Arm ist nicht gleich arm
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Arm ist nicht gleich arm
Arm ist nicht gleich arm Ein Gespräch mit der Familienforscherin Uta Meier-Gräwe Die Zeit: Sie befassen sich seit Jahren mit der Situation von armen Menschen. Im Moment wird in Deutschland sehr viel über Armut geredet – obwohl die Situation auf dem Arbeitsmarkt sich bessert. Was halten Sie von der Debatte? Uta Meier-Gräwe: Die Medien sind fixiert auf die reine Einkommensarmut; und sie hängen der These „Einmal arm, immer arm“ an. Aber das ist falsch. Wir nennen den Typus, den alle im Kopf haben, die „verwalteten Armen“. Das ist der „Sozialhilfeadel“, wie es im Jargon der Ämter heißt: Familien, die seit Generationen von Transferleistungen leben, die sich genau mit ihren Ansprüchen auskennen, aber keine wie auch immer gearteten Ambitionen mehr zeigen, erwerbstätig zu sein. Leider ballen sich bei ihnen auch alle anderen Nachteile. Diese Eltern sind ihren Kindern in Bildungsfragen überhaupt keine Hilfe, Zeitstrukturen entgleiten ihnen völlig. Die Zeit: Wie groß ist denn diese Problemgruppe? Meier-Gräwe: Sie macht maximal ein Drittel aller Armen aus. In der Gesamtbevölkerung würde ich sagen: etwa fünf Prozent. Die Zeit: Die anderen sind anders arm? 8 ARM IST NICHT GLEICH ARM Meier-Gräwe: Ja. Sie werden aber, und das ist ein extrem veränderungsbedürftiger Zustand, genauso behandelt wie die „verwalteten Armen“. Die Zeit: Zum Beispiel? Meier-Gräwe: Es gibt die große Gruppe der „erschöpften Einzelkämpferinnen“. Das sind Mütter, die nach einer Trennung finanziell in Not geraten – meist weil ihr Exmann keinen Unterhalt zahlt. Diese Frauen können mit Geld umgehen, sie arbeiten nicht selten wenigstens halbtags, kümmern sich gut um ihre Kinder, stehen aber unter einem zermürbenden Zeitdruck, weil sie Arbeit, Kinderbetreuung, Haushalt allein organisieren müssen. Diese Frauen werden vom Sozialamt genauso behandelt wie die „verwalteten Armen“, die viel Zeit haben, um Anträge auszufüllen. Wir haben Frauen interviewt, die vollkommen frustriert auf Beihilfen verzichteten – die sie dringend brauchten! -, weil die Behördentermine in ihrem Tagesablauf einfach nicht unterzubringen waren. Die Zeit: Welche weiteren Armutstypen gibt es? Meier-Gräwe: Die „vernetzten Aktiven“, die eine intakte Familie und ein breites Netz von sozialen Kontakten haben und versuchen, sich das Leben auch mit wenig Geld angenehm zu machen. Diese Gruppe wird für ihre Genügsamkeit aber nicht belohnt, eher bestraft: Typisch ist der Fall eines Elternpaares, das Geld für die Klassenfahrt eines ihrer sechs Kinder zurückgelegt hatte, die Summe aber nicht ganz zusammenbrachte und das Sozialamt um Hilfe bat. Dort beschied man ihnen: Ja, wenn Sie gar kein Geld hätten, würden wir die Kosten komplett übernehmen. Aber da Sie sogar Geld sparen konnten, bekommen Sie gar nichts. Schließlich gibt es Leute – wir nennen sie „ambivalente Jongleure“, die mit einem Übermaß an Optimismus an Lebensentscheidungen herangehen und sich regelmäßig finanziell übernehmen. Die Zeit: Wie ist denen zu helfen? Meier-Gräwe: Sie brauchen erst einmal Ordnung in ihren finanziellen Angelegenheiten, mehr Realismus. Eine Schuldnerberatung kann helfen, ebenso sozialpsychologische Hilfen. Zudem brauchen wir dringend härtere Gesetze gegen das Ratenkreditwesen. Dem Einzelnen ruinieren viel zu leicht zugängliche Kredite das Leben. Die Zeit: Gibt es denn irgendeine Antwort, die auf alle Armutsfragen passt? Meier-Gräwe: Bildung. Kinder aus benachteiligten Elternhäusern müssen bestimmte Kulturtechniken im Kindergarten lernen. Dort sind sie auch vor schädlichem Medienkonsum geschützt. In der Schule sollten sie nicht nur gesundes Essen bekommen, sondern auch lernen, wie man es kocht. In Mathematik könnte man Themen wie Handyverträge und Schuldenfallen ganz beiläufig behandeln. Insbesondere Jungen müssten zu größerer Familienfähigkeit erzogen werden. Das fängt an mit Verhütung und reicht bis hin zur gewaltfreien Lösung von Konflikten. Bildung ist und bleibt der Schlüssel. Wenn wir eine Mehr-Geld-Strategie der Armutsbekämpfung verfolgen, dann gehört das Geld ins Bildungssystem. Die Fragen stellte Susanne Gaschke. Uta Meier-Gräwe ist Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Universität Gießen. Sie berät die Bundesregierung und die Bertelsmann Stiftung in Fragen der Armutsprävention. Der Nachdruck des Interviews erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitung „Die Zeit“ (9/2007). ARM IST NICHT GLEICH ARM 9