsummen von 1990 an 2004 angepasst mithilfe
impliziter Deflationsangaben aus: U.S. Department of Commerce, Bureau of Economic
Analysis, „Table C.1. GDP and Other Major NIPA Aggregates“, in: Survey of Current Business, September 2005, S. D-48.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
zu den ärmsten der Welt. Die Alternative zu einem aktiven Vorgehen, die darin
bestünde, die Verschlechterungen zu ignorieren, würde nicht nur einen Verlust
der Produktivität der Böden mit sich bringen, sondern letztlich einen Flüchtlingsstrom von mehreren Millionen Menschen verursachen. Und obwohl hier
keine quantitativen Angaben gemacht werden können, soll doch erwähnt werden, dass auch durch diese Bemühungen der Anteil des auf der Erde gebundenen Kohlenstoffs steigt.75
Die Bemühungen zur Wiederbelebung der Fischbestände der Meere konzentrieren sich hauptsächlich auf die Schaffung eines weltweiten Netzwerks von
Meeresschutzgebieten, die insgesamt 30 % der Weltmeere umfassen würden.
Für die Ausgaben in diesem Bereich beziehen wir uns auf die bereits früher
in diesem Kapitel erwähnten genauen Berechnungen eines britischen Wissenschaftlerteams, das die Ausgaben mit etwa 13 Mrd. $ jährlich beziffert.76
Für den Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen sind die Kosten etwas höher. Laut Schätzungen des World Park Congress fehlen jährlich etwa 25
Mrd. $ zur Verwaltung und zum Schutz von Gebieten, die bereits als Parks
vorgesehen sind. Zusätzlich benötigte Gebiete, darunter auch diejenigen unter
den artenreichen „Hotspots“, die noch nicht zu den für Parks vorgesehenen
gehören, würden vermutlich weitere 6 Mrd. $ pro Jahr kosten, sodass sich eine
Gesamtsumme von 31 Mrd. $ ergäbe.77
Was die Kosten für die Stabilisierung der Wasserspiegel angeht, so können
wir nur raten. Der Schlüssel zur Stabilisierung der Wasserspiegel ist die Steigerung der Wasserproduktivität. Die Grundlage dafür bilden die Erfahrungen,
die wir seit etwa einem halben Jahrhundert sammeln konnten, als die Welt
begann, systematisch an einer Erhöhung der Bodenproduktivität zu arbeiten.
Um ein vergleichbares Modell für Wasser zu entwerfen, sind folgende Elemente nötig: Forschung zur Entwicklung effizienterer Bewässerungsmethoden
und -technologien, Verbreitung der so gewonnen Erkenntnisse unter den Bauern und wirtschaftliche Anreize für diese, damit sie die Verbesserungen auch
annehmen.
Die Möglichkeiten zur Erhöhung der Wasserproduktivität sind weitaus geringer als die im Falle der Bodenproduktivität. Tatsächlich wird nur ein Fünftel
der weltweiten Kulturflächen überhaupt bewässert. Für die Verbreitung der
Forschungsergebnisse im Bereich Bewässerung gibt es derzeit zwei Möglichkeiten: Einerseits könnte man die landwirtschaftlichen Extension Services nutzen, die ins Leben gerufen wurden, um die Bauern über neue Erkenntnisse zu
einem breiten Themenspektrum zu informieren, zu dem auch die Bewässerung
gehört. Eine andere Möglichkeit wären die Interessenverbände der Wasserver75 H. E. Dregne und Nan-Ting Chou, „Global Desertification Dimensions and Costs“,
in: Degradation and Restoration of Arid Lands (Lubbock, TX: Texas Tech. University, 1992);
UNEP, op. cit. Anmerkung 60.
76 Balmford et al., op. cit. Anmerkung 35.
77 World Parks Congress, Recommendations of the Vth IUCN World Parks Congress, op.
cit. Anmerkung 60; World Parks Congress, „The Durban Accord“, op. cit. Anmerkung 60.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
braucher, die es in vielen Ländern gibt. Bei letzteren bestünde der Vorteil da­
rin, dass sie sich ausschließlich mit Wasser beschäftigen.78
Zur effektiven Nutzung der unterirdischen Wasservorräte muss man die
Wassermenge, die abgepumpt wird, sowie die Geschwindigkeit, mit der sie
sich wiederauffüllen, kennen, doch darüber liegen in den meisten Ländern leider keine Informationen vor. Um herauszufinden, wie viel Wasser entnommen
wird, könnte man, wie in Jordanien und Mexiko bereits geschehen, Messgeräte
an den Pumpen der Bewässerungsbrunnen installieren.79
In einigen Ländern könnte das Geld zur Ausfinanzierung von Programmen zur Steigerung der Wasserproduktivität durch eine Streichung von Subventionen aufgebracht werden, die heute häufig zu einem verschwenderischen
Umgang mit Wasser bei der Bewässerung ermutigen. In einigen Fällen handelt
es sich dabei um Stromsubventionen, wie in Indien, in anderen Fällen ermöglichen es diese Subventionen, Wasser zu Preisen unterhalb der eigentlichen
Kosten zu erwerben, wie in den Vereinigten Staaten. Wenn diese Subventionen
abgeschafft würden, würde der Wasserpreis steigen, wodurch ein Anreiz geschaffen würde, Wasser effizienter zu nutzen.
Was die weltweit benötigten zusätzlichen Mittel angeht, einschließlich der
Gelder für die Ausfinanzierung der Forschung in diesem Bereich und für die
wirtschaftlichen Anreize für Bauern zur Nutzung effizienterer Methoden und
Technologien, so gehen wir davon aus, dass hier zusätzliche Ausgaben in Höhe
von 10 Mrd. $ jährlich nötig wären.80
Zusammen erfordert die Sanierung der Ökosysteme unserer Erde zusätzliche Aufwendungen von 113 Mrd. $ pro Jahr. Viele werden sich fragen, ob
sich die Welt das leisten kann. Doch die einzig angemessene Frage wäre, ob die
Welt es sich leisten kann, diese Investitionen NICHT zu tätigen.
78 Angaben zu den bewässerten Kulturflächen aus: FAO, FAOSTAT Statistics Database
unter apps.fao.org, Daten zu Landflächen aktualisiert am 4. April 2005.
79 Angaben zu Jordanien aus: Tom Gardner-Outlaw und Robert Engelman, Sustaining
Water, Easing Scarcity: A Second Update (Washington, DC: Population Action International,
1997); Angaben zu Mexiko aus: Sandra Postel, Last Oasis (New York: W. W. Norton &
Company, 1997), S. 150f.
80 Sandra Postel, Pillar of Sand (New York: W. W. Norton & Company, 1999), S.
230ff.; Postel, op. cit. Anmerkung 75, S. 167f.
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Kapitel 9
Die ausreichende Versorgung von 9 Milliarden Menschen
mit Nahrungsmitteln
Im April 2005 haben das Welternährungsprogramm und die chinesische Regierung gemeinsam verkündet, dass die Lebensmittellieferungen nach China
nach dem Ende dieses Jahres eingestellt werden könnten. Für ein Land, in dem
noch eine Generation zuvor Hunderte Millionen Menschen ständig hungern
mussten, war das eine enorme Leistung. Damit ist es China nicht nur gelungen, sich aus der Abhängigkeit von internationalen Lebensmittellieferungen
zu lösen, das Land ist auch quasi über Nacht zum drittgrößten Geberland für
Lebensmittelhilfslieferungen geworden.
Den Schlüssel zu diesem Erfolg bildeten die Wirtschaftsreformen aus dem
Jahr 1978, durch die das System der landwirtschaftlichen Kollektive, auch
Produktionsteams genannt, abgeschafft wurde und sogenannte Familienwirtschaften aufgebaut wurden. In jedem Dorf wurden die dazugehörigen Landflächen unter den im Dorf lebenden Familien aufgeteilt, wobei man ihnen langfristige Pachtverträge für das Land anbot. Diese Maßnahme, mit deren Hilfe
die Energie und der Einfallsreichtum der ländlichen Bevölkerung in China
genutzt wurden, trug dazu bei, dass die Getreideernte in China zwischen 1977
und 1986 um die Hälfte anstieg. Angesichts der durch die rasant anwachsende Wirtschaft gestiegenen Einkommen, des nachlassenden Bevölkerungswachstums und der gestiegenen Getreideernten gelang es China in weniger als
zehn Jahren, den Hunger im Land praktisch auszurotten – tatsächlich sogar
schneller und nachhaltiger als irgendeinen anderem Land in der Geschichte
der Menschheit.
Während der Hunger in China nach und nach ausgerottet wurde, nahm
er in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara und auf dem indischen
Subkontinent immer mehr zu. Infolgedessen ist die Zahl der Menschen, die
weltweit Hunger leiden, zwischen 1996 und 2003 von einem historischen
Tiefststand von 800 Mio. Menschen wieder auf 830 Mio. angestiegen. In Ermangelung einer starken Führung wird die Tatsache, dass die Getreidepreise
Ende 2007 auf Rekord- bzw. Fast-Rekord-Niveau gestiegen sind, aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass die Zahl der Hungernden weltweit noch
weiter steigen wird, wobei Kinder die Hauptleidtragenden sein werden.
„Last Food Shipment Signals End of 25-Year WFP Aid to China“, Asian Economic
News, 8. April 2005; U.S. Department of Agriculture (USDA), Production, Supply and
Distribution, elektronische Datenbank unter www.fas.usda.gov/psdonline, aktualisiert am
10. August 2007; U.N. World Food Programme, „China Emerges as World’s Third Largest
Food Aid Donor“, Pressemitteilung (Rom: 20. Juli 2006).
Xie Wei und Christian DeBresson, China’s Progressive Market Reform and Opening
(Genf: U.N. Industrial Development Organization, 2001); USDA, op. cit. Anmerkung 1.
U.N. Food and Agriculture Organization (FAO), The State of Food Insecurity in the
World 2006 (Rom: 2006), S. 8; Madelene Pearson und Danielle Rossingh, „Wheat Price
Rises to Record $9 a Bushel on Global Crop Concerns“, Bloomberg, 12. September 2007.
214
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Ein wichtiger Faktor bei der Verdreifachung der weltweiten Getreideernte
seit 1950 bestand darin, dass die Entwicklungsländer die in Japan entwickelten
ertragreichen Weizen- und Reisarten und den Hybridmais aus den Vereinigten
Staaten so schnell angenommen haben. Zusammen mit einer Verdreifachung
der bewässerten Flächen und einer elffachen Steigerung des weltweiten Düngemittelverbrauchs hat die Verbreitung dieser höchst produktiven Arten dazu
beigetragen, dass die weltweite Getreideernte verdreifacht werden konnte. Mit
Hilfe der zunehmenden Bewässerung und Verwendung von Düngemitteln
konnten für große Teile der weltweiten Kulturflächen der Feuchtigkeitsmangel im Boden behoben und Einschränkungen bei der Nährstoffversorgung der
Nutzpflanzen beseitigt werden.
Doch inzwischen haben sich die Aussichten verschlechtert. Angesichts der
prognostizierten Bevölkerungszunahme von 70 Mio. Menschen jährlich, wegen
des zunehmenden Wunsches von gut 5 Mrd. Menschen nach mehr tierischen
Produkten und wegen der Millionen von Autofahrern, die sich möglicherweise
auf der Suche nach Ersatz für die immer knapper werdenden Benzin- und Dieselbestände den aus landwirtschaftlichen Produkten hergestellten Brennstoffen
zuwenden, sehen sich die Bauern weltweit jetzt mit diversen Problemen konfrontiert. Einerseits steht ihnen immer weniger Wasser zur Bewässerung zur
Verfügung, andererseits reagieren die Böden zunehmend weniger auf die immer
höheren Düngermengen. Außerdem steigen die Temperaturen und die Kraftstoffkosten, immer mehr Land wird nichtlandwirtschaftlicher Nutzung zugeführt und es gibt immer weniger neue Methoden zur Erhöhung der Erträge.
Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum in 7 der letzten 8 Jahre die
Getreideproduktion zu gering war, um den weltweiten Bedarf zu befriedigen,
sodass die weltweiten Getreidereserven angegriffen werden mussten und nun auf
dem niedrigsten Stand seit 1974 sind. Für Menschen, die Herausforderungen
mögen, ist dies eine gute Zeit, um Bauer oder Agrarökonom zu werden.
NEUE DENKANSÄTZE BEI DER ERHÖHUNG DER
BODENPRODUKTIVITÄT
Bemühungen zur Erhöhung der Produktivität der Kulturflächen werden dadurch gebremst, dass immer weniger Überhang durch neue landwirtschaftliche
Technologien entsteht. Und der Schwung bei den Bemühungen zur Erhöhung
der Produktivität der Kulturflächen nimmt weltweit ab. Während die Getreideausbeute pro Hektar zwischen 1950 und 1990 weltweit um 2,1 % pro Jahr
Thomas R. Sinclair, „Limits to Crop Yield“, Präsentation auf dem 1999 National
Academy Colloquium, Plants and Populations: Is There Time? Irvine, CA, 5.-6. Dezember 1998; Patrick Heffer, Short-Term Prospects for World Agriculture and Fertilizer Demand
2005/06-2007/08 (Buenos Aires, Argentinien: International Fertilizer Industry Association,
Januar 2007); Angaben zu den Jahren 1950-1960 aus: USDA, in: Worldwatch Institute,
Signposts 2001, CD-Rom (Washington, DC: 2001); USDA, op. cit. Anmerkung 1.
U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population
Database, unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007.
USDA, op. cit. Anmerkung 1.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
anstieg – wodurch auch die weltweite Getreideernte rasant anstieg – waren es
zwischen 1990 und 2007 jährlich nur noch 1,2 %. Dies ist teilweise darauf
zurückzuführen, dass zusätzlich ausgebrachter Dünger inzwischen die Erträge
nicht mehr so stark steigen lässt, wie es einst der Fall war, aber auch darauf, dass
die Vorräte an Wasser zur Bewässerung begrenzt sind.
Das bedeutet, dass man neue Ansätze zur Steigerung der Produktivität des
Bodens finden muss. Eine Möglichkeit wäre die Zucht von Arten, die weniger
dürre- und kälteempfindlich sind. Amerikanische Maiszüchter haben Maissorten gezüchtet, die weniger dürreempfindlich sind und somit den Maisfarmern
die Möglichkeit eröffnet, nun auch die weiter westlich gelegenen Bundesstaaten
Kansas, Nebraska und South Dakota für den Maisanbau zu nutzen. In Kansas, dem führenden Bundesstaat in der Weizenproduktion, wurden auf einigen
Flächen dürreresistente Maissorten angepflanzt, während man auf anderen
Flächen auf Bewässerung setzte. Dank dieser Kombination konnten die Mais­
erträge in Kansas soweit gesteigert werden, dass der Bundesstaat inzwischen
mehr Mais als Weizen produziert. Ähnlich entwickelt sich die Maisproduktion
in den nördlicheren Bundesstaaten wie North Dakota und Minnesota.
Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, dort, wo die Bodenfeuchte es
zulässt, die zur Mehrfachbebauung geeigneten Flächen – also Flächen, auf denen mehr als eine Ernte pro Jahr eingefahren werden kann – auszudehnen.
Tatsächlich ist die Verdreifachung der weltweiten Getreideernte seit 1950 auch
teilweise auf die beeindruckenden Zuwächse bei der Mehrfachbebauung in
Asien zurückzuführen. Die häufigsten Kombinationen sind Weizen und Mais,
wie im Norden Chinas, Weizen und Reis, wie im Norden Indiens, und im Süden Chinas und Indiens sowie den Reisanbauländern in Südostasien wird pro
Jahr zwei bis dreimal in Folge Reis angebaut.
Die Ausweitung des Anbaus von Winterweizen und Mais auf denselben
Flächen in der Nordchinesischen Ebene trug dazu bei, dass Chinas Getreideernte soweit anstieg, dass sie der Ernte in den USA Konkurrenz machen konnte. Die Erträge für Winterweizen liegen in China bei fast 4 t pro Hektar, bei
Mais sind es im Durchschnitt 5 t. Im Wechsel angebaut können diese beiden
Getreidekulturen zusammen jährliche Erträge von 9 t pro Hektar erzielen, und
bei den Flächen in China, auf denen pro Jahr mehrere Reisernten eingeholt
werden, liegen die Erträge bei 8 t pro Hektar.10
Vor 40 Jahren wurde im Norden Indiens ausschließlich Weizen angebaut,
doch mit dem Aufkommen der früher reifenden, höchst ertragreichen Weizenund Reissorten war der Weizen so früh im Jahr reif, dass danach noch Reis
angebaut werden konnte. Inzwischen ist diese Weizen-Reis-Fruchtfolge in den
Ebenda; Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4.
USDA, National Agricultural Statistics Service (NASS), Crop Production 2006 Summary (Washington, DC: Januar 2007); USDA, NASS, QuickStats, elektronische Datenbank
unter www.nass.usda.gov/Data_and_Statistics/Quick_Stats, eingesehen am 28. September
2007.
USDA, op. cit. Anmerkung 1; Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4.
10 John Wade, Adam Branson und Xiang Qing, China Grain and Feed Annual Report
2002 (Peking: USDA, 2002); USDA, op. cit. Anmerkung 1.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana sowie Teilen von Uttar Pradesh
weit verbreitet. Zusammen ergeben der Ertrag von 3 t pro Hektar bei Weizen
und 2 t pro Hektar bei Reis einen Gesamtertrag von 5 t Getreide pro Hektar,
mit denen die 1,2 Mrd. Menschen in Indien ernährt werden können.11
In Nordamerika und Europa, wo man in der Vergangenheit die bebauten
Flächen begrenzt hatte, um so den erwirtschafteten Überschuss zu kontrollieren, gibt es ein gewisses, bisher noch nicht voll ausgenutztes Potenzial zur
Mehrfachbebauung. In den Vereinigten Staaten hat die Aufhebung der Einschränkungen für die Bewirtschaftung von bestimmten Flächen im Jahr 1996
neue Möglichkeiten für den Anbau in Wechselfruchtfolge eröffnet, wobei die
häufigste Kombination die aus Winterweizen und Sojabohnen ist. Und da Soja­
bohnen Stickstoff im Boden binden, führt diese Kombination auch dazu, dass
der Weizen weniger stark gedüngt werden muss.12
In den USA könnten gut abgestimmte Bemühungen zur Anpflanzung früh
reifender Sorten einerseits und zur Entwicklung von Kultivierungsmethoden,
die den Anbau in Wechselfruchtfolge fördern würden, andererseits zu einer
Erhöhung der Ernteerträge führen. Wenn es möglich ist, dass die chinesischen
Bauern auf ausgedehnten Flächen Weizen und Mais in Wechselfruchtfolge anbauen, dann sollte dies in Amerika, das sich auf einem ähnlichen Breitengrad
befindet und ähnliche klimatische Bedingungen aufweist, auch möglich sein
– wenn die landwirtschaftliche Forschung und die Landwirtschaftspolitik so
angepasst werden, dass sie dies unterstützen.
Auch Westeuropa mit seinen milden Wintern und dem ertragreichen Winterweizen könnte mit Hilfe von Sommergetreide wie Mais oder mit dem Anbau von Ölpflanzen im Winter seine in Wechselfruchtfolge bebauten Flächen
ausdehnen. Brasilien und Argentinien zum Beispiel verfügen über eine lange
frostfreie Vegetationszeit, durch die eine ausgedehnte Mehrfachbebauung erleichtert wird, bei der meist Weizen oder Mais mit Sojabohnen kombiniert
wird.13
In vielen Ländern, darunter die Vereinigten Staaten, die meisten Länder
Westeuropas und Japan, hat der Düngemittelverbrauch ein Niveau erreicht,
bei dem ein verstärkter Einsatz praktisch keinen Einfluss mehr auf die Erträge
hätte. Doch es gibt nach wie vor Gegenden, zum Beispiel in großen Teilen
Afrikas, in denen ein verstärkter Einsatz von Düngemitteln zu einer Steigerung
der Erträge führen würde. Leider mangelt es in den Ländern südlich der Sahara an der Infrastruktur, um die Düngemittel wirtschaftlich in die Dörfer zu
transportieren, wo sie gebraucht werden, sodass infolge des sinkenden Nähr11 Angaben zu den Erträgen bei Fruchtfolge aus: USDA, India Grain and Feed Annual
Report 2003 (Neu-Delhi: 2003); U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5; USDA,
op. cit. Anmerkung 1.
12 Richard Magleby, „Soil Management and Conservation“ in: USDA, Agricultural Resources and Environmental Indicators 2003 (Washington, DC: Februar 2003), Kapitel 4.2,
S. 14.
13 USDA, op. cit. Anmerkung 1; Randall D. Schnepf et al., Agriculture in Brazil and
Argentina (Washington, DC: USDA Economic Research Service (ERS), 2001), S. 8ff.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
stoffgehalts der Böden in vielen Ländern südlich der Sahara auch die Erträge
stagnieren.14
Eine Antwort auf die Situation in Afrika, die Grund zur Hoffnung gibt, ist
der gleichzeitige Anbau von Getreide und Bäumen, die Hülsenfrüchte tragen.
Anfangs wachsen die Bäume nur langsam und ermöglichen es so, dass das Getreide reift und geerntet werden kann. Später wachsen sie sehr schnell auf eine
Größe von etwa 1 m und mehr und führen dem Boden durch die herunterfallenden Blätter Stickstoff und organisches Material zu – beides Dinge, die der
afrikanische Boden dringend braucht. Später wird das Holz dann geschlagen
und kann als Brennholz verwendet werden. Durch diese einfache Methode,
die von Wissenschaftlern im International Centre for Research in Agroforestry
in Nairobi entwickelt wurde, war es den Bauern möglich, innerhalb weniger
Jahre und unter Erhöhung der Fruchtbarkeit der Böden ihre Getreideernten
zu verdoppeln.15
Ein weiterer Punkt, der häufig übersehen wird, aber durchaus Einfluss auf
die Produktivität hat, ist die Frage nach den Besitzverhältnissen in Bezug auf
die Landflächen. In China hat man sich im März 2007 dieses Problems angenommen, als der Nationale Volkskongress ein Gesetz zum Schutz der Eigentumsrechte verabschiedete. Durch dieses Gesetz sollten Bauern, die ihr Land
zuvor im Rahmen von Pachtverträgen mit einer Laufzeit von 30 Jahren genutzt
hatten, zusätzlich vor einer Beschlagnahmung ihres Landes durch lokale Beamte geschützt werden, die im Verlauf mehrerer Jahre bereits das Land von
etwa 40 Mio. Bauern konfisziert hatten, meist zum Zweck der Landentwicklung. Wenn die Bauern sich ihrer Besitzrechte in Bezug auf das von ihnen
genutzte Land völlig sicher sein können, werden sie dadurch dazu ermutigt,
in ihr Land zu investieren und seine Qualität zu steigern. In einer Studie, die
das Rural Development Institute in China durchführte, kamen die Experten zu
dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit langfristiger Investitionen, wie die
Errichtung von Gewächshäusern oder das Anlegen von Obstplantagen oder
Fischteichen, bei Bauern, die über verbriefte Rechte an dem von ihnen bebauten Land verfügten, doppelt so hoch war wie bei Bauern, die sich ihrer
Rechte diesbezüglich nicht sicher waren.16
Trotz der lokalen Erfolge ist nicht zu übersehen, dass die Steigerung der
Lebensmittelproduktion insgesamt an Schwungkraft verliert. Und so werden
wir gezwungen sein, ernsthafter als bisher über eine Stabilisierung der Bevölkerungszahlen, eine Abwärtsorientierung in der Nahrungsmittelkette und eine
effektivere Nutzung der vorhandenen Nahrungsmittel nachzudenken. Ob es
uns gelingt, einen akzeptablen Ausgleich zwischen den vorhandenen Lebens14 FAO, ResourceSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org/site/405/default.
aspx, aktualisiert am 30. Juni 2007; USDA, op. cit. Anmerkung 1.
15 Pedro Sanchez, „The Climate Change-Soil Fertility-Food Security Nexus“, Zusammenfassung (Bonn: International Food Policy Research Institute, 4. September 2001).
16 Edward Cody, „Chinese Lawmakers Approve Measure to Protect Private Property
Rights“, Washington Post, 17. März 2007; Jim Yardley, „China Nears Passage of Landmark
Property Law“, New York Times, 9. März 2007; Zhu Keliang und Roy Prosterman, „From
Land Rights to Economic Boom“, China Business Review, Juli-August 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
mitteln und der Anzahl der Menschen weltweit zu erreichen, könnte jetzt davon abhängen, dass die Bevölkerungszahlen so schnell wie möglich stabilisiert
werden, der ungesund hohe Verbrauch an tierischen Produkten in den Industrieländern gesenkt wird und die Umwandlung von Lebensmittelrohstoffen in
Autokraftstoffe beschränkt wird.
MÖGLICHKEITEN ZUR ERHÖHUNG DER
WASSERPRODUKTIVITÄT
Nachdem sich der Wassermangel inzwischen zu einem Hindernis für die Steigerung der Lebensmittelproduktion entwickelt, muss die Welt nun eine Initiative zur Erhöhung der Wassereffizienz starten, ähnlich der, infolge derer in der
letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Produktivität der Getreideanbau­flächen
fast verdreifacht werden konnte. Die Bodenproduktivität wird üblicherweise
in Tonnen Getreide pro Hektar angegeben. Ein vergleichbares Maß für die
Produktivität des zur Bewässerung genutzten Wassers wäre die Menge an Getreide, die mit einer Tonne Wasser produziert werden kann, in Kilogramm.
Weltweit liegt der Durchschnitt hierbei momentan bei etwa einen Kilogramm
Getreide pro Tonne Wasser.17
Da 1.000 t Wasser benötigt werden, um 1 t Getreide zu produzieren, ist
es nicht überraschend, dass 70 % des weltweiten Wasserverbrauchs auf die
Bewässerung entfallen, woraus sich auch die zentrale Rolle der Hebung der
Wassereffizienz bei der Bewässerung innerhalb der allgemeinen Erhöhung der
Wasserproduktivität ergibt. Trotz der begrenzten Wasservorräte könnten die
bewässerten Flächen ausgedehnt werden, wenn die Bauern effizientere Bewässerungstechnologien verwenden und verstärkt Nutzpflanzen anbauen würden,
die weniger Wasser benötigen. Außerdem sollten die Subventionen für Wasser
und Energie, die heute geradezu zu einem verschwenderischen Umgang mit
Wasser einladen, gestrichen werden, Dadurch würde der Wasserpreis wieder
auf den tatsächlichen Marktpreis ansteigen, und höhere Wasserpreise führen
in der Regel dazu, dass die Verbraucher versuchen, ihr Wasser effizienter zu
nutzen. Im Hinblick auf die Institutionalisierung hat sich gezeigt, dass lokale
ländliche Interessenverbände der Wasserverbraucher, in denen jene, die das
Wasser tatsächlich verbrauchen, direkt an der Verwaltung der Wasservorräte
beteiligt sind, in vielen Ländern zu einer Erhöhung der Wasserproduktivität
geführt haben.18
17 Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4; USDA, op. cit. Anmerkung 1; Angaben zur Wassermenge, die zur Getreideproduktion benötigt wird, aus: FAO, Crops and
Drops (Rom: 2002), S. 17.
18 Angaben zur Wassermenge, die zur Getreideproduktion benötigt wird, aus: FAO,
Yield Response to Water (Rom: 1979); Wassernutzung aus: I. A. Shiklomanov, „Assessment of
Water Resources and Water Availability in the World“, Report for the Comprehensive Assessment of the Freshwater Resources of the World (St. Petersburg, Russland: Staatliches Hydrologisches Institut, 1998), zitiert in: Peter H. Gleick, The World’s Water 2000-2001 (Washington, DC: Island Press, 2000), S. 53.
219
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Daten zur Wassereffizienz bei Oberflächenwasserprojekten – also Dämmen, durch die die Bauern über ein Kanalnetz mit Wasser versorgt werden
– zeigen, dass so bewässerte Pflanzen nie 100 % des Wassers nutzen können,
weil ein Teil davon an der Oberfläche verdunstet, ein Teil versickert und ein
Teil einfach abfließt. Sandra Postel und Amy Vickers, beide Analystinnen für
Wasserpolitik, haben herausgefunden, dass „die Effizienz bei der Bewässerung
mit Oberflächenwasser in Indien, Mexiko, Pakistan, auf den Philippinen und
in Thailand zwischen 25 und 40 % schwankt, in Malaysia und Marokko zwischen 40 und 45 % und in Israel, Japan und Taiwan zwischen 50 und 60 %.“
Doch die Wassereffizienz bei der Bewässerung hängt nicht nur von der Art und
dem Zustand des Bewässerungssystems ab, sondern auch von der Bodenart,
den herrschenden Temperaturen und der allgemeinen Feuchtigkeit. In ariden
Gebieten mit hohen Temperaturen verdunstet zum Beispiel weitaus mehr des
zur Bewässerung gedachten Wassers als in feuchteren Gebieten mit niedrigen
Temperaturen.19
Bei einem Treffen im Mai 2004 erklärte mir der für die Wasserreserven
zuständige chinesische Minister Wang Shucheng die Pläne zur Steigerung der
Effizienz bei der Bewässerung in China von 43 % im Jahr 2000 auf 51 %
2010 und bis 2030 sogar auf 55 % etwas genauer. Zu den von ihm beschriebenen Maßnahmen gehören die Anhebung des Wasserpreises, die Schaffung
von wirtschaftlichen Anreizen für den Einsatz effizienterer Technologien und
die Entwicklung lokaler Institutionen zur Lenkung dieses Prozesses. Er ist der
Ansicht, dass Chinas Lebensmittelversorgung für die Zukunft gesichert wäre,
wenn diese Ziele erreicht würden.20
Die Erhöhung der Wassereffizienz bei der Bewässerung bedeutet normalerweise einen Übergang von den weniger effizienten Flutungs- und Furchensystemen zu Sprenkleranlagen oder zur Berieselung, die im Hinblick auf
die Effizienz bei der Bewässerung am günstigsten ist. Durch den Übergang
zu Sprenkleranlagen mit geringem Druck kann der Wasserverbrauch um geschätzte 30 % gesenkt werden, während der Übergang zur Berieselung den
Wasserverbrauch in der Regel sogar um die Hälfte sinken lässt.21
Als Alternative zur Furchenbewässerung führt die Berieselung auch deshalb
zu höheren Erträgen, weil sie eine stetige Wasserversorgung ermöglicht, bei der
nur minimale Wassermengen verdunsten. Und da Berieselungsanlagen nicht
nur eine hohe Wassereffizienz bieten, sondern auch der Arbeitsaufwand sehr
hoch ist, eignen sie sich besonders gut für Länder mit hoher Arbeitslosenquote
und geringen Wasservorkommen.22
19 Sandra Postel und Amy Vickers, „Boosting Water Productivity“ in: Worldwatch Institute, State of the World 2004 (New York: W. W. Norton & Company, 2004), S. 51f.
20 Wang Shucheng, Gespräch mit dem Autor, Peking, Mai 2004.
21 FAO, op. cit. Anmerkung 17, S. 17; Alain Vidal, Aline Comeau und Hervé
Plusquellec, Case Studies on Water Conservation in the Mediterranean Region (Rom: FAO,
2001), S. vii.
22 FAO, op. cit. Anmerkung 17, S. 17; Vidal, Comeau und Plusquellec, op. cit. Anmerkung 21, S. vii.
220
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Einige kleinere Länder – wie Zypern, Israel und Jordanien – bauen sehr
stark auf die Berieselung. Was die drei großen Produzenten landwirtschaftlicher Produkte angeht, so findet diese Technologie auf 1 bis 3 % der bewässerten Flächen in Indien und China und auf nur etwa 4 % der bewässerten
Flächen in den Vereinigten Staaten Anwendung.23
In den letzten Jahren sind Kleinstberieselungssysteme – im Grunde ein
Wasserbehälter mit flexiblen Plastikschläuchen – entwickelt worden, mit denen ein kleiner Gemüsegarten mit etwa 100 Pflanzen (und einer Fläche von
etwa 25 m2) bewässert werden kann. Mit etwas größeren Systemen mit Tonnen
als Behälter lassen sich bereits 125 m2 bewässern. In beiden Fällen sind die Behälter leicht erhöht angebracht, sodass das Wasser durch die Anziehungskraft
verteilt wird. Auch größere Berieselungssysteme mit leicht beweglichen Plastikschläuchen werden immer beliebter. Diese einfachen Systeme haben sich
innerhalb eines Jahres amortisiert und können durch die Tatsache, dass mit
ihrer Hilfe gleichzeitig die Wasserkosten gesenkt und die Erträge gesteigert
werden können, zu einer drastischen Steigerung des Einkommens von Bauern
mit nur kleinen Bearbeitungsflächen beitragen.24
Sandra Postel ist der Ansicht, dass die Kombination dieser Berieselungstechnologien auf verschiedenen Ebenen das Potenzial zur profitablen Bewässerung von 10 Mio. ha Anbaufläche in Indien, und damit fast einem Zehntel
der Gesamtanbaufläche in Indien, birgt. Ein ähnliches Potenzial sieht sie für
China, wo derzeit die durch Berieselung bewässerten Flächen ausgedehnt werden, um die knappen Wasservorräte zu schonen.25
Im Punjab, wo in hohem Maße Weizen und Mais in Wechselfruchtfolge
angebaut werden, haben die sinkenden Grundwasserstände dazu geführt, dass
die Landwirtschaftskommission des indischen Bundesstaates 2007 die Empfehlung ausgab, die Bepflanzung der Felder mit Reis nach Einfahren der Weizenernte, die üblicherweise im Mai stattfand, auf Ende Juni oder Anfang Juli
zu verschieben. Der Sinn dieser Empfehlung bestand darin, dass auf diese Weise die Bepflanzung der Felder mit Reis ungefähr mit der Ankunft des Monsuns
zusammenfiele, wodurch der Wasserbedarf für die Bewässerung um etwa ein
Drittel sinken würde. Da ansonsten der Wasserbedarf aus dem Grundwasser
befriedigt werden müsste, könnte diese Maßnahmen dazu beitragen, dass sich
die Grundwasserspiegel, die in einigen Teilen des Bundesstaates von 5 m unter der Oberfläche auf 30 m unter der Oberfläche abgesunken waren, wieder
stabilisieren.26
Institutionelle Veränderungen – besonders die Übergabe der Verantwortung für die Verwaltung der Bewässerungssysteme von Regierungsbehörden an
lokale Interessenverbände der Wasserverbraucher – könnten eine effizientere
23 Postel und Vickers, op. cit. Anmerkung 19, S. 53.
24 Sandra Postel et al., „Drip Irrigation for Small Farmers: A New Initiative to Alleviate
Hunger and Poverty“, Water International, März 2001, S. 3ff.
25 Ebenda.
26 „Punjab’s Depleting Groundwater Stagnates Agricultural Growth“, Down to Earth,
Vol. 16, Nr 5 (30. Juli 2007).
221
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Wassernutzung fördern. In vielen Ländern organisieren sich die Bauern in lokalen Verbänden, um so diese Verantwortung übernehmen zu können. Da die
Menschen vor Ort ein wirtschaftliches Interesse an einer effizienten Verwaltung des Wassers haben, ist die Aufgabe bei ihnen oft in besseren Händen als
bei einer weit entfernten Regierungsbehörde.27
Führend in dieser Hinsicht ist Mexiko: Im Jahr 2002 wurden mehr als 80 %
der öffentlich bewässerten Flächen Mexikos von Bauernverbänden verwaltet.
Für die Regierung hat dies den Vorteil, dass die Kosten für die Erhaltung des
Bewässerungssystems vor Ort aufgebracht werden, sodass der Staatshaushalt
entlastet wird. Und obwohl die Verbände häufig höhere Kosten für Wasser
zur Bewässerung erheben, überwiegen für die Bauern im Vergleich zu diesen
zusätzlichen Ausgaben die Zugewinne in der Produktion durch die Eigenverwaltung ihrer Wasservorräte.28
In Tunesien, wo Interessenverbände von Wasserverbrauchern sowohl das
Wasser für die Haushalte als auch für die Bewässerung verwalten, ist die Zahl
dieser Verbände zwischen 1987 und 1999 von 340 auf 2.575 gestiegen, sodass
sie inzwischen einen Großteil des Landes abdecken. Und auch in vielen anderen
Ländern verwalten derartige Verbände inzwischen die Wasserressourcen ihres
Landes. Während die ersten derartigen Gruppierungen im Zusammenhang mit
den großen, öffentlich finanzierten Bewässerungssystemen gegründet wurden,
haben es sich einige der neueren Verbände auch zur Aufgabe gemacht, vor Ort
die Menge an Grundwasser, die zur Bewässerung verwendet wird, zu verwalten.
Sie übernehmen die Verantwortung für die Stabilisierung der Wasserspiegel und
haben es sich zum Ziel gesetzt, eine vollständige Erschöpfung der Grundwasserleiter und die damit verbundenen wirtschaftlichen Probleme für die Gesellschaft zu verhindern.29
Häufig sind niedrige Wasserpreise der Grund für eine geringe Wasserproduktivität. In den meisten Ländern stammen die Preise noch aus einer Zeit, als
Wasser noch eine reichlich vorhandene Ressource war, und sind deshalb unnatürlich niedrig. Da die Wasservorräte aber immer mehr abnehmen, müssen
die Preise entsprechend angepasst werden. Die Provinzregierungen im Norden
Chinas erhöhen die Wasserpreise in kleinen Schritten, um so die Wasserverschwendung einzudämmen. Da höhere Wasserpreise alle Wasserverbraucher
betreffen, werden so Investitionen in Bewässerungssysteme, industrielle Prozesse und Haushaltsgeräte gefördert, die weniger Wasser verbrauchen.30
Jetzt braucht es ein neues Denken, eine ganz neue Einstellung, im Hinblick
auf den Wasserverbrauch. Wenn zum Beispiel dort, wo es möglich ist, Nutz27 Weiterführende Informationen zu Interessenverbänden der Wassernutzer finden sich
in: R. Maria Saleth und Arial Dinar, Water Challenge and Institutional Response: A CrossCountry Perspective (Washington, DC: Weltbank, 1999), S. 26.
28 Ebenda, S. 6.
29 Weltbank und Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, Zusammenfassender Bericht zum Middle East and North Africa Regional Water Initiative Workshop on Sustainable Groundwater Management, Sana’a, Jemen, 25.-28. Juni 2000, S. 19.
30 Peter Wonacott, „To Save Water, China Lifts Price“, Wall Street Journal,
14. Juni 2004.
222
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
pflanzen angebaut werden, die weniger Wasser benötigen, so würde dies auch
zu einer Erhöhung der Wasserproduktivität beitragen. Rund um Peking wird
inzwischen kaum noch Reis angebaut, weil Reis einfach zu viel Wasser benötigt und in Ägypten wurde der Anbau von Reis zugunsten des Weizenanbaus
eingeschränkt.31
Jede Maßnahme zur Steigerung der Erträge auf bewässerten Flächen führt
auch zu einer Steigerung der Produktivität des zur Bewässerung genutzten
Wassers – ebenso wie alles, was die Effizienz bei der Umwandlung von Getreide in tierische Proteine steigert, im Grunde auch zu einer Steigerung der
Wasserproduktivität führt.
Wenn die Menschen, die derzeit ohnehin eine ungesunde Menge tierischer
Produkte zu sich nehmen, sich bei ihrer Ernährung in der Nahrungsmittel­kette
abwärts orientieren würden, so würden sie sich nicht nur gesünder ernähren
und zu einer Senkung der Kosten für die Gesundheitsfürsorge beitragen, sondern auch zu einer Senkung des Wasserverbrauchs. In den Vereinigten Staaten,
wo der jährliche Verbrauch an Getreide für Lebensmittel oder als Futter im
Durchschnitt bei 800 kg (vier Fünftel einer Tonne) pro Person liegt, könnte
bereits eine geringfügige Senkung des jährlichen Verbrauchs an Fleisch, Milch
und Eiern zu einer Senkung des Pro-Kopf-Verbrauchs an Getreide um 100 kg
führen. Wenn man bedenkt, dass es derzeit 300 Mio. Amerikaner gibt, würde
dies bedeuten, dass der Gesamtverbrauch an Getreide um 30 Mio. t und der
Verbrauch an Wasser zur Bewässerung um 30 Mrd. t sinken würden.32
Um den Wasserverbrauch weltweit auf ein Maß zu senken, das von den
Grundwasserleitern und den Flüssen getragen werden kann, bedarf es einer
ganzen Reihe von Maßnahmen, nicht nur in der Landwirtschaft, sondern in
der gesamten Wirtschaft. Zu den offensichtlichsten Maßnahmen gehören neben der Einführung effizienterer Bewässerungstechnologien und dem Anbau
von weniger wasserbedürftigen Nutzpflanzen auch die Einführung von weniger
wasserintensiven Industrieprozessen und Haushaltsgeräten. Und in Ländern,
die vor dem Problem einer akuten Wasserknappheit stehen, wäre die Wiederaufbereitung des in den Städten verbrauchten Wassers ein weiterer Schritt, den
zu überdenken sich lohnt.
MEHR EFFIZIENZ IN DER PROTEINPRODUKTION
Eine weitere Möglichkeit zur Erhöhung sowohl der Wasser- als auch der Bodenproduktivität bestünde in einer effizienteren Produktion tierischer Eiweiße.
Da derzeit fast 37 % (etwa 740 Mio. t) der weltweiten Getreideernte zur Pro31 USDA, op. cit. Anmerkung 1; USDA, Foreign Agricultural Service (FAS), „Egyptian
Rice Acreage Continues to Exceed Government-Designated Limitations“, Foreign Countries’ Policies and Programs, FASonline, eingesehen am 28. September 2007; „Rice Cropped
for Water“, China Daily, 9. Januar 2002.
32 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5; Angaben zum Getreideverbrauch
aus: USDA, op. cit. Anmerkung 1; Berechnungen zum Wasserverbrauch basieren auf der
Annahme, dass zur Produktion von 1 t Getreide 1.000 t Wasser benötigt werden, aus: FAO,
op. cit. Anmerkung 18.
223
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
duktion tierischer Eiweiße verwendet werden, könnte schon eine geringfügige
Erhöhung der Effizienz in diesem Bereich eine Menge Getreide sparen.33
Der weltweite Fleischverbrauch ist zwischen 1950 und 2005 von 44 Mio. t
auf 240 Mio. t pro Jahr angestiegen, wobei sich der Pro-Kopf-Verbrauch mit
einem Anstieg von 17 kg auf 39 kg mehr als verdoppelt hat. Auch der Verbrauch von Milch und Eiern ist gestiegen. In jeder Gesellschaft, in der die
Einkommen gestiegen sind, ist auch der Fleischverbrauch gestiegen, was vermutlich eine Vorliebe widerspiegelt, die sich über 4 Mio. Jahre des Jagens und
Sammelns herausgebildet hat.34
Da sowohl der Hochseefischfang als auch die Rindfleischproduktion auf
den Weideflächen zurückgegangen ist, ist man zur Erhöhung der Produk­tions­
menge tierischer Eiweiße zu Methoden übergegangen, bei denen tierische Eiweiße auf Getreidebasis produziert werden. Und da die Nachfrage nach tierischen Eiweißen steigt, verschiebt sich der Fleischverbrauch im Hinblick auf
die Fleischsorten von Rind- und Schweinefleisch hin zu Geflügel und Fisch,
da dies die Produkte sind, die bei der Umwandlung von Getreide in Eiweiße
am effizientesten sind. Zusätzlich unterstützt wird diese Verschiebung in den
Konsumgewohnheiten durch die gesundheitlichen Probleme, mit denen sich
die Verbraucher in den Industrieländern zunehmend konfrontiert sehen.
Der Grad der Effizienz, mit dem die einzelnen Tierarten Getreide in Eiweiße umwandeln, schwankt sehr stark. So brauchen Rinder in Massenhaltung
etwa 7 kg Getreide, um 1 kg an Lebendmasse auszubilden. Bei Schweinen liegt
der Wert bei mehr als 3 kg Getreide pro kg Gewichtszunahme, bei Geflügel
sind es nur knapp über 2 kg und bei pflanzenfressenden Fischarten in Fischfarmen (wie Karpfen, Buntbarschen und Welsen) sogar weniger als 2 kg. Da
nun die Produktion zunehmend auf die Produkte verlagert wird, bei denen
Getreide effizienter umgesetzt wird, steigt damit auch die Wasser- und Bodenproduktivität.35
Die weltweite Rindfleischproduktion, bei der der größte Teil von offenen
Weideflächen kommt, ist zwischen 1990 und 2006 um weniger als 1 % pro
Jahr angestiegen und auch die Anzahl der industriellen Mastanlagen ist nur minimal gestiegen. Die Produktion von Schweinefleisch dagegen stieg um 2,6 %
jährlich, die von Geflügel sogar um fast 5 %. Durch den rapiden Anstieg der
Geflügelproduktion, die zwischen 1990 und 2006 von 41 Mio. t auf 83 Mio. t
33 USDA, op. cit. Anmerkung 1.
34 FAO, FAOSTAT, elektronische Datenbank unter faostat.fao.org, aktualisiert am
30. Juni 2007; Angaben zu 1950 aus: Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4.
35 Umwandlungsverhältnis Futter zu Lebendmasse bei Geflügel abgeleitet aus Daten
aus: Robert V. Bishop et al., The World Poultry Market-Government Intervention and Multilateral Policy Reform (Washington, DC: USDA, 1990); Umwandlungsverhältnis bei Rindern basiert auf Angaben aus: Allen Baker, Mitarbeiter bei Feed Situation and Outlook,
ERS, USDA, Gespräch mit dem Autor, 27. April 1992; Angaben zu Schweinen aus: Leland Southard, Mitarbeiter bei Livestock and Poultry Situation and Outlook, ERS, USDA,
Gespräch mit dem Autor, 27. April 1992; Angaben zu Fisch aus: Rosamond L. Naylor et
al., „Effect of Aquaculture on World Fish Supplies“, Nature, Vol. 405 (29. Juni 2000), S.
1017ff.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
angewachsen ist, hat Geflügel Rindfleisch im Jahr 1996 in der Produktionsmenge überholt und liegt jetzt an zweiter Stelle hinter Schweinefleisch. Die
weltweite Schweinefleischproduktion, von der die Hälfte in China entsteht,
hat 1979 die Rindfleischproduktion überholt und der Vorsprung ist seither
stetig angewachsen.36
In den nächsten zehn Jahren könnte auch die rasant steigende Fischproduktion aus Fischfarmen, bei der die Umwandlung von Getreide in Proteine
zudem überaus effizient ist, die Rindfleischproduktion überholen. Tatsächlich sind die Aquakulturen die Quelle für tierische Eiweiße, die seit 1990
den stärksten Zuwachs verzeichnen konnte, und das hauptsächlich aus dem
Grund, dass pflanzenfressende Fische ihre Nahrung so effektiv in Eiweiße umwandeln. Zwischen 1990 und 2005 sind die Erträge bei Aquakulturen von 13
Mio. t auf 48 Mio. t angestiegen, was einen jährlichen Anstieg um mehr als
9 % bedeutet.37
Die Öffentlichkeit hat sich bislang vorrangig auf die Möglichkeiten der
Aufzucht von Aquakulturen konzentriert, die ökologisch ineffizient oder zerstörerisch sind, wie die Aufzucht von fleischfressenden Lachsen in Farmen oder
die von Garnelen. Das Ergebnis dieser Praktiken macht mit 4,7 Mio. t weniger
als 10 % des gesamten weltweit in Fischfarmen gezogenen Fisches aus, doch
der Anteil wächst rasant. Diese Art der Lachsaufzucht ist deswegen ineffizient, weil sich die Lachse hier von anderen Fischen ernähren, normalerweise in
Form von Fischschrot, der entweder aus dem Abfall von Fisch verarbeitenden
Betrieben hergestellt wird oder aus Fischen, die nur einen geringen Wert haben und eigens dafür gefangen werden. Und zur Zucht von Garnelen müssen
oft küstennahe Mangrovenwälder zerstört werden, um Platz für die Garnelenzucht zu schaffen.38
Den Hauptteil der weltweit gezüchteten Aquakulturen bilden Fische, die
sich von Pflanzen ernähren – in China und Indien hauptsächlich Karpfen, in
den Vereinigten Staaten Welse und in einigen anderen Ländern Buntbarsche
– sowie Schalentiere. Und hier liegt auch das größte Potenzial für eine Erhöhung der effizienten Produktion tierischer Eiweiße.
Auf China, den führenden Produzenten im Bereich der Fischzucht in
Fischfarmen, entfallen erstaunliche zwei Drittel der weltweiten Produktion.
Den Großteil der Produktion bei Aquakulturen in China machen Flossenfische (hauptsächlich Karpfen) aus, die im Inland in Süßwasserteichen, Seen,
Reservoiren und in Reisfeldern gezüchtet werden, aber auch Schalentiere (vor
allem Austern und Muscheln), die hauptsächlich aus den Küstengebieten kommen.39
36 USDA, op. cit. Anmerkung 1.
37 FAO, FishStat Plus, elektronische Datenbank unter www.fao.org, aktualisiert im
März 2007; Naylor et al., op. cit. Anmerkung 35.
38 Naylor et al., op. cit. Anmerkung 35; FAO, op. cit. Anmerkung 37; Taija-Riitta
Tuominen und Maren Esmark, Food for Thought: The Use of Marine Resources in Fish Feed
(Oslo: WWF-Norwegen, 2003).
39 FAO, op. cit. Anmerkung 37.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Im Laufe der Zeit hat China auch eine Polykultur-Variante entwickelt, bei
der vier verschiedene Arten von Karpfen benutzt werden, die sich von ganz
unterschiedlichen Teilen der Nahrungskette ernähren, wodurch praktisch ein
natürliches Ökosystem im Wasser nachgestellt wird. Silberkarpfen und Marmorkarpfen sind sogenannte Filtrierer,40 die sich von Phytoplankton bzw.
Zoo­plankton ernähren. Der Graskarpfen dagegen ernährt sich, wie der Name
schon sagt, eher von Pflanzen, während der gemeine Karpfen ein Gründler41
ist, der von Detritus lebt. Diese vier Arten bilden somit ein kleines Ökosystem, in dem jede Art eine spezielle Nische besetzt. Dieses aus mehreren Arten
bestehende System, in dem Futter höchst effizient in qualitativ hochwertige
Proteine umgewandelt wird, hat im Jahr 2005 in China zu einer Karpfenausbeute von etwa 14 Mio. t geführt.42
Auch wenn die Geflügelproduktion sowohl in China als auch in anderen
Entwicklungsländern rasant angewachsen ist, so war dies doch kein Vergleich
zu den phänomenalen Wachstumsraten bei Aquakulturen. Derzeit liegt die
Aquakulturenproduktion in China mit 30 Mio. t doppelt so hoch wie die
Geflügelproduktion, womit China das erste größere Land ist, in dem mehr
Aquakulturen gezüchtet werden als Geflügel.43
In China wird die Aufzucht in Aquakulturen oft mit der Landwirtschaft verbunden, sodass die Bauern die Abfälle aus der Landwirtschaft, wie Schweinemist oder Entendung, zur Düngung der Teiche nutzen können, wodurch das
Wachstum des Planktons angeregt wird, von dem sich die Fische ernähren. Sowohl in Indien als auch in China wird häufig mit Fischpolykulturen gearbeitet,
da diese im Allgemeinen dazu beitragen, dass die Produktivität der Teiche im
Vergleich zu Monokulturen um mindestens die Hälfte steigt.44
Inzwischen steigen die Einkommen auch in anderen Teilen im dicht bevölkerten Asien, sodass auch andere Länder, darunter beispielsweise Thailand und
Vietnam, dem Beispiel Chinas folgen. So wurde in Vietnam im Jahr 2001 ein
Plan zur Erschließung von 700.000 ha Land im Mekongdelta für die Aufzucht
von Aquakulturen aufgelegt, wodurch dort inzwischen mehr als 1 Mio. t Fisch
und Garnelen produziert werden.45
In den Vereinigten Staaten stellen Welse, die weniger als 2 kg Futter benötigen, um 1 kg Lebendgewicht zuzulegen, das wichtigste Produkt der Aquakulturen dar. Die jährliche Welsproduktion in den USA liegt bei rund 270 Mio.
40 Anm. d. Übers.: Tiere, die ihre Nahrung aus vorbeiströmendem Wasser filtern.
41 Anm. d. Übers.: Fische, die vom Grund fressen.
42 S. F. Li, „Aquaculture Research and Its Relation to Development in China“, in:
World Fish Center, Agricultural Development and the Opportunities for Aquatic Resources Research in China (Penang, Malaysia: 2001), S. 26; FAO, op. cit. Anmerkung 37.
43 FAO, op. cit. Anmerkung 37; FAO, op. cit. Anmerkung 34.
44 Naylor et al., op. cit. Anmerkung 35; W. C. Nandeesha et al., „Breeding of Carp
with Oviprim“, in: Indian Branch, Asian Fisheries Society, India, Special Publication No. 4
(Mangalore, Indien: 1990), S. 1.
45 „Mekong Delta to Become Biggest Aquatic Producer in Vietnam“, Vietnam News
Agency, 3. August 2004; „The Mekong Delta Goes Ahead with the WTO“, Vietnam Economic News Online, 8. Juni 2007; FAO, op. cit. Anmerkung 37.
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kg (etwa 1 kg pro Person) und kommt hauptsächlich aus dem Süden der USA.
Mississippi hat nicht nur einen Anteil von etwa 60 % an der Welsproduktion
der USA, es ist auch weltweit führend in der Welsproduktion.46
Wenn wir an Sojabohnen in unserer täglichen Ernährung denken, so denken wir häufig an Tofu, „Veggie Burger“ und anderen Fleischersatz. Doch einen
Großteil der rasch zunehmenden Sojabohnenernte der Welt nehmen wir indirekt über Rind- und Schweinefleisch, Geflügel, Milch und Eier sowie Fisch aus
Fischfarmen zu uns. Obwohl Sojabohnen kein sichtbarer Bestandteil unserer
Ernährung sind, hat die Beigabe von Sojabohnenschrot zu Tierfutter die weltweite Futtermittelindustrie revolutioniert und zu einer starken Erhöhung der
Effizienz, mit der Getreide in tierisches Eiweiß umgewandelt wird, geführt.47
Im Jahr 2007 haben die Bauern weltweit 222 Mio. t Sojabohnen produziert – 1 t pro 9 t Getreide. Davon wurden 20 Mio. t direkt in Form von Tofu
und anderen Fleischersatzstoffen konsumiert. Nachdem ein Teil zur Neuaussaat zurückbehalten wurde, wurde der Großteil der verbliebenen 202 Mio. t
zerkleinert, um daraus 37 Mio. t Sojaöl zu extrahieren, wodurch dieses von
dem hochwertigen proteinreichen Schrot getrennt wurde.48
Die nach der Extraktion des Öls zurückbleibenden etwa 160 Mio. t Sojabohnenschrot werden dann an Rinder, Schweine, Hühner und Fisch verfüttert. Wenn man bei der Futterherstellung Sojabohnenschrot und Getreide im
Verhältnis 1 zu 4 mischt, so steigt dadurch die Effizienz bei der Umwandlung
von Getreide in tierische Eiweiße drastisch an, in einigen Fällen wird sie sogar
fast verdoppelt.49
Die drei größten Fleischproduzenten – China, die Vereinigten Staaten und
Brasilien – nutzen bereits in hohem Maße Sojabohnenschrot als Proteinergänzung in Futtermitteln.50
Durch den Einsatz von Sojabohnenschrot in Futtermitteln für Vieh, Geflügel und Fisch wird nicht nur ein Teil des Getreides, das früher als Futtermittel
benötigt wurde, eingespart, sondern auch die Effizienz erhöht, mit der das
verbliebene Getreide in den Futtermitteln in tierische Produkte umgewandelt
wurde. Dies erklärt nicht nur teilweise, warum der Anteil des als Futtermittel
verwendeten Getreides an der weltweiten Getreideernte trotz des Produktionsanstiegs bei Fleisch, Milch, Eiern und Fisch aus Fischfarmen in den letzten 20
Jahren nicht gestiegen ist, sondern auch den Produktionsanstieg bei Sojabohnen um fast das 14-Fache seit 1950.51
Der zunehmende Druck auf die Land- und Wasserressourcen der Erde
bei der Produktion von Futtermitteln für Vieh, Geflügel und Fisch hat dazu
46 Naylor et al., op. cit. Anmerkung 35; Angaben zur Welsproduktion in den USA aus:
USDA, NASS, Catfish Production (Washington, DC: Februar 2003), S. 5.
47 USDA, op. cit. Anmerkung 1; Suzi Fraser Dominy, „Soy’s Growing Importance“,
World Grain, 13. April 2004.
48 USDA, FAS, Oilseeds: World Markets and Trade (Washington, DC: August 2007).
49 USDA, op. cit. Anmerkung 1.
50 Ebenda.
51 Historische Statistiken in: Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4; USDA, op.
cit. Anmerkung 1.
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geführt, dass einige neue vielversprechende Modelle zur Produktion von tierischen Eiweißen entwickelt wurden, die im Wesentlichen auf der Verwendung
von Rauhfutter basieren, wie das indische Modell zur Milchproduktion. Seit
1970 hat sich die Milchproduktion in Indien mehr als vervierfacht und ist von
21 Mio. t auf 96 Mio. t jährlich angestiegen. 1997 überholte Indien sogar die
Vereinigten Staaten und wurde zum führenden Produzenten von Milch und
Milcherzeugnissen.52
Der Zündfunke für diese explosionsartige Entwicklung kam 1965, als ein
unternehmerisch begabter junger Inder, Dr. Verghese Kurien, das National
Dairy Development Board ins Leben rief, eine Dachorganisation für Milchkooperativen. Die Hauptaufgabe der Milchkooperativen bestand darin, die Milch
von winzigen Herden, die meist nur aus zwei oder drei Kühen bestanden, zu
verkaufen und damit die Verbindung zwischen der steigenden Nachfrage nach
Milcherzeugnissen und den Millionen von Familien in den Dörfern herzustellen, die nur einen kleinen Überschuss erwirtschafteten, den sie dann verkaufen
konnten.53
Die Schaffung einer Verkaufsmöglichkeit für diese Milch führte zu einer
Vervierfachung der Produktion. In einem Land, in dem Proteinmangel das
Wachstum so vieler Kinder behindert, stellte die Erhöhung der Milchversorgung von weniger als einer halben Tasse pro Person und Tag noch vor 30 Jahren auf heute eine Tasse einen riesigen Fortschritt dar.54
Wirklich bemerkenswert daran ist, dass Indien die weltweit größte Milchgüterwirtschaft größtenteils auf Rauhfutter aufgebaut hat – Weizenstroh, Reisstroh, Maisstängel und Gras von den Straßenrändern – und trotzdem liegt der
Wert der jährlich produzierten Milch inzwischen höher als der der Reisernte.55
Ein weiteres neues Modell zur Produktion von Proteinen, das ebenfalls auf
der Fütterung von Wiederkäuern mit Rauhfutter basiert, hat sich in vier Provinzen im Osten Chinas entwickelt: in Hebei, Shandong, Henan und Anhui,
wo häufig Winterweizen und Mais in Wechselfruchtfolge angebaut werden.
Obwohl das Weizenstroh und die Maisstängel oft als Brennmaterial zum Kochen verwendet werden, suchen sich die Dorfbewohner zunehmend Alternativen dazu, damit sie das Stroh und die Maisstängel an das Vieh verfüttern können. Wenn man das Rauhfutter mit geringen Mengen Stickstoff in Form von
Harnstoff versetzt, kann die Mikroflora es in den komplexen Magensystemen
der Rinder mit ihren vier Mägen effizienter in tierisches Eiweiß umwandeln.56
52 FAO, op. cit. Anmerkung 34.
53 S. C. Dhall und Meena Dhall, „Dairy Industry – India’s Strength in Ist Livestock“,
Business Line, Internetausgabe der Financial Daily der The Hindu Group of Publications, 7.
November 1997; siehe auch: Surinder Sud, „India Is Now World’s Largest Milk Producer“,
India Perspectives, Mai 1999, S. 25f.; A. Banerjee, „Dairying Systems in India“, World Animal
Review, Vol. 79, Nr. 2 (1994).
54 USDA, op. cit. Anmerkung 1; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5.
55 Dhall und Dhall, op. cit. Anmerkung 51; Banerjee, op. cit. Anmerkung 51; FAO, op.
cit. Anmerkung 34.
56 Wade, Branson und Xiang, op. cit. Anmerkung 10; Angaben zu den Ernteresten in
China und zu ihrer Verwendung aus: Gao Tengyun, „Treatment and Utilization of Crop
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
In diesen vier Anbauprovinzen in China, die von offiziellen Vertretern gern
als „Rindfleischgürtel“ des Landes bezeichnet werden, wird durch die Nutzung der Erntereste als Futter mehr Rindfleisch produziert als auf den riesigen
Weideflächen in den nordwestlichen Provinzen des Landes. Der Einsatz von
Ernteresten zur Milchproduktion in Indien und zur Rindfleischproduktion in
China führt dazu, dass die Bauern, statt nur die normale Getreideernte einfahren zu können, noch eine Art „zweiter Ernte“ haben, wodurch sowohl die
Boden- als auch die Wasserproduktivität gesteigert wird.57
Auch wenn diese neuen Modelle zur Proteinproduktion in China und Indien entwickelt wurden, beides stark bevölkerte Länder, so müssen sie doch
nicht auf sie beschränkt bleiben. Ähnliche Systeme können problemlos auch
in anderen Ländern eingeführt werden, wenn der Druck durch das Bevölkerungswachstum wächst, die Nachfrage nach Fleisch und Milch steigt und die
Bauern nach neuen Möglichkeiten zur Umwandlung von pflanzlichen Produkten in tierische Eiweiße suchen.
Die Welt braucht dringend noch mehr neue Möglichkeiten zur Proteinproduktion wie diese. Der Fleischverbrauch steigt fast doppelt so schnell wie die
Bevölkerungszahlen, der Eierverbrauch dreimal so schnell und auch die Nachfrage nach Fisch – sowohl aus den Ozeanen als auch aus Fischfarmen – wächst
stärker als die Bevölkerungszahlen.58
Die Welt hat zwar einige Erfahrung darin, jedes Jahr 70 Mio. Menschen
zusätzlich zu ernähren, doch darin, gleichzeitig auch noch den Bedarf von 5
Mrd. Menschen zu befriedigen, die sich alle bei ihrer Ernährung in der Nahrungskette nach oben orientieren wollen, hat sie keine. Um zu sehen, was das
bedeutet, muss man sich nur ansehen, was seit den Wirtschaftsreformen 1978
in China passiert ist. Als die am schnellsten wachsende Wirtschaft weltweit
bietet China gewissermaßen eine geschichtliche Teleskopansicht, an seinem
Beispiel lässt sich ablesen, wie sich die Ernährung der Menschen im Falle rasant steigender Einkommen verändert. Noch 1978 war der Fleischverbrauch
in China sehr niedrig und bestand größtenteils aus bescheidenen Mengen an
Schweinefleisch. Seither ist der Verbrauch an Schweinefleisch, Rindfleisch, Geflügel und Hammelfleisch um ein Vielfaches angewachsen, sodass der Fleischverbrauch in China inzwischen sogar deutlich über dem der Vereinigten Staaten liegt.59
Doch während die Chinesen nun in den Genuss einer stärker diversifizierten Ernährung kommen, sind in großen Teilen der Entwicklungsländer
die Probleme, die im Zusammenhang mit mangelhafter Ernährung stehen,
Straw and Stover in China“, Livestock Research for Rural Development, Februar 2000.
57 USDA, ERS, „China’s Beef Economy: Production, Marketing, Consumption,
and Foreign Trade“, International Agriculture and Trade Reports: China (Washington, DC:
Juli 1998), S. 28.
58 FAO, op. cit. Anmerkung 34; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5.
59 Angaben über das Wirtschaftswachstum in China aus: Internationaler Währungsfond (IMF), World Economic Outlook Database, unter www.imf.org/external/pubs/ft/weo,
aktualisiert am 11. April 2007; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5; FAO, op.
cit. Anmerkung 34.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
erhalten geblieben. So leidet beispielsweise die Hälfte aller Frauen in den Entwicklungsländern unter Blutarmut, der weltweit häufigsten Erkrankung im
Zusammenhang mit Mangelernährung. Wenn Menschen sich hauptsächlich
von stärkehaltigen Lebensmitteln ernähren und kaum eisenhaltige, wie grünes
Blattgemüse, Schalentiere, Nüsse und rotes Fleisch, zu sich nehmen, so entsteht ein Eisenmangel, der dazu führt, dass die Neugeborenen solcher Mütter
bei der Geburt nur ein sehr geringes Gewicht haben. Außerdem trägt Eisenmangel auch zu einer erhöhten Kinder- und Wöchnerinnensterblichkeit bei.60
Glücklicherweise ist es den Forschern der Micronutrient Initiative aus Kanada in 10 Jahren Forschung gelungen, ein Salz zu entwickeln, dass neben Jod
zusätzlich noch Eisen enthält. Und ebenso wie die Entwicklung von Jodsalz
dazu beigetragen hat, dass Erkrankungen, die durch einen Jodmangel bedingt
sind, weitgehend eliminiert wurden, könnte die zusätzliche Beigabe von Eisen
dazu beitragen, Erkrankungen im Zusammenhang mit Eisenmangel auszurotten. Zunächst wird dieses mit zwei wichtigen Ergänzungen versehene Salz in
Indien, Kenia und Nigeria eingeführt. Doch die Aussicht darauf, mit einem
Kostenaufwand von gerade einmal 20 Cent pro Kopf und Jahr, Erkrankungen,
die durch Eisenmangel bedingt sind, eliminieren zu können, stellt eine der
aufregendsten neuen Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen
der Menschen in diesem Jahrhundert dar.61
ABWÄRTS IN DER NAHRUNGSMITTELKETTE
Eine der Fragen, die ich am häufigsten höre, ist: „Wie viele Menschen ist die
Erde in der Lage zu ernähren?“ Ich antworte darauf stets mit einer Gegenfrage:
„Bei welchem Verbrauchsniveau an Lebensmitteln?“ Wenn man das derzeitige
Verbrauchsniveau der USA von 800 kg an Lebens- und Futtermitteln pro Kopf
und Jahr zugrunde legt, so würde die weltweite Getreideernte von 2 Mrd. t
pro Jahr ausreichen, um 2,5 Mrd. Menschen zu ernähren. Würde man das
italienische Verbrauchsniveau von etwa 400 kg pro Kopf und Jahr zugrunde
legen, würde die derzeitige Ernte für die Erhaltung von 5 Mrd. Menschen
ausreichen, und bei den 200 kg Getreide, die jeder Inder durchschnittlich pro
Jahr verbraucht, könnte mit der derzeitigen Ernte eine Weltbevölkerung von
10 Mrd. Menschen ernährt werden.62
In jeder Gesellschaft, in der die Einkommen steigen, verändern sich die
Ernährungsgewohnheiten zugunsten von Produkten im oberen Bereich der
Nahrungsmittelkette, die Menschen nehmen mehr tierische Eiweiße in Form
von Rind- und Schweinefleisch, Geflügel, Milch, Eiern und Meeresfrüchten
zu sich. Die Kombination der unterschiedlichen tierischen Proteine ist je nach
60 Micronutrient Initiative, Double Fortification of Salt: A Technical Breakthrough to
Alleviate Iron and Iodine Deficiency Disorders Around the World (Ottawa, Kanada: 2005);
Alan Berg, ehemaliger Chef des Ernährungsprogramms der Weltbank, Gespräch mit dem
Autor, 13. März 2007.
61 Ebenda.
62 Berechnungen des Autors auf Grundlage von Daten aus: USDA, op. cit. Anmerkung
1; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
geographischer Lage und Kultur verschieden, doch es scheint allgemein so zu
sein, dass sich die Ernährungsgewohnheiten mit steigenden Einkommen hin
zu tierischen Proteinen verschieben.
Wenn nun der Verbrauch an Viehprodukten, Geflügel und Fisch aus Fischfarmen steigt, steigt gleichzeitig auch der Pro-Kopf-Verbrauch an Getreide.
Von den rund 800 kg Getreide, die pro Kopf und Jahr in den USA verbraucht
werden, werden nur etwa 100 kg direkt in Form von Brot, Pasta und Frühstückszerealien aufgenommen. Der Großteil des Getreides gelangt indirekt über
Vieh- und Geflügelprodukten in den Körper. Im Gegensatz dazu konsumieren
die Menschen in Indien, die pro Kopf und Jahr nur knapp 200 kg oder pro
Tag etwa ein Pfund Getreide zu sich nehmen, fast das gesamte Getreide direkt,
um so ihren grundlegenden Bedarf an Lebensmittelenergie zu decken. Nur ein
geringer Teil ist für die Umwandlung in tierische Produkte verfügbar.63
Von den drei vorher erwähnten Ländern ist die Lebenserwartung in Italien
am höchsten, obwohl in den Vereinigten Staaten viel mehr für die Gesundheitsvorsorge ausgegeben wird. Sowohl diejenigen, die sich von Produkten am
untersten Ende der Nahrungsmittelkette als auch jene, die sich hauptsächlich
von Produkten am oberen Ende der Nahrungsmittelkette ernähren, leben kürzer als diejenigen, die einen Mittelweg gehen. Zur Ernährung in den Mittelmeerländern gehören natürlich auch Fleisch, Käse und Meeresfrüchte, jedoch
in bescheidenen Mengen, sodass Menschen, die sich auf diese Weise ernähren,
nicht nur gesünder leben, sondern auch länger. Diejenigen, die viele tierische
Produkte zu sich nehmen, wie der Durchschnittsamerikaner oder -kanadier,
könnten durch eine Abwärtsorientierung in der Nahrungsmittelkette ihre Gesundheit verbessern. Für die Menschen in den Ländern mit geringem Einkommen, wie Indien, in denen ein stärkehaltiges Grundnahrungsmittel wie
Reis zum Teil 60 % und mehr der gesamten aufgenommenen Kalorienmenge
ausmacht, könnte die vermehrte Aufnahme proteinhaltiger Produkte gleichzeitig zu einer Verbesserung der Gesundheit und zu einer Erhöhung der Lebenserwartung führen.64
Im Hinblick auf die Landwirtschaft schauen wir oft darauf, welchen Einfluss der Klimawandel auf die Nahrungsmittelproduktion hat, doch nie da­
rauf, welchen Einfluss unser Essverhalten auf das Klima hat. Während wir uns
inzwischen darüber im Klaren sind, dass es einen Zusammenhang zwischen
dem Klimawandel und der Kraftstoffeffizienz unserer Autos gibt, fehlt uns
ein vergleichbares Verständnis dafür, welche Auswirkungen das Klima auf die
verschiedenen Ernährungsoptionen hat. Gidon Eshel und Pamela A. Martin
von der University of Chicago haben nun versucht, diese Verständnislücke zu
schließen. Zunächst einmal merken die beiden in ihrer Studie an, dass die Energiemenge, die benötigt wird, um all die Nahrungsmittel zu produzieren, von
63 USDA, op. cit. Anmerkung 1; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5;
FAO, op. cit. Anmerkung 34.
64 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, „Total Expenditure on Health Per Capita, US$ PPP“, Tabelle, OECD Health Data 2007-Frequently Requested Data, unter www.oecd.org, Juli 2007; FAO, op. cit. Anmerkung 34.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
denen ein Amerikaner sich in der Regel ernährt, etwa genauso groß ist wie die
Menge, die der Durchschnittsamerikaner für seinen Transport benötigt. Tatsächlich liegt das Verbrauchsverhältnis für die karbonintensiveren im Vergleich
zu den weniger karbonintensiven Optionen für Ernährung und Transport jeweils bei 4 zu 1. Bei den Autos beispielsweise verbraucht der Toyota Prius mit
seinem Benzin-Elektro-Hybridantrieb kaum ein Viertel dessen, was der Chevrolet Suburban, ein Geländewagen, an Kraftstoff verbraucht. Ganz ähnlich ist
es im Ernährungsbereich: Hier wird für die Produktion der Bestandteile einer
Ernährung auf weitgehend pflanzlicher Basis nur etwa ein Viertel der Energie
benötigt, die für die Produktion der Bestandteile einer Ernährung mit viel
rotem Fleisch nötig wäre. Somit könnten durch den Übergang von der letztgenannten Ernährungsform zur erstgenannten die Treibgasemissionen ebenso
stark gesenkt werden wie durch den Wechsel von einem Suburban-Geländewagen auf einen Prius.65
Die Beimischung von Sojabohnenschrot in den Futterrationen, durch die
Getreide effizienter in tierische Eiweiße umgewandelt werden kann; die Um­
orientierung der Verbraucher auf tierische Produkte, bei denen Getreide effi­
zienter genutzt wird, sowie die Abwärtsorientierung der Verbraucher innerhalb
der Nahrungsmittelkette können insgesamt dazu beitragen, den Druck auf
Land- und Wasserreserven zu verringern und den Düngerbedarf zu senken,
und damit zu einer Senkung der Kohlenstoffemissionen und letztlich zur Stabilisierung des Klimas.
KAMPF AN MEHREREN FRONTEN
Heute, im Sommer 2008, sind die Aussichten im Bereich der Nahrungsmittelversorgung nicht gerade ermutigend. Die Getreidepreise sind in der letzten
Zeit so stark gestiegen, dass sie einen historischen Höchststand erreicht haben.
Der Weizenpreis liegt erstmals in der Geschichte bei über 9 $ pro Scheffel und
damit mehr als doppelt so hoch wie noch ein Jahr zuvor. Und da im Bereich
der internationalen Lebensmittellieferungen die steigenden Preise mit den festen Budgets kollidieren, ist auch die ausreichende Versorgung der Bedürftigen
über Hilfsprogramme zunehmend in Gefahr.66
Wenn wir weitermachen wie bisher, wird die Zahl der Menschen, die weltweit Hunger leiden, massiv ansteigen. Die Menschen auf den unteren Sprossen
der globalen Wirtschaftsleiter verlieren zunehmend den ohnehin spärlichen
Halt und drohen, ganz herunterzufallen. Es ist sogar gut möglich, dass die Zeit
der preiswerten Lebensmittel jetzt endgültig vorbei ist.
65 Gidon Eshel und Pamela A. Martin, „Diet, Energy, and Global Warming“, Earth
Interactions, Vol. 10, Nr. 9 (April 2006), S. 1-17; USDA, op. cit. Anmerkung 1; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 5.
66 Pearson und Rossingh, op. cit. Anmerkung 3; Chicago Board of Trade, „Market
Commentaries“, unter www.cbot.com, diverse Daten; IMF, International Financial Statistics
(Washington, DC: 2007); Missy Ryan, „Commodity Boom Eats Into Aid for World’s Hungry“, Reuters, 5. September 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Historisch gesehen trug das Landwirtschaftsministerium den größten Teil
der Verantwortung für die Sicherung der Lebensmittelversorgung. In der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war die Sicherung ausreichender
Mengen an Getreide vom Weltmarkt noch vergleichsweise leicht. Wann immer die weltweite Getreideernte sank und die Preise anfingen zu steigen, hat
das amerikanische Landwirtschaftsministerium einfach einen Teil der Nutzflächen, die im Rahmen der Programme zur Kontrolle der Versorgung brachlagen, reaktiviert und so die Erträge erhöht und die Preise stabilisiert. Als die
Vereinigten Staaten 1996 ihr Programm zur jährlichen Stilllegung bestimmter
Nutzflächen beendeten, endete auch diese Ära.67
In unserer überbevölkerten Welt, die bereits jetzt unter den Folgen des Klimawandels und einer zunehmenden Wasserverknappung leidet, ist die Sicherung der Versorgung mit Nahrungsmitteln zu einem Problem geworden, an
dessen Lösung die gesamte Gesellschaft mitwirken muss und das alle Regierungsministerien angeht. Da Hunger fast immer das Ergebnis von Armut ist,
kann die erfolgreiche Bekämpfung des Hungers nur gelingen, wenn es gelingt,
die Armut auszurotten. Und dort, wo die hohen Bevölkerungszahlen drohen,
den Rahmen der vorhandenen Land- und Wasserressourcen zu sprengen,
hängt der Erfolg bei Bekämpfung des Hungers in der Welt auch davon ab,
ob es gelingt, die Bevölkerungszahlen zu stabilisieren. Unser Ziel im Rahmen
von Plan B lautet, die Weltbevölkerung bis 2040 zu stabilisieren. Dies wird
natürlich keine leichte Aufgabe werden, doch die Alternative wäre, dass die
Weltbevölkerung sich automatisch stabilisiert, weil die Sterberaten wieder steigen. Tatsache ist, dass inzwischen die Entscheidungen der Energieministerien
vermutlich größeren Einfluss auf die Sicherung der Lebensmittelversorgung in
der Zukunft haben als die der Landwirtschaftsministerien. Die derzeit wohl
größte Bedrohung für die Sicherung der Lebensmittelversorgung geht von den
durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe begünstigten Klimaveränderungen
aus. Aus diesem Grund sind die Energieministerien jetzt in der Pflicht, dafür
zu sorgen, dass es in Zukunft weniger Hitzwellen gibt, die so stark sind, dass
die Ernten verdorren, und dass die Gletscher, die in der Trockenzeit die großen
Flüsse Asiens speisen, ebenso wenig weiter abschmelzen wie die großen Eisschilde, durch deren Schmelzwasser die Flussdeltas und Talauen, in denen ein
Großteil der Reisernte Asiens produziert wird, überschwemmen würde.
Und dort, wo der Wassermangel ein noch größeres Hindernis für den Ausbau der Nahrungsmittelproduktion ist als die Landknappheit, müssen die Ministerien, die für die Verwaltung der Wasserressourcen verantwortlich sind, dafür Sorge tragen, dass alles getan wird, um die Effizienz in der Wassernutzung
zu erhöhen. Denn ebenso wie im Fall der Energieversorgung liegt der Schlüssel
zur Lösung des Problems nicht darin, mehr davon bereitzustellen, sondern
darin, die vorhandenen Mengen effizienter zu nutzen.
67 USDA, ERS, Natural Resources and Environment Division, Agricultural Resources
and Environmental Indicators, 1996-1997, Agricultural Handbook No. 712 (Washington,
DC: 1997).
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Auch werden in einer Welt, in der es immer weniger Kulturflächen gibt, die
Entscheidungen der Verkehrsministerien darüber, ob man Transportsysteme
entwickelt, in deren Mittelpunkt das Auto steht, oder diversifizierte Systeme,
die verstärkt auf weniger landintensive Verkehrsmittel wie Stadtbahnen, Busse
und Fahrräder bauen, ebenfalls Einfluss auf die Sicherung der Lebensmittelversorgung haben. Außerdem würden die Verkehrsministerien mit einer Entscheidung für stärker diversifizierte Verkehrssysteme und Maßnahmen zur Senkung
des Kraftstoffverbrauchs einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Klimas
leisten.
Schon heute wirken sich die Entscheidungen der einzelnen Regierungen
in Bezug auf die Herstellung von Autokraftstoffen, die aus Nutzpflanzen gewonnen werden, sowohl auf die Getreideversorgung als auch auf die Getreidepreise aus. Angesichts der Turbulenzen, die es Ende 2007 auf dem weltweiten
Getreidemarkt gab, ist es höchste Zeit, dass die US-Regierung einen Stopp für
die Neulizenzierung von Destillerien verhängt, die Ethanol auf Getreidebasis
herstellen.
Und schließlich und endlich müssen auch wir als Individuen einen Teil
der Verantwortung für Veränderungen übernehmen. So können wir mit der
Entscheidung, ob wir mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zur Arbeit fahren,
Einfluss auf den Ausstoß von Kohlenstoffemissionen, den Klimawandel und
die zukünftige Sicherung der Lebensmittelversorgung nehmen. Und die Größe
des Autos, mit dem wir zum Einkaufen in den Supermarkt fahren, kann sich
auf die Höhe der Summe, die wir schließlich an der Kasse bezahlen, auswirken. Wenn wir uns bisher hauptsächlich von Nahrungsmitteln aus dem oberen Spektrum der Nahrungsmittelkette ernährt haben, können wir durch eine
Abwärtsorientierung nicht nur unserer Gesundheit etwas Gutes tun, sondern
auch zu einer Stabilisierung des Klimas beitragen. Die Sicherung der Lebensmittelversorgung betrifft uns alle – und deshalb ist jeder von uns mit dafür
verantwortlich.
234
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 10
Städte für Menschen
Vor einigen Jahren war ich zu einer Konferenz in Tel Aviv und als man mich
eines Tages von meinem Hotel zu einem Konferenzzentrum fuhr, kam ich nicht
umhin festzustellen, wie unglaublich viele Autos und Parkplätze es dort gab. Es
war offensichtlich, dass sich die Entwicklung Tel Avivs, das sich innerhalb von
50 Jahren von einer kleinen Siedlung in eine Stadt mit etwa 3 Mio. Einwohnern
verwandelt hatte, in erster Linie während des Autozeitalters abgespielt hatte.
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass das Verhältnis zwischen Parks und Parkplätzen in einer Stadt der beste Indikator dafür sein könnte, wie lebenswert das
Leben in einer Stadt ist und ob diese Stadt eher auf Autos oder auf Menschen
ausgelegt ist.
Doch Tel Aviv ist nicht die einzige Stadt in der Welt, die sich rasant ausdehnt. Gleich nach dem massiven Bevölkerungswachstum ist die Urbanisierung der zweitwichtigste demographische Trend unserer Zeit. Im Jahr 1900
lebten nur etwa 150 Mio. Menschen in Städten, im Jahr 2000 waren es bereits
2,8 Mrd., was einen Anstieg um das 19-Fache bedeutet, und 2008 lebt bereits
mehr als die Hälfte der Menschen weltweit in Städten, wodurch wir erstmals
in der Geschichte zu einer urbanen Spezies geworden sind.
Im Jahr 1900 gab es nur eine Handvoll Städte mit1 Mio. Einwohnern,
heute gibt es 414 Städte, die mindestens so viele Einwohner haben und sogar
20 sogenannte Megastädte, die 10 Mio. Einwohner oder mehr haben. Mit
35 Mio. übersteigt die Einwohnerzahl von Tokio sogar die von Kanada und in
Mexiko-Stadt allein leben mit 19 Mio. Menschen fast so viele Menschen wie
in ganz Australien. New York, São Paulo, Mumbai (früher Bombay), Delhi,
Shanghai, Kalkutta und Jakarta folgen auf dem Fuße.
Weltweit sehen sich die Städte zunehmend mit Problemen konfrontiert,
die sie so bisher nicht kannten. In Mexiko-Stadt, Teheran, Kalkutta, Bangkok,
Shanghai und Hunderten anderer Städte ist es inzwischen sogar gefährlich zu
atmen. In einigen Städten ist die Luftverschmutzung so stark, dass das Ein­
atmen der Luft dort in etwa so ist, als rauche man täglich zwei Schachteln Zigaretten. Die Zahl der Fälle von Atemwegserkrankungen nimmt stetig zu. Und
in den Vereinigten Staaten steigt die Anzahl der Stunden, die Pendler nicht
U.N. Population Division, World Urbanization Prospects: The 2005 Revision Population
Database, elektronische Datenbank unter esa.un.org/unup, aktualisiert 2006.
Angaben zur Stadtbevölkerung um 1900 aus: Mario Polèse, „Urbanization and Development“, Development Express, Nr. 4, 1997; U.N. Population Fund (UNFPA), State of
World Population 2007 (New York: 2007), S. 1.
Molly O’Meara, Reinventing Cities for People and the Planet, Worldwatch Paper 147
(Washington, DC: Worldwatch Institute, Juni 1999), S. 14f.; U.N. Population Division,
World Population Prospects: The 2006 Revision Population Database, elektronische Datenbank
unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007; „The 30 Largest Urban Agglomerations Ranked
By Population Size“, Tabelle A.11 in: U.N. Population Division, World Urbanization Prospects: The 2005 Revision (New York: Oktober 2006).
235
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
mehr damit verbringen, sich irgendwohin zu bewegen, sondern stattdessen auf
vom Verkehr verstopften Straßen und Highways festzustecken, mit jedem Jahr
weiter an – und mit ihnen die Frustration darüber.
Als Reaktion auf diese Umstände ist derzeit die Entstehung eines neuen
Stadtgefühls und einer neuen Philosophie in der Stadtplanung zu verzeichnen,
von der Umweltschützerin Francesca Lyman sagt, sie sei darauf ausgerichtet,
„die traditionellen Ansätze bei der Stadtplanung wiederzubeleben, die aus einer Zeit stammen, da Städte für Menschen gebaut wurden, nicht für Autos“.
Eine der bemerkenswertesten Veränderungen im städtischen Bereich gab es in
Bogotá in Kolumbien, wo Enrique Peñalosa drei Jahre lang Bürgermeister war.
Als er 1998 das Amt übernahm, stellte er sich die Frage, wie man das Leben
der 70 % der Einwohner, die kein Auto besaßen – und damit der Mehrheit
der Einwohner – verbessern könnte und nicht etwa, was man für die restlichen
30 % tun könnte.
Peñalosa erkannte, dass eine Stadt, in der sich Kinder und ältere Menschen
wohlfühlen, für jedermann ein angenehmer Wohnort wäre. Innerhalb weniger
Jahre gelang es ihm dank seiner Vision von einer Stadt, die auf die Bedürfnisse
der Menschen ausgerichtet ist, die Lebensqualität der Bewohner von Bogotá
deutlich zu verbessern. Unter seiner Führung wurde es verboten, in der Stadt
auf Fußwegen zu parken, es wurden 1.200 Parks geschaffen oder saniert, ein
sehr erfolgreiches Schnelltransportsystem auf Busbasis eingerichtet, Hunderte
Kilometer Radwege und Fußgängerstraßen angelegt, das Verkehrsaufkommen
zur Hauptverkehrszeit um 40 % gesenkt und 100.000 Bäume gepflanzt. Außerdem band er die Einwohner der Stadt in die Maßnahmen zur Verschönerung ihrer Wohngegenden und Verbesserung der Lebensbedingungen direkt
mit ein. Dadurch pflanzte er den 8 Mio. Bürgern der Stadt einen besonderen
Stolz auf ihre Stadt ein, wodurch die Straßen von Bogotá, einer Stadt in einem
sehr unruhigen Land, sicherer wurden als die von Washington, DC.
Peñalosa dazu: „Qualitativ hochwertiger öffentlicher Raum für Fußgänger
ganz allgemein und Parks im Besonderen sind ein Beweis für eine wirklich
funktionierende Demokratie.“ Weiter sagt er: „Parks und öffentlicher Raum
sind auch deshalb wichtig für eine Demokratie, weil sie der einzige Ort sind,
an dem die Menschen einander auf gleicher Stufe begegnen. […] Parks sind
Christopher Flavin, „Hearing on Asia’s Environmental Challenges: Testimony of
Christopher Flavin“, Committee on International Relations, U.S. House of Representatives, Washington, DC, 22. September 2004; Subir Bhaumik, „Air Pollution Suffocates
Calcutta“, BBC News, 3. Mai 2007; David Schrank und Tim Lomax, 2005 Urban Mobility
Study (College Station, TX: Texas Transportation Institute, Mai 2005).
Francesca Lyman, „Twelve Gates to the City: A Dozen Ways to Build Strong, Li­vable,
and Sustainable Cities“, Words and Pictures Magazine, Ausgabe 5 (2007); Lisa Jones, „A Tale
of Two Mayors: The Improbable Story of How Bogota, Colombia, Became Somewhere You
Might Actually Want To Live“, Grist Magazine, 4. April 2002.
Claudia Nanninga, „Energy Efficient Transport – A Solution for China“, Voices of
Grassroots, November 2004; Enrique Peñalosa, „Parks for Livable Cities: Lessons from a
Radical Mayor“, Rede vor der Great Parks/Great Cities Conference des Urban Parks Institute, Chicago, 30. Juli 2001; Susan Ives, „The Politics of Happiness“, Trust for Public Land,
9. August 2002; Jones, op. cit. Anmerkung 5.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
ebenso wichtig für die körperliche und emotionale Gesundheit einer Stadt wie
die Wasserversorgung.“ Allerdings merkt er an, dies sei aus den Haushalten vieler Städte nicht erkennbar, da dort Parks häufig als Luxus gelten. Im Gegensatz
dazu, so Peñalosa, „werden den Straßen, dem öffentlichen Raum für Autos,
unendlich viel mehr Ressourcen zugebilligt und sie müssen weitaus weniger
Budgetkürzungen hinnehmen als der öffentliche Raum für Kinder. Warum ist
der öffentliche Raum für Autos wichtiger als der für Kinder?“
Doch Enrique Peñalosa ist mit seiner neuen Philosophie für die Städte nicht
allein. Inzwischen experimentieren Regierungsplaner überall auf der Welt mit
diesen Ideen und suchen nach Wegen, die Städte so zu gestalten, dass sich
die Menschen darin wohlfühlen, nicht die Autos. Autos bieten Mobilität, vor
allem in ländlichen Gegenden. Doch in einer Welt, in der immer mehr Menschen in Städten leben, gibt es zwangsläufig einen Konflikt zwischen den Städten und den Autos. Mit der steigenden Anzahl an Autos kommt irgendwann
der Punkt, da sie nicht mehr für Mobilität sorgen, sondern sie behindern.
In einigen Städten, sowohl in den Industrie- wie auch in den Entwicklungsländern, versucht man, die Mobilität in den Städten durch die Abkehr
von Autos zu erhöhen. Der ehemalige Bürgermeister der brasilianischen Stadt
Curitiba, Jaime Lerner, war einer der ersten, die ein alternatives städtisches
Verkehrssystem entwickelt und eingeführt haben, ein System, das nicht einfach die Verkehrssysteme westlicher Städte kopiert, sondern preiswert und
pendlerfreundlich ist. Seit 1974 wurde Curitibas Verkehrssystem völlig umstrukturiert. Obwohl 40 % der Menschen dort ein Auto besitzen, spielen diese
nur eine geringe Rolle im städtischen Verkehr. Hier dominieren Busse, Fahr­
räder und Fußgänger und mehr als die Hälfte aller Fahrten innerhalb der Stadt
entfallen auf Busse. Die Bevölkerung der Stadt hat sich seit 1974 verdreifacht,
doch der Autoverkehr ist um bemerkenswerte 30 % zurückgegangen.
DAS ÖKOLOGISCHE MOMENT IN STÄDTEN
Damit Städte richtig funktionieren können, müssen dort so große Mengen
an Lebensmitteln, Wasser, Energie und Rohstoffen konzentriert werden, wie
sie die Natur einfach nicht bieten kann. Das Aufbringen derartiger Rohstoffmengen und ihre spätere Entsorgung in Form von Müll, als Abwasser oder als
Giftstoffe, die Luft und Wasser verschmutzen, stellt für die Stadtverwaltungen
weltweit eine große Herausforderung dar.
Die Evolution moderner Städte steht in engem Zusammenhang mit Fortschritten im Verkehrswesen. Zunächst waren es die bei Schiffen und Zügen,
doch erst der Verbrennungsmotor in Verbindung mit dem billigen Erdöl
Peñalosa, op. cit. Anmerkung 6.
Jones, op. cit. Anmerkung 5; O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 47.
O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 47; Walter Hook, „Bus Rapid Transit: The Unfolding Story“, in: Worldwatch Institute, State of the World 2007 (New York: W. W. Norton
& Company, 2007), S. 80f.; U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 1.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
brachte jene Mobilität für Menschen und Frachtgut, durch die das phänomenale Wachstum der Städte im 20. Jahrhundert so stark angeheizt wurde.
Die ersten Städte bezogen ihr Wasser und ihre Lebensmittel noch aus der
direkten Umgebung. Heute sind die Städte häufig selbst für solche grundlegenden Dinge von weit entfernten Quellen abhängig. Los Angeles beispielsweise bezieht einen Großteil seines Wassers aus dem Colorado, der etwa 970
km entfernt fließt. Die stetig wachsende Bevölkerung von Mexiko-Stadt, das
in etwa 3.000 m Höhe liegt, ist zur Aufstockung ihrer unzureichenden Wasservorräte inzwischen darauf angewiesen, Wasser in 150 km Entfernung sehr teuer zu pumpen und es 1 km oder mehr in die Höhe zu befördern. Und Peking
plant, sein Wasser in Zukunft aus dem fast 1.200 km entfernten Jangtsebecken
zu beziehen.10
Lebensmittel kommen oft von noch weiter entfernten Orten, wie sich am
Beispiel von Tokio zeigt. Während der Reisbedarf Tokios nach wie vor durch
die höchst produktiven Reisbauern Japans gedeckt werden kann, deren Land
durch die Politik der Regierung sorgfältig geschützt ist, kommt der Weizen
meist aus den nordamerikanischen Great Plains oder aus Australien, der Mais
größtenteils aus dem Mittleren Westen der USA und die Sojabohnen ebenfalls
entweder aus dem Mittleren Westen oder aus dem brasilianischen Cerrado.11
Und auch das Erdöl, das einen Großteil der Energie liefert, mit deren Hilfe Ressourcen in die Städte hinein oder heraus transportiert werden, stammt
häufig von Ölfeldern, die weit entfernt sind. Natürlich werden sich die steigenden Ölpreise auf die Städte auswirken, doch die Vororte, die sich rund um
viele Städte gebildet haben, werden noch weitaus stärker davon betroffen sein.
Insgesamt ist es gut möglich, dass das weitere Wachstum der Städte schon bald
durch die zunehmende Wasserknappheit und die hohen Energiekosten für den
Transport von Wasser über große Entfernungen stark eingeschränkt wird.
Vor diesem Hintergrund sagt Richard Register, der Autor von Ecocities:
Building Cities in Balance with Nature, es sei an der Zeit, die Gestaltung von
Städten völlig neu zu überdenken. Er stimmt mit Peñalosa darin überein,
dass Städte auf Menschen, nicht auf Autos ausgerichtet sein sollten. Doch er
geht sogar noch weiter und spricht von Fußgängerstädten – Gemeinden, die
so angelegt sind, dass die Menschen dort keine Autos benötigen, weil sie die
meisten Orte zu Fuß erreichen oder aber öffentliche Verkehrmittel benutzen
können.12
10 Angaben zu Los Angeles aus: Sandra Postel, Last Oasis, aktualisierte Ausgabe (New
York: W. W. Norton & Company, 1997), S. 20; Angaben zu Mexiko-Stadt aus: Joel Simon,
Endangered Mexico (San Francisco: Sierra Club Books, 1997); Chinese Ministry of Water
Resources, Country Report of the People’s Republic of China (Marseilles, Frankreich: World
Water Council, 2003), S. 60f.
11 U.S. Department of Agriculture, Foreign Agricultural Service, Grain: World Markets
and Trade and Oilseeds: World Markets and Trade (Washington, DC: diverse Ausgaben).
12 Richard Register, „Losing the World, One Environmental Victory at a Time – And
a Way to Solve That Problem“, Essay (Oakland, CA: Ecocity Builders, Inc., 31. August
2005); Richard Register, Ecocities: Rebuilding Cities in Balance with Nature: Revised Edition
(Gabriola Island, BC: New Society Publishers, 2006).
238
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Register ist auch der Ansicht, man sollte eine Stadt nicht in Bezug auf ihre
einzelnen Teile als funktionierendes System betrachten, sondern in Bezug auf
das Ganze. Er argumentiert überzeugend, dass Städte den lokalen Ökosystemen nicht übergestülpt werden sollten, sondern in sie eingegliedert.13
Stolz beschreibt er, wie die nördlich von Los Angeles gelegene kalifornische
Stadt San Luis Obispo mit ihren rund 43.000 Einwohnern erfolgreich in das
lokale Ökosystem integriert wurde: „[Sie] verfügt über ein wundervolles Projekt zur Sanierung eines Flüsschens sowie über ein paar Straßen und Passagen,
die direkt durch Gebäude führen, an denen Geschäfte liegen und die direkt
mit der Haupteinkaufsstraße der Stadt verbunden sind. Die Menschen dort
lieben es. Vorher, das heißt bevor eine Straße komplett gesperrt, ein Parkplatz
in einen Park umgewandelt, das Flüsschen wieder belebt und ein leichter Zugang von der Hauptstraße zum „Natur-Korridor“ (dem Flüsschen) geschaffen
worden war, standen 40 % der Läden im Stadtzentrum frei, jetzt kein einziger
mehr. Natürlich mögen die Leute das. Man sitzt in einem Restaurant am Flüsschen […] wo eine frische Brise durch die Bäume streift, in einer Welt ohne
Autolärm und höllischer Auspuffabgase.“14
Für Richard Register sollte sich die Gestaltung der Städte und ihrer Gebäude in die Landschaft vor Ort einfügen und die ökologischen Möglichkeiten vor
Ort voll ausnutzen. So können beispielsweise Gebäude so geplant werden, dass
sie soweit wie möglich durch natürliche Quellen beheizt und gekühlt werden
können. Wenn die Ölpreise steigen, wird sich die Lebensmittelproduktion für
die Städte, besonders im Hinblick auf frisches Obst und Gemüse, auf freie
Grundstücke und auf die Dächer der Häuser ausdehnen. Städte könnten größtenteils mit wiederaufbereitetem Wasser auskommen, das gereinigt und immer
wieder verwendet wird. Das derzeitige System, bei dem das Wasser einfach
heruntergespült wird und dann auch schon vergessen ist, wird nach dem Ende
des Erdölzeitalters für viele Städte, die über zu wenig Wasser verfügen, einfach
zu kostspielig werden.15
In einer Welt, in der Land, Wasser und Energie immer knapper werden,
könnte der Wert jeder dieser Ressourcen sich deutlich erhöhen, sodass sich
die Bedingungen für den Handel zwischen Stadt und Land wieder zugunsten der ländlichen Gegenden verschieben. Seit Beginn der Industriellen Revolution lag der Vorteil stets bei den Städten, weil sie die Kontrolle über die
damals knappsten Ressourcen – das Kapital und die Technologien – hatten.
Wenn nun aber Land und Wasser zu den knappsten Ressourcen werden, dann
könnten diejenigen ländlichen Gegenden, die die Kontrolle darüber haben,
gelegentlich die Oberhand gewinnen. In der mit unserem Plan B angestrebten
neuen Wirtschaft, die auf erneuerbaren Energien basiert, wird der allergröß13 Register, „Losing the World, One Environmental Victory at a Time“, op. cit. Anmerkung 12.
14 Ebenda; Schätzungen zur Bevölkerungszahl aus: U.S. Census Bureau, Population Finder, elektronische Datenbank unter factfinder.census.gov, eingesehen am 16. August 2007.
15 Register, „Losing the World, One Environmental Victory at a Time“, op. cit. Anmerkung 12.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
te Teil dieser Energie, besonders im Bereich der Windenergie und der Energieformen auf Pflanzenbasis, in den ländlichen Gegenden nahe den Städten
erzeugt werden.16
DIE NEUPLANUNG DER STÄDTISCHEN
VERKEHRSSYSTEME
Städtische Verkehrssysteme, die auf einer Kombination aus Bahnlinien, Buslinien, Rad- und Fußwegen basieren, bilden die beste aller Möglichkeiten in Bezug auf Mobilität, preiswerten Transport und eine gesunde Stadtumgebung.
Ein Bahnnetz bietet eine gute Grundlage für das Transportsystem einer
Stadt. Schienen sind geographisch fixiert und bieten den Menschen eine beständige, zuverlässige Transportmöglichkeit, und wenn die Schienensysteme
einmal eingerichtet sind, werden die Knotenpunkte des Systems schnell zu
Orten, an denen sich verstärkt Bürogebäude, Wohnhochhäuser und auch Geschäfte konzentrieren.
Ob es sich um U-Bahn-Netze, oberirdische Stadtbahnnetze oder eine
Kombination aus beidem handelt, hängt von der Größe der Stadt und den
geographischen Gegebenheiten ab. Wenn es um Mobilität geht, entscheiden
sich Megastädte in der Regel für ein U-Bahn-Netz, während für mittelgroße
Städte Stadtbahnnetze oft die günstigste Option sind.
Wie bereits angemerkt sind einige der innovativsten öffentlichen Verkehrssysteme, mit deren Hilfe eine große Anzahl von Menschen dazu gebracht
wurde, von Autos auf Busse umzusteigen, in Curitiba und Bogotá entwickelt
worden. Man versucht nicht nur in sechs anderen Städten in Kolumbien, den
Erfolg des Schnellbussystems TransMilenio in Bogotá zu kopieren, das auf speziellen Expressbuslinien beruht, mit deren Hilfe die Menschen sehr schnell
durch die Stadt geschleust werden, sondern auch in anderen Städten der Welt,
darunter Peking, Mexiko-Stadt, São Paulo, Hanoi, Seoul, Taipeh und Quito.
Und auch in China arbeiten bereits 20 Städte, eine davon ist Peking, an der
Planung eines solchen Schnellbussystems.17
Außerdem planen mehrere Städte in Afrika die Einführung eines Schnellbussystems und sogar Städte in Industrieländern, wie Ottawa, Toronto,
Minnea­polis, Las Vegas und – sehr zur Freude aller – Los Angeles, denken
darüber nach.18
Einige Städte versuchen, der Verstopfung der Straßen durch den Verkehr
und der Luftverschmutzung dadurch Herr zu werden, dass sie Gebühren er16 Weitergehende Ausführungen zur Energiewirtschaft folgen in Kapitel 12.
17 Jay Walljasper, „Unjamming the Future“, Ode, Oktober 2005, S. 36ff.; Bus Rapid
Transit Policy Center, Transport Innovator (Newsletter), Vol. 3, Nr. 4 (Juli/August 2007);
BRT Information Clearinghouse, „Existing BRT Programs“, unter path.berkeley.edu/informationclearinghouse/brt/existing.html, eingesehen am 27. September 2007; Yingling Liu,
„Bus Rapid Transit: A Step Toward Fairness in China’s Urban Transportation“, China Watch
(Washington, DC: Worldwatch Institute, 9. März 2006).
18 Walljasper, op. cit. Anmerkung 17; Bus Rapid Transit Policy Center, op. cit. Anmerkung 17; BRT Information Clearinghouse, op. cit. Anmerkung 17.
240
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
heben, wenn jemand mit dem Auto ins Stadtzentrum fährt. Singapur, das
bei Innovationen im Bereich des städtischen Verkehrs bereits seit Langem
führend ist, erhebt auf allen Straßen, die ins Stadtzentrum führen, Abgaben.
Elektronische Sensoren erfassen jedes Auto und belasten anschließend die
Kreditkarte des Besitzers. Durch dieses System konnte die Zahl der Autos
in Singapur stark gesenkt werden, wobei die Einwohner der Stadt insgesamt
mobiler sind und die Luft in der Stadt sauberer ist als in den meisten anderen
Städten.19
Neben London und Stockholm sind auch drei norwegische Städte – Oslo,
Bergen und Trondheim – dem Beispiel Singapurs gefolgt. In London, wo die
Geschwindigkeit, mit der sich ein Auto innerhalb der Stadt bewegen konnte,
noch vor wenigen Jahren etwa der einer Pferdekutsche aus dem vergangenen
Jahrhundert entsprach, hat man Anfang 2003 begonnen, eine Anti-Stau-Abgabe zu erheben. Nachdem jeder, der zwischen 7 Uhr und 18.30 Uhr mit seinem Fahrzeug ins Stadtzentrum fahren wollte, 5 £ zahlen musste, ist die Zahl
der Fahrzeuge, die sich dort bewegten, praktisch sofort gesunken, wodurch
gleichzeitig der Verkehrsfluss verbessert und die Luftverschmutzung sowie die
Lärmbelästigung gesenkt werden konnten.20
Allein im ersten Jahr nach der Einführung der neuen Abgabe stieg die Zahl
derer, die für die Fahrt ins Stadtzentrum auf Busse umstiegen, um 38 % und
die Zahl der Autos und Mini-Taxen, die zu den Spitzenzeiten täglich ins Stadtzentrum strömen, sank seit Einführung der Abgabe um 36 %, das entspricht
70.000 Fahrzeugen. Gleichzeitig gingen die Verzögerungen im Verkehrsverlauf
um 30 % zurück. Die Zahl der Fahrräder stieg um 50 % und die Durchschnittsgeschwindigkeit der Autos auf den wichtigen Durchgangsstraßen der
Stadt um 21 %.21
Im Juli 2005 wurde die Anti-Stau-Abgabe auf 8 £ erhöht. Und da ein Großteil der Einnahmen aus dieser Abgabe in Maßnahmen zur Nachrüstung und
Ausweitung des Londoner Bussystems fließt, steigen immer mehr Londoner
gern von Autos auf Busse um.22
Im Juli 2007 verkündete Mailand die Einführung einer sogenannten „Umweltverschmutzungsabgabe“ von 10 €, die jeder leisten müsse, der unter der
Woche tagsüber mit dem Autos in das historische Stadtzentrum fahren wolle.
19 Molly O’Meara Sheehan, „Making Better Transportation Choices“, in: Lester R. Brown
et al., State of the World 2001 (New York: W. W. Norton & Company, 2001), S. 116.
20 William D. Eggers, Peter Samuel und Rune Munk, Combating Gridlock: How Pricing
Road Use Can Ease Congestion (New York: Deloitte, November 2003); Tom Miles, „London
Drivers to Pay UK’s First Congestion Tax“, Reuters, 28. Februar 2002; Randy Kennedy,
„The Day the Traffic Disappeared“, New York Times Magazine, 20. April 2003, S. 42ff.;
James Savage, „Congestion Charge Returns to Stockholm“, The Local, 1. August 2007.
21 Transport for London, Central London Congestion Charging: Impacts Monitoring
– Second Annual Report (London: April 2004), S. 2, 39; Transport for London, Central
London Congestion Charging: Impacts Monitoring – Fifth Annual Report (London: Juli 2007),
S. 21, 22, 47.
22 Transport for London, Fifth Annual Report, op. cit. Anmerkung 21, S. 3, 7.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Auch andere Städte, darunter New York, São Paulo, San Francisco und Barcelona ziehen derartige Maßnahmen in Erwägung.23
Bertrand Delanoë, der im Jahr 2001 zum Bürgermeister von Paris gewählt
wurde, sah sich mit einem großen Problem konfrontiert: Paris war eine der
europäischen Städte, in denen nicht nur die Straßen am stärksten von Autos
verstopft wurden, sondern auch die Luftverschmutzung mit am höchsten war.
Aus diesem Grund entschied Delanoë, das Verkehrsaufkommen in der Stadt
müsse bis 2020 um 40 % gesenkt werden. Der erste Schritt auf dem Weg zur
Erreichung dieses Ziels bestand darin, durch verstärkte Investitionen in bessere Anbindungen an das erstklassige öffentliche Verkehrssystem in den weiter
vom Stadtzentrum entfernt liegenden Gebieten dafür zu sorgen, dass jeder Bewohner des Großraums Paris Zugang zu diesem öffentlichen Verkehrssystem
erhält. Im nächsten Schritt wurden auf den wichtigsten Durchgangsstraßen
Schnellspuren für Busse und Radfahrer eingerichtet, wodurch die Zahl der
Spuren, die für Autos übrig blieb, reduziert wurde. Da sich die Busse nun in
der Stadt weitaus schneller vorwärts bewegen konnten, nahm die Zahl derer,
die statt des Autos den Bus nehmen, immer mehr zu.24
Eine dritte Initiative der Pariser Stadtregierung bestand darin, ein Fahr­
radleihsystem einzurichten, dessen 1.450 Verleihstationen, die bis Ende 2007
bereits über 20.600 Fahrräder verfügten, über die ganze Stadt verteilt sind. Der
Mietpreis für die Räder wird per Kreditkarte bezahlt, wobei der Kunde die Wahl
zwischen verschiedenen Preismodellen hat. Diese reichen von Tagespreisen von
1 € über Wochenmietpreise bis hin zu einem Jahrespreis von 29 €. Wenn man
die Erfahrungen der ersten Monate nach Einrichtung des Leihsystems betrachtet, so erfreuen sich diese Fahrräder großer Beliebtheit. Nach Ansicht von Patrick Allin, einem 38-jährigen Pariser und begeisterten Nutzer der Leihräder,
sind diese auch gute Kommunikationshilfen: „Wir sitzen nicht mehr jeder für
sich in seinem Auto – wir teilen etwas. Das hat die Atmosphäre hier ziemlich
verändert. Die Menschen reden mit einander, nicht nur an den Verleihstationen, sondern manchmal sogar an den Ampeln.“25
Serge Schmemann schreibt in seinem Artikel über das Programm in der
New York Times, „alle großen Städte“ könnten „daraus etwas lernen: Dies ist
eine Idee, deren Zeit einfach gekommen war.“ Derzeit liegt Bürgermeister Delanoë bei der Erreichung seines Zieles, bis 2020 das Verkehrsaufkommen um
40 % und die Kohlenstoffemissionen in ähnlichem Maße zu reduzieren, übrigens gut im Zeitplan.“26
23 „Milan to Impose ‘Pollution Charge’ on Cars“, Reuters, 23. Juli 2007; „Congestion
Charging Sweeps The World – A Rash of Cities Round the Globe is Set to Travel the Same
Road as London“, Guardian (London), 15. Februar 2004; Aaron O. Patrick, „Life in the Fas­
ter Lane: How London Car Curbs Inspired U.S. Cities“, Wall Street Journal, 20. Juli 2007.
24 Serge Schmemann, „I Love Paris on a Bus, a Bike, a Train and in Anything but a Car“,
New York Times, 26. Juli 2007; Katrin Bennhold, „A New French Revolution’s Creed: Let
Them Ride Bikes“, New York Times, 16. Juli 2007.
25 Bennhold, op. cit. Anmerkung 24; Alexandra Topping, „Free Wheeling: Paris’s New
Bike System“, Washington Post, 23. September 2007.
26 Schmemann, op. cit. Anmerkung 24; La Fédération de Paris du Parti Socialiste
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
In den USA, die bei der Entwicklung diversifizierter Verkehrssysteme weit
hinter Europa hinterherhinken, breitet sich momentan eine Bewegung über
das ganze Land aus, die sich dafür einsetzt, dass Straßen nicht länger nur auto­
freundlich sind, sondern auch fahrrad- und fußgängerfreundlich werden. In
vielen amerikanischen Gemeinden gibt es weder Fußwege noch Radwege oder
Radspuren, sodass Fußgänger und Radfahrer es sehr schwer haben, sich im
Straßenverkehr sicher zu bewegen, besonders auf viel befahrenen Straßen. Der
Verkehrsplaner der Stadt Charlotte in North Carolina, Norm Steinman, erzählt: „Wir haben hier seit 50 Jahren keine Fußwege mehr gebaut. Die Straßen,
die von Verkehrsplanern in den 60er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahren entworfen
wurden, waren größtenteils auf Autos ausgelegt.“27
Die National Complete Streets Coalition – ein Zusammenschluss aus verschiedenen Bürgerbewegungen, zu dem auch der Natural Resources Defense Council
mit seinen mehreren Millionen Mitgliedern, sowie AARP, eine Organisation
von 38 Mio. älterer Amerikaner, und diverse lokale und landesweite Radfahrgruppen gehören – stellt das bisherige Verkehrskonzept, das ausschließlich auf
Autos ausgerichtet war, nun in Frage. Die „Complete Streets“-Bewegung ist
laut Aussage von Randy Neufeld, dem Koordinator der „Healthy Streets Campaign“ der Chicagoland Bicycle Federation „das Ergebnis eines wahren Wirbelsturms, der durch das Zusammenwirken verschiedener Probleme entstanden
ist“. Dazu gehören unter anderem die Besorgnis wegen der immer stärker zunehmenden Fettleibigkeit, die steigenden Benzinpreise, die dringende Notwendigkeit zur Senkung der Kohlenstoffemissionen, die Luftverschmutzung
und die Einschränkung der Mobilität älterer Menschen. Ältere Menschen, die
in Städten leben, in denen es keine Fußwege gibt, und die nicht mehr Auto
fahren können, sind letztendlich in ihren Wohnungen eingesperrt.28
Die National Complete Streets Coalition unter Führung von Barbara McCann berichtet, dass im Juli 2007 bereits in 52 Städten in 14 Bundesstaaten politische Maßnahmen ergriffen worden waren, um die Straßen für alle
nutzbar zu machen, und es wird erwartet, dass zwei der bevölkerungsreichsten
Bundesstaaten der USA, Kalifornien und Illinois, ebenfalls bald folgen werden. Ein Grund dafür, dass die Bundesstaaten selbst daran interessiert sind,
dass entsprechende Gesetze verabschiedet werden, ist ein wirtschaftlicher: Sie
haben eingesehen, dass es weitaus kostspieliger ist, im Nachhinein Radwege,
Fußwege und ähnliches anzulegen, als sie von Anfang an bei der Planung des
Projekts mit einzubeziehen. Oder in McCanns Worten: Es ist „billiger, es
gleich richtig zu machen“. Das ist wohl auch der Grund, dass, so wird berich(Hrsg.), Ce Que Nous Avons Fait Ensemble (Paris: Büro von Bürgermeister Bertrand Delanoë, 2007), S. 20ff.
27 John Ritter, „Narrowed Roads Gain Acceptance in Colo., Elsewhere“, USA Today,
29. Juli 2007; John Ritter, „‘Complete Streets’ Program Gives More Room for Pedestrians,
Cyclists“, USA Today, 29. Juli 2007.
28 National Complete Streets Coalition, „Complete the Streets: Who We Are“, unter
www.completestreets.org/whoweare.html, eingesehen am 16. August 2007; AARP, „AARP:
Creating a New Health Care Paradigm“, unter www.aarp.org/about_aarp/new_paradigm.
html, eingesehen am 16. August 2007; Ritter, „Narrowed Roads“, op. cit. Anmerkung 27.
243
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
tet, Senator Tom Harkins aus Iowa sehr daran interessiert ist, im US-Kongress
ein „Complete Streets“-Gesetz einzubringen.29
Außerdem sind die Aussichten darauf, den Belastungen zu widerstehen, die
eine Abnahme der Erdölproduktion unweigerlich mit sich bringen wird, für
Länder mit gut durchdachten städtischen Verkehrssystemen und einer ausgereiften Infrastruktur für Radfahrer deutlich besser als für Länder, deren einzige
Option im Personenverkehr das Auto ist. In Städten, die über ein ausgedehntes
Netz von Fuß- und Radwegen verfügen, kann die Zahl der Fahrten, die mit dem
Auto erledigt werden müssen, ohne Weiteres um 10-20 % gesenkt werden.30
Fahrräder sind aus vielerlei Gründen als Verkehrsmittel sehr attraktiv. Sie
verringern die Gefahr von Verkehrsstaus, tragen zur Reduzierung der Luftverschmutzung bei, sind ein Mittel zur Bekämpfung der Fettsucht, tragen zu
einer Steigerung der körperlichen Fitness bei, sondern kein klimaschädigendes
Kohlendioxid ab und haben einen Preis, der sie auch für die vielen Milliarden
Menschen, die sich kein Auto leisten können, erschwinglich macht. Fahrräder
erhöhen auch die Mobilität, während sie gleichzeitig die Gefahr von Staus und
die zu betonierende Fläche an Land verringern. Normalerweise verbrauchen
sechs Fahrräder etwa soviel Platz auf der Straße wie ein Auto. In Bezug auf das
Parken ist der Vorteil noch größer, weil auf der Fläche, die für einen einzigen
Autoparkplatz benötigt wird, 20 Fahrräder Platz finden.31
Doch das Fahrrad ist nicht nur ein sehr flexibles Transportmittel, es bietet
auch die ideale Möglichkeit, ein Gleichgewicht zwischen der Menge der aufgenommenen und der verbrannten Kalorien herzustellen. Eine solche Möglichkeit zur körperlichen Betätigung ist sehr wertvoll, denn regelmäßiger Sport,
wie beispielsweise beim Fahrradfahren zur Arbeit, senkt die Gefahr für HerzKreislauf-Erkrankungen, Osteoporose und Arthritis und stärkt außerdem das
Immunsystem.
Nur wenige Methoden zur Senkung der Kohlenstoffemissionen sind so effektiv wie das Umsteigen von Autos auf Fahrräder bei kurzen Strecken. Ein
Fahrrad ist ein Wunder an technischer Effizienz. Eine Investition von 13 kg
Metall und Gummi lässt die individuelle Mobilität um ein Dreifaches steigen.
Auf meinem Fahrrad kann ich geschätzte 11 km pro gegessener Kartoffel zurücklegen. Im Vergleich dazu ist ein Auto, das mindestens 1 t an energiespendendem Material benötigt, um auch nur eine Person transportieren zu können,
außerordentlich ineffizient.
In China hat sich eindrucksvoll gezeigt, wie sehr das Fahrrad zur Erhöhung
der Mobilität bei Menschen mit geringem Einkommen beitragen kann. 1976
wurden in China 6 Mio. Fahrräder produziert. Nach den Reformen des Jahres
1978, die neben der Entstehung einer Marktwirtschaft einen deutlichen Anstieg der Einkommen zur Folge hatten, stieg die Produktion von Fahrrädern
massiv an und erreichte 2006 einen Stand von fast 70 Mio. pro Jahr. Der en29 Ritter, „Narrowed Roads“, op. cit. Anmerkung 27; Ritter, „‘Complete Streets’ Program“, op. cit. Anmerkung 27.
30 Senkung der Zahl der Autofahrten ist Schätzung des Autors.
31 O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 45.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
orme Anstieg auf 500 Mio. Besitzer von Fahrrädern in China seit 1978 führte
zur massivsten Erhöhung der Mobilität in der Geschichte der Menschheit.
Inzwischen sind die Straßen in den Städten und auf dem Land voll mit Fahrrädern und obwohl die 9 Mio. Autos in China – und die von ihnen verursachten
Staus – große Beachtung finden, haben doch die Fahrräder den größten Anteil
an der persönlichen Mobilität der Chinesen.32
In vielen Städten werden Fahrräder inzwischen zu den verschiedensten
Zwecken eingesetzt. In den Vereinigten Staaten gibt es in fast 75 % der Polizeireviere, die für 50.000 und mehr Menschen zuständig sind, Routinepatrouillen mit dem Fahrrad. Polizisten auf Fahrrädern sind in Städten teilweise deswegen produktiver, weil sie mobiler sind und einen Unfall- oder Tatort schneller
erreichen können als ihre Kollegen in den Polizeiwagen und dabei weniger
Aufsehen erregen. In der Regel tätigen sie 50 % mehr Verhaftungen pro Tag
als Polizisten in Streifenwagen. Und im Hinblick auf die Ausgaben für den
Steuerzahler sei gesagt, dass die Kosten für die Erhaltung eines Fahrrades im
Vergleich zu denen für einen Streifenwagen geradezu lächerlich sind.33
In den großen Städten weltweit sind Fahrradkuriere inzwischen ein alltäglicher Anblick. Innerhalb von Städten liefern sie kleine Sendungen schneller
aus, als es mit dem Auto möglich wäre, und sind dabei weitaus preiswerter.
Mit der Ausweitung des Internethandels nimmt der Bedarf an schnellen, zuverlässigen Kurierdienstleistungen in Städten rasant zu. Für viele Internetmarketingfirmen ist eine schnelle Auslieferung ein entscheidender Faktor bei der
Kundengewinnung, und in einer Stadt wie New York sind Fahrradkuriere die
optimale Lösung. In New York City gibt es geschätzte 300 Fahrradkurierdienste, die um Aufträge im Wert von 700 Mio. $ jährlich konkurrieren.34
Der Schlüssel zur vollständigen Nutzung des Potenzials des Fahrrades liegt
in der Schaffung eines fahrradfreundlichen Verkehrssystems. Dazu gehört die
Bereitstellung von Radwegen sowie gesonderten Fahrradspuren auf den Straßen. Unter den Industrieländern sind Holland, Dänemark und Deutschland
führend bei der Schaffung fahrradfreundlicher Verkehrssysteme.35
32 Angaben zur Fahrradproduktion in China zusammengetragen aus: United Nations,
Yearbook of Industrial Statistics (New York: diverse Jahrgänge) sowie aus: Industrial Commodity Statistics Yearbook (New York: diverse Jahrgänge); „World Players in the Bicycle Market“,
Tabelle in: John Crenshaw, Bicycle Retailer and Industry News, E-Mail an Janet Larsen, Earth
Policy Institute, 8. Oktober 2007; Angaben zur Zahl der Fahrradbesitzer aus: Song Mo und
Wen Chihua, „Turning Full Cycle“, China Daily, 28. September 2006; Angaben zur Zahl
der Autos in China aus: Ward’s Automotive Group, Ward’s World Motor Vehicle Data 2006
(Southfield, MI: 2006), S. 16.
33 Angaben zu den Polizeirevieren mit Fahrradpatrouillen berechnet auf Grundlage von
Daten aus: from Matthew Hickman und Brian A. Reaves, Local Police Departments, 2003
(Washington, DC: U.S. Department of Justice, Bureau of Justice Statistics, Mai 2006), S.
3, 13; Angaben zu Verhaftungsraten von einem Mitglied der Polizei von Washington, DC,
Gespräch mit dem Autor.
34 Glenn Collins, „Old Form of Delivery Thrives in New World of E-Commerce“, New
York Times, 24. Dezember 1999.
35 O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 47f.
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Die Niederlande, die unter den Industrieländern die unangefochtene Führung bei der Förderung der Nutzung von Fahrrädern innehaben, haben ihre
Vision von der Rolle des Fahrrades in ein Fahrradgesamtkonzept integriert.
Neben der Schaffung von Fahrradspuren und Radwegen in allen Städten des
Landes gewährt dieses System den Radfahrern auch häufig Vorteile gegenüber
den Autofahrern, wenn es um die Vorfahrt und um die Ampelschaltungen
geht. An einigen Ampeln können die Radfahrer bereits früher losfahren als die
Autofahrer, die in derselben Richtung unterwegs sind. In den Niederlanden
werden etwa 30 % aller Fahrten innerhalb von Städten mit dem Fahrrad erledigt – im Vergleich zu nur 1 % in den USA.36
In den Niederlanden ist eine Nichtregierungsorganisation namens Interface for Cycling Expertice (I-ce) gegründet worden, um die Erfahrungen der
Niederlande mit der Schaffung eines modernen Verkehrssystems, in dem
Fahrräder eine wichtige Rolle spielen, an andere weiterzugeben. I-ce arbeitet
mit Gruppen in Brasilien, Kolumbien, Ghana, Indien, Kenia, Südafrika, Sri
Lanka, Tansania und Uganda zusammen, um dort die Nutzung von Fahrrädern zu fördern. Roelof Wittink, der Direktor von I-ce, sagt: „Wenn man die
Pläne nur auf Autos auslegt, dann fühlen sich die Autofahrer als Könige der
Straße. Das verstärkt noch die Einstellung, dass Fahrradfahren rückständig ist
und Fahrräder nur von armen Menschen benutzt werden. Doch wenn man
die Fahrräder gleich mit in die Planung einbezieht, beeinflusst das auch die
Einstellung der Menschen.“37
Sowohl die Niederlande als auch Japan haben organisierte Bemühungen
unternommen, Fahrräder und Schienenpendlerdienste miteinander zu verbinden, indem man in der Nähe von Bahnstationen Abstellmöglichkeiten für
Fahrräder geschaffen hat, sodass Radfahrer bequem zu ihren Pendlerzügen
gelangen und dort umsteigen können. In Japan werden inzwischen so viele
Fahrräder für den Weg zu den Pendlerzügen benutzt, dass einige Bahnhöfe
jetzt in vertikale Abstellmöglichkeiten für Fahrräder mit mehreren Ebenen
investiert haben, ähnlich wie es sie oft für Autos gibt.38
Die Kombination aus Schienentransport und Fahrrad, und besonders ihre
Integration in ein einziges umfassendes Verkehrssystem, macht das Leben in
einer Stadt sehr viel lebenswerter als ein System, das praktisch ausschließlich
auf Autos ausgerichtet ist. Lärm, Schmutz, Staus und Frustration, all das wird
vermindert – und sowohl wir als auch unsere Welt sind gesünder.
36 Ebenda; Barbara McCann, “Complete the Streets!” Planning Magazine: Special
Transportation Issue, Mai 2005.
37 Walljasper, op. cit. Anmerkung 17; Interface for Cycling Expertise (I-ce), Locomotives: Annual Report 2006 (Utrecht, The Netherlands: Dezember 2006), S. 3f.; I-ce, „Locomotives“, unter www.cycling.nl/frameset.htm, eingesehen am 21. August 2007.
38 O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 47f.; Angaben zu Japan entstammen persönlichen Beobachtungen des Autors.
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DIE SENKUNG DES WASSERVERBRAUCHS IN STÄDTEN
Die Methode, bei der Wasser nur einmal verwendet wurde, um menschliche
Abfälle und Industrieabfälle zu beseitigen, ist längst veraltet. Erstens gibt es
inzwischen bessere Technologien in diesem Bereich und zweitens wird bei der
Anwendung dieser Methode das Problem der Wasserknappheit vollkommen
vernachlässigt. Wasser wird in die Stadt geleitet, dort durch menschliche Abfälle und Industrieabfälle verunreinigt und ist beim Verlassen der Stadt voll von
gefährlichen Giftstoffen. Wenn toxische Industrieabfälle in Flüsse und Seen
oder in Brunnen gelangen, können sie auch bis zu den Grundwasserleitern vordringen, wo sie dafür sorgen, dass das Wasser – sowohl das Oberflächenwasser
als auch das unterirdische Wasser – nicht mehr als Trinkwasser geeignet ist.
Das derzeitige technische Konzept zur Entsorgung menschlicher Abfälle
besteht darin, riesige Mengen Wasser dafür zu verschwenden, diese Abfälle
wegzuspülen, vorzugsweise in ein Abwassersystem, in dem sie, bevor sie in
einen der Flüsse geleitet werden, manchmal gefiltert werden, manchmal aber
auch nicht. Bei diesem System des „Runterspülens und Vergessens“ werden
die Nährstoffe, die ursprünglich einmal aus dem Boden kamen, einfach in
das nächstgelegene Gewässer geleitet. Auf diese Weise gehen sie nicht nur der
Landwirtschaft verloren, sie tragen in dem jeweiligen Gewässer auch zu einer
massiven Überdüngung bei, durch die das Leben in vielen Flüssen bereits abgetötet wurde und etwa 200 sogenannte „tote Zonen“ in den Küstenregionen
der Weltmeere entstanden sind. Dieses überholte System ist teuer, verbraucht
viel Wasser, es unterbricht den Nährstoffkreislauf und kann im großen Maßstab zur Verbreitung von Krankheiten und damit zu zahlreichen Todesfällen
beitragen.39
Sunita Narain vom Center for Science and Environment in Indien legt überzeugend dar, dass ein Entsorgungssystem auf Wasserbasis mit Abwasserreinigungsanlagen für Indien weder erschwinglich noch ökologisch erstrebenswert
ist. Sie sagt, dass eine indische Familie, die aus fünf Personen besteht, 250 l
Exkremente pro Jahr produziert und bei Benutzung einer normalen, mit Wasser betriebenen Toilette 150.000 l Wasser verunreinigen würde, nur um diese
hinunterzuspülen.40
So, wie es jetzt ist, ist das Abwassersystem in Indien im Grunde ein System
zur Verteilung von Krankheitserregern. Dieses System nimmt kleine Mengen
verschmutzten Materials und macht damit riesige Mengen an Wasser für die
Nutzung durch den Menschen unbrauchbar, wobei es in der Regel einfach in
nahe gelegene Flüsse und Bäche geleitet wird. Durch dieses System, so Narain,
„sterben sowohl unsere Flüsse als auch unsere Kinder“. Wie viele andere Regierungen in Entwicklungsländern so jagt auch die indische Regierung dem
unerreichbaren Ziel eines Entsorgungssystems auf Wasserbasis und Abwasser39 Sunita Narain, „The Flush Toilet is Ecologically Mindless“, Down to Earth, 28. Februar 2002, S. 28ff.; Angaben zur Anzahl sogenannter „toter Zonen“ aus: U.N. Environment Programme, „Further Rise in Number of Marine ‘Dead Zones’“, Pressemitteilung
(Nairobi: 19. Oktober 2006).
40 Narain, op. cit. Anmerkung 39.
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reinigungsanlagen für alle hinterher und ist dabei unfähig, die riesige Kluft
zwischen den benötigten Dienstleistungen und denen, die tatsächlich bereitgestellt werden können, zu überbrücken. Gleichzeitig will sie aber auch nicht
zugeben, dass die angestrebte Option wirtschaftlich nicht realisierbar ist.41
Die Verbreitung von Krankheitserregern ist ein großes Problem für die
allgemeine Gesundheit. Weltweit sterben jährlich etwa 2 Mio. Kinder infolge schlechter sanitärer Bedingungen und mangelnder Hygiene – das ist ein
Drittel von dem, was Hunger und Unterernährung jedes Jahr an Todesopfern
fordern.42
Glücklicherweise gibt es eine kostengünstige Alternative: Komposttoiletten.
Dabei handelt es sich um eine einfache, geruchsfreie Toilette, die kein Wasser
benötigt und an einen Kompostierbehälter angeschlossen ist. Auch Tischabfälle können mitkompostiert werden. Die menschlichen Fäkalien werden durch
Trockenkompostierung in bodenartigen Humus umgewandelt, der praktisch
geruchlos ist und kaum 10 % des ursprünglichen Volumens ausmacht. Diese
Kompostieranlagen müssen je nach Größe und Bauweise etwa einmal im Jahr
geleert werden. Der Humus wird regelmäßig von entsprechenden Verkäufern
abgeholt, die ihn als Bodenzusatz verkaufen können, wodurch gesichert ist,
dass die Nährstoffe dem Boden wieder zugeführt werden und der Bedarf an
Düngemitteln, die erst unter hohem Einsatz von Energie hergestellt werden
müssten, sinkt.43
Dank dieser Technologie kann der Wasserverbrauch in Privathaushalten gesenkt werden, wodurch die Wasserkosten ebenso sinken wie die Menge an Ener­
gie, die zur Gewinnung und Reinigung des Wassers benötigt wird. Zusätzlich
kann, wenn die Tischabfälle mit in das System integriert werden, das Müllaufkommen gesenkt werden, das Problem der Abwasserentsorgung wird gelöst und
der Nährstoffzyklus wiederhergestellt. Empfehlungen für verschiedene Modelle
von Trockentoiletten finden sich auf den Listen der amerikanischen Environment Protection Agency. Erstmals in Schweden eingesetzt funktionieren diese
Toiletten an den sehr unterschiedlichen Orten, an denen sie heute bereits zum
Einsatz kommen – darunter in Wohnhäusern in Schweden, in Privathaushalten
in den USA und in ganzen Dörfern in China – ausgesprochen gut.44
Vor dem Hintergrund zunehmender Wasserknappheit nimmt das Interesse
an der ökologischen Abwasser- und Abfallentsorgung, die in Anlehnung an
den englischen Ausdruck „Ecosan“ genannt wird, massiv zu. Seit 2005 gab es
41 Ebenda.
42 Weltgesundheitsorganisation, World Health Report 2007 (Genf: 2007), S. 4; U.N.
Food and Agriculture Organization (FAO), The State of Food Insecurity in the World 2005
(Rom: 2005).
43 U.S. Environmental Protection Agency (EPA), „Water Efficiency Technology
Factsheet – Composting Toilets“, Datenblatt (Washington, DC: September 1999); Jack
Kieffer, Appalachia – Science in the Public Interest, Humanure: Preparation of Compost from
the Toilet for Use in the Garden (Mount Vernon, KY: ASPI Publications, 1998).
44 EPA, op. cit. Anmerkung 43; EPA, „Wastewater Virtual Tradeshow Technologies“, unter www.epa.gov/region1/assistance/ceitts/wastewater/techs.html, aktualisiert am
10. September 2007.
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bereits in verschiedenen Ländern, darunter der Iran, Südafrika, Syrien, Mexiko
und China, internationale Konferenzen zu diesem Thema. Die Ecosan-Bewegung, die von der staatlichen schwedischen Behörde für internationale Entwicklung (SIDA) angeführt wird, kann inzwischen auf erfolgreiche Projekte in
mindestens einem Dutzend Ländern verweisen, und auch wenn Ecosan sich
noch nicht bei der Masse der Menschen durchgesetzt hat, ist es doch auf dem
besten Wege dorthin.45
Die erste größere Gemeinde, in der jedes Haus mit Trockenkomposttoiletten ausgestattet wird, liegt am Rande von Dongsheng in Nei Monggol.
Der Bau der Stadt, in der einmal 7.000 Menschen leben sollen, soll bis Ende
2007 abgeschlossen sein. In dem dort verwendeten System wird der Urin, der
80 % aller Nährstoffe enthält, die den menschlichen Körper wieder verlassen,
in einen separaten Behälter geleitet, wo er gesammelt und anschließend direkt
wieder der Verwendung als Düngemittelzusatz in der Landwirtschaft zugeführt wird. Die restlichen Ausscheidungen sowie die Küchenabfälle werden
zu nährstoffreichem Humus kompostiert, von Erregern befreit, und anschließend als organischer Dünger verwendet. Für viele der 2,6 Mrd. Menschen, die
nicht über sanitäre Anlagen verfügen, könnten Komposttoiletten die Lösung
sein.46
Mit den 100.000 Trockenkomposttoiletten mit separater Sammlung des
Urins, die in China derzeit bereits in Benutzung sind, hat sich das Land zur
führenden Nation in diesem Bereich entwickelt. Doch auch in anderen Ländern, darunter Indien, Uganda, Südafrika, Mexiko, Bolivien und sieben Länder
in Westafrika, sind diese Toiletten bereits mindestens in der Testphase. Durch
eine solche Abtrennung der Toilette vom Wassersystem des Hauses wird das
Recycling des im Haushalt benutzten Wassers deutlich vereinfacht.47
In den Städten besteht die effizienteste Einzelmaßnahme zur Erhöhung der
Wassereffizienz in der Einführung eines umfassenden Wasseraufbereitungsund -recyclingsystems, bei dem das Wasser immer wieder verwendet werden
kann. Bei einem solchen System geht bei jedem Zyklus nur ein kleiner Teil des
Wassers durch Verdunstung verloren. Mit den heute verfügbaren Technologien
45 EcoSanRes (ESR) und Stockholm Environment Institute (SEI), EcoSanRes Phase 2
Project Document: 2006-2010 (Stockholm: 22. Februar 2006), S. 14; ESR, „Conferences“,
unter www.ecosanres.org/news-publications.htm, aktualisiert am 21. September 2007;
ESR, „Ecological Sanitation Research“, unter www.ecosanres.org, aktualisiert am 21. September 2007.
46 ESR, „China-Sweden Erdos Eco-Town Project, Dong Sheng, Inner Mon golia, China“, unter www.ecosanres.org/asia.htm, aktualisiert am 21. September 2007; ESR, „Sweden-China Erdos Eco-Town Project, Dongsheng, Inner Mongolia“, Datenblatt 11 (Stockholm: Mai 2007); Angaben zu Nährstoffgehalt im Urin aus: Innovative Practices to Enhance
Implementation of WSSD Targets-Swedish Initiative for Ecological Sanitation, Water and Sanitation, Background Paper No. 20, Präsentation auf der 8. Außerordentlichen Tagung des
Governing Council/ Global Ministerial Environment Forum, Jeju, Südkorea, 29.-31. März
2004; Angaben zur Zahl der Menschen ohne Zugang zu sanitären Anlagen aus: U.N. Development Programme, Human Development Report 2006 (New York: 2006), S. 33.
47 Angaben zur Zahl der Komposttoiletten aus: Innovative Practices, op. cit. Anmerkung 46; ESR und SEI, op. cit. Anmerkung 45.
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ist es durchaus möglich, das in den Städten verbrauchte Wasser umfassend zu
recyceln und sie damit als Verbraucher größtenteils auszuschalten, wodurch die
knappen Wasservorräte deutlich entlastet würden.
Einige Städte, die sich bereits mit dem Problem sinkender Wasservorräte und steigender Wasserkosten konfrontiert sehen, beginnen inzwischen, ihr
Wasser zu recyceln. Singapur beispielsweise kauft sein Wasser zu immer höheren Preisen in Malaysia ein, doch jetzt beginnt man dort, das Wasser zu recyceln und so die Menge an importiertem Wasser zu senken. Für einige Städte
könnte das Wasserrecycling zur notwendigen Bedingung für das Überleben
werden.48
Einzelne Industriezweige, die vor ähnlichen Wasserproblemen stehen wie
die Städte, haben ebenfalls begonnen, Alternativen zur Entsorgung der Industrieabfälle mithilfe von Wasser zu suchen. Einige Firmen trennen zur Wasseraufbereitung die abfließenden Ströme und behandeln jeden mit den entsprechenden Chemikalien und reinigen ihn mithilfe entsprechender Membranfilter, um so das Wasser wieder nutzbar zu machen. Peter Gleick, Hauptautor und
Herausgeber des halbjährlichen Berichts The World’s Water, schreibt: „Einige
Industriezweige, wie Papier- und Zellstoffindustrie, industrielle Reinigung und
Metallveredlung, haben begonnen, Systeme mit geschlossenen Kreisläufen zu
entwickeln, in denen das gesamte Abwasser intern wiederverwendet wird und
nur kleine Mengen frischen Wassers benötigt werden, um den durch Verdunstung oder durch ein Einfließen in das Produkt verursachten Wasserverlust auszugleichen.“ In der Industrie ist man schneller als in den Städten, doch die
in der Industrie entwickelten Technologien können auch beim Recycling des
Wassers in den Städten eingesetzt werden.49
Im Bereich der Privathaushalte kann der Wasserverbrauch auch dadurch
gesenkt werden, dass man Duschköpfe, Toilettenspülungen, Geschirrspüler
und Waschmaschinen benutzt, die weniger Wasser verbrauchen als bisherige
Modelle. Einige Länder haben bereits höhere Standards für Wassereffizienz
eingeführt und analog zur Energieeffizienz gibt es Siegel auf Haushaltsgeräten,
die anzeigen, welche Geräte weniger Wasser verbrauchen. Wenn die Wasserkosten steigen, und das werden sie ganz sicher, werden Investitionen in Komposttoiletten und Haushaltsgeräte mit geringerem Wasserverbrauch für einzelne Hausbesitzer zunehmend attraktiver werden.
Mehr als die Hälfte des in den Häusern verbrauchten Wassers entfällt auf
nur zwei Vorrichtungen – Toiletten und Duschen. Während traditionelle
Spültoiletten pro Spülvorgang 22,7 l Wasser verbrauchen, liegt der gesetzlich
festgelegte Maximalwert für neue Toiletten in den USA inzwischen bei 6 l.
Eine in Australien hergestellte Toilette mit zwei Spülknöpfen verbraucht zum
Herunterspülen flüssiger Exkremente nur etwa 3,8 l und 6 l für feste Exkre48 Tony Sitathan, „Bridge Over Troubled Waters“, Asia Times, 23. August 2002;
„Singapore Opens Fourth Recycling Plant to Turn Sewage into Water“, Associated Press,
12. Juli 2005.
49 Peter H. Gleick, The World’s Water 2004-2005: The Biennial Report on Freshwater
Resources (Washington, DC: Island Press, 2004), S. 149.
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mente. Wenn man statt eines Duschkopfs, der fast 19 l pro Minute verbraucht,
einen mit einem Verbrauch von nur knapp 9,5 l benutzt, so sinkt dadurch der
Wasserverbrauch um fast die Hälfte. Und bei Waschmaschinen verbraucht ein
in Europa entwickeltes Frontlader-Modell 40 % weniger Wasser als die in den
USA traditionell verwendeten Toplader.50
Das derzeitige System zur Abfallentsorgung auf Wasserbasis ist einfach nicht
mehr tragbar. Es gibt einfach zu viele Haushalte, Fabriken und Mastanlagen
auf unserem überfüllten Planeten, als dass man weiterhin versuchen könnte,
die Abfälle einfach wegzuspülen. Es dennoch zu tun, wäre vom ökologischen
Standpunkt aus betrachtet dumm und außerdem überholt – eine Herangehensweise, die einem Zeitalter entstammt, als es noch weitaus weniger Menschen und viel weniger Industrie gab.
GÄRTNERN IN DER STADT
Als ich im Herbst 1974 in einem Vorort von Stockholm an einer Konferenz
teilnahm, kam ich bei einem Spaziergang an einem Gemeinschaftsgarten in
der Nähe eines Wohnhochhauses vorbei. Es war ein idyllischer Spätsommernachmittag und viele Menschen arbeiteten in ihrem Garten, der sich ganz in
der Nähe ihrer Wohnung befand. Mehr als 30 Jahre später kann ich mich immer noch genau an die Situation erinnern und an die Aura der Zufriedenheit,
die diese Menschen bei der Arbeit in ihrem Garten umgab. Sie waren völlig in
ihre Arbeit versunken und sie pflanzten nicht nur Gemüse an, sondern zum
Teil auch Blumen. Ich erinnere mich noch, wie ich damals dachte: „Das ist ein
Beweis dafür, dass dies eine zivilisierte Gesellschaft ist.“
In einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) vom Juni 2005 hieß es, dass die Menge der in urbanen
und peri-urbanen Gärten – Gärten direkt in den Städten oder in unmittelbarer
Nähe der Städte – produzierten Lebensmittel mittlerweile ausreichen, um etwa
700 Mio. Stadtbewohner weltweit zu versorgen. Bei diesen Gärten handelt
es sich meist um kleine Anbauflächen auf unbebauten Parzellen, Höfen und
sogar Dächern.51
In und um die tansanische Hauptstadt Daressalam gibt es etwa 650 ha
Land, auf denen Gemüse angebaut wird. Dadurch wird nicht nur die Stadt
mit Frischwaren versorgt, das Land bietet auch 4.000 Bauern, die das ganze
Jahr über ihre kleinen Parzellen intensiv bearbeiten, eine Lebensgrundlage. Am
äußersten Ende des Kontinents, in Dakar im Senegal, produzieren die Stadtbewohner im Rahmen eines Projekts der FAO jährlich bis zu 30 kg Tomaten
pro Quadratmeter durch die dauerhafte Bepflanzung von Gärten auf Hausdächern.52
In Hanoi stammen 80 % des frischen Gemüses von Bauern in der Stadt
und der direkten Umgebung, die auch 50 % des in der Stadt verbrauchten
50 Ebenda.
51 „Farming in Urban Areas Can Boost Food Security“, FAO Newsroom, 3. Juni 2005.
52 Ebenda.
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Schweinefleischs und Geflügels sowie 40 % des Bedarfs an Eiern produzieren.
Die Hälfte des Süßwasserfisches, der in der Stadt verzehrt wird, wird durch
aufstrebende Fischfarmen in der Stadt produziert. Die städtischen Bauern recyceln außerdem die menschlichen und tierischen Abfälle auf sinnvolle Weise,
indem sie damit ihre Pflanzen und ihre Fischteiche düngen.53
Fischfarmer in der Nähe von Kalkutta in Indien bewirtschaften Fischteiche, die mit Abwasser betrieben werden und auf einer Fläche von fast 4.000
ha jährlich 18.000 t Fisch produzieren. Das Abwasser der Stadt wird in Teichen
aufgefangen, wo der organische Abfall durch Bakterien zersetzt wird. Dadurch
wird dann das Wachstum der Algen beschleunigt, die die Nahrungsgrundlage
für die verschiedenen Arten der dort lebenden Fische bilden. Mithilfe dieses
Systems wird die Stadt regelmäßig mit Fisch versorgt und die Qualität des
Fisches ist deutlich höher als die anderer Fische, die in Kalkutta auf den Markt
kommen.54
In der Zeitschrift Urban Agriculture wird berichtet, dass in Shanghai rund
um die Stadt tatsächlich eine Nährstoffrecyclingzone eingerichtet wurde. Die
Stadtregierung verwaltet 300.000 ha Land, das zum Recycling der Exkremente
benutzt wird. Die Hälfte des in Shanghai verzehrten Schweinefleisches und
Geflügels, 60 % des Gemüses und 90 % des Bedarfs an Milch und Eiern wurden entweder im Stadtgebiet oder im unmittelbaren Umland produziert.55
In Caracas in Venezuela sind im Rahmen eines von der Regierung finanzierten und von der FAO unterstützten Projekts in den Barrios56 der Stadt
8.000 Minigärten von jeweils 1 m2 Größe geschaffen worden, wobei viele dieser
Gärten nur wenige Schritte von den Küchen der Familien entfernt sind. Sobald
eine Saat reif ist, wird sie geerntet und es wird sofort neu angepflanzt. Bei dieser
ständigen Bebauung kann jeder Quadratmeter 330 Köpfe Salat, 18 kg Tomaten
oder 16 kg Kohl pro Jahr hervorbringen. Das Ziel besteht in der Schaffung
von 100.000 solcher Minigärten in den städtischen Gebieten Venezuelas, sodass landesweit 1.000 ha Gartenfläche entstehen, die mithilfe des städtischen
Komposts gedüngt wird.57
53 Jac Smit, „Urban Agriculture’s Contribution to Sustainable Urbanisation“, Urban
Agriculture, August 2002, S. 13; Hubert de Bon, „Dry and Aquatic Peri-urban and Urban
Horticulture in Hanoi, Vietnam“, in: René van Veenhuizen (Hrsg.), Cities Farming for the
Future ­– Urban Agriculture for Green and Productive Cities (Philippinen: ETC-Urban Agriculture, 2006), S. 338f.
54 Smit, op. cit. Anmerkung 53, S. 13; Angaben zur Gesamtfläche der Teiche aus: Nitai
Kundu et al., „Planning for Aquatic Production in East Kolkata Wetlands“, in: van Veenhuizen, op. cit. Anmerkung 53, S. 408f.; Angaben über die produzierte Fischmenge aus:
Stuart Bunting et al., „Urban Aquatic Production“, in: van Veenhuizen, op. cit. Anmerkung
53, S. 386.
55 Smit, op. cit. Anmerkung 53, S. 12.
56 Anm. d. Übers.: im allgemeinen Sprachgebrauch die Bezeichnung für Stadtbezirke,
in Lateinamerika im engeren Sinne die riesigen Substädte großer Metropolen, die meist von
indigener und karibischer schwarzer Bevölkerung bewohnt sind.
57 „Gardening for the Poor“, FAO Newsroom, 2004; P. Bradley und C. Marulanda, „A
Study on Microgardens That Help Reduce Global Poverty and Hunger“, Acta Horticulturae
(ISHS), Vol. 742 (2007), S. 115ff.
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In europäischen Städten haben Gärten innerhalb der Stadt eine lange Tradition. Wenn Besucher sich im Landeanflug auf Paris befinden, können sie aus
dem Flugzeug die vielen Gartenanlagen am Stadtrand sehen. Und in einem
Bericht der Community Food Security Coalition heißt es, 14 % der 8 Mio. Einwohner von London pflanzten zumindest einen Teil ihrer Lebensmittel selbst
an, während die entsprechende Zahl für Vancouver, die größte Stadt an der
kanadischen Westküste, sogar bei beeindruckenden 44 % liegt.58
In Philadelphia in den USA hat man Leute, die einen Stadtgarten bewirtschaften, gefragt, warum sie das tun. Etwa 20 % antworteten, sie täten es zur
Entspannung, 19 % meinten, es täte ihrer Seele gut und 17 % gaben an, es
fördere ihre körperliche Gesundheit. Weitere 14 % sagten, sie täten es wegen
der gesünderen, qualitativ hochwertigen Frischwaren, die ein Garten bietet,
und andere meinten, es sei hauptsächlich wegen der geringeren Kosten und der
Bequemlichkeit im Hinblick auf den Zugang zu frischen Lebensmitteln.59
In einigen Ländern, wie beispielsweise den Vereinigten Staaten, gibt es ein
riesiges ungenutztes Potenzial für den Gartenbau in Städten. Laut einer Studie
gibt es in Chicago 70.000 freie Parzellen, in Philadelphia 31.000 und landesweit liegt die Zahl der freien Parzellen in Städten im Hunderttausender-Bereich. In der Untersuchung in Urban Agriculture wird zusammengefasst, warum der städtische Gartenbau so erstrebenswert ist. Es hat „einen regenerativen
Effekt […], wenn sich freie Parzellen von unkrautüberwucherten und mit
Müll übersäten gefährlichen Sammelplätzen, also von echten Schandflecken,
in üppige, schöne und sichere Gärten verwandeln, die die Menschen nicht nur
ernähren, sondern auch ihren Seelen gut tun.“60
Es besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen dem Wachstum im
Bereich des städtischen Gärtnerns und der Entstehung von Märkten, auf denen Bauern aus der Umgebung ihr frisches Obst und Gemüse, ihr Fleisch, ihre
Eier, ihre Milch und den von ihnen hergestellten Käse direkt in den Städten
anbieten. Dank der Tatsache, dass immer mehr Menschen qualitativ hochwertige Frischwaren kaufen und gleichzeitig die Bauern aus der Umgebung
unterstützen wollen, ist die Zahl solcher Bauernmärkte in den USA zwischen
1994 und Ende 2007 von 1.755 auf fast 5.000 angewachsen. Dieser Trend
zum vermehrten Verzehr vor Ort produzierter Lebensmittel schwappt inzwischen auch schon auf die Restaurants über, die in ihren Speisekarten zum Teil
extra Gerichte aus Lebensmitteln aus der Region anbieten, und auf eine kleine, aber stetig wachsende Zahl von Supermärkten, die verstärkt Lebensmittel
verkaufen, die in der unmittelbaren Umgebung produziert wurden. Sowohl
diese Restaurants als auch die Supermärkte können hierbei ihre Verträge mit
58 Katherine H. Brown und Anne Carter, Urban Agriculture and Community Food Security in the United States: Farming from the City Center to the Urban Fringe (Venice, CA:
Community Food Security Coalition, Oktober 2003), S. 10; U.N. Population Division,
World Urbanization Prospects, op. cit. Anmerkung 3.
59 Brown und Carter, op. cit. Anmerkung 57, S. 7.
60 Ebenda.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
den Bauern aus der Umgebung über die Belieferung mit festen Mengen von
jahreszeittypischen Lebensmitteln direkt abschließen.61
Da ein zukünftiger Preisanstieg bei Erdöl unvermeidbar ist, werden die
wirtschaftlichen Vorteile einer Ausweitung der städtischen Landwirtschaft und
einer verstärkten Verwendung vor Ort produzierter Waren immer offensichtlicher werden. Neben der Versorgung mit Frischwaren wird dies dazu beitragen,
dass Millionen von Menschen die sozialen Vorteile erkennen und das mit dem
Gärtnern in Städten und mit dem Verzehr von vor Ort produzierten Lebensmitteln verbundene seelische Wohlbefinden zu schätzen lernen.
DIE UMWANDLUNG VON SLUMS IN VORORTE
Laut Vorhersagen soll die Weltbevölkerung zwischen dem Jahr 2000 und dem
Jahr 2050 um etwa 3 Mrd. Menschen anwachsen. Allerdings soll es in den Industrieländern sowie den ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer kaum
nennenswerte Bevölkerungszuwächse geben, was bedeutet, dass fast der gesamte prognostizierte Bevölkerungszuwachs sich in den Städten der Entwicklungsländer konzentrieren wird, der Großteil davon in illegalen Siedlungen.62
Diese illegalen Siedlungen – ob es nun die Favelas in Brasilien, die Barriadas in Peru oder die Gecekondus in der Türkei sind – sind meist Wohngebiete
einer Stadt, in denen die Ärmsten der Armen leben, die über keinerlei Landbesitz verfügen. Sie „besetzen“ einfach freies Land, egal, ob es sich dabei um
privates oder öffentliches Gelände handelt.63
Charakteristisch für diese Siedlungen sind die absolut inadäquaten Wohnbedingungen und fehlender Zugang zu kommunalen Dienstleistungen. Hari
Srinivas, der Koordinator des Global Development Research Centers, schreibt,
die Menschen, die vom Land in die Stadt kommen, bedienten sich der „drastischen Option, illegal ein freies Stück Land zu okkupieren und sich dort eine
rudimentäre Unterkunft zu bauen“, ganz einfach deshalb, weil es die einzige
Option ist, die sich ihnen bietet. Die Regierungsbehörden reagieren oft wenn
nicht mit Gleichgültigkeit, so doch mit Antipathie, da sie sie als Eindringlinge
und als Plage betrachten. Einige sehen die illegalen Siedlungen auch als soziales
„Übel“, das es auszurotten gilt.64
Eine der besten Möglichkeiten, die Migration vom Land in die Stadt in
den Griff zu bekommen, besteht darin, die Lebensbedingungen auf dem Land
zu verbessern. Das schließt nicht nur grundlegende soziale Dienstleistungen
ein, wie die in Kapitel 7 beschriebene Gewährleistung einer grundlegenden
61 U.S. Department of Agriculture, Agricultural Monitoring Service, „Farmers Market
Growth“, unter www.ams.usda.gov/farmersmarkets/FarmersMarketGrowth.htm, einge­
sehen am 17. August 2007; Zahl für 2007 basiert auf Angaben zum Wachstum für 2006.
62 U.N. Population Division, World Population Prospects, op. cit. Anmerkung 3; U.N.
Population Division, World Urbanization Prospects, op. cit. Anmerkung 3, S. 1ff.
63 Hari Srinivas, „Defining Squatter Settlements“, Website des Global Development
Research Center unter www.gdrc.org/uem/define-squatter.html, eingesehen am 9. August 2005.
64 Ebenda.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Gesundheitsfürsorge und die Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten für die
Kinder, sondern auch Maßnahmen zur Förderung industrieller Investitionen,
nicht nur in großen Städten wie Mexiko-Stadt oder Bangkok, sondern auch
in kleineren Städten im ganzen Land. Durch derartige Maßnahmen könnte
die Zahl derer, die vom Land in die Stadt strömen, auf ein erträgliches Maß
reduziert werden.
Die Entwicklung der Städte in den Entwicklungsländern wird oft von der
ungeplanten Art der illegalen Siedlungen beeinflusst. Dadurch, dass sich solche
Siedlungen praktisch überall bilden können – an steilen Abhängen, in Flussauen und anderen gefährdeten Gebieten – ist es schwierig, hier grundlegende
Dienstleistungen wie Verkehrsanbindungen oder Anbindung an Wasserversorgung und Abwassersystem bereitzustellen. Aus diesem Grund stellt Curitiba,
das in Sachen Stadtentwicklung absolut innovativ ist, extra bestimmte Landstücke für solche Siedlungen bereit, da so der Prozess der Bildung solcher Siedlungen zumindest soweit strukturiert werden kann, dass er mit dem offiziellen
Stadtentwicklungsplan im Einklang steht.65
Zu den einfachsten Dienstleistungen, die man in einer illegalen Siedlung
anbieten kann, gehören kommunale Komposttoiletten, die in regelmäßigen
Abständen installiert werden, und Wasserhähne, die in der gesamten Siedlung
sauberes Trinkwasser liefern. Beides zusammen kann einen großen Beitrag zur
Kontrolle der Weiterverbreitung von Krankheiten in überbevölkerten Siedlungen leisten, und regelmäßige Busverbindungen bieten Arbeitern, die in
diesen Siedlungen leben, die Möglichkeit, zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen.
Wenn der Ansatz von Curitiba Schule machte, könnten auch Parks und andere
öffentliche Orte von Anfang an in die Siedlungen eingebunden werden.
Einige Politiker wollen diese illegalen Siedlungen einfach platt walzen,
doch das würde bedeuten, die Symptome der Armut in Städten zu behandeln,
nicht aber den Auslöser. Menschen, die das wenige, das sie in ihre Behausung
investieren konnten, auch noch verlieren, werden durch die Zerstörung ihrer
Behausung nicht reicher, sondern ärmer – ebenso wie die Stadt selbst. Eine
weitaus sinnvollere Option wäre die Verbesserung der lokalen Wohnbedingungen. Der Schlüssel liegt in der Zusicherung einer Pachtmöglichkeit und
der Gewährung kleiner Darlehen an die Menschen in diesen Siedlungen, sodass sie mit der Zeit schrittweise Verbesserungen ihrer Wohnbedingungen vornehmen können.66
Um die Bedingungen in den Slums zu verbessern, braucht es lokale Regierungen, die bereit sind, sich mit dem Problem der Slums befassen, statt es
zu ignorieren. Und um Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut und der
Schaffung stabiler, fortschrittlicher Gemeinden zu erreichen, müssen konstruktive Verbindungen zu diesen Regierungen hergestellt werden. In einigen Fällen könnten von der Regierung unterstützte Einrichtungen, die kleine Kredite
vergeben, nicht nur dazu beitragen, eine Verbindung zwischen der Regierung
65 O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 49.
66 Rasna Warah, The Challenge of Slums: Global Report on Human Settlements 2003
(New York: U.N. Human Settlements Programme, 2003).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
der Stadt und den Bewohnern der illegalen Siedlungen herzustellen, sondern
letzteren auch Hoffnung geben.67
Politische Führer hoffen möglicherweise, diese Siedler könnten vertrieben
oder die Siedlungen zerstört werden, doch in Wahrheit ist es so, dass sie sich in
den nächsten Jahrzehnten noch mehr ausdehnen werden. Die eigentliche He­
raus­forderung besteht darin, sie auf menschliche Weise in das Leben der Stadt
zu integrieren, sodass den Menschen dort durch die Aussicht auf Verbesserung
ihrer Lebensbedingungen Hoffnung geschenkt wird.
Die Alternative dazu wäre, dass der Groll unweigerlich wachsen und die
sozialen Spannungen und die Gewalt zunehmen würden.
STÄDTE FÜR MENSCHEN
Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts wird es für Stadtbewohner sowohl
in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern immer offensichtlicher, dass ein inhärenter Konflikt zwischen Autos und Städten besteht. In
Hunderten von Städten stellt die Luftverschmutzung, die zum größten Teil
durch Autos verursacht wird, eines der größten Gesundheitsprobleme dar, und
Verkehrsstaus fordern einen direkten wirtschaftlichen Tribut in Form von erhöhtem Zeitaufwand und erhöhten Benzinkosten.
Ein weiterer Kostenpunkt für Städte, die stark auf Autos ausgerichtet sind,
betrifft den psychologischen Bereich. Es handelt sich um den Verlust an Kontakt mit der Natur – eine Art „Asphalt-Komplex“. Es gibt zunehmend Beweise
dafür, dass dem Menschen ein Bedürfnis nach Kontakt mit der Natur angeboren ist, worüber sich sowohl Ökologen als auch Psychologen bereits seit einiger
Zeit im Klaren sind. Umweltexperten unter der Führung des Biologen E. O.
Wilson von der Harvard University haben die sogenannte „Biophilie-Hypothese“ aufgestellt, gemäß der jene, die keinen Kontakt zur Natur haben, seelisch
leiden und der Verlust dieses Kontakts zu einem messbaren Nachlassen des
Wohlbefindens führt.68
Inzwischen haben die Psychologen ihren eigenen Terminus für die gleiche
Aussage gefunden: Ökopsychologie. Theodore Roszak, einer der führenden
Experten auf diesem Gebiet, zitiert eine Studie, in der die Abhängigkeit des
Menschen von der Natur durch Untersuchungen zu den Genesungsraten von
Patienten in einem Krankenhaus in Pennsylvania dokumentiert wird. Hierbei
ergab sich, dass sich die Patienten, die von ihren Fenstern aus Gärten mit Gras,
Blumen, Bäumen und Vögeln sehen konnten, schneller wieder erholten als die
Patienten, deren Fenster auf den Parkplatz hinausgingen.69
67 Srinivas, op. cit. Anmerkung 62.
68 E. O. Wilson, Biophilia (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1984); S. R.
Kellert und E. O. Wilson (Hrsg.), The Biophilia Hypothesis (Washington, DC: Island Press,
1993).
69 Theodore Roszak, Mary Gomes und Allen Kanner (Hrsg.), Restoring the Earth, Hea­
ling the Mind (San Francisco: Sierra Club Books, 1995).
256
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
In der gesamten Moderne waren die Haushaltskontingente für den Verkehrsbereich in den meisten Ländern – und besonders in den Vereinigten Staaten – stark auf den Bau und die Erhaltung von Straßen ausgelegt. Doch heute
hängt die Schaffung von Städten, in denen das Leben lebenswert ist, und in
denen die Menschen endlich so mobil sind, wie sie es sich wünschen, stark
davon ab, die Haushaltsmittel so umzuverteilen, dass die Entwicklung von
öffentlichen Verkehrssystemen sowie der Radverkehr gefördert werden.
Die erfreuliche Neuigkeit ist, dass es Indizien dafür gibt, dass sich hier etwas
tut, tägliche Anzeichen dafür, dass ein Interesse daran besteht, die Städte so
umzugestalten, dass sie auf die Bedürfnisse der Menschen statt auf die der Autos
ausgerichtet sind. Eine ermutigende Entwicklung dabei kommt aus den Vereinigten Staaten. Die Tatsache, dass die Zahl derer, die öffentliche Verkehrsmittel
benutzen, seit 1996 landesweit um 2,4 % pro Jahr gestiegen ist, ist ein Zeichen
dafür, dass die Leute nach und nach ihre Autos stehen lassen und lieber den
Bus, die U-Bahn oder die Stadtbahn nehmen, und durch die starken Preiserhöhungen bei Erdöl werden sicher noch mehr Pendler dazu ermutigt, statt mit
dem Auto lieber mit Bus oder Bahn zu fahren oder sich aufs Rad zu setzen.70
Bürgermeister und Stadtplaner in der ganzen Welt haben begonnen, die
Rolle der Autos in den städtischen Verkehrssystemen neu zu überdenken. In
Peking hat eine Gruppe angesehener Wissenschaftler die Entscheidung der
Stadt zur Förderung eines Verkehrssystems, in dessen Zentrum das Autos
steht, in Frage gestellt, indem sie auf eine einfache Tatsache verwiesen: China
verfügt gar nicht über ausreichend Land, um so viele Autos unterzubringen
und gleichzeitig seine Bevölkerung zu ernähren. Dies gilt übrigens nicht nur
für China, sondern auch für Indien und Dutzende anderer dicht bevölkerter
Entwicklungsländer.71
Einige Städte sind inzwischen dabei, Verkehrssysteme zu entwickeln, die
mehr Mobilität, sauberere Luft und die Möglichkeit zu körperlicher Betätigung
bieten – und damit in starkem Gegensatz zu den Systemen in den meisten
Städten derzeit stehen, in denen sich der Verkehr oft staut, die Luft ungesund ist
und es kaum Möglichkeiten zum körperlichen Ausgleich gibt. Wenn 95 % der
Arbeiter einer Stadt auf ihr Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen
– wie das in Atlanta in Georgia der Fall ist – dann hat diese Stadt ein Problem.
Im Gegensatz dazu fahren in Amsterdam nur 40 % der Menschen mit dem
Auto zur Arbeit, 35 % nehmen das Rad oder gehen zu Fuß und 25 % benutzen öffentliche Verkehrsmittel. Die Zahlen für Kopenhagen sind praktisch mit
denen von Amsterdam identisch und in Paris benutzen weniger als die Hälfte
der Menschen ein Auto für den Weg zur Arbeit, wobei selbst diese Zahl weiter sinkt, seit unter Bürgermeister Delanoë mit der Umstrukturierung des Ver70 Wachstumsrate bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel berecht auf Grundl­age
von Angaben aus: American Public Transportation Administration, „Unlinked Passenger
Trips By Mode, Millions“, in: 2007 Public Transportation Factbook (Washington, DC: 2007),
S. 12.
71 Ding Guangwei und Li Shishun, „Analysis of Impetuses to Change of Agricultural
Land Resources in China“, Bulletin der chinesischen Akademie der Wissenschaften, Vol. 13,
Nr. 1 (1999).
257
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
kehrssystems begonnen wurde. Und obwohl diese europäischen Städte deutlich
älter sind als Atlanta und die Straßen dort oft recht schmal sind, gibt es dort viel
weniger Verkehrsstaus als in Atlanta.72
Wenn die Verkehrsplaner in den Entwicklungsländern weiterhin den größten Teil der für den Verkehrsbereich zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel für die Förderung des Automobils ausgeben, werden sie letztlich ein System
erhalten, das nur auf den winzigen Teil der Bevölkerung ausgerichtet ist, der ein
Auto besitzt. Es gibt viele Möglichkeiten, Verkehrssysteme so zu gestalten, dass
nicht nur die Bedürfnisse der Wohlhabenden befriedigt werden, sondern die
Bedürfnisse aller; dass sie Mobilität bieten, statt sie zu behindern, und dass sie
die Gesundheit fördern, statt sie zu ruinieren. Eine solche Möglichkeit ist die
Abschaffung der indirekten Subventionen, die viele Arbeitgeber für das Parken
zahlen. In seinem Buch The High Cost of Free Parking schreibt Donald Shoup,
dass solche Parksubventionen allein in den USA einen geschätzten Wert von
mindestens 127 Mrd. $ jährlich haben, wodurch die Menschen offensichtlich
dazu ermutigt werden, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren.73
1992 hat Kalifornien entschieden, dass Arbeitgeber neben den Parksubventionen auch Barzahlungen gewähren müssen, die von den Mitarbeitern dazu
benutzt werden können, die Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel zu bezahlen oder sich ein Fahrrad zu kaufen. In den Firmen, in denen dazu Daten
erhoben wurden, führte dieser Politikwechsel dazu, dass etwa 17 % weniger
Menschen mit dem Auto zur Arbeit kamen. Auf nationaler Ebene wurde eine
Klausel zur Änderung der Besteuerung in den Transportation Equity Act for the
21st Century von 1998 eingefügt, sodass diejenigen, die öffentliche Verkehrsmittel oder einen sogenannten Vanpool74 benutzten, inzwischen die gleichen
steuerfreien Subventionen nutzen können wie jene, die umsonst parken dürfen. Das Ziel der Gesellschaft sollte nicht in einer Subventionierung des Parkens bestehen, sondern in einer Besteuerung – es sollte Steuern geben, die die
tatsächlichen Kosten von Verkehrsstaus und verminderter Lebensqualität in
Städten, die von Autos und Parkplätzen beherrscht werden, für die Gesellschaft
widerspiegeln.75
Viele Städte, darunter Stockholm, Wien, Prag und Rom, haben bereits autofreie Zonen eingerichtet. In Paris dürfen an Sonn- und Feiertagen entlang
der Seine größtenteils überhaupt keine Autos fahren und man denkt darüber
72 Molly O’Meara Sheehan, City Limits: Putting the Breaks on Sprawl, Worldwatch Paper 156 (Washington, DC: Worldwatch Institute, Juni 2001), S. 11; Schrank und Lomax,
op. cit. Anmerkung 4.
73 Jim Motavalli, „The High Cost of Free Parking“, E: The Environmental Magazine,
März-April 2005; Donald Shoup, The High Cost of Free Parking (Chicago: American Planning Association PlannersPress, 2005), S. 591; Daniel B. Klein, „Free Parking Versus Free
Markets“, The Independent Review, Vol. XI, Nr. 2 (Herbst 2006), S. 289ff.
74 Anm. d. Übers.: Vanpools sind eine Art Fahrgemeinschaft im größeren Maßstab.
75 O’Meara, op. cit. Anmerkung 3, S. 49; Donald C. Shoup, „Congress Okays Cash
Out,” Access, Herbst 1998, S. 2ff.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
nach, einen Großteil des Stadtzentrums ab 2012 zur verkehrsfreien Zone zu
erklären.76
Neben der Tatsache, dass sichergestellt sein muss, dass U-Bahnen funktional und preislich erschwinglich sind, gewinnt auch die Idee, sie attraktiver zu
gestalten und sogar zu kulturellen Zentren zu machen, immer mehr Anhänger.
Die Moskauer U-Bahn mit ihren in die Stationen integrierten Kunstwerken
wird zu Recht als Kronjuwel Russlands bezeichnet. In Washington, DC ist die
Union Station, die die Verbindung zwischen dem U-Bahn-System der Stadt
und dem Fernverkehr darstellt, eine architektonische Augenweide. Seit die Sanierung im Jahr 1988 beendet wurde, ist sie zu einem sozialen Treffpunkt mit
Geschäften, Konferenzräumen und einem reichhaltigen Angebot an Restaurants geworden.
Eine der innovativsten Maßnahmen zur Förderung der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kommt aus State College, einer kleinen Stadt mit 40.000
Einwohnern im Zentrum Pennsylvanias, in der sich auch die Penn State University befindet. Um die Verkehrsstaus auf dem Campus zu vermindern und
das Problem der mangelnden Parkplätze zu lösen, hat die Universität 1999 entschieden, den lokalen Verkehrsbetrieben, die größtenteils mit Bussen arbeiten,
im Austausch für unbegrenzte Freifahrten für die Studenten, Lehrkräfte und
sonstigen Angestellten der Universität 1 Mio. $ zu zahlen. Infolgedessen stieg
die Zahl derer, die in State College lieber mit dem Bus fuhren, innerhalb nur
eines Jahres um 240 % an, sodass die Verkehrsbetriebe sogar verstärkt in neue
Busse investieren mussten, um die vielen neuen Fahrgäste überhaupt befördern
zu können. Durch diese Initiative der Universität wurde der Campus sehr viel
freundlicher und attraktiver – ein Vorteil sowohl bei der Gewinnung neuer
Studenten als auch neuer Lehrkräfte.77
Mit Beginn des neuen Jahrhunderts überdenkt die Welt die Rolle der Autos
in den Städten ganz neu – was den Verkehrsbereich angeht eine der fundamentalsten Veränderungen im Denken seit Jahren. Die Herausforderung besteht
darin, die Städte so umzugestalten, dass öffentliche Verkehrsmittel im Zentrum der Verkehrssysteme stehen, und diese dann mit ausreichend Fußwegen,
Joggingstrecken und Radwegen zu komplettieren. Es bedeutet aber auch, Parkplätze durch Parkanlagen, Spiel- und Sportplätze zu ersetzen. Wir können das
Leben in den Städten so gestalten, dass durch die Eingliederung sportlicher
Betätigung in die tägliche Routine der Gesundheitszustand der Menschen systematisch verbessert wird, während gleichzeitig die Luftverschmutzung verringert und die Menge der Kohlenstoffemissionen gesenkt würden.
76 „Paris To Cut City Centre Traffic“, BBC News, 15. März 2005; J. H. Crawford,
„Carfree Places“, unter www.carfree.com, eingesehen am 17. August 2007; siehe auch: J. H.
Crawford, Carfree Cities (Utrecht, Niederlande: International Books, Juli 2000).
77 Lyndsey Layton, „Mass Transit Popularity Surges in U.S.“, Washington Post, 30. April
2000; Bruce Younkin, Manager of Fleet Operations, Penn State University, State College,
PA, Gespräch mit Janet Larsen, Earth Policy Institute, 4. Dezember 2000.
259
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 11
Die Erhöhung der Energieeffizienz
Wie bereits in Kapitel 3 beschrieben schmelzen die Gletscher im Himalaja, die
in der Trockenzeit die großen Flüsse Asiens speisen, zunehmend ab, sodass einige von ihnen bereits in wenigen Jahrzehnten vollständig verschwunden sein
könnten, wodurch auch die Getreideernten der Region gefährdet wären. Ebenso wurde bereits erwähnt, dass der Meeresspiegel um 12 m anstiege, sollten der
Grönländische und der Westantarktische Eisschild vollständig abschmelzen.
Allein durch die Auswirkungen dieser Eisschmelze auf das Klima könnte
sich die Zahl der gescheiterten oder im Scheitern begriffenen Staaten so stark
erhöhen, dass die Zivilisation selbst in Gefahr geriete. Wir stehen vor dem
Problem eines Klimawandels, der unsere Zivilisation bedroht, und der Notwendigkeit, die Kohlenstoffemissionen massiv zu senken – und das so schnell
wie möglich. Um zu erkennen, dass wir in großen Schwierigkeiten stecken,
brauchen wir nicht erst darauf zu warten, dass die Temperaturen noch weiter
ansteigen, denn die gerade erwähnten, bereits in Gang gesetzten Schmelzprozesse allein rechtfertigen schon ein Blitzprogramm zur Senkung der Kohlenstoffemissionen.
Eines der Ziele von Plan B ist es, das Gleichgewicht zwischen den Mengen
an Kohlenstoff, die ausgestoßen werden, und den natürlichen Aufnahmekapazitäten für Kohlenstoff durch Senkungen der Nettoemissionen an CO2 um
80 % bis 2020 wiederherzustellen. Auf diese Weise würde der Anstieg des CO2Gehalts in der Atmosphäre aufgehalten und bei etwa 400 ppm stabilisiert, was
lediglich einen geringen Anstieg im Vergleich zu den 384 ppm im Jahr 2007
bedeuten würde. Außerdem würde so ein weiterer Temperaturanstieg auf ein
Minimum beschränkt. Natürlich würde eine solche grundlegende Umstrukturierung der Wirtschaft eine große Herausforderung darstellen, vor allem wenn
sie rechtzeitig erfolgen sollte, um katastrophale Klimastörungen zu verhindern.
Doch wie wollen wir uns vor der nächsten Generation verantworten, wenn wir
es nicht wenigstens versuchen?
Bestandteil unseres Plans zur Senkung der Nettoemissionen um 80 % bis
2020 sind neben Maßnahmen zum Stopp der zunehmenden Entwaldung des
Planeten auch noch weitaus ehrgeizigere Bemühungen zur Senkung des Ver Zahl von 400 ppm berechnet auf Grundlage von Angaben über Emissionen bei der
Verbrennung fossiler Brennstoffe aus: G. Marland et al., „Global, Regional, and National
CO2 Emissions“, in: Trends: A Compendium of Data on Global Change (Oak Ridge, TN:
Carbon Dioxide Information and Analysis Center, Oak Ridge National Laboratory, 2007),
sowie von Angaben zur Menge der Emissionen bei veränderter Landnutzung aus: R. A.
Houghton und J. L. Hackler, „Carbon Flux to the Atmosphere from Land-Use Changes“,
in: Trends: A Compendium of Data on Global Change (Oak Ridge, TN: Carbon Dioxide Information and Analysis Center, Oak Ridge National Laboratory, 2002), Verfallskurve zitiert
in: J. Hansen et al., „Dangerous Human-Made Interference with Climate: A GISS ModelE
Study“, Atmospheric Chemistry and Physics, Vol. 7 (2007), S. 2287-2312; Zahl von 384 ppm
aus: Pieter Tans, „Trends in Atmospheric Carbon Dioxide – Mauna Loa“, NOAA/ESRL,
unter www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends, eingesehen am 16. Oktober 2007.
260
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
brauchs an fossilen Brennstoffen. Letztgenannte Bemühungen bauen in erster
Linie auf zwei Dinge: Einerseits muss, wie in diesem Kapitel noch beschrieben
werden wird, die Energieeffizienz gesteigert werden, damit der prognostizierte Anstieg der Nachfrage ausgeglichen werden kann, und andererseits muss
das natürliche Potenzial der vielen Formen erneuerbarer Energien in vollem
Umfang ausgeschöpft werden, damit alle mit Kohle oder Erdöl betriebenen
Kraftwerke vom Netz genommen werden können, worauf im nächsten Kapitel
näher eingegangen werden wird.
In unserem Plan B lassen wir die häufig und heiß diskutierte Option der
CO2-Abtrennung und -speicherung in Kohlekraftwerken bewusst außen vor,
da die derzeit noch recht hohen Kosten und das mangelnde Interesse der Investoren es unwahrscheinlich machen, dass diese Option bis 2020 kostendeckend
sein wird, zumindest nicht in größerem Maßstab.
Ebenso wenig rechnen wir damit, dass die Kapazitäten im Bereich der
Atomkraft aufgestockt werden. Wir gehen davon aus, dass die neu ans Netz
gehenden Atomkraftwerke lediglich die Kapazitätsverluste derer ausgleichen,
die aus Altersgründen vom Netz genommen wurden, sodass die Kapazitäten
in diesem Bereich insgesamt nicht steigen. Und wenn wir bei der Preisfindung einmal wirklich alle Kosten mit einbeziehen – einschließlich der für die
Entsorgung des atomaren Restmülls, der für die Stilllegung aus Altersgründen
sowie der für die Versicherung des Reaktors gegen Unfälle und terroristische
Angriffe/im Falle eines Unfalls oder terroristischen Anschlags – so ist auf einem
vom Wettbewerb bestimmten Energiemarkt der Bau neuer Atomkraftwerke
einfach unwirtschaftlich.
Abgesehen von den wirtschaftlichen Faktoren gibt es in diesem Zusammenhang auch noch offene politische Fragen. Wenn wir sagen, der Ausbau des
Atomenergiebereichs sei ein wichtiger Bestandteil unserer Pläne zur Sicherung
der Energieversorgung in der Zukunft, beziehen wir das dann auf alle Länder
der Welt oder nur auf einige wenige? Und wenn dies nur für einige Länder
gelten soll, wer entscheidet dann darüber, welche Länder dazu gehören und
welche nicht? Und wer sorgt dafür, dass das Ganze auch in dieser Form umgesetzt wird?
Im Jahr 2006 wurden weltweit insgesamt 18,5 Billionen kWh Energie erzeugt, zwei Drittel davon stammten aus fossilen Energiequellen, wobei 40 %
auf Kohle entfielen, 6 % auf Erdöl und 20 % auf Erdgas. Der Rest verteilte
sich wie folgt: 15 % stammte aus Atomkraftwerken, 16 % wurden mithilfe
von Wasserkraft erzeugt und 2 % stammten aus anderen erneuerbaren Energiequellen. (Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher Haushalt in den USA
verbraucht im Jahr 10.000 kWh an Energie, sodass mit 1 Mrd. kWh 100.000
Haushalte in den USA mit Energie versorgt werden könnten.)
International Energy Agency (IEA), World Energy Outlook 2006 (Paris: 2006), S.
493; Energieverbrauch pro US-Haushalt aus: U.S. Department of Energy (DOE), Energy
Information Administration (EIA), Regional Energy Profile – U.S. Household Electricity Report (Washington, DC: Juli 2005).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Da Kohlekraftwerke zwar 40 % der Energie weltweit erzeugen, dafür aber
auch für 70 % der CO2-Emissionen im Energiesektor verantwortlich sind,
muss es oberste Priorität haben, die Nachfrage nach Energie soweit zu senken,
dass der Bau neuer Kohlekraftwerke verhindert werden kann. Im nächsten Kapitel soll dann näher darauf eingegangen werden, wie wir erreichen können,
dass stufenweise alle Kohlekraftwerke vom Netz genommen werden können
und keine neuen mehr gebaut werden müssen. Besonders energiepolitischen
Planern in Ländern wie China und Indien mag dies wie eine völlig neuartige
Idee erscheinen, doch für Europa beispielsweise ist es das keineswegs. So ist es
Deutschland dank einer Steigerung der Energieeffizienz und des vermehrten
Einsatzes von Energie, die durch Windkraft statt durch Kohle erzeugt wurde,
gelungen, den Kohleverbrauch seit 1990 um 37 % zu senken. In Großbritannien, wo man zunehmend auf Erdgas aus der Nordsee umsteigt, werden
inzwischen sogar 43 % weniger Kohle verbraucht.
Anfang 2007 war in den USA noch der Bau von etwa 150 neuen Kohlekraftwerken geplant, doch diese Projekte stießen auf zunehmenden Widerstand aus der Bevölkerung. Aus diesem Grunde untersagte beispielsweise
Kalifornien, das etwa 20 % des in diesem Bundesstaat verbrauchten Stroms
importieren muss, die Unterzeichnung neuer Verträge zum Import von Strom,
der aus Kohle erzeugt wurde. Mehrere andere Bundesstaaten, darunter Florida,
Texas, Minnesota, Washington und Kansas, folgten diesem Beispiel und verweigerten die Erteilung von Lizenzen für Kohlekraftwerke oder verhinderten
ihren Neubau auf andere Weise.
Eine deutliche Niederlage musste die Kohleindustrie einstecken, als die
Citigroup im Juli 2007 die Aktien von Kohleunternehmen pauschal herunterstufte und ihren Kunden dazu riet, lieber in andere Energieträger zu investieren. Im August gab es dann einen weiteren Tiefschlag: Der Mehrheitsführer
im US-Senat, Harry Reid aus Nevada, der sich bereits gegen den Bau von
drei Kohlekraftwerken in seinem eigenen Bundesstaat gestellt hatte, erklärte,
er werde seinen Widerstand nun auf den Bau von Kohlekraftwerken weltweit
ausdehnen. Inzwischen beginnen auch Investmentanalysten und politische
Führer zu erkennen, was für Wissenschaftler wie James Hansen von der NASA
bereits seit Langem offensichtlich ist: Es ist absolut sinnlos, jetzt neue Kohlekraftwerke zu bauen, wenn wir sie in einigen Jahren ohnehin wieder einreißen
müssen.
IEA, op. cit. Anmerkung 2; Angaben zur Senkung des Kohleverbrauchs aus: DOE, EIA,
International Energy Annual 2005 (Washington, DC: Juni-Oktober 2007), Tabelle E.4.
Bill Moore, „California Bans Future Purchase of Coal-Generated Power“, EV World,
28. Juni 2007; Rebecca Smith, „Coal’s Doubters Block New Wave of Power Plants“, Wall
Street Journal, 25. Juli 2007; California Energy Commission, „California’s Major Sources of
Energy“, unter www.energy.ca.gov, aktualisiert am 10. Okt. 2007; Matthew L. Wald, „Citing
Global Warming, Kansas Denies Plant Permit“, New York Times, 20. Okt. 2007.
Steven Mufson, „Coal Rush Reverses, Power Firms Follow Plans for New Plants
Stalled by Growing Opposition“, Washington Post, 4. September 2007; James Hansen,
„Why We Can’t Wait“, The Nation, 7. Mai 2007; Martin Griffith, „Reid Opposes New
Coal-fired Power Plants Worldwide,” Las Vegas Sun, 18. August 2007.
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DIE VERBANNUNG DER GLÜHBIRNE
Die vielleicht schnellste, leichteste und profitabelste Möglichkeit zur Senkung des weltweiten Stromverbrauchs – und damit auch zur Reduzierung der
Kohlenstoffemissionen – besteht darin, einfach einmal die Glühbirnen auszuwechseln. Wenn man die heute noch weitgehend benutzten, aber ineffizienten
herkömmlichen Glühbirnen durch Energiesparleuchten ersetzte, so könnte
dadurch der Stromverbrauch um drei Viertel gesenkt werden. So könnte beispielsweise durch den Austausch einer 100-Watt-Glühbirne gegen eine Energiesparlampe mit entsprechender Leistung über die Gesamtlebensdauer der
Lampe soviel Energie eingespart werden, dass man damit mit einem Toyota
Prius von New York bis San Francisco fahren könnte.
Über ihre gesamte Lebensdauer betrachtet trägt jede Standard-Energiesparlampe (13 W) in einem US-Haushalt zu einer Senkung der Stromkosten um
etwa 30 $ bei, und Energiesparlampen sind zwar in der Anschaffung etwa doppelt so teuer wie herkömmliche Glühbirnen, halten dafür aber auch 10 mal
länger. Außerdem tragen Energiesparlampen, da sie deutlich weniger Strom
verbrauchen, auch zu einer Senkung der CO2-Emissionen bei. Über ihre Gesamtlebensdauer kann mit einer Energiesparlampe soviel Energie eingespart
werden, wie aus 90 kg Kohle erzeugt werden könnte. Und da durch die Verringerung des Kohleverbrauchs auch die Luftverschmutzung reduziert würde, ist
diese Maßnahme zur Erhöhung der Energieeffizienz im Bereich der Beleuchtung eine Option, die besonders für Länder mit rasantem Wirtschaftswachstum
und hoher Luftverschmutzung, wie China und Indien, äußerst attraktiv ist.
Es scheint so, als bewege sich die Welt langsam auf einen Wendepunkt zu,
was die Abschaffung der ineffizienten, herkömmlichen Glühbirnen angeht. Im
Februar 2007 erklärte die australische Regierung, man würde den Verkauf herkömmlicher Glühbirnen bis 2010 landesweit zugunsten von Energiesparlampen auslaufen lassen. Schon bald folgte Kanada mit einer ähnlichen Erklärung,
in der man sich auf ein Auslaufen bis 2012 festlegte.
Mitte März 2007 schloss sich eine Koalition aus verschiedenen amerikanischen Umweltschutzgruppen mit Philips Lighting zum Start einer gemeinsamen Initiative zusammen, im Rahmen derer dafür geworben wurde, alle der
geschätzten 4 Mrd. Glühbirnen in Amerika bis 2016 durch Energiesparlampen zu ersetzen.
IEA, Light’s Labour’s Lost: Policies for Energy-efficient Lighting (Paris: 2006), S. 25, 29;
Larry Kinnery, Lighting Systems in Southwestern Homes: Problems and Opportunities, zusammengestellt für DOE, Building America Program through the Midwest Research Institute, National Renewable Energy Laboratory Division (Boulder, CO: Southwest Energy Efficiency
Project, Juni 2005), S. 4f.
U.S. Environmental Protection Agency (EPA) und DOE, „Energy Star Change a Light,
Change the World: 2006 Campaign Facts and Assumptions Sheet“, Datenblatt (Washington, DC: 23. April 2007).
Ministry for the Environment and Natural Resources, „World First! Australia Slashes Greenhouse Gases from Inefficient Lighting“, Pressemitteilung (Canberra, Australien:
20. Februar 2007); Rob Gillies, „Canada Announces Greenhouse Gas Targets“, Associated
Press, 25. April 2007.
„Alliance Calls for Only Energy-Efficient Lighting in U.S. Market By 2016, Joins Coa-
263
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Bis Mitte 2007 hatten etwa 15 Bundesstaaten entweder bereits Gesetze
zum Verbot oder zur Einschränkung des Verkaufs herkömmlicher Glühbirnen
erlassen oder planten es zumindest. Der Gesetzesvorschlag für New York sah
beispielsweise vor, den Verkauf herkömmlicher Glühbirnen bis 2012 und damit 4 Jahre vor Ablauf der von der oben erwähnten Initiative gesetzten Frist
auslaufen zu lassen. Und da noch etwa ein Dutzend weiterer Bundesstaaten
die Verwendung normaler Glühbirnen bereits jetzt beschränken oder derartige
Einschränkungen planen, wächst auch der Druck auf die US-Regierung, ein
Gesetz zu erlassen, durch das der Wechsel hin zu Energiesparlampen in den
ganzen USA vollzogen würde.10
Die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedsstaaten verkündete im März
2007, man plane, die Kohlenstoffemissionen bis 2020 um 20 % zu senken,
wobei dieses Ziel zum Teil durch den Wechsel von herkömmlichen Glühbirnen zu Energiesparlampen erreicht werden solle. In Großbritannien setzt sich
die Bürgerbewegung Ban the Bulb seit Anfang 2006 hartnäckig für ein Verbot
der alten Glühbirnen ein, und weiter im Osten drängt die Moskauer Stadtregierung ihre Bürger, all ihre alten Glühbirnen durch Energiesparlampen zu
ersetzen.11
Nachdem Brasilien zwischen 2000 und 2002 unter einem landesweiten
Strommangel leiden musste, wurde dort ein ehrgeiziges Programm aufgelegt,
im Rahmen dessen die alten Glühbirnen durch Energiesparlampen ausgetauscht werden sollten, sodass inzwischen bereits die Hälfte aller in Brasilien
verwendeten Lampen mit Energiesparlampen ausgestattet sind. Und im Jahr
2007 verkündete China in Zusammenarbeit mit der Global Environment Facility, man plane, innerhalb von 10 Jahren alle herkömmlichen Glühbirnen
durch energieeffizientere Leuchtmittel zu ersetzen.12
Derweil übt Greenpeace Druck auf die indische Regierung aus, ein Verbot
für normale Glühbirnen zu erlassen, um so die CO2-Emissionen zu senken. Da
es sich bei etwa 640 der 650 Mio. Leuchtmittel, die in dieser rasant wachsenden
Wirtschaft jährlich verkauft werden, um herkömmliche Glühbirnen handelt, ist
das Potenzial zur Senkung der Kohlenstoffemissionen sowie zur Verringerung
der Luftverschmutzung und der Häufigkeit von Stromausfällen hier besonders
groß – und die Verbraucher könnten auch noch eine Menge Geld sparen.13
lition Dedicated to Achieving Goal“, Pressemitteilung (Washington, DC: Alliance to Save
Energy, 14. März 2007).
10 Angaben zu bereits verabschiedeten und in Planung befindlichen Gesetzen zum Thema Energiesparlampen zusammengestellt auf Grundlage von Informationen der verschiedenen Bundesstaaten. Zusammengestellt durch das Earth Policy Institute, Oktober 2007.
11 Ian Johnston, „Two Years to Change EU Light Bulbs“, Scotsman (GB), 10. März 2007;
Matt Prescott, „Light Bulbs: Not Such a Bright Idea“, BBC News, 3. Februar 2006; Angaben zur Kampagne von Ban the Bulb in GB unter www.banthebulb.org; James Kilner,
„Moscow Tells Residents to Change Their Light Bulbs“, Reuters, 28. Februar 2007.
12 IEA, op. cit. Anmerkung 6, S. 375; Deborah Zabarenko, „China to Switch to EnergyEfficient Lightbulbs“, Reuters, 3. Oktober 2007.
13 „Greenpeace Urges India to Ban the Bulb“, Reuters, 17. April 2007; Greenpeace
India, „Greenpeace Launches a Signature Drive Against the Inefficient Bulbs in India“,
Pressemitteilung (Neu-Delhi: 19. April 2007).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Was die großen Firmen in diesem Bereich angeht, so hat Philips, der weltweit größte Hersteller von Leuchtmitteln, erklärt, man werde ab 2016 auf dem
europäischen Markt keine herkömmlichen Glühbirnen mehr verkaufen. Und
die European Lamp Companies Federation, der Verband der Leuchtmittelhersteller, unterstützt Bemühungen der EU zur Anhebung der Energieeffizienzstandards im Bereich Beleuchtung, die letztlich dazu führen würden, dass die
normalen Glühbirnen zu Auslaufmodellen würden.14
Auch Einzelhändler schließen sich der Bewegung für einen Umstieg auf
Energiesparlampen an. So hat beispielsweise Wal-Mart, die weltweit größte
Einzelhandelskette, im November 2006 eine Marketingkampagne gestartet,
mit deren Hilfe sie ihre Verkäufe von Energiesparlampen bis Ende 2007 auf
100 Mio. Stück erhöhen und damit im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppeln wollte. Und Currys, die größte Einzelhandelskette für Elektronik in
Großbritannien, kündigte 2007 an, man würde ab sofort keine normalen
Glühbirnen mehr verkaufen.15
Im Falle von Bürogebäuden, Läden und Fabriken, die oft mit Leuchtstoffröhren beleuchtet werden, liegt der Schlüssel zur Senkung des Stromverbrauchs
in der Verwendung der neuesten Modelle, die sogar noch effizienter sind als
Energiesparlampen. Da Leuchtstoffröhren sehr langlebig sind, basieren die
meisten der Röhren, die derzeit im Gebrauch sind, noch auf der alten, weniger
energieeffizienten Technologie.16
Eine Beleuchtungsmöglichkeit, bei der Energie noch effizienter genutzt
wird, sind LEDs (Light Emitting Diodes) – hier wird nur ein Fünftel der Energie verbraucht, die eine normale Glühbirne benötigt. In New York City sind
bereits die meisten Ampeln mit LEDs bestückt worden, wodurch die jährlichen Strom- und Wartungskosten der Stadt um etwa 6 Mio. $ gesenkt werden konnten. Leider sind die Kosten für LEDs nach wie vor sehr hoch, sodass
viele Verbraucher davon abgeschreckt werden, sie zu kaufen.17
Neben einem Umstieg auf energieeffizientere Leuchtmittel kann auch viel
Energie gespart werden, indem man das Licht einfach ausschaltet, wenn es
nicht benötigt wird. Es gibt verschiedene Technologien zur Reduzierung der
Energiemenge, die für die Beleuchtung aufgewendet werden muss. Bewegungssensoren beispielsweise schalten das Licht automatisch aus, wenn sich
14 Philips, „Philips Calls for Action to Replace Incandescent Bulbs with Energy Saving Lamps“, Pressemitteilung (Brüssel: 7. Dezember 2006); European Lamp Companies
Federation, „European Lamp Industry Commits to a Government Shift to Energy Efficient
Lighting in the Home“, Pressemitteilung (Brüssel: 1. März 2007).
15 Wal-Mart, „With Consumers Facing High Utility Costs and Environmental Challenges, Retailer Offers Simple Solution“, Pressemitteilung (Bentonville, AR: 29. November
2006); Wal-Mart als weltweit größte Einzelhandelskette aus: „Sales for World’s Top 250 Retailers Show 6 Percent Gain Over Previous Year“, Pressemitteilung (New York: Deloitte &
Touche USA LLP, 11. Januar 2007); Hillary Osborne, „Currys to Stop Selling Incandescent
Bulbs“, Guardian (London), 13. März 2007.
16 DOE, „Energy Efficiency of White LEDs“, Datenblatt (Washington, DC: Okt. 2006).
17 „Company Profile: Expanding LED Possibilities at Samsung Electromechanics“, LEDs
Magazine, April 2007; Anthony DePalma, „It Never Sleeps, but It’s Learned to Douse the
Lights“, New York Times, 11. Dezember 2005.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
niemand mehr in dem beleuchteten Raum, wie dem Bad, dem Flur oder im
Treppenhaus, aufhält. In den Städten könnten Dimmer eingesetzt werden,
die die Intensität der Straßenbeleuchtung regeln und die Außenbeleuchtung,
beispielsweise von Denkmälern und anderen Sehenswürdigkeiten, nachts ausschalten. Außerdem können Dimmer so eingesetzt werden, dass sie in Zeiten,
in denen das Tageslicht zur Innenbeleuchtung mitgenutzt werden kann, die
Intensität der künstlichen Beleuchtung reduzieren.
Wenn in den Privathaushalten vollständig auf Energiesparlampen umgestiegen würde, in Bürogebäuden, Läden und Fabriken auf modernste Leuchtstoffröhren und in Ampeln auf LEDs, könnte damit weltweit der Anteil der zur
Beleuchtung benötigten Energie an der insgesamt verbrauchten Energiemenge
von 19 auf 7 % gesenkt werden. Dadurch könnte soviel Energie eingespart
werden, dass damit der Neubau von 705 Kohlekraftwerken überflüssig würde.
Zum Vergleich: Derzeit gibt es weltweit 2.370 Kohlekraftwerke.18
In einer Zeit, da wir praktisch täglich neue Beweise für die globale Erwärmung und ihre Folgen sehen, brauchen wir im Kampf um die Senkung
der Kohlenstoffemissionen und die Stabilisierung des Klimas unbedingt einen
schnellen und nachhaltigen Erfolg, und ein schneller Übergang zu der Beleuchtungsform, die die höchste Energieeffizienz bietet, könnte uns genau zu
diesem Erfolg verhelfen und uns Schwung für noch größere Fortschritte bei
der Stabilisierung des Klimas geben.
HÖHERE ENERGIEEFFIZIENZ BEI HAUSHALTSGERÄTEN
Viele Menschen wissen zwar, dass Energiesparlampen drei Viertel weniger
Ener­gie verbrauchen als normale Glühbirnen, doch weitaus weniger wissen,
dass es auch bei vielen Haushaltsgeräten, so zum Beispiel bei Kühlschränken,
ähnliche Spannen im Energieverbrauch gibt.19
Im U. S. Energy Policy Act, einem im Jahr 2005 verabschiedeten Gesetz
zur Energiepolitik, wurde auch eine Anhebung der Energieeffizienzstandards
festgeschrieben, durch die der Stromverbrauch soweit gesenkt werden soll, dass
der Bau von 29 neuen Kohlekraftwerken damit überflüssig würde. Doch das
Gesetz enthält noch weitere interessante Regelungen, durch deren Umsetzung
eine zusätzliche Senkung des Stromverbrauchs erreicht würde und weitere 37
Kohlekraftwerke gar nicht erst gebaut werden müssten. Zu diesen Regelungen
gehören unter anderem Steuervergünstigungen, durch die die Menschen dazu
angeregt werden sollen, verstärkt auf Technologien zu setzen, bei denen Energie
effizienter genutzt wird, aber auch der Übergang zu Formen der Energieerzeugung, bei denen gleichzeitig auch Wärme erzeugt wird, sowie die Verpflichtung
18 Angaben zu Energieeinsparungen durch Erhöhung der Effizienz bei Leuchtmitteln
berechnet unter Benutzung von Angaben aus: IEA, op. cit. Anmerkung 6, sowie IEA, op.
cit. Anmerkung 2; Berechnungen zur möglichen Einsparung an Kohlekraftwerken unter der
Voraussetzung, dass ein Kraftwerk durchschnittliche Erzeugungskapazitäten von 500 Megawatt hat, 72 % der Zeit Energie in Betrieb ist und 3,15 Mrd. kWh Strom pro Jahr erzeugt.
19 IEA, op. cit. Anmerkung 6, S. 38.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
zur Echtzeitpreislegung, wodurch die Menschen davon abgehalten werden sollen, während der Hauptverbrauchszeiten unnötig Strom zu verbrauchen. Die
in dem Gesetz festgeschriebenen Maßnahmen, einschließlich der Erhöhung
der Energieeffizienzstandards bei Haushaltsgeräten, werden außerdem auch
dazu beitragen, den Erdgasverbrauch deutlich zu senken, sodass der Wert des
eingesparten Stroms zusammen mit dem eingesparten Erdgas im Jahr 2020 bei
insgesamt mehr als 20 Mrd. $ liegen wird.20
Im März 2006 regte der American Council for an Energy-Efficient Economy
(ACEEE) unter Berufung auf die aktuellen Neuerungen im technologischen
Bereich an, auch bei 15 weiteren Geräten, darunter Öfen in Wohnhäusern,
Poolheizungen und DVD-Playern, die Meßlatte höher zu legen. Wenn diese
neuen Standards 2008 tatsächlich angenommen würden, so Schätzungen des
ACEEE, läge der Energieverbrauch im Jahr 2020 um 52 Mrd. kWh niedriger,
was bedeuten würde, dass 16 Kohlekraftwerke eingespart werden könnten. Die
Menge an CO2-Emissionen, die auf diese Weise eingespart werden könnte, wäre
so groß, als gäbe es plötzlich 8 Mio. Autos weniger auf den Straßen. Und für die
Verbraucher selbst ist das Ganze deshalb interessant, weil ihre Strom- und Erdgasrechnung mit jedem Dollar, den sie in energieeffizientere Haushaltsgeräte
investieren, um 4 $ sinkt.21
Momentan stellt der chinesische Markt die größte Herausforderung im
Bereich der Erhöhung der Energieeffizienz bei Haushaltsgeräten dar. Im Jahr
1980 produzierten chinesische Haushaltsgerätehersteller nur 50.000 Kühlschränke, die praktisch alle für die Deckung der Nachfrage im eigenen Land
benötigt wurden. 2004 waren es schon 30 Mio. Kühlschränke, 73 Mio. Farbfernseher und 24 Mio. Waschmaschinen, von denen die meisten für den Export bestimmt waren.22
Die Verbreitung dieser modernen Geräte auf dem chinesischen Markt entspricht in etwa der in den Industrieländern. So kommen auf 100 Haushalte
133 Farbfernseher, 96 Waschmaschinen und 70 Klimaanlagen, in ländlichen
Gebieten sind es 75 Fernseher und 40 Waschmaschinen pro 100 Haushalte.
Zusammen mit dem enormen Wachstum der chinesischen Industrie hat dieser
phänomenale Zuwachs im Bereich der Haushaltsgeräte den Stromverbrauch in
China zwischen 1980 und 2004 um das 7-Fache ansteigen lassen, und obwohl
China bis 2005 bereits Energieeffizienzstandards für viele Geräte eingeführt
hatte, besteht das Problem leider weiter, weil die entsprechenden Bestimmungen nicht streng genug durchgesetzt werden.23
20 Steven Nadel, The Federal Energy Policy Act of 2005 and Its Implications for Energy
Efficiency Program Efforts (Washington, DC: American Council for an Energy-Efficient
Economy (ACEEE), September 2005).
21 Steven Nadel et al., Leading the Way: Continued Opportunities for New State Appliance
and Equipment Efficiency Standards (Washington, DC: ACEEE, März 2006), S. v.
22 Jiang Lin, „One Rice-cooker, Two Cell Phones, and Three TVs: Consumer Appliances
and the Energy Challenge for China“, BusinessForum China, November/Dezember 2005,
S. 19.
23 Jiang Lin, „Appliance Efficiency Standards and Labeling Programs in China“, Annual Review of Energy and the Environment, Vol. 27 (2002), S. 349-367.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Der nächste Markt, auf dem sich eine so große Menge an Haushaltsgeräten
konzentriert, ist der der Europäischen Union mit seinen 490 Mio. Verbrauchern. Laut Aussagen von Greenpeace verbrauchen die Europäer zwar durchschnittlich nur halb soviel Strom wie die Amerikaner oder Kanadier, doch es
besteht auch weiterhin ein großes Potenzial zur Senkung des Stromverbrauchs.
So verbraucht beispielsweise ein in Europa hergestellter Kühlschrank in der
Regel nur etwa halb so viel Strom wie ein amerikanischer, doch es gibt bereits
Kühlschränke auf dem Markt, die im Vergleich zu den durchschnittlichen europäischen Kühlschränken nur noch ein Viertel der Energie benötigen – eine
großartige Möglichkeit für weitere Einsparungen großer Energiemengen.24
Und damit sind die Möglichkeiten noch nicht erschöpft. Es besteht weiterhin eine große Spanne im Energieverbrauch zwischen den derzeit auf dem
Markt befindlichen Modellen mit der höchsten Energieeffizienzklasse und den
gerade vorgeschlagenen Standards, und dank des technologischen Fortschritts
wird das Potenzial für die Erhöhung der Energieeffizienz immer größer.
Mit seinem Top-Runner-Programm, bei dem sich der Standard für die
Geräte von morgen an der Energieeffizienz der besten heute auf dem Markt
befindlichen Geräte orientiert, hat Japan unter den Industrieländern die Führung übernommen. Ziel dieses Programms ist es, im Zeitraum zwischen Ende
der 90er-Jahre und Ende 2007 die Energieeffizienz je nach Haushaltsgerät um
15 bis 83 % zu steigern, wobei in diesem fortlaufenden Prozess die technologischen Fortschritte bei der Erhöhung der Energieeffizienzstandards stets mit
eingebunden werden.25
In einer Analyse zu den Möglichkeiten zur Einsparung von Energie bei
Haushaltsgeräten setzten Experten der OECD die möglichen Einsparungen
im Bereich der Standby-Nutzung ganz oben auf die Liste. 2007 lag der Anteil
der Energie, die für Geräte im Standby-Modus aufgebracht werden musste,
am Gesamtenergieverbrauch weltweit bei bis zu 10 %. Auf dem Level der einzelnen Haushalte in den Mitgliedsstaaten der OECD lag die Leistung von
Geräten im Standby-Modus zwischen 30 und 100 Watt, wobei letzterer Wert
für Haushalte in den USA und Neuseeland gilt. Ungeachtet der Tatsache, dass
die reine Watt-Zahl relativ niedrig ist, ist der Stromverbrauch bei Geräten im
Standby-Modus insgesamt sehr hoch, weil die angegebene Leistung rund um
die Uhr erbracht werden muss.26
Einige Regierungen wollen die Leistung, die Fernseher, Computer, Mikrowellen, DVD-Player und ähnliche Geräte im Standby-Modus verbrauchen
dürfen, auf 1 Watt pro Gerät begrenzen. So haben Südkorea und Australien
24 U.N. Population Division, World Population Prospects: The 2006 Revision Population
Database, unter esa.un.org/unpp, aktualisiert 2007; Greenpeace, „Your Energy Savings“,
unter www.greenpeace.org/international/campaigns/climate-change.
25 Marianne Haug et al., Cool Appliances: Policy Strategies for Energy Efficient Homes
(Paris: IEA, 2003).
26 Ebenda; Alan K. Meier, A Worldwide Review of Standby Power Use in Homes (Berkeley, CA: Lawrence Berkeley National Laboratory, 2002).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
bereits derartige Beschränkungen für viele, wenn nicht alle, Haushaltsgeräte
bis 2010 bzw. 2012 beschlossen.27
Laut Schätzungen in einer amerikanischen Studie werden fast 5 % der gesamten Energie in amerikanischen Haushalten für Geräte im Standby-Betrieb
verbraucht. Wenn es gelänge, diese Zahl auf 1 % zu senken – was übrigens ohne
große Probleme möglich wäre – so könnte damit genug Energie gespart werden,
um den Bau von 17 Kohlekraftwerken überflüssig zu machen. Und wenn China
seinen Energieverbrauch durch Geräte im Standby-Modus in ähnlicher Weise
senken würde, könnten dort noch mehr Kraftwerke ein­ge­spart werden.28
Der Klimawandel ist ein Problem, das sich auf alle Länder der Welt auswirkt und dessen Lösung deshalb auch von allen Ländern gemeinsam in Angriff genommen werden muss. Es ist an der Zeit, weltweit gültige Energieeffizienzstandards für Haushaltsgeräte einzuführen, die sich wie beim Top-RunnerProgramm in Japan an der Effizienzklasse des besten derzeit auf dem Markt
befindlichen Geräts orientieren sollten. Anschließend sollte der Standard alle
paar Jahre neu geprüft und angepasst werden, um den technologischen Fortschritten auf diesem Gebiet Rechnung zu tragen.
Der wichtigste Grund dafür, dass Verbraucher in der Regel nicht das Modell mit der größtmöglichen Energieeffizienzklasse kaufen, ist der wegen der
verbesserten Konstruktion und der besseren Isolierung deutlich höhere Anschaffungspreis. Wenn jedoch die Regierungen eine Art Karbonsteuer erlassen
würden, in der sich die Kosten, die dem Gesundheitswesen durch die Luftverschmutzung entstehen, sowie die durch den Klimawandel entstehenden Kosten widerspiegeln, würden die effizienteren Geräte sofort auch wirtschaftlich
viel interessanter für die Verbraucher.
Wir verfügen zwar nicht über ausreichend Daten für eine genaue Berechnung der möglichen Einsparungen im Energiebereich durch die Einführung
fortschrittlicherer Energieeffizienzstandards, doch wir sind überzeugt davon,
dass die Einführung weltweit gültiger Standards für Haushaltsgeräte, die sich
an den effizientesten derzeit auf dem Markt befindlichen Modellen orientieren, zu Energieeinsparungen führen würden, die ebenso hoch wären, wie die
Einsparungen durch den Einsatz effizienterer Beleuchtungstechnologien. Und
hier lag der geschätzte Umfang der Einsparungen bei 12 %, eventuell sogar
mehr. In diesem Falle könnte durch die Energieeinsparungen durch effizientere
Beleuchtungsmöglichkeiten und Haushaltsgeräte mit höherer Energieeffizienzklasse insgesamt so viel Energie eingespart werden, dass der Bau von 1.410
Kohlekraftwerken überflüssig würde – und das sind mehr als die 1.382 Kohlekraftwerke, die laut Vorhersagen der International Energy Agency (IEA) bis 2020
neu gebaut werden müssten.29
27 Lloyd Harrington et al., Standby Energy: Building a Coherent International Policy
Framework – Moving to the Next Level (Stockholm: European Council for an Energy Efficient Economy, März 2007).
28 Meier, op. cit. Anmerkung 26.
29 Laut Vorhersagen werden 2020 4.352 Mrd. kWh mehr als 2006 in Kohlekraftwerken
erzeugt werden. Angaben aus: IEA, op. cit. Anmerkung 2, S. 493.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
GEBÄUDE MIT HÖHERER EFFIZIENZKLASSE
Ein großer Teil des weltweiten Verbrauchs an Strom und Rohstoffen entfällt
auf Gebäude, ebenso wie ein großer Teil des weltweit produzierten Mülls. In
den Vereinigten Staaten verbrauchen Gebäude – egal ob Wohngebäude oder
kommerziell genutzte – 70 % des insgesamt verbrauchten Stroms und sind für
mehr als 38 % der Gesamtmenge an CO2-Emissionen verantwortlich. Weltweit liegt der Anteil der für Bauvorhaben verwendeten Rohstoffe am Gesamtrohstoffverbrauch bei 40 %.30
Da Gebäude in der Regel eine Lebensdauer von 50-100 Jahren haben, gehen viele Menschen davon aus, dass die Erhöhung der Energieeffizienz im Bausektor ein langsamer Prozess sein müsse, doch das ist nicht wahr. Wenn ein älteres Gebäude mit niedriger Energieeffizienz entsprechend nachgerüstet wird,
kann der Gesamtenergieverbrauch dadurch um 20-50 % werden. Wenn dann
in einem nächsten Schritt die Stromversorgung zur Kühlung, Beheizung und
Beleuchtung des Gebäudes vollständig auf Strom umgestellt wird, der entweder vor Ort produziert oder eingekauft, in jedem Falle aber aus nicht fossilen
Energiequellen erzeugt wird, so hat man im Handumdrehen ein Gebäude, das
keinerlei Kohlenstoffemissionen mehr verursacht.31
Auch die Bau- und die Immobilienindustrie beginnen, den Wert „grüner“
Gebäude zu erkennen. In einer Studie der australischen Firma Davis Langdon merken die Experten an, man habe das Gefühl, „als könnten nicht nach
ökologischen Maßstäben gebaute Gebäude schon bald der Vergangenheit angehören“, ein Gefühl, das eine große Reformwelle in der gesamten Bau- und
Immobilienbranche ausgelöst hat. Weiter heißt es in der Studie: „Wer jetzt in
den ökologischen Bereich investiert, macht damit seine Geldanlagen zukunftssicher.“32
In den USA wird das Feld ganz klar vom privaten U. S. Green Building
Council (USGBC) angeführt, der bekannt ist für sein Zertifizierungs- und Bewertungsprogramm namens Leadership in Energy and Environmental Design
(LEED). Die Standards dieses freiwilligen Zertifizierungsprogramms sind so
hoch, dass sie die Standards des von der US-Regierung ins Leben gerufenen
Energy Star-Zertifizierungsprogramms für Gebäude noch überschreiten. Im
Rahmen von LEED gibt es drei Zertifizierungslevel: Zertifiziert, Silber, Gold
und Platin. Um eine LEED-Zertifizierung zu erhalten, muss ein Gebäude bestimmte Mindestanforderungen im Hinblick auf Umweltverträglichkeit, Materialverwendung, Energieeffizienz und Wassereffizienz erfüllen. Gebäude mit
LEED-Zertifizierung sind für potentielle Käufer deshalb interessant, weil die
30 U.S. Green Building Council (USGBC), „Buildings and Climate Change“, Datenblatt (Washington, DC: 2007); USGBC, „Green Building Facts“, Datenblatt (Washington,
DC: August 2007).
31 Angaben zur Lebensdauer von Gebäuden aus: Edward Mazria, „It’s the Architecture,
Stupid! Who Really Holds the Key to the Global Thermostat? The Answer Might Surprise
You“, World and I, Mai/Juni 2003; Angaben zu möglichen Energieeinsparungen durch
Nachrüstung aus: Clinton Foundation, „Energy Efficiency Building Retrofit Program“,
Datenblatt (New York: Mai 2007).
32 Davis Langdon, The Cost & Benefit of Achieving Green Buildings (Sydney: 2007).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Betriebskosten geringer sind, die Mietraten höher und die Bewohner oder anderweitigen Nutzer zufriedener und gesünder als in normalen Gebäuden.33
Im Jahr 2000 wurden neue LEED-Standards für den Neubau von Gebäuden festgelegt, und jeder, der seinen Neubau zertifizieren lassen will, muss dies
zunächst beantragen und auch dafür zahlen. Außerdem hat der USGBC im
Jahr 2004 damit begonnen, das Innere von kommerziell genutzten Gebäuden
sowie von den Mietern vorgenommene Verbesserungen in bereits bestehenden
Gebäuden zu zertifizieren, und ab Ende 2007 war geplant, Zertifizierungsstandards für private Häuslebauer herauszugeben.34
Wenn man sich die Kriterien für eine LEED-Zertifizierung und einige Beispiele für Gebäude mit LEED-Zertifizierung einmal näher anschaut, so bekommt
man einen guten Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten zur Erhöhung der
Energieeffizienz bei Gebäuden. Der Zertifizierungsprozess für neue Gebäude
beginnt mit der Bewertung der Auswahl des Standortes, weiter geht es mit der
Energie- und Wassereffizienz, der Materialverwendung und der Umweltqualität
im Inneren der Gebäude. Bei der Bewertung der Standortauswahl gibt es Punkte
dafür, dass das Gebäude eine gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz
hat, beispielsweise durch die Nähe zu Bus- oder S-Bahn-Haltestellen. Darüber
hinaus kann ein Gebäude höher eingestuft werden, wenn Fahrradständer und
Duschmöglichkeiten für die Mitarbeiter vorhanden sind. Um eine LEED-Zertifizierung zu erhalten, muss ein neues Gebäude außerdem so konzipiert sein, dass
eine maximale Nutzung des Tageslichts gewährleistet ist und mindestens 75 %
der benutzten Flächen tagsüber durch Sonnenlicht beleuchtet werden.35
Bei der Bewertung der Energieeffizienz gilt: Wenn die hohen LEED-Standards in einem Gebäude sogar noch übertroffen wurden, können auch dafür
zusätzliche Punkte vergeben werden, durch die das Zertifizierungslevel steigt.
Gleiches gilt, wenn die Energieversorgung des Gebäudes über erneuerbare Energien erfolgt, wie zum Beispiel durch Solarkollektoren auf dem Dach des Gebäudes zur Erwärmung des Wassers und zur Beheizung des Gebäudes, sowie
durch die Versorgung des Gebäudes mit Ökostrom.36
Sowohl die Zahl der Mitglieder im USGBC als auch die Anträge auf
LEED-Zertifizierung nehmen rasant zu. Bis August 2007 waren bereits 10.688
Organisationen, darunter große Firmen, Regierungsbehörden, Umweltschutzgruppen und andere Non-Profit-Organisationen, Mitglied im USGBC, und
insgesamt hat sich die Zahl der Mitgliedsorganisationen seit dem Jahr 2000
verzehnfacht.37
Bisher haben 748 neue Gebäude in den Vereinigten Staaten eine LEEDZertifizierung erhalten und für 5.200 weitere, noch im Bau befindliche Gebäu33 USGBC, „About LEED“, Datenblatt (Washington, DC: 2007).
34 USGBC, „Green Building Facts“, op. cit. Anmerkung 30; USGBC, „LEED for New
Construction“ (Washington, DC: 2007).
35 USGBC, Green Building Rating System for New Construction and Major Renovations,
Version 2.2 (Washington, DC: Oktober 2005).
36 Ebenda.
37 USGBC, „Green Building Facts“, op. cit. Anmerkung 30.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
de wurde eine Zertifizierung beantragt. Die kommerziell genutzten Flächen,
die bereits über eine LEED-Zertifizierung verfügen bzw. für die eine solche
beantragt wurde, machen insgesamt eine Grundfläche von etwa 18.600 ha aus
– das sind über 26.000 Fußballfelder.38
Das erste Gebäude überhaupt, das eine LEED-Platin-Zertifizierung erhielt,
war das Bürogebäude für die 100 Mitarbeiter der Chesapeake Bay Foundation
in der Nähe von Annapolis in Maryland. Unter anderem verfügt das Gebäude
über eine Erdwärmepumpe zur Beheizung und Kühlung des Gebäudes, einen
solarbetriebenen Warmwasserbereiter auf dem Dach und Komposttoiletten im
schicken Design, mit deren Hilfe Humus gebildet wird, der dann zum Düngen der Flächen um das Gebäude benutzt wird. Das Bürogebäude von Toyota
in Torrance in Kalifornien, in dem 2.000 Angestellte arbeiten, war eines der
ersten großen Bürogebäude, die einen Gold-Status bei der LEED-Zertifizierung erhielten. Diesen verdankte es unter anderem einer großen Anlage zur
Erzeugung von Solarstrom, die den Großteil des im Gebäude verbrauchten
Stroms liefert. Und durch die Kombination von Urinalen ohne Wasserspülung
und Regenwasserrecycling kommt das Gebäude mit 94 % weniger Wasser aus
als herkömmliche Gebäude dieser Größe, wobei zu bedenken ist, dass weniger
Wasserverbrauch auch weniger Energieverbrauch bedeutet.39
Der Bank of America Tower in New York, der 54 Stockwerke hoch ist und
Anfang 2008 übergeben werden sollte, wird das erste große Bürogebäude sein,
das eine Platin-Zertifizierung erhält. Es wird über ein eigenes kleines Kraftwerk verfügen, das gleichzeitig Strom und Wärme erzeugt, ebenso wie eine
Auffanganlage für Regenwasser und eine Abwasseraufbereitungsanlage. Außerdem werden beim Bau des Gebäudes recycelte Materialien verwendet werden.
Und der Gebäudekomplex, der an der Stelle des ehemaligen World Trade Centers entsteht, wurde so konzipiert, dass die Gebäude voraussichtlich ebenfalls
eine Gold-Zertifizierung erhalten werden.40
In einem mit Gold zertifizierten, 60-stöckigen Bürogebäude, das gerade in
Chicago gebaut wird, soll das Wasser aus dem Fluss genutzt werden, um das
Gebäude im Sommer zu kühlen. Außerdem soll das gesamte Dach bepflanzt
werden, um so das Abfließen des Regenwassers und den Wärmeverlust zu vermindern. Durch Maßnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs wird der
Besitzer des Hauses jährlich etwa 800.000 $ an Energiekosten einsparen, und
der Hauptmieter des Gebäudes, die Chicagoer Anwaltskanzlei Kirkland & Ellis
LLP, bestand auf einer Gold-Zertifizierung für das Gebäude und darauf, dass
dies explizit im Mietvertrag erscheinen würde.41
38 Ebenda.
39 National Renewable Energy Laboratory, „The Philip Merrill Environmental Center
– Highlighting High Performance“ (Golden, CO: April 2002); „Toyota Seeks Gold for New
Green Buildings“, GreenBiz.com, 23. April 2003; „The Green Stamp of Approval“, Business
Week, 11. September 2006.
40 Nick Carey und Ilaina Jonas, „Feature – Green Buildings Need More Incentives in
US“, Reuters, 15. Februar 2007; Taryn Holowka, „World Trade Center Going for LEED
Gold“, USGBC News, 12. September 2006.
41 Carey und Jonas, op. cit. Anmerkung 40.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Der Bundesstaat Kalifornien hat die Consulting-Firma Capital E, die sich
auf unter ökologischen Gesichtspunkten gebaute Gebäude spezialisiert hat,
damit beauftragt, 33 kalifornische Gebäude mit LEED-Zertifizierung auf ihre
Wirtschaftlichkeit hin zu untersuchen. In der Studie kommen die Experten zu
dem Schluss, dass durch die Zertifizierungsanforderung zwar die Baukosten
um rund 40 $ pro m2 gestiegen seien, doch da nicht nur die Betriebskosten für
das Gebäude, sondern auch die Fehlzeiten der dort arbeitenden Angestellten
und die Personalfluktuation niedriger sind als in herkömmlichen Gebäuden,
während die Produktivität der Angestellten gleichzeitig deutlich höher ist, ergibt sich für Gebäude mit einfacher Zertifizierung oder mit Silber-Status in
den ersten 20 Jahren ein Profit von etwa 525 $ pro m2 und für Gebäude mit
Gold- oder Platin-Zertifizierung sogar von etwa 720 $ pro m2.42
Im Jahr 2001 wurde dann eine weltweite Organisation nach dem Vorbild
des USGBC gegründet – der World Green Building Council, der zunächst aus
Green Building Councils aus sechs verschiedenen Ländern bestand. Im August
2007 gab es dann alles in allem bereits in 41 Ländern, darunter Brasilien, Kanada, Indien und Mexiko, Projekte zur LEED-Zertifizierung.43
Eine weitere Entwicklung auf internationaler Ebene war das Energy Efficiency Building Retrofit Program, ein Projekt im Rahmen der Clinton Climate
Initiative, das die Clinton Foundation im Mai 2007 ins Leben rief. In diesem
Projekt, bei dem die Clinton Foundation mit C40, einer Organisation von
Großstädten, die sich des Problems des Klimaschutzes annimmt, zusammenarbeitet, wurden fünf der größten Banken der Welt und vier der größten Energieunternehmen zusammengebracht, die gemeinsam dafür sorgen, dass in zunächst 16 Großstädten alte Gebäude umweltfreundlich nachgerüstet werden,
um deren Energieverbrauch um 20-50 % zu senken. Zu diesen 16 Städten
gehören einige der größten Städte der Welt, wie Bangkok, Berlin, Karatschi,
London, Mexiko-Stadt, Mumbai, New York, Rom und Tokio. Jede der Banken – ABN AMRO, Citi, Deutsche Bank, JP Morgan Chase und UBS – hat
sich verpflichtet, bis zu 1 Mrd. $ in dieses Projekt zu investieren, wodurch die
derzeitigen weltweiten Bemühungen zur Erhöhung der Energieeffizienz durch
Nachrüstung leicht verdoppelt würden.44
Die vier größten Energiedienstleistungsunternehmen der Welt – Honeywell, Johnson Controls, Siemens und Trane – werden die eigentliche Nachrüstung der Gebäude übernehmen. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Sie
haben sich verpflichtet, Leistungsgarantien zu geben, sodass gesichert ist, dass
alle Nachrüstungen auch tatsächlich profitabel sein werden. Und die Senkung
von Energieverbrauch und Kohlenstoffemissionen kann höchst profitabel sein.
Bei Start des Programms sagte Ex-Präsident Clinton dazu, die Banken und die
42 Barnaby J. Feder, „Environmentally Conscious Development“, New York Times,
25. August 2004.
43 Informationen zum World Green Building Council unter www.worldgbc.org; USGBC, op. cit. Anmerkung 33.
44 Ebenda; „Clinton Unveils $5 Billion Green Makeover for Cities“, Environment News
Service, 16. Mai 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Energiedienstleistungsunternehmen würden Geld verdienen, die Hauseigentümer Geld sparen und die Emissionen würden sinken.45
Bei den Architekten hat Edward Mazria, ein klimabewusster Architekt aus
New Mexico, die sogenannte 2030 Challenge ins Leben gerufen. Das grundlegende Ziel dieser Initiative besteht darin, dass die Architekten landesweit bis
2030 nur noch Häuser entwerfen, die von fossilen Brennstoffen unabhängig
sind. Mazria merkt hierzu an, der Gebäudebereich sei die größte Quelle für
Kohlenstoffemissionen, noch weit vor dem Verkehrsbereich, sodass „es in den
Händen der Architekten liegt, den Thermostat der Welt herunterzudrehen“.
Und um das erklärte Ziel zu erreichen, hat Mazria diverse Organisationen,
da­runter das American Institute of Architects, den USGBC und die U. S. Conference of Mayors, zu einer großen Koalition vereinigt.46
Mazria ist sich darüber im Klaren, dass die Lehrkräfte in den 124 Architektenschulen des Landes unbedingt umgeschult werden müssen, um „die Architektur aus ihrer stumpfsinnigen, passiven Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu befreien und sie eng mit der natürlichen Umgebung, in der wir leben, zu
verbinden. Nach Ansicht Mazrias liegt es in der Verantwortung der Architekten,
„die Umwelt so mit einzubinden, dass die Notwendigkeit zur Nutzung fossiler
Brennstoffe deutlich verringert oder ganz eliminiert wird“. Dank der heutigen
Architekturkonzepte und Bautechnologien sind Architekten problemlos in der
Lage, neue Gebäude so zu entwerfen, dass sie nur noch halb so viel Energie benötigen wie bisher gebaute. Zu diesen Technologien gehören unter anderem die
Ausnutzung des Tageslichts zur Beleuchtung der Gebäude, das Anbringen von
Solarkollektoren auf den Dächern zur Stromerzeugung, natürliche Ventilationssysteme, Fenster mit speziellen Dämmungen zur Minderung des Wärme- und
Energieverlusts, Senkung des Wasserverbrauchs, energieeffizientere Beleuchtungsmöglichkeiten und Bewegungssensoren im Beleuchtungssystem.47
DIE NEUSTRUKTURIERUNG DER VERKEHRSSYSTEME
Neben dem vorrangigen Ziel der Stabilisierung des CO2-Levels in der Atmosphäre gibt es noch eine ganze Reihe anderer guter Gründe, warum in allen
Ländern der Welt die Verkehrssysteme neu überdacht werden sollten: Da ist
zum einen die Notwendigkeit, sich auf die Zeit vorzubereiten, wenn die Erdölproduktion beginnen wird abzusinken, aber auch die Verminderung der Gefahr von Verkehrsverstopfungen und die Senkung der Luftverschmutzung. Das
Verkehrsmodell der USA, in dessen Zentrum eindeutig das Auto steht, in dem
auf jeweils 4 Personen 3 Autos entfallen und dem die allermeisten Länder der
Welt nacheifern, wird sich langfristig nicht einmal in den USA aufrechterhalten lassen, ganz zu schweigen vom Rest der Welt.48
45 „Clinton Unveils $5 Billion Green Makeover for Cities“, op. cit. Anmerkung 44.
46 Mazria, op. cit. Anmerkung 31; Informationen zur 2030 Challenge unter www.architecture2030.org.
47 Mazria, op. cit. Anmerkung 31.
48 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 24; Ward’s Automotive Group, World
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Die Frage danach, wie unsere Verkehrssysteme in der Zukunft aussehen
sollten, ist eng mit der sich verändernden Rolle des Autos verbunden, die wiederum von der Verwandlung einer größtenteils ländlich geprägten Welt in eine
größtenteils urbane beeinflusst wird. Bis 2020 werden laut Prognosen fast 55 %
aller Menschen in Städten leben, wo die Bedeutung des Autos als Transportmittel zusehends abnimmt. In Europa beispielsweise ist dieser Prozess schon
relativ weit fortgeschritten, hier ist der Höchststand bei den Autoverkäufen in
fast allen Ländern bereits überschritten worden, sodass sie inzwischen wieder
zurückgehen.49
Da auch die weltweite Erdölproduktion kurz davor steht, ihren Höchststand zu erreichen, wird es schon bald nicht mehr genug Erdöl geben, das
ohne großen wirtschaftlichen Aufwand gefördert werden könnte, sodass es
nicht möglich sein wird, weltweit eine Autoflotte zu unterhalten, die im selben
Maße wächst wie in den USA – faktisch wird es wohl nicht einmal reichen, um
die Autoflotte in den USA weiter zu unterhalten. Besonders schlimm könnte
es dann für die USA werden, wo 88 % der 133 Mio. Menschen, die überhaupt
Arbeit haben, mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz fahren.50
Die wachsende Sorge wegen des Klimawandels und der Kohlenstoffemissionen scheint inzwischen auch bis zu den politischen Entscheidungsträgern
im Verkehrsbereich vorzudringen, und zwar auf allen Ebenen, von der Stadtregierung, über die Provinzen bis hin zur obersten Regierungsebene. So schlug
der Londoner Bürgermeister Ken Livingston im Jahr 2007 vor, neben den 8 £,
die jeder Autofahrer ohnehin bei Einfahrt ins Stadtzentrum zahlen muss, eine
zusätzliche Abgabe von 25 £ pro Tag für Geländewagen zu erheben, da bei
diesen Autos der Abgasausstoß besonders hoch sei, ein Vorschlag, den 3 von 4
Londonern sofort unterstützen würden. Inzwischen erwägt auch New York die
Einführung einer Abgabe für die Einfahrt ins Stadtzentrum mit dem Auto.51
Die Bürgermeister sowohl von New York als auch von San Francisco verkündeten, bis 2012 wären alle Taxis in den beiden Städten Hybridfahrzeuge,
eine Maßnahme, durch die die CO2-Emissionen und der Kraftstoffverbrauch
gesenkt und die Luftverschmutzung in den beiden Städten bekämpft werden
soll. Dabei hat es sich New York zum Ziel gesetzt, die 13.000 Taxis, die 17 l
auf 100 km verbrauchen, durch Fahrzeuge zu ersetzen, die nur 5-8 l auf 100
km verbrauchen.52
Motor Vehicle Data 2006 (Southfield, MI: 2006), S. 202.
49 U.N. Population Division, World Urbanization Prospects: The 2005 Revision Population Database, unter esa.un.org/unup, aktualisiert 2006; Ward’s Automotive Group, op. cit.
Anmerkung 48.
50 U.S. Bureau of the Census, „Most of Us Still Drive to Work Alone–Public Transportation Commuters Concentrated in a Handful of Large Cities“, Pressemitteilung (Washington, DC: 13. Juni 2007).
51 Ken Livingstone, „Clear Up the Congestion-Pricing Gridlock“, New York Times,
2. Juli 2007.
52 Sara Kugler, „NYC’s Taxi Fleet Going Green by 2012“, Associated Press, 22. Mai 2007;
City and County of San Francisco, Office of the Mayor, „Mayor Newsom Urges Taxi Commission to Approve Resolution Requiring Taxi Emissions to be Reduced by 50% Over Next
Four Years“, Pressemitteilung (San Francisco: 12. Juni 2007).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Neben dem Wunsch zur Stabilisierung des Klimas sehen sich Autofahrer
weltweit auch zunehmend mit dem Problem verstopfter Straßen und echter
Verkehrsinfarkte in den Städten konfrontiert, wodurch das Frustrationslevel
ebenso ansteigt wie die Geschäftskosten für Firmen. In den Vereinigten Staaten ist die Zeit, die Pendler brauchen, um zur Arbeit zu gelangen, seit Anfang
der 80er Jahre stetig angestiegen. Das Auto versprach zunächst eine höhere
Mobilität, doch nachdem ihre Zahl in unserer immer stärker urbanisierten
Welt so massiv zugenommen hat, behindern sie uns inzwischen eher in unserer
Mobilität.53
Während zukünftige Stadtverkehrssysteme eine Kombination aus Stadtbahnen, Bussen, Fahrrädern und Autos bieten und auch die Fußgänger nicht
vergessen sollten, liegt die Zukunft des Fernverkehrs bei Strecken von bis zu
800 km ganz klar im Einsatz von Hochgeschwindigkeitszügen. Vor vielen Jahren war Japan das erste Land der Erde, das diese Verkehrmöglichkeit nutzte.
Die japanischen Hochgeschwindigkeitszüge erreichen Geschwindigkeiten von
bis zu 300 km/h und befördern täglich fast 1 Mio. Passagiere, wobei die Züge
auf einigen stark frequentierten Strecken im 3-Minuten-Takt fahren.54
Nachdem die ersten Hochgeschwindigkeitszüge in Japan 1964 auf der ca.
520 km langen Strecke zwischen Tokio und Osaka eingesetzt wurden, erstreckt
sich das Streckennetz für Hochgeschwindigkeitszüge inzwischen auf fast 2.190
km Länge und verbindet praktisch alle größeren Städte Japans miteinander.
Nach wie vor ist die erste je eingerichtete Strecke in Japan, die zwischen
Tokio und Osaka, mit täglich 117.000 Passagieren eine der am stärksten frequentierten Strecken. Die Fahrtdauer auf dieser Strecke, für die man mit dem
Auto etwa acht Stunden brauchen würde, liegt bei 2 Stunden und 30 Minuten, worin sich zeigt, dass solche Hochgeschwindigkeitszüge nicht nur Energie,
sondern auch Zeit sparen.55
In den vergangenen 40 Jahren, in denen diese Züge Milliarden von Passagieren in Hochgeschwindigkeit von A nach B gebracht haben, gab es keinen
einzigen Unfall mit Todesopfern. Die durchschnittliche Verspätungszeit liegt
bei 6 Sekunden. Wenn wir heute eine Liste mit sieben modernen Weltwundern zusammenstellen müssten, dann wären Japans Hochgeschwindigkeitszüge ganz sicher dabei.56
Obwohl die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke in Europa, die Strecke Paris-Lyon, erst 1981 in Betrieb genommen wurde, hat Europa seither enorme
Fortschritte in diesem Bereich gemacht. So gab es Anfang 2007 bereits 4.883
km Hochgeschwindigkeitsstrecke in Europa und bis 2010 sollen weitere rund
2.750 km dazukommen. Ziel ist die Schaffung eines europaweiten Hochge53 David Schrank et al., The 2007 Urban Mobility Report (College Station, TX: Texas
Transportation Institute, September 2007).
54 Hiroki Matsumoto, „The Shinkansen: Japan’s High Speed Railway“, Aussage vor
dem Subcommittee on Railroads, Pipelines and Materials (Washington, DC: Committee
on Transportation and Infrastructure, 19. April 2007).
55 Ebenda.
56 Ebenda.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
schwindigkeitsnetzes bis 2020, in das auch die osteuropäischen Länder, wie
Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, integriert werden sollen.57
Sobald solche Schnellstrecken zwischen einzelnen Städten einmal eingerichtet sind, steigt die Zahl der Bahnreisenden, die zwischen diesen Städten
unterwegs sind, drastisch an. Nachdem beispielsweise die rund 310 km lange
Strecke Paris-Brüssel in Betrieb genommen worden war, stieg der Anteil derer,
die für die Reise zwischen den beiden Städten die Bahnfahrt wählten, die im
Übrigen nur 85 Minuten dauert, von nur 24 % auf 50 % an. Gleichzeitig sank
der Anteil derer, die die Strecke lieber mit dem Auto zurücklegten, von 61 %
auf nur noch 43 %, und die äußerst CO2-intensive Reisevariante per Flugzeug
wurde praktisch überhaupt nicht mehr in Anspruch genommen.58
Wenn man einmal die Menge an CO2-Emissionen betrachtet, die bei den
verschiedenen Verkehrsoptionen pro zurückgelegtem Kilometer anfallen, so
zeigt sich, dass diese im Falle von Hochgeschwindigkeitszügen nur ein Drittel
dessen beträgt, was bei Autoreisen anfällt und sogar nur ein Viertel im Verhältnis zu Flugreisen. In der von uns anvisierten Plan-B-Wirtschaft werden
Züge sogar praktisch überhaupt kein Kohlendioxid mehr ausstoßen, weil sie
mit aus erneuerbaren Energien gewonnenem Strom betrieben werden. Einmal
abgesehen davon, dass Bahnreisen bequem und praktisch sind, tragen sie auch
dazu bei, dass die Luft weniger verschmutzt wird, die Straßen weniger verstopft
sind, die Lärmbelästigung geringer ist und es weniger Unfälle gibt – und sie
senken das Frustpotenzial bei den Reisenden, weil diese nicht mehr in Staus
stecken oder in langen Schlangen vor dem Sicherheitscheck am Flughafen warten müssen.
Zusätzlich zu den schon bestehenden internationalen Expressverbindungen, wie der zwischen Paris und Brüssel, entstehen neue Verbindungen wie
Paris-Stuttgart, Paris-Frankfurt oder die neue Anbindung von Paris an den Kanaltunnel nach London, durch die die Reisezeit von Paris nach London kaum
mehr 2 Stunden und 20 Minuten beträgt. Auf den neueren Strecken erreichen
die Züge Geschwindigkeiten von bis zu 320 km/h. In der Zeitung The Economist heißt es dazu sehr richtig: „Die Revolution der Hochgeschwindigkeitszüge
hat Europa voll erfasst.“59
Zwischen Japan und Europa auf der einen und dem Rest der Welt auf
der anderen Seite klafft im Hinblick auf den Stand bei Hochgeschwindigkeits­
zügen eine riesige Lücke. In den USA gibt es den Acela Express, der Washington, New York und Boston miteinander verbindet, doch leider kommt er weder im Hinblick auf die erreichte Geschwindigkeit noch auf die Zuverlässigkeit
an die Züge in Europa und Japan heran.60
57 Inaki Barron, „High Speed Rail: The Big Picture“, Aussage vor dem Subcommittee
on Railroads, Pipelines and Materials (Washington, DC: Committee on Transportation and
Infrastructure, 19. April 2007).
58 Ebenda.
59 „A High-Speed Revolution“, The Economist, 5. Juli 2007.
60 John L. Mica, „Opening Statement of Rep. Shuster from Today’s Hearing on High
Speed Rail“, Pressemitteilung (Washington, DC: Committee on Transportation and Infrastructure, 19. April 2007).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Auch China hat bereits begonnen, ein Hochgeschwindigkeitsnetz aufzubauen, durch das die größten Städte des Landes miteinander verbunden werden sollen, wodurch sich beispielsweise auf der 2007 eröffneten Strecke zwischen Peking und Shanghai die Reisezeit zwischen den beiden Städten von
12 auf nur noch 10 Stunden verkürzte. Inzwischen verfügt China über ein
Streckennetz mit einer Gesamtlänge von über 6.000 km, auf dem Züge mit
Höchstgeschwindigkeiten von über 200 km/h verkehren können. Bis 2020
soll das Streckennetz soweit ausgebaut werden, dass sich die Gesamtlänge verdoppelt.61
In den USA wäre es angesichts der Notwendigkeit, die Kohlenstoffemissionen zu senken und sich gleichzeitig auf die Zeit nach dem „Peak Oil“ vorzubereiten, an der Zeit, sich neu zu orientieren und statt in Straßen und Highways
stärker in das Bahnnetz zu investieren. 1956 startete der damalige Präsident
Dwight D. Eisenhower den Aufbau des landesweiten Highway-Netzes und begründete dies mit Erwägungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit. Vor dem Hintergrund der Bedrohungen durch den Klimawandel und der
Tatsache, dass eine ausreichende Versorgung mit Erdöl in Zukunft möglicherweise nicht mehr gewährleistet ist, wäre es heute angebracht, ein Streckennetz
für Hochgeschwindigkeitszüge aufzubauen, über das sowohl der Personen- als
auch der Frachtverkehr abgewickelt werden könnte, wobei die relativ geringe
Strommenge, die zum Betreiben dieses Systems benötigt würde, aus erneuerbaren Energiequellen, vor allem aus Windparks, kommen könnte.62
Beim Aufbau des Streckennetzes für den Personenverkehr sollte man sich an
den Vorbildern aus Japan und Europa orientieren. Bei Durchschnittsgeschwindigkeiten von über 270 km/h würde die Reisezeit auf einer transkontinentalen
Strecke zwischen Ost- und Westküste der USA somit selbst bei mehreren Zwischenstopps in größeren Städten nur noch bei 15 Stunden liegen. Gleichzeitig
müsste ein landesweites Netz für den Transport von Frachtgütern aufgebaut
werden, wodurch viele der Langstreckentransporte mit Lastwagen überflüssig
würden.
Wenn ein Plan zur Senkung der weltweit durch den Verkehr verursachten CO2-Emissionen irgendeinen Sinn haben soll, so muss er aus mehreren
Gründen in den USA ansetzen: Zum einen ist der Benzinverbrauch der USA
höher als der der nächsten 20 Länder auf der Verbrauchsliste, einschließlich
Japan, China, Russland, Deutschland und Brasilien, zusammengenommen.
Außerdem verfügen die USA mit 238 Mio. der weltweit 860 Mio. Autos – das
sind 28 % aller Autos weltweit – über die größte Automobilflotte der Welt,
wobei zu bedenken ist, dass amerikanische Autofahrer im Vergleich zu anderen
weitaus mehr mit dem Auto fahren und dass amerikanische Autos, was den
Verbrauch angeht, zu den schlechtesten der Welt gehören.63
61 „Bullet Time“, The Economist, 17. Mai 2007.
62 „The People’s Vote: 100 Documents that Shaped America“, U.S. News and World
Report, 22. September 2003.
63 Gerhard Metschies, „Pain at the Pump“, Foreign Policy, Juli/August 2007; Ward’s
Automotive Group, op. cit. Anmerkung 48, S. 202, 244.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Hier bräuchte es drei Schritte: Zunächst einmal sollte eine sinnvolle Besteuerung von Benzin erfolgen. Wenn man in den USA für die nächsten 12
Jahre Benzin jedes Jahr mit 40 Cent mehr pro Gallone besteuern würde, sodass
die steuerliche Belastung am Ende der Einführungsphase bei 4,80 $ pro Gallone läge, und dies durch eine Senkung der Einkommenssteuer ausgleichen würde, so würde die Benzinsteuer in den USA auf 4-5 $ pro Gallone steigen, ein
Niveau, das in Europa längst Alltag ist. In Kombination mit den steigenden
Grundpreisen für Benzin sollte dies den Amerikanern genug Anreiz dafür bieten, in Zukunft auf verbrauchsarme Autos umzusteigen.
Die zweite Maßnahme sollte eine Anhebung der Kraftstoffeffizienzstandards von einem Verbrauch von 11 l auf 100 km, der noch für den Verkauf von
Neuwagen im Jahr 2006 galt, auf 5 l auf 100 km sein. Auf diese Weise würde
auch die amerikanische Autoindustrie gezwungen, verbrauchsärmere Autos
herzustellen. Die dritte Maßnahme, von der es abhängt, ob es uns gelingen
wird, unser Ziel in Bezug auf die Senkung der CO2-Emissionen zu erreichen,
ist die deutliche Umverteilung von Finanzmitteln im Verkehrsbereich. Hier
muss weniger in den Bau von Highways und mehr in den Aufbau öffentlicher
Verkehrsnetze in Städten und Fernverkehrsstrecken für Züge investiert werden.64
EINE NEUE ROHSTOFFWIRTSCHAFT
In unserer modernen Wegwerfwirtschaft wird in den Bereichen Produktion,
Verarbeitung und Entsorgung nicht nur unnötiger Müll produziert, es werden auch unnötig große Mengen an Energie dafür verbraucht. In der Natur
überleben einseitige lineare Fließsysteme meist nicht lange, und ebenso wenig
werden sie es, wenn man es im größeren Zusammenhang betrachtet, in der
stetig wachsenden Weltwirtschaft tun. Die Wegwerfwirtschaft, die sich in den
letzten 50 Jahren entwickelt hat, ist eine Fehlentwicklung, die nun selbst auf
dem Müllhaufen der Geschichte zu landen droht.
Friedrich Schmidt-Bleek, der Gründer des französischen Faktor-10-Instituts, und Ernst von Weizsäcker, ein bekannter Umweltexperte im Deutschen
Bundestag, gehörten zu den Ersten, die das Potenzial zur deutlichen Senkung
des Rohstoffverbrauchs genauer untersuchten, Schmidt-Bleek bereits Anfang
der 90er-Jahre, von Weizsäcker etwas später. Beide vertraten die Ansicht, dass
die moderne Industriewirtschaft durchaus auch mit einem Rohstoffverbrauch
von nur noch einem Viertel des derzeitigen Verbrauchs sehr effektiv arbeiten
könnte. Einige Jahre später folgte eine Untersuchung von Schmidt-Bleek, in
der er aufzeigt, dass die Rohstoffeffizienz mit den bereits vorhandenen Tech64 Flottendurchschnitt aus: U.S. Department of Transportation, Summary of Fuel Economy Performance (Washington, DC: Oktober 2006), aktualisiert auf neuere MPG-Schätzungen unter Bezugnahme auf Angaben aus: EPA, Office of Transportation and Air Quality,
„EPA Issues New Test Method for Fuel Economy Window Stickers“, Mitteilung zu neuen
Regelungen (Washington, DC: Dezember 2006).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
nologien und bei gleichbleibender Verwaltung durch entsprechende politische
Anreize problemlos sogar um ein Zehnfaches erhöht werden könnte.65
Im Jahr 2002 veröffentlichten der amerikanische Architekt William McDonough und der deutsche Chemiker Michael Braungart gemeinsam ein
Buch mit dem Titel Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things,66 in
dem sie argumentieren, dass Müll und Verschmutzung um jeden Preis verhindert werden müssen. „Verschmutzung“, so McDonough, „ist ein Zeichen für
einen Konstruktionsfehler.“67
Der Anteil der Industrie, einschließlich der Produktion von Plastik, Düngemitteln, Stahl, Zement und Papier, am weltweiten Gesamtenergieverbrauch
liegt bei 30 %. Der größte Verbraucher im produzierenden Sektor der Industrie ist die petrochemische Industrie, die unter anderem Waren wie Plastik,
Dünger und Reinigungsmittel herstellt. Sie allein verbraucht etwa ein Drittel
der gesamten weltweit in der Industrie verbrauchten Energie. Da ein Großteil der in der Industrie verbrauchten fossilen Brennstoffe auf Ausgangsmaterialien entfällt, also auf die Herstellung von Plastik und anderen Materialien,
könnte ein verstärktes Recycling von Rohstoffen den Bedarf in diesem Bereich
deutlich senken, und weltweit könnte der Energieverbrauch in der petrochemischen Industrie allgemein durch verstärktes Recycling und den Übergang zu
den modernsten und effizientesten Produktionstechnologien um 32 % gesenkt
werden.68
Der zweitgrößte Energieverbraucher im produzierenden Sektor ist mit
19 % der gesamten in der Industrie verbrauchten Energie die weltweite Stahlindustrie, die im Jahr 2006 eine Gesamtmenge von über 1,2 Mrd. t Stahl
produzierte. Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz, wie die Nutzung
der effizientesten derzeit auf dem Markt befindlichen Hochöfen und die vollständige Rückgewinnung von Altstahl könnten in der Stahlindustrie zu einer
Senkung des Energieverbrauchs um 23 % führen.69
Einer der Schlüssel zur Senkung des Rohstoffverbrauchs ist die Wiederverwertung von Stahl, da der Verbrauch an Stahl den aller anderen Metalle
zusammen noch übertrifft. Der Hauptteil des Stahlverbrauchs entfällt auf Automobile, Haushaltsgeräte und die Bauindustrie. In den Vereinigten Staaten
werden inzwischen praktisch alle Autos recycelt – sie sind einfach zu wertvoll,
als dass man sie einfach auf irgendeinem abgelegenen Schrottplatz vor sich
65 Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory B. Lovins und L. Hunter Lovins, Factor Four:
Doubling Wealth, Halving Resource Use (London: Earthscan, 1997); Friedrich Schmidt-Bleek
et al., Factor 10: Making Sustainability Accountable, Putting Resource Productivity into Praxis
(Carnoules, Frankreich: Factor 10 Club, 1998), S. 5.
66 Anm. d. Übers.: Titel der deutschen Ausgabe: Einfach intelligent produzieren.
67 William McDonough und Michael Braungart, Cradle to Cradle: Remaking the Way
We Make Things (New York: North Point Press, 2002); Rebecca Smith, „Beyond Recycling:
Manufacturers Embrace ‘C2C’ Design“, Wall Street Journal, 3. März 2005.
68 Claude Mandil et al., Tracking Industrial Energy Efficiency and CO2 Emissions (Paris:
IEA, 2007), S. 39, 59ff.
69 International Iron and Steel Institute (IISI), „Crude Steel Production by Process“,
World Steel in Figures 2007 unter www.worldsteel.org, eingesehen am 16. Oktober 2007;
Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67, S. 95f.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
hin rosten lassen könnte. Die Recyclingrate für Haushaltsgeräte in den USA
wird auf 90 % geschätzt. Für Stahldosen liegt sie bei 60 % und für Baustahl
bei 97 % bei Stahlträgern und -balken, allerdings nur 65 % bei Armierungen.
Doch nach wie vor würde die Stahlmenge, die jährlich immer noch auf dem
Müll landet, ausreichen, um den Bedarf der gesamten US-Autoindustrie zu
decken.70
Vor mehr als einer Generation, als elektrische Lichtbogenöfen aufkamen,
mit deren Hilfe Stahl aus Altmaterial hergestellt werden konnte und die dabei
nur ein Drittel der Energie verbrauchten, die benötigt wurde, um Stahl aus
Eisenerz herzustellen, begann das Recycling von Stahl zuzunehmen. In mehr
als 20 Ländern entfällt inzwischen mindestens die Hälfte der Stahlproduktion,
wenn nicht sogar mehr, auf die mit Altstahl arbeitenden elektrischen Lichtbogenöfen. Ein paar Länder, darunter Venezuela und Saudi-Arabien, nutzen
elektrische Lichtbogenöfen sogar für ihre gesamte Stahlproduktion. Momentan ist es zwar noch nicht möglich, die weltweite Stahlproduktion vollständig
auf elektrische Lichtbogenöfen umzustellen, weil die Menge an Altmaterial,
die zur Produktion zur Verfügung steht, begrenzt ist, doch wenn die Entwicklungsländer ab 2020 damit beginnen, ihre in die Jahre gekommene Infrastruktur zu demontieren, wird sich das ändern. Bereits eine Umstellung von nur
drei Vierteln der Stahlproduktion auf diese effizienteren Öfen könnte zu einer
Senkung des Energieverbrauchs in der Stahlindustrie um fast 40 % führen.71
Mit einem Anteil von 7 % am Gesamtenergieverbrauch der Industrie ist
die Zementindustrie, die im Jahr 2006 2,3 Mrd. t Zement produzierte, ein
weiterer industrieller Großverbraucher in Sachen Energie. In China wird fast
die Hälfte der gesamten Zementproduktion hergestellt – das ist mehr als in den
nächsten 20 Ländern auf der Produktionsliste zusammen – doch im Hinblick
auf den Energieverbrauch ist die chinesische Produktion ausgesprochen ineffizient. Würde China dieselben Technologien einsetzen wie Japan, könnte es
den Energieverbrauch in der Zementproduktion um 45 % senken, und würde
das heute bereits von mehreren Herstellern benutzte Trockenkammerverfahren
von allen Zementherstellern der Welt eingesetzt, könnte der Energieverbrauch
in der Zementindustrie weltweit sogar um 42 % gesenkt werden.72
70 U.S. Geological Survey (USGS), „“Iron and Steel Scrap“, in: Mineral Commodity
Summaries (Reston, VA: U.S. Department of the Interior, 2007), S. 86f.; „Steel Recycling
Rates at a Glance“, Datenblatt (Pittsburgh, PA: Steel Recycling Institute, 2007); Mississippi
Department of Environmental Quality, „Recycling Trivia“, unter www.deq.state.ms.us,
eingesehen am 17. Oktober 2007.
71 Angaben dazu, dass diese Lichtbogenöfen nur ein Viertel des Energieverbrauchs normaler Öfen haben, aus: Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67, S. 106; mögliche Senkung des
Energieverbrauchs berechnet auf Grundlage von Angaben aus: IISI, op. cit. Anmerkung 75;
McKinsey Global Institute, Curbing Global Energy Demand Growth: The Energy Productivity
Opportunity (Washington, DC: Mai 2007).
72 Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67, S. 139ff.; Angaben zu möglichen Energieeinsparungen durch Anwendung der japanischen Technologien aus: U.N. Environment Programme, Buildings and Climate Change: Status, Challenges and Opportunities (Paris: 2007), S.
19; Angaben zu möglichen Energieeinsparungen durch Anwendung des Trockenverfahrens
berechnet unter Einbeziehung von Angaben aus: Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67.
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Auch durch die Umstrukturierung der Verkehrssysteme könnte ein großes
Potenzial zur Einsparung von Rohstoffen realisiert werden. Wenn beispielsweise das öffentliche Verkehrsnetz einer Stadt entsprechend ausgebaut würde,
könnten durch einen einzigen Bus mit einem Gewicht von 12 t 60 Autos mit
einem Gewicht von jeweils 1,5 t, also insgesamt 90 t, ersetzt werden, was eine
Materialeinsparung von 87 % bedeuten würde. Und jeder Mensch, der sich
dafür entscheidet, sein Auto durch ein Fahrrad zu ersetzen, trägt damit zu einer
Senkung des Materialverbrauchs um 99 % bei.73
Da beim Recycling nur ein minimaler Teil der Energie aufgewendet werden
muss, die für die Neuherstellung eines Produkts aus Rohmaterialien benö­tigt
würde, besteht die größte Herausforderung darin, die vielen verschiedenen
Komponenten des städtischen Mülls zu recyceln. Heutzutage kann praktisch
jeder Fetzen Papier recycelt werden, neben Zeitungen und Zeitschriften auch
Cornflakes-Schachteln, Werbepost und Papiertüten. Gleiches gilt für Glas, einen Großteil des Plastmülls, für Aluminium und andere Materialien, die beim
Abriss von Gebäuden freiwerden. Fortschrittliche Industriegesellschaften mit
stabilen Bevölkerungszahlen, wie beispielsweise in Europa und Japan, brauchen nicht mehr so viele neue Rohstoffe, sie können größtenteils mit dem
bereits im Umlauf befindlichen Material arbeiten, und Metalle wie Stahl oder
Aluminium können praktisch endlos wiederverwendet werden.74
Einer der effektivsten Wege, die Menschen zum Recycling zu bewegen, ist
die Einführung einer Müllsteuer. Hier ein aktuelles Beispiel: Der Bundesstaat
New York hat ein Pay-as-you-throw-Programm (dt. etwa: Wenn Du etwas wegwirfst, zahlst Du dafür) ins Leben gerufen, in dem die Gemeinden dazu ermutigt werden, von ihren Bewohnern Abgaben für jeden Müllsack zu erheben, der
von der Gemeinde entsorgt werden muss. Durch diese Maßnahme hat sich der
Müllfluss auf die Müllkippen bereits deutlich verringert. Und in der Stadt Lyme
ist dank der Einführung einer Müllentsorgungssteuer für die 2.000 Einwohner
der Anteil des recycelten Mülls von 13 % im Jahr 2005 auf 52 % im Jahr 2006
angestiegen.75
Die Menge des recycelten Mülls in Lyme stieg zwischen 2005 und 2006
von 89 t auf 334 t an und enthielt unter anderem Wellpappe, die für 90 $ pro
Tonne verkauft werden kann, verschiedenes Papier mit einem Preis von 45 $
pro Tonne und Aluminium, das einen Preis von 1.500 $ pro Tonne hat. Durch 73 Angaben zum Gewicht eines Busses aus: John Shonsey et al., RTD Bus Transit Facility Design Guidelines and Criteria (Denver, CO: Regional Transportation District, Februar
2006); Angaben zum Gewicht eines Autos aus: Stacy C. Davis und Susan W. Diegel, Transportation Energy Data Book: Edition 26 (Oak Ridge, TN: Oak Ridge National Laboratory,
DOE, 2007), S. 415; Angaben zum Verhältnis Bus zu Auto aus: American Public Transportation Association, The Benefits of Public Transportation–An Overview (Washington, DC:
September 2002).
74 Angaben zu möglichen Energieeinsparungen durch den Einsatz von Altmetall anstelle
von frischem Eisenerz aus: Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67, S. 106.
75 „New Hampshire Town Boosts Recycling with Pay-As-You-Throw“, Environment
News Service, 21. März 2007; Angaben zur Bevölkerungszahl aus: Website der Stadt Lyme
unter www.lymenh.gov.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
dieses Programm wurden somit nicht nur die Ausgaben für die Müllhalden gesenkt, sondern es entstand auch ein zusätzlicher Kapitalfluss aus den Verkäufen
des Recyclingmaterials.76
In der kalifornischen Stadt San José werden bereits jetzt 62 % des Mülls, der
auf die Müllhalden gebracht wird, recycelt, doch seit Neuestem konzentriert
man sich hier auch auf die großen Mengen an Müll von Bau- und Abrissstellen.
Diese werden abtransportiert und zu einer der etwa zwei Dutzend Spezialrecyclingfirmen gebracht. So werden beispielsweise bei Premier Recycle täglich etwa
300 t angeliefert. Die Firma sorgt dafür, dass der darin enthaltene recycelbare
Zement, das Altmetall, das Holz und die Plastikteile voneinander getrennt werden, und verkauft anschließend einen Teil des Materials weiter, einen anderen
gibt sie kostenlos ab und für die Abholung des Rests bezahlt Premier Recycle eine
andere Partei.77
Vor Einführung dieses Systems wurden pro Jahr nur etwa 100.000 t des
in der Stadt anfallenden Bau- und Abrissschutts recycelt, heute sind es fast
500.000 t. Das Altmetall wird in Recyclingfirmen verbracht, das Holz entweder zu Mulch oder Holzschnitzeln zur Befeuerung von Kraftwerken verarbeitet und der Zement recycelt und zur Befestigung von Straßenrändern und
-gräben wiederverwendet. Wenn ein Haus nicht einfach abgerissen, sondern
stattdessen zurückgebaut wird, kann der Großteil des Materials einer Wiederverwendung zugeführt werden, wodurch sowohl der Energieverbrauch als
auch die CO2-Emissionen deutlich gesenkt werden können. Unter diesem Gesichtspunkt könnte San José zum Vorbild für viele andere Städte überall auf
der Welt werden.78
In Deutschland und Japan müssen Produkte wie Autos, Haushaltsgeräte
und Büroausrüstungen so konzipiert sein, dass sie leicht in ihre Einzelteile
zerlegt und diese recycelt werden können. Im Mai 1998 hat das japanische Parlament ein striktes Gesetz zum Geräterecycling verabschiedet, laut dem es verboten ist, Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen, Fernseher oder Klimaanlagen
einfach wegzuwerfen. Da die Konsumenten die Kosten für die Demontage in
Form von Gebühren tragen müssen, die an die Recyclingfirmen zu leisten sind
und die bei einem Kühlschrank schnell einmal bei 60 $ liegen können oder bei
35 $ für eine Waschmaschine, steigt der Druck auf die Hersteller, Geräte so zu
konzipieren, dass sie schnell und preiswert zerlegt werden können.79
In engem Zusammenhang damit steht auch das Konzept der Wiederaufarbeitung. Im Bereich der Schwerindustrie hat sich Caterpillar hier zu einem
der führenden Unternehmen entwickelt. In der Caterpillar-Anlage in Corinth
76 „New Hampshire Town Boosts Recycling with Pay-As-You-Throw“, op. cit. Anmerkung 74.
77 Sue McAllister, „Commercial Recycling Centers: Turning Debris into Treasure“, San
Jose Mercury News, 10. April 2007.
78 Ebenda.
79 Junko Edahiro, Japan for Sustainability, E-Mail an Janet Larsen, Earth Policy Institute, 16. Oktober 2007; Tim Burt, „VW is Set for $500m Recycling Provision“, Financial
Times, 12. Februar 2001; Mark Magnier, „Disassembly Lines Hum in Japan’s New Industry“, Los Angeles Times, 13. Mai 2001.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
in Mississippi werden jeden Tag 17 Lastwagenladungen an Dieselmotoren recycelt. Diese Motoren werden von den Mitarbeitern in Handarbeit zerlegt und
nicht ein einziges Teil, nicht einmal ein Bolzen oder eine Schraube, wird weggeworfen. Nachdem die Maschine zerlegt wurde, werden alle kaputten oder
verschlissenen Teile durch neue ersetzt und die Maschine wieder zusammengesetzt, sodass die Maschine hinterher wieder so gut wie neu ist. Diese Wiederverwertungsabeilung von Caterpillar leistet mit 1 Mrd. $ an zusätzlichen
Verkaufseinnahmen bei einem jährlichen Wachstum von 15 % einen beeindruckenden Beitrag zum Gewinn der Firma.80
Ein weiterer neuer Industriezweig ist das Recycling von Flugzeugen. Daniel
Michaels schrieb in einem Artikel im Wall Street Journal, dass Boeing und Airbus, die sich im Bereich Flugzeugbau seit fast 40 Jahren einen harten Konkurrenzkampf liefern, jetzt darum wetteifern, wer von ihnen seine alten Linienjets
am effizientesten wieder zerlegen kann. Im ersten Schritt werden dabei die verkäuflichen Teile des Flugzeugs, wie Triebwerke, Fahrgestell, die Öfen der Bordküche und Hunderte anderer Teile, entfernt. Im Falle eines Jumbojets kann der
Verkauf dieser Teile leicht bis zu 4 Mio. $ einbringen. Anschließend werden
das Aluminium, Kupfer, Plastik und andere Materialien entfernt und recycelt,
sodass das hier gewonnene Aluminium demnächst vielleicht in einem Auto,
einem Fahrrad oder einem anderen Flugzeug Verwendung finden kann.81
Letztendlich besteht das große Ziel darin, 90 % eines Flugzeugs wiederverwerten zu können, eines Tages vielleicht sogar 95 % oder mehr. Bisher wurden
bereits mehr als 3.000 Linienflugzeuge aus Altersgründen ausrangiert, und es
werden noch viele mehr werden, doch durch die neuen Recyclingmethoden
wird diese ausrangierte Flotte jetzt eine Art Ersatz für eine Aluminiummine.82
Da Computer infolge technischer Fortschritte immer schneller veralten, ist
die Notwendigkeit, sie schnell zerlegen und recyceln zu können, eine riesige
Herausforderung beim Aufbau einer umweltverträglichen Wirtschaft. In Europa gehen die IT-Firmen bereits im großen Umfang zur Wiederverwertung von
Computerteilen über. Da laut europäischen Gesetzen die Hersteller für das
Sammeln, Zerlegen und die Entsorgung toxischer Materialien in IT-Gegenständen verantwortlich sind und es auch bezahlen müssen, arbeiten die Firmen
inzwischen daran, dass sich alles, vom Mobiltelefon bis zum Computer leicht
zerlegen lässt. Nokia hat sogar bereits ein Mobiltelefon entwickelt, dass sich im
wahrsten Sinne des Wortes selbst zerlegt.83
In der Textilindustrie hat Patagonia, ein Händler für Outdoor-Ausrüstung,
ein Recyclingprogramm für Kleidungsstücke gestartet, wobei man mit Kleidung aus Polyesterfasern begann. In Zusammenarbeit mit der japanischen
80 Brian Hindo, „Everything Old is New Again“, BusinessWeek Online, 25. September 2006.
81 Daniel Michaels, „Boeing and Airbus Compete to Destroy What They Built“, Wall
Street Journal, 1. Juni 2007.
82 Ebenda.
83 „FT Report – Waste and the Environment: EU Tackles Gadget Mountain“, Financial Times, 18. April 2007; Angaben über Nokia aus: Jeremy Faludi, „Pop Goes the Cell
Phone“, Worldchanging, 4. April 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Firma Teijin recycelt Patagonia inzwischen nicht nur die Kleidung aus Polyesterfasern, die die Firma selbst vertreibt, sondern auch die der Konkurrenz.
Nach Schätzungen der Experten von Patagonia wird zur Herstellung eines
Kleidungsstücks aus recyceltem Polyester – das sich übrigens in nichts von
Polyester unterscheidet, das direkt aus Erdöl hergestellt wurde – mehr als drei
Viertel weniger Energie verbraucht wird. Angesichts dieses enormen Erfolges
arbeitet man bei Patagonia jetzt an Möglichkeiten, auch Kleidungsstücke aus
Nylon zu recyceln und plant für die Zukunft Gleiches für Kleidungsstücke aus
Wolle und Baumwolle.84
Neben den Maßnahmen zur Förderung des Rohstoffrecyclings sind auch
jene zur Förderung der Mehrfachverwendung von Produkten sehr wichtig,
wie beispielsweise im Falle von Mehrwegverpackungen für Getränke. So ist in
Finnland die Verwendung von Einweggetränkeverpackungen für alkoholfreie
Getränke verboten und in der kanadischen Provinz Prince Edward gibt es ein
absolutes Verbot für nicht wiederbefüllbare Getränkeverpackungen. In beiden
Fällen sind infolge des Verbots die Müllströme zu den lokalen Müllkippen deutlich zurückgegangen.85
Für eine wiederbefüllbare Glasflasche werden nur etwa 10 % der Energie
verbraucht, die im Falle einer recyclingfähigen Aluminiumdose benötigt würde. Die Reinigung, Sterilisierung und Neuetikettierung einer bereits benutzten
Flasche verbraucht relativ wenig Energie, das Recycling von Dosen aus Aluminium, das einen Schmelzpunkt von 660 ºC hat, ist dagegen ein sehr energieintensiver Prozess. Ein Verbot nicht wiederbefüllbarer Verpackungen ist
eine Option, die in fünffacher Hinsicht Vorteile bringt – Materialverbrauch
und CO2-Emissionen werden gesenkt, ebenso wie das Müllaufkommen und
die Luft- und Wasserverschmutzung. Außerdem kann so eine große Menge
an Treibstoff für den Transport eingespart werden, da die leeren Flaschen ganz
einfach von den Lieferfahrzeugen in die ursprüngliche Abfüllanlage oder Brauerei zurückgebracht und dort wiederbefüllt werden.86
Eine weitere Option zur Senkung der CO2-Emissionen, die zunehmend
an Attraktivität gewinnt, bestünde darin, Industrien, die viel Energie verbrauchen, aber nicht wirklich notwendig sind, abzuschaffen oder zumindest zu verkleinern. Erstklassige Beispiele für solche Industrien sind die Tafelwasser- und
die Goldindustrie. Für die Jahresproduktion von 2.500 t Gold müssen 500
Mio. t Erz verarbeitet werden, das ist mehr als ein Drittel der Menge an neuem
Erz, die jährlich für die Stahlproduktion benötigt wird. Zur Gewinnung von
1 t Stahl werden 2 t Erz benötigt, während im Gegensatz dazu 200.000 t Erz
84 Rick Ridgeway, Vizepräsident, Environmental Initiatives and Special Media Projects,
Patagonia, Inc., Gespräch mit dem Autor, 22. August 2006.
85 Angaben zu Finnland aus: Brenda Platt und Neil Seldman, Wasting and Recycling
in the United States 2000 (Athens, GA: GrassRoots Recycling Network, 2000); Angaben
zu Kanada: Prince Edward Island Government, „PEI Bans the Can“, unter www.gov.pe.ca,
eingesehen am 15. August 2005.
86 Brenda Platt und Doug Rowe, Reduce, Reuse, Refill! (Washington, DC: Institute for
Local Self-Reliance, 2002); Angaben zum Energieverbrauch aus: David Saphire, Case Reopened: Reassessing Refillable Bottles (New York: INFORM, Inc., 1994).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
nötig sind, um nur eine Tonne Gold zu erhalten. Für die Verarbeitung der zur
derzeitigen Goldproduktion nötigen 500 Mio. t Erz müssen riesige Energiemengen aufgebracht werden – und die dabei entstehenden CO2-Emissionen
sind so hoch wie die von 5,5 Mio. Autos.87
Vom Standpunkt des Klimaschutzes aus betrachtet ist es auch sehr schwierig, eine Rechtfertigung für den Kauf von Tafelwasser in Flaschen zu finden, bei
dem es sich in der Regel um normales Leitungswasser handelt, das über große
Strecken zum Verbraucher transportiert und dann zu unglaublichen Preisen
verkauft wird. Obwohl viele Konsumenten in den Industrieländern dank des
cleveren Marketings überzeugt sind, dass Tafelwasser sauberer und gesünder
ist als Leitungswasser, konnten die Experten des WWF in einer detaillierten
Untersuchung keinerlei Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Behauptung
finden. Tatsächlich stellten sie vielmehr fest, dass es in den USA und in Europa
mehr Standards für die Qualität von Leitungswasser gibt als für Tafelwasser.
Und für die Menschen in den Entwicklungsländern, wo das Leitungswasser
tatsächlich ungesund ist, ist es weitaus preiswerter, das Wasser abzukochen
oder zu filtern, als es in Flaschen zu kaufen.88
Charles S. Fishman schreibt in diesem Zusammenhang in der Zeitschrift
Fast Company: „Wenn plötzlich eine ganze Industrie entsteht, die nur dazu
da ist, uns mit etwas zu versorgen, das wir nicht brauchen, […] dann sollten wir uns einmal fragen, wie das passieren konnte und welche Folgen es
hat.“ Tatsächlich ist die Werbung dieses Industriezweigs darauf ausgerichtet,
das Vertrauen der Verbraucher in die Unbedenklichkeit des Leitungswassers
als Trinkwasser zu erschüttern – oder wie Gina Solomon, eine Expertin des
Natural Resources Defense Council, sehr richtig bemerkte: „Die Entwicklung
des Marktes für Tafelwasser in Flaschen basiert größtenteils auf der Angst der
Menschen.“89
Die Herstellung der rund 28 Mrd. Plastikflaschen, die allein für den amerikanischen Wasserflaschenmarkt benötigt werden, verschlingt 17 Mio. Barrel
Öl. Wenn man nun noch die Energiemenge einbezieht, die nötig ist, um alle
87 Angaben zur Goldgewinnung aus: USGS, „Gold“, in: Mineral Commodity Summaries (Reston, VA: U.S. Department of the Interior, 2005), S. 72f., 84ff.; Angaben zum
Verbrauch von Erz bei der Goldgewinnung berechnet auf Grundlage von Daten aus: New
Jersey Mining Company Reserves & Resources, „Estimated Ore Reserves“, unter www.
newjerseymining.com, aktualisiert am 31. Dezember 2006; Angaben zum Verbrauch von
Erz bei der Stahlproduktion aus: Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67, S. 115; Angaben
zur Höhe der CO2-Emissionen berechnet auf Grundlage von Daten aus: Gavin M. Mudd,
„Resource Consumption Intensity and the Sustainability of Gold Mining“, 2. International
Conference on Sustainability Engineering and Science, Auckland, Neuseeland, 20.-23. Februar 2007; USGS, Mineral Commodity Summaries, elektronische Datenbank unter mine­
rals.usgs.gov/products/index.html, aktualisiert im Januar 2007; EPA, Emission Facts: Average Annual Emissions and Fuel Consumption for Passenger Cars and Light Trucks (Washington,
DC: April 2000).
88 Catherine Ferrier, Bottled Water: Understanding a Social Phenomenon (Surrey, GB:
WWF, 2001).
89 Charles Fishman, „Message in a Bottle“, Fast Company, Ausgabe 117 (Juli 2007), S.
110; Solomon zitiert in: Paula Hunt, „Why are We Still Guzzling that Bottled Water?“, San
Antonio Express, 8. August 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
zwei Wochen etwa 1 Mrd. Flaschen Tafelwasser in die Super- und Minimärkte
zu befördern, oft über Hunderte Kilometer, sowie für die Energie zur Kühlung
des Wassers, so kommt man leicht auf einen Gesamtverbrauch von 50 Mio.
Barrel Öl pro Jahr allein durch die amerikanische Tafelwasserindustrie.90
Die gute Nachricht ist, dass viele Menschen beginnen zu begreifen, dass diese Industrie enorm klimaschädigend ist. Auch die Bürgermeister einiger großer Städte erkennen langsam, dass sie Millionen an Steuergeldern verschwenden, um für die Angestellten der Stadt abgefülltes Wasser zu kaufen, das 1.000
Mal teurer ist als das Trinkwasser aus der Leitung, das in den öffentlichen Gebäuden ja bereits verfügbar wäre. Aus diesem Grunde hat Gavin Newsom, der
Bürgermeister von San Francisco, verboten, weitere öffentliche Gelder für den
Kauf von abgefülltem Trinkwasser für öffentliche Gebäude, auf Flächen, die
der Stadt gehören, oder auf von der Stadt gesponserten Veranstaltungen auszugeben. Andere Städte, darunter Los Angeles, Salt Lake City und St. Louis, sind
diesem Beispiel bereits gefolgt. Und in New York City hat man eine 5 Mio. $
teure Werbekampagne gestartet, mit der das Vertrauen der Bürger in das Leitungswasser als Trinkwasser gestärkt und so die Stadt von Tafelwasserflaschen
sowie den Trucks, die sie in die Stadt bringen und dabei die Straßen verstopfen,
befreit werden soll.91
Insgesamt lässt sich sagen, dass es weltweit noch ein riesiges Potenzial zur
Senkung der Kohlenstoffemissionen durch Materialeinsparung gibt. Dies
beginnt bei den wichtigsten Metallen – Stahl, Aluminium und Kupfer – bei
denen zum Recycling nur ein kleiner Teil der Energie aufgewendet werden
müsste, der zu ihrer Neugewinnung aus Roherz nötig wäre. Weiter geht es
mit Neuentwicklungen bei Autos, Haushaltsgeräten und anderen Produkten,
die schneller in ihre Bestandteile zerlegt und damit leichter recycelt werden
können.
Wie bereits erwähnt kann auch der Hausmüll getrennt und dann zu einem
großen Teil recycelt bzw. kompostiert werden. Wenn Gebäude rückgebaut statt
abgerissen werden, können die verwendeten Materialien praktisch vollständig
wiederverwertet werden. Durch einen Übergang zu Mehrwegverpackungen
bei Getränken können Materialverbrauch und CO2-Emissionen im Bereich
der Getränkeindustrie um 90 % gesenkt werden. Die Wiederverwendung
noch brauchbarer Teile, wie sie von Caterpillar im Falle von Dieselmotoren
praktiziert wird, trägt ebenfalls zur Senkung der CO2-Emissionen bei, und
wenn es uns jetzt noch gelänge, energieintensive, aber unnütze Industrien
90 Ölverbrauch berechnet auf Grundlage von Angaben zur Zahl der Wasserflaschen
aus: Jennifer Gitlitz et al., Water, Water Everywhere: The Growth of Non-carbonated Beverages
in the United States (Washington, DC: Container Recycling Institute, Februar 2007), sowie
aus: Pacific Institute, „Bottled Water and Energy“, Datenblatt (Oakland, CA: 2007).
91 Bill Marsh, „A Battle Between the Bottle and the Faucet“, New York Times,
15. Juli 2007; Cecilia M. Vega, „Mayor to Cut Off Flow of City Money for Bottled Water“,
San Francisco Chronicle, 22. Juni 2007; Doug Smeath, „Rocky Wants to Deep-Six H2O
Bottles“, Deseret Morning News, 22. Juni 2007; Ross C. Anderson, Bürgermeister von Salt
Lake City, landesweite Telefonpressekonferenz, Kampagne „Think Outside the Bottle“,
9. Oktober 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
– wie die Gold- oder die Tafelwasserindustrie – abzuschaffen oder zumindest
massiv zu verkleinern, dann würde das die Welt dem Zeitpunkt, an dem die
CO2-Konzentration in der Atmosphäre wieder stabil wäre, ein Stückchen näher bringen.
DAS ENERGIESPARPotenzial
In diesem Kapitel sollten Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie wir den von
der IEA für den Zeitraum zwischen 2006 und 2020 prognostizierten Anstieg
des Energieverbrauchs um 30 % ausgleichen können, und wir sind ziemlich
überzeugt davon, dass die hier vorgestellten Maßnahmen weitaus mehr leisten
könnten als das, wenn man bedenkt, dass allein der Übergang zu effizienteren
Beleuchtungsmethoden den weltweiten Energieverbrauch um 12 % senken
würde.92
Im Bereich der Haushaltsgeräte liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Festlegung international gültiger Energieeffizienzstandards, die sich an den höchsten
Standards derzeit auf dem Markt befindlicher Geräte orientieren und im Einklang mit dem technologischen Fortschritt regelmäßig erhöht werden sollten.
In Anbetracht des riesigen Potenzials zur Erhöhung der Energieeffizienz bei
Haushaltsgeräten sollte die hier bis 2020 eingesparte Energiemenge mindestens ebenso groß sein wie im Bereich der Beleuchtung.
Was den Verkehrsbereich angeht, so kann hier der Benzinverbrauch innerhalb kurzer Zeit gesenkt werden, indem man auf Autos mit geringerem Kraftstoffverbrauch umsteigt, die städtischen Verkehrssysteme umstrukturiert und
Hochgeschwindigkeitsnetze für den Fernverkehr mit der Bahn einrichtet, die
sich an den Vorbildern aus Japan oder Europa orientieren. In Hunderten von
Städten, in denen die Bürgermeister seit Jahren mit den Problemen verstopfter
Straßen und hoher Luftverschmutzung kämpfen, ist dieser Übergang von der
Konzeption autozentrierter Verkehrssysteme hin zu einer stärkeren Diversifizierung bereits deutlich erkennbar. Die Bürgermeister dieser Städte entwickeln
zum Teil höchst intelligente Möglichkeiten, nicht nur die Benutzung der Autos
einzuschränken, sondern die Notwendigkeit dazu insgesamt zu eliminieren.
Weder unsere Städte noch die Rolle, die Autos darin spielen, werden zukünftig
dieselben sein wie heute, da praktisch alle öffentlichen Initiativen darauf ausgerichtet sind, die Autos soweit wie möglich aus den Städten zu verbannen.
Im Industriesektor ist das Energiesparpotenzial besonders groß. In der Petrochemie könnte allein durch den Übergang zu den effizientesten derzeit verfügbaren Produktionstechnologien sowie das verstärkte Recycling von Plastik
der Energieverbrauch um 32 % gesenkt werden. In der Stahlherstellung könnte
durch eine Steigerung der Produktionseffizienz eine Senkung des Energieverbrauchs um 23 % erreicht werden. Und für Zement wären die möglichen Zuwächse sogar noch größer, hier brächte ein Übergang zum hoch effizienten Trockenverfahren Einsparungen im Energieverbrauch von 42 %.93
92 IEA, op. cit. Anmerkung 2, S. 492; IEA, op. cit. Anmerkung 6.
93 Mandil et al., op. cit. Anmerkung 67, S. 39, 59ff., 95f., 139ff.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Bei Gebäuden, auch bei älteren, bei denen eine Nachrüstung Energieeinsparungen von 20-50 % bringen kann, gibt es ein sehr profitables Energiesparpotenzial. Wie bereits angemerkt kann eine solche Senkung des Energieverbrauchs in Kombination mit der Verwendung von Ökostrom zur Beheizung, Kühlung und Beleuchtung der Gebäude dazu beitragen, dass schon bald
Gebäude, die gar keine Kohlenstoffemissionen mehr verursachen, in greifbare
Nähe rücken.
Eine ganz einfache Möglichkeit, all diese Dinge zu erreichen, bestünde in
der Einführung einer Karbonsteuer, in der sich die tatsächlichen Kosten für die
Verbrennung fossiler Brennstoffe widerspiegeln würden. Dazu empfehlen wir,
die bisherige Besteuerung in diesem Bereich über die nächsten 12 Jahre pro
Jahr um 20 $ pro Tonne anzuheben, also insgesamt um 240 $ pro Tonne. Dies
mag zwar manchem sehr viel erscheinen, doch selbst das reicht noch nicht aus,
um all die indirekten Kosten abzudecken, die durch die Verwendung fossiler
Brennstoffe verursacht werden.
Bei unserer Suche nach Möglichkeiten zur Erhöhung der Energieeffizienz
in diesem Kapitel haben wir im Hinblick auf das Potenzial dafür mehrere angenehme Überraschungen erlebt. Im nächsten Kapitel wenden wir uns nun den
Möglichkeiten zur Erschließung und umfassenderen Nutzung der erneuerbaren
Energiequellen zu – ein Bereich, der ebenso viele aufregende Möglichkeiten
bietet.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 12
Der Übergang zu erneuerbaren Energien
So wie das 19. Jahrhundert der Kohle gehörte und das 20. Jahrhundert dem
Erdöl, wird das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Sonnen-, der Wind- und
der geothermischen Energie werden. In Europa waren die zusätzlichen Kapazitäten zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen schon im Jahr
2006 größer als die aus konventionellen Energiequellen, wodurch Europa zum
ersten Kontinent wurde, der in das neue Energiezeitalter eingetreten ist. In den
USA sind die Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Windenergie 2006 um 27
% angestiegen, während die aus Kohle leicht abnahmen.
Inzwischen sind vielerorts bereits Anzeichen dafür zu sehen, dass sich eine
Energiewirtschaft wie in unserem Plan B vorgesehen zu entwickeln beginnt.
Die Regierung des Bundesstaates Texas arbeitet an Plänen zum massiven Ausbau der Stromerzeugungskapazitäten aus Wind, durch die 23.000 Megawatt
an zusätzlichen Kapazitäten entstehen sollen – das entspricht etwa der Leistung
von 23 Kohlekraftwerken. In China werden inzwischen 160 Mio. Menschen
über solarbetriebene Wasserheizanlagen auf ihren Dächern mit Warmwasser
versorgt. In Island werden fast 90 % der Häuser mit geothermischer Energie
beheizt. In Europa werden 60 Mio. Menschen größtenteils über Windparks
mit Strom versorgt. Und auf den Philippinen erhalten 19 Mio. Menschen ihren Strom aus Erdwärmekraftwerken.
In Kapitel 11 wurde beschrieben, wie der prognostizierte Anstieg im Energieverbrauch bis 2020 durch Maßnahmen zur Erhöhung der Effizienz ausgeglichen werden kann. In diesem Kapitel soll es nun darum gehen, sich der Her Christoph Podewils, „There’s a Lot of Water in the Wine: Renewable Energy Lobby
Criticizes the EU’s Highly Praised Goal for Alternative Energy“, PHOTON International,
April 2007, S. 14; Global Wind Energy Council (GWEC) und Greenpeace, Global Wind
Energy Outlook 2006 (Brüssel: 2006); U.S. Department of Energy (DOE), Energy Information Administration (EIA), Electric Power 2006 (Washington, DC: Oktober 2007), S. 26.
„Texas Decision Could Double Wind Power Capacity in the U.S.“, Renewable Energy Access, 4. Oktober 2007; Vergleich zu Kohlekraftwerken berechnet auf Grundlage der
Annahme, dass ein durchschnittliches Kohlekraftwerk über Erzeugungskapazitäten von 500
Megawatt verfügt und 72 % der Zeit tatsächlich in Betrieb ist, womit es 3,15 Mrd. kWh pro
Jahr erzeugt. Eine durchschnittliche Windturbine ist 36 % der Zeit in Betrieb.; Angaben
zur Nutzung von geothermischer Energie in Island aus: Iceland National Energy Authority
and Ministries of Industry and Commerce, Geothermal Development and Research in Iceland
(Reykjavik, Island: April 2006), S. 16; europäischer Pro-Kopf-Verbrauch aus: European
Wind Energy Association (EWEA), „Wind Power on Course to Become Major European
Energy Source by the End of the Decade“, Pressemitteilung (Brüssel: 22. November 2004);
Angaben zu den solarbetriebenen Warmwasserbereitern berechnet auf Grundlage von Angaben aus: Renewable Energy Policy Network for the 21st Century (REN21), Renewables
Global Status Report, 2006 Update (Washington, DC: Worldwatch Institute, 2006), S. 21
sowie aus: Bingham Kennedy, Jr., Dissecting China’s 2000 Census (Washington, DC: Population Reference Bureau, Juni 2001); Angaben zu den Philippinen aus: Geothermal Energy
Association (GEA), „World Geothermal Power Up 50%, New US Boom Possible“, Pressemitteilung (Washington, DC: 11. April 2002).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
ausforderung einer möglichst umfassenden Nutzung der erneuerbaren Energiequellen zu stellen, mit deren Hilfe wir unser Ziel der Senkung der weltweiten
CO2-Emissionen um 80 % erreichen können. Oberste Priorität muss es dabei
haben, alle mit Kohle und Erdöl betriebenen Kraftwerke durch erneuerbare
Energiequellen zu ersetzen.
Die in diesem Kapitel dargelegten Zielsetzungen zur weiteren Erschließung
erneuerbarer Energiequellen basieren nicht darauf, was allgemein als politisch
machbar gilt, sondern darauf, was unserer Meinung nach notwendig ist, um zu
verhindern, dass der Klimawandel zu einem nicht mehr umkehrbaren Prozess
wird. Das hier ist nicht Plan A, wir wollen nicht weitermachen wie bisher. Wir
wollen einen Plan B vorstellen – eine Generalmobilmachung, eine umfassende
Reaktion, die das Ausmaß der Bedrohung, den die globale Erwärmung für
unsere Zivilisation darstellt, auch tatsächlich widerspiegelt.
Die große Frage ist, ob es uns gelingen wird, die Kapazitäten der erneuerbaren Energien schnell genug auszubauen – und wir sind der Ansicht, dass
uns das gelingen kann. Die aktuellen Trends in den Bereichen Mobiltelefon
und PC vermitteln ein erstes Gefühl dafür, wie schnell sich neue Technologien
verbreiten können. Nachdem die Gesamtverkaufszahlen für Mobiltelefone im
Jahr 1986 die 1-Million-Marke durchbrachen, setzte ein regelrechter Boom
ein, wobei sich die Zahl der Mobilfunknutzer in jedem der darauffolgenden
drei Jahre jeweils verdoppelte. In den nächsten 12 Jahren sollte sich die Zahl
der Besitzer eines Mobiltelefons dann alle zwei Jahre mehr als verdoppeln, sodass die Zahl der Mobiltelefone weltweit im Jahr 2001 bereits bei 995 Mio.
lag, was einer Vertausendfachung der Gesamtzahl innerhalb von nur 15 Jahren
entsprach. Und im Jahr 2007 gab es bereits mehr als 2 Mrd. Mobilfunknutzer
weltweit.
Ganz ähnlich war die Entwicklung bei den Verkäufen von PCs. Wurden
1983 noch etwa 1 Mio. PCs verkauft, waren es 2003 bereits geschätzte 160
Mio. – ein Anstieg um das 160-Fache in nur zwanzig Jahren. Und heute zeigen
sich ähnliche Wachstumsraten im Bereich der erneuerbaren Energien. Die Verkaufszahlen für Solarzellen verdoppeln sich alle zwei Jahre und die jährlichen
Zuwächse bei den Stromerzeugungskapazitäten aus Windenergie liegen nicht
weit dahinter. Ebenso, wie sich die Informations- und die Kommunikationsbranche in den vergangenen zwanzig Jahren grundlegend verändert haben,
wird sich auch die Energiewirtschaft in den nächsten zehn Jahren deutlich
verändern.
International Telecommunications Union, „Mobile Cellular Subscribers per 100 People“, ICT Statistics Database unter www.itu.int/ITUD/icteye, aktualisiert 2007; Molly O.
Sheehan, „Mobile Phone Use Booms“, Worldwatch Institute, Vital Signs 2002 (New York:
W. W. Norton & Company, 2002), S. 85.
Angaben zu PCs aus: Computer Industry Almanac Inc, „25-Year PC Anniversary Statistics“, Pressemitteilung unter www.c-i-a.com, 14. August 2006; Angaben zu Solarzellen aus:
Worldwatch Institute, Vital Signs 2005, CD-Rom (Washington, DC: 2005); Paul Maycock,
Prometheus Institute, Photovoltaic News, Vol. 26, Nr. 3 (März 2007), S. 6, sowie verschiedene vorangegangene Ausgaben.
291
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Allerdings gibt es einen klaren Unterschied: Während die Umstrukturierung des Informations- und des Kommunikationssektors durch technologische
Fortschritte und die Einwirkung der Kräfte des Marktes vorangetrieben wurde,
wird der entscheidende Antrieb zur Umstrukturierung der Energiewirtschaft
aus der Erkenntnis erwachsen, dass das Schicksal unserer Zivilisation davon
abhängt. Doch es ist nicht damit getan, es überhaupt in Angriff zu nehmen,
wir müssen es auch in Rekordgeschwindigkeit tun.
DAS EINFANGEN DES WINDES
In seiner Studie zu den weltweiten Kapazitäten im Bereich der Windenergie kam das Team von Cristina Archer und Mark Jacobson von der Stanford
University zu dem Schluss, wenn es gelänge, nur ein Fünftel der Windenergie
weltweit nutzbar zu machen, so könnte damit siebenmal mehr Strom erzeugt
werden, als die Welt derzeit verbraucht. In China beispielsweise – mit seinen
großen Ebenen im Norden und Westen, den zahllosen Berggraten und der langen Küstenlinie, die alle ein hohes Potenzial für die Nutzung von Windenergie
bieten – könnte problemlos genug Wind nutzbar gemacht werden, um die
derzeit vorhandenen Stromerzeugungskapazitäten des Landes zu verdoppeln.
Als das U.S. Department of Energy 1991 seine erste Übersicht über die
Windressourcen des Landes veröffentlichte, stellten die Experten darin fest, dass
die Menge an Windenergie, die in North Dakota, Kansas und Texas – drei
Bundesstaaten mit besonders günstigen Bedingungen zur Nutzung von Windenergie – nutzbar gemacht werden könnte, ausreichen würde, um den Strombedarf der ganzen Nation zu decken. Seither ist es dank der Fortschritte im
Turbinenbau möglich, dass Windturbinen auch bei geringeren Windgeschwindigkeiten arbeiten und Wind insgesamt effizienter in Strom umwandeln. Und
da Windturbinen inzwischen nicht mehr nur knapp 40 sondern etwa 100 m
hoch sind, können sie viel mehr Wind einfangen, der noch dazu stärker ist, und
damit 20-mal mehr Strom erzeugen als die ersten Windturbinen, die Anfang
der 80er-Jahre aufgestellt wurden. Angesichts dieser großen Fortschritte würden
die Kapazitäten der Windturbinen in den drei genannten Bundesstaaten nicht
nur ausreichen, um den Strombedarf des Landes zu decken, sondern sogar den
gesamten Energiebedarf.
In einer weiteren Studie zu den Möglichkeiten der Nutzung von Windenergie vor den Küsten der USA kamen die Experten des DOE im Jahr 2005
zu dem Ergebnis, dass allein die Nutzbarmachung der Windenergie bis zu einer Entfernung von 80 km von der Küste genügend Strom liefern würde, um
Cristina L. Archer und Mark Z. Jacobson, „Evaluation of Global Windpower“, Journal of Geophysical Research, Vol. 110 (30. Juni 2005); Jean Hu et al., „Wind: The Future is
Now“, Renewable Energy World, Juli-August 2005, S. 212.
D. L. Elliott, L. L. Wendell und G. L. Gower, An Assessment of the Available Windy
Land Area and Wind Energy Potenzial in the Contiguous United States (Richland, WA: Pacific
Northwest Laboratory, 1991); C. L. Archer und M. Z. Jacobson, „The Spatial and Temporal Distributions of U.S. Winds and Wind Power at 80 m Derived from Measurements“,
Journal of Geophysical Research, 16. Mai 2003.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
70 % des Strombedarfs der Vereinigten Staaten abzudecken. In Europa wird
die Windenergie vor den Küsten bereits genutzt. In einem Gutachten der auf
Windenergie spezialisierten Consulting-Gruppe Garrad Hassan aus dem Jahr
2004 heißt es, dass bis 2020 der Strombedarf aller europäischen Privathaushalte durch Strom aus Windenergie gedeckt werden könnte, wenn die Regierungen ihre riesigen Ressourcen in Küstennähe aggressiv erschließen würden.
Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2007 sind die Stromerzeugungskapazitäten im Bereich Windenergie weltweit von 18.000 auf geschätzte 92.000
Megawatt angewachsen, und für Anfang 2008 wird das Erreichen der 100.000
Megawatt-Marke prognostiziert. Das bedeutet, dass die Kapazitäten seit dem
Jahr 2000 um jährlich 25 % angewachsen sind und sich alle drei Jahre verdoppelt haben.
Weltweit führend im Hinblick auf die Gesamtkapazitäten zur Stromerzeugung aus Windenergie ist Deutschland, gefolgt von den Vereinigten Staaten,
Spanien, Indien und Dänemark. Wenn man allerdings den Anteil an der Gesamtstromversorgung betrachtet, der aus Windenergie erzeugt wird, so ist mit
einem Anteil von 20 % Dänemark weltweit führend. Bereits drei norddeutsche
Bundesländer beziehen inzwischen mehr als 30 % ihres Stroms aus Windenergie, für Gesamtdeutschland sind es 7 % – doch der Trend ist steigend.
Dänemark arbeitet derzeit daran, den Anteil des aus Windenergie erzeugten
Stroms am Gesamtstrom auf 50 % zu erhöhen, wobei der größte Teil der zusätzlichen Kapazitäten aus der Nutzung der Windenergie in Küstennähe erwachsen soll. Im Zusammenhang mit ihren Erwägungen, Windenergie möglicherweise bald zur Hauptquelle von Energie zur Stromerzeugung zu machen,
haben die dänischen Experten für energiepolitische Planungen die gesamte
Energiepolitik des Landes auf den Kopf gestellt: In ihren Plänen bildet die
Windenergie die Hauptstütze der Stromversorgung und wird nur im Notfall,
sollte der Wind einmal zu schwach sein, durch fossile Brennstoffe ersetzt.10
Viele Jahre lang hat sich das Wachstum in der Windindustrie auf die fünf
Länder konzentriert, die in diesem Bereich führend waren – und über etwa 70
W. Musial und S. Butterfield, Future of Offshore Wind Energy in the United States (Golden, CO: DOE, National Renewable Energy Laboratory (NREL), Juni 2004); Angaben zum
Stromverbrauch in den USA aus: DOE, EIA, Electric Power Annual 2005 (Wa­shington,
DC: November 2006); Garrad Hassan and Partners, Sea Wind Europe (London: Greenpeace, März 2004).
„Wind Market Global Status 2007“, Windpower Monthly, März 2007, S. 37; GWEC,
„Global Wind Energy Markets Continue to Boom – 2006 Another Record Year“, Pressemitteilung (Brüssel: 2. Februar 2007).
GWEC, Global Wind 2006 Report (Brüssel: 2007), S. 7; Anteil des aus Windenergie
erzeugten Stroms für Dänemark berechnet auf Grundlage von Angaben aus: BP, Statistical
Review of World Energy 2007 (London: 2007) sowie GWEC, op. cit. diese Anmerkung, S.
4, Kapazitätsfaktor aus: NREL, Power Technologies Energy Data Book (Golden, CO: DOE,
August 2006); statistische Angaben zu Deutschland aus: Janet L. Sawin, „Wind Power Blow­
ing Strong“, in: Worldwatch Institute, Vital Signs 2006-2007 (New York: W. W. Norton &
Company, 2006).
10 Flemming Hansen, „Denmark to Increase Wind Power to 50% by 2025, Mostly
Offshore“, Renewable Energy Access, 5. Dezember 2006.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
% aller Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Windenergie verfügten. Doch
das ändert sich langsam, da inzwischen etwa 70 Länder versuchen, sich die
Windenergie nutzbar zu machen und die Windenergieindustrie damit zu einer
globalen Industrie wird. Zu den aufstrebenden „Windmächten“ gehören unter
anderem China, Frankreich und Kanada, in denen sich die aus Windenergie
erzeugte Strommenge im Jahr 2006 jeweils verdoppelt hat.11
Zunächst war man noch besorgt, die Windturbinen könnten eine Gefahr
für Vögel darstellen, doch durch ausgedehnte Studien und eine sorgfältige Auswahl der Standorte für Turbinen kann leicht vermieden werden, dass die Turbinen den Vögeln gefährlich werden. Neueste Studien haben ergeben, dass nur
wenige Vögel durch Kollisionen mit Windturbinen ums Leben kommen – im
Gegensatz zu den vergleichsweise vielen Todesfällen durch Zusammenstöße
mit Hochhäusern oder Autos bzw. mit Katzen.12
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Optik. Einige Menschen betrachten
einen Windpark und sehen darin eine Verschandelung der Landschaft, während andere eine Energiequelle sehen, die unsere Zivilisation retten könnte.
Doch auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die auf keinen Fall einen
Windpark in der Nähe ihres Hauses haben wollen, überwiegt doch die Zahl
derer, die dies sehr begrüßen würden. So ist beispielsweise in einigen Gemeinschaften in Amerika der Wettbewerb untereinander um die Aufstellung von
Windturbinen auf ihrem Land recht groß, beispielsweise unter den Viehzüchtern in Colorado oder unter den Milchbauern im nördlichen Teil des Bundesstaates New York. Dies ist jedoch nicht überraschend, da eine große moderne
Windturbine jährlich Strom im Gesamtwert von 300.000 $ erzeugen kann
und die Bauern in der Regel für jede Windturbine, die auf ihrem Grund und
Boden aufgestellt wird, 3.000 bis 10.000 $ pro Jahr an Nutzungsgebühren
erhalten, ohne selbst irgendwelche Investitionen tätigen zu müssen.13
Einer der Punkte, die Windturbinen im Vergleich zu anderen erneuerbaren
Energiequellen so attraktiv machen, ist die Tatsache, dass sie so wenig Platz benötigen. So kann beispielsweise ein Maisbauer im Norden von Iowa auf einem
Quarter-Acre (etwa 1.000 m2) eine Windturbine aufstellen lassen, die jährlich
Strom im Wert von 300.000 $ produziert, und auf demselben Quarter-Acre
noch 40 Scheffel Mais ernten, die wiederum zu 120 Gallonen Ethanol im
Wert von 300 $ verarbeitet werden könnten. Da eine einzelne Windturbine
weniger als 1 % der Gesamtfläche eines Windparks beansprucht, könnten die
Bauern auf derselben Fläche jetzt zwei Ernten einfahren, einmal in Form von
Energie und einmal in Form der landwirtschaftlichen Ernte. Schon bald wer11 GWEC, op. cit. Anmerkung 9.
12 Laurie Jodziewicz, American Wind Energy Association (AWEA), E-Mail an den Autor, 16. Oktober 2007; GWEC und Greenpeace, op. cit. Anmerkung 1.
13 Eine 2-Megawatt-Windturbine, die 36 % der Zeit in Betrieb ist, erzeugt jährlich 6,3
Mrd. kWh an Strom. Kapazitätsfaktor aus: NREL, op. cit. Anmerkung 9; Großhandelsstrompreis aus: DOE, Wholesale Market Data, elektronische Datenbank unter www.eia.doe.
gov/cneaf/electricity, aktualisiert am 4. Oktober 2007; Nutzungsgebühren sind Schätzungen des Autors basierend auf Angaben aus: Union of Concerned Scientists, „Farming the
Wind: Wind Power and Agriculture“, unter www.ucsusa.org/clean_energy.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
den Tausende amerikanischer Bauern in den windreichen Great Plains mehr
Einnahmen aus den Nutzungsgebühren für die Aufstellung von Windturbinen
haben als aus dem Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Produkte.14
Momentan wird das weitere Wachstum im Bereich der Stromerzeugung
aus Wind hauptsächlich durch die verhältnismäßig geringen Kapazitäten zum
Bau neuer Windturbinen gebremst. Doch die wichtigste Frage lautet, wie groß
der Anteil am Gesamtenergiebedarf der Welt ist, der durch die Nutzung von
Windenergie gedeckt werden kann. Um diese Frage beantworten zu können,
werden wir uns neben den bisherigen Plänen der verschiedenen Regierungen
auch die Größe der bereits im Bau befindlichen und der geplanten Windparks
sowie die geplanten Übertragungsleitungen genauer ansehen.15
Wenn die USA ihr offizielles Ziel, eines Tages 20 % ihres Strombedarfs
durch Strom aus Windenergie zu decken, erreichen wollen, wären dazu Stromerzeugungskapazitäten von mindestens 300.000 Megawatt notwendig. Da
mit 1 Megawatt an Erzeugungskapazitäten 300 amerikanische Haushalte mit
Strom versorgt werden können, könnte durch die angestrebte Erschließung von
300.000 Megawatt die Stromversorgung von 90 Mio. Haushalten in den USA
gesichert werden. In Frankreich, wo die Nutzung der Windenergie noch in den
Kinderschuhen steckt, hat sich die Regierung bis 2010 ein Ziel von 14.000
Megawatt gesetzt, und in Spanien, das bereits über 12.000 Megawatt an Kapazitäten verfügt, will man bis 2010 die 20.000-Megawatt-Marke erreichen.16
Auf lokaler Ebene hat Texas, das im amerikanischen Vergleich lange Zeit
der führende Bundesstaat in der Erdölproduktion war, nun auch die Führung
bei der Stromerzeugung aus Windenergie übernommen. Gouverneur Rick
Perry hat eine Gruppe aus Bauunternehmern für Windparks und für Übertragungsleitungen zusammengestellt, die gemeinsam dafür sorgen sollen, dass
der Strom, der in den windreichen westlichen Gebieten von Texas und im
sogenannten Pfannenstiel von Texas aus Windenergie erzeugt wird, in die Bevölkerungszentren des Bundesstaates gelangt und dort genutzt werden kann.
Durch diese Initiative könnten 23.000 Megawatt an Stromerzeugungskapazitäten erschlossen werden, mit deren Hilfe 7 Mio. Haushalte mit Strom versorgt werden könnten.17
14 Renewable Fuels Association (RFA), Homegrown for the Homeland: Ethanol Industry
Outlook 2005 (Washington, DC: 2005); Angaben zur Ausbeute an Mais pro Acre und Ethanolausbeute pro Scheffel Mais nach Angaben aus: Allen Baker et al., „Ethanol Reshapes the
Corn Market“, Amber Waves, Vol. 4, Nr. 2 (April 2006), S. 32, 34.
15 Godfrey Chua, „Wind Power 2005 in Review, Outlook for 2006 and Beyond“, Renewable Energy Access, 6. Januar 2006.
16 Angaben zu den Vereinigten Staaten und Spanien aus: GWEC, op. cit. Anmerkung
9; „Spanish Wind Power Industry Attacks New Rules“, Reuters, 2. Februar 2007; „EWEA
Aims for 22% of Europe’s Electricity by 2030“, Wind Directions (November/Dezember
2006), S. 34; Eine 1-Megawatt-Windturbine, die 36 % der Zeit in Betrieb ist, erzeugt
pro Jahr 3,15 Mio. kWh und ein durchschnittlicher amerikanischer Haushalt verbraucht
10.000 kWh Strom pro Jahr.; Angaben zum durchschnittlichen Stromverbrauch amerikanischer Haushalte aus: DOE, EIA, Regional Energy Profile – U.S. Household Electricity Report
(Washington, DC: Juli 2005); Kapazitätsfaktor aus: NREL, op. cit. Anmerkung 9.
17 Carl Levesque, „Wind Companies Make $10 Billion Investment Commitment“,
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In Kalifornien plant der Stromversorger Southern California Edison ein
Windenergieprojekt zur Erschließung von 4.500 Megawatt an Kapazitäten im
Süden des Bundesstaates. Im östlichen Teil von South Dakota hat die Firma
Clipper Windpower die Windrechte über soviel Land erworben, um insgesamt
3.000 Megawatt an zusätzlichen Erzeugungskapazitäten zu erschließen. Wenn
alle Windparkprojekte, die bis Ende 2007 vorlagen, tatsächlich umgesetzt würden, so würden die Erzeugungskapazitäten aus Windenergie um geschätzte
100.000 Megawatt anwachsen, was etwa dem Zehnfachen der bisherigen Kapazitäten entspricht.18
In Kanada planen Katabatic Power und die Deutsche Bank den Bau eines
Windparks mit Kapazitäten von 3.000 Megawatt in British Columbia, dessen
Stromproduktion ausreichen wird, um etwa 900.000 Haushalte mit Strom zu
versorgen. Großbritannien baut im Severn Estuary vor der Küste den 1.000Megawatt-Windpark London Array, ein weiterer, der Atlantic Array mit 1.500
Megawatt, ist vor der Küste von Devon geplant. Deutschland plant ebenfalls
mehrere Windparks ähnlicher Größe an seiner Küste, und auch die chinesischen Planer entwerfen eifrig 1.000-Megawatt-Windparks.19
Ein weiterer Hinweis darauf, wie groß die Bedeutung der Windenergie in
Zukunft sein wird, ist das Ausmaß der bereits im Bau befindlichen sowie der
neu geplanten Übertragungsleitungen. In den USA haben die Regierungen von
Texas, Colorado, New Mexico, Kalifornien und Minnesota ihre Gesetzgebung
so ausgerichtet, dass die Förderung für große Windparkkomplexe mit einer Förderung für den Neubau von Übertragungsleitungen kombiniert wird, sodass
später eine Frage wie: „Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?“ vermieden
werden kann.20
Auch Pläne für eine ganze Reihe von bundesstaatenübergreifenden Übertragungsleitungen stehen zur Diskussion. Im nördlichen Teil der mittleren
Vereinigten Staaten werden beispielsweise die Windparks in North und South
Dakota mit den Städten in Minnesota und Wisconsin verbunden, in denen
der Energieverbrauch besonders hoch ist. Ein weiterer Vorschlag ist die Nutzung der riesigen Windenergiereserven in Kansas und Oklahoma. Hier sollen
Windparks mit Stromerzeugungskapazitäten von insgesamt 13.000 Megawatt
entstehen, die über Überlandleitungen mit den Verbrauchern im Südosten der
Wind Energy Weekly, Vol. 25, Nr. 1211 (6. Oktober 2006); „Texas Decision Could Double
Wind Power Capacity in the U.S.“, op. cit. Anmerkung 2.
18 Paul Klein, Media Relations Group, Southern California Edison, Gespräch mit
Jonathan Dorn, Earth Policy Institute, 22. Oktober 2007; Jim Dehlsen, Clipper Wind, Gespräch mit dem Autor, 30. Mai 2001; Angaben zu den vorliegenden Windparkprojekten
aus: Kathy Belyeu, AWEA, Gespräch mit Jonathan Dorn, Earth Policy Institute, 22. Oktober 2007.
19 „British Columbia“, WT News, Wind Today, 1. Quartal 2007, S. 30; „UK Plans
World’s Biggest Offshore Windfarm“, Reuters, 18. Mai 2007; Yang Jianxiang, „China Showing All Signs of Major Market Status“, Windpower Monthly, März 2007, S. 38; Angaben
zu deutschen Plänen für Offshore-Windparks aus: EWEA, Wind Force 12 (Brüssel: 2002);
„China to Build Offshore Wind Complex“, Associated Press, 15. August 2005.
20 Mike Jacobs, „U.S. States Hatch Solution to Transmission ‘Chicken-Egg’ Dilemma“,
Renewable Energy Access, 7. Mai 2007.
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USA verbunden diese mit Strom versorgen. Eine andere Gruppe von Windparkbetreibern im Mittleren Westen der USA planen Überlandleitungen, mit
denen der Strom aus den Windreserven von North und South Dakota zu
den Verbrauchern an der dicht besiedelten Ostküste gebracht werden kann.
Und im Westen der Vereinigten Staaten haben die Gouverneure von Kalifornien, Nevada, Utah und Wyoming dem Bau der sogenannten „Frontier Line“
zugestimmt, einer Überlandleitung, mit der der Strom, der unter geringem
Kostenaufwand aus den Windreserven in Wyoming erzeugt wurde, zu den
Verbrauchern in Salt Lake City, Las Vegas und den Städten im Bundesstaat
Kalifornien, einem Stromgroßverbraucher, transportiert wird.21
Die irische Entwicklerfirma Airtricity und ABB, einer der Marktführer beim
Bau von Infrastruktur im Energiebereich, haben für Europa ein länderübergreifendes Netzwerk von Offshore-Windparks vorgeschlagen, das sich von der Ostsee über die Nordsee und weiter südwärts bis zur spanischen Küste erstrecken
soll. Mithilfe dieses Netzes könnte nicht nur das riesige Windenergiepotenzial
vor den Küsten Europas nutzbar gemacht werden, es könnten auch die nationalen Netze miteinander verbunden und damit eine effizientere Energienutzung auf dem gesamten Kontinent gefördert werden. Für den Anfang ist ein
Windpark-Projekt von 10.000 Megawatt in der Nordsee vorgesehen, durch das
6 Mio. Haushalte in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden mit
Strom versorgt werden sollen.22
Die Nutzung der Windenergie bildet das Herzstück der neuen Energiewirtschaft, die wir in Plan B vorschlagen, denn Wind ist im Überfluss und an vielen
Orten der Welt vorhanden, die Kosten für die Nutzbarmachung sind gering,
die Nutzung kann leicht ausgeweitet und das Potenzial insgesamt schnell erschlossen werden. Ölquellen können versiegen, weil sie leer gepumpt sind, und
auch Kohlelagerstätten sind eines Tages erschöpft, doch die Windressourcen der
Erde sind unendlich, wir können sie nicht „aufbrauchen“.
Zu unserem Plan B gehört auch die Erschließung von 3 Mio. Megawatt an
Stromerzeugungskapazitäten aus Wind bis zum Jahr 2020. Um das zu erreichen, müssen die Kapazitäten nicht nur alle drei Jahre, wie in den vergangenen
zehn Jahren, sondern ab sofort alle zwei Jahre verdoppelt werden. Wenn es uns
gelingt, dies umzusetzen, so entfiele im Jahr 2020 auf je 2.500 der bis dahin
geschätzten 7,5 Mrd. Menschen auf der Welt 1 Megawatt an Stromerzeugungskapazitäten aus Windenergie. In Dänemark ist man schon jetzt weit darüber
21 Ebenda; Leonard Anderson, „Western U.S. States Plan Major Power System“, Reuters, 5. April 2005; Carl Levesque, „SPP Study Envisions Transmission Project Linking
13,000 MW of Wind with East“, Wind Energy Weekly, Vol. 26, Nr. 1247 (6. Juli 2007);
Carl Levesque, „Now Proposed at PUC, CAPX 2020 Transmission Project Would Have Big
Wind Implications“, Wind Energy Weekly, Vol. 26, Nr. 1253 (17. August 2007).
22 „Pan-European Wind Energy Grid Proposed“, Renewable Energy Access, 10. Mai 2006;
„Airtricity and ABB Push for European Offshore Supergrid“, Wind Directions, Juli/August
2006, S. 7; Chris Veal, European Offshore Supergrid Proposal: Vision and Executive Summary (Dublin: Airtricity, 2006); Angaben darüber, dass ein durchschnittlicher europäischer
Haushalt 5.000 kWh Strom jährlich verbraucht, aus: State of the Environment in the South
West 2006 (Rotherham, GB: Environment Agency, 2006), S. 22.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
hinaus, hier teilen sich je 1.700 Menschen 1 Megawatt an Kapazitäten. Spanien
wird das Ziel von 1 Megawatt pro 2.500 Personen voraussichtlich noch vor dem
Jahr 2010 erreichen und Deutschland kurz danach.23
Im Rahmen dieser Initiative zur Stabilisierung des Klimas müssten 1,5 Mio.
Windturbinen mit einer Leistung von jeweils 2 Megawatt aufgestellt werden.
Es mag vermessen klingen, in nur 12 Jahren so viele Windturbinen herstellen
zu wollen, aber nur so lange, bis man sich vor Augen führt, dass weltweit pro
Jahr 65 Mio. Autos hergestellt werden. Bei Kosten von 3 Mio. $ pro aufgestellter Turbine müssten in den nächsten 12 Jahren also insgesamt 4,5 Billionen $
bzw. 375 Mrd. $ pro Jahr investiert werden. Zum Vergleich: Bis zum Jahr 2016
werden die weltweiten Investitionen für Erdöl und Erdgas voraussichtlich bei
1 Billion $ jährlich liegen.24
Da Windturbinen in Massenproduktion am Fließband hergestellt werden
können, wären die ungenutzten Kapazitäten der amerikanischen Automobilindustrie allein schon ausreichend, um die zur Umsetzung von Plan B benö­
tigten Windturbinen herzustellen.25
Nun ist es nicht nur so, dass es genug Autofabriken gibt, die nicht mehr genutzt werden, es gibt dort auch eine Menge gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die
nur zu gern wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren würden. Im Bundesstaat
Michigan beispielsweise, der das Herzstück der Region um die Great Lakes mit
ihren immensen Windenergieressourcen bildet, gibt es eine große Zahl ungenutzter Autofabriken, und die spanische Firma Gamesa, einer der führenden
Hersteller von Windturbinen, hat kürzlich in einer ehemaligen U. S. Steel-Fabrik in Pennsylvania die Produktion von Windturbinen aufgenommen.26
DIE NUTZUNG VON WINDENERGIE IN
HYBRIDFAHRZEUGEN
In Kapitel 10 wurden Maßnahmen vorgestellt, mit deren Hilfe die Regierungen einzelner Städte dafür sorgen, dass der Bedarf an Autos sinkt. Doch
selbst wenn die Zahl der Autos gesenkt wird, braucht die Welt dringend eine
neue Energiewirtschaft auch im Bereich der Automobile, sie braucht neue Antriebsmöglichkeiten für Autos. Glücklicherweise sind die Grundlagen dafür
durch zwei wichtige neue Technologien bereits gelegt. Eine davon ist der zu23 Angaben zu den Kapazitäten im Bereich Windenergie aus: GWEC, op. cit. Anmerkung 9, S. 4, 8; Angaben zu den Bevölkerungszahlen aus: U.N. Population Division,
World Population Prospects: The 2006 Revision Population Database unter esa.un.org/unpp,
aktualisiert 2007.
24 Ward’s Automotive Group, World Motor Vehicle Data 2006 (Southfield, MI: Ward’s
Automotive Group, 2006), S. 218; Angaben zu den Kosten pro aufgestellter Turbine aus:
Windustry, „How Much Do Wind Turbines Cost?“ unter www.windustry.org, eingesehen
am 21. Oktober 2007; „Trillions in Spending Needed to Meet Global Oil and Gas Demand, Analysis Shows“, International Herald Tribune, 15. Oktober 2007.
25 Harry Braun, The Phoenix Project: Shifting from Oil to Hydrogen with Wartime Speed,
ausgearbeitet für den Renewable Hydrogen Roundtable, World Resources Institute, Wa­
shington, DC, 10.-11. April 2003, S. 3f.
26 Christian Parenti, „Big is Beautiful“, The Nation, 7. Mai 2007.
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erst von Toyota entwickelte Benzin-Elektro-Hybridantrieb, die andere hochmoderne Windturbinen.
Der Toyota Prius, ein Mittelklassewagen mit Hybridantrieb, der sich rasant
verkauft, hat einen Verbrauch von beeindruckenden 5,1 l auf 100 km (Fahrten
sowohl innerorts als auch über Land) – im Gegensatz zu knapp 12 l auf 100
km bei normalen amerikanischen Neuwagen. Der Benzinverbrauch in den
USA könnte problemlos um die Hälfte gesenkt werden, wenn alle Autofahrer
in den USA einfach auf Fahrzeuge mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb umsteigen würden. Auf diese Weise müsste weder die Anzahl der Autos noch die der
gefahrenen Kilometer gesenkt werden – man müsste nur die effizienteste derzeit auf dem Markt befindliche Antriebstechnologie nutzen.27
Nachdem Hybridfahrzeuge inzwischen keine Neuheit mehr sind, ist es nur
noch ein vergleichsweise kleiner Schritt zur Herstellung von Hybridfahrzeugen mit Auflademöglichkeit über das Stromnetz, die größtenteils mit Strom
fahren. Wenn man ein Hybridfahrzeug mit einer Batterie mit größerer Speicherkapazität sowie einer Möglichkeit zur Aufladung dieser Batterie über das
Stromnetz ausstattete, könnten Autofahrer kürzere Strecken, wie die Fahrten
zur Arbeit, zum Einkaufen und andere kurze Fahrten, größtenteils mit Stromantrieb zurücklegen, sodass sie das Benzin für die nur gelegentlichen längeren
Fahrten sparen könnten. Noch faszinierender daran ist, dass die Aufladung
der Batterien mit Strom, der in den Nebenzeiten durch Windenergie erzeugt
wurde, so preiswert wäre, als könnte man eine Gallone Benzin für weniger als
1 $ kaufen. Eine solche Modifikation der Hybridfahrzeuge könnte zu einer
Senkung des verbliebenen Benzinverbrauchs um weitere 60 % führen, sodass
der Benzinverbrauch im Vergleich zu heute um insgesamt 80 % gesenkt würde.28
Doch damit sind die Möglichkeiten in diesem Bereich noch nicht erschöpft. Amory Lovins, ein hoch angesehener Pionier auf dem Gebiet der Steigerung der Energieeffizienz, stellte fest, wenn man die Stahlkomponenten des
Fahrzeugkörpers durch Teile aus hochmodernen Polymergemischen ersetzte,
so würde sich dadurch „die Effizienz eines normal schweren Hybridfahrzeugs
etwa verdoppeln, ohne dass die Gesamtkosten für die Herstellung wesentlich
steigen.“ Wenn man nun beim Bau der Fahrzeuge mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb diese neuen Polymergemische verwendete – die auch Boeing inzwischen beim Bau des neuen 787 Dreamliner-Jets einsetzt – könnten die noch
27 Angaben zum Verbrauch des Prius basieren auf neuen Schätzungen der Environmental Protection Agency (EPA) unter www.fueleconomy.gov, eingesehen am 23. August 2007;
Angaben zum Durchschnitt bei anderen Autos aus: Robert M. Heavenrich, Light Duty Automotive Technology and Fuel Economy Trends: 1975 Through 2007 (Washington, DC: EPA,
Office of Transportation and Air Quality, September 2007).
28 Kraftstoffeinsparungen sind Schätzungend des Autors, aktualisiert aus: Lester R.
Brown, „The Short Path to Oil Independence“, Eco-Economy Update (Washington, DC:
Earth Policy Institute, 13. Oktober 2004); Lionel Laurent, „Boeing’s Dreamliner, Airbus’s
Nightmare“, Forbes, 9. Juli 2007; Kosten für Strom im Verhältnis zu einer Gallone Benzin
aus: Roger Duncan, „Plug-In Hybrids: Pollution-Free Transport on the Horizon“, Solar
Today, Mai/Juni 2007, S. 46.
299
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
verbliebenen 20 % des Benzinverbrauchs auch noch halbiert werden, sodass
sich insgesamt Einsparungen von 90 % ergäben.29
Für das Transportmodell der Autos mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb unter Nutzung von Strom aus Windenergie würde auch keine kostspielige neue
Infrastruktur benötigt, da das Netzwerk von Tankstellen und das Stromnetz
ja bereits vorhanden sind. Die Experten des Pacific Northwest National Laboratory der US-Regierung kamen in einer Studie im Jahr 2006 zu dem Schluss,
dass die bestehenden Stromversorgungsmöglichkeiten in den USA ausreichen
würden, um 84 % des Stroms bereitzustellen, der benötigt würde, wenn alle
Autos, Kleintransporter und Geländewagen in den USA auf die Hybridtechnologie mit Auflademöglichkeit über das Stromnetz umgestellt würden, da
die Batterien dieser Fahrzeuge größtenteils nachts aufgeladen werden würden,
wenn ohnehin überschüssige Stromerzeugungskapazitäten zur Verfügung
stünden.30
Viele Kritiker sehen in der Tatsache, dass die Windenergie starken Schwankungen unterliegt, ein größeres Problem. Dieses ließe sich allerdings schnell
lösen, wenn die USA ihre lokalen und regionalen Netze zu einem starken nationalen Stromnetz vereinen würden, zumal dies zur Erhöhung der Effizienz
im Bereich der Netzbelastung ohnehin notwendig wäre. Da sich die Windverhältnisse in den einzelnen Windparks stets voneinander unterscheiden, trägt
jeder Windpark, der seinen Strom in ein gemeinsames Netz einspeist, dazu
bei, dass die Schwankungen in der Verfügbarkeit insgesamt gemindert werden,
sodass diese bei einer ausreichend großen Zahl an angeschlossenen Windparks
letztlich praktisch vollständig überwunden werden könnten.31
Durch einen Übergang zu Fahrzeugen mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb, die ans Stromnetz angeschlossen und aufgeladen werden können, und
entsprechender Einrichtung des Netzes könnte die Stabilität zusätzlich stark
erhöht werden, da die großen Batterien der Autos praktisch als Speicher für
Windenergie fungieren würden und die Fahrzeughalter zu den Spitzenzeiten
des Stromverbrauchs den Strom ins Netz zurückleiten könnten, was auch für
sie profitabel wäre. Tatsächlich könnten durch den Übergang zu solchen Autos
mit Hybridantrieb, die sowohl über eine Speicherbatterie für Strom als auch
einen Benzintank für den Notfall verfügen, die Schwankungen in der Verfügbarkeit von Strom aus Windenergie ausgeglichen werden, wodurch sich diese
Energieform ideal als Herzstück der neuen Energiewirtschaft in unserem Plan
B eignet.32
29 Amory B. Lovins et al., Winning the Oil Endgame: Innovation for Profits, Jobs, and
Security (Snowmass, CO: Rocky Mountain Institute, 2004), S. 64.
30 Michael Kintner-Meyer et al., Impacts Assessment of Plug-in Hybrid Vehicles on Electric
Utilities and Regional U.S. Power Grids – Part 1: Technical Analysis (Richland, WA: DOE,
Pacific Northwest National Laboratory, 2006).
31 Randy Swisher, AWEA, E-Mail an den Autor, 16. Oktober 2007.
32 Joseph Romm und Peter Fox-Penner, Plugging into the Grid: How Plug-in Hybrid
Electric Vehicles Can Help Break America’s Oil Addiction and Slow Global Warming (Washington, DC: Progressive Policy Institute, 2007); Roger Duncan, „Plug-In Hybrids: PollutionFree Transport on the Horizon“, Solar Today, Mai/Juni 2007, S. 47.
300
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Zusammen mit dem Bau Tausender Windparks im ganzen Land könnte der
Übergang zu den höchst effizienten Fahrzeugen mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb und einer Möglichkeit zur Aufladung am Stromnetz auch zu einer Wiederbelebung der ländlichen Gemeinden sowie zu einer Verringerung des Defizits in
der US-Handelsbilanz beitragen. Doch was noch viel wichtiger ist: Es könnte
dazu führen, dass die CO2-Emissionen bei Automobilen um etwa 90 % sinken,
wodurch die Vereinigten Staaten zum Vorbild für andere Länder würden.33
Nachdem inzwischen immer mehr Menschen einen Übergang zu diesen effizienten Hybridfahrzeugen mit Auflademöglichkeit über das Stromnetz befürworten, hat sich aus einzelnen Gruppen, die sich dafür einsetzten, inzwischen
eine landesweite Basisbewegung namens Plug-in Partners entwickelt. Ende
2007 hatte Plug-in Partners 617 Mitglieder, darunter auch 169 Stromversorger, 168 große Firmen, 71 Stadtregierungen und 67 Umweltschutzgruppen.
Eine ganze Reihe der Partner, darunter die Regierung des Bundesstaates New
York sowie die Firmen Southern California Edison und Pacific Gas and Electric,
hat bereits Vorbestellungen für Autos und Lieferwagen mit Hybridtechnologie und Lademöglichkeit übers Stromnetz aufgegeben. Diese sogenannten Soft
Orders, über die bereits mehr als 11.000 Fahrzeuge vorbestellt wurden, gehen
letztlich an diejenige Firma, die als erste ein entsprechendes Fahrzeug auf den
Markt bringt.34
Zu den Firmen, die planen, derartige Fahrzeuge herzustellen, gehören unter
anderem Nissan, Toyota, General Motors (GM mit dem Chevrolet Volt) und die
Ford Motor Company (mit dem Airstream). Chryslers Hybrid-Van, der Dodge
Sprinter, wird sogar bereits von verschiedenen Firmen getestet, darunter auch
Pacific Gas and Electric, und so werden diejenigen Firmen, die als erste mit
solchen Hybridfahrzeugen mit zusätzlicher Lademöglichkeit übers Stromnetz
auf den Markt kommen, möglicherweise sogar Schwierigkeiten haben, bei der
Befriedigung der hohen Nachfrage nachzukommen.35
Der Chevrolet Volt, der im Jahr 2010 auf den Markt kommen soll, soll ohne
Sprit, einzig mit Strom, 64 km weit fahren können, danach setzt die Arbeit eines
benzinbetriebenen Motors ein, mit dessen Hilfe über einen Generator weiterer
Strom erzeugt wird, um die Batterien wieder aufzuladen. Mit diesem Auto wäre
es für die 78 % der Amerikaner, die nur etwa 32 km von ihrem Arbeitsplatz
entfernt wohnen, möglich, beim Pendeln völlig auf Benzin zu verzichten. Und
selbst diejenigen, die längere Arbeitswege haben, könnten ihr Fahrzeug einfach
an ihrem Arbeitsplatz ans Netz anschließen und so wiederaufladen. Auf der
Grundlage einer Analyse der Fahrmuster der Amerikaner schätzen die Experten
von GM, dass der Volt auf 100 km nur 1,5 l verbrauchen würde, da der ben33 Martin Crutsinger, „U.S. Trade Deficit a Record 6.5% of Economy“, Associated Press,
15. März 2007.
34 Lisa Braithwaite, Plug-In Partners National Campaign, E-Mail an Jonathan Dorn,
Earth Policy Institute, 19. Oktober 2007.
35 Ben Hewitt, „Plug-in Hybrid Electric Cars: How They’ll Solve the Fuel Crunch“,
Popular Mechanics, Mai 2007; Pacific Gas and Electric Company, Greening Fleets with
New Technologies, unter www.pge.com/about_us/environment, eingesehen am 20. Oktober 2007.
301
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
zinbetriebene Generator nur selten zum Einsatz käme, und eben dieser enorm
geringe Verbrauch macht die Hybridfahrzeuge mit Auflademöglichkeit über das
Stromnetz für die Menschen so attraktiv.36
SOLARZELLEN UND SOLARKOLLEKTOREN
Auch die Energie der Sonne wird mithilfe verschiedener Technologien, darunter thermische Solarkollektoren und photovoltaische Zellen, nutzbar gemacht.
Thermische Solarkollektoren werden nicht nur häufig zur Warmwasserbereitung benutzt, sie können auch zur Beheizung von Gebäuden eingesetzt werden. Zusammen mit Solarzellen werden Sonnenkollektoren auch im großen
Maßstab in kommerziellen Kraftwerken eingesetzt. Dort wird durch die Kollektoren das Sonnenlicht gebündelt, um mit seiner Hilfe anschließend Wasser
zum Kochen zu bringen und über die Nutzung des Wasserdampfes Strom zu
erzeugen. Einzelne Kraftwerke dieser Art sind sogar in der Lage, ausreichend
Strom zu erzeugen, um damit den Strombedarf Tausender Haushalte zu decken.
Die vielleicht aufregendste Entwicklung der letzten Zeit im Bereich der
internationalen Solarenergiewirtschaft ist die Installation von etwa 40 Mio.
solarbetriebenen Warmwasserbereitern auf Hausdächern in China. Und da es
in China bereits 2.000 Firmen gibt, die solche Warmwasserbereiter herstellen,
kommt diese relativ einfache und preiswerte Technologie längst nicht mehr nur
in den Städten zum Einsatz, inzwischen findet man sie auch schon auf Dörfern,
die bisher nicht einmal Zugang zu Elektrizität hatten. Für nur 200 $ können
die Dorfbewohner sich einen solchen Sonnenkollektor auf ihrem Dach anbringen lassen und anschließend zum ersten Mal im Leben heiß duschen. In China
breitet sich diese Neuerung so schnell aus, dass in einigen Gegenden des Landes
der Markt schon fast vollständig gesättigt ist. Und es gibt noch weitere äußerst
erfreuliche Nachrichten aus Peking: Die chinesische Regierung plant, die Dachfläche, die mit Solarkollektoren zur Warmwasserbereitung bedeckt ist – derzeit
124 Mio. m2 – bis zum Jahr 2020 auf 300 Mio. m2 auszuweiten und damit
mehr als zu verdoppeln.37
Die auf diese Weise nutzbar gemachte Sonnenenergie entspricht in etwa
der Menge an Strom, die 54 Kohlekraftwerke erzeugen würden. Auch in anderen Entwicklungsländern, wie Indien und Brasilien, könnten bald Millionen von Haushalten auf diese preisgünstige Methode zur Warmwasserberei36 General Motors (GM), „Fuel Solutions“, unter www.chevrolet.com/electriccar, eingesehen am 23. Oktober 2007; Angaben zur Prozentzahl der Amerikaner, die weniger als
32 km von ihrer Arbeitsstelle entfernt wohnen, aus: Plug-In Partners National Campaign,
Building a Market for Gas-Optional Flexible-Fuel Hybrids, Broschüre (Austin, TX: 2007).
37 Anzahl der Warmwasserbereiter in China berechnet auf Grundlage von Angaben aus:
REN21, op. cit. Anmerkung 2, S. 21; Kennedy, Jr., op. cit. Anmerkung 2; Ryan Hodum,
„Kunming Heats Up as China’s ‘Solar City’“, China Watch (Washington, DC: Worldwatch
Institute und Global Environmental Institute, 5. Juni 2007); Angaben über Verdreifachung
der solarbetriebenen Warmwasserbereiter aus: Emma Graham-Harrison, „China Solar Power Firm Sees 25 Percent Growth“, Reuters, 4. Oktober 2007.
302
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
tung umsteigen. Das direkte Überschwappen dieser neuen Technologie auf die
ländlichen Gebiete ohne Anschluss ans Stromnetz gleicht der Ausbreitung der
Mobiltelefone. Damals war die Stufe der traditionellen Landleitungen auch
einfach übersprungen worden, sodass Millionen Menschen, die ohne die Erfindung des Mobilfunks heute noch auf ihren traditionellen Telefonanschluss
warten würden, plötzlich die Möglichkeit hatten zu telefonieren. Was die solarbetriebenen Warmwasserbereiter auf Hausdächern für viele Menschen so
interessant macht, ist die Tatsache, dass wenn die Kosten für die Einrichtung
erst einmal abbezahlt sind, das Warmwasser im Grunde kostenlos ist.38
Auch in Europa, wo die Energiepreise relativ hoch sind, finden diese Solarkollektoren zur Warmwasserbereitung immer mehr Verbreitung. In Österreich, das im europäischen Vergleich führend ist, wird in 15 % aller Haushalte
die Warmwasserbereitung durch Solarkollektoren auf dem Dach gewährleistet, und ebenso wie in China sind auch in den österreichischen Dörfern fast
alle Dächer mit solchen Kollektoren ausgestattet. Auch Deutschland macht
deutliche Fortschritte. Janet Sawin vom Worldwatch Institute merkt in diesem
Zusammenhang an, dass etwa 2 Mio. Deutsche bereits in Häusern leben, in
denen sowohl die Warmwasserbereitung als auch die Beheizung des Gebäudes
durch Solarenergiesysteme auf dem Dach gewährleistet werden.39
Ermutigt durch die zunehmende Ausbreitung von Solarkollektoren auf den
Dächern Europas in den vergangenen Jahren hat die European Solar Thermal
Industry Federation (ESTIF) sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Man will erreichen, dass bis 2020 in Europa 500 Mio. m2 Dachfläche mit Solarkollektoren
bedeckt sind, das ist etwa 1 m2 pro Einwohner Europas. Wenn dieses Ziel
erreicht würde, so würde man damit selbst das derzeit weltweit führende Israel
überholen, wo auf jeden Einwohner 0,74 m2 Solarkollektorenfläche entfallen.
In dem europäischen Plan ist vorgesehen, dass die meisten Anlagen KombiAnlagen sein werden, mit deren Hilfe sowohl das Wasser erwärmt als auch das
entsprechende Gebäude beheizt werden kann.40
Im Jahr 2007 konzentrierten sich die Solarkollektoren vor allem in Deutschland, Österreich und Griechenland, wobei auch Frankreich und Spanien bereits
erste Schritte in dieser Richtung unternommen hatten. Die spanische Initiative
erhielt dabei Auftrieb, als im März 2006 eine Vorschrift verabschiedet wurde,
laut der auf den Dächern aller neuen oder sanierten Gebäude Solarkollektoren
anzubringen sind. Laut Schätzungen der ESTIF verfügt die Europäische Union
langfristig über ein Potenzial zur Entwicklung von 1.200 Gigawatt thermisch
zur Erhitzung von Wasser und Beheizung von Gebäuden, was bedeuten würde,
38 Solche Warmwasserbereiter auf Hausdächern haben eine Kapazität von 0,7 kW
pro m2 und einen Kapazitätsfaktor ähnlich einer Solarzellenanlage auf einem Hausdach
(22%); Angaben über Nominalkapazität aus: European Solar Thermal Industry Federation
(ESTIF), „Worldwide Capacity of Solar Thermal Energy Greatly Underestimated“, ESTIF
News (10. November 2004); Kapazitätsfaktor aus: NREL, op. cit. Anmerkung 9.
39 Ole Pilgaard, Solar Thermal Action Plan for Europe (Brüssel, Belgien: ESTIF, 2007);
Janet L. Sawin, „Solar Industry Stays Hot“, in: Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung
9, S. 38.
40 Pilgaard, op. cit. Anmerkung 39; Sawin, op. cit. Anmerkung 39.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
dass die Sonnenenergie ausreichen würde, um den gesamten Bedarf Europas
an Energie zur Erwärmung im Niedrigtemperaturbereich zu decken.41
In den USA konzentriert sich die Industrie für Dachanlagen zur Wassererwärmung derzeit noch auf einen Nischenmarkt: den Verkauf und die Vermarktung von 10 Mio. m2 Solarkollektoren zur Beheizung von Swimmingpools
zwischen 1995 und 2005. Von dieser Basis aus ist die Industrie jedoch jetzt
bereit, sich auch auf den Massenmarkt für Systeme zur Warmwasserbereitung
und Beheizung von Wohngebäuden zu wagen.42
Inzwischen verfügen wir auch über genug Daten, um einige Prognosen für
die weltweite Entwicklung zu stellen. Nachdem sich China die Ausweitung
seiner Kapazitäten zur Warmwasserbereitung mithilfe von Solarkollektoren auf
300 Mio. m2 bis 2020 zum Ziel gesetzt hat und die ESTIF sogar 500 Mio. m2
anstrebt, liegt für die USA eine Ausweitung der Kapazitäten auf 200 Mio. m2
sicher im Bereich des Möglichen, vor allem, wenn man die kürzlich verabschiedeten steuerlichen Anreize berücksichtigt. In Japan, das fast seinen gesamten
Bedarf an fossilen Brennstoffen durch Importe decken muss, gibt es derzeit
11 Mio. m2 an Dachfläche, die mit Solarkollektoren zur Warmwasserbereitung
bedeckt sind, doch es sollte für das Land ein Leichtes sein, diese Fläche bis 2020
auf 80 Mio. m2 auszudehnen. Wenn es China, den Vereinigten Staaten, Japan
und der Europäischen Union jeweils gelänge, diese Zahlen zu erreichen, so
würden sie im Jahr 2020 zusammen über 1.080 Mio. m2 von Solarkollektoren
bedeckter Fläche zur Erwärmung von Wasser und Beheizung von Gebäuden
verfügen. Damit entfielen allerdings immer noch nur etwa 0,45 m2 Solarkollektorenfläche auf jeden der insgesamt 2,4 Mrd. Bewohner dieser Länder und
damit deutlich weniger, als Israel heute schon vorweisen kann.43
Wenn es gelänge, dass im Jahr 2020 auf die 5 Mrd. Menschen, die bis dahin
in den Entwicklungsländern leben werden, pro Kopf 0,1 m2 an mit Solarkollektoren ausgelegter Dachfläche entfallen – das ist etwa der Pro-Kopf-Anteil,
den China oder die Türkei derzeit erreicht haben – so bedeutete das, dass die
weltweit mit Solarkollektoren ausgelegte Fläche um 500 Mio. m2 anstiege, die
dann bei mehr als 1,5 Mrd. m2 läge. Wenn man nun davon ausgeht, dass jeder
m2 0,7 kW thermisch erzeugen kann, so würde die Welt im Jahr 2020 insgesamt über Solarenergiekapazitäten von 1.100 Gigawatt thermisch verfügen
– das entspricht etwa den Kapazitäten von 690 Kohlekraftwerken.44
41 Uwe Brechlin, „Study on Italian Solar Thermal Reveals a Surprisingly High Contribution to EU Market: 130 MWth in 2006“, Pressemitteilung (Brüssel: ESTIF, 24. April
2007); Sawin, op. cit. Anmerkung 39; Les Nelson, „Solar-Water Heating Resurgence
Ahead?“, Solar Today, Mai/Juni 2007, S. 28; Pilgaard, op. cit. Anmerkung 39.
42 Nelson, op. cit. Anmerkung 41, S. 27.
43 Angaben zu Japan aus: Sawin, op. cit. Anmerkung 39; Angaben zur Bevölkerungszahl aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 23.
44 Angaben zur Bevölkerungszahl aus: U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung
23; Angaben zu China berechnet auf Grundlage von Daten aus: REN21, Renewables 2005
Global Status Report (Washington, DC: REN21 Secretariat und Worldwatch Institute,
2006); REN21, op. cit. Anmerkung 2, S. 21; Angaben zur Türkei aus: Sawin, op. cit. Anmerkung 39; Angaben zur Nominalkapazität aus: ESTIF, op. cit. Anmerkung 38.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Wenn die Kapazitäten zur Warmwasserbereitung und Beheizung von Gebäuden mithilfe von Solarenergie in den Industrieländern tatsächlich so stark
ausgedehnt werden sollten wie vorhergesagt, so könnten einige Kohlekraftwerke vom Netz genommen und der Verbrauch an Erdgas deutlich gesenkt
werden, weil die bisher auf Strom- oder Gasbasis betriebenen Heizanlagen
ausrangiert und durch Solaranlagen ersetzt werden könnten. In Ländern wie
China oder Indien würden solarbetriebene Wasserheizgeräte allerdings lediglich den Bedarf an neuen Kohlekraftwerken senken.
Einer der Gründe dafür, dass sich diese Solaranlagen in Europa und China
so stark ausbreiten konnten, besteht darin, dass sie in wirtschaftlicher Hinsicht
sehr attraktiv sind: In den Industrieländern haben sich solche Anlagen durch
die eingesparten Energiekosten im Durchschnitt nach weniger als 10 Jahren
amortisiert.45
Da solche Solarheizanlagen immer preiswerter werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch andere Länder schon bald dem Vorbild Israels und Spaniens folgen und Vorschriften erlassen werden, laut denen jedes neue Gebäude
mit einer solchen Anlage ausgestattet werden muss. Diese Installationen auf
den Hausdächern sind schon längst keine vorübergehende Modeerscheinung
mehr, sondern haben sich inzwischen zu einer von vielen Menschen gern genutzten Energiequelle entwickelt, besonders angesichts der immer stärker steigenden Preise für fossile Brennstoffe.46
Obwohl bei der Nutzung der Sonnenenergie bisher die direkte Nutzung
der Sonnenstrahlen zur Erwärmung von Wasser dominiert hat, bilden doch
die Solarzellen, mit deren Hilfe Sonnenlicht in Strom umgewandelt wird, mit
weltweiten Kapazitäten von 8.600 Megawatt die am schnellsten wachsende Energiequelle. Zwar liefern Solarzellen nach wie vor nur einen geringen Teil des
von uns benötigten Stroms, doch jedes Jahr nimmt ihre Verwendung um 40 %
zu, was eine Verdopplung alle zwei Jahre bedeutet. Im Jahr 2006 wurden in der
Bundesrepublik Kapazitäten von 1.150 Megawatt zur Stromerzeugung durch
Solarzellen geschaffen, wodurch Deutschland zum ersten Land wurde, das in
nur einem Jahr neue Kapazitäten von über 1 Gigawatt schuf.47
Noch bis vor Kurzem konzentrierte sich die Herstellung von Solarzellen auf
einige wenige Ländern, nämlich Japan, Deutschland und die Vereinigten Staaten, doch inzwischen sind mehrere neue Mitspieler mit viel Energie auf den
Markt gekommen, darunter Firmen aus China, Taiwan, den Philippinen, Südkorea und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bereits im Jahr 2006 überholte China die Vereinigten Staaten in der Solarzellenproduktion und für 2007
sieht es so aus, als sollte Taiwan diesem Beispiel folgen. Inzwischen gibt es eine
ganze Reihe von Firmen, die auf dem Weltmarkt für Solarzellen miteinander
45 Nelson, op. cit. Anmerkung 41, S. 26.
46 Ebenda, S. 28.
47 Angaben zu den bereits vorhandenen Solarzellenanlagen und zur Wachstumsrate
berechnet auf Grundlage von Angaben aus: Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4;
Maycock, op. cit. Anmerkung 4; Anne Kreutzmann et al., „Exceeding Expectations: Survey
Indicates more than 1 GW Installed in Germany in 2006“, PHOTON International, April
2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
konkurrieren, wodurch die Bereitschaft steigt, sowohl in die Herstellung von
Solarzellen zu investieren als auch in die Forschung in diesem Bereich.48
Für die Gemeinden, die immer noch ohne Anschluss ans Stromnetz leben,
ist es inzwischen oft preiswerter, auf den Dächern der fast 1,6 Mrd. dort lebenden Menschen Solarzellen zu verlegen als zur Versorgung all dieser Menschen
mit Strom ein zentrales Kraftwerk zu bauen und ein Stromnetz einzurichten.
Interessant ist dies beispielsweise für die Bewohner der Andendörfer, die für
die Beleuchtung ihrer Häuser größtenteils auf Talgkerzen angewiesen sind.
Wenn sie sich nämlich eine Solarzellenanlage installieren lassen und die Kosten
dafür über 30 Monate abbezahlen, so ist die einzelne Monatsrate immer noch
niedriger, als es die monatlichen Ausgaben für Kerzen wären.49
Ähnlich geht es den Bewohnern einiger Dörfer in Indien, die ebenfalls nicht
an das Stromnetz angeschlossen sind und deren Hauptlichtquelle Kerosinlampen sind. Der Einbau einer kleineren Solarzellenanlage, mit der 2-4 kleinere
Geräte oder Lampen betrieben werden können, kostet in Indien einschließlich
Batterien umgerechnet etwa 400 $, sodass viele indische Haushalte und Geschäfte anstelle der umweltschädlichen und zunehmend teureren Kerosinlampen inzwischen auf solche Solarzellenanlagen setzen. Im Laufe eines Jahres liegt
der Verbrauch einer Kerosinlampe bei fast 20 Gallonen (etwa 80 l), was bei
einem Preis von etwa 3 $ pro Gallone jährliche Kosten von etwa 60 $ pro Lampe verursacht. Eine kleine Solarzellenanlage, die auch nur 2 Lampen ersetzen
würde, hätte sich bei diesen Preisen bereits nach 4 Jahren amortisiert.50
Der Anteil der geschätzten 1,5 Mrd. Kerosinlampen an der Beleuchtung
der Haushalte, die derzeit weltweit in Gebrauch sind, liegt zwar nur bei 0,5 %,
ihr Anteil an den CO2-Ausstößen im Zusammenhang mit der Beleuchtung der
Haushalte dagegen bei 29 %. Außerdem entspricht die Menge an Kerosin, die
sie täglich verbrauchen, etwa einem Erdölverbrauch von 1,3 Mio. Barrel – fast
die Hälfte der täglichen Erdölproduktion Kuwaits. Wenn all diese Kerosinlampen durch Solarzelleninstallationen ersetzt würden, so könnten der weltweite
Erdölverbrauch um 1,5 % und der weltweite Ausstoß an Kohlenstoffemissio­
nen um 52 Mio. t pro Jahr gesenkt werden.51
Michael Rogol und seine Kollegen von der Consulting-Firma PHOTON
schätzen, dass im Jahr 2010 in den Industrieländern Firmen, in denen die
komplette Produktion von Solarzellen vom ersten bis zum letzten Schritt zusammengefasst ablaufen wird, in der Lage sein werden, Solarzellenanlagen
zu bauen, mit deren Hilfe Strom so günstig erzeugt werden kann, dass er im
sonnenscheinreichen Spanien nicht mehr als 12 Cent pro kWh und in Süd48 Travis Bradford, „23rd Annual Data Collection – Final“, PV News, Vol. 26, Nr.
4 (April 2007), S. 9; Travis Bradford, „World Cell Production Grows 40% in 2006“, PV
News, Vol. 26, Nr. 3 (März2007), S. 6ff.
49 International Energy Agency (IEA), World Energy Outlook 2006 (Paris: 2006); „Power to the Poor“, The Economist, 10. Februar 2001, S. 21ff.
50 „Solar Loans Light Up Rural India“, BBC News, 29. April 2007.
51 IEA, Light’s Labour’s Lost: Policies for Energy-efficient Lighting (Paris: 2006), S. 201f.;
Angaben zur kuwaitischen Ölproduktion aus: DOE, EIA, International Petroleum Monthly,
unter www.eia.doe.gov/emeu, aktualisiert am 12. Oktober 2007.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
deutschland nicht mehr als 18 Cent pro kWh kosten wird. Und obwohl in vielen Regionen der Preis für Strom, der mithilfe von Solarzellen erzeugt wurde,
unter den für Strom aus konventionellen Energiequellen sinken wird, wird dies
nicht automatisch zu einem groß angelegten Übergang zu Solarzellen führen,
doch laut Aussage des Geschäftsführers eines Unternehmens aus der Energiewirtschaft steuern wir bereits auf den „Big Bang“ zu.52
Nachdem sich die Verkaufszahlen für Solarzellen mittlerweile alle zwei
Jahre verdoppeln und es sehr wahrscheinlich ist, dass sich dieser Trend noch
mindestens bis 2020 fortsetzt, ist davon auszugehen, dass die geschätzten mehr
als 5.000 Megawatt, um die die Kapazitäten im Jahr 2008 anwachsen sollen,
bis 2020 auf 320.000 Megawatt steigen werden. Zu diesem Zeitpunkt lägen
die Gesamtkapazitäten aller bereits eingerichteten Solarzellenanlagen dann bereits bei über 1 Mio. Megawatt, das sind 1.000 Gigawatt. Und obwohl diese
Prognose manchem als sehr gewagt erscheinen mag, besteht sogar die Möglichkeit, dass sie sich letztlich noch als äußerst konservative Schätzung erweist.
Und wenn bis 2020 die meisten der fast 1,6 Mrd. Menschen, die heute nicht
über Zugang zu Elektrizität verfügen, diesen Zugang erhalten, so wird dies sehr
wahrscheinlich größtenteils darauf zurückzuführen sein, dass sie ihre Häuser
mit Solarzelleninstallationen versehen haben.53
Wenn ein Bewohner eines nicht ans Stromnetz angeschlossenen Dorfes so
eine Solarzellenanlage kauft, so erwirbt er damit im Grunde die Stromversorgung für die nächsten 25 Jahre. Es gibt keine zusätzlichen Kosten für fossile
Brennstoffe und auch kaum Wartungskosten, sodass einzig die Anschaffungskosten wirklich ins Gewicht fallen und in der Regel durch Mithilfe von außen
finanziert werden müssen. Dies haben auch die Weltbank und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) erkannt und spezielle Programme
aufgelegt, mit denen sie örtliche Kreditvergabestellen bei der Einrichtung von
Kreditsystemen zur Finanzierung dieser preisgünstigen Möglichkeit zur Stromversorgung unterstützen. So konnten sich beispielsweise 50.000 Hausbesitzer
in Bangladesch dank eines Startdarlehens von der Weltbank die Installation
einer Solarzellenanlage leisten, und eine zweite Finanzierungsrunde von noch
weitaus größerem Umfang soll dazu beitragen, dass weitere 200.000 Familien
die gleiche Chance erhalten.54
Investoren interessieren sich zunehmend auch für Kraftwerke, in denen im
großen Maßstab Solarzellen zur Stromerzeugung eingesetzt werden. In Südkorea wird derzeit die mit geplanten Kapazitäten von 20 Megawatt größte derartige Anlage gebaut. Sie soll Ende 2008 fertiggestellt werden, wird allerdings
wohl schon bald von der 40-Megawatt-Anlage in den Schatten gestellt werden,
die momentan in der Nähe von Leipzig entsteht und Anfang 2009 ans Netz
52 Christoph Podewils, „As Cheap as Brown Coal: By 2010, a kWh of PV Electricity in
Spain Will Cost Around 9¢ to Produce“, PHOTON International, April 2007.
53 Angaben zur Solarzellenproduktion (Verkaufszahlen) aus: Worldwatch Institute, op.
cit. Anmerkung 4; Maycock, op. cit. Anmerkung 4; Angaben zur Zahl derer, die keinen
Zugang zu Elektrizität haben, aus: IEA, op. cit. Anmerkung 49.
54 Sybille de La Hamaide, „Bangladesh Seeks World Bank Loan for Solar Power“, Reuters, 26. April 2007.
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gehen soll. BP Solar baut derzeit in Spanien 278 kleinere Stromerzeugungsanlagen mit einer Gesamtkapazität von 25 Megawatt, und Google – eine der
vielen Firmen, die in Photovoltaikzellen investieren – hat an seinem Hauptsitz
im kalifornischen Mountain View eigens eine Solarzellenanlage mit Stromerzeugungskapazitäten von 1,6 Megawatt installieren lassen, mit deren Hilfe das
Sonnenlicht dort in Strom umgewandelt wird.55
Immer mehr Länder, Bundesstaaten und Provinzen setzen sich klare Ziele
bei der Schaffung neuer Kapazitäten zur Stromerzeugung mithilfe von Solarzellen. So plant beispielsweise Japan, bis 2010 zusätzliche Kapazitäten von
4.800 Megawatt zu schaffen, wobei das Land dieses Ziel aller Wahrscheinlichkeit nach sogar übertreffen wird. Während der Bundesstaat Maryland an der
Ostküste der USA bis 2022 den Bau neuer Solarzellenanlagen mit zusätzlichen
Kapazitäten von 1.500 Megawatt plant, liegt die Zielsetzung des Bundesstaates
Kalifornien bei 3.000 Megawatt bis 2017. Und auch in China will man hoch
hinaus: Shanghai arbeitet darauf hin, dass auf 100.000 Dächern der Stadt zukünftig Solarzellenanlagen installiert sind, was bei einer Stadt mit 6 Mio. Gebäudedächern nur der Anfang sein kann. Insgesamt gehen wir davon aus, dass
im Rahmen unserer neuen Plan-B-Energiewirtschaft bis 2020 1.190 Gigawatt
an Stromerzeugungskapazitäten durch Solarzellenanlagen zur Verfügung stehen werden.56
Eine weitere vielversprechende Möglichkeit zur Nutzung von Sonnenenergie besteht darin, mithilfe des Sonnenlichts Wasser zum Kochen zu bringen
und den dabei entstehenden Dampf zur Stromerzeugung zu nutzen. Bei dieser
Technologie zur Nutzung der thermischen Energie des Sonnenlichts, oft als
CSP (Concentrating Solar Power) bezeichnet, werden Reflektoren eingesetzt,
die automatisch dem Sonnenlicht folgen, dieses bündeln und auf ein geschlossenes Gefäß ausrichten, in dem sich Wasser oder irgendeine andere Flüssigkeit
befindet, die dann durch das Sonnenlicht auf Temperaturen von bis zu 400º
C erhitzt wird, um Dampf zu erzeugen. In Kalifornien wurden bereits vor fast
20 Jahren Anlagen gebaut, in denen die thermische Energie des Sonnenlichts
zur Stromerzeugung genutzt wurde und die über Stromerzeugungskapazitäten
von 354 Megawatt verfügten, doch da Strom aus Kraftwerken, die mit fossilen
Brennstoffen betrieben wurden, zunehmend preiswerter wurde, versiegten die
Investitionen in diesem Bereich. Jetzt, da die Preise für fossile Brennstoffe immer weiter steigen und auch die Besorgnis wegen der Auswirkungen auf das Klima immer mehr zunimmt, ist das Interesse neu erwacht. Dies zeigt sich unter
anderem darin, dass in Nevada im Jahr 2007 ein neues Sonnenwärmekraftwerk
mit Kapazitäten von 64 Megawatt fertiggestellt wurde, ein Kraftwerk ähnlicher
55 Dana Childs, „South Korea Building Largest Solar Installation in World“, Inside
Greentech, 10. Mai 2007; „Santander and BP Solar Partner in Major Euro Photovoltaic
Project“, Green Car Congress, 24. April 2006; Google, Solar Panel Projects unter www.
google.com/corporate, aktualisiert am 20. Oktober 2007; „Google Sets Precedent for Clean
Business Practices“, Renewable Energy Access, 23. Oktober 2006.
56 Sawin, op. cit. Anmerkung 39; Sara Parker, „Maryland Expands RPS: 1,500 MW
Solar by 2022“, Renewable Energy Access, 12. April 2007.
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Größe in Spanien bereits im Bau ist und in Florida Pläne für den Neubau einer
300-Megawatt-Anlage vorliegen.57
Zu den Regionen, in denen die Sonneneinstrahlung ausreichend stark ist,
um dafür zu sorgen, dass solche Sonnenwärmekraftwerke auch profitabel sind,
gehören vor allem der Südwesten der USA, Nordafrika, die europäischen Mittelmeeranrainerstaaten, der Nahe Osten, Zentralasien und die Wüstenregionen
in Pakistan, im Nordwesten Indiens und im Norden und Westen Chinas.58
Auch der Traum davon, die riesigen Solarenergieressourcen in der Sahara
nutzen zu können, um die europäischen Verbraucher mit Strom zu versorgen,
könnte schon bald in Erfüllung gehen. Im Juni 2007 verkündete die algerische
Regierung, man plane die Schaffung von 6.000 Megawatt an Kapazitäten zur
Stromerzeugung aus Sonnenwärme, wobei der so erzeugte Strom per Kabel
nach Europa exportiert werden soll. Im Juli 2007 begann man in Hassi R’mel,
etwa 420 km von der Hauptstadt Algier entfernt, mit dem Bau eines Erdgas-Sonnenwärme-Hybridkraftwerks, das über Kapazitäten von 150 Megawatt
verfügen wird und in dem nachts, wenn die Sonne nicht scheint, Erdgas zur
Stromerzeugung eingesetzt werden wird.59
Nachdem der algerischen Regierung schmerzlich bewusst wurde, dass die
Erdöl- und Erdgasvorkommen, deren Ausbeute das Land bisher exportieren
konnte, nicht ewig reichen würden, gründete sie mit New Energy Algeria eine
Firma für die Erschließung und den Export der Sonnenenergie des Landes.
Der Geschäftsführer des Unternehmens, Tewfik Hasni, dazu: „Momentan verbraucht die ganze Welt zusammen nur ein Viertel der Energiemenge, die wir in
der Lage wären, aus Sonnenwärme zu gewinnen.“ Die Unterwasserkabel, über
die der Strom aus den Sonnenwärmekraftwerken in der Sahara schließlich zu
den europäischen Verbrauchern gelangen soll, sollen übrigens zwischen 2010
und 2012 verlegt werden.60
Für Regionen mit sehr sonnigem Klima ist die Stromerzeugung durch Ausnutzung der Sonnenwärme vor allem deswegen so interessant, weil der Höhepunkt der Stromproduktion mitten am Tage liegt, wenn die Klimaanlagen
auf Hochtouren laufen und auch der Strombedarf des Einzelnen am höchsten
ist. In einer Studie der American Solar Energy Society (ASES) heißt es, in den
sonnigen Bundesstaaten im Südwesten der USA könnten nach Ausschluss der
weniger vielversprechenden Gegenden potentiell 7.000 Megawatt an Strom allein durch Nutzung der solarthermischen Energie erzeugt werden – das ist ungefähr das Siebenfache der gesamten derzeitigen Stromerzeugungskapazitäten
der USA. Weiter kommen die Experten in der Studie zu dem Schluss, dass
unter der Voraussetzung, dass die Steuergutschrift von 30 %, die derzeit für
57 „Largest Solar Thermal Plant in 16 Years Now Online“, Energy Efficiency and Renewable Energy News, 13. Juni 2007; Asjylyn Loder et al., „FPL Unveils Plans for a Solar Plant“,
St. Petersburg Times, 27. September 2007.
58 Georg Brakmann et al., Concentrated Solar Thermal Power – Now! (Brüssel: European
Solar Thermal Power Industry Association, 2005).
59 „Algeria Aims to Export Power – Solar Power“, Associated Press, 11. August 2007;
„Algeria Plans to Develop Solar Power for Export“, Reuters, 19. Juni 2007.
60 „Algeria Aims to Export Power – Solar Power“, op. cit. Anmerkung 59.
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Investitionen in Kraftwerke auf Solarenergiebasis gewährt wird, nicht wieder
abgeschafft wird, und der Preis für Kohlenstoff auf 35 $ pro Tonne steigt, etwa
80 Gigawatt dieses Stromerzeugungspotenzials bis 2030 tatsächlich entwickelt
werden könnten.61
Im Gegensatz zu Greenpeace und der ESTIF, die gemeinsam einen Plan
zur Entwicklung von 600.000 Megawatt an Kapazitäten in Sonnenwärmekraftwerken weltweit bis 2040 erarbeitet haben, sind wir der Ansicht, dass es
besser wäre, sich ein kurzfristigeres Ziel zu setzen und zu versuchen, bis 2020
200.000 Megawatt an Kapazitäten zu schaffen. Und da die Besorgnis wegen
des Klimawandels immer mehr zunimmt, ist es sogar wahrscheinlich, dass die­
se Zielsetzung letztlich noch übertroffen wird.62
ENERGIE AUS DER ERDE
Die meisten Energieexperten wissen zwar, dass die Menge an Sonnenenergie,
die jede Stunde auf der Erde ankommt, ausreichen würde, um die gesamte
Weltwirtschaft ein Jahr lang mit Energie zu versorgen, doch kaum jemand weiß,
dass die in den oberen 10.000 m der Erdkruste enthaltene Wärme das 50.000Fache der Energiemenge enthält, die aus allen Erdöl- und Erdgasreserven der
Welt gewonnen werden könnte. Doch ungeachtet dieser Fülle gibt es derzeit
weltweit nur 9.300 Megawatt an Kapazitäten zur Stromerzeugung aus geothermischer Energie.63
Ein Grund dafür, dass bisher nur relativ wenig in die Nutzbarmachung der
geothermischen Energie investiert wurde, besteht in der bisherigen Dominanz
der Erdöl-, Erdgas- und Kohleindustrie, die ihre Brennstoffe billig anbieten
konnten, weil sie die indirekten Kosten verschwiegen, die durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe entstehen. In den vergangenen 10 Jahren lag das jährliche Wachstum im Bereich der Nutzung geothermischer Energie bei kaum
3 %. Insgesamt konzentriert sich fast die Hälfte der weltweiten Kapazitäten zur
Stromerzeugung aus Erdwärme in den Vereinigten Staaten und den Philippinen, der größte Teil der restlichen Kapazitäten entfällt auf Mexiko, Indonesien,
Italien und Japan. Derzeit nutzen weltweit 24 Länder geothermische Energie
zur Stromerzeugung, wobei die Philippinen und El Salvador, wo der Anteil des
auf diese Weise erzeugten Stroms an der gesamten Stromerzeugung bei 25 %
bzw. 22 % liegt, klar führend sind.64
61 Charles F. Kutscher, Tackling Climate Change in the U.S. – Potenzial Carbon Emissions
Reductions from Energy Efficiency and Renewable Energy by 2030 (Boulder, CO: American
Solar Energy Society, 2007).
62 Brakmann et al., op. cit. Anmerkung 58.
63 Karl Gawell et al., International Geothermal Development Directory and Resource
Guide (Washington, DC: GEA, 2003); REN21, op. cit. Anmerkung 2, S. 17.
64 Angaben zur Wachstumsrate in diesem Bereich berechnet auf Grundlage von Daten
aus: Eric Martinot, Tsinghua-BP Clean Energy Research and Education Center, E-Mail an
Joseph Florence, Earth Policy Institute, 12. April 2007, sowie REN21, op. cit. Anmerkung
44; Angaben zu den Philippinen aus: „World Geothermal Power Up 50%, New US Boom
Possible“, Pressemitteilung (Washington, DC: GEA, 11. April 2002); Angaben zur Gesamt-
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Darüber hinaus wird mit geschätzten 100.000 Megawatt thermisch die
10-fache Menge der geothermischen Energie, die zur Stromerzeugung genutzt
wird, direkt – also ohne vorherige Umwandlung in Elektrizität – zur Beheizung von Gebäuden und Treibhäusern und als Prozesswärme in der Industrie
genutzt. Einige Beispiele für die direkte Nutzung von Erdwärme sind die heißen Bäder in Japan oder die Beheizung zahlreicher Wohngebäude in Island
und vieler Treibhäuser in Russland.65
Im Jahr 2006 bat das Massachusetts Institute of Technology (MIT) eine Gruppe aus 13 Wissenschaftlern und Ingenieuren unterschiedlicher Fachrichtungen,
in einer Studie die Möglichkeiten zu untersuchen, in den USA vorhandene
Erdwärmeressourcen zur Stromgewinnung nutzbar zu machen. Unter Einbeziehung der neuesten technologischen Möglichkeiten – einschließlich der
Technologien, die Erdöl- und Erdgasunternehmen für ihre Bohrungen und
zur Steigerung der Ölförderleistung verwenden – kamen die Experten zu dem
Schluss, dass es mithilfe ausgefeilter Systeme zur Nutzung der geothermischen
Energie möglich wäre, bis 2050 in den USA 100.000 Megawatt an Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Erdwärme zu schaffen, was etwa dem entspricht,
was 250 Kohlekraftwerke leisten könnten. Um dieses Potenzial in vollem Umfang realisieren zu können, so die Meinung der MIT-Experten, müsste die
US-Regierung in den nächsten Jahren bis zu 1 Mrd. $ in die Forschung und
Entwicklung in diesem Bereich investieren – etwa soviel, wie ein großes Kohle­
kraftwerk kosten würde.66
Doch schon bevor diese wissenschaftliche Einschätzung vorlag, befanden sich Anfang 2007 61 Projekte zur Nutzung geothermischer Energie in
der Bau- oder Entwicklungsphase. Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang wäre, welche Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Erdwärme andere
Länder, die mit weitaus größeren Erdwärmereserven gesegnet sind, wohl potentiell schaffen könnten, wenn sie dieselben Technologien einsetzten wie die
Vereinigten Staaten mit ihren 100.000 Megawatt an Potenzial. In Schätzungen
für Japan, die inzwischen etwa 10 Jahre alt sind, war die Rede von einem
Potenzial von 69.000 Megawatt, doch angesichts der inzwischen verfügbaren
neuen Technologien könnte diese Zahl leicht auf 140.000 Megawatt ansteigen
und sich damit fast verdoppeln.67
zahl der Länder, die geothermische Energie zur Stromerzeugung nutzen: Karl Gawell et al.,
2007 Interim Report: Update on World Geothermal Development (Washington, DC: GEA,
1. Mai 2007), S. 1; Angaben zu El Salvador aus: Ruggero Bertani, „World Geothermal Generation 2001–2005: State of the Art“, Proceeding of the World Geothermal Congress (Antalya,
Türkei: 24.-29. April 2005), S. 3.
65 Jefferson Tester et al., The Future of Geothermal Energy: Impact of Enhanced Geothermal Systems (EGS) on the United States in the 21st Century (Cambridge, MA: Massachusetts
Institute of Technology, 2006); John W. Lund und Derek H. Freeston, „World-Wide Direct
Uses of Geothermal Energy 2000“, Geothermics, Vol. 30 (2001), S. 34, 46, 51, 53.
66 Tester et al., op. cit. Anmerkung 65.
67 Angaben zu den Projekten in den USA aus: Gawell et al., op. cit. Anmerkung 64, S.
11; Angaben zu Japan aus: Hal Kane, „Geothermal Power Gains“, in: Lester R. Brown et al.,
Vital Signs 1993 (New York: W. W. Norton & Company, 1993), S. 54; DOE, EIA, „Japan“,
EIA Country Analysis Brief (Washington, DC: aktualisiert im August 2004).
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Über ein noch weitaus größeres Potenzial verfügt Indonesien mit seinen
500 Vulkanen, von denen 128 sogar noch aktiv sind. Das Land könnte mithilfe der preiswerten, leicht nutzbar zu machenden Erdwärme seinen gesamten
Strombedarf decken, und da die Erdölreserven Indonesiens immer mehr abnehmen, kann sich das Land glücklich schätzen, so reich mit einer Energiequelle gesegnet zu sein, deren Reserven unerschöpflich sind.68
Erdwärme bietet ein breites Spektrum an Nutzungsmöglichkeiten, darunter die Erzeugung von Strom, die Beheizung von Gebäuden und die Bereitstellung von Prozesswärme für die Industrie. Zu den Ländern, die besonders
reich an geothermischer Energie sind, gehören die Länder des Pazifischen Feuerrings69, wie Chile, Peru, Kolumbien, Mexiko, die Vereinigten Staaten, Kanada, Russland, China, Japan, die Philippinen, Indonesien und Australien. Auch
die Länder entlang des Großen Afrikanischen Grabenbruchs, wie Kenia und
Äthiopien, und am östlichen Mittelmeer verfügen über große Ressourcen an
geothermischer Energie.70
Im Bereich der direkten Nutzung geothermischer Energie gehören Island
und Frankreich zu den führenden Nationen. In Island ist dank der Tatsache,
dass das Land inzwischen fast 90 % aller Gebäude mithilfe von Erdwärme beheizt, die Kohle als Heizmittel für Gebäude praktisch verdrängt worden, und
insgesamt deckt das Land mehr als ein Drittel seines Gesamtenergiebedarfs
durch Erdwärme. In Frankreich wurden nach den beiden Ölpreiserhöhungen
in den 70er Jahren etwa 70 Anlagen zur Nutzung geothermischer Energie als
Heizstoff gebaut, durch die etwa 200.000 Haushalte sowohl beheizt als auch
mit Warmwasser versorgt wurden, und auch in den Vereinigten Staaten wird
mithilfe von Erdwärme direkt geheizt, beispielsweise in Reno (Nevada) und
Klamath Falls (Oregon). Weitere Länder mit ausgedehnten Heizsystemen auf
Erdwärmebasis sind China, Japan und die Türkei, um nur einige zu nennen.71
Geothermische Energie ist ideal zur Beheizung von Treibhäusern geeignet,
besonders in den nördlichen Regionen. Russland, Island, Ungarn und die USA
sind nur einige der vielen Länder, die diese Möglichkeit nutzen, um im Winter
frisches Gemüse zu produzieren. Und da die Transportkosten für Frischwaren
durch höhere Ölpreise ebenfalls stark ansteigen werden, wird diese Option in
den nächsten Jahren sicher noch weitere Verbreitung finden.72
In 16 Ländern weltweit, darunter China, Israel und die Vereinigten Staaten, wird geothermische Energie auch im Bereich der Aquakulturen eingesetzt.
So nutzen zum Beispiel 15 Fischfarmen in Kalifornien mithilfe von geothermischer Energie erhitztes unterirdisches Wasser zur Zucht von Bunt- und Strei68 Peter Janssen, „The Too Slow Flow: Why Indonesia Could Get All Its Power From
Volcanoes – But Doesn’t“, Newsweek, 20. September 2004.
69 Anm. d. Übers.: Gürtel von Vulkanen, der den Pazifik umschließt.
70 Weltbank, „Geothermal Energy“, Ausarbeitung im Rahmen des gemeinsamen Programms von PB Power und Weltbank, www.worldbank.org, eingesehen am 23. Jan. 2003.
71 Nationale Energiebehörde und Industrie- und Handelsministerium Islands, Geothermal Development and Research in Iceland (Reykjavik, Island: April 2006), S. 16; Weltbank,
op. cit. Anmerkung 69.
72 Lund und Freeston, op. cit. Anmerkung 65, S. 34, 51, 53.
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fenbarschen sowie Welsen, wobei die jährliche Gesamtproduktion bei 4,5 Mio.
kg liegt.73
Die Zahl der Länder, die sich der geothermischen Energie zur Stromerzeugung und zur direkten Nutzung zuwenden, nimmt ebenso rasant zu wie die Anzahl der Anwendungsmöglichkeiten dieser Energieform. So wird geothermische
Energie in Rumänien zur Fernwärmeversorgung, für Treibhäuser und für die
Warmwasserbereitung für Privathaushalte und für die Industrie verwendet.74
Heißes Wasser aus unterirdischen Quellen wird häufig auch in Badehäusern
und Schwimmbädern verwendet. In Japan beispielsweise wird geothermische
Energie in 2.800 Bädern, 5.500 öffentlichen Badehäusern und 15.600 Hotels
und Gasthäusern zur Erhitzung des Wasser genutzt; in Island verwenden etwa
100 öffentliche Schwimmbäder, die meisten davon mit ganzjährig geöffneten
Freiluftbecken, geothermisch beheiztes Wasser; und in Ungarn werden 1.200
Schwimmbäder mithilfe von geothermischer Energie beheizt.75
Wenn die vier bevölkerungsreichsten Länder im Pazifischen Feuerring, die
Vereinigten Staaten, Japan, China und Indonesien,­ die zusammen über eine
Bevölkerung von 2 Mrd. Menschen verfügen,­ ernstzunehmende Investitionen
in die Entwicklung ihrer Erdwärmeressourcen tätigten, könnten sie dafür sorgen, dass geothermische Energie weltweit eine der wichtigsten Energiequellen
zur Stromerzeugung würde. Nachdem allein die Vereinigten Staaten und Japan
zusammen über ein Potenzial von 240.000 Megawatt zur Stromerzeugung aus
geothermischer Energie verfügen, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass es
bis 2020 weltweit ein Potenzial von 200.000 Megawatt geben wird.76
ENERGIEQUELLEN AUF PFLANZENBASIS
Da die Erdöl- und Erdgasreserven immer mehr abnehmen, wendet sich die
Welt zunehmend auch Energiequellen auf Pflanzenbasis zu, zu denen unter anderem verschiedene Nebenprodukte der Forstindustrie, der Zuckerindustrie,
Teile des städtischen Mülls, tierische Abfälle, zur Energiegewinnung nutzbare
Pflanzen, Erntereste und Abfälle von Bäumen überall aus der Stadt gehören,
die alle zur Stromerzeugung, Gebäudebeheizung und Produktion von Autokraftstoffen benutzt werden können.
In der Holzindustrie, zu der sowohl Säge- als auch Papiermühlen gehören,
werden bereits seit Langem Abfälle zur Stromerzeugung genutzt. Amerikanische Firmen verbrennen Forstabfälle und erzeugen auf diese Weise sowohl
Prozesswärme für bestimmte Industrieprozesse als auch Strom, den sie dann
an lokale Stromanbieter verkaufen. In den USA entfällt der Großteil der fast
73 Weltbank, op. cit. Anmerkung 69.
74 Ebenda.
75 Lund und Freeston, op. cit. Anmerkung 65, S. 46, 53.
76 U.N. Population Division, op. cit. Anmerkung 23.
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10.000 Megawatt an Kapazitäten zur Stromerzeugung mithilfe von Pflanzen
auf die Verbrennung von Forstabfällen.77
In den Städten werden Holzabfälle auch häufig zur kombinierten Wärme- und Stromerzeugung verwendet, wobei die Wärme in der Regel für die
Fernwärmeversorgung genutzt wird. In Schweden werden fast die Hälfte aller
Wohn- und Geschäftsgebäude über solche Fernwärmesysteme beheizt. Noch
im Jahr 1980 wurden diese Heizsysteme zu mehr als 90 % mit importiertem
Erdöl betrieben, doch bis 2005 war es gelungen, das Erdöl größtenteils durch
Hackgut, städtische Abfälle und Lignit zu ersetzen.78
Die amerikanische Stadt St. Paul im Bundesstaat Minnesota mit ihren fast
300.000 Einwohnern begann schon vor mehr als 20 Jahren mit der Einrichtung
eines solchen Fernwärmesystems. Man baute ein kombiniertes Wärme-StromKraftwerk, das mithilfe von Holzabfällen aus den Parks der Stadt, industriellen
Holzabfällen und Holz aus anderen Quellen betrieben wurde. Inzwischen versorgt dieses Kraftwerk, das pro Jahr mindestens 250.000 t an Holzabfällen verbrennt, etwa 80 % der Gebäude in der Innenstadt und damit mehr als 2,5 km2
an Fläche in Wohn- und Geschäftsgebäuden über ein Fernwärmesystem mit
Wärme. Dank dieses Übergangs zur Verwendung von Holzabfällen wurde die
Kohle größtenteils verdrängt, wodurch gleichzeitig die Kohlenstoffemissionen
um 76.000 t jährlich gesenkt, die Holzabfälle verwertet und eine nachhaltige
Quelle zur Strom- und Wärmegewinnung erschlossen werden konnten.79
Vor einiger Zeit begann dann auch die Zuckerindustrie, zur gleichzeitigen
Erzeugung von Wärme und Strom Zuckerrohrabfälle zu verbrennen. Als Firmen mit Ethanoldestillerien auf Zuckerrohrbasis erstmals erkannten, dass sie
durch die Verbrennung von Bagasse – jenem faserigen Material, das nach der
Extraktion des Zuckersirups übrig bleibt –­ nicht nur Wärme erzeugen konnten, der für die Fermentierung genutzt werden konnte, sondern auch Strom,
den sie anschließend an lokale Stromanbieter verkaufen konnten, erhielt diese
Methode in Brasilien massiven Auftrieb. Dieses System, das sich in der brasilianischen Ethanolindustrie gut etabliert hat, findet inzwischen auch in den
Zuckermühlen der anderen Länder Anwendung, auf die die restlichen 80 %
der weltweiten Zuckerproduktion entfallen.80
Auch der städtische Müll kann, wenn die recyclingfähigen Bestandteile erst
einmal entfernt wurden, verbrannt und so in Wärme und Strom umgewandelt
77 Kutscher, op. cit. Anmerkung 61, S. 118; EIA, „Net Generation by Other Renew­
ables“, unter www.eia.doe.gov/cneaf, aktualisiert am 10. Oktober 2007.
78 Schwedische Energiebehörde, Energy in Sweden 2005 (Eskilstuna, Schweden: November 2005), S. 37.
79 Angaben zur Bevölkerungszahl aus: U.S. Bureau of the Census, State & County
Quickfacts, elektronische Datenbank unter quickfacts.census.gov, aktualisiert am 31. August 2007; Anders Rydaker, „Biomass for Electricity & Heat Production“, Präsentation auf
der Konferenz Bioenergy North America 2007, Chicago, IL, 16. April 2007.
80 World Alliance for Decentralized Energy, Bagasse Cogeneration – Global Review and
Potenzial (Washington, DC: Juni 2004), S. 32; Angaben zur Zuckerproduktion aus: U.S.
Department of Agriculture (USDA), Commodities and Products, elektronische Datenbank
unter www.fas.usda.gov/commodities, aktualisiert im Mai 2007.
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werden. In Europa werden heute bereits 20 Mio. Verbraucher durch Kraftwerke, in denen Energie durch die Verbrennung von Abfällen erzeugt wird,
mit Wärme versorgt, wobei unter den europäischen Ländern Deutschland (mit
69 derartigen Kraftwerken) und Frankreich führend sind. In den USA gibt
es 89 solcher Kraftwerke, in denen jährlich 20 Mio. t Müll verbrannt und in
Strom für etwa 6 Mio. Verbraucher umgewandelt werden.81
Da sich die Vieh- und Geflügelhaltung in den USA in großen Anlagen
konzentriert, gewinnt die Umwandlung von tierischen Abfällen in Methangas
in anaeroben Faulbehältern zunehmend an Bedeutung. Die Firma AES Corporation, einer der größten Stromproduzenten der Welt, ist heute auch im Naturgassektor tätig. Sie schließt Verträge mit einzelnen Landwirten, damit diese
mithilfe von Biofermentern Methangas aus ihren tierischen Abfällen gewinnen,
das AES später verbrennt und so zur Wärme- und Stromgewinnung verwendet.
Außerdem fallen bei der Verarbeitung der tierischen Abfälle auch feste Rückstände mit hohem Nährstoffgehalt an, die die Landwirte als Dünger auf ihre
Felder ausbringen können.82
Zunehmend versuchen Stromproduzenten und -anbieter auch, das auf
Müllhalden durch die Verwesung organischer Abfälle entstehende Methangas
in kombinierten Strom-Wärme-Kraftwerken zur Gewinnung von Prozesswärme
für die Industrie oder zur Stromerzeugung zu nutzen. Die US-Firma Interface,
der weltweit größte Hersteller von Industrieteppichen, hat ihren Firmensitz in
Atlanta im Bundesstaat Georgia. Vor einiger Zeit gelang es den Verantwortlichen der Firma, die Stadtregierung von Atlanta zu überzeugen, 3 Mio. $ in
Anlagen zu investieren, mit deren Hilfe das auf der städtischen Müllhalde entstehende Methangas aufgefangen werden kann, und außerdem eine etwa 14,5
km lange Pipeline zu bauen, über die das Gas, dessen Preis übrigens etwa 30 %
unter dem Weltmarktpreis liegt, dann in eine Fabrik von Interface geleitet wird,
wo mit seiner Hilfe etwa 20 % des Gesamtenergiebedarfs der Fabrik gedeckt
werden. Laut Vorhersagen wird auf der Müllhalde noch die nächsten 40 Jahre
Methangas entstehen, sodass die Stadt davon ausgehen kann, für ihre ursprüngliche Investition von 3 Mio. $ letztlich mit 35 Mio. $ an Einnahmen belohnt
zu werden. Und Interface hat den Vorteil, dass die Betriebskosten für die Firma
deutlich geringer ausfallen und die Treibgasemissionen gesenkt werden, wodurch die Fabrik einen großen Schritt hin zur Klimaneutralität macht.83
Mittlerweile ist es bekanntermaßen auch möglich, Autokraftstoffe aus Nutzpflanzen herzustellen. Im Jahr 2007 lag die weltweite Produktion von Kraftstoffethanol bei 49,8 Mrd. l und die von Biodiesel bei 8,7Mrd. l. Die Hälfte
des Ethanols wurde in den USA produziert, ein Drittel kam aus Brasilien und
der Rest aus einem von etwa einem Dutzend Ländern, allen voran China und
81 Waste to Energy Conference, „Power and Heat for Millions of Europeans“, Pressemitteilung (Bremen: 20. April 2007).
82 Robin Pence, „AES AgriVerde: An AES-AgCert Joint Venture“, Datenblatt (Arlington, VA: AES Corporation, Mai 2006).
83 Ray C. Anderson, Präsentation auf der Tagung „Chicago Climate Exchange“, Chicago, IL, 14. Juni 2006.
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Kanada. Beim Biodiesel stammte fast ein Viertel aus Deutschland, die anderen
Hauptproduzenten waren die Vereinigten Staaten, Frankreich und Italien.84
In den Vereinigten Staaten, die Brasilien bereits im Jahr 2005 bei der Ethanolproduktion überholten, wird vorwiegend Mais als Ausgangsstoff benutzt.
Laut Prognosen wird sich die Ethanolproduktion in den Vereinigten Staaten
zwischen 2007 und Ende 2008 fast verdoppeln, sodass die Gesamtproduktionsmenge dann bei 49 Mrd. l läge. Doch bereits hier könnte sich der Anteil an der
Gesamtmaisernte der USA, der dafür bereitgestellt werden müsste und nicht
mehr als Nahrungsmittel zur Verfügung stünde, als so groß erweisen, dass unweigerlich die Weltmarktpreise für Mais explodieren würden. Und wenn Brasilien seine Kapazitäten zur Produktion von Ethanol auf Zuckerrohrbasis weiter
ausbauen wollte, so würde sich dadurch der Druck auf die noch verbliebenen
Flächen des Amazonas-Regenwaldes erhöhen. Beides könnte vermieden werden, wenn die Menschen auf Hybridfahrzeuge mit zusätzlicher Speicherbatterie
umstiegen, die mit Strom aus Solar- oder Windenergie betrieben würden.85
Mitte 2007 zeigte sich bereits ein Rückgang bei den Investitionen in die
Bereiche Ethanol- und Biodieselproduktion. Grund dafür waren einerseits die
steigenden Preise für die Ausgangsstoffe in beiden Bereichen und andererseits
die Tatsache, dass angesichts der rasant ansteigenden Getreidepreise auch bei
den Lebensmittelkonsumenten weltweit die Alarmglocken schrillten. In Euro­pa
hatte man sich hohe Ziele gesetzt, was den Einsatz von Biodiesel angeht, allerdings ist das Potenzial zur Steigerung der Ölsaatproduktion sehr gering. Aus
diesem Grunde sehen sich die europäischen Biodieselraffinerien zunehmend
gezwungen, auf Palmenöl aus Malaysia oder Indonesien zurückzugreifen, doch
die Tatsache, dass diese Länder immer größere Regenwaldareale abholzen, um
Platz für neue Palmenplantagen zu schaffen, erregt weltweit große Besorgnis.86
Wissenschaftler arbeiten bereits an der Entwicklung effizienter Technologien zur Umwandlung zellulosehaltiger Materialien wie Rutenhirse, Hackgut,
Weizenstroh oder Maisstängeln in Ethanol. Dabei haben sie herausgefunden,
dass sich bei der Umwandlung von Rutenhirse und Hybridpappeln, die auf
Grenzertragsböden angebaut werden, relativ hohe Ethanolerträge erzielen lassen, doch es wird wohl noch mindestens 10 Jahre dauern, bis Ethanol auf Zellulosebasis im Hinblick auf die Erträge mit dem aus Mais gewonnen Ethanol
konkurrieren kann.87
Die Ergebnisse einer Studie der American Solar Energy Society legen nahe,
dass es weitaus effizienter ist, zellulosehaltige Pflanzen zu verbrennen und auf
84 F.O. Licht, „World Fuel Ethanol Production“, World Ethanol and Biofuels Report,
Vol. 5, Nr. 17 (8. Mai 2007), S. 354; F.O. Licht, „World-Biodiesel Production (tonnes)“,
World Ethanol and Biofuels Report, Vol. 5, Nr. 14 (23. März 2007), S. 291.
85 F.O. Licht, „World Fuel Ethanol Production“, op. cit. Anmerkung 83; RFA, Ethanol
Biorefinery Locations, unter www.ethanolrfa.org, aktualisiert am 28. September 2007.
86 Fiona Harvey et al., „Biofuels Growth Hit by Soaring Price of Grain“, Financial Times,
22. Feb. 2007; Nigel Hunt, „Biofuel Bandwagon Slows as Feedstock Prices Surge“, Reuters, 5.
Okt. 2007; Bill Guerin, „European Blowback for Asian Biofuels“, Asia Times, 8. Feb. 2007.
87 USDA, Biomass as Feedstock for a Bioenergy and Bioproducts Industry: The Technical
Feasibility of a Billion-Ton Annual Supply (Washington, DC: April 2005).
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diese Weise direkt Strom zu erzeugen, als sie in Ethanol umzuwandeln. Die
Frage ist, wie groß der Anteil an der Gesamtenergieversorgung der Welt wäre,
der durch die Nutzung pflanzlicher Materialien abgedeckt werden könnte. Die
Experten der ASES schätzen, dass die Vereinigten Staaten 110 Gigawatt an Kapazitäten zur Stromerzeugung aus der Verbrennung von Pflanzen wie Rutenhirse oder von schnell wachsenden Bäumen schaffen könnten, das ist etwa das
10-Fache des derzeitigen Niveaus. Die Vorhersage bezüglich des Wachstums in
diesem Bereich beruht auf der Annahme, dass die zukünftig durch Ausweitung
der Produktion von zellulosehaltigen Pflanzen zusätzlich zur Verfügung stehende Menge an Pflanzen nicht in Ethanol umgewandelt, sondern vorrangig zur
Stromerzeugung genutzt wird. Wir gehen insgesamt davon aus, dass durch den
Einsatz von Pflanzen zur Stromerzeugung bis 2020 weltweit zusätzliche Stromerzeugungskapazitäten von 200 Gigawatt entstehen können.88
FLÜSSE, GEZEITENWECHSEL UND WELLEN
ALS ENERGIELIEFERANTEN
Etwa 16 % des weltweiten Energiebedarfs werden durch die Nutzung der Wasserkraft gedeckt, wobei der Großteil davon über große Staudämme realisiert
wird. Einige Länder, darunter Brasilien und die Demokratische Republik Kongo, beziehen einen großen Teil ihrer Energie aus den Flüssen. Im dritten Viertel
des vergangenen Jahrhunderts wurden viele große Dämme gebaut, doch nachdem die besten Optionen dafür ausgereizt waren und der Widerstand gegen
solche Staudammanlagen und die damit verbundenen Umsiedlungen der in
den betroffenen Gebieten lebenden Menschen sowie die Überschwemmung
fruchtbaren Landes wuchs, verlor der Bau großer Dammanlagen zunehmend
an Attraktivität.89
Kleinere Dämme werden aber nach wie vor errichtet. So wurden beispielsweise im Jahr 2006 in den ländlichen Gegenden Chinas diverse kleinere Dämme mit einer Stromerzeugungskapazität von insgesamt 6.000 Megawatt gebaut,
die für einige ländliche Gemeinden die einzige Stromquelle darstellen. China
ist zwar im Hinblick auf den Bau solcher Dämme führend, doch auch viele
andere Länder gehen zunehmend zu kleinen Stauanlagen über, weil die Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen zunehmend teurer wird, sodass erneuerbare
Energiequellen immer mehr an Attraktivität gewinnen. Inzwischen finden auch
Turbinen, die direkt im Fluss angebracht sind und keinen Damm benötigen, zunehmend Anklang, weil damit weniger stark in die Natur eingegriffen wird.90
Das erste Gezeitenkraftwerk – eine Stauanlage an der Mündung der Rance
mit Stromerzeugungskapazitäten von 240 Megawatt – wurde vor 40 Jahren in
88 Kutscher, op. cit. Anmerkung 61, S. 127.
89 IEA, op. cit. Anmerkung 49, S. 219, 479; IEA, Member Countries and Countries
Beyond the OECD, elektronische Datenbank unter www.iea.org/Textbase, eingesehen am
20. Oktober 2007; International Rivers Network, „Frequently Asked Questions about
Dams“, Datenblatt (Berkeley, CA: 2004).
90 „Rural Areas Get Increased Hydro Power Capacity“, Xinhua, 7. Mai 2007.
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Frankreich gebaut und ist auch heute noch in Betrieb. In den letzten Jahren
hat das Interesse an der Nutzung der Gezeitenkraft stark zugenommen und die
Idee hat auf der ganzen Welt Verbreitung gefunden. So realisiert zum Beispiel
Südkorea derzeit ein 254-Megawatt-Projekt an der Westküste des Landes, das
nach seiner Fertigstellung im Jahr 2009 genug Strom erzeugen soll, um die
etwa 500.000 Menschen in der nahegelegenen Stadt Ansan mit Strom zu versorgen, und etwa 50 km nördlich, in der Nähe von Inchon, planen Ingenieure
sogar den Bau eines Gezeitenkraftwerks mit Kapazitäten von 812 Megawatt.91
Gar nicht weit davon entfernt planen die Chinesen, an der Mündung des
Jalu-Flusses an der Grenze zu Nordkorea ein Gezeitenkraftwerk mit Kapazitäten von 300 Megawatt zu bauen, und ganz im Süden entwickeln die Neuseeländer in der Kaipara-Harbour-Bucht an der Nordküste des Landes ein 200Megawatt-Projekt.92
Verschiedene Länder ziehen sogar echte Großprojekte zur Stromerzeugung in Erwägung. So plant Indien den Bau einer über 60 km breiten Stauanlage über den Golf von Khambhat an der Nordwestküste des Landes, die
über Stromerzeugungskapazitäten von 7.400 Megawatt verfügen soll, und in
Großbritannien machen sich mehrere Politiker für ein Gezeitenkraftwerk mit
Kapazitäten von 8.600 Megawatt im Severn Estuary an der Südwestküste stark.
Auch die russischen Planungen bewegen sich in hohen Kapazitätsbereichen,
hier sprechen die Planer von Gezeitenkraftwerken mit Kapazitäten von 10.000
Megawatt. Eine solche Anlage soll am Ochotskischen Meer an der Ostküste
Russlands entstehen, eine weitere im Weißen Meer im Nordwesten Russlands,
an der Grenze zu Finnland.93
In den Vereinigten Staaten liegt das Hauptaugenmerk auf kleineren Gezeitenkraftwerken. Die Federal Energy Regulatory Commission hat bereits vorläufige Genehmigungen für Projekte im Puget Sound, in der Bucht von San
Francisco und im New Yorker East River erteilt. Das von der Oceana Energy
Company geplante Projekt in der Bucht von San Francisco soll über Stromerzeugungskapazitäten von mindestens 40 Megawatt verfügen. Neben den bereits erwähnten Projekten liegen der Kommission noch 38 weitere Anträge für
ähnliche Projekte in diversen Bundesstaaten an Ost- und Westküste der USA
vor, über die noch entschieden werden muss.94
91 Choe Sang-Hun, „South Korea Seeks Cleaner Energy Sources“, International Herald
Tribune, 9. Mai 2007; Choe Sang-Hun, „As Tides Ebb and Rise, South Korea Prepares to
Snare Them“, International Herald Tribune, 31. Mai 2007.
92 „China Endorses 300 MW Ocean Energy Project“, Renewable Energy Access, 2. November 2004; „Company Plans 200-Megawatt Tidal Power Plant in New Zealand“, Energy
Efficiency and Renewable Energy News, 29. November 2006; Sang-Hun, „As Tides Ebb and
Rise“, op. cit. Anmerkung 90.
93 Sang-Hun, „As Tides Ebb and Rise“, op. cit. Anmerkung 90; Igor Veletminsky,
„Anatoly Chubais Wants Russia to Lead the World in Tidal Power“, FreeEnergy.ca, 26. Fe­
bruar 2007, einsehbar unter www.freeenergy.ca/news.
94 „Company Plans 200-Megawatt Tidal Power Plant in New Zealand“, op. cit. Anmerkung 91; Oceana Energy Company, „Oceana Subsidiary Signs Collaborative Agreement
with PG&E, City of San Francisco“, Pressemitteilung (Washington, DC: 19. Juni 2007);
Dan Power, Oceana Energy Company, Gespräch mit Jonathan Dorn, Earth Policy Institute,
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Die Nutzung der Kraft der Wellen ist zwar einige Jahre später ins Visier
der Ingenieure und Investoren gerückt als die Gezeitenkraft, doch inzwischen
schenkt man ihr immer mehr Aufmerksamkeit. In den Vereinigten Staaten hat
der nordkalifornische Energieversorger PG&E Pläne für zwei 40-MegawattWellenkraftwerke vor der Nordküste des Bundesstaates vorgelegt, und der Ölriese Chevron hat eine Genehmigung beantragt, ganz in der Nähe Stromerzeugungskapazitäten von bis zu 60 Megawatt durch die Nutzung von Wellenkraft
einzurichten.95
Die South West of England Regional Development Agency hat Firmen dazu
eingeladen, sich an einer Ausschreibung zu beteiligen, um ihre neuesten Technologien im Wave Hub Project vor der Küste von Cornwall zu testen. Die Behörde wird dabei die Kabelverbindungen für bis zu 20 Megawatt bereitstellen,
über die der vor der Küste erzeugte Strom ins britische Netz eingespeist werden
soll. Das ehrgeizigste Ziel im Hinblick auf die Nutzung der Wellenkraft hat
sich jedoch Irland gesetzt: Hier will man bis 2020 Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Wellenkraft von 500 Megawatt schaffen – genug, um 7 % des
gesamten Strombedarfs des Landes zu decken.96
Wir gehen davon aus, dass die weltweiten Kapazitäten zur Stromerzeugung
aus Wasserkraft, die 2006 bereits bei 850 Gigawatt (850.000 Megawatt) lagen,
bis zum Jahr 2020 auf 1.350 Gigawatt anwachsen werden. Laut den offiziellen
chinesischen Prognosen wird allein China 270 Gigawatt dazu beitragen, die
größtenteils auf die großen Staudämme im Südwesten des Landes entfallen
werden. Die restlichen 230 Gigawatt würden sich dann auf einige große Dämme verteilen, die in Ländern wie Brasilien und der Türkei noch gebaut werden,
aber auch auf eine große Zahl kleinerer Wasserkraftanlagen, eine schnell wachsende Anzahl von Gezeitenkraftwerken (einige von ihnen mit Kapazitäten von
mehreren Gigawatt) sowie eine Reihe kleiner Wellenkraftwerke. Wenn das Interesse an Gezeiten- und Wellenkraftwerken weiter so stark ansteigt, könnten
die Kapazitäten zur Stromerzeugung aus Wasser-, Gezeiten- und Wellenkraft
bis 2020 leicht über die zur Umsetzung unseres Plan B benötigten 500 Gigawatt hinausgehen.97
22. Oktober 2007.
95 Robert Silgardo et al., Finavera Renewables Inc.: Where There is Wind There is a Wave
(Toronto, ON: Dundee Securities Corporation, 18. Juni 2007); Federal Energy Regulatory
Commission, Hydrokinetics – Issued and Pending Permits, elektronische Datenbank unter
www.ferc.gov/industries, aktualisiert am 6. August 2007.
96 „Wave Hub Names Fourth Developer for Wave Energy Farm“, Renewable Energy
Access, 15. Mai 2007; Europäische Kommission, Report on the Workshop on Hydropower and
Ocean Energy – Part I: Ocean Energy, 13. Juni 2007, S. 1, 3; IEA, op. cit. Anmerkung 88.
97 Lila Buckley, „Hydropower in China: Participation and Energy Diversity Are Key“,
China Watch (Washington, DC: Worldwatch Institute und Global Environmental Institute,
24. April 2007); „Rural Areas Get Increased Hydro Power Capacity“, op. cit. Anmerkung
89; Pallavi Aiyar, „China: Another Dammed Gorge“, Asia Times, 3. Juni 2006; Gary Duffy,
„Brazil Gives Amazon Dams Go-Ahead“, BBC News, 10. Juli 2007; Patrick McCully, Before
the Deluge: Coping with Floods in a Changing Climate (Berkeley, CA: International Rivers
Network, 2007), S. 22f.
319
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
DIE INTERNATIONALE ENERGIEWIRTSCHAFT
IM JAHR 2020
Der Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe beginnt bei der Stromerzeugung. Hier wären die 5.153 Megawatt an Kapazitäten zur Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energien, die bis 2020 geschaffen werden sollen, wobei mehr
als die Hälfte auf die Nutzung von Windenergie entfallen soll, mehr als ausreichend, um die bisher zur Stromerzeugung eingesetzte Kohle und das Erdöl
vollständig und das Erdgas zu 70 % zu ersetzen. (siehe Tabelle 12-1) Die zusätzlichen 1.530 Gigawatt an Wärmekapazitäten, von denen etwa zwei Drittel
durch Solaranlagen auf den Dächern aufgebracht würden, würden dafür sorgen, dass in Zukunft weder Erdöl noch Erdgas für die Beheizung von Gebäuden oder die Warmwasserbereitung benötigt würde.98
Wenn wir uns die großen Umwälzungen im Energiebereich, mit denen unsere Vision von einer neuen Energiewirtschaft im Jahr 2020 realisiert werden
soll, einmal näher betrachten, so stellen wir fest, dass zwar die Strommenge,
die mithilfe fossiler Brennstoffe erzeugt wird, um 90 % abnimmt, doch die
Strommenge, die dann aus erneuerbaren Energien erzeugt wird und die zwischen 2006 und 2020 auf ein Fünffaches anwachsen soll, macht diesen Verlust
mehr als wett. Im Verkehrsbereich wird der Verbrauch an fossilen Brennstoffen
um etwa 70 % sinken, was dadurch erreicht werden soll, dass wir nicht nur
einfach auf Fahrzeuge mit Benzin-Elektro-Hybridantrieb, sondern auf hoch
effiziente Hybridfahrzeuge mit zusätzlicher, über das Stromnetz aufladbarer
Speicherbatterie umsteigen, die größtenteils mithilfe von Strom aus erneuerbaren Energien fahren. Und auch der Übergang zu Elektrozügen, die weitaus
energieeffizienter sind als dieselbetriebene Züge, würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten.99
Außerdem wird es im Zusammenhang mit diesen Umstrukturierungsmaßnahmen im Energiebereich auch zu indirekten Energieeinsparungen kommen.
Wenn beispielsweise die Verwendung von Kohle im Energiebereich nach und
nach eingestellt wird, so können die riesigen Energiemengen, die bisher benötigt wurden, um die Kohle abzubauen, an die Oberfläche zu bringen und sie – in
der Regel per Lastzug und über mehrere Hundert Kilometer – zu den Kraftwerken zu transportieren, eingespart werden. Zur besseren Veranschaulichung:
98 Tabelle 12–1 zusammengestellt vom Earth Policy Institute, Vorhersagen für 2020
im gesamten Kapitel zitiert, Quellenangaben dort, und Angaben für 2006 berechnet auf
Grundlage von Daten aus folgenden Quellen: Angaben zu Solarstromanlagen auf Dächern
aus: Worldwatch Institute, op. cit. Anmerkung 4 sowie aus: Maycock, op. cit. Anmerkung
4; Angaben zur Windenergie aus: GWEC, op. cit. Anmerkung 8; Angaben zur geothermischen Energie aus: Gawell et al., op. cit. Anmerkung 64 sowie aus: REN21, op. cit.
Anmerkung 2; Angaben zur Biomasse aus: REN21, op. cit. Anmerkung 2; Angaben zur
Wasserkraft einschließlich Gezeiten- und Wellenkraft aus: from IEA, Renewables in Global
Energy Supply: An IEA Fact Sheet, S.13, 25, einsehbar unter www.iea.org; Angaben zu Solarkollektoren zur Wärmenutzung auf Dächern aus: IEA, Solar Heating and Cooling Program,
Solar Heat Worldwide: Markets and Contribution to the Energy Supply 2005 (Paris: April
2007); REN21, op. cit. Anmerkung 2; REN21, op. cit. Anmerkung 44; Angaben zur geothermischen Energie aus: Tester et al., op. cit. Anmerkung 65, S. 9.
99 GM, op. cit. Anmerkung 36.
320
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Etwa 42 % der gesamten in den USA transportierten Fracht entfallen auf den
Schienentransport von Kohle mithilfe dieselbetriebener Lokomotiven.100
Die neue Energiewirtschaft wird weniger stark auf Energie basieren, die
durch Verbrennung gewonnen wurde, sondern stärker auf direkt nutzbar gemachter Wind- und Sonnenenergie sowie Energie aus Erdwärme. Ein gutes
Beispiel sind Autos: Sie werden in Zukunft größtenteils mithilfe von Windenergie betrieben werden.
Strom wird in der neuen Energiewirtschaft eine weitaus größere Rolle spielen als bisher: Bis 2020 wird er das Benzin als Hauptenergiequelle für Autos größtenteils ersetzt haben und der Dieselkraftstoff für Lokomotiven wird
vollständig abgeschafft werden können. Auch werden die meisten Gebäude
in Zukunft komplett mit Elektrizität betrieben werden, Kühlung, Beheizung
und Beleuchtung werden alle auf der Basis von Elektrizität aus karbonfreien
erneuerbaren Energiequellen funktionieren.
Tabelle 12-1. Strom und Energie aus erneuerbaren Energiequellen weltweit im
Jahr 2006 und Zielsetzung im Rahmen von Plan B für 2020
Quelle
Vorhandene
Vorhandene Strom- und Wärme Strom- und Wärme
Kapazitäten
Kapazitäten
erzeugung erzeugung
2006
2020
2006
2020
Kapazitäten zur
Stromerzeugungin Gigawatt elektrisch
in Petajoule
Windenergie
74
Solarkollektoren auf
Dächern zur Stromerzeugung 9
Solarbetriebene
Stromkraftwerke
0
Solarbetriebene
Wärmekraftwerke
0
Geothermische Energie
9
Biomasse
45
Wasserkraft
850
Gesamt
987
3.000
840
34.059
1.090
61
7.734
100
1
710
200
200
200
1.350
6.140
4
261
1.135
11.848
14.150
1.539
5.676
5.046
18.818
73.581
Wärmeenergiekapazitäten in Gigawatt thermisch
Solarkollektoren auf
Dächern zur Beheizung
der Räume und
Erwärmung des Wassers
Geothermische Energie
Biomasse
Gesamt
100
100
220
420
1.100
500
350
1.950
in Petajoule
710
2.838
5.550
9.098
7.805
14.191
8.830
30.826
100 Bureau of Transportation Statistics, Freight in America: A New National Picture
(Washington, DC: Januar 2006), S. 7, 28.
321
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Doch nicht nur die Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien entwickeln sich rasant weiter und breiten sich schnell aus, dasselbe gilt für Technologien zur Entwicklung eines „intelligenten“ Netzes mit „intelligenten“ Messgeräten, mit deren Hilfe nicht nur der Stromfluss ständig überwacht werden kann,
sondern auch der spezifische Verbrauch im Haushalt. Damit hätten Verbraucher
beispielsweise die Wahl, den Geschirrspüler während der Spitzenzeit des Stromverbrauchs anzustellen und dafür 9 Cent pro kWh zu zahlen, oder ihn um 3
Uhr morgens für 5 Cent pro kWh laufen zu lassen. Wenn den Verbrauchern
derartige Möglichkeiten zur Verfügung stehen, hat dies einerseits Vorteile für
die Verbraucher selbst, weil sie damit ihre Stromrechnungen senken können,
aber auch für den Stromerzeuger, der nun zur Deckung des Strombedarfs seiner
Kunden weniger Stromerzeugungskapazitäten benötigt.101
Während die fossilen Brennstoffe dazu beigetragen haben, die Energiewirtschaft zu globalisieren, wird der Übergang zu erneuerbaren Energien dazu
führen, dass sie sich wieder stärker lokal orientiert. Wir gehen davon aus, dass
der Übergang im Energiebereich größtenteils durch die wachsende Besorgnis wegen der Auswirkungen auf das Klima, die steigenden Ölpreise und die
Umstrukturierung der Steuern zur Miterfassung der indirekten Kosten für die
Verbrennung von fossilen Brennstoffen vorangetrieben werden wird. Es ist
doch sehr ermutigend, wenn man bedenkt, dass uns bereits alle Technologien
zum Aufbau der neuen Energiewirtschaft zur Verfügung stehen, durch die das
Klima nicht geschädigt und die Luft nicht verpestet wird und deren Energiequellen die Lebensdauer der Sonne haben. Die Frage lautet nicht länger, ob wir
eine Energiewirtschaft aufbauen können, mit deren Hilfe das Klima stabilisiert
werden kann, sie muss lauten, ob uns dies gelingt, bevor der Klimawandel
außer Kontrolle gerät.
101 Ashlea Ebeling, „What Would You Pay to Stay Cool?“, Forbes, 15. August 2007.
322
III.
AUFREGENDE NEUE
MÖGLICHKEITEN
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Kapitel 13
Die große Mobilmachung
Es gibt viele Dinge über die Zukunft, die wir nicht wissen, doch eines wissen
wir ganz sicher: Wir können nicht mehr lange so weitermachen wie bisher,
fundamentale Veränderungen sind unausweichlich. In Bezug auf diese Veränderungen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder werden sie die Folge unseres schnellen und entschlossenen Handelns bei der Umgestaltung unserer
Wirtschaft sein oder aber das Ergebnis unseres Nichtstuns, das letztlich zum
Untergang unserer Zivilisation führen wird.
Wenn wir unsere Zivilisation retten wollen, müssen wir in absoluter Rekordgeschwindigkeit und im großen Maßstab mobilmachen, wobei die zwar
verspätete, aber letztlich erfolgreiche Mobilmachung der USA im Zweiten
Weltkrieg als Vorbild dienen könnte. Doch anders als bei diesem historischen
Vorbild reicht es zur Umsetzung von Plan B nicht aus, dass ein Land bereit
ist, seine Wirtschaft radikal umzugestalten, heute braucht es das entschlossene
Handeln aller Länder der Welt.
An der Klima-Front haben sich die Politiker nun dafür entschieden, Verhandlungen über ein Nach-Kioto-Protokoll zur Senkung der Kohlenstoffemissionen aufzunehmen, was vermutlich Jahre dauern wird. Doch wir haben keine
Zeit, erst jahrelang über ein weiteres internationales Abkommen zu verhandeln
und dann noch einmal mehrere Jahre zu warten, bis es endlich ratifiziert wird.
Wir müssen JETZT handeln!
Es ist höchste Zeit, dass die einzelnen Länder endlich die Initiative ergreifen
und selbstständig etwas unternehmen. Die Premierministerin von Neuseeland,
Helen Clark, hat gezeigt, wie es geht, als sie verkündete, man wolle in Neuseeland den Anteil des aus erneuerbaren Energien gewonnenen Stroms bis 2025
von bisher 70 %, die größtenteils aus der Nutzung von Wasserkraft und Erdwärme stammen, auf dann 90 % steigern. Außerdem will das Land den Pro-KopfAusstoß an Kohlenstoffemissionen im Transportbereich bis 2040 halbieren und
den Anteil der bewaldeten Flächen an der Gesamtfläche Neuseelands bis 2020
um etwa 250.000 ha ausweiten, wodurch pro Jahr 1 Mio. t Kohlenstoff aus der
Luft entfernt würden. Auch sind für die kommenden Monate weitere Initiativen angekündigt. Die Herausforderung, so Clark, besteht darin, „den Mut zu
haben, sich eine vollständige Kohlenstoffneutralität zum Ziel zu setzen“.
Unsere Analyse zur globalen Erwärmung und der zunehmenden Verschlechterung der natürlichen Stützsysteme unserer bisherigen Wirtschaft haben uns gezeigt, dass das westliche Wirtschaftsmodell – die auf fossilen Brenn „New Zealand Commits to 90% Renewable Electricity by 2025“, Renewable Energy
Access, 26. September 2007; Angaben zur Menge des aus der Luft gefilterten Kohlenstoffs
berechnet auf Grundlage von Daten aus: Vattenfall, Global Mapping of Greenhouse Gas
Abatement Opportunities up to 2030: Forestry Sector Deep-Dive (Stockholm, Schweden: Juni
2007), S. 16.
325
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
stoffen basierende, rund um das Automobil aufgebaute Wegwerfwirtschaft
– für unsere Welt nicht mehr tragbar ist. Wir brauchen eine neue Wirtschaft,
die mit erneuerbaren Energien betrieben wird, über ein stärker diversifiziertes
Verkehrssystem verfügt – das mehr auf Bahnen, Busse und Fahrräder als auf
Autos aufbaut – und in der Rohstoffe umfassend recycelt werden.
Wir können diese neue Wirtschaft auch detailliert beschreiben. Die Frage
ist, wie wir schnell genug vom bisherigen zu dem neuen Wirtschaftsmodell
kommen, bevor uns die Zeit davonläuft. Wird es uns gelingen, schnell genug
politische Maßnahmen zur Senkung der Kohlenstoffemissionen einzuleiten,
bevor der kritische Punkt erreicht ist, ab dem das Abschmelzen der Gletscher
im Himalaja nicht mehr aufzuhalten ist? Und werden wir wohl die Abholzung
des Amazonasregenwaldes rechtzeitig stoppen können, bevor dieser so stark
austrocknet, dass er zum leichten Opfer für Waldbrände wird und sich das
Gebiet in Ödland verwandelt?
Was wäre zum Beispiel, wenn Wissenschaftler in drei Jahren feststellen
würden, dass wir mit der Senkung der Kohlenstoffemissionen zu lange gewartet haben und dass es nun zu spät ist, um das Abschmelzen des Grönländischen
Eisschildes noch aufzuhalten? Wie würden wir uns fühlen, wenn uns plötzlich
klar würde, dass wir dafür verantwortlich sind, dass der Meeresspiegel um 7 m
steigen wird und Hunderte Millionen Menschen zu Flüchtlingen werden? Wie
würde sich das auf unsere Selbstbild auswirken?
Infolge einer solchen Entwicklung könnte es zu einer Spaltung innerhalb
der Gesellschaft kommen, nur würde die Spaltung diesmal nicht wie so häufig
entlang rassischer, religiöser oder ethnischer Linien verlaufen, sondern vielmehr entlang der Generationslinien. Was werden wir unseren Kindern sagen,
wenn sie uns eines Tages fragen, wie wir ihnen das antun und ihnen ein solches Chaos hinterlassen konnten? Und wenn wir nicht eines Tages genau diese
Fragen zu hören bekommen wollen, müssen wir uns jetzt mit den Problemen
auseinandersetzen und dann schnell und entschlossen handeln.
Wir haben am Beispiel der Firma Enron gesehen, wie eines der größten
amerikanischen Unternehmen bankrottgegangen ist, als herauskam, dass nicht
alle Kosten auch tatsächlich in den Büchern aufgeführt worden waren. Wenn
allerdings unser weltweites Buchhaltungssystem, in dem leider auch nicht alle
Kosten in den Büchern erscheinen, zusammenbricht, so hätte das weitaus
schlimmere Folgen.
Der Schlüssel zum Aufbau einer neuen Weltwirtschaft, die trotzdem in
der Lage ist, den wirtschaftlichen Fortschritt aufrechtzuerhalten, liegt in der
Schaffung eines Marktes, der in ökologischer Hinsicht ehrlich ist. Um einen
solchen „ehrlichen Markt“ zu schaffen, müssen wir vor allem das Steuersystem
reformieren, indem wir die Einkommensteuer senken und die indirekten Kosten für umweltschädigende Aktivitäten in Form von Steuern in den Marktpreis
einfließen lassen.
Angaben zum Anstieg des Meeresspiegels durch Abschmelzen des Grönländischen
Eisschildes aus: U.N. Environment Programme, Global Outlook for Ice and Snow (Nairobi:
2007), S. 103.
326
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Wenn es uns gelingt, einen wirklich ehrlichen Markt zu schaffen, können
wir damit vermeiden, dass uns die fehlerhaften Buchhaltungssysteme, die letztlich in den Bankrott führen, kalt erwischen. Wie Øystein Dahle, der ehemalige
Vizepräsident von Exxon für Norwegen und die Nordsee, einmal ausführte:
„Der Sozialismus ist gescheitert, weil er verhinderte, dass der Markt in wirtschaftlicher Hinsicht ehrlich war. Der Kapitalismus könnte scheitern, weil er
verhindert, dass der Markt in ökologischer Hinsicht ehrlich ist.
DIE UMVERTEILUNG VON STEUERN UND SUBVENTIONEN
Viele Wirtschaftswissenschaftler bestätigen, dass eine Verschiebung im Steuer­
bereich – die Senkung der Einkommenssteuer bei gleichzeitiger Erhöhung
der Abgaben für umweltschädliche Aktivitäten – dringend notwendig ist. So
könnte beispielsweise die Einführung einer Steuer auf Kohle, in der sich die
erhöhten Kosten für die Behandlung von Schäden im Zusammenhang mit
dem Kohlebergbau oder dem Einatmen verschmutzter Luft sowie die Kosten
für die durch sauren Regen und durch den Klimawandel verursachten Schäden widerspiegelten, Investitionen in saubere erneuerbare Energiequellen wie
Wind- oder Solarenergie fördern.
Ein Markt, dem gestattet wird, indirekte Kosten bei der Marktpreisfindung
für Waren und Dienstleistungen zu ignorieren, reagiert irrational, verschwenderisch und zerstört sich letztlich selbst. Genau das meinte auch Nicholas
Stern, als er im Zusammenhang mit dem Versäumnis des Marktes, die indirekten Kosten für den Klimawandel in den Marktpreis zu integrieren, sagte,
dies sei das „größte Versagen des Marktes, das die Welt je gesehen hat“.
Der erste Schritt auf dem Weg zu einem ehrlichen Markt ist die Berechnung
der indirekten Kosten. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist eine Studie der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), die im Auftrag der US-Regierung
im Jahr 2006 untersuchten, welche Kosten der Gesellschaft durch das Rauchen
entstehen. Dabei kamen die Experten der CDC zu dem Schluss, dass sich die
entstehenden Kosten, bei deren Berechnung sowohl die Kosten für die Behandlung von Erkrankungen im Zusammenhang mit dem Zigarettenkonsum als
auch der Produktivitätsverlust der Arbeitskräfte infolge solcher Erkrankungen
mit einbezogen wurden, auf 10,47 $ pro Zigarettenschachtel belaufen.
Diese Berechnungen bieten einen guten Rahmen für Steuererhöhungen
im Tabakbereich. In Chicago zahlen Zigarettenraucher inzwischen insgesamt
3,66 $ pro Packung an Steuern an die Stadt und den Bundesstaat und mit 3 $
pro Schachtel folgt New York auf dem Fuße. Im Vergleich der amerikanischen
Dahle, Gespräch mit dem Autor, State of the World Conference, Aspen, CO,
22. Juli 2001.
Redefining Progress, The Economists’ Statement on Climate Change (Oakland, CA:
1997).
Nicholas Stern, The Stern Review on the Economics of Climate Change (London: HM
Treasury, 2006), S. 27.
Centers for Disease Control and Prevention, Sustaining State Programs for Tobacco
Control: Data Highlights 2006 (Atlanta, GA: 2006).
327
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Bundesstaaten hat New Jersey, das die Tabaksteuer in 4 der vergangenen 5 Jahre angehoben hat, mit inzwischen 2,58 $ pro Schachtel die höchsten Steuern.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass in Anbetracht der Tatsache, dass ein
Anstieg des Preises um 10 % in der Regel zu einem Rückgang der Raucherzahlen um 4 % führt, eine solche Steuererhöhung auch einen erheblichen gesundheitlichen Gewinn bringen könnte.
Eine Umverteilung der Steuern könnte außerdem dazu benutzt werden,
dass der Wert bestimmter ökologischer Dienstleistungen endlich richtig eingeschätzt wird. Beispielsweise könnten Forstökologen den Wert der Dienste,
die uns die Bäume leisten, wie beim Schutz vor Überschwemmungen und der
Aufnahme von Kohlenstoff aus der Luft, berechnen, sodass sie anschließend in
Form einer Steuer in den Preis für Holz integriert werden könnten. So müsste
jeder, der einen Baum fällen will, eine Steuer zahlen, die dem Wert der von diesem Baum geleisteten Dienstleistungen entspricht. Der Markt für Schnittholz
wäre dann endlich in ökologischer Hinsicht ehrlich und die Folge wäre eine
Verminderung des Baumschlags und die Förderung einer Wiederverwertung
von Holz und Papier.
Der wohl effektivste Weg zum Aufbau einer neuen Energiewirtschaft zur
Stabilisierung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre führt über die Einführung
einer Karbonsteuer, die zwar von den ursprünglichen Produzenten, den Erdölbzw. Kohlefirmen, gezahlt werden müsste, letztlich aber die gesamte alte, auf
fossilen Brennstoffen basierende Energiewirtschaft durchdringen würde. Da
der Kohlenstoffgehalt von Kohle weitaus höher ist als der von Erdgas, müsste
Kohle etwa doppelt so stark besteuert werden. Wie bereits in Kapitel 11 ausgeführt fordern wir die Einführung einer weltweiten Karbonsteuer, die mit 20 $
pro t im Jahr 2008 beginnen und sich bis 2020 schrittweise auf 240 $ pro t
erhöhen sollte. Und wenn der Zeitplan für die Einführung der Karbonsteuer
und die Senkung der Einkommenssteuer erst einmal festgelegt ist, können alle
Entscheidungsträger in der Wirtschaft die neuen Preise als Grundlage für klügere Entscheidungen für die Zukunft nutzen.
Als Grundlage für eine Benzinsteuer könnte die Studie The Real Price of
Gasoline vom International Center for Technology Assessment dienen, die derzeit
wohl ausführlichste Untersuchung der indirekten Kosten im Zusammenhang
mit Benzin. Darin werden die indirekten Kosten, die sich für die Gesellschaft
aus der Verbrennung von Benzin ergeben, einschließlich der Kosten durch
den Klimawandel, der Steuervergünstigungen und Subventionen für die Öl Angaben zu Todesopfern infolge von Zigarettenkonsum aus: World Health Organization, „Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD)“, Datenblatt (Genf: November
2006); Campaign for Tobacco Free Kids, „Top Combined State-Local Cigarette Tax Rates“,
Datenblatt (Washington, DC: Campaign for Tobacco Free Kids, 1. Juli 2007); Campaign
for Tobacco-Free Kids, „Raising Cigarette Taxes Reduces Smoking, Especially Among Kids
(And the Cigarette Companies Know It)“, Datenblatt (Washington, DC: Campaign for
Tobacco Free Kids, 11. Juni 2007).
Angaben zum Kohlenstoffgehalt der verschiedenen Brennstoffe aus: Oak Ridge National Laboratory (ORNL), Bioenergy Conversion Factors, unter bioenergy.ornl.gov/papers/misc/energy_conv.html, eingesehen am 15. Oktober 2007.
328
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
industrie, der Kosten für die Sicherung der Erdölversorgung und der Kosten
für die Behandlung von Atemwegserkrankungen, die im Zusammenhang mit
Autoabgasen stehen, mit 12 $ pro Gallone (3,17 $ pro l) angegeben, was nur
geringfügig mehr ist als die Kosten, die durch das Rauchen einer Schachtel Zigaretten entstehen. Wenn man nun diese externen oder indirekten Kosten zu
den 3 $ dazurechnet, die eine Gallone Benzin Anfang 2007 in Amerika durchschnittlich kostete, so ergeben sich Gesamtkosten von etwa 15 $ pro Gallone.
Diese Kosten sind real und irgendjemand wird sie zahlen müssen – wenn nicht
wir, dann unsere Kinder. Nachdem diese Kosten aber nun berechnet worden
sind, können wir sie dazu benutzen, eine entsprechende Steuerrate auf Benzin
festzulegen, ähnlich wie die Studie der CDC benutzt wird, um die Steuern für
Zigaretten festzulegen.
Die indirekten Kosten von 12 $ pro Gallone Benzin bilden dabei einen Referenzpunkt für die Anhebung der Steuern auf ein Maß, ab dem der Preis auch
in ökologischer Hinsicht realistisch ist. In Italien, Frankreich, Deutschland
und Großbritannien wird Benzin durchschnittlich mit umgerechnet 4,40 $
pro Gallone besteuert, womit diese Länder auf einem guten Weg hin zu einem
ökologisch ehrlichen Marktpreis für Benzin sind. In den USA dagegen liegt die
Benzinsteuer mit 47 Cent pro Gallone bei nicht einmal einem Zehntel dessen,
was die Europäer erheben, wodurch sich auch zumindest teilweise erklären
lässt, warum in den USA mehr Benzin verbraucht wird als in den nächsten 20
Ländern auf der Verbrauchsliste zusammengenommen.10
Wenn die USA die nächsten 12 Jahre lang die Benzinbesteuerung jährlich
um 40 Cent und damit insgesamt um 4,80 $ anhöben, und diese Erhöhung
dann mit einer Senkung der Einkommenssteuer ausglichen, so könnte damit
die Benzinbesteuerung in den USA auf das Niveau von 4-5 $ pro Gallone
angehoben werden, das in Europa längst gang und gäbe ist. Damit wäre man
zwar immer noch weit von den 12 $ pro Gallone entfernt, die sich derzeit als
indirekte Kosten aus der Verbrennung von Benzin ergeben, doch zusammen
mit dem Anstieg des eigentlichen Benzinpreises sollte es ausreichen, um die
Menschen dazu zu bewegen, verstärkt auf öffentliche Verkehrsmittel umzustei Angaben zu indirekten Kosten für Benzinverbrennung berechnet auf Grundlage von
Angaben aus: International Center for Technology Assessment (ICTA), The Real Price of
Gasoline, Report No. 3 (Washington, DC: 1998), S. 34, später aktualisiert unter Berücksichtigung von Angaben aus: ICTA, Gasoline Cost Externalities Associated with Global Climate Change: An Update to CTA’s Real Price of Gasoline Report (Washington, DC: September
2004), ICTA, Gasoline Cost Externalities: Security and Protection Services: An Update to CTA’s
Real Price of Gasoline Report (Washington, DC: Januar 2005), Terry Tamminen, Lives Per
Gallon: The True Cost of Our Oil Addiction (Washington, DC: Island Press, 2006), S. 60
sowie Bureau for Economic Analysis, „Table 3 – Price Indices for Gross Domestic Product
and Gross Domestic Purchases“, GDP and Other Major Series, 1929–2007 (Washington,
DC: August 2007); U.S. Department of Energy (DOE), Energy Information Administration (EIA), This Week in Petroleum (Washington, DC: diverse Ausgaben).
10 American Petroleum Institute, State Gasoline Tax Report (Washington DC: August
2007); DOE, EIA, „Weekly (Monday) Retail Premium Gasoline Prices, Selected Countries“, unter www.eia.doe.gov/emeu, aktualisiert am 9. Juli 2007; Gerhard Metschies, „Pain
at the Pump“, Foreign Policy, Juli/August 2007.
329
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
gen oder sich eines der neuartigen Hybridfahrzeuge mit Auflademöglichkeit
übers Stromnetz zu kaufen, die 2010 auf den Markt kommen sollen.
Manchem mögen diese Karbon- und Benzinsteuern sehr hoch erscheinen,
doch es gibt mindestens einen Präzedenzfall, in dem ähnlich drastische Maßnahmen ergriffen wurden. Im November 1998 stimmte die amerikanische
Tabakindustrie zu, den Bundesstaaten insgesamt 251 Mrd. $ ­und damit fast
1.000 $ pro Amerikaner als Entschädigung für die Kosten zu zahlen, die den
Bundesstaaten für die Behandlung von Erkrankungen entstanden waren, die
im Zusammenhang mit dem Rauchen standen. Dieses bahnbrechende Abkommen war im Grunde eine Art rückwirkender Besteuerung der in der Vergangenheit gerauchten Zigaretten, die darauf ausgelegt war, die indirekten Kosten, die durch das Rauchen entstehen, abzudecken. Um diese enorme Summe
aufbringen zu können, hoben die Tabakfirmen die Zigarettenpreise an, sodass
diese jetzt eher die tatsächlichen Kosten des Tabakkonsums widerspiegelten
und das Rauchen weniger attraktiv wurde.11
Auch eine Karbonsteuer von 240 $ pro t bis 2020 klingt gesalzen, doch
eigentlich ist es eine realistische Summe. Wenn man die europäischen Steuern
auf Benzin, die darauf ausgelegt waren, dem Staat zusätzliche Einkünfte zu
verschaffen und gleichzeitig die Abhängigkeit von teurem importiertem Erdöl
zu verringern, in eine Karbonsteuer umrechnen würde, so ergäben sich aus
den 4,40 $ pro Gallone plötzlich 1.815 $ pro t. Das ist eine stolze Zahl, die
weit über jeden der derzeit vorliegenden Vorschläge zur Besteuerung von Kohlenstoffemissionen oder zur Preisfestlegung im Emissionshandel hinausgeht,
worin sich deutlich zeigt, dass die derzeit offiziell diskutierten 15-50 $ pro t
noch eher moderat sind. Die hohen Steuern auf Benzin haben in Europa auch
dazu beigetragen, dass sich eine Wirtschaft entwickelt hat, in der Erdöl äußerst
effizient genutzt wird, und dass über Jahrzehnte hinweg weitaus stärker in die
Entwicklung qualitativ hochwertiger öffentlicher Verkehrsnetze investiert wurde, wodurch Europa insgesamt weniger anfällig für Unterbrechungen in der
Erdölversorgung wurde.12
In Europa sind solche Steuerumlagerungen längst nichts Neues mehr. In
Deutschland beispielsweise wurden im Rahmen eines 1999 beschlossenen 4Jahres-Plans die Steuern systematisch vom Arbeitsbereich auf den Energiebereich umverteilt. Bis zum Jahr 2003 konnten auf diese Weise nicht nur die
CO2-Emissionen um 20 Mio. t gesenkt, sondern auch fast 250.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Außerdem beschleunigte sich aufgrund dieser
Maßnahmen das Wachstum im Bereich der erneuerbaren Energien, sodass bis
2006 allein im Bereich der Windenergie 64.000 neue Arbeitsplätze entstanden, eine Zahl, die bis 2010 sogar auf 103.000 steigen soll.13
11 U.S. Department of Agriculture, Economic Research Service, „Cigarette Price Increase Follows Tobacco Pact“, Agricultural Outlook, Januar-Februar 1999.
12 DOE, op. cit. Anmerkung 10; Umrechnung der Benzinsteuer in Karbonsteuer auf
Grundlage von Daten aus: DOE, EIA, Emissions of Greenhouse Gasses in the United States
2001 (Washington, DC: 2002), S. B–1; DOE EIA, Annual Energy Review 2006 (Washington, DC: 2007), S. 359.
13 Markus Knigge und Benjamin Görlach, Die Ökologische Steuerreform – Auswirkungen
330
Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Zwischen 2001 und 2006 verlagerte man in Schweden Steuern im Wert
von geschätzten 2 Mrd. $ aus dem Einkommensbereich in den Bereich umweltschädigender Aktivitäten. Ein Großteil dieser Umlagerungen, die pro
Haushalt etwa 500 $ ausmachen, betrifft den Verkehrsbereich, unter anderem
durch Anhebungen der Auto- und der Kraftstoffbesteuerung. Ein anderer Teil
entfällt auf den Bereich der Stromerzeugung. Solche ökologischen Steuerreformen sind in Europa inzwischen ganz normal, auch Frankreich, Italien,
Norwegen, Spanien und Großbritannien bedienen sich dieses politischen Instruments. Umfragen sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten
zeigen, dass mindestens 70 % der Wähler solche ökologischen Steuerreformen
unterstützen, wenn man sie ihnen denn richtig erklärt.14
Ökologisch bedingte Steuern werden inzwischen in den verschiedensten Bereichen eingesetzt. Wie bereits an früherer Stelle angemerkt kommt es immer
häufiger vor, dass kommunale oder nationale Regierungen Müllsteuern erheben. Eine ganze Reihe von Städten erhebt Abgaben auf die Einfahrt ins Stadtzentrum mit dem Auto, während andere ganz einfach den Besitz eines Autos besteuern. In Dänemark ist die Steuer beim Kauf eines Neuwagens sogar höher als
der Preis für das Auto selbst, sodass ein Neuwagen im Wert von 25.000 $ den
Käufer leicht mehr als 50.000 $ kosten kann! Und auch andere Regierungen bewegen sich in diese Richtung. Howard French von der New York Times berichtet, Shanghai, das bereits in Autoabgasen erstickt, habe „die Gebühren für die
Neuanmeldung von Fahrzeugen seit dem Jahr 2000 jährlich erhöht. Inzwischen
haben sie sich verdoppelt und liegen bei 4.600 $ pro Fahrzeug – das ist mehr als
das Doppelte des Pro-Kopf-Einkommens in der Stadt.“15
Etwa 2.500 Wirtschaftsexperten, darunter acht Nobelpreisträger für Wirtschaft, befürworten das Konzept solcher Steuerumlagerungen. N. Gregory
auf Umwelt, Beschäftigung und Innovation (Berlin: Ecologic – Institut für Internationale und
Europäische Umweltpolitik, August 2005); Bundesverband WindEnergie e. V., A Clean
Issue – Wind Energy in Germany (Berlin: Mai 2006), S. 4; Donald W. Aitken, „Germany
Launches its Transition: How One of the Most Advanced Industrial Nations is Moving to
100 Percent Energy from Renewable Sources“, Solar Today, März/April 2005, S. 26ff.
14 Schätzungen des Werts der schwedischen Steuerumlagerungen basieren auf : Paul
Ekins und Stefan Speck, „Environmental Tax Reform in Europe: Energy Tax Rates and
Competitiveness“, in Vorbereitung zur Veröffentlichung, 2007; Finanzministerium Schwedens, „Taxation and the Environment“, Pressemitteilung (Stockholm: 25. Mai 2005);
Angaben zur Haushaltsgröße aus: Target Group Index, „Household Size“, Global TGI Barometer (Miami: 2005); Angaben zur Bevölkerungszahl aus: U.N. Population Division,
World Population Prospects: The 2006 Revision Population Database, unter esa.un.org/unpp,
aktualisiert 2007; Andrew Hoerner und Benoît Bosquet, Environmental Tax Reform: The
European Experience (Washington, DC: Center for a Sustainable Economy, 2001); European Environment Agency, Environmental Taxes: Recent Developments in Tools for Integration, Environmental Issues Series No. 18 (Kopenhagen: 2000); Prozentzahl derer, die eine
ökologische Steuerreform unterstützen würden, aus: David Malin Roodman, The Natural
Wealth of Nations (New York: W. W. Norton & Company, 1998), S. 243.
15 „New Hampshire Town Boosts Recycling with Pay-As-You-Throw“, Environment
News Service, 21. März 2007; Tom Miles, „London Drivers to Pay UK’s First Congestion
Tax“, Reuters, 28. Februar 2002; Energy Council, Energy Efficiency Policies and Indicators
(London: 2001), Anhang 1; Howard W. French, „A City’s Traffic Plans Are Snarled by China’s Car Culture“, New York Times, 12. Juli 2005.
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Lester R. Brown: Plan B 3.0, © Kai Homilius Verlag Berlin
Mankiw, Professor für Wirtschaft an der Harvard University, schrieb in der
Zeitschrift Fortune: „Die Senkung der Einkommenssteuer würde bei gleichzeitiger Erhöhung der Benzinsteuer zu einem schnelleren Wirtschaftswachstum,
einer Verringerung der Verkehrsstaus, mehr Sicherheit auf den Straßen und einer Senkung des Risikos einer globalen Erwärmung führen – und all das ohne
langfristig die steuerliche Liquidität zu gefährden. Derzeit gibt es in der Wirtschaft wahrscheinlich nichts, was dichter an eine Ideallösung herankäme.“16
Manchmal sind handelbare Umweltlizenzen eine sinnvolle Alternative zu
Umweltsteuern. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass die Regierungen mit Umweltlizenzen das Maß einer Aktivität festlegen, das noch erlaubt
ist, wie bei den Lizenzen für den Fischfang, und es dem Markt überlassen, den
Preis für den Verkauf solcher Lizenzen festzulegen. Im Gegensatz dazu ist es
bei Umweltsteuern so, dass die Regierung durch die Höhe des Steuersatzes den
Preis festlegt, der für eine umweltschädigende Aktivität zu zahlen ist, und der
Markt den Umfang bestimmt, in dem diese Aktivität zu diesem Preis ausgeführt werden darf. Doch in jedem Fall können beide Instrumente zur Abschreckung vor verantwortungslosem Verhalten gegenüber der Umwelt dienen.
Umweltlizenzen sind bereits in den verschiedensten Situationen erfolgreich
eingesetzt worden, von der Begrenzung der Fangmengen in australischen Fischereigebieten bis zur Senkung der Schwefelemissionen in den Vereinigten
Staaten. So hat beispielsweise die australische Regierung aus Sorge wegen einer
möglichen Überfischung der Hummerbestände eine ökologisch verträgliche
Gesamtfangmenge für Hummer festgelegt und dann Teillizenzen darüber vergeben, um die die Fischer sich bewerben konnten. Im Grunde hat die Regierung festgelegt, wie viele Hummer pro Jahr gefangen werden durften, und
dann dem Markt die Entscheidung über den Preis für die Lizenzen überlassen.
Seit das System des Handels mit solchen Lizenzen 1986 eingeführt wurde, hat
sich der Fischbestand stabilisiert und es scheint so, dass inzwischen eine Nachhaltigkeit gewährleistet ist.17
Obwohl solche handelbaren Lizenzen in der Wirtschaft allgemein sehr beliebt sind, ist doch der Verwaltungsaufwand höher als bei Steuern und der
Umgang damit schwerer verständlich. Edwin Clark, ein ehemaliger hoher
Wirtschaftsberater im Council on Environmental Quality18 des Weißen Hauses,
merkt an, dass handelbare Umweltlizenzen „ein komplexes Regelwerk erfordern, durch das die Lizenzen klar definiert werden, in dem die Regeln für
den Handel damit festlegt sind und das die Menschen davon abhält, ohne
eine solche Lizenz zu agieren.“ Im Gegensatz zu einer Umstrukturierung der
16 N. Gregory Mankiw, „Gas Tax Now!“, Fortune, 24. Mai 1999, S. 60ff.
17 Angaben zu Australien aus: John Tierney, „A Tale of Two Fisheries“, New York Times
Magazine, 27. August 2000; South Australian Southern Zone Rock Lobster Fishery Management Committee, Southern Zone Rock Lobster Annual Report 2005-2006 (Adelaide,
South Australia: Oktober 2006), S. 2.
18 Anm. d. Übers: Abteilung im Weißen Haus; koordiniert die bundesweiten Umweltschutzbemühungen und arbeitet bei der Ausarbeitung von Richtlinien für die Umweltpolitik oder Umweltinitiativen eng mit anderen Behörden und Abteilungen im Weißen Haus
zusammen
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Besteuerung, mit der die meisten wohl vertraut sind, sind handelbare Lizenzen
ein Konzept, das für die Öffentlichkeit nicht immer verständlich ist, wodurch
es um so schwieriger wird, ihre Unterstützung dafür zu gewinnen.19
Jedes Jahr bringen die Steuerzahler weltweit geschätzte 700 Mrd. $ an Subventionen für umweltschädigende Aktivitäten, wie die Verbrennung fossiler
Brennstoffe, die Überbeanspruchung von Grundwasserleitern, den Kahlschlag
der Wälder und die Überfischung der Fischbestände auf. In einer Studie des
Earth Council mit dem Titel Subsidizing Unsustainable Development20 heißt es:
„Es ist kaum vorstellbar, dass die Welt jährlich Hunderte Milliarden Dollar zur
Subventionierung ihrer eigenen Zerstörung ausgibt.“21
Der Iran ist ein klassisches Beispiel für eine solche unverhältnismäßige
Subventionierung: Hier kostet Öl im internen Verbrauch nur ein Zehntel des
Weltmarktpreises, wodurch die Menschen dazu ermutigt werden, sich ein Auto
anzuschaffen und Benzin zu verschwenden. Die Weltbank berichtet, wenn diese
37 Mrd. $ an jährlichen Subventionen ausliefen, würde dies zu einer Senkung
der Kohlenstoffemission im Iran um unglaubliche 49 % beitragen. Außerdem
würde die Wirtschaft gestärkt, weil öffentliche Gelder freiwürden, die in die
wirtschaftliche Entwicklung des Landes investiert werden könnten. Doch der
Iran ist in dieser Hinsicht nicht allein.