9783429033958 - Echter Verlag

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9783429033958 - Echter Verlag
Klaus W. Hälbig
Der Baum des Lebens
Kreuz und Thora
in mystischer Deutung
echter
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fingerzeig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung
Kreuz und Thora
Zum Verhältnis von Gesetz und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Thora und Tempel als Ort der Ein-wohnung
des Wortes Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der göttliche Heilsplan im Spiegel des
hebräischen Alphabets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Vergeistigung und Universalisierung der vier zentralen
jüdischen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Das Bild vom Baum und vom Wasser des Lebens
in der einen Ursprungs-Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die Einheit der Schrift und die vier Schriftsinne . . . . . . . . . . .
6. Der Gerechte als immer fruchtbringender Baum des Lebens . .
I. Der Baum des Lebens
Kreuz und Thora in mystischer Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die christliche Erlösungskonzeption in Taufe und
Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Auslegung des ursprünglichen Gotteswortes
der Schrift im Geist Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Das Paradies der Schrift und der vierfache Schriftsinn . . . . . .
4. Das weiße Lichtgewand der Taufe als Symbol
der Erleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Das mystische Schriftverständnis als Liebesverhältnis
zur Thora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Der Gekreuzigte als Mitte eines mystischen
Schriftverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Die Deutung der Thora mit Hilfe der Zahlensymbolik
als fünfte Sinnschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Schöpfung im Wort und im Zeichen des Kreuzes
Der Weg der Einswerdung durch das Alphabet
der Buchstaben-Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Das Kreuz als Prägemal der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Lesbarkeit von Schöpfung und Offenbarung und
die neue Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Der Traktat „Vom Mysterium der Buchstaben“ . . . . . . . . . . . .
4. Der Weg der Einswerdung vom 6. Tag (Freitag)
zum 8. Tag (Sonntag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Der geisterfüllte Sohn ist der Weg zum Vater . . . . . . . . . . . . . .
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III. Himmel – Herz – Heiligtum
Glaube als Reinigung und Heilung des inneren Auges . . . . . . . . .
155
1. Die 1–4-Struktur des Herzens und des Tempels . . . . . . . . . . .
2. Der irdische Tempel als Abbild des Heiligtums
des Himmels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Zahlensymbolisch: Die Vermessung des Tempels . . . . . . . . . . .
4. Jesu Tempelreinigung als Dämonenaustreibung . . . . . . . . . . . .
5. Die Heilung der Augen des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Die Beschneidung am Kreuzbaum zur wahren
Fruchtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Das geöffnete Herz des gekreuzigten Erlösers . . . . . . . . . . . . . .
8. Das Herz Mariens als Ort der Fleischwerdung und
himmlisches Heiligtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Der Gerechte ist wie ein Baum des Lebens
Die Passion des Hiob als Weg zur seligen Gottesschau . . . . . . . . .
1. Hiobs Auseinandersetzung mit dem ‚Feind‘ Tod und
das Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der Bund der Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die drei Freunde Hiobs als Symbole der drei Dimensionen
des inneren Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die drei Töchter Hiobs als Symbole der Schönheit
des Lebens im Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die göttliche Frucht als Sinn des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Der Heilige als wahrer Ausleger der Heiligen Schrift
Franziskus in der Geschichtsdeutung des hl. Bonaventura . . . . . .
1. Geschichtstheologie bei Augustinus und Joachim von Fiore . .
2. Mystisches Schriftverständnis als kontemplativer
Wandlungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Bekehrungs- und Berufungserfahrung des Franziskus . . .
4. Die Taufe als Versiegelung mit dem Taw-Kreuz . . . . . . . . . . . .
5. Die Hochzeits-Symbolik von Kupfer-Schlange und
Chi (= X) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Rot – Grün – Weiß
Der Weg der Einswerdung im Spiegel der Farben . . . . . . . . . . . . .
1.
2.
3.
4.
Der Lichtcharakter der Farben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Farbsymbolik der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Farbsymbolik in der jüdischen Mystik . . . . . . . . . . . . . . .
Josef von Ägypten: der Mensch des 6. Tages und
Typos des Gekreuzigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die Grünkraft des Heiligen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Die Hochzeit des Lichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Das Mysterium der Wandlung des Gekreuzigten
am ‚grünen‘ Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII. Das Opfer des Osterlammes
Mysterium Crucis: Ursprungs-Mitte als
Gegensatz-Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Jüdische und islamische Kritik am Kreuz als
Gotteslästerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Das Opfer Abrahams als Stiftung des göttlichen Kultes . . . . . .
3. Das Sehen Gottes in Glauben, Hoffnung und Liebe . . . . . . . .
4. Auf der Suche nach einem mystischen Gottesbild für heute . . .
5. Die Ursymbolik des Kreuzes in der heiligen Mitte der Welt . .
6. Die unterschiedlichen Offenbarungskonzeptionen
in Christentum und Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Der gekreuzigte Logos als Ursprungs-Mitte und
Gegensatz-Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Der Sinn von Kreuz und Thora hat sich in der einseitig am äußeren Literalsinn orientierten Schriftauslegung in der Neuzeit mehr und mehr verdunkelt. Der jüdische Religionsphilosoph, Theologe und Mystiker Abraham Joshua Heschel (1907–1972), Nachfolger Martin Bubers am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main, beklagte in seinem Aufsatz „Der
einzelne Jude und seine Pflichten“, dass in der jüdischen Tradition der
Geist diskreditiert worden sei: „Alle wissen, dass Judentum eine ‚Last‘ ist.
Wer aber weiß noch, dass es auch ‚Freude im Geist und das Paradies der
Seele‘ ist, dass ‚der Sabbat ein Vorgeschmack der kommenden Welt‘
ist? (…) Wir haben versagt, weil es uns nicht gelungen ist, das Unwägbare zu vermitteln, die Augen des Herzens zu öffnen, das Licht der Tora aus
seiner Umhüllung zu befreien. Wir haben das Auge nicht gepflegt … Wir,
die Lehrenden, haben wenig Glauben. Wir umgehen die Probleme, wir
dringen nicht ins Zentrum.“ Was Heschel vor über fünfzig Jahren für die
jüdische Theologie beklagte, gilt nicht minder für die christliche. Auch
hier wurde versäumt, nach dem inneren oder geistigen Sinn von Kreuz
und Heiliger Schrift zu fragen, wie es für die Alte Theologie noch selbstverständlich war. Erst in jüngster Zeit beginnt die Bibelwissenschaft, sich
auch für diese innere Geist-Dimension der Schrift zu öffnen.
Der Titel dieses Buches nimmt die geistige Deutung des Kreuzes als paradiesischer Baum des Lebens auf, was aber angesichts des beklagten Defizits insofern noch nicht viel besagt, als die bildhafte Rede der Bibel vom
Paradiesgarten überhaupt weithin unverständlich geworden ist: Was sollen die zwei Bäume in der einen ‚Mitte‘ des Gartens, der ‚Baum der Erkenntnis von Gut und Böse‘ und der ‚Baum des Lebens‘ (Gen 2,9), denn
bedeuten? Was hat es damit auf sich, dass der Baum des Lebens von den
‚Cherubim mit dem lodernden Flammenschwert‘ bewacht und der
Mensch aus dem umgrenzten Hain vertrieben wird, damit er nicht auch
noch davon esse (Gen 3,11.22.24)? Und wie hängt die Übertretung des
göttlichen Verbots, vom Erkenntnisbaum zu essen – theologisch die Ursünde Adams – mit der Erlösung dieser Ursünde im Kreuzestod des zweiten
Adam Jesus zusammen? Inwiefern eröffnet ausgerechnet der schreckliche
Sklaventod am römischen Schandpfahl am Karfreitag das Tor zum Paradies und zum Leben wieder neu (Lk 23,43)? Und heißt es nicht auch schon
an Weihnachten im Kirchenlied (Gotteslob Nr. 134.4): „Heut’ schließt er
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wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr
dafür (= davor), Gott sei Lob, Ehr und Preis“? Hat auch Weihnachten
schon mit dem Kreuz, mit der Hingabe Gottes und so mit Tod und Leben
zu tun? Der Mystiker der Barockzeit, Angelus Silesius (Johannes Scheffler), dichtet in einem seiner geistlichen Epigramme: „Eins ist des andern
End und auch sein Anbeginn: / Wenn Gott geboren wird, so stirbet Adam
hin“ (Cherubinischer Wandersmann IV, 116).
In einer am äußeren Literalsinn hängenbleibenden Deutung stellte sich
(noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts!) auch die Frage, ob Gott
Adam und Eva, da beide nicht auf dem natürlichen, genealogischen Weg
von Zeugung und Geburt in die Welt kamen, sondern aus der ‚Erde‘ bzw.
der ‚Rippe‘ gestaltet wurden, nachträglich einen Bauchnabel (als ‚Mitte‘)
angeschaffen hat. Die Frage erscheint heute grotesk, aber inzwischen wird
allgemein eher nur noch persiflierend über die biblischen Ursprungs-Erzählungen gesprochen, so wenn der Sündenfall als „kulinarische Verfehlung“ karikiert wird, als „Naschen vom Erkenntnisobst“ oder als „kleiner
Obstdiebstahl“ (R. Dawkins). Und wen wundert es, dass gegen die Präsenz des Kreuzes in Schulen und im öffentlichen Raum protestiert wird,
wenn selbst die Theologie nicht mehr plausibel machen kann, warum Heil
und Erlösung unlösbar mit einem grausamen Straf- und Marterwerkzeug
verbunden sein sollen. Der evangelische Theologe Ulrich Luz gesteht hinsichtlich des Sinns dieses Kreuzestodes unumwunden ein: „Hier tappen
wir im Dunkeln. Das Dunkel ist darum so groß, weil das frühe Christentum ein außerordentlich großes Interesse hatte, den Tod Jesu kontrafaktisch zu deuten, also nicht als Ende und als Katastrophe, sondern als von
Gott gewollt und als Grund von Heil.“
Will man also den Sinn des Kreuzes als Grund von Heil und damit untrennbar verbunden auch den Sinn der ‚Ursünde‘ als Grund von Unheil
und den Sinn der Thora bzw. der Bibel als Wort Gottes insgesamt erhellen, dann muss ein Weg der Deutung und Erschließung beschritten werden, der wieder an die mystische Tradition in der christlichen und jüdischen Theologie anknüpft, der es vornehmlich um den inneren, geistiggeistlichen Schriftsinn im Gegenüber zum äußeren Literalsinn mit seinen
vielfältigen Entwicklungsstufen ging.
Buchstäblicher und mystischer Sinn des Wortes Gottes
Sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Mystik, der Kabbala,
entsprechen nun aber der innere und der äußere Sinn der Heiligen Schrift
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den beiden Bäumen bzw. ihren Früchten im Paradies (der Schrift). Dieser
Befund wirft ein ganz neues Licht auf die alte Frage, was die biblische
Rede von der Ursünde und – davon abhängig – der Erlösung am Kreuz
eigentlich besagt. Dies umso mehr, als beide Sinndimensionen der Schrift
biblisch ihre Entsprechung nicht nur in den beiden Bäumen, sondern
auch in den beiden Seiten des menschlichen Lebens haben: der himmlischen Geistseite (Geistseele) jenseits des Bewusstseins und der irdischen
Leibseite (Leibseele) als diesseitige Wirklichkeit. Das Geistige gilt dabei
auch als ‚männlich‘ (hebr. sachar bedeutet er-innern und männlich), das
Leibliche als ‚weiblich‘. Mann und Frau als Bräutigam und Braut sowie die
beiden Bäume verkörpern somit jeweils die Innen- und Außenseite der
Schrift als Wort Gottes, aber auch der geschöpflichen Wirklichkeit durch
dasselbe Wort Gottes. Die lebendige Gegensatz-Einheit, auf die beide Seiten hin geschaffen sind, wird dabei symbolisiert in der Mitte bzw. in der
Hochzeit als ‚Mitte des Lebens‘: „Hochzeiten empfindet das Volk immer
als die eigentliche Mitte des Lebens, und feiert sie so“ (E. RosenstockHuessy).
Der Mensch als männlich-weibliche oder geistleibliche Gegensatz-Einheit
wird in der Bibel als Bild Gottes bezeichnet und von der Tierwelt (den Entwicklungskräften und Trieben des Körperlichen) unterschieden, die er
durch einen herrschaftlichen Akt der ‚Namensgebung‘ übersteigt
(Gen 1,26–28; 2,19 f). Von diesem Bild-Gottes-sein des Menschen her hat
für die Kabbala auch Gott selbst zwei gegensätzliche Seiten: seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit oder strafendes Gericht und vergebende
Gnade. Im kabbalistischen Symbol-System des Sefiroth-Baumes, der auch
den Adam Kadmon oder den ursprünglichen (himmlischen) Menschen als
Bild Gottes darstellt, werden die zwei Seiten oder Erscheinungsweisen
Gottes in zehn Urkräften dargestellt, verteilt auf drei vertikale Dimensionen: je drei Eigenschaften auf der rechten (‚männlichen‘) Gnaden-Seite
und auf der linken (‚weiblichen‘) Gerichts-Seite sowie vier auf der einen
(‚männlich-weiblichen‘) Mittelachse. Einer der bedeutendsten Kabbalisten, Isaak Luria (1534–1572), sieht in der rechten Seite den Lebensbaum
und in der linken den Erkenntnisbaum verkörpert. Im Sohar (Ende
13. Jh.), dem kabbalistischen Hauptwerk, symbolisiert die mittlere der
zehn Urkräfte, die Sefira Tifereth (Herrlichkeit), den Baum des Lebens,
während die zehnte, unterste ‚weibliche‘ Sefira Malchuth (Königtum, Königreich) für den Baum der Erkenntnis steht.
So oder so bilden die beiden Bäume die gegensätzlichen Seiten in Gott,
davon abgeleitet dann auch in der Schöpfung und insbesondere im männ11
lich-weiblichen oder geistleiblichen Menschen. Dessen Geschlechter-Gegensatz ist im Symbol der Mittelachse des Baumes zur Einheit verbunden:
Tifereth und Malchuth verhalten sich wie Bräutigam und Braut; ihre Einheit bedeutet entsprechend eine (innergöttliche) ‚Hochzeit‘. Das göttliche
Verbot an Mann und Frau im Paradies, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,17), wird daher von den Kabbalisten so verstanden, „dass keine
der Eigenschaften Gottes von den übrigen abgetrennt werden darf“, ist
doch Gott die „lebendige Einheit der Gegensätze“ (D. Krochmalnik).
Der Verstoß gegen das Speiseverbot bedeutet nun aber nicht eine Auflösung der Gegensatz-Einheit Gottes selbst, sondern die des männlichweiblichen Menschen als Bild Gottes und der geistig-sinnlichen Schrift
als Wort Gottes. Der geistleibliche Mensch wird durch das Essen der
Baumfrucht einseitig irdisch oder sterblicher Leib, während seine himmlische Seite oder unsterbliche Geist-Seele für ihn selbst jenseitig wird. In der
christlichen Theologie wurde daraus die Lehre von der Erbsünde als der
unentrinnbaren Macht der Sünde in der Welt: Der irdisch gewordene
Mensch, dessen Herz nicht mehr zu Gott erhoben, sondern gefallen, verschlossen und verhärtet ist, kann nicht nicht sündigen (Röm 8,7). Er ist
sich selbst vollkommen entfremdet und fremdbestimmt, baut nach außen
schöne Fassaden auf, aber ohne wahren inneren Persönlichkeitskern (was
Jesus ausgerechnet den Thoragelehrten vorhält – Mt 23,27 f). Deshalb
steht der Mensch jenseits von Eden unter dem ‚Zorn‘ und ‚Eifer‘, dem
Strafgericht Gottes, statt unter der göttlichen Gnade (vgl. Röm 1,18; Eph
2,1–5).
Jenseits von Eden ist die Welt nicht mehr eindeutig als das Werk eines allwissenden und allmächtigen, allgütigen und allheiligen Gottes erkennbar,
sondern sie wird durchgängig ambivalent erfahren. Diese Ambivalenz als
Folge der Vereinseitigung oder einseitigen Verstärkung der diesseitigen
Leib-Seite zeigt sich insbesondere bei der Sexualität des Menschen, aber
auch in seiner Sprache und damit seinem Verständnis von Gottes Off enbarung. Sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Theologie
wurde der Sündenfall sexuell gedeutet, was heute unter Hinweis auf das
Geschaffensein der Sexualität kritisiert wird. Tatsächlich muss der geschlechtlich bestimmte Leib von der Sünde unterschieden werden, wie die
Fleischwerdung des Schöpferwortes in Jesus Christus deutlich macht. Zugleich aber gilt es zu sehen, dass die Sexualität von Mann und Frau, wie
sie den am sechsten Tag (lat. sex = 6) erschaffenen Menschen charakterisiert, ursprünglich verbunden ist mit einer bestimmten Form der Spiritualität als Weg der Einswerdung in der Liebe und entsprechend wieder über12
formt werden muss. Denn der Schöpferauftrag „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) zielt nicht bloß auf ein irdisches Wachstum, sondern
auf die Frucht des ewigen Lebens in der Auferstehung, wie zu zeigen sein
wird.
Jesus, wie ihn das Neue Testament darstellt, verkörpert diesen Weg der
Einswerdung zum ewigen Leben (vgl. Joh 14,6; 17,11), weshalb sein irdisches Leben auch nicht auf genealogische Weise begonnnen wird. Vielmehr wird er (wie Adam im Paradies) jungfräulich gezeugt und geboren
(Lk 1,34; vgl. Joh 1,13), so wie er als der ‚neue Adam‘ und Stammvater eines
‚neuen Menschengeschlechts‘ die Menschheit durch die Taufe als ‚Zeugung / Wiedergeburt‘ im Wasser und im Heiligen Geist zum Leben führt
(Mt 28,19 f; Apg 3,15). Gewiss spielt so Jesu ‚biologische‘ Männlichkeit keine Rolle, wie heute von Befürwortern der Frauenordination betont wird:
die Incarnatio ist keine ‚Mann-werdung‘ oder Immasculatio (O. Keel).
Aber als der neue Adam, in dem der ‚männlich-weibliche‘ Mensch das Ziel
seiner Erschaff ung in der ‚hochzeitlichen‘ Einheit mit sich und mit Gott
erreicht, ist er der totus Christus: „Bräutigam nennt er sich als Haupt,
Braut als Leib“ (Augustinus).
Im Hinblick auf diesen Bräutigam, der in seiner Inkarnation das Fleisch
der Menschheit als Braut annimmt, kommt es daher sehr wohl auf die spirituelle Männlichkeit Jesu an. Denn die ‚reine‘, ‚makellose‘ Braut „ohne
Flecken und Altersrunzeln“ (Eph 5,27) existiert ja nicht schon auf Erden,
sondern sie muss am Kreuz erst aus seiner geöffneten Seite in den sakramentalen Zeichen von Blut (Eucharistie) und Wasser (Taufe) geschaffen
werden (Joh 19,34; 1 Petr 2,9), so wie Eva aus dem ersten Adam gleichsam
als Heiligtum ‚gebaut‘ wird (Gen 2,22). Auf diese sakramentale Weise als
Teilhabe an Tod und Auferstehung Jesu wird die Sexualität überformt
durch eine Spiritualität, die ihren höchsten Ausdruck in der Eucharistie
findet als „Sakrament des Bräutigams und der Braut“, wie Benedikt XVI.
in seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben zur Eucharistie Sacramentum Caritatis (27) sagt.
Die Eucharistie ist „Lebensmitte“ der Kirche und gewährt einen „Vorgeschmack der eschatologischen Erfüllung“, zu der „jeder Mensch und die
ganze Schöpfung unterwegs ist“ (ebd. 30). Jede Feier der Eucharistie ist
„Vorwegnahme jener ‚Hochzeit des Lammes‘ (Off b 19,7–9), die das Ziel
der gesamten Heilsgeschichte ist“ (81). „Im gekreuzigten und auferstandenen Christus können wir wirklich die alles vereinende Mitte der gesamten
Wirklichkeit feiern“ (64). In dem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil herausgebrachten Bändchen „Klarstellungen – Zur Prüfung der Geis13
ter“ deutet Hans Urs von Balthasar die Eucharistie direkt als Vollzug der
Hochzeit von Christus und der Kirche „auf höherer Stufe“: Was, so die
rhetorische Frage des Baseler Theologen, „ist Christi Eucharistie anderes
als – auf höherer Stufe – ein endloser Akt fruchtbarer Ergießung seines
ganzen Fleisches, wie ihn der Mann nur einen Augenblick lang mit einem
beschränkten Organ seines Leibes vollziehen kann?“
In der christlichen Tradition wird der eucharistische ‚Leib Christi‘ zugleich als himmlische Paradiesspeise gesehen, die das die Sterblichkeit bewirkende Essen vom Baum der Erkenntnis umkehrt und zurückführt
zum unsterblichen Leben oder zum himmlischen Leib als der vollendeten
Gegensatz-Einheit. In der syro-antiochenischen Liturgie heißt es daher
bei der mit der Taufe verbundenen Erstkommunion: „Die Frucht (vom
Baum des Lebens), die Adam niemals im Paradies gekostet hat, wird heute mit Freuden in deinen Mund gelegt.“ Wie der paradiesische Baum des
Lebens in der Mitte des Gartens schon sakramentalen Charakter hat, so
ist das Kreuz nicht verstehbar ohne das Sakrament der Eucharistie als seiner eigentlichen Heilsfrucht.
Die kabbalistische Vorstellung von der ‚Hochzeit‘ als Einheit der Gegensätze auf der Mittelachse des Sefiroth-Baumes und die christliche Vorstellung von der ‚Hochzeit des Lammes‘ am Kreuz als Himmel und Erde verbindender Lebensbaum in der Mitte zwischen der Seite des Gerichts und
der Seite der Gnade (des reumütigen Verbrechers, dem das Paradies als eschatologische Erfüllung verheißen wird – Lk 23,43) haben nun aber offensichtlich eine sehr große Ähnlichkeit miteinander. Wie für die Kabbala
der Baum des Lebens Symbol für die Thora als Wort Gottes in seinem
mystischen Verständnis ist, so ist in christlicher Sicht der Gekreuzigte das
ewige Wort, die himmlische Weisheit oder die lebendige Thora in Person.
Das Essen vom Erkenntnisbaum bedeutet dann aber auch, dass das eine
Wort Gottes nur dem äußeren Literalsinn nach betrachtet in eine Vielzahl
von einzelnen Schriften und Entwicklungsstufen ohne innere Mitte und
Einheit zerfällt.
An sich hat das Gesetz (Thora), das Mose als Gottes Wort und Weisung
empfängt, den Sinn, dem Menschen Gottes Barmherzigkeit und darin die
ihm ursprünglich zugedachte Frucht des ewigen Lebens zu erschließen.
Durch die Ursünde aber verkehrt sich die Thora des Lebens in ein den Tod
als gerechte Strafe verhängendes Strafgesetzbuch über die Sünde. Paulus
spricht von einer Verhüllung der Thora (Heschel von einer ‚Umhüllung‘,
s. o.), der eine Verhüllung oder Verhärtung des Herzens und Denkens entspricht (2 Kor 3,13–15). Erst in der Zuwendung zum Herrn (V 16), zum ge14
kreuzigten Wort Gottes, wird die äußere (Leib-)Hülle entfernt und die innere Geistdimension der Thora oder das Leben Gottes erschlossen, das
heißt konkret im eucharistischen Leib Christi als Brot (bzw. Erde) des
Himmels.
Dieses durch die Wort-Gottes-Feier, den ersten Teil der hl. Eucharistie,
und im „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Off b 19,9) mitgeteilte Leben besteht in der mystischen (‚hochzeitlichen‘) Einheit mit dem einen Gott durch
sein eines Wort und zugleich in der Einheit des geistleiblichen, männlichweiblichen Menschen mit sich selbst, der nicht mehr einseitig seiner irdischen, sterblich gewordenen Leibseite oder dem Fleisch bzw. seinen Begierden folgt: „Alle, die zu Jesus Christus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“ (Gal 5,24; vgl.
Röm 7,5 f; 8,2–14). Gekreuzigt heißt auch ‚getötet‘, dies aber in dem Sinn,
dass das horizontale irdische Leben, das unbeschnitten ‚tot‘ oder geistig
unfruchtbar ist (Kol 2,13), geistig zu beschneiden ist, indem es in der Kraft
des am Kreuz überlieferten Schöpfergeistes in die vertikale himmlische
Gottesbeziehung kreuzförmig re-integriert oder spirituell überformt wird.
Der Patrologe Lars Thunberg sagt in Man and the cosmos (1985) mit Bezug
auf Maximus Confessor, den wichtigsten Theologen des 7. Jahrhunderts:
„When the Apostle [Paulus] says that in Jesus Christ there is ‚neither male
nor female‘ [Gal 3,28], this means that He has conquered the passions and
subordinated the forces of man under the logos of his nature – and that is
exactly a true mediation between the sexes. (…) He recapitulated in
Himself all things, showing that the whole creation is one …“ Von den
Leidenschaften wird der Zorn (thumos) dem Männlichen und die Begierde (epithumia) dem Weiblichen zugeordnet; die Sexualität gilt bei Maximus wie überhaupt bei den Kirchenvätern als „symbol par excellence of the
life of passions“.
Man hat darin eine gewisse Abwertung der Sexualität gesehen. Doch hat
die mystische Tradition sich davor gehütet, irdische und himmlische Liebe, Eros und Agape, gegeneinander auszuspielen. Das natürliche Begehren
ist nicht mit der ‚Begierde der Welt‘ (1 Joh 2,15–17) gleichzusetzen, sondern
in ihm lebt die Hoffnung „voll Unsterblichkeit“ (Weish 3,4) auf die „Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,23). Erst wo Glaube und Hoffnung fehlen,
wird das natürliche Begehren zum ungeordneten Streben (concupiscentia),
das im Endlichen unendliche Erfüllung sucht, und in der Folge zur Sucht
in vielerlei Spielformen.
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