ANALYTISCHES LESEN

Transcription

ANALYTISCHES LESEN
STAATLICHE UNIVERSITÄT KASAN
PHILOLOGISCHE FAKULTÄT
LEHRSTUHL FÜR ROMANO-GERMANISCHE PHILOLOGIE
ANALYTISCHES
LESEN
LEHRWERK FÜR GERMANISTIKSTUDENTEN
Teil 1
KASAN – 2007
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УДК 812.112
ББК Ш3нем
А53
Печатается по решению
редакционно-издательского совета филологического факультета
Казанского государственного университета
Рекомендовано
кафедрой романо-германской филологии
Казанского государственного университета
Составитель
доцент Л.Б.Волкова
Рецензенты
доцент А.В.Шарипова
(Казанский государственный университет),
доцент И.З.Искандерова
(Татарский государственный гуманитарно-педагогический университет)
А53
Analytisches Lesen: Lehrwerk für Germanistikstudenten: т.1 (= Аналитическое
чтение: учеб.-метод. пособ. по аналитическому чтению для студ., изучающих немецкий язык как специальность. Ч.1) / Staatliche Universität Kasan;
Philologische Fakultät; Lehrstuhl für romano-germanische Philologie; сост.
L.B.Volkova. – Kasan, 2007. – 52 S.
Данное пособие предназначено для занятий по лингвистическому анализу
текста на отделении романо-германской филологии филологического факультета.
УДК 812.112
ББК Ш3нем
© Филологический факультет
Казанского государственного
университета, 2007
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ПРЕДИСЛОВИЕ
Учебно-методическое пособие по аналитическому чтению на немецком языке
предназначено для занятий по лингвистическому анализу текста на IV курсе. Его
цель - не только представить студентам оригинальные произведения классиков
немецкой литературы XVIII - XIX веков, но и сообщить теоретические знания о
стратегии лингвистического анализа текста, о творчестве авторов и об анализируемых произведениях, привить студентам умения, необходимые для лингвостилистического анализа литературных текстов, раскрытия их языкового и жанрового
своеобразия.
В учебно-методическое пособие включены отрывки из произведений И.В. Гете романа ˝Die Leiden des jungen Werthers˝, трагедии ˝Faust˝, баллады ˝Erlkönig˝,
˝Der Fischer˝, сонеты ˝Mächtiges Überraschen˝, ˝Freundliches Begegnen˝; отрывки из
драмы Ф. Шиллера ˝Kabale und Liebe˝, стихотворения Г. Гейне ˝Und wüßten’s die
Blumen, die kleinen˝, ˝Die Linde blühte, die Nachtigall sang˝, отрывки из произведений ˝Deutschland. Ein Wintermärchen˝, ˝Englische Fragmente. London˝, ˝Harzreise˝.
Таким образом, студенты получают возможность для более полного ознакомления с творчеством классиков немецкой литературы XVIII - XIX веков, для углубленного изучения их литературных текстов в оригинале с целью раскрытия их
жанрового своеобразия и лингвистического анализа.
В учебно-методическом пособии по аналитическому чтению соблюдается
единый принцип подачи материала: оно включает теоретический и информационный материал об авторах и их произведениях, тексты для анализа, методически организованные задания к анализируемым текстам, а также материал для
самостоятельной работы. В целях наиболее полного раскрытия лингвостилистических и смысловых особенностей анализируемых текстов студентам предлагаются вопросы и задания по каждому из анализируемых произведений или отрывков из них. Кроме того, предлагаются произведения для самостоятельного
анализа, при анализе которых студенты могут использовать те знания и умения,
которые они получили при работе над первым текстом этого автора. При самостоятельной работе над текстом студенты должны показать свое понимание произведения, умение самостоятельно мыслить и излагать свои мысли на немецком
языке, а также анализировать лингвостилистические средства, участвующие в организации высказывания. В учебно-методическое пособие включен также список
слов и выражений на немецком языке для лингвистического анализа текста.
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VORWORT
Die vorliegenden methodischen Anleitungen sind für die Germanistikstudenten des
4. Studienjahres bestimmt, die mit deutschen literarischen Texten arbeiten im Spezialfach ˝Linguistische Textanalyse˝. Das Material sind die Werke der Klassiker der deutschen Literatur: J.W. von Goethe, F. Schiller, H. Heine.
Das Ziel dieses Heftes ist die literarische, linguistische und stilistische
Interpretation deutscher literarischer Texte. Die Textinterpretation ist ein Bestandteil
des Staatsexamens der russischen Germanistikstudenten. Basierend auf den
Bildungsstandards, den Curricula fur russische Germanistikstudenten und dem
Kenntnisstand der russischen Germanistikstudenten des 7. Semesters soll es Interesse
für eine methodenbewusste und kreative Textinterpretation wecken, den Studierenden
in kompakter Form Informationen zu Autoren, literarischen Grundbegriffen und
Fachtermini sowie zu literaturgeschichtlichen Zusammenhängen vermitteln und die
praktische Sprachkompetenz der russischen Germanistikstudierenden erhöhen.
Diese Ziele stehen im Einklang mit den Anforderungen des Programms des
Faches ˝Analytisches Lesen˝ der Staatlichen Universität Kasan und sind auf die
Herausbildung der linguistischen, kommunikativen, landeskundlichen und beruflichen
Kompetenzen bei den Studierenden gerichtet.
ALLGEMEINE ANLEITUNGEN ZUR LINGUOSTILISTISCHEN
TEXTANALYSE
Das Ziel der linguostilistischen Analyse der literarischen Werke ist es, das
sprachstilistische Ausdruckssystem zu erfassen, mit dessen Hilfe ein bestimmter Inhalt,
bestimmte Ideen und Gefühle vom Autor an den Leser gebracht werden; ferner die
innere und äußere Gliederung des Textes sowie die ästhetische Wirkung des
literarisch-künstlerischen Werkes zu beschreiben.
Die Analyse eines literarischen Textes hat die Aufgabe, die gegenseitige
Beziehung zwischen Form und Inhalt zu erklären, die kommunikativen und die
stilistischen Funktionen der sprachlichen Elemente im Text aufzudecken und ihre
Wirkung auf den Empfänger zu beschreiben.
Zu den Voraussetzungen einer linguostilistischen Textanalyse gehört Folgendes:
1. Die Kenntnis der Mittel des stilistischen Ausdruckssystems der jeweiligen
Sprache: der lexikalischen, phonetischen, morphologischen und syntaktischen sowie
der speziell stilistischen Mittel.
2. Die Fähigkeit, stilistische Einzelfakten im Text nicht nur zu finden, sondern auch
ihre Funktion im kleineren und größeren Sinnzusammenhang zu erklären.
3. Die Fähigkeit, nicht nur einzelne Stellen im Text in der Verbindung von Inhalt
und Form zu interpretieren, sondern die gesamte sprachstilistische Gestaltung des
Textes in seinem inneren und äußeren Aufbau bei der Analyse zu erfassen.
4. Die Fähigkeit, die Glieder der Kommunikationskette (nach E. Riesel): außerlinguistische Spezifik – sprachstilistische Spezifik – Ausdruckswert – Eindruckswert in ihrer
Wechselbeziehung zu analysieren. Der Ausdruckswert wird als die vom Sender erstrebte
Wirkung und der Eindruckswert als die tatsächliche Wirkung auf den Leser verstanden.
Textstrategie für die Analyse von literarischen Texten (nach E. Riesel)
I. Kurze literarische Würdigung des Textes (Textauszugs):
1. Biographisches über den Dichter;
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2. Stellung des Dichters in der Geschichte der deutschen Literatur;
3. Genre des Textes
II. Kurze Angaben über den Text (Textauszug):
1. explizit ausgedrückter Inhalt;
2. implizit mitschwingender Gedankengehalt;
3. Lokalisierung des Auszugs im Gesamttext.
III. Textkomposition (d. h. innerer und äußerer Aufbau des Textes, zugänglich und
erfassbar in seiner sprachstilistischen Ausformung):
1. innerer Aufbau – thematische Linenführung und Ideengehalt;
2. äußerer Aufbau – formale (architektonische) Gliederung und Gestalt der Gesamtstruktur (Architektonik des Textes)
3. Verbindung zwischen innerem und äußerem Aufbau – künstlerische Darbietungsform, d. h. Gesamtheit der im Text auf bestimmte Weise gruppierten Darstellungsarten (demnach: Art und Weise, wie der Autor Thema, Ideen und äußere Form
dem Leser/Hörer nahebringt);
IV. Sprachstilistische Verwirklichung der Textkomposition und ihrer Teilstrukturen.
V. Ausdrucksvolles Lesen des Textes.
JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749 – 1832)
1.Sozialgeschichtlicher Kontext: Informieren Sie sich über sozialgeschichtliche
Voraussetzungen der literarischen Richtung Sturm-und- Drang, über die historischen
Ereignisse in Europa und in Deutschland Ende des XVIII. Jahrhunderts.
Material: Tatsachen über Deutschland - Frankfurt-am-Main: Societäts-Verlag,
2000, S. 114 - 115 .
2. Literarische Entwicklungen und Gattungen: Die literarische Richtung Sturmund-Drang, die Zunahme und die Konkretisierung des sozialkritischen Elements in der
deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts.
Material: Beutin Wolfgang u. a.: Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis
zur Gegenwart / Wolfgang Beutin u. a. - Stuttgart: Metzler, 1994, S. 138, 144 - 147, 152.
Geerds, Hans-Jürgen: Johann Wolfgang Goethe / Hans-Jürgen Geerds. – Leipzig:
Verlag Philipp Reclam jun., 1974, S. 82 – 106, 310 - 329 .
LEBEN UND WERK
Johann Wolfgang Goethe, der hervorragende Repräsentant der klassischen deutschen Literatur des 18. – 19. Jahrhunderts und der Weltliteratur, ist weltberühmt als Lyriker, Prosaiker und Dramatiker, Naturwissenschaftler und Philosoph.
Johann Wolfgang Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt a. M. in einer
angesehenen bürgerlichen Familie geboren und ist 1832 in Weimar gestorben. Goethes Vater war Jurist und hatte es bis zum Reichsrat gebracht. Auch Goethe studierte
die Rechte in Leipzig und in Straßburg.
Goethe ist der hervorragende Dichter der deutschen bürgerlichen Literatur. Alle
progressiven Bestrebungen der besten Geister des deutschen Bürgertums in der Zeit
seines Aufstiegs, ihren Kampf gegen den deutschen Feudalismus und für den nationalen Zusammenschluß des Landes hat Goethe in seiner universellen Tätigkeit als Dichter und Spracherneuerer, als Denker und Gelehrter zum Ausdruck gebracht.
Er begann frühzeitig zu dichten, anfänglich unter dem Einfluß der damals Mode
gewordenen spielerischen anakreontischen Poesie. In Straßburg jedoch wandte er sich
unter dem Einfluß Herders, der ihm die Volkspoesie, Homer und Shakespeare nahege-
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bracht hatte, von der galanten Dichtung ab und schloß sich der Sturm- und Drangbewegung an. Nach Frankfurt zurückgekehrt, schrieb er das Drama Götz von Berlichingen
(1773) und den Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774). Durch diese Werke
wurde er der anerkannte Führer der Sturm- und Drangbewegung, deren Bestrebungen
hier ihren treffendsten Ausdruck gefunden hatten. Zu gleicher Zeit begann er an seinem
Lebenswerk, der Faust-Tragödie zu arbeiten. Auch ein Teil seiner volkstümlichen Gedichte ist damals entstanden (Mailied, Heidenröslein, Der König in Thule u.a.). Goethes
stürmische Auflehnung gegen die Unterdrückung der Persönlichkeit in der feudalen
Gesellschаft, gegen die erstarrte Tradition und sein ungestümer Tatendrang traten in
dem dramatischen Fragment Prometheus (1773 – 1774) am klarsten zutage. Mit hoher
dichterischer Kraft gestaltete er um die gleiche Zeit in dem Gedicht Mahomets Gesang
das stetige, durch nicht zu hemmende Anwachsen einer neuen geistigen Bewegung.
1775 siedelte Goethe nach Weimer an den Hof des Herzogs Karl August über, wo er
bis an sein Lebensende blieb und eine Reihe von hohen Regierungposten bekleidete.
1786 unternahm er eine Reise nach Italien, wo er sich mit dem Studium der Antike und
Renaissance beschäftigte. Schon vor der Italienreise hatte sich Goethe allmählich von der
Sturm- und Drangbewegung zurückgezogen. Hier in Italien gewann er den Zustand der
inneren Ausgeglichenheit, der ihm den Charakter des Klassikers gab. Die Wandlung von
Sturm- und Drang zur Klassik fand ihren Ausdruck in dem 1787 abgeschlossenen Drama
Egmont. Im Italien und etwas später, wieder in Weimer, vollendete Goethe die klassischen
Dramen Iphigenie auf Tauris (1786) und Torquato Tasso (1789). Vom klassischen Geist
getragen sind seine 1788 entstandenen Römischen Elegien, sowie eine Reihe lyrischer
Gedichte (Gedankenlyrik) und Balladen (Die Braut von Korinth – 1797).
Die bedeutendsten Werke des alternden Goethe sind die Romane Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 – 1796) und Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821 – 1829), in denen Goethe seiner Idee der allmählichen Verwandlung der feudalen deutschen Verhältnisse in bürgerliche und der Ausbildung des bürgerlichen Menschen künstlerischen
Ausdruck gibt, sowie der Roman Die Wahlverwandschaften (1809) und das selbstbiographische Prosawerk Dichtung und Wahrheit (1811 – 1814).
Das größte und bedeutendste Werk Goethes, der Gipfel des kritischen Gedankens, der schöpferischen Kraft der bürgerlichen Literatur Deutschlands ist die Tragödie
Faust (Urfaust 1774 – 1775, erster Teil 1808, zweiter Teil 1831). Durch diese philosophische Dichtung zieht sich der Gedanke, daß der bloße abstrakte Erkenntnisdrang
nicht genügt; die zum Wohl der Menschheit führende praktische Tätigkeit ist die beste
Art der Erkenntnis der Welt.
1.
2.
3.
4.
5.
bracht?
6.
Aufgaben
Nennen Sie die literarischen Richtungen, die J.W. Goethe in seinen Werken vertreten hat.
Nennen Sie die Werke von J.W. Goethe zu jeder literarischen Richtung.
Welche Prosawerke hat J.W. Goethe geschrieben?
Wie heißt sein autobiographisches Werk?
Welche Ideen hat J.W. Goethe in seinen klassischen Dramen zum Ausdruck geCharakterisieren Sie J.W. Goethes Hauptwerk, die Tragödie Faust.
ZU J.W.GOETHES ROMAN ˝DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS˝
Neben Götz von Berlichingen ist der Roman in Briefform Die Leiden des jungen
Werthers das wichtigste Werk des Dichters aus seiner Sturm- und Drangperiode, das
erste, das Goethes Namen berühmt machte. Das ist ein hervorragendes Werk der
deutschen Literatur des Sturm und Drang, ein schönes Buch über Menschen und Na-
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tur. Der Autor kontrastierte die Harmonie der Natur mit den Verhältnissen in der Gesellschaft und zeigte die Dissonanzen der Gesellschaft der damaligen Zeit.
Der Roman ist in Briefform geschrieben, in ihm sind vielfältige autobiographische
Bezüge zu finden und er blieb dem Verfasser auch in seinen späteren Jahren sehr teuer und nah. Goethe selbst sagte, er habe Werther ˝... mit dem Blute seines eigenen
Herzens geschrieben˝.
Die Fabel des Romans ist eine unglückliche Liebesgeschichte. Der Held des Werkes ist ein Stürmer und Dränger in einem besonderen Sinne – liebevoll uns mitleiderfällt
steht er den Menschen und der Natur gegenüber. Doch der Inhalt des Romans ist tiefer. Werther repräsentiert das junge deutsche Bürgertum, das über keine sozialen und
politischen Rechte verfügte, aber von ihnen träumte, dessen innerer Werdegang und
Bewußtsein sich rasch entwickelten. Die reiche Gefühlswelt Werthers, seine Begabung
verlangen nach Entfaltung der Fähigkeiten und Möglichkeiten seines Geistes in gesellschaftlicher Aktivität. Sie scheitern aber an den engen Grenzen der starren feudalen
Konvention, an dem persönlichen und gesellschaftlichen Konflikt Werthers mit der adligen Gesellschaft.
Am Anfang des Werkes befindet sich Werther in einer neuen Umgebung, frisch
aus dem elterlichen Hause. Er ist lebenslustig, energisch und hoffnungsvoll. Erst nach
und nach umwölkt sich sein Horizont, eine peinliche, verbotene Liebe zu der Braut seines Freundes hat ihn gefesselt. Werther versucht, sich von der aussichtslosen Liebe zu
retten. Er nimmt eine Anstellung an, die ihm widerstrebt, was ihm nur Unannehmlichkeiten bringt und seine Einsamkeit verschärft.
Aufgaben
1. Informieren Sie sich über die literarische Richtung Sturm und Drang.
2. Nennen Sie die Autoren des Sturm und Drang und ihre Werke.
3. Welche Ideen haben die Autoren des Sturm und Drang in ihren Werken vertreten?
4. Welche autobiographischen Bezüge hat der Roman in Briefform von J.W. Goethe Die
Leiden des jungen Werthers?
5. Sprechen Sie über die progressiven Ideen des Romans von J.W. Goethe.
6. Sprechen Sie über die Fabel des Romans Die Leiden des jungen Werthers.
7. Beschreiben Sie die Situation, in der sich Werther befindet, als er den Brief vom 15.
März schreibt.
Text zur Analyse
J.W.Goethe
Die Leiden des jungen Werthers
Den 15. März
Ich habe einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird. Ich knirschte
mit den Zähnen! Teufel! er ist nicht zu ersetzen, und ihr seid doch allein schuld daran,
die ihr mich sporntet und triebt und quältet, mich in einen Posten zu begeben, der nicht
nach meinem Sinne war. Nun habe ich’s! nun habt ihr’s! Und daß du nicht wieder sagst,
meine überspannten Ideen verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr, eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das aufzeichnen würde.
Der Graf von C.. liebt mich, distinguiert mich, das ist bekannt, das habe ich dir
schon hundertmal gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu Tafel, eben an dem Tage, da
abends die noble Gesellschaft von Herrn und Frauen bei ihm zusammenkommt, an die
ich nicht gedacht habe, auch mir nie aufgefallen ist, daß wir Subalternen nicht hineingehören. Gut. Ich speise bei dem Grafen, und nach Tische gehn wir in dem großen
Saal auf und ab, ich rede mit ihm, mit dem Obristen B., der dazukommt, und so rückt
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die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke, Gott weiß, an nichts. Da tritt herein die
übergnädige Dame von S.. mit ihrem Herrn Gemahle und wohlausgebrüteten Gänslein
Tochter, mit der flachen Brust und niedlichem Schnürleibe, machen en passant ihre
hergebrachten hochadeligen Augen und Naslöcher, und wie mir die Nation von Herzen
zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und wartete nur, bis der Graf vom garstigen
Gewäsche frei wäre, als meine Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer ein bißchen aufgeht, wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl und bemerkte erst nach einiger Zeit, daß sie mit weniger Offenheit als sonst, mit einiger Verlegenheit mit mir redete. Das fiel mir auf. Ist sie auch wie all das Volk, dachte ich, und
war angestochen und wollte gehen, und doch blieb ich, weil ich sie gern entschuldigt
hätte und es nicht glaubte und noch ein gut Wort von ihr hoffte und – was du willst. Unterdessen füllt sich die Gesellschaft. Der Baron F.. mit der ganzrn Garderobe von den
Krönungszeiten Franz des Ersten her, der Hofrat R.., hier aber in qualitate Herr von R..
genannt, mit seiner tauben Frau etc., den übel founierten J.. nicht zu vergessen, der die
Lücken seiner altfränkischen Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt, das
kommt zuhauf, und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft, die alle sehr lakonisch
sind. Ich dachte – und gab nur auf meine B.. acht. Ich merkte nicht, daß die Weiber am
Ende des Saales sich in die Ohren flüsterten, daß es auf die Männer zirkulierte, daß
Frau von S.. mit dem Grafen redete (das alles hat mir Fräulein B.. nachher erzählt), bis
endlich der Graf auf mich losging und mich in ein Fenster nahm. – Sie wissen, sagte er,
unsere wunderbaren Verhältnisse; die Gesellschaft ist unzufrieden, merke ich, Sie hier
zu sehen; ich wollte nich um alles – Ihro Exzellenz, fiel ich ein, ich bitte tausendmal um
Verzeihung; ich hätte eher dran denken sollen, und ich weiß, Sie vergeben mir diese
Inkonsequenz; ich wollte schon vorhin mich empfehlen, ein böser Genius hat mich zurückgehalten, setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich neigte. – Der Graf drückte meine Hände mit einer Empfindung, die alles sagte. Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging, setzte mich in ein Kabriolett und fuhr nach M.., dort vom Hügel
die Sonne untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer den herrlichen Gesang zu
lesen, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird. Das war alles gut.
Des Abends komme ich zurück zu Tische, es waren noch wenige in der Gaststube;
die würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch zurückgeschlagen. Da kommt der ehrliche A.. hinein, legt seinen Hut nieder, indem er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise: Du
hast Verdruß gehabt? – Ich? sagte ich. – Der Graf hat dich aus der Gesellschaft gewiesen.
– Hole sie der Teufel! sagt ich, mir war’s lieb, daß ich an die freie Luft kam. – Gut, sagte er,
daß du es auf die leichte Achsel nimmst. Nun verdrießt mich’s, es ist schon überall herum.
– Da fing mich das Ding erst an zu wurmen. Alle, die zu Tische kamen und mich ansahen,
dachte ich, die sehen dich darum an! Das gab böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre, daß meine
Neider nun triumphieren und sagen: da sähe man’s, wo es mit den Übermütigen hinausginge, die sich ihres bißchen Kopfs überhöben und glaubten sich darum über alle Verhältnisse
hinaussetzen zu dürfen, und was des Hundegeschwätzes mehr ist – da möchte man sich
ein Messer ins Herz bohren; denn man rede von Selbständigkeit, was man will, den will ich
sehen, der dulden kann, daß Schurken über ihn reden, wenn sie einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr Geschwätze leer ist, ach, da kann man sie leicht lassen.
[Aus: Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 24 ff. Digitale Bibliothek Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 10329 (vgl. Goethe-HA Bd. 6, S. 20 ff.)]
Aufgaben zum Text
1. Geben Sie den Inhalt des Briefes vom 15. März kurz wieder!
2. Wie läßt sich der Text inhaltlich gliedern?
3. Formulieren Sie die Hauptidee des Textes!
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4. Mit welchen sprachlichen Mitteln werden Werthers Empörung und Zorn zum Ausdruck
gebracht?
5. Analysieren Sie die kritische Beschreibung der noblen Gesellschaft ( negative Epithteta, Neubildungen und unerwartete Verbindungen, emotional gefärbte Lexik).
6. Analysieren Sie den Satzbau (mehrstufig zusammengesetzte Sätze, Infinitiv- und Partizipialgruppen, abgesonderte Attribute, anaphorische und epiphorische Wiederholungen, asyndetische und polysyndetische Verbindung) und sprechen Sie über die Rolle der syntaktischen Mittel bei der Wiedergabe der Emotionalität des Textes.
7. Welche Rolle spielt die Ich-Form des Briefes?
8. Bestimmen Sie die Züge, die für die Sprache des Sturm- und Drang typisch waren.
9. Sprechen Sie über die Funktion des Gedankenstriches im Text.
Texte für Selbständige Analyse
J.W.Goethe
Die Leiden des jungen Werthers
TEXT 1
Am 4. Mai
Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!
Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein!
Ich weiß, du verzeihst mir’s. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meinige zu ängstigen? Die arme Lenore!
Und doch war ich unschuldig. Konnt’ ich dafür, daß, während die eigensinnigsten Reize
ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daß eine Leidenschaft
in dem armen Herzen sich bildete? Und doch – bin ich ganz unschuldig? Hab’ ich nicht
ihre Empfindungen genährt? hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der
Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergötzt?
hab’ ich nicht – O, was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! Ich will, lieber
Freund, ich verspreche dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel,
das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer getan habe; ich will das
Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast
Recht, Bester, die Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht –
Gott weiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich
beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine
gleichgültige Gegenwart zu tragen.
Du bist so gut meiner Mutter zu sagen, daß ich ihr Geschäft bestens betrieben,
und ihr ehestens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen,
und bei weitem das böse Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist
eine muntere, heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir, ihre Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre alles herauszugeben, und
mehr als wir verlangten – kurz, ich mag jetzt nichts davon schreiben; sage meiner Mutter, er werde alles gut gehen. Und ich habe, mein lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der
Welt machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiß seltener.
Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt
mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von
Blühten, und man möchte zum Maikäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen
herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.
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Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche
Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M.., seinen Garten auf
einem der Hügel anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen, und
die lieblichsten Taler bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich bei dem Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan
gezeichnet, das seiner selbst hier genießen wollte. Schon manche Träne hab’ ich dem
Abgeschiedenen in dem verfallenen Cabinetchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen
war, und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei befinden.
TEXT 2
Den 16. Juni
Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S.. habe kennen lernen, und wie er
mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem kleinen Königreiche zu besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir
der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich
denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutsche nehmen, mit
meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf
dem Wege Charlotten S.. mitnehmen sollte. - ˝Sie werden ein schönes Frauenzimmer
kennenlernen.˝ sagte meine Gesell-schafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen
Wald nach dem Jagdhause fuhren. - ˝Nehmen Sie sich in acht,˝ versetzte die Base,
˝daß Sie sich nicht verlieben!˝ - ˝Wieso?˝ sagte ich. - ˝Sie ist schon vergeben,˝ antwortete
jene, ˝an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu
bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben.˝ - Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines
Gewitters, das sich in weiß-grauen, dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob
mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick
zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach
dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war
und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen
habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten
Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren
Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab,
gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein ˝Danke!˝,
indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte,ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang, oder
nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die
Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte. - ˝Ich bitte um
Vergebung,˝ sagte sie, ˝daß ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse.
Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe
ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden
Brot geschnitten haben als von mir.˝ - Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment,
meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben
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Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe
und den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der
Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte:
˝Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand.˝ - Das tat der Knabe sehr freimütig, und ich
konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu
küssen. - ˝Vetter?˝ sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte, ˝glauben Sie, daß ich
des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?˝ - ˝O,˝ sagte sie mit einem leichtfertigen Lächeln, ˝unsere Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie
der schlimmste drunter sein sollten.˝ - Im Gehen gab sie Sophien, der ältesten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ungefähr eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder
acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritte nach Hause käme.
Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester Sophie folgen, als wenn sie’s selber
wäre, das denn auch einige ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine
aber, von ungefähr sechs Jahren, sagte: ˝Du bist’s doch nicht, Lottchen, wir haben dich
doch lieber.˝ - Die zwei ältesten Knaben waren hinten auf die Kutsche geklettert, und
auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald mitzufahren, wenn sie
versprächen, sich nicht zu necken und sich recht fest zu halten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht und
die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten,
das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein
kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal
grüßen, und wir fuhren weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte.
– ˝Nein,˝ sagte Lotte, ˝es gefällt mir nicht, Sie können’s wiederhaben. Das vorige war auch
nicht besser.˝ - Ich erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher wären, und sie mir antwortete:2 - Ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue
Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichts zügen hervorbrechen, die sich nach
und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstand.
˝Wie ich jünger war˝, sagte sie, ˝liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott,
wie wohl mir’s war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem
Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jenny teilnehmen konnte. Ich leugne
auch nicht, daß die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein
Buch komme, so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist
mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich,
und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher
Glückseligkeit ist.˝
TEXT 3
Am 24. Dezember 1771.
Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich habe es vorausgesehn. Er ist der pünktlichste Narr, den es nur geben kann; Schritt vor Schritt und umständlich wie eine Base;
ein Mensch, der nie mit sich selbst zufrieden ist, und dem es daher niemand zu Danke
machen kann. Ich arbeite gern leicht weg, und wie es steht, so steht es; da ist er imstande mir einen Aufsatz zurückzugeben und zu sagen: ˝Er ist gut, aber sehen Sie ihn
durch, man findet immer ein besseres Wort, eine reinere Partikel.˝ - Da möchte ich des
Teufels werden. Kein Und, kein Bindewörtchen darf außenbleiben und von allen Inver-
12
sionen, die mir manchmal entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Perioden
nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts drin. Das
ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen von C.. ist noch das einzige, was mich schadlos hält. Er
sagte mir letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden er mit der Langsamkeit und Bedenklichkeit meines Gesandten sei. ˝Die Leute erschweren es sich und andern. Doch˝, sagte er, ˝man muß sich darein resignieren wie ein Reisender, der über einen Berg muß;
freilich, wäre der Berg nicht da, so wär der Weg viel bequemer und kürzer; er ist nun
aber da, und man soll hinüber!˝
Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm gibt, und das ärgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, Übels gegen mich vom Grafen zu reden, ich
halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die Sache nur schlimmer. Gestern gar
brachte er mich auf, denn ich war mit gemeint: zu so Weltgeschäften sei der Graf ganz
gut, er habe viele Leichtigkeit zu arbeiten und führe eine gute Feder, doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu machte er eine Miene,
als ob er sagen wollte: ˝Fühlst du den Stich?˝ Aber es tat bei mir nicht die Wirkung; ich
verachtete den Menschen, der so denken und sich so betragen konnte. Ich hielt ihm
stand und focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich sagte, der Graf sei ein Mann, vor dem
man Achtung haben müsse, wegen seines Charakters sowohl als wegen seiner Kenntnisse. ˝Ich habe˝, sagt' ich, ˝niemand gekannt, dem es so geglückt wäre, seinen Geist
zu erweitern, ihn über unzählige Gegenstände zu verbreiten und doch diese Tätigkeit
fürs gemeine Leben zu behalten.˝ - Das waren dem Gehirne spanische Dörfer, und ich
empfahl mich, um nicht über ein weiteres Deraisonnement noch mehr Galle zu schlucken.
Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt und mir so viel
von Aktivität vorgesungen habt. Aktivität! Wenn nicht der mehr tut, der Kartoffeln legt
und in die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als ich, so will ich zehn Jahre noch mich
auf der Galeere abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend, die Langeweile unter dem garstigen Volke, das sich
hier neben einander sieht! die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen; die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen. Da ist ein Weib, zum Exempel, die jedermann von ihrem Adel und ihrem Lande unterhält, so daß jeder Fremde denken muß: Das ist eine
Närrin, die sich auf das bißchen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche
einbildet. - Aber es ist noch viel ärger: eben das Weib ist hier aus der Nachbarschaft
eine Amtschreiberstochter. - Sieh, ich kann das Menschengeschlecht nicht begreifen,
das so wenig Sinn hat, um sich so platt zu prostituieren. Zwar ich merke täglich mehr,
mein Lieber, wie töricht: man ist, andere nach sich zu berechnen. Und weil ich so viel
mit mir selbst zu tun habe und dieses Herz so stürmisch ist - ach ich lasse gern die andern ihres Pfades gehen, wenn sie mich auch nur könnten gehen lassen.
Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weiß
ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wie viel Vorteile er mir
selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade im Wege stehen, wo ich noch ein
wenig Freude, einen Schimmer von Glück auf dieser Erde genießen könnte. Ich lernte
neulich auf dem: Spaziergange ein Fräulein von B.. kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das sehr viel Natur mitten in dem steifen Leben erhalten hat. Wir gefielen uns in
unserem Gespräche, und da wir schieden, bat ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen
zu dürfen. Sie gestattete mir das mit so vieler Freimütigkeit, daß ich den schicklichen
Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von hier und wohnt bei
einer Tante im Hause. Die Physiognomie der Alten gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel
13
Aufmerksamkeit, mein Gespräch war meist an sie gewandt, und in minder als einer
halben Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräulein nachher selbst gestand:
daß die liebe Tante in ihrem Alter Mangel von allem, kein anständiges Vermögen, keinen Geist und keine Stütze hat als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als den
Stand, in den sie sich verpalisadiert, und kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk herab
über die bürgerlichen Häupter wegzusehen. In ihrer Jugend soll sie schön gewesen
sein und ihr Leben weggegaukelt, erst mit ihrem Eigensinne manchen armen Jungen
gequält, und in den reifern Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben, der gegen diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb. Nun sieht sie im eisernen sich allein und würde
nicht angesehn, wär' ihre Nichte nicht so liebenswürdig.
[Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 95. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 10400 (vgl. Goethe-HA Bd. 6, S. 63-64)]
ÜBER DIE TRAGÖDIE FAUST
Faust ist Goethes Lebenswerk. Der Dichter arbeitete daran über sechzig Jahre. In
dieser genialen Dichtung gestaltete Goethe in höchster künstlerischer Form seine gesamte Weltauffassung, seine Weltanschauung, seine Zweifel, Leiden und Freuden.
Goethe verarbeitete in Faust wissenschaftliche, philosophische, ethische, ästhetische
und politische Erkenntnisse der Zeit.
Es ist weit bekannt, daß die Faust-Idee nicht Goethe erfunden hat. Eine alte
Volkssage begeisterte den Dichter (und nicht Goethe allein) und bewegte ihn, diese Idee in dichterischer Form zu gestalten. Anfang des 16. Jahrhunderts entstand eine
Volkssage über den Doktor Faust, einen Mann, der dreist gegen Gott rebellierte, der
mutig die irdische Beschränktheit des Menschen überschreiten wollte. Die Legende existierte lange in mündlicher Überlieferung. Erst 1587 hat der Frankfurter Buchdrucker
Spies ein Volksbuch (eine Ausgabe für das Volk) herausgegeben.
Der Held dieser Legende, ein gewisser Johann Georg Faust, ist eine historische
Person und soll um 1500 bis 1540 gelebt haben. Unsere Kenntnisse von diesem Mann,
der als Magier und Schwarzkünstler verrufen war, sind sehr knapp. Er schloß der Sage
nach einen Bund mit dem Teufel, um Zauberei zu üben.
Das Volksbuch wurde mehrmals bearbeitet und herausgegeben. Es gibt mannigfaltige Faust-Dichtungen vor Goethe und nach Goethe. Bekannte und weniger bekannte Verfasser, Epiker, Lyriker und Dramatiker, bearbeiteten den Stoff. Einen besonderen
Erfolg genoß unter dem Publikum das Puppenspiel über den Doktor Faust, das seinerzeit auch den jungen Goethe beeindruckte und für das ganze Leben fesselte.
In Goethe Werk fand das Faust-Thema seine geniale Verkörperung. Der erste Teil
der Tragödie erschien 1808 und der zweite Teil wurde 1831 vollendet. Die Faust-Dichtung
von Goethe bleibt der Gipflelpunkt aller literarischen Gestalungen des Faust-Themas.
In Goethes Dichtung ist der Held der Sage ein hochgelehrter, talentvoller Wissenschaftler des Mittelalters, der sich im Augenblick in einer schweren geistigen Krise befindet. Seine allseitigen Kenntnisse lassen ihn unbefriedigt, er will viel wissen, viel mehr
können,als es einem Menschen auf der Erde gegönnt ist. Er will die grundlegenden
Gesetzmäßigkeiten des Daseins (die Wirkungskräfte) erkennen. Goethe verdeutlicht im
Monolog, daß Faust durch lange und schwere innere Auseinandersetzungen über Methode, Sinn, und Ziel seines wissenschaftlichen Strebens zu diesem Krisenpunkt gelangt ist. Faust kommt zur traurigen Erkenntnis, daß die Möglichkeiten, Mittel und Methoden der mittelalterlichen scholastischen Wissenschaft fruchtlos sind, er muß die
Nutzlosigkeit seines bisherigen Tuns erkennen. Nicht Wissensdurst allein quält ihn, er
begehrt nach der Macht über die Natur. Die unermeßliche, unbegrenzte Geisteskraft
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Fausts, seine Unerschrockenheit bewegen ihn, mit dem Teufel einen Pakt zu schließen. Goethe führt seinen Helden durch mehrere Prüfungen und findet endlich eine
Antwort auf die ewig brennende Frage: Worin besteht des Menschen Bestimmung auf
der Erde? Was ist das Ziel eines Menschenlebens? Goethe meint, es sei eine schöpferische, sinnvolle, praktische, gesellschaftlich nützliche Tätigkeit.
Ein freier und breitfließender Gedankenlauf im Monolog des Faust verlangte Freiheit und Beweglichkeit in der Getaltung der Verse. Als die geeigneteste Form hat Goethe den volkstümlichen Knittelvers – die vorherrschende Versform im 16. Jahrhundert –
gewählt. Der Knittelvers, mit seiner ungeregelten Anzahl von Senkungen zwischen zwei
Hebungen, mit der zuläßlichen Abwechselung von drei-, vier-, fünfhebigen Zeilen, bietet
dem Dichter große Möglichkeiten zum freien und abwechselungsreichen Ausdruck der
Gedanken und Gefühle seines Helden. Zugleich ist der Knittelvers ein Mittel, das historische Kolorit in der Faust-Tragödie zu schaffen. Die Stärke der Betonung auf den akzentuierten Silben ist verschieden, je nach dem Grad ihrer kommunikativen und expressiven Wichtigkeit: Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und leider! auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor ...
In einigen Zeilen sind die stärker akzentuierten Silben durch bestimmte syntaktische
Mittel hervorgehoben: die Interjektion ach und das Modalwort leider sind Schaltwörter und
sind durch Kommas und Ausrufezeichen im Satz abgesondert. Die Subjektgruppe ich armer Tor wird als eine nachgestellte abgesonderte Apposition mit der Wiederaufnahme des
Subjekts hervorgehoben. Eine besondere Stärke des Akzents (den sogenannten Sprungakzent) erreicht der Dichter dort, wo er zwei Hebungen im Vers aufeinander folgen läßt:
Flieh! auf! hinaus ins weite Land!. Diese freie Variieren der betonten und unbetonten Silben mit verschiedener Stärke des Akzents verleiht den Versen im Monolog eine große
Beweglichkeit und einen großen Reichtum an Rhythmen.
Der Knittelvers wechelt im Monolog mit jambischen Versen: dort,wo die Rede des
Helden nicht mehr so aufgeregt ist, z. B. beim Anblick der Natur: O! sähst du, voller
Mondenschein.....
Der letzte Teil des Monologs ist in freien Versen verfaßt. Die Zahl der Hebungen
und der Senkungen ist verschieden in jeder Zeile. Hier verändert sich auch die Syntax.
Es kommt der Zeilensprung vor (das Enjambement – die Versbrechung, metrische Brechung, das Übergreifen eines Satzes oder Wortes über Vers- oder Strophenende
hinaus). In diesen Versen erreicht die Spannung des Monologs ihren Höhepunkt. Die
für den Knittelvers typischen paarweise folgenden Reime wechseln mit gekreuzten
Reimen, zuweilen auch mit umschlungenen Reimen ab:
Weh! steck' ich in dem Kerker noch? a
Verfluchtes dumpfes Mauerloch, a
Wo selbst das liebe Himmelslicht b
Trüb durch gemalte Scheiben bricht! b
Beschränkt von diesem Bücherhauf, c
Den Würme nagen, Staub bedeckt, d
Den, bis ans hohe Gewölb' hinauf, c
Ein angeraucht Papier umsteckt; d
Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt, e
Mit Instrumenten vollgepfropft, f
Urväter-Hausrat drein gestopft - f
15
Das ist deine Welt! das heißt eine Welt! e
Die Ausdrucksmöglichkeiten der Versform, der biegsamen Rhythmik, des Akzents
und der Reime stehen in einer Harmonie mit dem Gedankenreichtum des Monologs.
Ebenso reich ist die Lexik des Monologs. Goethe schöpft den Worzschatz aus
verschiedenen lexikalischen Schichten.
Spricht Faust über die Wissenschaft, so erscheinen im Text wissenschaftliche
Termini (Philosophie, Medizin, Theologie, Juristerei, Doktor, Magister usw.), vorwiegend griechischer und lateinischer Herkunft.
An diese lexikalische Gruppe schließen sich Wörter und Wendungen an, die keine
Termini sind, aber in den semantischen Bereich der Wissenschaft gehören: studieren,
lehren, wissen, erkennen, kund sein, das Pult, die Bücher, das Papier usw.
Sein Mißmut über die scholastische Wissenschaft drängt Faust zum Gebrauch
umgangssprachlicher, sogar vulgärer Wörter: armer Tor, ziehe an der Nase herum (hier
noch verstärkt durch Adverbien herauf, herab und quer und krumm), verfluchtes dumpfes Mauerloch, Würme nagen, Staub bedeckt, Kerker, vollgepfropft usw.
Der Charakter der Lexik verändert sich, wenn der Verfasser über die unendliche
Natur spricht. Für sie findet Goethe, hier wie immer, knappe, aber schöne Worte. Faust
wendet sich an den vollen Mondenschein: Ach! könnt ich doch auf Bergeshöhn....
Fausts Gefühle finden ihren Ausdruck in einer Reihe von stark emotional gefärbten
Wörtern und Wortverbindungen, die der Sphäre der menschlichen Empfindungen angehören: Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick ....
Goethe verwendet im Monolog auch seine Neuschöpfungen. Es sind hauptsächlich Verben und verbale Formen, die bildhaft sind oder die Bedeutung des Stammverbs
verstärken und konkretisieren: segenduftend, herangewacht, erfleht, erwühlen, neuglühend.
(Nach.: Schischkina I.P., Smoljan O.A. Analytisches Lesen. Leningrad, 1979, S. 25 - 33).
Text zur Analyse
J. W. Goethe
Faust
Der Tragödie erster Teil
Nacht
In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer
Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulte.
FAUST. Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!
Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr'
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
16
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel Dafür ist mir auch alle Freud' entrissen,
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
Auch hab' ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr' und Herrlichkeit der Welt;
Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab' ich mich der Magie ergeben
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau' alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu' nicht mehr in Worten kramen.
O sähst du, voller Mondenschein,
Zum letztenmal auf meine Pein,
Den ich so manche Mitternacht
An diesem Pult herangewacht:
Dann über Büchern und Papier,
Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!
Ach! könnt' ich doch auf Bergeshöhn
In deinem lieben Lichte gehn,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben,
Von allem Wissensqualm entladen,
In deinem Tau gesund mich baden!
Weh! steck' ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch,
Wo selbst das liebe Himmelslicht
Trüb durch gemalte Scheiben bricht!
Beschränkt von diesem Bücherhauf,
Den Würme nagen, Staub bedeckt,
Den, bis ans hohe Gewölb' hinauf,
Ein angeraucht Papier umsteckt;
Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt,
Mit Instrumenten vollgepfropft,
Urväter-Hausrat drein gestopft Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!
Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?
Statt der lebendigen Natur,
Da Gott die Menschen schuf hinein,
17
Umgibt in Rauch und Moder nur
Dich Tiergeripp' und Totenbein.
Flieh! auf! hinaus ins weite Land!
Und dies geheimnisvolle Buch,
Von Nostradamus' eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?
Erkennest dann der Sterne Lauf,
Und wenn Natur dich unterweist,
Dann geht die Seelenkraft dir auf,
Wie spricht ein Geist zum andern Geist.
Umsonst, daß trocknes Sinnen hier
Die heil'gen Zeichen dir erklärt:
Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir;
Antwortet mir, wenn ihr mich hört!
(Er schlägt das Buch auf und erblickt das Zeichen
des Makrokosmus.)
Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heil'ges Lebensglück
Neuglühend mir durch Nerv' und Adern rinnen.
War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb,
Die mir das innre Toben stillen,
Das arme Herz mit Freude füllen
Und mit geheimnisvollem Trieb
Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich schau' in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
Jetzt erst erkenn' ich, was der Weise spricht:
›Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Die ird'sche Brust im Morgenrot!‹
(Er beschaut das Zeichen.)
Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!
Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!
Wo fass' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht' ich so
18
vergebens?
(Er schlägt unwillig das Buch um und erblickt das
Zeichen des Erdgeistes.)
Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
Du, Geist der Erde, bist mir näher;
Schon fühl' ich meine Kräfte höher,
Schon glüh' ich wie von neuem Wein,
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
Mit Stürmen mich herumzuschlagen
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
Es wölkt sich über mir –
Der Mond verbirgt sein Licht Die Lampe schwindet!
Es dampft - Es zucken rote Strahlen
Mir um das Haupt - Es weht
Ein Schauer vom Gewölb' herab
Und faßt mich an!
Ich fühl's, du schwebst um mich, erflehtet Geist.
Enthülle dich!
Ha! wie's in meinem Herzen reißt!
Zu neuen Gefühlen
All' meine Sinnen sich erwühlen!
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt! du mußt! und kostet' es mein Leben!
[Goethe: Faust. Eine Tragödie, S. 19 - 24. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 9738 - 9743 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 20 - 23)]
Aufgaben zum Text
1. Wie lange arbeitete der Dichter an der Tragödie Faust?
2. Was gestaltete Goethe in dieser genialen Dichtung in höchster künstlerischer Form?
3. Welche Erkenntnisse seiner Zeit verarbeitete Goethe in Faust ?
4. Was begeisterte den Dichter (und nicht Goethe allein) und bewegte ihn, diese Idee in
dichterischer Form zu gestalten?
5. Ist der Held dieser Legende, ein gewisser Johann Georg Faust, eine erfundene Person? Was wissen Sie über diesen Mann?
6. Was ist der Held der Sage in Goethes Dichtung?
7. Wie zeigt der Autor, dass sich der Held der Sage im Augenblick in einer schweren
geistigen Krise befindet?
8.Warum lassen ihn seine allseitigen Kenntnisse unbefriedigt?
9. Fassen Sie den Inhalt des Monologs kurz zusammen.
10.Machen Sie eine inhaltliche Gliederung zum Text. Sprechen Sie über die Komposition
des Monologs.
11.Welche Mittel dienen dem Ausdruck der Expressivität?
12. Analysieren Sie die Mittel der Bildlichkeit im Monolog.
13. Durch welche Mittel drückt Faust seinen Mißmut über die scholastische Wissenschaft aus?
14. Wie verändert sich der Charakter der Lexik, wenn der Held über die Natur spricht?
15. Goethe verwendet im Monolog auch die Neuschöpfungen. Finden Sie sie im Text.
16. Welche Versform hat Goethe gewählt? Informieren Sie sich über die Besonderheiten
dieser Versform.
19
Texte zur selbständigen Analyse
TEXT 1
J.W.Goethe
Faust
FAUST. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flor;
Aber die Sonne duldet kein Weißes:
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit' und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!
WAGNER. Mit Euch, Herr Doktor, zu spazieren,
Ist ehrenvoll und ist Gewinn;
Doch würd' ich nicht allein mich her verlieren,
Weil ich ein Feind von allem Rohen bin.
Das Fiedeln, Schreien, Kegelschieben
20
Ist mir ein gar verhaßter Klang;
Sie toben wie vom bösen Geist getrieben
Und nennen's Freude, nennen's Gesang.
[Goethe: Faust. Eine Tragödie, S. 43 - 44. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 9762 - 9763 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 35 - 36)]
TEXT 2
J.W.Goethe
Faust
Studierzimmer
FAUST (mit dem Pudel hereintretend.)
Verlassen hab' ich Feld und Auen,
Die eine tiefe Nacht bedeckt,
Mit ahnungsvollem, heil'gem Grauen
In uns die beßre Seele weckt.
Entschlafen sind nun wilde Triebe
Mit jedem ungestümen Tun;
Es reget sich die Menschenliebe,
Die Liebe Gottes regt sich nun.
Sei ruhig, Pudel! renne nicht hin und wider!
An der Schwelle was schnoperst du hier?
Lege dich hinter den Ofen nieder,
Mein bestes Kissen geb' ich dir.
Wie du draußen auf dem bergigen Wege
Durch Rennen und Springen ergetzt uns hast,
So nimm nun auch von mir die Pflege,
Als ein willkommner stiller Gast.
Ach, wenn in unsrer engen Zelle
Die Lampe freundlich wieder brennt,
Dann wird's in unserm Busen helle,
Im Herzen, das sich selber kennt.
Vernunft fängt wieder an zu sprechen,
Und Hoffnung wieder an zu blühn,
Man sehnt sich nach des Lebens Bächen,
Ach! nach des Lebens Quelle hin.
Knurre nicht, Pudel! Zu den heiligen Tönen,
Die jetzt meine ganze Seel' umfassen,
Will der tierische Laut nicht passen.
Wir sind gewohnt, daß die Menschen verhöhnen,
Was sie nicht verstehn,
Daß sie vor dem Guten und Schönen,
Das ihnen oft beschwerlich ist, murren;
Will es der Hund, wie sie, beknurren?
Aber ach! schon fühl' ich, bei dem besten Willen,
Befriedigung nicht mehr aus dem Busen quillen.
Aber warum muß der Strom so bald versiegen,
Und wir wieder im Durste liegen?
Davon hab' ich so viel Erfahrung.
Doch dieser Mangel läßt sich ersetzen:
21
Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würd'ger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängt's, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
(Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.)
Geschrieben steht: ›Im Anfang war das Wort!‹
Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh' ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
Soll ich mit dir das Zimmer teilen,
Pudel, so laß das Heulen,
So laß das Bellen!
Solch einen störenden Gesellen
Mag ich nicht in der Nähe leiden.
Einer von uns beiden
Muß die Zelle meiden.
Ungern heb' ich das Gastrecht auf,
Die Tür ist offen, hast freien Lauf.
Aber was muß ich sehen!
Kann das natürlich geschehen?
Ist es Schatten? ist's Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
Er hebt sich mit Gewalt,
Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht' ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus,
Mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß.
O! du bist mir gewiß!
Für solche halbe Höllenbrut
Ist Salomonis Schlüssel gut.
[Goethe: Faust. Eine Tragödie, S. 54 - 57. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 9773 - 9776 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 42-45)]
ZU J.W.GOETHES BALLADE DER SÄNGER
22
Die Ballade ist ein erzählendes Gedicht mit einer stark dramatischen Handlung. Es
ist ein poetisches Genre, in dem lyrische, epische und dramatische Elemente zusammenwirken. Das Lyrische ist in der Ballade durch die stark subjektive Haltung des Dichters zum Gegenstand der Darstellung ausgeprägt; das Epische realisiert sich in dem
berichtenden Erzählton einiger Strophen oder Zeilen; das Dramatische kommt in der
sich stürmisch entwickelnden Handlung und im vorherrschenden Dialog vor. Goethe
betonte, daß in der Ballade ˝die Elemente noch nicht getrennt, sondern, wie in einem
lebendigen Ur-ei, zusammen sind...˝
Als Stoff der Ballade dienen handlungsreiche, oft tragische Ereignisse aus Geschichte und Volkspoesie; es werden Leid und Liebe, Märchenhaftes und Realistisches, Kampf für Freiheit und Würde des Menschen gestaltet. Das Geschehen wird
aufs äußerste gerafft; oft gibt der Autor nur den Schlußakt der sich tragisch entwickelnden Handlung.
Die Eigenart des Baus der Ballade bildet die Abwechslung der Berichtform und
des Dialogs. Zu den fakultativen Merkmalen der Ballade zählt man ihre relative Knappheit und den sprunghaften Charakter der Darstellung.
Ursprünglich war die Ballade ein bei den romanischen Völkern verbreitetes Tanzlied (lat.ballata, von ballare – tanzen; altfranz. ballada). In England und Schottland bezeichnete man so Lieder, die die Taten von Volkshelden besingen (z. B. die RobinHood-Lieder). In Deutschland wurzelt die Ballade in dem Heldenlied, das im Mittelalter
auf Schlössern und später in Wirtshäusern gesungen wurde.
Sehr beliebt war die Ballade im Sturm und Drang, mit seinem ausgeprägten Interesse für die Volkspoesie. Als eigentliche Schöpfer der deutschen Kunstballade gelten
Bürger, Herder, Goethe und Schiller. Die erste weltbekannt gewordene Ballade ist Lenore von Bürger (1774). Ihren glanzvollen Höhepunkt erlebt die Balladendichtung im
Schaffen von Goethe und Schiller 1797; dieses Jahr ist in der Literaturgeschichte als
das Balladenjahr bekannt.
Die Ballade Der Sänger wurde im Jahre 1782 geschrieben. In dieser Zeit bewegt
Goethe immer mehr das Thema der Kunst und des Künstlers; der Dichter träumt von
der Unabhängigkeit seines Schaffens von dem Feudalhof des Herzogs Karl August; er
behauptet das Recht des Künstlers auf die Freiheit seines Schaffens.
Für die poetische Gestaltung dieses Themas wählt der Autor einen mittelalterlichen Stoff: der wandernde Sänger kommt auf das Schloß eines Feudalherrn, singt seine Lieder vor, weigert sich aber, seiner Freiheit zuliebe, den reichen Lohn entgegezunehmen. Das Mittelalter wird in der Ballade als ein abstrakt-ideeles Bild dargestellt. Das
lyrische ˝Ich˝ des Dichters wird in der Gestalt des Sängers verkörpert; auf diese Weise
hält der Dichter eine epische Distanz von der sich entwickelnden Handlung.
Der fragmentarische Charakter der Darstellung zeigt sich schon im Bau der Ballade. Die Anfangsstrophe enthält keine episch erzählende Einleitung; in der
Schlußstrophe scheint die Handlung jäh abzubrechen. Die erzählenden Verszeilen sind
auf ein Minimum beschränkt. Der übrige Text besteht aus der Wechselrede des Königs
und des Sängers. Die längere Rede des Sängers erhält bei einer solchen Komposition
eine besondere Wirkung.
Die Ballade ist nach dem mittelalterlichen Gesang stilisiert, deshalb hat der Text
eine gehobene Stilfärbung; in der Lexik dominieren Elemente Elemente mit expressiver
Semantik (die Schönen, mutig,Pracht, Herrlichkeit, hochbeglückt, kühn), oder die Wörter bekommen Expressivität in ihrer übertragenen Bedeutung (reicher Himmel, Stern
bei Stern, goldne Last). Es gibt Wörter mit gehobener Stilfärung (Angesicht, Trank,
Trunk, Labe,Gabe, sich ergötzen). Die vielfältigen Historismen verleihen der Ballade
das zeitliche Kolorit und zugleich eine poetische Färbung.
23
Die Syntax zeichnet sich durch einige expressive und gehoben gefärbte Strukturen
aus: zahlreiche Ausrufe- und Aufforderungssätze, Anreden; absolut gehoben gefärbt ist
das vorangestellte Genitivattibut der Feinde Lanzen. Die Wiederholungen steigern die
gehoben expressive Färbung des Textes.
Det tiefe Inhalt und die meisterhafte poetische Form reihen diese Ballade in die
schönsten Werke der deutschen Kunstballadendichtung ein.
(Nach: Wasbuzkaja K.G., Giltschenok N.L. Analytisches Lesen. Leningrad, 1980, S 44-46).
Aufgaben
1. Informieren Sie sich über das Genre Ballade. Welche Elemente wirken in der Ballade
zusammen?
2. Wie wird das Lyrische in der Ballade ausgeprägt?
3. Wie realisiert sich das epische Element?
4. Wie kommt das dramatische Element zur Geltung?
5. Wie bestimmte Goethe die Eigenheit der Ballade?
6. Welche Ereignisse aus Geschichte und Volkspoesie dienen als Stoff der Ballade?.
7. Wie entwickelt sich die Handlung in der Ballade?
8. Sprechen Sie über die Eigenart des Baus der Ballade.
9. Welche Merkmale gehören zu den fakultativen Merkmalen der Ballade?
10.Informieren Sie sich über die Geschichte der Ballade. Warum war dieses Genre im
Sturm und Drang sehr beliebt?
11. Was war die erste weltbekannt gewordene Ballade?
12. Welches Jahr ist in der Literaturgeschichte als das Balladenjahr bekannt?
Text zur Analyse
J.W.Goethe
Der Sänger
˝Was hör ich draußen vor dem Tor,
Was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
Im Saale widerhallen!˝
Der König sprach's, der Page lief;
Der Knabe kam, der König rief:
˝Laßt mir herein den Alten!˝
˝Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergetzen.˝
Der Sänger drückt' die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten mutig drein
Und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
Eine goldne Kette holen.
˝Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
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Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern;
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.
Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet;
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet.
Doch darf ich bitten, bitt ich eins:
Laß mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen.˝
Er setzt' ihn an, er trank ihn aus:
˝O Trank voll süßer Labe!
O wohl dem hochbeglückten Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke.˝
[Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), S. 138 - 139. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 7022 - 7023 (vgl. Goethe-BA Bd. 1,
S. 112-113)]
Aufgaben zum Text
1. Lesen Sie die Ballade und formulieren Sie Ihren Eindruck vom Gelesenen.
2. Geben Sie den Inhalt der Ballade in knappen Worten wieder.
3. Wo und wann spielt sich die Handlung ab? Warum gibt es im Text keine genauen Angaben darüber?
4. Sprechen Sie über die Komposition der Ballade. In welche Teile läßt sie sich inhaltlich
gliedern? Wo ist der Kulminationspunkt der Ballade?
5. Sprechen Sie über die Rolle der rhetorischen Mittel im Text (Metaphern, Epitheta,
Wiederholungen).
6. Welche Mittel verleihen dem Text Expressivität?
7. Finden Sie im Text Archaismen und Historismen und bestimmen Sie ihre Rolle.
8. Formulieren Sie den Grundgedanken des Textes.
9. Welches Thema bewegt Goethe in dieser Zeit?
10. Warum wählt der Autor für die poetische Gestaltung dieses Themas einen mittelalterlichen Stoff?
11. Warum wird das Mittelalter in der Ballade als ein abstrakt-ideeles Bild dargestellt?
12. Auf welche Weise erhält die längere Rede des Sängers bei dieser Komposition eine
besondere Wirkung?
13. Die Ballade ist nach dem mittelalterlichen Gesang stilisiert. Welche stilistische Färbung hat deshalb der Text?
14. Was verleiht der Ballade das zeitliche Kolorit und zugleich eine poetische Färbung?
Texte zur selbständigen Analyse
J. W. Goethe
Erlkönig
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
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Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
˝Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?˝
˝Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?˝
˝Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.˝
˝Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand;
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.˝
˝Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?˝
˝Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blдttern säuselt der Wind.˝
˝Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.˝
˝Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?˝
˝Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.˝
˝Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.˝
˝Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!˝
Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
J. W. Goethe
Der Fischer
Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor;
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.
Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
˝Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
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Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.
Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Tau?˝
Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
Und ward nicht mehr gesehn.
[Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), S. 143-145. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 7027-7029 (vgl. Goethe-BA Bd. 1, S.
115-117)]
ÜBER DAS SONETT MÄCHTIGES ÜBERRASCHEN
Das Sonett Mächtiges Überraschen ist das erste im Sonettzyklus, das aus 17 Sonetten besteht. Goethe hat ihn im Jahre 1807 geschrieben. In diesen Sonetten hat
Goethes Altersliebe zu Bettine Brentano (Elisabeth Arnim, 1785 – 1853) ihren Widerhall
gefunden.
Das vorliegende Sonett ist ein Beispiel der klassischen Sonettform. Es hat 14 Zeilen,
die zwei vierzeilige und zwei dreizeilige Strophen bilden. Die vierzeiligen Strophen sind
umschlungen gereimt. In der ersten Strophe gibt es den sogenannten unreinen Reim: gereimt sind Wörter verbinden – Gründen. Das Reimen der labialisierten und unlabialisierten
Vokale ist eine verbreitete Erscheinung in der deutschen Dichtung. Sie ist durch die
mundartliche Delabialisierung der labialisierten Vokale (und umgekehrt) bedingt und erscheint in der deutschen Poetik seit dem 17. Jahrhundert.
Die Endsilben der zwei letzten Strophen sind auf eine andere Weise gereimt. Die
Zeilen innerhalb einer Strophe bleiben ungereimt, der Reim entsteht zwischen entsprechenden Zeilen der dritten und vierten Strophe.
Das Versmaß des Gedichtes ist der fünffüßige Jambus mit dem übervollständigen
Verszeilenschluß.
Das Sonett beginnt mit dem Bild einer gewaltigen, unaufhaltsamen, ungehinderten
Bewegung eines Stromes. Die zweite Strophe gibt den Konflikt an; die Stimmung des
Gedichts verändert sich. Die Strophe beginnt mit dem Adverbiale dämonisch, welches,
seiner Wichtigkeit wegen, die stilistische Spitzenstellung einnimmt und dadurch eine
besonders nachdrückliche emphatische Betonung erhält. Das zweitwichtigste Wort dieser Zeile ist das Prädikat stürzt, das auch eine nachdrückliche Betonung hat, da es
dem Dienstwort aber folgt, das (wie alle Dienstwörter) schwächer betont wird.
Die akzentmäßige Hervorhebung dieser zwei Wörter macht sie zum semantischen
Zentrum der Zeile und zum Ausgangspunkt des Themas der gesamten Strophe.
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Der so ungewöhnlich begonnene Satz wird in der zweiten Zeile durch einen
Schaltsatz unterbrochen: Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden, der sich eigentlich
auf das Subjekt bezieht, welches noch ungenannt bleibt. Dadurch erreicht der Dichter
eine große innere Spannung der zweiten Strophe; diese Spannung löst sich erst in der
dritten Zeile auf, wenn das Subjekt genannt wird.
Von zwei Seiten (durch einen Schaltsatz und die Infinitivgruppe Behagen dort zu
finden) vom Satz, zu dem es gehört, abgesondert, wird dieses Subjekt (Oreas) zum
melodischen und logischen Höhepunkt der Strophe.
In der vierten Zeile wird das Prädikat hemmt nachdrücklich betont durch seine
Stellung nach der Trennungsgrenze wie auch nach der abgesonderten Infinitivgruppe
Behagen dort zu finden.
Also sind die Zeilen der zweiten Strophe semantisch nicht vollendet. Der Gedanke
schlängelt sich von einer Zeile auf die andere durch alle vier Zeilen.
Durch das Heranwachsen und die nachfolgende Auflösung der Spannung erhält die
zweite Strophe eine ganz andere innere Rhythmik der Unruhe und Aufregung, welche durch
die abgesonderte Infinitivgruppe in der dritten Zeile und die zwei asyndetisch verbundenen
Prädikatgruppen in der vierten Zeile unterstützt und verstärkt werden.
In der dritten Strophe wird die gehemmte, in sich selbst geschlossene Wellenbewegung durch polysyndetisch verbundene lautmalerische Prädikate dargestellt: Die
Welle sprüht und staunt zurück und weichet und schwillt...
Das Wesentlichste, der Ausgang dieses Kampfes in der Natur, wird wiederum
durch die stilistische Spitzenstellung des Prädikativs gehemmt in der dritten Zeile hervorgehoben. Das Prädikat der zweiten Strophe hemmen wird in der dritten wiederholt.
Das erste Mal diente es in der Präsensform zur Bezeichnung des Kampfes zwischen
Oreas und den Wellen, das andere Mal weist die Form des Prädikats darauf hin, daß
dieser Kampf zu Ende ist. Die in der zweiten Strophe entstandene Spannung ebbt ab.
In der vierten Strophe ist die Form des Gedichts in einem vollendeten Einklang mit der
inneren Ruhe und Harmonie in der Natur.
Diese vollkommene innere Ruhe kommt durch den epischen Ton der vierten Strophe zur Geltung: 1) durch die neutrale Wortfolge in Sätzen; 2) durch das Enjambement,
demzufolge an der Grenze der zweiten und dritten Zeile das Genitivattibut von seinem
Bezugswort getrennt wird (das Blinken/des Wellenschages). Das Wort das Blinken mit
seiner Attibutgruppe wird als eine rhythmische Einheit ausgesprochen und läßt dadurch
die Zeile länger erscheinen; 3) durch die Lautinstrumentierung der letzten Zeile: Des
Wellenschlags am Fels, ein neues Leben. Die letzten Worte, die das Gedicht abschließen – eine abgesonderte, absolut selbständige Wortgruppe ein neues Leben – bilden
die dichteriscehe und philosophische Vollendung des Sonetts. (Nach.: Schischkina I.P.,
Smoljan O.A. Analytisches Lesen. Leningrad, 1979, S. 35 - 37).
Text zur Analyse
J. W. Goethe
Mächtiges Überraschen
Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale,
Dem Ozean sich eilig zu verbinden;
Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen,
Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.
Dämonisch aber stürzt mit einem
Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden
Sich Oreas, Behagen dort zu finden,
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Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale
Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet,
Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;
Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben
Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;
Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken
Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.
Aufgaben zum Text
1. Lesen Sie das Sonett und geben Sie seinen Inhalt kurz wieder.
2. Sprechen Sie über die Komposition des Textes.
3. Analysieren Sie die Mittel der Lautmalerei im Text.
4. Analysieren Sie die Syntax und die Mittel zum Ausdruck der Expressivität.
5. Sprechen Sie über die Rolle der stilistischen Mittel im Text (Metaphern, Epitheta, Personifizierung.
6. Formulieren Sie den Grundgedanken des Werkes.
7. Welche persönlichen Erlebnisse des Autors haben in dem Sonett Mächtiges Überraschen ihren Wiederhall gefunden?
8. Wie wird das Bild einer gewaltigen Bewegung eines Stromes geschaffen?
9. Wie wird die Wellenbewegung in der dritten Strophe dargestellt?
10. Was ist das wichtigste Mittel zum Ausdruck des Grundgedankens des Sonetts?
11. Wie werden die laumalerischen Effekte in der dritten Strophe erreicht?
12. Welche Rolle hat der Zeilensprung in der vierten Strophe?
13. Alle Verben werden in der Zeitform des Präsens gebraucht. Welche Rolle spielt dieses grammatische Mitel?
14. In der ersten Strophe gebraucht der Autor eine verbale Neubildung. Analysieren Sie sie.
15. In der dritten Strophe wird vom Autor eine Metapher gebraucht. Analysieren Sie sie
16. Welche Wortgruppe bildet die dichterische und philosophische Vollendung des Sonetts in der 4. Strophe?
Text zur selbständigen Analyse
J. W. Goethe
Freundliches Begegnen
Im weiten Mantel bis ans Kinn verhüllet,
Ging ich den Felsenweg, den schroffen, grauen,
Hernieder dann zu winterhaften Auen,
Unruh'gen Sinns, zur nahen Flucht gewillet.
Auf einmal schien der neue Tag enthüllet:
Ein Mädchen kam, ein Himmel anzuschauen,
So musterhaft wie jene lieben Frauen
Der Dichterwelt. Mein Sehnen war gestillet.
Doch wandt ich mich hinweg und ließ sie gehen
Und wickelte mich enger in die Falten,
Als wollt ich trutzend in mir selbst erwarmen;
Und folgt ihr doch. Sie stand. Da war's geschehen
In meiner Hülle konnt ich mich nicht halten,
Die warf ich weg, sie lag in meinen Armen.
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[Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), S. 398-399. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 7282-7283 (vgl. Goethe-BA Bd. 1, S.
273-274)]
JOHANN FRIEDRICH SCHILLER (1759 – 1805)
1. Sozialgeschichtlicher Kontext: Informieren Sie sich über sozialgeschichtliche
Voraussetzungen der deutschen literarischen Bewegung Sturm-und- Drang. Die Herausbildung einer neuen sozialen Klasse: des Bürgertums. Die rückständigen feudalen
Verhältnisse in Deutschland: die territoriale Zersplitterung, die absolutistische Willkür
der Fürsten. Die Konfrontation zwischen Adel und Bürgertum.
Material: Tatsachen über Deutschland - Frankfurt-am-Main:Societäts-Verlag,
2000, S. 111 - 115 .
2. Literarische Entwicklungen und Gattungen: Sturm-und-Drang. Geniekult. Das
bürgerliche Drama. Der bürgerliche Roman. Subjektivität und Gesellschaftskritik in der Lyrik.
Material: Beutin Wolfgang u. a.: Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen
bis zur Gegenwart / Wolfgang Beutin u. a. - Stuttgart: Metzler, 1994, S. 136, 142, 152.
Sturm und Drang. Ein Lesebuch für unsere Zeit. – Berlin und Weimar: AufbauVerlag, 1965, S. 3 – 71.
LEBEN UND WERK
Johann Friedrich Schiller ist einer der größten Dichter der klassischen deutschen
Literatur. Neben dem lyrischen Werk und den ästhetischen Schriften nimmt im Gesamtschaffen dieses Dichters die Dramatik einen hervorragenden Platz ein.
Johann Friedrich Schiller wurde in Marbach, einem kleinen Städtchen des Herzogtums Württemberg, als Sohn eines Regimentsfeldschers geboren und starb 1805 in
Weimar. Er wurde mit 12 Jahren in die Militärakademie geschickt, die der despotische
Herzog Karl Eugen von Württemberg gegründet hatte. In dieser geschlossenen Erziehungsanstalt herrschte eine strenge Kasernendisziplin, die in der Seele des empfindamen Jünglings tiefe, unvertilgbare Spuren hinterließ und einen leidenschaftlichen Haß
auf die bestehende Ordnung auslöste. Nach der Akademie wurde er zum Regimentsarzt ernannt, widmete sich aber bald ganz dem dichterischen Schaffen. Das erste Drama Schillers Die Räuber (1781) hatte einen Zornausbruch des Herzogs zur Folge, der
Schiller ˝bei Strafe der Kassation (Entlassung)˝ verbot, ˝Komödien˝ zu schreiben. 1782
floh Schiller heimlich aus Württemberg. Nachdem er kurze Zeit als Bühnendichter am
Mannheimer Theater tätig gewesen war und dann lange und mit der größten Armut
kämpfend umhergeirrt war, wurde Schiller 1789 durch Goethes Vermittlung als Professor der Geschichte an die Universität Jena berufen. Die Professur mußte der Schwindsüchtige zwar gesundheitshalber bald aufgeben, aber er setzte seine Geschichtsstudien in Jena fort und veröffentlichte 1789 Die Geschichte des Abfalls der Vereinigten
Niederlande von Spanien und 1793 die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Im
Jahre 1799 siedelte Schiller nach Weimar, in die Nähe von Goethe über, mit dem er
1794 näher bekannt geworden war.
Die ersten Dramen Schillers ließen den Geist der Sturm- und Drangbewegung
noch einmal aufleben. Ihren stärksten Ausdruck fand die rebellische Stimmung der
Stürmer und Dränger in den Räubern. Die übertriebene Affektation, Abstraktheit und
ungenügende Individualisierung der Gestalten führte dazu, daß sich die Helden dieses
Dramas wohl mehr als die der anderen Dramen Schillers in ˝bloße Sprachröhre des
Zeitgeistes˝ verwandelten. Zu den Jugenddramen Schillers gehören ferner Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale und Liebe (1784). Dieses Drama
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mit seinem flammenden Protest gegen den Despotismus der kleinen Fürsten hat die
größte Rolle in der Entwicklung des deutschen Theaters gespielt. Für den rebellischen
Geist, der in diesen Dramen herrscht, wurde Schiller 1792 von der Nationalversammlung in Paris mit dem französischen Bürgerbrief ausgezeichnet.
Allmählich, besonders aber im Zusammenhang mit dem revolutionären Terror in
Frankreich, vollzieht sich die Abkehr Schillers vom politischen Kampf gegen die feudale
Ordnung und zugleich seine Entwicklung zum Klassiker. Nach dem Drama der Übergangsperiode Don Carlos (1787) schrieb Schiller die Trilogie Wallenstein (1798 –
1799), ferner: Maria Stuart (1800), Die Jungfrau von Orleans (1801), Die Braut von
Messina (1803), Wihelm Tell (1804). Außerdem schuf Schiller in den Jahren 1797 –
1798 eine Reihe Balladen: Der Handschuh, Der Ring des Polykrates, Ritter Toggenburg, Die Kraniche des Ibykus, Der Taucher, Die Bürgschaft. Obwohl Schiller auf den
revolutionären Kampf verzichtete, litt er doch innerlich unter den deutschen Zuständen
und kehrte immer wieder zu seinem Ideal der Freiheit zurück, die ihm bald in der einen
bald in der anderen, aber immer abstrakt werdenden Gestalt vorschwebte.
Schillers fortschriftlichen Ideen, sein Kampf für die Vereinigung Deutschlands, seine Liebe zum Menschen sowie die Meisterschaft, mit der Schiller seine Stoffe gestaltet,
seine ausgezeichnete Kunst der dramatischen Intrige und die ausdrucksvolle Sprache
haben bewirkt, daß Schiller unter den deutschen bürgerlichen Dramatikern den ersten
Platz einnimmt.
Aufgaben
1. Nennen Sie die Lebensdaten von Friedrich Schiller und sprechen Sie über seine Biographie.
2. Neben dem lyrischen Werk und den ästhetischen Schriften nimmt im Gesamtschaffen
von F. Schiller die Dramatik einen hervorragenden Platz ein. Wie hieß das erste Drama F.
Schillers?
3. Die ersten Dramen Schillers ließen den Geist der Sturm- und Drangbewegung noch
einmal aufleben. Informieren Sie sich über die literarische Richtung Sturm und Drang.
4. Das Drama ist neben Lyrik und Epik eine literarische Hauptgattung. Sprechen Sie über
die Besonderheiten dieser Gattung.
5. Was ist die inhaltliche und kompositorische Grundlage eines Dramas?
6. Welche Genres der Dramatik unterscheidet man nach der Art der Führung und Auflösung der Konflikte?
7. Wie heißen die szenischen Bemerkungen des Dichters über Bühnenbild und Ausstattung, Aussehen und Gesten des Schauspieler sowie Regieanweisungen?
ZU F. SCHILLERS DRAMA KABALE UND LIEBE
Das Drama ist neben Lyrik und Epik eine literarische Hauptgattung. Alle Begebenheiten des menschlichen Lebens werden im Drama als sich gegenwärtig abspielende
Ereignisse schauspielerisch auf der Bühne vor einer Zuhörerschaft dargestellt. Die
dramatische Dichtung ist kultischen Ursprungs. Sie erlebte ihre Blütezeit in den Epochen des gesellschaftlichen Aufschwungs, so in der Antike (Äschylus, Schophokles,
Euripides), in der Renaissance (Shakespeare, L.de Vega), in der Zeit des heranwachesnden Bürgertums und der bürgerlichen Revolutionen (Lessing, Goethe, Schiller,
Gribojedov, Gogol, Ostrovski). Zum Wesen der Dramatik gehört der Konflikt – die inhaltliche und kompositorische Grundlage des Dramas. Der Konflikt wird meist durch die
Wahl des Stoffes und der Helden bestimmt; in ihm werden gesellschaftliche Ereignisse
und Widersprüche sichtbar. Nach der Art der Führung und Auflösung der Konflikte unterscheidet man folgende Genres der Dramatik: 1. die Tragödie, oder das Trauerspiel,
(endet mit dem Scheitern und Untergang einer oder mehreren Hauptgestalten); 2. die
Komödie, oder das Lustspiel, (Verwicklungen der Handlung werden heiter gelöst); 3.
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das Drama, oder das Schauspiel, (ernste Konflikte werden positiv gelöst ohne Scheitern und Untergang der Hauptgestalten).
Zu den wichtigsten Bauelementen des Dramas gehören auch Fabel, Handlung,
Figuren (Gestalten).
Die Fabel ist ein wichtiger Ordnungsfaktor der Handlung; in ihr ist die Einheit der
dramatischen Handlung begründet. Unter der Handlung versteht man die Gesamtheit
aller Ereignisse. Die Austragung und Auflösung der Konflikte umfaßt die gesamte
Handlung. Die Handlungsträger des Dramas werden Gestalten, Figuren oder Personen
genannt. Die Bezeichnung ˝Held˝ bezieht sich oft auf die Hauptgestalt und ist in diesem
Fall wertungsfrei.
Die klassische Dramaturgie gliederte die dramatischen Werke in Akte (Aufzüge),
diese in Szenen (Auftritte). Für das klassische Drama war die Gliederung in fünf Akte
und die Einheit von Zeit, Ort und Handlung erforderlich. In der modernen Dramatik ist
die Gliederung des Dramas mannigfaltig.
Das Wechselspiel der Figuren realisiert sich im Dialog (Wechselrede) und Monolog (Selbstgespräch). Im Monolog offenbaren sich Seelenzustände der Figuren und
Motive für das Handeln. Der Monolog des positiven Helden ist oft das Sprechrohr des
Autors.
Die szenischen Bemerkungen des Dichters über Bühnenbild und Ausstattung,
Aussehen und Gesten des Schauspieler sowie Regieanweisungen heißen Bühnenanweisungen.
Das erste deutsche bürgerliche Drama schuf G.E. Lessing; einen wesentlichen
Beitrag zur Entwicklung des Dramas hat B. Brecht geleistet.
Kabale und Liebe, Schillers drittes großes dramatisches Werk, krönt sein Schaffen
der Sturm-und Drang-Periode. Das Drama erschien 1783 unter dem Titel ˝Luise Miller, ein
bürgerliches Trauerspiel˝ (erst später erhielt es auf Vorschlag des Schauspielers und
Dramatikers Iffland den Titel Kabale und Liebe). Der Konflikt entwickelt sich aus der Liebe
eines Bürgermädchens und eines Adligen, die an höfischen Kabalen scheitert und mit Untergang der beiden Haupthelden endet. Dieser reale menschlich-gesellschaftliche Konflikt
gab Schiller Anlaß, das ganze feudal-absolutistische System am Beispiel eines deutschen
Fürstentums rücksichtslos anzuprangern. Der Dichter zeigt den offenen Konflikt bürgerlicher Menschen (Luise, Stadtmusikant Miller) mit der feudalen Willkür (Präsident von Walter) als gesellschaftliche Auseinandersetzung des aufsteigenden Bürgertums mit dem
Feudalsystem zur Zeit der hereinreifenden bürgerlichen Revolution in Europa. Wegen der
Zensur konnte Schiller Ort und Zeit der Handlung nicht genau angeben. Es gibt um Text
aber Anspielungen, die den Zeitgenossen verständlich waren. Das war der der Öffentlichkeit bekannte Menschenhandel – Verkauf der Soldaten an fremde Staaten, den manche
Fürsten, darunter auch Karl Eugen von Württemberg, trieben. Die Kammerdiener-Szene,
die den Soldatenverkauf behandelt, geht auf das Lied der hessischen Soldaten zurück, die
1775 nach Amerika verschachert wurden, um am Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung des amerikanischen Volkes teilzunehmen: ˝Juchheisa nach Amerika!˝
Schillers flammender Protest gegen Tyrannei, Rechlosigkeit und Entwürdigung
des Menschen war Anklage und Rebellion gegen die deutsche Misere seiner Zeit, was
das Drama politisch aktuell machte und begeisterten Anklang beim Publikum hervorrief.
Kabale und Liebe ist ein realistisches Drama, denn es gestaltet typische Charaktere unter typischen gesellschaftlichen Verhältnissen und ist von fortschrittlichen Ideen seiner
Zeit durchdrungen.
Die zweite Szene des zweiten Aktes, die sogenannte Kammerdiener-Szene, gehört zu den stärksten und eindruckvollsten Szenen des Dramas. Die handelnden Personen sind ein alter Kammerdiener des Fürsten und Lady Milford, die Favoritin des
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Fürsten. Der Kammerdiener überbringt Lady Milford ein Schmuckkästchen mit Juvelen,
das ihr vom Fürsten als Geschenk zur geplanten Hochzeit mit Ferdinand von Walter
geschickt wird.
Im Drama werden die handelnden Personen hauptsächlich durch die Gestaltung
ihrer Rede (das Sprachporträt) und durch die Autorenrede in Bühnenanweisungen charakterisiert.
Die Bühnenanweisungen sind nicht knapp und objektiv-konstatierend, sondern leidenschaftlich wie die Rede der handelnden Personen, weil sie das Mitgefühl des Dichters widerspiegeln und die erhöhte Emotionalität des jungen Schiller als eines Dichters
der Sturm-und-Drang-Bewegung.
Die spezifische Darstellungsweise der dramatischen Dichtung ist der Dialog, er
bestimmt den syntaktischen Bau der Figurenrede. Es sind in erster Linie typische Strukturen der Wechselrede wie elliptische und eingliedrige Sätze. Die Aufregung und tiefe
Anteilnahme des Kammerdieners finden ihren Ausdruck in der Dynamik der Aussage.
Anschaulich und mitleiderregend beschreibt er in rascher Abwechselung von Bildern
die Trennung der Verkauften von ihren Angehörigen. Umfangreiche Satzperioden und
Satzreihen mit vielen verbalen Prädikaten und Partizipialattibuten geben dieser Szene
ihr Gepräge. Die Gefühlsübersteigerung äußert sich in vielen Interjektionen, Ausrufeund Fragesätzen. Die emphatische Intonation wird graphisch auch durch zahlreiche
Gedankenstriche gekennzeichnet. Die Verzweiflung und Bitterkeit werden durch ironische Ausdrucksweise offenbart: der Kammerdiener sagt das Gegenteil davon, was verstanden werden soll, und dadurch gewinnen Wörter und Wortverbindungen im Kontext
an Emotionalität. Im Sprachporträt des Kammerdieners sind auch sprachliche Mittel,
die die Volkstümlichkeit seiner Rede ausdrücken, ihn als einen einfachen Menschen
aus dem Volke charakterisieren.
(Nach: Wasbuzkaja K.G., Giltschenok N.L. Analytisches Lesen. Leningrad, 1980, S 90 - 95).
Text zur Analyse
TEXT 1
F.Schiller
Kabale und Liebe
Zweiter Akt
Zweite Szene
Ein alter Kammerdiener des Fürsten, der ein Schmuckkästchen trägt.
Die Vorigen
KAMMERDIENER. Seine Durchlaucht der Herzog empfehlen sich Mylady zu Gnaden, und schicken Ihnen diese Brillanten zur Hochzeit. Sie kommen soeben erst aus
Venedig.
LADY (hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken zurück.) Mensch! was bezahlt dein Herzog für diese Steine?
KAMMERDIENER (mit finsterm Gesicht.) Sie kosten ihn keinen Heller.
LADY. Was? Bist du rasend? Nichts? - und (indem sie einen Schritt von ihm wegtritt) du wirfst mir ja einen Blick zu, als wenn du mich durchbohren wolltest - Nichts kosten ihn diese unermeßlich kostbaren Steine?
KAMMERDIENER. Gestern sind siebentausend Landskinder nach Amerika fort Die zahlen alles.
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LADY (setzt den Schmuck plötzlich nieder und geht rasch durch den Saal, nach
einer Pause zum Kammerdiener.) Mann, was ist dir? Ich glaube, du weinst?
KAMMERDIENER (wischt sich die Augen, mit schrecklicher Stimme, alle Glieder
zitternd.) Edelsteine wie diese da - Ich hab auch ein paar Söhne drunter.
LADY (wendet sich bebend weg, seine Hand fassend.) Doch keinen Gezwungenen?
KAMMERDIENER (lacht fürchterlich.) O Gott - Nein - lauter Freiwillige. Es traten
wohl so etliche vorlaute Bursch vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie
teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? - aber unser gnädigster Landesherr ließ
alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und
die ganze Armee schrie: Juchhe! nach Amerika!
LADY (fällt mit Entsetzen in den Sofa.) Gott! Gott! - Und ich hörte nichts? Und ich
merkte nichts?
KAMMERDIENER. Ja, gnädige Frau - warum mußtet Ihr denn mit unserm Herrn
gerad auf die Bärenhatz reiten, als man den Lärmen zum Aufbruch schlug? - Die Herrlichkeit hättet Ihr doch nicht versäumen sollen, wie uns die gellenden Trommeln verkündigten, es ist Zeit, und heulende Waisen dort einen lebendigen Vater verfolgten,
und hier eine wütende Mutter lief, ihr saugendes Kind an Bajonetten zu spießen, und
wie man Bräutigam und Braut mit Säbelhieben auseinanderriß, und wir Graubärte verzweiflungsvoll dastanden und den Burschen auch zuletzt die Krücken noch nachwarfen
in die neue Welt - Oh, und mitunter das polternde Wirbelschlagen, damit der Allwissende uns nicht sollte beten hören LADY (steht auf, heftig bewegt.) Weg mir diesen Steinen - sie blitzen Höllenflammen in mein Herz. (Sanfter zum Kammerdiener) Mäßige dich, armer alter Mann. Sie
werden wiederkommen. Sie werden ihr Vaterland wiedersehen.
KAMMERDIENER (warm und voll.) Das weiß der Himmel! Das werden sie! - Noch
am Stadttor drehten sie sich um und schrien: ˝Gott mit euch, Weib und Kinder! - Es leb
unser Landesvater - am Jüngsten Gericht sind wir wieder da!˝
LADY (mit starkem Schritt auf und niedergehend.) Abscheulich! Fürchterlich! Mich beredete man, ich habe sie alle getrocknet, die Tränen des Landes - Schrecklich,
schrecklich gehen mir die Augen auf - Geh du - Sag deinem Herrn - Ich werd ihm persönlich danken. (Kammerdiener will gehen, sie wirft ihm ihre Goldbörse in den Hut) Und
das nimm, weil du mir Wahrheit sagtest KAMMERDIENER (wirft sie verächtlich auf den
Tisch zurück.) Legt’s zu dem übrigen. (Er geht ab)
[Schiller: Kabale und Liebe, S.42 - 45. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 39464 - 39467 (vgl. Schiller-SW Bd. 1, S. 780-782)]
Aufgaben
1. Der reale menschlich-gesellschaftliche Konflikt im Werk Kabale und Liebe gab Schiller
Anlaß, das ganze feudal-absolutistische System am Beispiel eines deutschen Fürstentums
rücksichtslos anzuprangern. Warum konnte Schiller Ort und Zeit der Handlung nicht angeben?
2. Es gibt um Text aber Anspielungen, die den Zeitgenossen verständlich waren. Nennen
Sie sie.
3. Was behandelt die Kammerdiener-Szene?
4. Warum ist Kabale und Liebe ist ein realistisches Drama?
5. Wodurch werden Im Drama die handelnden Personen hauptsächlich charakterisiert?
6. Wie sind die Bühnenanweisungen im Drama Kabale und Liebe?
7. Charakterisieren Sie den syntaktischen Bau der Figurenrede.
8. Worin äußert sich die Gefühlsübersteigerung?
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9. Im Sprachporträt des Kammerdieners sind sprachliche Mittel, die die Ironie und die
Volkstümlichkeit seiner Rede ausdrücken, ihn als einen einfachen Menschen aus dem Volke
charakterisieren. Bestimmen Sie diese Mittel.
10. Anschaulich und mitleiderregend beschreibt er in rascher Abwechselung von Bildern
die Trennung der Verkauften von ihren Angehörigen. Welche sprachlichen Mittel drücken seine
Emotionalität aus?
11. Schillers flammender Protest gegen Tyrannei, Rechlosigkeit und Entwürdigung des
Menschen war Anklage und Rebellion gegen die deutsche Misere seiner Zeit. Wie wurde das
Drama vom Publikum aufgenommen?
Text zur selbständigen Analyse
F.Schiller
Kabale und Liebe
Zweiter Akt
Siebente Szene
Ferdinand. Der Präsident. Wurm, welcher gleich abgeht
FERDINAND. Sie haben befohlen, gnädiger Herr Vater PRÄSIDENT. Leider muß ich das, wenn ich meines Sohns einmal froh werden will
- Laß Er uns allein, Wurm. - Ferdinand, ich beobachte dich schon eine Zeit lang und
finde die offene rasche Jugend nicht mehr, die mich sonst so entzückt hat. Ein seltsamer Gram brütet auf deinem Gesicht - Du fliehst mich - Du fliehst deine Zirkel - Pfui! Deinen Jahren verzeiht man zehn Ausschweifungen vor einer einzigen Grille. Überlaß diese mir, lieber Sohn. Mich laß an deinem Glück arbeiten, und
denke auf nichts, als in meine Entwürfe zu spielen. - Komm! Umarme mich, Ferdinand.
FERDINAND. Sie sind heute sehr gnädig, mein Vater.
PRÄSIDENT. Heute, du Schalk - und dieses Heute mit der herben Grimasse?
(Ernsthaft) Ferdinand! - Wem zulieb hab ich die gefährliche Bahn zum Herzen des
Fürsten betreten? Wem zulieb bin ich auf ewig mit meinem Gewissen und dem Himmel
zerfallen? - Höre, Ferdinand - (Ich spreche mit meinem Sohn) - Wem hab ich durch die
Hinwegräumung meines Vorgängers Platz gemacht – eine Geschichte, die desto blutiger in mein Inwendiges schneidet, je sorgfältiger ich das Messer der Welt verberge. Höre. Sage mir, Ferdinand: Wem tat ich dies alles?
FERDINAND (tritt mit Schrecken zurück.) Doch mir nicht, mein Vater? Doch auf
mich soll der blutige Widerschein dieses Frevels nicht fallen? Beim allmächtigen Gott!
Es ist besser, gar nicht geboren sein, als dieser Missetat zur Ausrede dienen.
PRÄSIDENT. Was war das? Was? Doch! ich will es dem Romanenkopfe zugut
halten - Ferdinand – ich will mich nicht erhitzen, vorlauter Knabe – Lohnst du mir also
für meine schlaflosen Nächte? Also für meine rastlose Sorge? Also für den ewigen
Skorpion meines Gewissens? - Auf mich fällt die Last der Verantwortung - auf mich der
Fluch, der Donner des Richters - Du empfängst dein Glück von der zweiten Hand - das
Verbrechen klebt nicht am Erbe.
FERDINAND (streckt die rechte Hand gen Himmel.) Feierlich entsag ich hier einem Erbe, das mich nur an einen abscheulichen Vater erinnert.
PRÄSIDENT. Höre, junger Mensch, bringe mich nicht auf. - Wenn es nach deinem
Kopfe ginge, du kröchest dein Leben lang im Staube.
FERDINAND. O, immer noch besser, Vater, als ich kröch um den Thron herum.
PRÄSIDENT (verbeißt seinen Zorn.) Hum! - Zwingen muß man dich, dein Glück
zu erkennen. Wo zehn andre mit aller Anstrengung nicht hinaufklimmen, wirst du spielend, im Schlafe gehoben. Du bist im zwölften Jahre Fähndrich. Im zwanzigsten Major.
Ich hab es durchgesetzt beim Fürsten. Du wirst die Uniform ausziehen, und in das Mi-
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nisterium eintreten. Der Fürst sprach vom Geheimenrat -Gesandtschaften - außerordentlichen Gnaden. Eine herrliche Aussicht dehnt sich vor dir. - Die ebene Straße zunächst nach dem Throne - zum Throne selbst, wenn anders die Gewalt soviel wert ist
als ihre Zeichen - das begeistert dich nicht?
FERDINAND. Weil meine Begriffe von GröЯe und Glück nicht ganz die Ihrigen sind Ihre Glückseligkeit macht sich nur selten anders als durch Verderben bekannt. Neid, Furcht,
Verwünschung sind die traurigen Spiegel, worin sich die Hoheit eines Herrschers belächelt.
- Tränen, Flüche, Verzweiflung die entsetzliche Mahlzeit, woran diese gepriesenen Glücklichen schwelgen, von der sie betrunken aufstehen, und so in die Ewigkeit vor den Thron
Gottes taumeln - Mein Ideal von Glück zieht sich genügsamer in mich selbst zurück. In meinem Herzen liegen alle meine Wünsche begraben. PRÄSIDENT. Meisterhaft! Unverbesserlich! Herrlich! Nach dreißig Jahren die erste
Vorlesung wieder! - Schade nur, daß mein fünfzigjähriger Kopf zu zäh für das Lernen
ist! - Doch - dies seltne Talent nicht einrosten zu lassen, will ich dir jemand an die Seite
geben, bei dem du dich in dieser buntscheckigen Tollheit nach Wunsch exerzieren
kannst. - Du wirst dich entschließen - noch heute
entschließen - eine Frau zu nehmen.
FERDINAND (tritt bestürzt zurück.) Mein Vater?
PRÄSIDENT. Ohne Komplimente - Ich habe der Lady Milford in deinem Namen
eine Karte geschickt. Du wirst dich ohne Aufschub bequemen, dahin zu gehen und ihr
zu sagen, daß du ihr Bräutigam bist.
FERDINAND. Der Milford, mein Vater?
PRÄSIDENT. Wenn sie dir bekannt ist FERDINAND (außer Fassung.) Welcher Schandsäule im Herzogtum ist sie das
nicht! - Aber ich bin wohl lächerlich, lieber Vater, daß ich Ihre Laune für Ernst aufnehme? Würden Sie Vater zu dem Schurken Sohne sein wollen, der eine privilegierte Buhlerin heiratete?
PRÄSIDENT. Noch mehr. Ich würde selbst um sie werben, wenn sie einen Fünfziger möchte - Würdest du zu dem Schurken Vater nicht Sohn sein wollen?
FERDINAND. Nein! So wahr Gott lebt!
PRÄSIDENT. Eine Frechheit, bei meiner Ehre! die ich ihrer Seltenheit wegen vergebe FERDINAND. Ich bitte Sie, Vater! lassen Sie mich nicht länger in einer Vermutung,
wo es mir unerträglich wird, mich Ihren Sohn zu nennen.
[Schiller: Kabale und Liebe, S. 29 - 33. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 39451 - 39455 (vgl. Schiller-SW Bd. 1, S. 772 - 775)]
HEINRICH HEINE (1797-1856)
1. Sozialgeschichtlicher Kontext: Informieren Sie sich über sozialgeschichtliche
Voraussetzungen der Literatur des Vormärz: der gemeineuropäische Übergang von der
feudalen Ordnung zum bürgerlichen Kapitalismus, die Gründe der zeitlichen Verspätung der industriellen Revolution in Deutschland: territoriale Zersplitterung, beschränkte
ökonomische Ressourcen, aufgeklärter Absolutismus. Die politische Restauration nach
1815. Der politische Protest: Weberaufstand 1844, Hungerrevolten 1847, die Revolution 1848
Material: Tatsachen über Deutschland - Frankfurt-am-Main: Societäts-Verlag,
2000, S. 112 - 117 .
36
2. Literarische Entwicklungen und Gattungen: Die Literatur des Vormärz. Die
Schriftsteller des ˝Jungen Deutschland˝. Die politische Dichtung, Kunst und Politik nach
1840.
Material: Beutin Wolfgang u. a.: Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen
bis zur Gegenwart. Stuttgart, Metzler, 1994, S. 208, 218 – 219, 224 - 226 .
LEBEN UND WERK
Heinrich Heine ist, neben Goethe, der bedeutendste deutsche Dichter und Publizist des 19. Jahrhunderts, Schöpfer der realistischen volksliedhaften lyrischen Form,
der größte politische Dichter der Vormärz und hervorragender Satiriker.
Heinrich Heine wurde 1797 in Düsseldorf am Rhein in einer verarmten jüdischen
Kaufmannsfamilie geboren und starb 1856 in Paris.
Ende 1821 erschien seine erste Gedichtsammlung, die später als Junge Leiden in
das Buch der Lieder (1827) aufgenommen wurde. Diese Sammlung ist stark von der
Romantik beeinflußt, offenbart aber auch schon die Liebe Heines zum Volkslied. Die
weiteren Zyklen des Buches der Lieder (Lyrisches Intermezzo – 1823, Heimkehr –
1824, Nordsee – 1826) bilden zusammen mit den Jungen Leiden einen Liebesroman in
Versen, der von der deutschen Lyrik jener Zeit durch ein besonders unmittelbares und
natürliches Gefühl, durch raschen Stimmungswechsel von starker gesunder Lebenslust
zu pessimistischer Niedergeschlagenheit, durch die Heinesche ˝bittere Freude˝ absticht. Die Heinesche Ironie, durch die er seine Gemütsschwankungen und vor allem
seine Ablehnung der feudalen Rückständigkeit im zersplitterten Deutschland und des
Philistertums der deutschen Bourgeoisie zum Ausdruck bringt und für ein demokratisch
geeinigtes Vaterland kämpft, ist besonders wirksam in den Prosawerken dieser Periode: Harzreise (1824), Norderney 1826, Ideen, das Buch Le Grand (1826), Italien (1828,
die Heine alle als Reisebilder zusammenfaßte, wie auch in den Englischen Fragmenten
(1828 – 1830).
Hier war Heines geißelnde Satire so revolutionär, daß der Dichter, der Verfolgungen
durch die Regierung gewärtig, es 1831 für angebracht fand, nach Paris zu emigrieren, wo
er bis an sein Lebensende blieb. 1833 – 1834 veröffentlichte er die Schriften Die romantische Schule und Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in denen er
mit der reaktionären Romantik und dem klerikalen Obskurantismus schonungslos zu Gerichte ging und sich zu Spinosa und einer lebenbejahenden Lebensphilosophie bekannte.
Die Schriften Heines, Meisterwerke kämpferischer Publitistik, haben die gesamte politische
Poesie vor 1848 entscheidend beeinflußt.
1843 wird Heine mit Marx bekannt und schließt mit ihm Freundschaft. Jetzt entstehen
die politisch und künstlerisch reifsten Werke Heines, darunter die bedeutendsten: die Dichtung Deutschland, ein Wintermärchen (1844) und die Zeitgedichte (1839 – 1846). Hier
wird das feudale und bürgerlich-beschränkte Deutschland mit großer dichterischer Kraft
und mit einer in der deutschen Literatur noch nie dagewesenen Schärfe kritisiert und das
Hohelied eines neuen Lebens gesungen.
Während der Revolution von 1848 lag Heine, der seit langer Zeit an einer schweren Krankheit litt, schon in der ˝Matrazengruft˝, aus der er nicht mehr aufstand. In diesen Jahren entstanden Heines Schwanengesang Romanzero (1851) und die Gedichte
1853 – 1854.
Aufgaben
1. H. Heine ist der größte politische Dichter der Vormärz und hervorragender Satiriker.
Nennen Sie seine Lebensdaten und sprechen Sie über seine Biographie.
2. Ende 1821 erschien seine erste Gedichtsammlung, die später als Junge Leiden in das
Buch der Lieder (1827) aufgenommen wurde. Wodurch ist diese Sammlung beeinflusst?
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3. In seinem ersten Buch offenbart aber auch schon die Liebe Heines zu dem Volkslied.
Wodurch zeichnen sich die lyrischen Gedichte von H. Heine aus?
4. Was kritisiert H. Heine in seinen Prosawerken?
5. Die Schriften Heines, Meisterwerke kämpferischer Publitistik, haben die gesamte politische Poesie vor 1848 entscheidend beeinflußt. Welche progressiven Ideen vertritt H. Heine in
seinen Werken?
6. Heines geißelnde Satire war so revolutionär, daß der Dichter, der Verfolgungen durch
die Regierung gewärtig, es 1831 für angebracht fand, nach Paris zu emigrieren. Sprechen Sie
über sein Schaffen in der Emigration.
ZU H. HEINES GEDICHT UND WÜSSTEN’S DIE BLUMEN, DIE KLEINEN
Das Gedicht ist dem zweiten Zyklus des Buches der Lieder entnommen. Es ist dem
Thema der unglückliches, unerwiderten Liebe gewidmet. Der Dichter wählt eine volkstümliche Form. Das archtektonische Gepräge des Gedichtes bestimmt der Parallelismus der
drei ersten Strophen und der Kontrast der letzten Strophe zu den drei ersten. Jede der drei
ersten Strophen besteht aus einem Satz bestimmter Struktur: es sind irreale Bedingungssätze, in denen der Nebensatz dem Hauptsatz vorangestellt ist. Der syntaktische Parallelismus wird durch die anaphorische Wiederholung der Konjunktion und sowie des Prädikats im Nebensatz verstärkt. Die erste Stelle nimmt in jedem der drei Hauptsätze das Subjekt ein, welches durch das Pronomen sie ausgedrückt ist.
Dank dem archtektonischen Parallelismus der ersten drei Strophen wird die letzte
Strophe wie ein Gegensatz zu dem ganzen Gedicht empfunden. Der Kontrast zwischen
dem Gewünschten und der Wirklichkeit wird dadurch besonders stark betont.
Der archtektonische Parallelismus, die anaphorische Wiederholung einzelner Wörter und Wortgruppen ist eine verbreitete Erscheinung in der Volksdichtung.
Der Verstyp des Gedichts – dreihebige Zeilen mit jambisch-anapästischen Versen,
also mit Abwechelung vob 1 – 2 Senkungen zwischen den Hebungen –wird oft als
deutsche Volksliedstrophe bezeichnet. Charakteristisch für die Volkadichtung ist auch
der Reimtyp in diesem Gedicht: gekreuzte Reime.
Der Dichter wendet sich in seinem Schmerz an die ihn umgebende Natur. andie
Blumen und Nachtigallen. Das ist in der Volkspoesie ein traditionelles Ausdrucksmittel.
Die Form des Gedichts bedingt einige Abweichungen von der syntaktischen Norm: in
der jeweils zweiten Zeile der ersten und zweiten Strophe sind das Hilfverb und die Kopula
weggelassen. In der vierten Zeile der ersten Strophe ist die Wortfolge in der Infinitivgruppe
verändert. Das dient nicht nur dem Versmaß und dem Reim, sondern auch der nachdrücklichen Betonung einiger Wörter (verwundet, heilen, traurig und krank).
Demselben Zweck dient auch die Absonderung einzelner Satzglieder: des Attributs zum Worte die Blumen, die Wiederaufnahme des Subjekt in der dritten Strophe:
Und wüßten sie mein Wehe, die goldenen Sternelein ....
Die Lexik des Gedichts wird durch das Thema bestimmt. Es sind haupsächlich
Wörter aus dem Alltagsleben eines Menschen. Die Verkleinerungsformen der Substantive sind Elemente der Volkstümlichkeit.
Das führende stilistische Mittel des Gedichts ist die Personifizierung der Naturerscheinungen.
(Nach.: Schischkina I.P., Smoljan O.A. Analytisches Lesen. Leningrad, 1979, S. 56 - 57).
Text zur Analyse
Heinrich Heine
Lyrisches Intermezzo
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Und wüßten's die Blumen, die kleinen,
Wie tief verwundet mein Herz,
Sie würden mit mir weinen,
Zu heilen meinen Schmerz.
Und wüßten's die Nachtigallen,
Wie ich so traurig und krank,
Sie ließen fröhlich erschallen
Erquickenden Gesang.
Und wüßten sie mein Wehe,
Die goldnen Sternelein,
Sie kämen aus ihrer Höhe,
Und sprächen Trost mir ein.
Die alle können's nicht wissen,
Nur Eine kennt meinen Schmerz:
Sie hat ja selbst zerrissen,
Zerrissen mir das Herz.
[Heine: Buch der Lieder, S. 105-106. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 17627-17628 (vgl. Heine-WuB Bd. 1, S. 80-81)]
Aufgaben zum Text
1. Lesen Sie das Gedicht und bestimmen Sie sein Thema.
2. Sprechen Sie über die Form des Gedichtes (Reim, Metrum, Rhythmus).
3. Zeigen Sie den Unterschied im Gebrauch: das Weh – der Schmerz, wissen – kennen.
4. Sprechen Sie über die Funktion der Modi im Text: Konjunktiv /Indikativ.
5. Welche Rolle spielen die Wiederholungen im Text? Bestimmen Sie ihre Arten.
6. Sprechen Sie über stilistische Mittel (Epitheta, Personifizierung).
7. Wie ist die Komposition des Gedichtes?
8. Welche Rolle spielt der syntaktische Parallelismus im Text?
9. Die anaphorische Wiederholung einzelner Wörter und Wortgruppen ist eine verbreitete
Erscheinung in der Volksdichtung. Bringen Sie Beispiele aus dem Text.
10. Die Form des Gedichts bedingt einige Abweichungen von der syntaktischen Norm,
finden Sie diese Abweichungen.
11. Die Lexik des Gedichts wird durch das Thema bestimmt. Es sind haupsächlich Wörter
aus dem Alltagsleben eines Menschen. Bestimmen Sie diese Wörter.
12. Was ist das führende stilistische Mittel des Gedichts?
Text zur selbständigen Analyse
Heinrich Heine
Lyrisches Intermezzo
Die Linde blühte, die Nachtigall sang,
Die Sonne lachte mit freundlicher Lust;
Da küßtest du mich, und dein Arm mich umschlang,
Da preßtest du mich an die schwellende Brust.
Die Blätter fielen, der Rabe schrie hohl,
Die Sonne grüßte verdrossenen Blicks;
Da sagten wir frostig einander: ˝Lebwohl!˝
Da knickstest du höflich den höflichsten Knicks.
[Heine: Buch der Lieder, S. 108. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher
Dichter und Denker, S. 17630 (vgl. Heine-WuB Bd. 1, S. 82)]
39
ÜBER DAS POEM DEUTSCHLAND. EIN WINTERMÄRCHEN
Heines Meisterwerk Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) bildet den Gipfel der
deutschen Freiheitsdichtung in der Zeit des Vormärz, am Vorabend der bürgerlichen Revolution 1848. 1831 mußte Heine in die Verbannung gehen, seitdem lebte er in Frankreich.
Nach dreizehn Exiljahren besuchte er Deutschland und gestaltete später seine Eindrücke in
diesem Poem. Der Dichter bringt seine Gefühle und Meinungen zum Ausdruck. Nichts hat
sich in seiner Heimat während der Zeit seiner Abwesenheit verändert: der reaktionäre preußische Absolutismus herrscht nach wie vor, die Rückständigkeit und Zersplitterung des
Landes sind geblieben, wie auch die heuchlerische Kirchenprädigt, die reaktionäre Romantik, die alten Sitten und Bräuche. Der Dichter verspottet diese Zustände, und dieser Spott ist
bitter und traurig. Der Autor träumt auch von dem freien, einheitlichen, demokratischen
Deutschland ohne Könige und Kaiser, ohne Ausbeutung.
Die Dichtung wirft zwei Probleme auf: die Darstellung der deutschen Wirklichkeit
und die Gestaltung der historischen Notwendigkeit.
Das erste Kapitel (Caput) des Wintermärchens stellt eine Gegenüberstellung
zweier Lieder dar. Nach den drei einleitenden Strophen, in denen der Verfasser seinen
Gemütszustand schildert, singt das kleine Harfenmädchen ein religiös-romantisches
Lied, das vom Dichter zuerst kommentarlos, dann ironisch wiedergegeben und dann in
seinem reaktionären sozialen Inhalt bloßgestellt wird. Der thematische Wortschatz der
Kirche wird im Lied des Harfenmädchens als Mittel der Parodierung eines Kirchenliedes genutzt. Heine erklärt auch, warum er so entschlossen das alte Entsagungslied
angreift: Damit lullt man das Volk ein, um seiner Unzufriedenheit, seinem Protest die
Spitze abzubrechen. Dem Dichter ist bewußt, daß das deutsche Volk durchaus noch
nicht kampfbereit ist. Er spricht deshalb über das Volk etwas verächtlich, aus der Sicht
seiner Ausbeuter: es greint, ein großer Lümmel. Heine will die Kräfte des Volkes, seinen Willen zum Kampf erwecken.
Als ein wirksames Mittel der Satire gebraucht der Autor den Stilbruch und unlogische
Verbindungen (das Oxymoron), Antithesen. Hier entwickelt Heine teils direkt, teils allegorisch seine Gedanken über eine gerechte soziale Existenz des Menschen. Das sind vor
allem die Ideen der Gleichheit und Freiheit, die metaphorisch dargelegt werden: Himmelreich auf Erden; ...verlobt mit dem schönen Geniusse der Freiheit. Die Allegorie enthält eine Anspielung auf die Französische Revolution, die bereits vor einem halben Jahrhundert
allen Völkern ein hoffnungserweckendes Beispiel gegeben hat.
Seinen Gemütszustand nach der Heimkehr schildert Heine mit Hilfe einer bildlichen Periphrase, die eine Reihe von Metaphern enthält: In meiner Seele gehen auf ...
Er ruft zum Schluß des Kapitels die Antäus-Sage in Erinnerung, mit deren Helden er
sich in diesem Falle identifiziert.
Das Kapitel ist im Ton eines deutschen Volksliedes verfaßt. Jede Strophe besteht
aus vier- und dreihebigen Zeilen, die Zahl der Senkungen zwischen zwei Hebungen
wechselt willkürlich (1 – 2 Senkungen). Die zweite und vierte Zeile jeder Strophe sind
gereimt, die erste und die dritte bleiben reimlos (unterbrochene Reime).
Eine besondere stilistische Funktion erfüllt in diesem Kapitel der Zeilensprung
(Emjambement). Die Sätze, deren Teile auf die nächste Zeile kommen, erhalten beim
Lesen den Ton einer ungezwungenen Erzählung.
(Nach.: Schischkina I.P., Smoljan O.A. Analytisches Lesen. Leningrad, 1979, S. 60 - 64).
Text zur Analyse
Heinrich Heine
Deutschland. Ein Wintermärchen
Caput I
40
Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.
Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.
Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden
Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew'gen Wonnen.
Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
41
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.
Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.
Die Jungfer Europa ist verlobt
Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.
Und fehlt der Pfaffensegen dabei,
Die Ehe wird gültig nicht minder Es lebe Bräutigam und Braut,
Und ihre zukünftigen Kinder!
Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,
Das bessere, das neue!
In meiner Seele gehen auf
Die Sterne der höchsten Weihe Begeisterte Sterne, sie lodern wild,
Zerfließen in Flammenbächen –
Ich fühle mich wunderbar erstarkt,
Ich könnte Eichen zerbrechen!
Seit ich auf deutsche Erde trat,
Durchströmen mich Zaubersäfte Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.
Aufgaben zum Text
1. Lesen Sie den Text und geben Sie seinen Inhalt kurz wieder.
2. Wie lassen sich die Grundideen des Textes formulieren?
3. Sprechen Sie über die Komposition des 1. Kapitels.
4. Welche Rolle spielt das Enjambement (der Zeilensprung)?
5. Finden Sie im Text Mittel zum Ausdruck von Humor und Satire und erklären Sie ihre
Funktion.
6. Erklären Sie die Bedeutung der Allegorie ˝Die Jungfer Europa ist verlobt ...˝
7. Welche Rolle spielen die Hyperbeln im Text?
8. Analysieren Sie die stilistische Funktion der Wiederholungen.
Text zur selbständigen Analyse
Heinrich Heine
Deutschland. Ein Wintermärchen
Caput II
42
Während die Kleine von Himmelslust
Getrillert und musizieret,
Ward von den preußischen Douaniers
Mein Koffer visitieret.
Beschnüffelten alles, kramten herum
In Hemden, Hosen, Schnupftüchern;
Sie suchten nach Spitzen, nach Bijouterien,
Auch nach verbotenen Büchern.
Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!
Hier werdet ihr nichts entdecken!
Die Konterbande, die mit mir reist,
Die hab ich im Kopfe stecken.
Hier hab ich Spitzen, die feiner sind
Als die von Brüssel und Mecheln,
Und pack ich einst meine Spitzen aus,
Sie werden euch sticheln und hecheln.
Im Kopfe trage ich Bijouterien,
Der Zukunft Krondiamanten,
Die Tempelkleinodien des neuen Gotts,
Des großen Unbekannten.
Und viele Bücher trag ich im Kopf!
Ich darf es euch versichern,
Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest
Von konfiszierlichen Büchern.
Glaubt mir, in Satans Bibliothek
Kann es nicht schlimmere geben;
Sie sind gefährlicher noch als die
Von Hoffmann von Fallersleben! Ein Passagier, der neben mir stand,
Bemerkte mir, ich hätte
Jetzt vor mir den preußischen Zollverein,
Die große Douanenkette.
˝Der Zollverein˝ - bemerkte er ˝Wird unser Volkstum begründen,
Er wird das zersplitterte Vaterland
Zu einem Ganzen verbinden.
Er gibt die äußere Einheit uns,
Die sogenannt materielle;
Die geistige Einheit gibt uns die Zensur,
Die wahrhaft ideelle Sie gibt die innere Einheit uns,
Die Einheit im Denken und Sinnen
Ein einiges Deutschland tut uns not,
Einig nach außen und innen.˝
43
[Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, S. 8-13. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 18384-18389 (vgl. Heine-WuB Bd. 1, S. 435-439)]
ÜBER H. HEINES REISEBILDER
Das Reisebild ist ein publizistisches Genre, in dem die epischen und lyrischen Elemente der Kunstprosa mit denen der Publizistik kombiniert sind.
Als Stoff zum Reisebild dient eine tatsächlich erlebte Reise. Ebenso wie für die
anderen publizistischen Genres ist für das Reisebild die Faktizität und Aktualität des
gewählten Stofes typisch. Die philosophischen, politischen und ästhetischen Ansichten
des Autors kommen deutlich und unmittelbar zum Ausdruck. Die Reiseschilderung wird
schon seit dem 18. Jahrhundert zum Mittel der sozialen Kritik. Den Höhepunkt an soziakritischer Schärfe erreicht sie in dem Reisebild von Heinrich Heine.
Das Reisebild wird in der Regel in der Ich-Form gestaltet, ˝ich˝ ist mit der Person
des Autors identisch.
Die Integration der Elemente der Kunstprosa zeigt sich in der Verflechtung der
realen und vorgetäuschten Erlebnisse. Das Reisebild enthält viele Abschweifungen,
Exkurse, Lyrikeinlagen, novellistische Episoden und Charaktere. Dabei tritt der Bezug
zur faktischen Wirklichkeit zurück, und im Vordergrund steht der Erzähler. Die Parteilichkeit des Autors kommt oft durch Ironie, Satire und Parodie zum Ausdruck. Das Ganze wird sprachkünstlerisch konstituiert, je nach der Beschaffenheit des kompositionellen Teils ist die Sprache unterschiedlich: sie ist sachlich und konkret in den faktenberichtenden Teilen, bildlich und emotional in den lyrischen Einlagen oder novellistischen
Episoden.
Heinrich Heines publizistische Prosa bildet einen wesentlichen Bestandteil in seinem Gesamtschaffen. Er hat ein neues originelles publizistisches Prosagenre ausgeprägt, den Begriff und die Form des Reisebildes begründet. Die Reisebilder sind ein
Genre, das seinen fortschrittlichen Anschauungen einen unmittelbaren Ausdruck ermöglichte. Kritik an dem Spießbürgergeist im halbfeudalen Deutschland, Idealisierung
Napoleons als angeblichen Träger der revolutionären Idee, Entlarvung des englischen
Kapitalismus und italienischen Katolizismus und Ästhetik seiner Zeit charakterisieren
das in vier Bänden zusammengefaßte Werk Reisebilder
Die Englischen Fragmente entstanden als Folge der Reise nach England im Jahre
1827. Diese Reise hatte eine besondere Rolle in der Evolution der philosophischen und
politischen Ansichten des Dichters. Im Laufe von mehreren Monaten beobachtete Heine
das ökonomische und soziale Leben Englands; er war danach endgültig von der kapitalistischen Lebensweise enttäuscht. Heine durchschaute den menschenfeindlichen Geist des
Kapitalismus und nahm entschieden für das ausgebeutete englische Volk Partei.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Fragment London. In der Beschreibung dieser Stadt zeigt der Dichter die typischen Züge der kapitalistischen Lebensweise mit ihren sotialen Kontrasten, mit der Überheblichkeit des Reichtums und der Demütigung der Armut, mit Geschäfts- und Arbeitshast, mit Entmenschlichung der natürlichen menschlichen Gefühle. Der Autor behauptet, daß in solcher Gesellschaft kein
Platz für Kunst und Künstler ist.
Der Stil der Reisebilder zeichnet sich aus durch geist- und bilderreiche Anspielung
(äsopische Sprache), Ironie und Satire. Die tagespolitische Aktualität entlädt sich in leidenschaftlicher Parteinahme und heftigem polemischen Ton. Die Leidenschaft der Darstellung drückt sich in einer höchst bildlichen Sprache aus.
Der Auszug (es sind die Anfangsabsätze des Fragments) wird mit einem Loblied
auf die Hauptstadt Englands eingeleitet. Der Dichter scheut keine Übersteigerung in der
Beschreibung der Riesenstadt, gebraucht Vergleiche und Metaphern.
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Die Begeisterung der ersten Zeilen geht in einen halb scherzhaft, halb ernst gestalteten Absatz über, wo der Dichter im ironischen Plauderton das Wesen der kapitalistischen
Ausbeutung entlarvt. Der scheinbar unterhaltsame Ton des dritten Absatzes wechselt mit
dem tragischen Bild im vorletzen Teil: das sich vor den Augen des Dichters entfaltende
Bild erinnert ihn an den verzweifelten Rückmarsch der demoralisierten napoleonischen
Soldaten aus Rußland, mit ihrem rücksichtslosen Ringen ums eigene Leben. Der Dichter
zeigt die Klassengegensätze im kapitalistischen London als einen Kampf der Armen und
der Reichen und deckt damit den antagonistischen Charakter des Kapitalismus auf.
Im letzten Absatz parodiert der Dichter die deutsche Misere und den wirtschaftlichen Stillstand.
Im Auszug dominiert das emotional-expressive Wortgut. Die unlogischen Verbindungen haben eine ironische Wirkung. Der Gebrauch der Lexik mit unterschiedlicher
Stilfärbubg (gehoben vs. umgangssprachlich) bedingt die ironische Beschaffenheit des
Textes.
Im syntaktischen Bau widerspiegeln sich die feinsten inhaltlichen und emotionalen
Nuancen. Der Umfang der Sätze gibt die emotionale Geladenheit des Textes wieder;
die Einschaltung von zahlreichen Satzgliedern und gleichartigen Sätzen dient zum
sprachlichen Ausdruck des atemraubenden Tempos des Geschilderten. Die kurzen
Ausrufesätze (Abs.6) helfen dem Leser, die geheuchelt-idyllische, sentimentale Atmosphäre der Deutschland-Beschreibung aufzunehmen; die verhältnismäßig kurzen parataktischen Teilsätze sind ein rhythmisches Spiegelbild der unbeweglichen Trägheit des
deutschen Lebens. Der Satz, der einen selbständigen Absatz bildet (Abs. 5), spielt eine
besondere kompositionelle Rolle, indem er die Aufmerksamkeit des Lesers auf die inhaltliche Pointe des Textes richtet.
Der vorliegende Text ist ein meisterhaftes Beispiel des Genres Reisebilder, in welchem die realistische Detailmalerei mit der leidenschaftlichen Sozialkritik in geschlossener Form zum künstlerischen Ausdruck kommt.
(Nach: Wasbuzkaja K.G., Giltschenok N.L. Analytisches Lesen. Leningrad, 1980, S 109- 115).
Text zur Analyse
Heinrich Heine
Englische Fragmente. London (Reisebilder)
Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer – noch immer starrt in meinem
Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende
Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer
grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses – ich spreche von London.
Schickt einen Philosophen nach London, beileibe keinen Poeten! Schickt einen
Philosophen hin und stellt ihn an eine Ecke von Cheapside – er wird hier mehr lernen
als aus allen Büchern der letzten Leipziger Messe; und wie die Menschenwogen ihn
umrauschen, so wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufsteigen, der ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn anwehen, die verborgendsten Geheimnisse der
gesellschaftlichen Ordnung werden sich ihm plötzlich offenbaren, er wird den Pulsschlag der Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen – denn wenn London die rechte
Hand der Welt ist, die tätige, mächtige rechte Hand, so ist jene Straße, die von der Börse nach Downingstreet führt, als die Pulsader der Welt zu betrachten.
Aber schickt keinen Poeten nach London! Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der
Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Phantasie und zerreißt das
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Herz. Und wolltet ihr gar einen deutschen Poeten hinschicken, einen Träumer, der vor
jeder einzelnen Erscheinung stehenbleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder
einem blanken Goldschmiedladen – oh! dann geht es ihm erst recht schlimm, und er
wird von allen Seiten fortgeschoben oder gar mit einem milden God damn! niedergestoßen. God damn! das verdammte Stoßen! Ich merkte bald, dieses Volk hat viel zu
tun. Es lebt auf einem großen Fuße, es will, obgleich Futter und Kleider in seinem Lande teurer sind als bei uns, dennoch besser gefüttert und besser gekleidet sein als wir;
wie zur Vornehmheit gehört, hat es auch große Schulden, dennoch aus Großprahlerei
wirft es zuweilen seine Guineen zum Fenster hinaus, bezahlt andere Völker, daß sie
sich zu seinem Vergnügen herumboxen, gibt dabei ihren respektiven Königen noch außerdem ein gutes Douceur – und deshalb hat John Bull Tag und Nacht zu arbeiten, um
Geld zu solchen Ausgaben anzuschaffen, Tag und Nacht muß er sein Gehirn anstrengen zur Erfindung neuer Maschinen, und er sitzt und rechnet im Schweiße seines Angesichts und rennt und läuft, ohne sich viel umzusehen, vom Hafen nach der Börse,
von der Börse nach dem Strand, und da ist es sehr verzeihlich, wenn er an der Ecke
von Cheapside einen armen deutschen Poeten, der, einen Bilderladen angaffend, ihm
in dem Wege steht, etwas unsanft auf die Seite stößt. ˝God damn!˝
Das Bild aber, welches ich an der Ecke von Cheapside angaffte, war der Übergang der Franzosen über die Beresina.
Als ich, aus dieser Betrachtung aufgerüttelt, wieder auf die tosende Straße blickte,
wo ein buntscheckiger Knäuel von Männern Weibern, Kindern, Pferden, Postkutschen,
darunter auch ein Leichenzug, sich brausend, schreiend, ächzend und knarrend dahinwälzte: da schien es mir, als sei ganz London so eine Beresinabrücke, wo jeder in
wahnsinniger Angst, um sein bißchen Leben zu fristen, sich durchdrängen will, wo der
kecke Reuter den armen Fußgänger niederstampft, wo derjenige, der zu Boden fällt,
auf immer verloren ist, wo die besten Kameraden fühllos, einer über die Leiche des anderen, dahineilen und Tausende, die, sterbensmatt und blutend, sich vergebens an den
Planken der Brücke festklammern wollen, in die kalte Eisgrube des Todes hinabstürzen.
Wie viel heiterer und wohnlicher ist es dagegen in unserem lieben Deutschland!
Wie traumhaft gemach, wie sabbatlich ruhig bewegen sich hier die Dinge! Ruhig zieht
die Wache auf, im ruhigen Sonnenschein glänzen die Uniformen und Häuser, an den
Fliesen flattern die Schwalben, aus den Fenstern lächeln dicke Justizrätinnen, auf den
hallenden Straßen ist Platz genug: die Hunde können sich gehörig anriechen, die Menschen können bequem stehenbleiben und über das Theater diskurieren, und tief, tief
grüßen, wenn irgendein vornehmes Lümpchen oder Vizelümpchen, mit bunten Bändchen auf dem abgeschabten Röckchen, oder ein gepudertes, vergoldetes Hofmarschälkchen gnädig wiedergrüßend vorbeitänzelt!
Aufgaben zum Text
1. Geben Sie den Inhalt des Textes kurz wieder und formulieren Sie seinen Ideengehalt.
2. Sprechen Sie über die Struktur des Auszugs.
3. Wie schätzt der Autor die kapitalistische Gesellschaftsordnung ein? Über welche Probleme der kapitalistischen Gesellschaft spricht er?
4. Wie wird Deutschland vom Autor dargestellt?
5. Wie wird im Text die Emotionalität des Autors zum Ausdruck gebracht?
6. Analysieren Sie die Mittel zum Ausdruck von Humor und Satire im Text.
7. Analysieren Sie die Lexik und den syntaktischen Bau des Auszuges.
Texte zur selbständigen Analyse
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TEXT 1
Heinrich Heine
Harzreise
Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier
sehr gut ist. Der vorbeifließende Bach heißt ˝die Leine˝ und dient des Sommers zum
Baden; das Wasser ist sehr kalt und an einigen Orten so breit, daß Lüder wirklich einen
großen Anlauf nehmen mußte, als er hinübersprang. Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht. Sie muß schon sehr
lange stehen; denn ich erinnere mich, als ich vor fünf Jahren dort immatrikuliert und
bald darauf konsiliiert wurde, hatte sie schon dasselbe graue, altkluge Ansehen und
war schon vollständig eingerichtet mit Schnurren, Pudeln, Dissertationen, Teedansants,
Wäscherinnen, Kompendien, Taubenbraten, Guelfenorden, Promotionskutschen, Pfeifenköpfen, Hofräten, Justizräten, Relegationsräten, Profaxen und anderen Faxen. Einige behaupten sogar, die Stadt sei zur Zeit der Völkerwanderung erbaut worden, jeder
deutsche Stamm habe damals ein ungebundenes Exemplar seiner Mitglieder darin zurückgelassen, und davon stammten all die Vandalen, Friesen, Schwaben, Teutonen,
Sachsen, Thüringer usw., die noch heutzutage in Göttingen, hordenweis und geschieden durch Farben der Mützen und der Pfeifenquäste, über die Weenderstraße einherziehen, auf den blutigen Walstätten der Rasenmühle, des Ritschenkrugs und Bovdens
sich ewig untereinander herumschlagen, in Sitten und Gebräuchen noch immer wie zur
Zeit der Völkerwanderung dahinleben und teils durch ihre Duces, welche Haupthähne
heißen, teils durch ihr uraltes Gesetzbuch, welches Komment heißt und in den legibus
barbarorum eine Stelle verdient, regiert werden.
Im allgemeinen werden die Bewohner Gцttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind. Der Viehstand ist der bedeutendste. Die Namen aller Studenten und aller ordentlichen und unordentlichen Professoren hier herzuzählen, wäre zu weitläuftig; auch
sind mir in diesem Augenblick nicht alle Studentennamen im Gedächtnisse, und unter
den Professoren sind manche, die noch gar keinen Namen haben. Die Zahl der Göttinger Philister muß sehr groß sein, wie Sand, oder besser gesagt, wie Kot am Meer;
wahrlich, wenn ich sie des Morgens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen
Rechnungen, vor den Pforten des akademischen Gerichtes aufgepflanzt sah, so mochte ich kaum begreifen, wie Gott nur soviel Lumpenpack erschaffen konnte.
[Heine: Die Harzreise, S. 3-5. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher
Dichter und Denker, S. 18557-18559 (vgl. Heine-WuB Bd. 3, S. 18-19)]
TEXT 2
Heinrich Heine
Harzreise
Vor dem Weender Tore begegneten mir zwei eingeborne kleine Schulknaben, wovon der eine zum andern sagte: ˝Mit dem Theodor will ich gar nicht mehr umgehen, er
ist ein Lumpenkerl, denn gestern wußte er nicht mal, wie der Genitiv von mensa heißt.˝
So unbedeutend diese Worte klingen, so muß ich sie doch wiedererzählen, ja, ich
möchte sie als Stadtmotto gleich auf das Tor schreiben lassen; denn die Jungen piepen, wie die Alten pfeifen, und jene Worte bezeichnen ganz den engen, trocknen Notizenstolz der hochgelahrten Georgia Augusta. Auf der Chaussee wehte frische Morgenluft, und die Vögel sangen gar freudig, und auch mir wurde allmählich wieder frisch und
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freudig zumute. Eine solche Erquickung tat not. Ich war die letzte Zeit nicht aus dem
Pandektenstall herausgekommen, römische Kasuisten hatten mir den Geist wie mit einem grauen Spinnweb überzogen, mein Herz war wie eingeklemmt zwischen den eisernen Paragraphen selbstsüchtiger Rechtssysteme, beständig klang es mir noch in
den Ohren wie ˝Tribonian, Justinian, Hermogenian und Dummerjahn˝, und ein zärtliches Liebespaar, das unter einem Baume saß, hielt ich gar für eine Corpus-jurisAusgabe mit verschlungenen Händen. Auf der Landstraße fing es an, lebendig zu werden. Milchmädchen zogen vorüber; auch Eseltreiber mit ihren grauen Zöglingen. Hinter
Weende begegneten mir der Schäfer und Doris. Dieses ist nicht das idyllische Paar,
wovon Geßner singt, sondern es sind wohlbestallte Universitätspedelle, die wachsam
aufpassen müssen, daß sich keine Studenten in Bovden duellieren und daß keine neue
Ideen, die noch immer einige Dezennien vor Göttingen Quarantäne halten müssen, von
einem spekulierenden Privatdozenten eingeschmuggelt werden. Schäfer grüßte mich
sehr kollegialisch; denn er ist ebenfalls Schriftsteller und hat meiner in seinen halbjährigen Schriften oft erwähnt; wie er mich denn auch außerdem oft zitiert hat und, wenn er
mich nicht zu Hause fand, immer so gütig war, die Zitation mit Kreide auf meine Stubentür zu schreiben. Dann und wann rollte auch ein Einspänner vorüber, wohlbepackt
mit Studenten, die für die Ferienzeit oder auch für immer wegreisten. In solch einer Universitätsstadt ist ein beständiges Kommen und Abgehen, alle drei Jahre findet man
dort eine neue Studentengeneration, das ist ein ewiger Menschenstrom, wo eine Semesterwelle die andere fortdrängt, und nur die alten Professoren bleiben stehen in dieser allgemeinen Bewegung, unerschütterlich fest, gleich den Pyramiden Ägyptens - nur
daß in diesen Universitätspyramiden keine Weisheit verborgen ist.
[Heine: Die Harzreise, S. 6 - 8. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher
Dichter und Denker, S. 18562 (vgl. Heine-WuB Bd. 3, S. 20 - 21)]
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ANHANG
Wendungen für die Textinterpretation
1. Der zu analysierende Text (Textauszug) ist ein Auszug aus dem Roman von
..../ ist dem Roman von .... entnommen.
1. Die Handlung spielt sich in ... ab. Es handelt sich um.... Die Rede ist von.....
2. Ort und Zeit der Handlung angeben.
3. Die Handlung entwickelt sich sprunghaft.
4. Etw. zum Thema haben; zentrales Thema der Erzählung; ein Thema abwandeln/erneut aufgreifen/variieren; etw. thematisieren.
5. Das Anliegen des Autors besteht in ..., äußert sich in ..... Das Anliegen des
Autors wird in der Wahl inhaltlicher Details sichtbar.
6. Anprangern: das feudale System anprangern.
7. Anschaulich, die Anschaulichkeit wird durch ..... erreicht.
8. Die Ansichten (philosophische, politische, ästhetische) des Autors widerspiegeln; Partei für etw., j-d ergreifen
9. Der Text ist in Form eines Dialogs aufgebaut.
10. Die Einstellung des Autors zu... kommt in(Dat.) zum Ausdruck, wird zum Ausdruck gebracht. Etw. ist Ausdruck von ...
11. Der Text zeichnet sich durch .... aus.
12. Schildern, darstellen, wiedergeben, berichten (sachlich).
13. Der Autor gebraucht Epitheta, um die Beschreibung bildhaft zu machen.
14. Die Wahl der Verben des Sagens.
15. Die Figuren (handelnde Personen) werden durch ihr Sprachporträt charakterisiert; die Figur repräsentiert....; der Repräsentant.
16. Der erste Satz (Absatz) führt in die Situation ein.
17. Die positive, negative Einstellung des Autors zu ...; einen Standpunkt darlegen, vertreten.
18. Die emotional/ expressiv/ umgangssprachlich gefärbte Sprache
19. Der Grungedanke lässt sich folgenderweise formulieren.
20. Der Text kann inhaltlich in .... Teile gegliedert werden/der Text ist eine inhaltliche und kompositorische Ganzheit.
21. Die Archaismen/Historismen schaffen das Kolorit der Zeit/das zeitliche Kolorit.
22. Die Kritik an (Dat.) ausüben, einer scharfen Kritik unterwerfen, kritisieren.
23. Das führende Mittel ist .....
24. Das Gedicht enthält ..... Strophen.
25. Eine treffende, reiche Wortwahl....
26. wirken: metaphorisch, lebenswahr, konkret, überzeugend, anschaulich.
27. Die Wortfolge ist expressiv/emphatisch/neutral.
28. In einem Kontrast stehen zu...
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QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
Beutin Wolfgang u. a.: Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur
Gegenwart / Wolfgang Beutin u. a. - Stuttgart: Metzler, 1994.- 627 S.
Die Digitale Bibliothek der deutschen Literatur und Philosophie. Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker. Berlin, DIRECTMEDIA Publishing GmbH,
2000.
Fischer-Kania, Sabine: Glossar literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe / Sabine
Fischer-Kania. – Kasan: Pädagogische Universität, 1998.- 102 S.
Geerds, Hans-Jürgen: Johann Wolfgang Goethe / Hans-Jürgen Geerds. – Leipzig:
Verlag Philipp Reclam jun., 1974. – 347 S.
Kleines Lexikon literarischer Grundbegriffe. – München: Fink, 1992.
Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther u. Irmgard
Schweikle.- Stuttgart:Metzler, 1990.- 623 S.
Riesel, E. Theorie und Praxis der linguostilistischen Textinterpretation. – Elise Riesel. – Moskau: Hochschule, 1974. – 184 S.
Schischkina I.P Analytisches Lesen / I. P. Schischkina, O. A. Smoljan. - Leningrad:
Prosveschenije, 1979. – 220 S.
Sturm und Drang. Ein Lesebuch für unsere Zeit. – Berlin und Weimar: AufbauVerlag, 1965. – 413 S.
Tatsachen über Deutschland. Frankfurt-am-Main: Societäts-Verlag, 2003.- 491 S.
Wasbuzkaja K.G. Analytisches Lesen. / K. G. Wasbuzkaja, N. L. Giltschenok. Leningrad: Prosveschenije,1980. – 188 S.
Wilpert, Gero, von : Deutsches Dichterlexikon / Gero von Wilpert. - Stuttgart: Metzler, 1988. – 390 S.
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СОДЕРЖАНИЕ
ПРЕДИСЛОВИЕ ................................................................................................
VORWORT .........................................................................................................
ALLGEMEINE ANLEITUNGEN ZUR LINGUOSTILISTISCHEN
TEXTANALYSE ..........................................................................................
Textstrategie für die Analyse von literarischen Texten (nach E. Riesel) .....
JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749 – 1832) ..............................................
LEBEN UND WERK ......................................................................................
Aufgaben ...............................................................................................
ZU J.W.GOETHES ROMAN ˝DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS˝ ....
Aufgaben ...............................................................................................
Text zur Аnalyse ...................................................................................
Aufgaben zum Text ..............................................................................
Texte für selbständige Аnalyse ..........................................................
TEXT 1 ..............................................................................................
TEXT 2 ..............................................................................................
TEXT 3 ..............................................................................................
ÜBER DIE TRAGÖDIE ˝FAUST˝ ...................................................................
Text zur Analyse ...................................................................................
Aufgaben zum Text ..............................................................................
Texte zur selbständigen Analyse .......................................................
TEXT 1 ..............................................................................................
TEXT 2 ..............................................................................................
ZU J.W.GOETHES BALLADE DER SÄNGER ..............................................
Aufgaben ...............................................................................................
Text zur Analyse ...................................................................................
Aufgaben zum Text ..............................................................................
Texte zur selbständigen Analyse .......................................................
ÜBER DAS SONETT ˝MÄCHTIGES ÜBERRASCHEN˝ ...............................
Aufgaben zum Text .....................................................................................
Text zur selbständigen Analyse .........................................................
JOHANN FRIEDRICH SCHILLER (1759 – 1805) .............................................
LEBEN UND WERK ......................................................................................
Aufgaben ...............................................................................................
ZU F. SCHILLERS DRAMA ˝KABALE UND LIEBE˝ .....................................
Text zur Analyse ...................................................................................
TEXT 1 ..............................................................................................
Aufgaben .....................................................................................
Text zur selbständigen Analyse ...............................................
HEINRICH HEINE (1797-1856) ..........................................................................
LEBEN UND WERK ......................................................................................
Aufgaben ...............................................................................................
ZU H. HEINES GEDICHT ˝UND WÜSSTEN’S DIE BLUMEN,
DIE KLEINEN˝ ..........................................................................................
Text zur Analyse ...................................................................................
Aufgaben zum Text .....................................................................................
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Text zur selbständigen Analyse .........................................................
ÜBER DAS POEM DEUTSCHLAND. EIN WINTERMÄRCHEN ...................
Text zur Analyse ...................................................................................
Aufgaben zum Text .....................................................................................
Text zur selbständigen Analyse .........................................................
ÜBER H. HEINES ˝REISEBILDER˝ ...............................................................
Text zur Analyse ...................................................................................
Aufgaben zum Text .....................................................................................
Texte zur selbständigen Analyse .......................................................
TEXT 1 ..............................................................................................
TEXT 2 ..............................................................................................
ANHANG ............................................................................................................
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ...................................................
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Волкова Лариса Борисовна
АНАЛИТИЧЕСКОЕ ЧТЕНИЕ
Учебно-методическое пособие по аналитическому чтению
для студентов, изучающих немецкий язык как специальность
Часть 1
Корректура составителя
Оригинал-макет подготовлен в лаборатории прикладной лингвистики
филологического факультета Казанского государственного университета
Подписано в печать 02.11.07. Бумага офсетная.
Гарнитура ˝Arial˝. Формат 60х84 1/16.
Печ.л. 3,4. Печать ризографическая. Тираж 100 экз. Заказ 20/11.
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