Kämpferische Friedensrhetorik

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Kämpferische Friedensrhetorik
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Kämpferische Friedensrhetorik
Neuordnung der Welt: Die britisch-amerikanische Atlantikcharta vom August 1941
Karlheinz Weißmann
Am 12. August 1941 trafen sich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische
Premierminister Winston Churchill an Bord des Schlachtschiffs „HMS Prince of Wales“ vor
der Küste Neufundlands. Drei Tage berieten sie unter strengster Geheimhaltung über
verschiedene Aspekte der politischen Lage. Themen gab es genug. Das zweite Kriegsjahr
ging zu Ende und die Frage der weiteren Unterstützung Großbritanniens durch die USA
spielte eine entscheidende Rolle. Trotz formaler Neutralität hatte Washington von Anfang an
auf der Seite Londons gestanden. Die Vereinigten Staaten lieferten kriegswichtige Güter im
großen Maßstab, und seit der Verabschiedung des Lend-Lease Act mit Großbritannien vom
Februar des Jahres war für die Unterstützung auch ein formaler Rahmen geschaffen.
„Vernichtung der Nazityrannei“ als Ziel
Nach Ende der Zusammenkunft, am 14. August, wurde die sogenannte „Atlantikcharta“
veröffentlicht. Es handelte sich dabei um kein völkerrechtlich verbindliches Dokument,
sondern um eine Absichtserklärung, in der die gemeinsamen Kriegsziele der beiden Mächte
fixiert waren. Ein Sachverhalt, der wegen des Datums von besonderem Interesse ist, da
Roosevelt vier Monate vor Kriegseintritt ganz unumwunden zugab, daß es den USA wie
Großbritannien um nichts anderes als die „Vernichtung der Nazityrannei“ ging. Keine andere
Achsenmacht, weder Italien noch Japan, kamen ausdrücklich im Text vor. Diese Fixierung
auf Deutschland entsprach den politischen Präferenzen Churchills wie Roosevelts. Beide
hatten ihre politischen Lehrjahre schon vor dem Ersten Weltkrieg absolviert und pflegten
ausgesprochen antideutsche Affekte. Seit Mitte der dreißiger Jahre hielt der eine wie der
andere einen Konflikt mit dem Reich für unvermeidlich. Roosevelts „Quarantänerede“ von
1937, in der er jedem, der die Ruhe der „westlichen Hemisphäre“ störte,
Vergeltungsmaßnahmen androhte, war ein Indiz dafür, genauso wie die Bemühungen
Churchills – zu diesem Zeitpunkt ohne Amt – um eine „Grand Alliance“, das heißt ein
Bündnis von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion, das es erlauben sollte, auf dem
Kontinent ein von London kontrolliertes „Gleichgewicht“ zu schaffen.
Dementsprechend hatte Churchill seit dem Juli 1940 daran gearbeitet, Stalin aus dem
„widernatürlichen“ Bündnis mit Hitler zu lösen, und nach dem Beginn des deutschen Angriffs
auf die Sowjet-union versicherte er Moskau umgehend britischer Unterstützung. In der
Atlantikcharta wurde die Sowjetunion allerdings mit keinem Wort erwähnt. Durch den
raschen Vormarsch der Wehrmacht nach dem 22. Juni 1941 hatte sie so schwere Schläge
hinnehmen müssen, daß man in Washington und in London offenbar nicht mit der
Fortexistenz des Systems rechnete, oder mit einer so massiven Schwächung, daß Stalin beim
Aufbau einer neuen Weltordnung übergangen werden konnte.
Daß diese Weltordnung einen angelsächsischen Stempel tragen sollte, war dem Text der
Atlantikcharta unschwer zu entnehmen. Von der „Freiheit der Meere“ und der Öffnung des
Welthandels bis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Beseitigung des Krieges als
legitimem Mittel der Politik kamen alle Chiffren vor, die seit dem Beginn des 20.
Jahrhunderts zur britischen wie zur amerikanischen Propaganda gehört hatten.
Diese dienten selbstverständlich auch der Kaschierung konkreter machtpolitischer Absichten.
So die ersten drei Punkte, in denen die Rede davon war, daß die beiden Staaten „keinerlei
Bereicherung“ anstrebten, „weder in territorialer noch in anderer Beziehung“, weiter: „Sie
wünschen keinerlei territoriale Veränderungen, die nicht im Einklang mit den in voller
Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen.“ Und schließlich: „Sie
achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben
wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die ihrer durch
Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden.“ Schwerer durchschaubar war
schon, daß die Intentionen auch gegeneinander gerichtet sein konnten, wie im Fall des
Freihandels, der jetzt im Interesse der USA lag, aber keinesfalls Großbritanniens mit seinem
Konzept der Empire-Präferenz.
Goebbels schätzte Charta als „Propagandabluff“ ein
Die Formulierungen der Atlantik-charta erinnerten nicht zufällig an Wilsons „14 Punkte“ und
das Versprechen eines „Friedens ohne Sieger und Besiegte“-Köders, den die Alliierten am
Ende des Ersten Weltkriegs für die Mittelmächte ausgelegt hatten. Daß man sich noch einmal
ähnliche Wirkungen ausrechnete, ist kaum vorstellbar. Selbst ein so vorsichtig urteilender
Historiker wie Ian Kershaw meinte, daß Goebbels’ Einschätzung des „Propagandabluffs“
zwar „zynisch, aber nicht ganz zu Unrecht“ getroffen wurde. In das Bild paßt auch, daß die
Sowjetunion sich im September 1941 dem Inhalt des Textes anschloß, während die „AntiHitler-Koalition“ dann im Januar 1943, als Signale des Wohlwollens gegenüber dem Feind
nicht mehr notwendig schienen, auf der Konferenz von Casablanca die „bedingungslose
Kapitulation“ zum Kriegsziel erhob. Spätestens da mußte jedem klar sein, daß die Deutschen
eben nicht zu „allen Völkern“ zählten, denen es erlaubt sein sollte, „innerhalb ihrer Grenzen
in vollkommener Sicherheit zu leben, und (...) ihr Leben frei von Furcht und von Not zu
verbringen“.
Churchill hat den faktischen Widerspruch zwischen dem Wortlaut des sechsten Punktes der
Atlantikcharta und dem faktischen Vorgehen der Alliierten später mit der Bemerkung
abgetan, den Passus habe man nie auf den Feind anwenden wollen. Eine offensichtliche
Unwahrheit, wie man die Atlantikcharta überhaupt als exemplarisches Beispiel für den
problematischen Stil der Außenpolitik betrachten darf, der sich im 20. Jahrhundert
durchgesetzt hat. Die Uno zählt das Dokument trotzdem bis heute zu ihren Gründungstexten.
Tatsächlich wurden zwei Monate nach Veröffentlichung der Atlantikcharta erste Schritte
eingeleitet, um die Bildung der Vereinten Nationen vorzubereiten. Die berufen sich vor allem
auf den ideellen Wert, die „Aufrichtigkeit der Absicht“. Aber gerade an dieser Aufrichtigkeit
sind Zweifel geboten, um es zurückhaltend zu formulieren.