Seelenfrieden - Little Artur im Schreiberspace

Transcription

Seelenfrieden - Little Artur im Schreiberspace
Nadine Emrich:
Seelenfrieden
Rosenburg, 2007
Vorstadtidylle, Einfamillienhaus, große Gartenanlage. Mia und Achim waren seit
15 Jahren glücklich verheiratet. Seit vier Jahren war ihr Glück perfekt, dem Tag,
als ihre Tochter Sophie zur Welt gekommen war. Sie war ihr ganzer Stolz. Für die
Mutter war es selbstverständlich, die ersten Jahre zu Hause zu bleiben, als
Hausfrau und Mutter, ihre ganze Energie und Liebe in dieses Kind zu stecken.
Endlich war die Familie komplett. Sie durchlebten eine wunderbare Zeit mit
ersten Zähnchen, ersten Schritten und ersten Wortbrocken.
Das Ehepaar genoss jeden Augenblick, sie wussten, dass das Baby ein Geschenk
des Himmels war. Acht Jahre zuvor war Mia schon einmal schwanger gewesen,
doch sie hatten sie den blanken Horror erlebt: Das Kind wurde nur sechs Tage alt,
es starb an plötzlichem Kindstod. Ein schwerer Schicksalsschlag für die Eltern.
Sie trauerten sehr um ihr Neugeborenes. Verstanden die Welt nicht mehr, sahen
keinen Sinn mehr darin.
Liebevoll errichteten sie eine Gedenkstätte in ihrem Garten. Täglich saßen sie
dort, zündeten Kerzen an, legten Blumen darauf. So konnten sie ihrem Baby noch
einmal ganz nahe sein. Bis heute war es unvergessen, doch immer seltener wurden
die Tage, an denen sie die Gedenkstätte besuchten.
Jetzt, Sophie war mittlerweile vier Jahre alt, konnten sie ihr Glück kaum in Worte
fassen: Mia war wieder schwanger. Beide freuten sich riesig auf ein zweites Kind.
So sehr hatten sie sich ein Geschwisterchen für Sophie gewünscht.
Immer dicker und dicker wurde Mias Bauch. Ein Junge sollte es werden. Ein
kleiner Bruder für Sophie. Sie freute sich sehr, liebevoll streichelte sie immer
Mamas Bauch und malte Bilder für ihren kleinen Bruder.
Sieben Monate später, Dezember
Mia hatte von ihrem Mann Konzertkarten geschenkt bekommen. Die beiden
freuten sich sehr, auf einen Abend in Zweisamkeit, denn schon in zwei Wochen
ist der errechnete Geburtstermin für David. So sollte er heißen. Und ein echtes
Christkind sollte er werden.
Da die Oma der Familie nur zwei Straßen entfernt wohnte, baten sie sie, den
Babysitter für den heutigen Abend zu spielen.
Im Theater saßen Mia und Achim in der zweiten Reihe und lauschten interessiert
der Musik. Lässig hatte er seinen Arm um seine Frau geschlungen. Sie war die
Liebe seines Lebens und für ihn war es das Schönste, dass er mit seiner
Traumfrau auch noch ein wundervolles Kind hatte und das nächste schon
unterwegs war.
Da bekam Achim eine SMS: Ich erwarte dich auf der Männertoilette !
Erst glaubte er an einen dummen Jungenstreich, doch dann zog er es in Erwägung
doch mal nachzuschauen.
Als er die Tür zur Toilette öffnete, schallte sein Echo in die Stille hinein.
„Hallo, hallo? Ist da wer?“
Außer seinem Spiegelbild war niemand da. Vorsichtig öffnete er die knatternde
Kabinentür. Etwas mulmig war ihm schon in diesem Moment .Sein Puls raste
schneller als sonst.
Was er sah, ließ seinen Atem für einen Moment stocken: Eine Puppe, deren Kopf
abgerissen wurde, lag auf der Toilette.
Schnell machte er die Tür wieder zu, drehte sich um und ging hinaus.
Sollte dies doch kein dummer Jungenstreich gewesen sein ? Er überlegte hin und
her. Doch dann beschloss er keine unnötige Panik zu verbreiten und redete sich
die Situation schön.
Ein zarter Kuss auf die Wange seiner Frau und sie genossen das
Bühnenschauspiel weiter.
In der Pause standen die beiden in der Eingangshalle und turtelten.
Der dritte Gong ertönte und die Vorstellung ging weiter.
Da klingelte das Handy von Achim . Er hatte es angelassen, falls etwas mit Sophie
wäre. Er huschte schnell hinaus und nahm ab.
„Hallo?“
„Seine Kinder sollte man nie allein zu Hause lassen!“
Leitung tot.
Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Starre. Die Angst war ihm ins Gesicht
geschrieben.
Panisch wählte er die Nummer von zu Hause. Die Sekunden vergingen wie
Minuten. Er fieberte dem Moment, in dem die Oma den Hörer abnehmen würde,
entgegen.
Doch das Ertönen des Anrufbeantworters ließ seine Wunschvorstellung wie eine
Seifenblase zerplatzen.
Was ist passiert ? Warum geht die Oma nicht ans Telefon ? Wo ist mein Kind ?
Tausend Fragen die ihm in den Kopf schossen.
Ohne seine Frau zu informieren, rannte er hastig aus dem Theater. Er befürchtete
das Schlimmste.
Mit quietschenden Reifen fuhr er davon. Im Auto flogen tausend Bilder vor
seinen Augen hin und her.
Ohne die Handbremse festzuziehen stürzte er zu Hause aus dem Auto.
Was er sah, ließ ihn erstarren. Die Haustür war weit geöffnet. Er setzte seinen Fuß
ins Haus und brüllte seine Angst ins Haus. Sein Echo schallte bis ins zweite
Stockwerk.
Nichts. Totenstille. Alles was er hörte war sein Atem. Vorsichtig schlich er ins
Wohnzimmer. Die Spielsachen der kleinen Sophie lagen auf dem Boden verteilt.
„Sophie!“, brüllte er. „Wo bist du, mein Schatz?“
Er rannte die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Aus einem Raum erklang düstere
Musik. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Körper. Er lief über den schmalen
Flur, es kam ihm vor wie tausende Kilometer.
Die Musik kam näher.
Schließlich stand er vor dem Kinderzimmer und da wusste er, woher die Musik
kam. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er legte seine Hand auf den Türgriff.
Achim traute sich fast nicht die Tür zu öffnen. Langsam drückte er den
knarrenden Türgriff nach unten.
Das Kinderzimmer war leer. Er ging zum Babybett. Auf dem Kissen lag ein Zettel
mit der Aufschrift: Das wirst du bereuen!
Ihn schauderte. Er war sich sicher, seinem Kind sei etwas passiert.
Die Musik erreichte ihren Höhepunkt, er zuckte.
Das ganze Familienglück erlosch wie die Flamme einer Kerze.
***
„Entschuldigen Sie, haben Sie meinen Mann gesehen?“
Der Mann hinter der Garderobe schüttelte nur mit dem Kopf. Die Frau wunderte
sich sehr über das plötzliche Verschwinden ihres Mannes. Doch zwei Minuten
später erklärte sie sich die Situation so, dass ihr Mann wahrscheinlich wieder
einmal kurzfristig in die Firma gerufen wurde, das passierte nämlich öfters.
Sie setzte sich ins bestellte Taxi und fuhr nach Hause.
Immer wieder döste Mia im Taxi ein. Sie freute sich auf ihr warmes kuscheliges
Bett. Was sie zu Hause erwartete, ahnte sie da noch nicht.
Auf dem Weg ins Haus fielen ihr immer wieder die Augen zu.
Doch als sie dann vor der weit geöffneten Haustür stand, war sie hellwach. Keine
Spur von Müdigkeit. Ihre Hände begannen sofort zu zittern, ihre Lippen zu
schlottern. Mit einem sanften Stoß drückte sie gegen die Haustür.
Auf Zehenspitzen schlich sie ins Wohnzimmer, fand die Spielsachen ihrer Tochter
vor. Plötzlich dämmerte es ihr. Sie rannte, wie von Geistern getrieben, die Treppe
hinauf zum Kinderzimmer. Immer wieder schrie sie nach Sophie.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie im Kinderzimmer der Kleinen stand.
Sie ging zum Kinderbettchen. Ihre Hände umklammerten das Gitter, welches ihr
Kind beschützen sollte, doch als sie sah, dass das Bettchen leer war, sank sie
verzweifelt und völlig aufgelöst zu Boden.
In einem Meer der Tränen lag sie regungslos da. Minuten lange.
Als sie sich aufraffte, schleppte sie sich nach unten ins Wohnzimmer. Sie sackte
auf die Couch, drückte Sophies Lieblingsteddy ganz fest an ihre Brust und krallte
ihre Hände in sein Fell.
Tränen rangen ihre Wangen hinunter.
Ziellos starrte sie in den Garten. Da sah sie die hell erleuchtete Gedenkstätte des
verstorbenen Kindes. Mia öffnete die Tür zum Garten und lief auf die vielen
Lichter zu.
Der Blick auf das Kreutz aus Holz ließ ihre Glieder gefrieren . Da stand nicht wie
gewöhnlich der Name und der Todestag ihres Kindes, nein, da hing ein Bild ihres
Mannes auf dem geschrieben stand :
Du hast mir die Chance auf ein Leben genommen !
Mia stand regungslos da. Minuten lange . Ihre Gedanken kreisten um das Bild.
Was sollte diese schockierende Nachricht und dieses Foto? Sie fand keine
Antwort auf ihre Fragen.
Plötzlich hörte sie ein lautes Poltern. Mia folgte den Geräuschen bis zum
Gartenhaus.
Mit zittrigen Händen und schlotternden Knien öffnete sie die knatternde Holztür.
Ihre Hände klammerten sich fest um das rote Friedhofslicht, welches sie
mitgenommen hatte .
„Hallo“, flüsterte sie. „Wer ist denn da?“
Sie machte einen Schritt nach vorne und trat dabei ausversehen auf den Spaten,
der auf dem Boden lag. Mia stolperte und fiel zu Boden. Und da plötzlich
bemerkte sie Blut an ihren Händen. Doch das Blut war nicht von ihr. Sie bemerkte
eine Blutspur, die sich über den Boden zog. Hinter einer alten Kommode endete
die Spur.
Mit letzter Kraft rückte sie die Kommode zur Seite. Was sie sah, ließ sie erstarren.
Zusammengekrümmt in einer Ecke lag ihr Mann. Regungslos. Sie stürzte sich auf
ihn und fühlte seinen Puls. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mia wusste nicht
was hier los war. Sie war völlig aufgelöst, rannte nach draußen und brüllte um
Hilfe. Immer und immer wieder schrie sie nach Hilfe, doch niemand wollte sie
erhören .
Durch das nasse Gras rannte sie ins Haus, wählte mit zitternden Fingern den
Notruf . Völlig aufgelöst heulte sie ins Telefon und schilderte was passiert ist .
Dann rannte sie wieder zu ihrem Mann, schlug ihm immer wieder ins Gesicht und
schrie ihn an, dass er sie jetzt nicht alleine lassen darf.
Und dann endlich nach Minuten, die Mia wie Stunden vorkamen, ertönte die
Sirene des Rettungswagen.
***
Am nächsten Morgen wachte Mia im Krankenhaus auf. Die Ärzte hatten ihr ein
Beruhigungsmittel gespritzt, von dem sie sehr schnell eingeschlafen war.
Es kam ihr vor, als wäre alles ein Traum gewesen. Irreal.
Sie lag da und starrte an die Decke. Da ging die Tür auf und der Oberarzt kam
herein.
„Ihr Mann ist wohlauf, er ist stabil.“
Und dann erschienen Mia die Bilder der letzten Nacht. Sie hatte alles glasklar vor
Augen. Mia fing an zu zittern, ihr Herz raste.
Sie bat den Arzt sie zu ihrem Mann zu bringen. Sie muss wissen was all die
Ereignisse von letzter Nacht zu bedeuten hatten, sie wollte endlich Klarheit und
Licht ins Dunkeln bringen .
Als sie dann am Bett ihres Mannes saß, konnte sie kaum glauben was er ihr
erzählte .
Sie blickte in sein Gesicht und plötzlich erschien ihr die Ehe mit Achim so
sinnlos. All die Jahre hat sie mit einem Mörder zusammengelebt. Er war es, der
das gemeinsame Kind auf dem Gewissen hatte und darüber all die Jahre
geschwiegen hat wie ein Stein. Sie lauschte seinen Worten, innerlich jedoch baute
sich Hass in ihr auf.
Schlagartig wurde ihr alles klar, es passte alles zusammen. Als sie damals nach
Hause kam überbrachte ihr Achim die tragische Nachricht, sie hatte nichts
mitbekommen, er hatte sie nicht einmal angerufen und sie darüber informiert, was
passiert war. Doch in ihrer Trauer hatte sie die Situation damals nicht hinterfragt.
Sie gab sich ihren Tränen hin. Achim berührte sanft ihren Arm, bat sie um
Verzeihung , doch sofort zuckte sie zurück. Sie brüllte ihm ins Gesicht, schlug um
sich.
Schließlich sackte sie zu Boden.
Die Krankenschwestern eilten ins Zimmer. Sie wollten ihr helfen, doch sie ließ
sich nicht anfassen. Hysterisch brüllte sie ihren Mann an, ihre Nerven lagen blank
.
Endlich gelang es den Pflegern sie aus dem Zimmer zu schleppen. Sie spritzten
ihr ein Beruhigungsmittel und Mia schlief friedlich ein.
Als sie nach Stunden wieder aufwachte, standen zwei Polizisten an ihrem Bett.
Mia starrte sie ahnungslos an.
„Ihr Mann hat sich selbst angezeigt, wir brauchen jetzt noch ihre Aussage. Fühlen
sie sich dazu bereit?“
„Ja“, sagte sie, „er soll bekommen, was er verdient!“
Sie machte ihre Aussage und erzählte den Polizisten alles ganz genau. Nach einer
Stunde verließen die Polizisten ihr Zimmer. Mia stand auf und ging zum Fenster .
Sie schaute auf den Parkplatz und sah ihren Mann in Begleitung der beiden
Polizisten aus dem Krankenhaus kommen .
Mia atmete auf, sie wusste, dass es richtig war, was sie getan hat.
Schließlich kaufte sich eine Zeitschrift und ging nach unten in die Cafeteria um
einen Kaffee zu trinken. Als sie auf die Titelseite schaute, zerbrach ihre
Kaffeetasse am Boden in tausend Stücke und ihr Herz hörte für einen Moment auf
zu schlagen.
Achtjähriges Mädchen nach Familiendrama tot aufgefunden!