Bäume der Erkenntnis

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Bäume der Erkenntnis
Bäume der Erkenntnis
Zum Baum als Topos und Leitbild in der Linguistik
«There, through the broken branches, go
The ravens of unresting thought . . .»
(W. B. Yeats, The Two Trees)
0. Der Baum der Erkenntnis als Bild und Ursache. Adam und Eva
Wir beginnen bei Adam und Eva: «Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten,
einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott der
Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen
und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens
und den Baum der Erkenntnis . . . Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem
Baum zu essen, daß der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu
werden.» (Mose 2,8s.; 3,6). Der Baum der Erkenntnis übernimmt in dieser biblischen Episode zweifach die Funktion eines «Motivs»: Als «Augenweide» ist er
Symbol und Bild (Motiv) der Erkenntnis; als «Verlockung» ist er Ursache (Motivation) der Erkenntnis, aber auch Ursache der Vertreibung aus dem Paradies,
Ursache der Sterblichkeit (symbolisiert im Verlust des Baumes des Lebens) und
der erbsündlichen Mühsal der Menschheit. Ein solches Übermaß an dialektischer
Symbolik von Leben und Erkenntnis, Schönheit und Destruktivität der Erkenntnis bietet Raum für eine ganze Reihe philosophischer und wissenschaftstheoretischer Überlegungen, nicht nur theologischer Prägung.
Aus der langen Tradition des Topos «Baum und Erkenntnis», die hier nur flüchtig nachgezeichnet werden kann, soll weiterhin das Beispiel Bacons herausgegriffen werden, als Übergang von biblischen Motiven zur Naturwissenschaft. In seinen
naturphilosophischen Überlegungen nämlich nimmt Bacon die Dialektik des biblischen Baumes der Erkenntnis auf, im Kleid des göttlichen Baumes des Wissens,
der nun allmählich seine Früchte trage: « . . . all knowledge appeareth to be a plant
of God’s own planting, so it may seem the spreading and flourishing or at least the
bearing and fructifying of this plant, by a providence of God . . . was appointed to
this autumn of the world . . . » (Bacon, VT:38, 40). Dabei deutet er diesen Baum
bereits wissenschaftstheoretisch als Gebilde aus grundlegendem universalem Wissen und den daraus hervorgehenden Zweigen und Verzweigungen der einzelnen
Wissenschaften: « . . . for sciences distinguished have dependence upon universal
knowledge to be augmented and rectified by the superior light thereof, as well as
the parts and members of a science have upon the Maxims of the same science,
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and the mutual light and consent which one part receiveth of another»1. Diesem
Bild des (scheinbar) durch Gottes Vorhersehung blühenden und intakten Wissenschaftsbaumes stellt Bacon die menschliche Neugier gegenüber, die wie Evas Neugier nach Erkenntnis hungert, allerdings nun von der anderen Seite des Zaunes
aus: Die Erkenntnis soll das Paradies wiederherstellen. Die Ursache der Neugier
liegt demnach nicht mehr in der Schönheit des Baumes respektive des Wissens,
sondern in der Sehnsucht nach der Wiederherstellung des paradiesischen Zustandes:
And therefore it is not the pleasure of curiosity, nor the quiet of resolution, nor the raising of
the spirit, nor victory of wit . . . that are the true end of knowledge . . . but it is a restitution and
reinvesting (in great part) of man to the sovereignty and power (for whensoever he shall be
able to call the creatures by their true names he shall again command them) which he had in
his first state of creation. (Bacon, VT:42)
Neugier und Wissenschaft wären demnach der Versuch, den Urzustand der Macht
zurückzugewinnen, der in der Kraft des unmittelbaren Benennens der Dinge («by
their true names») liegt, ohne daß hierzu der Umweg über ein Wissen über die
Dinge, über ihre Erforschung und Beschreibung genommen werden muß. Die wissenschaftliche Neugier gehorcht in Bacons Philosophie dem, was Freud als «Todestrieb» beschreibt: die vermeintliche wissenschaftliche Lusterfüllung (die Wissensmehrung) zielt im Geheimen auf nichts anderes als die Rückkehr zum Urzustand vorwissenschaftlicher Ruhe und unmittelbaren Wissens (cf. Freud
1982:270s.). Bacons Wiederaufnahme des biblischen Topos im Tenor einer Bestandsaufnahme von Wissenszweigen und einem Wissen(schaft)spessimismus
zugleich nimmt damit eine exemplarische Zwischenstellung ein zwischen biblischer Erkenntnisverdammung und nachaufklärerischem Erkenntnis- und Wissenschaftsoptimismus.
Mit einem weiteren biblischen Motiv kann das Thema erweitert werden. Das
Alte Testament erzählt von drei großen Bestrafungen der Menschheit: der Vertreibung aus dem Paradies, nach dem menschlichen Versuch, zu göttlicher Erkenntnis zu gelangen; der Sintflut als Strafe für die allgemeine Verderbtheit der
Menschen (cf. Mose 1,6s.); und schließlich der babylonischen Sprachverwirrung als
Strafe für den Versuch, durch den Turmbau menschliche Macht und Einheit zu
dokumentieren. Die Struktur von Sünde und Bestrafung ist im ersten und im letzten Thema nahezu gleich. Der Versuch, gottähnlich zu werden, wird mit Mühsal
1 Bacon, VT:56. Dies tut er freilich nicht ohne zu kritisieren, daß dieser Stammbaum des Wissens durchaus stringenter gestaltet sein könnte, und daß im Stammbaum der Wissensweitergabe
über Generationen allzuviel verloren gehe. – Letzteres mit Worten, die jeden Wissenschaftler deprimieren müssen: «And this is the unfortunate succession of wits which the world hath yet had,
whereby the patrimony of all knowledge goeth not on husbanded or improved, but wasted and
decayed. For knowledge is like water that will never arise again higher than the level from which
it fell . . . » (Bacon, VT:50, 52).
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der Lebenserhaltung bzw. der Verständigung gestraft. Im ersten Fall wird den
Menschen der Baum (der Erkenntnis) entzogen, im letzteren wird ihnen ein
«Baum» geschenkt – der Baum der Sprachen:
Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und
dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von
allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und dort
ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr
von dort in alle Länder, daß sie aufhören mußten, die Stadt zu bauen. (Mose 1,11)
So wird es zu Beginn des 14. Jahrhunderts von Dante in De vulgari eloquentia aufgenommen. Seine Reflexionen zur Sprachverschiedenheit in Europa enden mit
der Überzeugung, daß alle Sprachen aus einer adamitischen gottgegebenen Ursprache hervorgegangen seien. Als Nachfahrin dieser Sprache identifiziert Dante
das Hebräische, weil die Hebräer die einzige am Turmbau unbeteiligte Gruppe
gewesen seien, ihre Sprache demnach «ungestraft» geblieben sei (cf. DVE I, vi s.).
Ausgehend von dieser mythischen Begründung der Sprachenvielfalt entwickelt
Dante aufgrund seiner Sprachbeobachtungen einen Sprachenstammbaum für die
europäischen Sprachen. Drei Nachfahren der in Babel entstandenen Sprachgruppen entfielen auf das Europa seiner Zeit: die der Griechen (das Griechische
ordnet Dante sowohl Europa als auch Asien zu), die der «Schiavones, Ungari,
Teutonici, Saxones, Anglici» (also eine germanisch-slawische Sprachgruppe) und
schließlich «Totum vero quod in Europa restat ab istis» – eine Art romanische
Sprachgruppe. Diese letztere dreiteilt sich wiederum in drei verschiedene Sprachen (« . . . ab uno eodemque ydiomate istarum trium gentium progrediantur vulgaria . . . »)2. Ausgehend von der großen mythischen Sprachspaltung verfolgt Dante
die zeit-räumlichen, immer feineren Verästelungen der Sprache(n) bis hin zu diastratischen, individuellen Varietäten3:
Quare autem tripharie principalius variatum sit, investigemus; et quare quelibet istarum
variationum in se ipsa variatur, puta dextre Ytalie locutia ab ea que est sinistre (nam aliter
Paduani et aliter Pisani locuntur); et quare vicinius habitantes adhuc discrepant in loquendo,
ut Mediolanenses et Veronenses . . . et, quod mirabilius est, sub eadem civilitate morantes, ut
Bononienses Burgi Sancti Felicis et Bononiensis Strate Maioris. (DVE I, ix, 4)
Mit diesen einsamen Exempeln zur Vielschichtigkeit des Topos «Baum» ist natürlich keinerlei Entwicklungsgeschichte seiner langen Tradition gezeichnet. (Den
Umfang eines solchen Unterfangens kann sich jeder Leser wohl erschreckend genug vorstellen.) Vielleicht reichen sie aber immerhin zu einer Einstimmung auf
2 Diese vulgaria können an ihren Bejahungsformen unterschieden werden: nach «oc» der
«Yspani», «oïl» der «Franci» oder «sì» der «Latini». Daß diese drei Sprachen dennoch einer
Gruppe angehören, wird mit der vielzahligen Ähnlichkeit anderer Wörter («Deum», «celum»,
«amorem» u. a.) gerechtfertigt (cf. DVE I, viii, 3ss.).
3 Cf. hierzu auch Wunderli 1993s.:94-103.
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das Thema und zu einer, wenn auch aphoristischen, Illustration des immer wiederkehrenden Zusammenhanges von «Baum», «Erkenntnis», «Mensch» und
«Sprache». Dieser Zusammenhang hat sich in losen Variationen auch nach der
grundlegenden Wende zum Glauben an die Wissenschaft gehalten, auch und gerade in der Linguistik, die den Topos des «Baumes» im 19. Jahrhundert zunächst
als «Stammbaum» aus der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie übernimmt.
Damit kann dieses uferlose Thema allmählich fokussiert werden.
Dennoch gilt auch hier wieder: Das verschiedenartige Erscheinen von Bäumen
in der Linguistik ist spätestens seit der Suche nach hierarchischen Strukturen in
der Sprache ein derartiger Allgemeinplatz, daß man es vielleicht ganz unterlassen
sollte, darüber zu schreiben. Man kann alles und nichts darüber schreiben – also
zwei gute Gründe, keinen Aufsatz darüber zu verfassen, oder, wenn man es dennoch tut, fest auf die Aufgeschlossenheit des Lesers für eine möglicherweise aphoristisch erscheinende Motivsuche zu zählen.
Vermutlich liegt es an dieser Schwierigkeit des «Alles oder Nichts», daß es in
der Tat so gut wie keine Literatur zum Topos des Baumes in der Linguistik gibt4.
Soweit vorhanden, befaßt sie sich, sofern sie nicht biologisch ist, mehrheitlich mit
der Symbolfunktion des Baumes in Religion, Gesellschaft, Psychologie, Philosophie und Literatur5 oder aber mit Familiengeneaologie6. Gerade deshalb liegt
aber auch die Vermutung nahe, daß der Baum nicht nur ein immer wiederkehrender Topos, sondern auch ein erkenntnisstiftendes Leitbild im Sinne der «Ursache» ist. Den Baum als sinnstiftende Metapher «an der Wurzel» verschiedener
sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse, die sich in «Bäumen» manifestieren, zu
vermuten, könnte demjenigen mißfallen, der wie Bachelard (1965:13-22, 73-82)
das Ideal einer von Metaphern unabhängigen und nur dann wissenschaftlichen
«Präzision» verfolgt: im Grunde also jenes Präzisionsideal, wie es die Linguistik
des 19. Jahrhunderts in ihrer Loslösung von der Philologie anstrebt. – Fatalerweise ist aber dies auch just die Zeit, in der die Linguistik den «Baum»
als Modell [!] von der vorbildlich «präzise» gedachten Naturwissenschaft übernimmt. Darüber hinaus hat sich in der modernen Wissenschaftstheorie die
Metapher als legitimes Mittel sowohl für die Theorie- als auch für die Begriffs-
Eine Ausnahme bildet hier z. B. Bois 1977.
Cf. z. B. Jung 1973; Abraham 1982:276s.; Freud 1994; Durkheim 1912; Lévi-Strauss 1958;
Wright 1993:127-248; L’arbre 1993; Mazal 1988; Laurette 1967; Faggin 1993:9-29; Selbmann
1984; Cirlot 1971:346-50; u. v. a. m.
6 Die Literatur hierzu teilt sich hauptsächlich in zwei Arten: «Handbücher für den Ahnenforscher» (z. B. Greenwood 1978, Henning/Ribbe 1972, Hey 1996, Weiss 1995) und sogenannte
«Geschlechterbücher» (z. B. Genealogisches Handbuch des Adels 1998, Nederland’s Adelsboek
1996s. oder Le Nobiliaire de France 1975s.). Stammbäume sind in letzteren in sehr unterschiedlicher Tiefe – Le Nobiliaire de France verzeichnet z. B. nur lebende Adelige und deren Kinder –
und nur in Listenform zu finden. Der Trend scheint entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklung zu Nachschlagewerken wie dem Who’s Who zu gehen, wo die Vita des Einzelnen die
Genealogie ersetzt.
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bildung etabliert7 – eine Idee, die von Peirce bereits um die Jahrhundertwende in
seinen Überlegungen zur Metaphorizität des Begriffes «Naturgesetz» [!] verteidigt wird8. Kognitionspsychologisch ist sie mit den Studien von Black längst vom
Darstellungsmittel der Erkenntnis zum Erkenntnismittel avanciert9. Die Suche
nach einer leitenden Metapher dürfte also theoretisch hinreichend gestützt sein.
Hinsichtlich des Baumes als Leitbild in der Linguistik scheint sie deshalb plausibel zu sein, weil die Variationen des Topos «Baum» sich zwar mit der Entwicklung der linguistischen Theorien stark wandeln, aber immer im Kern der jeweiligen Sprachbetrachtung auftreten.
Bei aller Variation treten klar zwei Grundtypen des Topos «Baum» hervor, die
in ihrer Ablösung einen Paradigmenwechsel (im Sinne von Kuhn 1970) in der Linguistik markieren. Stehen die linguistischen «Bäume» im 19. Jahrhundert im Zuge
ihrer Übernahme aus der Darwinschen Evolutionstheorie im Zeichen von Organismus und Genealogie (Sprache als Organismus, Produkt einer kausalen Sprachentwicklung und Teil des Sprachenstammbaums; Genealogie der Sprachen als Genealogie der Sprachgemeinschaften; Sprache als psychischer Organismus), so setzt
Ende des 19. Jahrhunderts ein gegenläufiger Trend ein, der sich zunehmend ausprägt. Die Zartheit genealogischer Verästelungen wird zunehmend durch binäre
Raster ersetzt, die sich auf ein synchrones Betrachtungsparadigma beziehen: beginnend mit Achsenkreuzen bei Saussure, sich fortsetzend mit Rastern bei Hjelmslev und schließlich mit dependentiellen und generativen «Bäumen» bei Tesnière
bzw. Chomsky. Im Folgenden kann nur der «linguistische Baum» des 19. Jahrhunderts umrissen werden.
1. «The tree of life». Darwin und die Evolutionstheorie
Die Karriere des sprachwissenschaftlichen Baumes geht einher mit der Faszination und methodologischen Bestärkung, die für die Sprachwissenschaft von der
Evolutionstheorie Darwins10 ausgeht. Diese Faszination hat zwei wesentliche
7 «There exists an important class of metaphors which play a role in the development and articulation of theories in relatively mature sciences . . . they are used to introduce theoretical terminology where none previously existed . . . the utility of these metaphors in theory change crucially depends upon their open-endedness . . . The impression that metaphors must lack the precision characteristic of scientific statements reflects, I shall argue, an extremely plausible but
mistaken understanding of precision in science.» (Boyd 1979:482s.).
8 «Naturgesetz» ist für Peirce ein metaphorischer Begriff, dessen Wert just darin besteht,
mehr als eine Regelhaftigkeit zu verkörpern (Peirce 1988:292-95).
9 Nach Black (1993:30s.) kann die Metapher nicht nur darstellen, sondern den generativkreativen Wert eines flash of insight tragen. «Metaphorical statement is not a substitute for a formal comparison or any other kind of literal statement, but has its own distinctive capacities and
achievements . . . It would be more illuminating . . . to say that the metaphor creates the similarity than to say that it formulates some similarity antecendently existing.» (Black 1962:37).
10 Zur Entwicklung von Darwins Theorie cf. Mayr 1984:314-421.
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Gründe. Zum einen eröffnete Darwins Theorie eine völlig neue Perspektive auf
die Natur und den Menschen (als Teil der Natur und deren Entwicklung), zum anderen hat sie einen hohen Anteil an genealogischem Interesse. Vor allem letzteres
kommt der historischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts sehr entgegen.
Aus der Ablehnung providentieller Erklärungen für die Sprachbetrachtung (aus
Logik oder aus der Annahme der Gottgegebenheit [zu letzterem cf. Herder,
UdS:79s.]) heraus hat sie sich zu einer vergleichenden Philologie bzw. Grammatik
entwickelt, deren Schwerpunkt seit der Entdeckung des Sanskrit 1786 auf der Erforschung von Sprachfamilien liegt. Man forscht nach Ähnlichkeiten zwischen den
indogermanischen Sprachen, die man durch die Entdeckung des Sanskrit zunehmend genealogisch erklären kann. Die Sympathie für eine evolutionäre Erklärung
der Entwicklung der Lebewesen liegt also auf der Hand.
Ähnlich wie die Sprachwissenschaft lehnt auch Darwins Naturtheorie eine providentielle Erklärung der Natur als Ordnung «geschaffener» Spezies ab. Zum
Zeitpunkt der Veröffentlichung des Origin of Species (1859) scheint diese Naturerklärung jedoch von einigen Naturwissenschaftlern noch keineswegs ad acta gelegt zu sein, denn Darwin insistiert mehrmals auf der Falschheit dieser These, die
bereits vor ihm durch Lamarck u. a. angegriffen wurde11. Der epistemologische
Wandel besteht nun darin, daß die Naturtheologie von einer Naturtheorie abgelöst wird. Die Natur ist nicht mehr Schöpfung, bevölkert von Gottes Kreaturen,
innerhalb derer der Mensch als bevorzugter Sonderfall agieren darf (die Natur als
Gabe an den Menschen), sondern ein komplexes Entwicklungs- und Beziehungsgeflecht von Organismen, das seinen eigenen Gesetzen gehorcht. Die Idee des
«Geschöpfes»/«creature» wird abgelöst vom «Organismus» als Produkt eines
Selektionsprozesses («unit of selection»):
. . . the view which most naturalists until recently entertained . . . that each species has been independently created . . . is erroneous. I am fully convinced that species are not immutable; but
that those belonging to what are called the same genera are lineal descendants of some other
. . . Furthermore, I am convinced that Natural Selection has been the most important, but not
the exclusive, means of modification. (Darwin, OS:4)
Für die Wissenschaft der Lebewesen bringt dies erhebliche methodische und begriffliche Umwälzungen mit sich. Wenn die Arten der Lebewesen nicht mehr als
unveränderlich gelten, so heißt das, daß ihre Beschreibung nach äußeren Ähnlichkeiten und die entsprechende Gruppierung in tableaux12 methodisch hinfällig
Cf. Darwins Forschungsüberblick (Darwin, OS:xiii-xxi).
Foucault beschreibt das 17. und 18. Jahrhundert, übereinstimmend mit Darwin, als Epoche
der Klassifizierung von offensichtlichen bzw. äußeren Ähnlichkeiten: «Observer, c’est donc se
contenter de voir. De voir systématiquement peu de choses. De voir ce qui, dans la richesse un
peu confuse de la représentation, peut s’analyser, être reconnu par tous . . . ‹Toutes les similitudes obscures, dit Linné, ne sont introduites qu’à la honte de l’art›.» (Foucault 1966:146). Medium der Darstellung ist deshalb bevorzugt das tableau (nicht der Stammbaum): «Le cabinet d’histoire naturelle et le jardin, tels qu’on les aménage à l’époque classique, substituent au défilé cir11
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ist. Aufgrund des Wandels des Artbegriffes muß das bildliche Modell des tableau
oder der Stufenleiter durch das eines Netzes oder Stammbaumes ersetzt werden13.
Die neue Methode besteht darin, die Arten nach ihrer descendence einzuordnen
(Darwin, OS:166)14, wobei sie sich schlüssigerweise nicht an irreführenden äußerlichen Kriterien orientieren darf (danach müßten Wale z. B. zur Familie der Fische
gehören), sondern nach inneren Kriterien suchen muß, die der descendence zugrundeliegen. Dies zeigt sich in Darwins Uminterpretation des Begriffes species.
Zwar nennt er sein Werk The Origin of Species, gibt aber zu bedenken, daß der
Begriff species «a mere useless abstraction implying and assuming a separate act
of creation» sei (Darwin, OS:39). Er zieht deshalb den Terminus variety, bei aller
Unklarheit, die ihm anhafte, vor: « . . . here community of descent is almost universally implied» (Darwin, OS:33).Wenn sich die Art über ihre Abstammungslinie im
Stammbaum definiert, so bedeutet das: Jede genetisch bedingte Variation ist relevant für die Bestimmung einer Art (Spezies-Individualismus), nicht die Konstanz,
Ähnlichkeit oder Essenz äußerer Merkmale (Spezies-Essentialismus). Kriterium
ist nicht eine Überschneidung in Aussehen, Verhalten oder Lebensraum, sondern
eine Überschneidung im historisch-genetischen Stammbaum, der genealogical
nexus (cf. Bartels 1996:151s.). Das Kriterium des Phänotyps wird durch das des
Genotyps ersetzt.
Treibende innere Kraft des evolutionären Stammbaumes ist also die genetische
Variation, die zu einer immer feineren Diversifizierung der Arten bzw.Verästelung
des Baumes führt: « . . . the larger genera . . . tend to break up in smaller genera.
And thus, the forms of life throughout the universe become divided into groups
subordinate to groups.» (Darwin, OS:47). Dieser inneren genetischen Kraft steht
als äußere und beschränkende Kraft die natural selection durch die Lebensumstände nach dem Prinzip des survival of the fittest korrelativ gegenüber. Sie ermöglicht über die Generationen eine immer höhere Spezialisierung der Lebewesen in der Anpassung an ihre Umwelt – oder aber das Aussterben einer Art bei
culaire de la ‹montre› l’étalement des choses en ‹tableaux›.» (143). Die Dinge in möglichst
lückenlose tableaux zu ordnen wie z. B. Linné (cf. Mayr 1984:138ss.), entspricht der physikotheologischen Suche nach dem Gleichgewicht: « . . . göttlicher Weisheit und Vorsehung wird die
Funktion zugeschrieben, die Welt in Balance zu halten. Alles hat sein rechtes Maß und die angemessene Zahl . . . » (Lepenies 1988:27; cf. auch Mayr 1984:386-89). Wenn sich die Idee der Regulierung der Dinge/der Natur/des Systems auch bei Darwin fortsetzt (sei es auch dann eine
Selbstregulierung statt einer göttlichen Regulierung), so besteht der Unterschied doch darin, daß
das tableau die unendliche Vervielfältigung der Arten, gleich einem antigöttlichen Chaos, gebannt sehen will, während sie für das Auffächerungsschema des Stammbaumes die Essenz der
Aussage ist. Zum damit verbundenen Wandel des Artbegriffes (von Linné zu Darwin, Mendel,
Haeckel) cf. Jahn/Löther/Senglaub 1982:414-42.
13 Oeser 1996:90-92 vermutet bereits in dem Berliner Naturforscher Pallas (1741-1811) den
eigentlichen Urheber des Baummodells.
14 Darwin (1888:133) nennt seine Theorie noch nicht «Evolutionstheorie», sondern «theory
of descent».
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mangelnder Anpassung an den Lebensraum oder sich einschneidend verändernden Lebensbedingungen (Darwin, OS:49, 96-98, 103, 166).
Faktoren der Arten-Evolution sind also: Variation und Selektion, Diversifizierung und Aussterben. Sie determinieren die Form des Tree of Life:
The affinities of all the beings of the same class have sometimes been represented by a great
tree. I believe this simile largely speaks the truth. The green and budding twigs may represent
existing species; and those produced during former years may represent the long succession
of extinct species . . . this connection of the former and present buds by ramifying branches
may well represent the classification of all extinct and living species in groups subordinate to
groups . . . the great Tree of Life . . . fills with its dead and broken branches the crust of the
earth, and covers the surface with its ever-branching and beautiful ramifications. (Darwin,
OS:104s.)
Neu ist natürlich die Metapher des Tree of Life nicht. Man denke nur an das
biblische Motiv oder die zahlreichen Darstellungen von Familien-Stammbäumen
seit dem Mittelalter, und diese Liste ließe sich sicherlich bei eingehender philologischer Untersuchung noch um einiges verlängern. Neu ist aber, daß der Lebensbaum nicht mehr nur mythologischen Wert hat, sondern erstens als ein Leitbild für
die moderne Naturwissenschaft verankert wird15, zweitens der Mensch neben
Tieren und anderen Organismen in ein und denselben Stammbaum eingereiht
wird – history of man wird Teil der history of life (Darwin, OS:428) – und drittens
der Lebensbaum damit eine allumfassende Dimension bekommt. Zu Darwins
Zeit ist der Tree of Life in der Tat noch ein leitendes, nämlich hypothetisches Bild,
und keineswegs ein Abbild der Erkenntnisse über die Evolution, denn es mangelt
noch an geologischen Funden, die die Baumhypothese bewahrheiten. Aus diesem
Grund widmet Darwin ein ganzes Kapitel im Origin der Imperfection of the Geological Record (Darwin, OS:264-89).
Obwohl Darwin an der zitierten Stelle der traditionellen Baum-Metaphorik von
grünen, austreibenden und toten, abgebrochenen Zweigen folgt, verbindet er andernorts doch eine sehr moderne Sichtweise mit dem Leitbild des Baumes, die in
der Linguistik des 20. Jahrhunderts verstärkt wiederkehrt: er unterteilt den Baum
horizontal in verschiedene Epochen und trennt damit synchrone und diachrone16
Relationen von Organismen.
15 Relativ wenig später (1903) tritt der Baum auch in der Erkenntnistheorie Peirces auf.Wenn
die Naturwissenschaft davon ausgeht, daß Abweichungen von einem Gesetz selbst wieder bestimmten Wahrscheinlichkeitsgesetzen unterliegen, dann heißt dies: «Wir wollen die Gesetze
selbst wieder Gesetzen unterwerfen. Zu diesem Zweck muß dieses Gesetz der Gesetze sich selbst
entfalten können. Nun ist das einzig denkbare Gesetz, von dem das wahr ist, ein evolutionäres
Gesetz. Deshalb nehmen wir an, daß alle Gesetze das Ergebnis der Evolution sind, und das anzunehmen heißt anzunehmen, daß sie unvollkommen sind.» (Peirce 1988:402s.).
16 «Synchron» und «diachron» sind hier linguistische Begriffe. Die Biologie verwendet hier
die Ausdrücke «Diversifikation» (horizontale Komponente) vs. «Transformation» (vertikale
Komponente) bzw. «polytypische» vs. «monotypische Evolution» (cf. Mayr 1984:319).
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Die vertikale Dimension des Baumes stellt die Diversifizierung der Arten in der
Diachronie bzw. genetische Ähnlichkeiten dar:
The branching and diverging dotted lines of unequal lengths proceeding from [species] (A),
may represent its varying offspring. The variations . . . are not supposed all to appear simultaneously, but often after long intervals of time . . . Only those variations which are in some way
profitable will be preserved or naturally selected . . . this will generally lead to the most different or divergent variations . . . being preserved and accumulated by natural selection. When
a dotted line reaches one of the horizontal lines, and is there marked by a small numbered letter, a sufficient amount of variation is supposed to have been accumulated to form it into a
fairly well-marked variety . . . (Darwin, OS:90s.)
Die horizontalen «Schichten» repräsentieren dagegen jeweils ein web of complex
relations (Darwin, OS:57) der Arten zu einem bestimmten Stadium. Dieses Beziehungsgeflecht ist seinerseits Ergebnis des vorangehenden (diachronen) Selektionsprozesses und birgt zugleich die Bedingungen für künftige Selektionen in
sich. Das horizontale Beziehungsgeflecht wird dabei, will mir scheinen, von Darwin doppelt gedacht: einmal unter dem Blickwinkel der genetischen Differenzen
und Ähnlichkeiten – hierbei bleibt es im Prinzip bei der genealogischen Grundperspektive; ein andermal unter dem Blickwinkel eines momentanen Artengleichgewichtes, also in der Sicht des struggle for existence. Ersteres macht die
Horizontale zur Dimension, in der sich eine mehr oder minder große verwandtschaftliche Ähnlichkeit zwischen koexistenten Arten feststellen läßt (ähnlich den
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synchronen Relationen bei Saussure17): « . . . species (A) being more nearly related
to B, C and D, than to the other species; and species (I) more to G, H, K, L, than to
the others.» (Darwin, OS:94). Letzteres macht die Horizontale zu einem geradezu räumlichen Netz der Überlebensabhängigkeiten (und Lebensräume) der Arten
untereinander: «I shall hereafter have occasion to show that the exotic Lobelia fulgens is never visited in my garden by insects, and consequently, from its peculiar
structure, never sets a seed.» (Darwin, OS:57).
Erstaunlich ist, daß, während bei Darwin die grundsätzlich diachrone Idee des
«Baumes» von der Idee des synchronen «Netzes» ergänzt wird (wenn er dies auch
zurückstellt, um nicht in die alte Methode der Lebensraumbeschreibung zu verfallen), letztere in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht auftaucht
(erst mit Saussure beginnt das Pendel hier in die andere Richtung auszuschlagen).
Man konzentriert sich auf die Genealogie der Sprachfamilien. Synchronie spielt
allenfalls bei der Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen Sprachen eine Rolle,
bleibt also Mittel zum Zweck der Genealogie. Wie die Artentheorie nach einem
pragmatischen synchronen Beziehungsgeflecht Ausschau zu halten, hätte im Falle
der Sprachwissenschaft auch offensichtlich wenig Sinn, und an ein sprachimmanentes Beziehungsgeflecht denkt man im Jahrhundert des Sprachvergleichs und
des Paradigmas der Ähnlichkeiten noch nicht.
2. Der Stammbaum der Sprachen und Sprache als Organismus.
Haeckel, Schleicher, Osthoff/Brugmann, Paul und Gabelentz
Eine sehr deutliche Spur des Überganges des Baumes von der Natur- in die
Sprachwissenschaft führt über den Zoologen Ernst Haeckel und den Indogermanisten August Schleicher. Sicherlich ist dies nicht die einzige Spur – denn die
Gedanken Darwins sind in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts, also schon sehr rasch nach der Veröffentlichung des Origin of Species, allgemein virulent –, aber doch wohl eine der explizitesten, so daß sie hier als
Exempel dienen mag.
Haeckel ist fest von der Übertragbarkeit der Evolutionstheorie auf die Sprachen und andere Forschungsbereiche überzeugt. Dies belegt ein Vorwort, welches
er 1868 für das Buch «Ursprung der Sprache» seines Vetters Wilhelm Bleek
schreibt18. Darwins «mechanisch-causale Selections-Theorie» sei die einzig mögliche Erklärung «aller biologischen Erscheinungen, und also auch der anthropologischen Tatsachen», heißt es dort kurzerhand. Zu diesen «anthropologischen
17 Wie Darwins Baum trennt Saussures Achsenkreuz zwischen axe des contemporanéités (statique) und der axe des successivités (évolutif) (Saussure, EC I:177, 180).
18 Bleeks Forschungsgebiet ist der Sprachenvergleich südafrikanischer Sprachen. Er forscht
jenseits alles Wissenschaftsbetriebes in Kapstadt, was ihm durch eine Stellung als Bibliotheksverwalter ermöglicht wird. Von welcher Qualität seine Forschungen sind, bleibe hier dahingestellt.
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Tatsachen» zählt er neben Anatomie und Physiologie auch Geologie,Archäologie,
Völkergeschichte, Geographie und nicht zuletzt die Sprachforschung (Haeckel
1868:ivs.). Der Darwinsche Abstammungs- und Entwicklungsbaum sowie das mit
ihm untrennbar verbundene Theorem der Selektion wird damit zum Leitbild einer
ganzen Palette von Disziplinen erhoben. Die Parallelität von Entwicklung des
«Menschengeschlechts» (die Anlehnung an Humboldts Titel [Humboldt, VmS] ist
unüberhörbar) und Sprachentwicklung, bzw. Ursprung der Menschheit und Ursprung der Sprache, erscheint Haeckel dabei in besonderem Maße selbstverständlich, wofür er als «Evidenz-Beweis» anführt:
Bekanntlich sind die Völkerschaften Südafrika’s, die Hottentotten, Buschmänner, Kaffern
und andere, gewöhnlich als Negerstämme betrachteten Zweige der wollhaarigen langköpfigen . . . Völkerfamilie bis auf den heutigen Tag auf der tiefsten Stufe menschlicher Entwicklung stehengeblieben, und haben sich am wenigsten von den Affen entfernt. Wie von
ihren gesammten physischen und moralischen Eigenschaften, so gilt dies auch von ihrer Sprache. (Haeckel 1868:iv)19
Die Abfolge von Verästelungen eines Sprachen- oder Völkerbaums ist für Haeckel
nicht nur eine zeitliche Abfolge, sondern ebenso eine synchrone Hierarchie in geistiger und moralischer Hinsicht.
Überzeugt von der Anwendbarkeit der Entwicklungstheorie auf die Sprachwissenschaft, ist Haeckel offenbar nicht müde geworden, seinen Freund Schleicher
zur Lektüre der deutschen Übersetzung der Darwinschen Theorie zu animieren.
Es bedarf dazu offensichtlich einiger Hartnäckigkeit von Seiten Haeckels, der geschickt genug ist, Schleichers Liebe zur Gärtnerei20 als zusätzliches Argument für
eine Lektüre ins Feld zu führen. Dies geht aus Schleichers «Offenem Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Haeckel»21 hervor:
Du hast mir, lieber Freund und College, nicht eher Ruhe gelassen, als bis ich Darwins viel besprochenes Werk . . . gelesen hatte. Ich habe Deinen Willen gethan und mich durch das einiger
Maassen unbeholfen angeordnete und schwerfällig geschriebene und theilweise in kurioses
Deutsch übersetzte Buch von Anfang bis zu Ende hindurch gearbeitet . . . Dass mich die
19 Inwieweit Kolonialisierung (Politik) und die mit ihr einhergehende Christianisierung (Religion) die «wissenschaftliche» Theorie unterstützen, kann man hier ahnen.
20 Dabei handelte es sich nicht um bloßes «Hobby», sondern um eine regelrechte Passion und
zweites berufliches Standbein, auf das Schleicher nach Aussagen von Zeitgenossen einen Großteil seiner wissenschaftlichen Einkünfte verwendete. «Die erste Honorarrate für das Compendium ward zur Erbauung eines Gewächshauses verwendet . . . Die nicht unbedeutenden Kosten
dieser Liebhaberei deckte er durch die Zucht von Riesenastern . . . welche er zu solcher Vollkommenheit brachte, daß eine Erfurter Samenhandlung ihm jährlich seine ganze Ernte abnahm.» (Schmidt 1890:415).
21 Das «Sendschreiben» wurde international rezipiert. Hiervon zeugen die zahlreichen Übersetzungen: russ. 1864, frz. 1868 (mit einem Vorwort von Michel Bréal), engl. 1869, ung. 1878. In
den beiden folgenden Jahren publizierte Schleicher zwei weitere Texte zum Thema (Schleicher
1864 und 1865; für eine Bibliographie Schleichers cf. Fischer 1962:28ss.).
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Simone Roggenbuck
Schrift ansprechen würde, schienst Du mit Bestimmtheit voraus zu setzen; freilich dachtest Du
zunächst an meine gärtnerischen und botanischen Liebhabereien.» (Schleicher 1873:3)
Obwohl Schleicher die Lektüre offenbar einigermaßen qualvoll empfand, ist er
doch vom Inhalt tief angetan, weil er von Parallelen zu seinem Fach geradezu
überquillt.
Inwiefern die Lektüre Darwins bei Schleicher auf fruchtbaren Boden fällt, und
wie sehr die von Darwin formulierte Idee «in der wissenschaftlichen Luft» lag22,
kann man ahnen, wenn man das Vorwort zu Schleichers zwei Jahre zuvor erschienenen Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen liest. Dort wird bereits in den ersten Zeilen die Idee des Sprachenbaumes
entfaltet und die «Glottik» bezüglich Gegenstand und Methode in die naturgeschichtliche Forschung eingereiht:
Die grammatik bildet einen teil der sprachwißenschaft oder glottik. Dise selbst ist ein teil der
naturgeschichte des menschen. Ire methode ist im wesentlichen die der naturwißenschaften
überhaupt . . . Eine der hauptaufgaben der glottik ist die ermittelung und beschreibung der
sprachlichen sippen oder sprachstämme . . . (Schleicher, Comp:1)
Wo bei Darwin die Zweige des Baumes je nach Hierarchiestufe genera, species
oder varieties benannt werden, spricht Schleicher von Ursprache, Grundsprache
und Sprachen, deren letztere sich wiederum differenzieren in Mundarten und
Untermundarten. «Alle von einer ursprache her stammenden sprachen bilden
zusammen eine sprachsippe oder einen sprachstamm, den man wider in sprachfamilien oder sprachäste teilt.» (Schleicher, Comp:5). Auch die Darwinsche Formulierung der allmählichen Diversifizierung hin zu komplexeren, «höheren»
Organisationsstufen23 findet sich fast wortwörtlich wieder: «Auch die einfachste
sprache ist das ergebnis eines allmählichen werdens. Alle höheren sprachformen
sind auß einfacheren hervor gegangen, die zusammen fügende sprachform auß der
isolierenden, die flectierende auß der zusammen fügenden.» (Schleicher,
Comp:4)24. Und wie bei Darwin findet sich der zweidimensionale Baum, in dem
« . . . die länge der linien . . . die zeitdauer an[deutet], die entfernung der selben von
einander den verwandtschaftsgrad.» (Schleicher, Comp:8s.)25:
22 «Darwins Werk scheint mir durch die Geistesrichtung unserer Tage bedingt zu sein . . . »
(Schleicher 1873:7).
23 Darwin betont in diesem Zusammenhang aber ausdrücklich, daß advance of organization
lediglich als specialization, keineswegs als perfection zu deuten sei (Darwin 1872:97s., 103, 166).
Diese Maßgabe wird in der ko-epochalen Sprachwissenschaft kaum wahrgenommen. Man neigt
eher dazu, «höhere», d. h. komplexere Sprachentwicklung gleichzusetzen mit einem teleologischen Fortschritt von Geist, Moral, Zivilisation.
24 Die Einteilung in isolierende, agglutinierende und flektierende Sprachen übernimmt
Schleicher von Humboldt, ohne jedoch zugleich die Philosophie der idealen «inneren Form» zu
übernehmen (cf. hierzu Bene 1958:95ss.).
25 Später formuliert Schleicher diese Parallele explizit (Schleicher 1873:12ss.).
Bäume der Erkenntnis
13
Der Baum ist jedoch nicht nur bloßer Topos und billiges Mittel, um Verzweigungen jedweder Art (zoologisch, anthropologisch, sprachlich26) darzustellen. Mit
dem Bild des Baumes der Organismenentwicklung gelangt auch die Idee des
Organismus in die Sprachwissenschaft:Vom «Leben der Sprache» ist die Rede und
von der «Entwicklung der Sprache». Die Sprache wird so einerseits zu einem «Organismus» am Baum zoologisch-anthropologischer Entwicklung, andererseits
aber auch zu einem in sich geschlossenen Organismus, der immanenten Diversifizierungs- und Selektionsgesetzen folgt27, unabhängig von anthropos und Bewußtsein, Geist, Psyche:
26 Bereits im Compendium denkt Schleicher kurz die Parallele von anthropologischer und
sprachlicher Entwicklung an (Schleicher, Comp:4).
27 Die doppelte Eigenschaft des biologischen Organismus, nämlich einerseits Teil einer dynamischen Ordnung zu sein (der phylogenetischen/evolutorischen Ordnung, aber auch der ontogenetischen/individuellen Entwicklungsordnung), andererseits auch noch eine immanente
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Simone Roggenbuck
. . . algemeine grammatik, specielle grammatik; sie wird in den meisten fällen die sprache darstellen müßen als etwas gewordenes, also das leben der sprache in seinen gesetzen zu erforschen und dar zu legen haben. Tut sie diß ausschließlich, hat sie also die darlegung des sprachlebens zu irem gegenstande, so nennt man sie historische grammatik oder sprachengeschichte, richtiger bezeichnen wir sie als lere vom leben der sprache (vom leben der laute, der form,
der function, des satzes . . . (Schleicher, Comp:2s.)
Sprachwissenschaft also als Sprach-Biologie28, als Lehre von den «mechanischcausalen» Veränderungen einer Sprachspezies, denn «die sprachen leben, wie alle
naturorganismen; sie handeln nicht, wie der mensch, haben also auch keine geschichte, wofern wir dieses wort in seinem engeren und eigentlichen sinne faßen»
(Schleicher, Comp:2 N). Der «mechanisch-causale» Organismus meint also, entsprechend dem biologischen Organismus-Konzept, eine «immanente Kausalität»,
eine in sich selbst begründete Ursächlichkeit. «Mechanisch» ist also nicht im Sinne von «mechanistisch» zu verstehen, denn gerade den mechanistischen Erklärungen, die auf ein Gleichgewicht zwischen zwei Kräften angewiesen sind und
damit auf der Trennung von Ursache und Wirkung insistieren (cf. N27), gelingt
eine Erklärung des Organismus-Prinzips nicht (dieser Mangel an «diesseitiger»
Ursächlichkeit ist wohl die Motivation für die immer wiederkehrende Frage nach
der «jenseitigen» teleologischen Bestimmung des Organismus, gerade in der Biologie). Schon Kant liefert ein Jahrhundert vor Darwin die Beschreibung des «organisierten Wesens» (Organismus) als «Naturzweck» (cf. Kant, KdU:235/§65) und
illustriert den Zirkel von Ursache und Wirkung am Beispiel des Baumes:
. . . ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst . . . Ursache und Wirkung ist; denn
hierin liegt eine Kausalität, dergleichen mit dem bloßen Begriffe einer Natur, ohne ihr einen
Zweck zu unterlegen . . . nicht begriffen werden kann . . . Ein Baum zeugt erstlich einen andern
Baum nach einem bekannten Naturgesetze. Der Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben
Gattung und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in der er einerseits als Wirkung, andererseits als Ursache von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht und ebenso sich selbst oft
hervorbringend, sich als Gattung beständig erhält. Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst
«autoergische» Organisation, die sich ohne äußere «Gegenkraft» aufrecht erhalten kann – anders als physikalische Kräfte, die immer einer Gegenkraft bedürfen und dem energetisch niedrigsten Niveau zustreben – trägt bis heute zu einer Grenzziehung zwischen den Wissenschaften
bei. Biologische Organismen und auch der «Organismus Sprache» verfügen über eine Autodynamik (sei sie genetisch, psychologisch oder sozial), die sich den symmetrischen Gleichungen von
Physik und Mathematik zu entziehen scheint (cf. Penzlin 1988:11-17, 21-24; Mayr 1984:42ss.;
Wuketits 1978:170-75) – dies zumindest bisher, denn derzeit mehren sich in der Physik die Hinweise auf die Existenz auch asymmetrischer Prozesse, mittels derer man hofft, die Entstehung
des Universums (und damit in letzter Konsequenz auch die Entstehung der Organismen?) erklären zu können –, was immer wieder Anlaß zu Spekulationen über die «Teleologie der Organismen» gab (cf. hierzu z. B. Mayr 1984:424-26, Ruse 1989:146-54, Wuketits 1978:126-31).
28 Noch um die Jahrhundertwende unterscheidet Meyer-Lübke innerhalb der «vertikalen
Darstellung» (Diachronie) eine «der Biologie vergleichbare» prospektive («vom Älteren zum
Jüngeren») Untersuchung des «Sprachlebens» von der «der Paläontologie entsprechenden»
retrospektiven Untersuchung (cf. Wunderli 1975:58).
Bäume der Erkenntnis
15
als Individuum. Diese Art von Wirkung nennen wir zwar nur das Wachstum; aber dieses ist . . .
von jeder anderen Größenzunahme nach mechanischen Gesetzen gänzlich unterschieden und
einer Zeugung . . . gleich zu achten . . . Drittens erzeugt ein Teil dieses Geschöpfs auch sich
selbst so, daß die Erhaltung des einen von der Erhaltung der anderen wechselweise abhängt
. . . die Blätter [sind] zwar Produkte des Baums, erhalten aber diesen doch auch gegenseitig . . .
(Kant, KdU:233s./§64)
Damit tut sich in der sprachwissenschaftlichen Darwin-Rezeption des 19. Jahrhunderts eine Spaltung auf. Einerseits bietet der Evolutionsstammbaum die Möglichkeit, parallele Bäume in Zoologie, Anthropologie, Sprachentwicklung anzunehmen. Dies bedeutet eine Verschmelzung von anthropologischer («völkischer»,
«rassischer», «menschengeschlechtlicher») Entwicklung und ihrem sprachlichen
(«geistigen») Pendant. Sprache als Ausdruck des Geistes bleibt in dieser Perspektive an den Menschen gebunden. (Diese Art von humboldtscher29 Tradition hält
sich erstaunlicherweise bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts, z. B. bei Weisgerber.) Andererseits wird der Topos des Baumes von Schleicher und den Junggrammatikern dazu genutzt, Geist und Mensch von der Sprache abzukoppeln, sich
letztlich also ganz und gar auf das naturwissenschaftliche Verfahren der Beschreibung vermeintlich «kausaler»30 Vorgänge einzulassen. Noch deutlicher als im
Compendium wird dies in Schleichers Aufsatz «Die Darwinsche Theorie und die
Sprachwissenschaft», der erstmals 1863 erscheint. Von der Lektüre Darwins in
Konzeptionen bestärkt, die er schon im Compendium vertritt, formuliert Schleicher seine Ansichten zur Sprache als Organismus und zur Kongruenz von Naturund Sprachforschung noch deutlicher: «Das was Darwin für die Arten der Thiere
und Pflanzen geltend macht, gilt nun aber auch, wenigstens in seinen hauptsächlichsten Zügen, für die Organismen der Sprachen.» (Schleicher 1873:12).
Die Organismus-Konzeption umfaßt drei unterschiedliche Punkte. Erstens den
philosophischen Aspekt des «Monismus von Geist und Natur»: kein Geist ohne
Materie, keine Materie ohne Geist. Der Begriff «Geist» wird dabei in einer unscheinbaren Parenthese zu «Nothwendigkeit», vergleichbar dem survival of the fittest, umdefiniert (Schleicher 1873:8). Dem Prinzip der inneren Notwendigkeit
folgend, sind Sprachen «Naturorganismen», « . . . die ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden . . . » (Schleicher 1873:7).
Zweitens den methodologischen Aspekt: Wenn Sprache ein Organismus ist,
spricht alles dafür, sich der für diesen Gegenstand bewährteren Methoden der
Naturwissenschaft zu bedienen. Die «geistes»-wissenschaftlichen Methoden der
philologisierenden, kommentierenden Sprachbetrachtung («subjectives Deuteln,
haltloses Etymologisieren, vage Vermutungen ins Blaue hinein» [Schleicher
Cf. Humboldt, VmS:§20, p. 284, 288.
Die Kausalität erscheint in Darwins Evolutionstheorie nicht als eine unmittelbare UrsacheWirkung-Relation, sondern als « . . . ein Zwei-Schritte Phänomen, wobei der erste Schritt in der
kontinuierlichen Erzeugung eines unerschöpflichen Vorrats an genetischer Variation bestand
. . . » (Mayr 1984:95).
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Simone Roggenbuck
1873:6]) müssen ersetzt werden durch empirische Beobachtung des «Dinges, das
mit seiner Erscheinung identisch ist», und Induktion, denn «Alles a priori Construierte . . . gilt . . . für die Wissenschaft . . . als werthloser Plunder.» (Schleicher
1873:8s.). Aus heutiger Sicht erstaunt, mit welcher Nonchalance Schleicher seinerzeit bei der Beschreibung jahrtausendealter Sprachen von «empirischer Beobachtung» sprechen kann. Während Darwin die Hypothetizität seiner Baum-Theorie
aufgrund mangelnder geologischer Beweislage einräumt, stellt Schleicher mit einer
gewissen Befriedigung fest, daß die Sprachwissenschaftler hinsichtlich der Beweislage zu den Bäumen «ausnahmsweise» im Vorteil gegenüber den Naturforschern
seien,« . . .da uns mittels der Schrift das im wesentlichen getreue Bild ihrer [der Sprachen und Sprachfamilien] früheren Formen überliefert ist». Der «Baum der Erkenntnisse» der Sprachwissenschaft könne deshalb als paradigmatisches Beispiel
für die Entstehung von Arten aus gemeinsamen Grundformen gelten (Schleicher
1873:18s.). Angesichts der mangelnden Problematisierung schriftlicher Zeugnisse
bzw. der genealogischen Erkenntnisse der Indogermanistik an dieser Stelle fragt
sich hier meines Erachtens allerdings, ob die Forderung nach der puren Induktion
von Schleicher nicht recht blauäugig aufgestellt wird, denn schon der Titel «vergleichende Grammatik» impliziert, daß nach Unterschieden verschiedener Sprachen
gesucht wird und dafür muß es ein zumindest hypothetisch zugrundeliegendes
Modell (von Verzweigungen der Sprachentwicklung) gegeben haben. Der indogermanische Sprachstammbaum dürfte nicht nur eine Darstellung der Ergebnisse,
sondern in verschiedenen Stadien der Indogermanistik auch eine Hypothese antizipierter Ergebnisse, also ein Leitbild (wie es Darwin auch einräumt) gewesen sein.
Drittens der metaphorische Aspekt. Der Organismus-Begriff, den Schleicher in
den Mittelpunkt stellt, meint in seiner Grundbedeutung zunächst einen individuellen Organismus, also das, was in der Tat empirisch beobachtet werden könnte. Im
Falle der Biologie wäre das ein Exemplar aus Flora oder Fauna, im Falle der Sprache müßte es wohl die Sprache eines Individuums sein, die in Äußerungen (auch
schriftlichen) beobachtbar wird. In diesem Sinne verwendet Schleicher den Begriff allerdings nicht.Vielmehr metaphorisiert er ihn in Anlehnung an Darwin: « . . .
nicht nur die Individuen haben ein Leben, sondern auch die Arten und Gattungen
. . . » (Schleicher 1873:11). Sprachleben heißt also nie Anwendung einer individuellen Sprache durch Individuen, sondern immer genealogisches Leben einer Art,
kurz «Sprachwandel». So entspricht der Art der Urzelle der Typ der Ursprache
mit «Bedeutungslauten», «einfache Lautformen ohne grammatische Beziehung»,
deren « . . . Functionen . . . noch ebenso wenig geschieden sind, als bei einzelligen
Organismen». Dieser Typ war aber (individuell) bei verschiedenen Menschen bzw.
Völkern verschieden, weshalb Schleicher mehrere Ursprachen annimmt (Schleicher 1873:22ss.). Erst in der Folge beginnen sich die Funktionen zu differenzieren
(so das dha der indogermanischen Ursprache [setzen, tun] zu altind. dha, gr. ε,
lit. und slaw. de, got. da etc.), und zu den «einfachen Sprachzellen» der Wortwurzeln [!] treten Organe, die die verschiedenen grammatischen Beziehungen auszudrücken vermögen. Schließlich setzt unter den Sprachorganismen, wie in der echt
Bäume der Erkenntnis
17
organischen Welt, der unendliche Prozeß von Differenzierung und Auslese ein,
wobei u. a. die Lebensverhältnisse der Menschen sowie geographische und klimatische Bedingungen (man denke an Darwins Beispiel der lobelia) eine Rolle spielen (Schleicher 1873:26ss.) – «Darwin schildert . . . völlig treffend die Vorgänge
beim Kampfe der Sprachen um ihre Existenz». Das Baum-Modell für die Entwicklung sprachlicher Organismen ist dann nicht mehr und nicht weniger als die
konsequente Weiterführung der Metapher: Der Organismus Baum wird zum Sinnbild der diachronen Entwicklung von Organismusarten (Sprachtypen), die ihrerseits synchron durch individuelle Organismen repräsentiert sind31. Sprachen sind
keine in sich mehr oder weniger geschlossenen «Systeme», sondern «Arten»
innerhalb einer Baum-Genealogie.
Das Leitbild des genealogischen Baumes und der Organismusart wird schon bald
darauf angegriffen: zunächst von Johannes Schmidts Wellentheorie (Schmidt 187232),
31 Symptomatisch für die herrschende Episteme ist auch der Titel eines der beiden Hauptwerke Whitneys: The Life and Growth of Language, das erstmals 1875 in London erscheint. Allerdings ist Whitney seinen Zeitgenossen (Schleicher, Osthoff, Brugmann, Paul) in der Entwicklung der Sprachtheorie weit voraus. Life of language definiert er nicht humboldtianisch, sondern
als Perspektive der individuellen Sprachanwendung und -erlernung und somit des Traditionsprozesses von Sprache: « . . . language ist [not] a race-characteristic . . . it is independently produced by each individual, in the natural course of his bodily and mental growth.» (Whitney,
LGL:8). Dieser Prozeß, der das «Leben» der Sprache ausmacht, ist verantwortlich für die beständige Systemänderung, the growth of language (cf. p. 32s.). Whitneys Life and Growth nimmt
bereits in Ansätzen die saussuresche Dichotomie von parole und langue vorweg und setzt sich
klar von biologistisch oder mechanistisch inspirierten Sprachbetrachtungen ab.
32 Während z. B. Güntert 1925:131s. «Wellen» und «Baum» als zwei korrelative Sichtweisen
sprachlicher Gebilde (nämlich als Quer- bzw. Längsschnitt) beschreibt, wendet sich Schuchardt
(1928:433 N1) dezidiert gegen jegliche Stammbaumtheorie. Wie Schmidt ein Schüler Schleichers,
verfolgt Schuchardt eine der Wellentheorie ähnliche «Theorie der geographischen Abänderung»
und verurteilt darwinistische Anleihen wie die Vorstellung von Sprache als Organismus oder von
teleologischer Entwicklung (die man Darwin selbst allerdings nur bedingt unterstellen kann) der
Sprache (cf. Schuchardt 1928:204-06, 340s., 373-77) mit der modernen Begründung, Sprache sei
«eine Funktion und kein Wesen» (p. 93). Im Gegenzug betont er das individuelle und konventionelle Moment der Sprache, aufgrund derer Sprachmischung erst möglich werde: «In den Individuen wirken keine parallelen Teilkräfte einer allgemeinen zielstrebigen Kraft; die Einheit,
die eine Sprachgemeinschaft verbindet, beruht auf dem Ausgleich zwischen den Ergebnissen
vielfach sich kreuzender Richtungen.» (p. 106); « . . . ich gebe zu, daß alle Sprachen der Welt miteinander verwandt sind, aber nicht stammbaumartig, sondern indem Mischung und Ausgleich im
weitesten Umfang daran beteiligt sind.» (p. 255). Wenn es jedoch um die graphische Darstellung
der Sprachverwandtschaft geht, so greift auch Schuchardt auf eine Art Baum-Modell zurück. Das
Lateinische und seine Nachkommen ordnet er in Kegelform an, mit dem Latein als A in der Spitze des Kegels, davon abwärts ausgehend Entwicklungslinien (Aa, Ab . . . Az), die jeweils verschiedene zeitliche Entwicklungsstufen (auf verschiedenen Höhen des Kegels) durchlaufen (Aa1, Aa2
. . . Aax; Ab1, etc.). Je weiter sich die Entwicklungslinie von der Kegelspitze nach unten fortpflanzt,
desto weiter entfernt sie sich auch räumlich von anderen Entwicklungslinien (Aa3 und Ab3 wären
weiter voneinander entfernt als Aa1 und Ab1 es voneinander sind). Je weiter die zeit-räumliche
Entfernung zwischen zwei Gliedern, desto weiter auch die Entfernung «ihrem inneren Wesen
nach».Anders als bei Schleichers Stammbaum soll mit den Kegel-Linien nicht eine genealogisch-
18
Simone Roggenbuck
dann von den Junggrammatikern33. 1878 formulieren Hermann Osthoff und Karl
Brugmann unter Berufung auf Scherer34 und den Humboldtianer Steinthal die Abkehr von «metaphysischen» und «biologistischen» Sprachauffassungen, zwei Jahre
später folgt Hermann Paul (gemäßigter und differenzierter)35. Steinthal lieferte
zwei wesentliche Vorgaben, indem er die Sprache als «Aeußerung der bewußten innern, seelischen und geistigen, Bewegungen, Zustände und Verhältnisse durch den
articulirten Laut» definiert, also als Einzelsprache, deren Zweck die Darstellung
der Gedanken ist, und indem er auf dem Dualismus von Stoff und Form beharrt
(Steinthal, GLP:137s., 355-57). Wo der «Biologist» Schleicher einen Monismus
von Geist (gleich «Nothwendigkeit»!) und Materie, mit dem Schwergewicht auf
Materie, sieht, kehren die Junggrammatiker wieder zum Dualismus von «Geist» als
psychischem Bild und «Materie» als Laut zurück: «Der menschliche sprechmechanismus hat eine doppelte seite,eine psychische und eine leibliche.» (Osthoff/Brugmann 1878:iii). Sprache und Sprachwandel werden nicht mehr unabhängig vom
menschlichen Individuum gedacht, Sprache ist nicht mehr eine Organismusart biologistischer Manier, die sich parallel, aber unabhängig von der Spezies Mensch entwickelt, sondern ist selbst ein individueller psychischer Organismus in einem Individuum der Spezies Mensch.
. . . die sprache [ist] kein ding . . . das ausser und über dem menschen steht und ein leben für
sich führt, sondern nur im individuum ihre wahre existenz hat, und . . . somit [können] alle
Veränderungen im sprachleben nur von den sprechenden individuen ausgehen . . . (Osthoff/Brugmann 1878:xii)
Das Objekt der historischen Sprachwissenschaft wandelt sich also ganz erheblich.
Während Schleicher und die gesamte «ältere Sprachwissenschaft» (wie sie von
den «Jungen» genannt wird) mittels schriftlicher Dokumente die «Ursprache» abstrakt zu rekonstruieren suchen (was in dieser einfachen Formulierung Osthoffs
Schleicher nicht ganz gerecht wird, der mehrere Ursprachen annimmt; weshalb
präziser von der Rekonstruktion der «Protosprache» gesprochen werden sollte),
typologische Verwandtschaft dargestellt werden, sondern eine Streuung nach Zeit und Raum (cf.
Schuchardt 1928:190-93). Mit dem saussureschen zeitlich abstrahierenden Achsenkreuz von
Synchronie und Diachronie ist dieses Modell nur bedingt vergleichbar, da es Raum- und Zeitphänomene mischt (cf. auch Wunderli 1975:55-57).
33 Für eine gute, sehr knappe Zusammenfassung junggrammatischer Theoreme cf. Bartschat
1996a:13-32.
34 Die für die Junggrammatiker zentralen Begriffe «Causalität», «Übertragung» und «Differenzierung» finden sich z. B. in Scherer, GdS:viii-x.
35 Im großen und ganzen war Mäßigung jedoch bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Junggrammatiker untereinander oder mit der alten Schule nicht unbedingt an der Tagesordnung. So umschreibt z. B. Brugmann den herrschenden Ton in einem Artikel über Osthoff:
« . . . es wäre sicherlich nicht im Interesse der Wissenschaft gewesen, den bestehenden Gegensatz
der Anschauungen durch allzu konziliatorisches Entgegenkommen zu verdecken.» (Brugmann
1909:220). Cf. auch Streitberg 1919:145, 148 oder Brugmanns Rezension zu Marty, Steinthal und
Noiré (Brugmann 1877).
Bäume der Erkenntnis
19
richtet die «junge Grammatik» ihr Augenmerk auf die jüngeren Sprachen, die konkret, und das heißt mündlich, belegbar sind (cf. Osthoff/Brugmann 1878:iv s., viii).
Für Paul manifestiert sich darin der Übergang vom abstrahierten Objekt der
Sprachart (mit genealogischem Nexus) zu einem «realen Objekt» mit Kausalnexus:
Der Kausalzusammenhang bleibt verschlossen, solange man nur mit diesen Abstraktionen
rechnet, als wäre die eine wirklich aus der anderen entstanden. Denn zwischen Abstraktionen
gibt es überhaupt keinen Kausalnexus, sondern nur zwischen realen Objekten und Tatsachen
. . . Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind vielmehr sämtliche Äusserungen der
Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung aufeinander. (Paul, PS:24)
Diese Verschiebung innerhalb der paradigmatischen Ideen von Organismus (vom
Artorganismus zum psychischen Organismus) und Sprachspaltung ändert nichts
daran, daß der Wandel auch weiterhin grundsätzlich mechanisch-kausal gesehen
wird. Wo Schleicher neben einer inneren Kausalität des Sprachorganismus auch
eine äußere Kausalität entprechend dem evolutionären Anpassungszwang an die
Lebensumstände (survival of the fittest) am Werke sieht, die zur Spaltung der Sprachen und zu genealogischen Nexus führt, konzentrieren sich die Junggrammatiker
auf eine innere mechanische Kausalität des Lautwandels innerhalb einer Einzelsprache36. Die Kausal-Nexus des Lautwandels sind «mechanisch», insofern sie für
alle Sprecher einer Sprache einheitlich sind, also gerade zu keiner Sprachspaltung
führen:
Aller lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen gesetzen, d. h. die richtung der lautbewegung ist bei allen angehörigen einer sprachgenossenschaft, ausser dem fall, dass dialektspaltung eintritt, stets dieselbe, und alle wörter, in denen
der der lautbewegung unterworfene laut unter gleichen verhältnissen erscheint, werden ohne
ausnahme von der änderung ergriffen. (Osthoff/Brugmann 1878:xiii)37
Damit nehmen Osthoff und Brugmann die kantige Wissenschaftlichkeitsforderung von Leskien auf, der bereits zwei Jahre zuvor formuliert hatte, daß das Ein-
36 Darwins Theorie beinhaltet gleichermaßen die Vorstellungen von Diversifizierung und einer Art «bremsenden» Kontinuität: Aus der unendlichen Zahl individueller Variationen werden
selektionell nur einige herausgefiltert.
37 Die innere Kausalität der Radikalen Osthoff und Brugmann kehrt bei Paul gemäßigt als ein
Prinzip der Zweckmäßigkeit wieder. Das Gelingen der Kommunikation entscheidet über Lautkontinuität oder -wandel: «Die eigentliche Ursache für die Veränderung des Usus ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit. . . . Es wirkt dabei keine andere Absicht als die auf das
augenblickliche Bedürfnis gerichtete Absicht seine Wünsche und Gedanken anderen verständlich zu machen. Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwicklung des Sprachusus keine andere
Rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwicklung der organischen Natur nachgewiesen
hat: Die grössere oder geringere Zweckmässigkeit der entstandenen Gebilde ist bestimmend für
Erhaltung oder Untergang derselben.» (Paul, PS:32). Schleichers «Nothwendigkeit» als Teil des
Objektes wird also von Paul nicht gänzlich ad acta gelegt.
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geständnis von Abweichungen die Bankrotterklärung der Wissenschaftlichkeit sei
(cf. Ruzicka 1977:16).
«Sprachspaltung» findet nicht entlang der Unterschiede – und Gemeinsamkeiten – groß angelegter Sprachtypen statt, sondern bedingt durch das Postulat der
Ausnahmslosigkeit entlang einer Minimierung der Sprechergemeinschaft (bis hin
zum Individuum)38. Gerade für diese Konkretisierung und Individualisierung beruft man sich wiederum auf die Biologie:
Es ist zu verwundern, dass die Darwinisten unter den Sprachforschern sich nicht vorzugsweise auf diese Seite geworfen haben . . . Der große Umschwung, welchen die Zoologie in der
neueren Zeit durchgemacht hat, beruht zum guten Teile auf der Erkenntnis, dass nichts reale
Existenz hat als die einzelnen Individuen, dass die Arten, Gattungen, Klassen nichts sind als
Zusammenfassungen und Sonderungen des menschlichen Verstandes . . . Auf eine entsprechende Grundlage müssen wir uns auch bei der Beurteilung der Dialektunterschiede stellen.
Wir müssen eigentlich so viele Sprachen unterscheiden als es Individuen gibt. (Paul, PS:37)
Wo jedoch Darwins und Schleichers Augenmerk auf den immer feineren Verästelungen der Stammbäume ruht, legen die Junggrammatiker mehr Gewicht auf die
Kontinuität von Sprache (Osthoff/Brugmann) bzw. Kommunikabilität (Paul).
Hierein fügt sich die hohe Bedeutung, die letztere der Analogie als Mechanismus
lautlicher Entwicklung einräumen. Die Analogie als ein der unendlichen Diversifizierung gegenläufiger Mechanismus verhindert allzu feine Verästelungen oder
führt Zweige zusammen39.
Die Konzentration auf die Sprachindividualität und (psychische) Kausalität des
Sprachwandels – ein Vorzeichen des Überganges zur synchron orientierten
Sprachwissenschaft – bedingt, daß die Frage nach dem Sprachursprung nicht mehr
phylogenetisch gestellt werden kann und sich wandelt in die ontologische Frage
nach den allgemeinen Verursachungsfaktoren von Sprachwandel. Paul bezeichnet
sie dementsprechend als eine Frage der «Prinzipienlehre», denn die Frage, die sich
überhaupt nur beantworten läßt, heißt «Wie war die Entstehung der Sprache möglich?» (cf. Paul, PS:35). Obwohl Paul die Suche nach der Ursprache als illusorisch
bewertet, behält er dennoch die grundsätzliche Idee eines wurzelhaften Ursprun38 Schuchardt kritisiert diese Konsequenz der junggrammatischen Forderung nach Ausnahmslosigkeit treffend: «Selbst Delbrück steigt, um eine wirkliche Einheitlichkeit zu finden, innerhalb deren die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze gelte, zur Individualsprache herab, und
zwar zu deren Momentandurchschnitt. Ob diese Beschränkung des junggrammatischen Satzes
nicht eigentlich ihn aufhebt, oder wenigstens seinen praktischen Wert, das will ich nicht weiter
untersuchen . . . » (1928:59).
39 Ruzicka 1977:18 bezeichnet die Analogie deshalb als « . . . psychologische[n] Komplementärbegriff zum physiologisch-physikalischen Lautgesetz im Erklärungsmechanismus der
Junggrammatiker . . . ». Der junggrammatische Analogiebegriff kann jedoch meines Erachtens im
modernen Sinne nicht als «psychologisch» betrachtet werden – heute würde man die Bedeutung
der Analogie hauptsächlich mit ihrem Nutzen begründen, daß sie eine «psychische», d. h. eine
memorielle Überlastung des Sprechers verhindert. «Psychologisch» ist er nur, insofern er ein Pendant zu den mechanischen, diversifikativen Lautgesetzen ist (cf. Osthoff/Brugmann 1878:xiii s.).
Bäume der Erkenntnis
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ges bei. Dieser wird nun in der zweiseitigen Seinsweise des Zeichens (Laut und
Bedeutung) gesehen. Da diese Bindung der beiden Seiten keinem «Kausalzusammenhange» folgt, und insofern Laut- und Bedeutungsverschiebungen ermöglicht,
ist sie die Wurzel des Sprachwandels: «Die uranfängliche Zusammenknüpfung von
Laut und Bedeutung . . . [können] wir als Urschöpfung bezeichnen . . . Mit dieser
hat natürlich die Sprachentwicklung begonnen, und alle anderen Vorgänge sind
erst möglich geworden auf Grund dessen, was die Urschöpfung hervorgebracht
hat.» (Paul, PS:35).
Die Grundidee des Baumes bleibt damit auch bei den Junggrammatikern erhalten – wenn nicht als (biologistische) organische Metapher organischer Artenentwicklungen wie bei Schleicher, so doch in der Idee des Abstraktums Urschöpfung (Zweiseitigkeit des Zeichens) und Kausalnexus – ebenso die Darwinsche
Idee der Selektion als «Schnittmeister» des Baumes (in Form der Bedingung der
Kommunikabilität).
3. Der Übergang vom genealogischen Baum zum systemhaften Raster.
Gabelentz
Eine versöhnliche Synthese von Sprachgenealogie und junggrammatischer
Sprachvorstellung (sowie deren Weiterentwicklung hin zu einer «allgemeinen
Sprachwissenschaft») findet sich an der Schwelle zur modernen Linguistik bei Gabelentz40. Er würdigt einerseits die historische Sprachbetrachtung, wie sie Schleicher vertritt, als Erforschung der Entwicklung eines Individuums (der Baum als
Organismus: « . . . die Genealogie der Sprachen [stellt] nicht Reihen verschiedener
Individuen dar . . . , sondern verschiedene Entwicklungsphasen ein und desselben
Individuums.» [Gabelentz, SprW:9s.]) – nicht ohne zu kritisieren, daß es die
Sprachwissenschaft im Grunde nicht nötig gehabt hätte, sich dabei derart laut auf
Darwin zu berufen41, und nicht ohne zu betonen, daß diese diachrone nur eine
mögliche Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft sei. Wie Paul, Osthoff und
Brugmann sieht Gabelentz die Sprache nämlich als «geistleibliche Function des
Menschen» (Gabelentz, SprW:14) und knüpft damit in drei Punkten an die Junggrammatiker an. Erstens könne immer nur der Wandel eines Subsystemes einer
Sprache (Wortschatz oder Grammatik oder Lautlehre etc.) beschrieben werden,
Cf. Bartschat 1996b, Coseriu 1967.
«Eine seltsame Einseitigkeit war es, die Sprachwissenschaft den Naturwissenschaften einreihen zu wollen . . . als nun vollends Charles Darwin mit seiner epochemachenden Theorie hervortrat, da streckte ihm selbst ein ernsthafter Linguist wie August Schleicher die Bruderhand
entgegen . . . Mit den Begriffen der Entwickelung, der Artentheilung u. s. w. haben wir Sprachforscher hantiert, lange ehe man etwas von Darwin wusste, und Übergangsformen wussten wir
zu Tausenden aufzuweisen, lange vor der Entdeckung des fossilen Hipparion und des Archaeopteryx. Bei den Naturforschern brauchen wir also vorläufig nicht zu Tische zu gehen . . . » (Gabelentz, SprW:15).
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nicht die Entwicklung einer gesamten Sprache – wie dies die genealogischen
Stammbäume der alten Indogermanistik tun42. Zweitens sei eine Konzentration
auf die «Zweigforschung» [!], das heißt eine Spezialisierung auf slawische, romanische etc. Sprachen, zugleich auf jüngere, lautlich belegbare Sprachen, für die Linguistik gerechtfertigt. Die Ursprache dürfe allenfalls «Erkenntnisquelle», nicht
aber «Erkenntnisziel» sein (Gabelentz, SprW:175). Drittens sei die Analogie als
Regel zur «Vereinfachung und Bequemlichkeit» ein wichtiges Prinzip des Sprachwandels (und bei den Junggrammatikern ein gesundes «seelisches» Korrektiv zu
mechanischen Anschauungen) (p. 210s.).
Gleichzeitig jedoch kritisiert er im Einklang mit seiner Betonung des synchronen individuellen und gemeinschaftlichen «Sprachgefühls» das junggrammatische
Dogma von prinzipiell gleichbleibender Aussprache und der Ausnahmslosigkeit
des Lautwandels, indem er zu bedenken gibt, daß die Lautrealisierungen innerhalb
eines gewissen Spektrums variieren können, ohne die Äußerung unverständlich
werden zu lassen (Gabelentz, SprW:186-89, 191). Überdies legitimiere die «geistleibliche Funktion» der Sprache, sie als ein synchrones, in sich geschlossenes
organisches System, dessen Teile in Wechselwirkung und «ursächlichem Zusammenhange» zueinander stehen (p. 17), zu betrachten: «Beide [organischer Körper
und Sprache] sind in jeder Phase ihres Lebens (relativ) vollkommene Systeme, nur
von sich selbst abhängig; alle ihre Teile stehen in Wechselwirkung . . . » (p. 9), « . . .
denn das Gleichzeitige muss ja organisch zusammenhängen.» (p. 168). Bei Gabelentz kehrt damit eine Vorstellung wieder, die Darwin bereits im Zusammenhang
mit den Schichten seines Tree of Life als verschiedene Verwandtschaftsgrade von
Spezies zu einem bestimmten Zeitpunkt, bzw. als Abhängigkeitsrelationen einzelner Spezies innerhalb eines gemeinsamen Lebensraumes formuliert hat.
In seinem versöhnlichen Blick auf die beiden diachronischen Sprachwissenschaften des 19. Jahrhunderts zeigt sich bei Gabelentz schon die Vorbereitung
eines neuen sprachwissenschaftlichen Paradigmas. Wo bislang noch der genealogische (Darwin, Schleicher) oder der kausale Nexus (Osthoff/Brugmann) geschichtliche Strukturbäume wachsen ließ43, ergänzt Gabelentz bereits die synchrone Dimension von Sprache als «organisches System» als zweite und unabdingbare methodologische Perspektive (eine Dichotomie, die bei Saussure wiederkehrt44):
Beide Forschungszweige verhalten sich zu einander gegensätzlich und sich ergänzend . . . Die
einzelsprachliche Forschung erklärt die Sprachäusserungen aus dem jeweiligen Sprachvermögen und thut sich genug, wenn sie dieses Vermögen . . . in seinem inneren Zusammenhan-
42 Cf. Gabelentz, SprW:169. Wie Darwin («Natura non facit saltum», 1888:156) geht Gabelentz davon aus, daß Veränderungen nicht in großen «kreativen» Schritten geschehen (Gabelentz, SprW:169).
43 Gabelentz versäumt es nicht, neben Schleichers Stammbaumtheorie auch die Wellentheorie zu Wort kommen zu lassen (Gabelentz, SprW:163ss.).
44 Cf. de Saussure, EC I:174-227.
Bäume der Erkenntnis
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ge systematisch begreift. . . . Wie und warum jenes Vermögen und dieses Gefühl so geworden,
begreift sie nicht. Dagegen will die Sprachgeschichte als solche eben weiter nichts als dies erklären. (Gabelentz, SprW:140)
Der Organismus-Begriff kehrt in diesem Zusammenhang bei Gabelentz sowohl in
seiner diachronen Deutung als «Stammbaum» wieder45 als auch in seiner synchronen Deutung als «psychischer» und (was die Schwelle zur Moderne kennzeichnet) «systematischer» Organismus. Obwohl mit dem Organismus-Begriff
noch dem alten Stammbaum-Paradigma verhaftet, bereitet sich mit der Hinzuziehung der Synchronie der Übergang des Baumes zum binären Raster vor.
Düsseldorf
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45 «Nichts gleicht einem Organismus mehr als die menschliche Sprache. Alles in ihr steht in
ursächlichem und zwecklichem Zusammenhange; sie hat ihr Formprinzip . . . sie entwickelt sich
nach inneren Gesetzen, zuweilen auch nach äusseren Einwirkungen, krankt, altert, stirbt wohl
auch . . . den Kampf ums Dasein hat auch sie gelegentlich zu bestehen . . . Dagegen gibt es eine
Macht, die der Naturforscher als solcher nie begreift, mit der nur der Historiker zu rechnen versteht: die Macht des Individuums.» (Gabelentz, SprW:17).
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