epoQue - Neue Zürcher Zeitung

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WOCHENENDE
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Samstag/Sonntag, 20./21. Mai 1978
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Auf der Avenue du Bois, der heutigen Avenue Foch, waren um die Jahrhundertwende die leichten Kaleschen und die vornehmen Victorias noch unter sich. Man fuhr an schönen Nachmittagen in die eleganten Restaurants
Bagatelle,
Boulogne
des Bois de
oder zu den Rosen von
am Sonntag zu den Rennen in Auteuil und Longchamp.
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VON RUDOLPH P. HAFTER
Jeder Blick zurück in eine noch am Horizont des Selbsterleb«ton liegende oder doch durch überlieferte Eindrücke vermittelte
Vergangenheit trägt nostalgische Züge. In der Verwirrung und Bedrängnis des Heute wird das Gestern leicht zur vermeintlichen
sorgenfreien Idylle, selbst dort, wo der Befund nüchterner historischer Prüfung kaum mehr standzuhalten vermag. Generation um
Generation nimmt ihre eigene «gute alte Zeit» mit sich ins Grab.
Und dennoch gibt es eine noch nicht weit zurückliegende Reihe
von Jahren, denen vielleicht auch die künftigen Geschichtsschreiber das freundlich weitende Prädikat «La Belle Epoque» nicht
verweigern werden. Der Zeitpunkt des knapp bemessenen Kapitels
ist die letzte Jahrhundertwende, rd e Hauptort der Handlung:
Paris.
U.eber das Ende der «Belle Epoque» bestoht kein Zweifel. Die
Schüsse serbischer Nationalisten in dem fernen Sarajewo, denen
am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger zum Opfer fiel
und denen wenige Wochen später der Ausbruch des Ersten Weltkriegs folgte, verkündeten das unwiderrufliche Ende einer Aera.
Ihr Beginn lässt sich nicht mit der gleichen Deutlichkeit festlegen.
Noch 1870 war Frankreich unversehens in ein tiefes Wellental
seiner bewegten Geschichte geraten. Napoleon III. hatte in fataler
Ueberschätzung seiner selbstbewussten, aber technisch rückständi-
gen und schlecht geführten Armee Preussen den Krieg erklärt;
sechs Wochen später ging das Second Empire mit der Gefangennahme des Kaisers bei Sedan unter. Während ein triumphierender
Köni
Bismarck im Spiegelsaal von Versailles dem preussischen g
Wilhelm I. die Kaiserkrone des neuen Deutschen Reichs aufs
Haupt setzte, erlebte Paris den ersten Winter der III. Republik im
Zeichen der Belagerung und der demütigenden Kapitulation. Der
Aufstand der Commune, in dem sich das durch die Entbehrungen
und die Schmach der Niederlage erbitterte Volk im Frühjahr 1871
gegen die eigene Regierung erhob, richtete in der Hauptstadt weit
schlimmere Verheerungen an als die modernen Krupp-Geschütze,
Gare du Nord, August 1914. Frankreich mobilisiert seine Soldaten. Die "Belle Epoque» Ist zu Ende. Die nächsten Stationen heissen Marne und Verdun.
Neue Zürcher Zeitung vom 20.05.1978
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mit denen Moltkes Artillerie die Stadt vorher Nacht für Nacht
bombardiert hatte. Nach zehnwöchigen erbitterten Strassenkämpfen, die in der «semaine sanglante» vom 21. bis 28. Mai kulminierten, brach die Revolte im Feuer der regimetreuen Nationalgarde
zusammen. Ueber 20 000 «Comrnunards» waren gefallen, zahllose
weitere endeten in der Verbannung oder im Exil.
Die Hauptstadt, die soeben noch am Rande des Abgrunds
gestanden hatte, atmete auf. Das Pendel schlug mit jener Vehemenz zurück, die Frankreich, und insbesondere Paris, nach revolutionären Erschütterungen von 1789 bis in die allerjüngste Vergangenheit immer wiexier erlebt hat.
In den grossen Boulevards
und den von ihren Rond-Points ausstrahlenden Avenuen, die der
Baron Haussmann noch zur Zeit des dritten Napoleon durch das
zu eng. gewordene Strassengewirr rd e Innenstadt gezogen hatte,
vernarbten die Wunden des Bürgerkriegs hinter dem Laub rd e
Ulmen und Platanen. Hinter den rauchgeschwärzten Fassaden des
Hotel de Ville, rd e Polizeipräfektur, des Palais Royal, des Finanzministeriums und der langen Häuserzeilen, die in rd e Ruc de
Rivoli, der Rue de Lille und vielen anderen Strassen dem brandschatzenden Pöbel und den rabiaten «Pctroleuses» zum Opfer gefallen waren, ging man unverzüglich an den Wiederaufbau. Nur
das prunkvolle Wahrzeichen der Monarchie und der beiden Kaiserreiche, der Tuilerienpalast, hat die Commune nicht überlebt; an
der Stelle seiner einige Jahre später endgültig abgebrochenen Ruinen geben seither Ziergärten und Teiche die einzigartige Perspektive vom Are de Triomphe über den Obelisken von Luxor bis zu
den Portalen des Louvre frei.
Allen aus jener Zeit überlieferten Augenzeugenberichten lässt
.
D/e Napoleonstatue auf der Place Vendöme gehörte zu den Opfern der Commune von 1871.
sich entnehmen, wie schnell Paris nach den Schreckenstagen des
Winters 70/71 die alte douceur de vivre wiederzufinden schien.
Schon bei Sommeranfang schickte Thomas Cook, rd e Erfinder des
organisierten Tourismus, seine reiselustigen
Landsleute in Scharen
über den Aermelkanal. In den überfüllten Cafes, den wiedereröffneten Theatern und den auf der Seine kreuzenden bateaux-mouches vergassen sie die Ruinen, um derentwillen sie eigentlich gekommen waren; im Louvre, der mit seinen Kunstschätzen wunderbarerweise verschont geblieben war, stand selbst die bereits
verloren geglaubte Venus von Milo wieder auf ihrem Piedestal. In
rd e brennenden Polizeipräfektur, nach der man sie sicherheitshalber evakuiert hatte, war sie durch eine platzende Wasserleitung
gerettet worden.
Die in den ersten Tagen rd e III. Republik von links drohenden revolutionären Gefahren schienen mit der Niederschlagung
rd e Commune und der Eliminierung ihrer Führer für lange Zeit
gebannt; Marschall Mac-Mahon, der sich gegen Preussen keineswegs mit besonderem Ruhm bedeckt hatte, wurde nach dem kui>;
zcn Bürgerkrieg als Retter der Nation gefeiert und zwei Jahre
später trotz seiner nie verleugneten monarchistischen Gesinnung
von der aus überwiegend konservativen Elementen zusammenge-
Die bunten Fassaden der Place du Tertre sind längst unter Denkmalschutz tgestell worden. Aber von der dörflichen Idylle der Jahrhundertwende ist im heutigen Rummel des internationalen Massentourismus nicht mehr viel zu spuren.
In diesem 1925 abgerissenen Haus im Montmartre soll Mimi Pinson, Alfred de Mussets legendäre Midinette, gewohnt haben.
setzten Nationalversammlung anstelle des zurücktretenden Thiers
zum Präsidenten der Republik gewählt. Fast gleichzeitig er/.wang
das wirtschaftlich bereits wieder florierende Frankreich, das seine
vorerst als horrend empfundene Reparationenschuld von fünf
Milliarden Francs weit schneller als erwartet abgetragen hatte,
den Abzug der letzten noch auf seinem Boden stehenden deutschen Soldaten. Nur der Verlust EIsass-Lothringens blieb als nagendes Geschwür haften. «Nie davon sprechen,
immer daran denken», hatte Gambetta seinen Landsleuten zugerufen.
folgenden
In den
Jahren schuf sich Frankreich ein neues, vom
Südrand des Mittelmeers über grosse Teile des schwarzen Afrika
und Madagaskar bis nach Indochina reichendes Kolonialreich.
Die Besucher aus aller Welt, die 1889 zu einer der grossen Ausstellungen strömten, in denen die wiedererstarkte
Grossmacht im elfjährigen Turnus die letzten Errungenschaften ihrer
aufstrebenden
Industrie zur Schau stellte, starrten mit ungläubigem Staunen zu
dem stählernen Riesengerippc empor, das der Ingenieur Eiffel
über den Marsfeldern errichtet hatte. Es dauerte nicht lange, bis
die Pariser selbst den anfangs als geschmacklosen Missgriff eines
megalomanen Exzentrikers verhöhnten Eiffelturm
als stolzes
Wahrzeichen ihrer wiedergefundenen Stadt ins Herz geschlossen
hatten.
Eigentlich wäre man versucht, genau hier den Beginn
der
«Belle Epoque» zu konstatieren
hätte sich nicht in den letzten
Jahren des 19. Jahrhunderts das Sturmgewitter rd e Affäre Dreyfus
über Paris entladen. Im leidenschaftlichen Meinungsstreit um die
Schuld oder Unschuld des 1894 wegen Hochverrats aus rd e Armee ausgestossenen und zur lebenslänglichen Deportation nach
der Teufelsinsel verurteilten jüdischen Artilleriehauptmanns Dreyfus prallten Links und Rechts, Armee und Antimilitaristen, Kirche und Antiklerikalismus während Jahren aufeinander. Die konfuse Spionagegeschichte wurde zum alle Energien rd e Nation absorbierenden Religionskrieg, der keine Neutralität mehr zuliess.
Die Grössen der französischen Literatur, Anatole France, Gide
und Peguy, stauden neben den Politikern auf den Barrikaden;
Emile Zola, der sich mit seinem «J'accuse» in vorderster Linie
exponiert hatte, wurde in einem tumulterfüllten Schauprozess zu
einer Gefängnisstrafe verurteilt, rd e er sich nur durch Flucht
nach England entziehen konnte.
Vielleicht war es eher Erschöpfung als echte Versöhnung, die
den von allen Seiten geschürten Brand schliesslich verglimmen
liess. Wohl musste sich der im Kampf zwischen «Dreyfusards» und
«Anti-Dreyfusards» längst zur abstrakten Symbolfigur gewordene
Protagonist der Affäre nach den ersten, 1899 unternommenen
zaghaften Anläufen zur Revision des längst erwiesenen Justizirrtums noch sieben Jahre bis zu seiner endgültigen Rehabilitierung
gedulden; aber die der heftigen Emotionen überdrüssig gewordene
Bevölkerung begann nach harmloseren Vergnügen Ausschau zu
haJten. Die Pariser Weltausstellung von 1900 läutete das 20. Jahrhundert ein. Zar Alexander III. wurde als Wegbereiter rd e französisch^russischen Allianz postum mit einer von prächtigen steinernen Löwen flankierten Seine-Brücke gefeiert, Frankreichs Künstler zeigten in den imposanten neuen Prunkbauten des Grand und
des Petit Palais ihre Werke, von der Porte Maillot zur Porte de
Vincennes fuhren die ersten, von rd e neuen Wunderquelle Elektrizität getriebenen Züge der unterirdischen Pariser Metro.
Schon im Vorjahr hatte ein politisches fait divers die Pariser
erstmals wieder auf andere, frivolere Gedanken gebracht. Felix
Faure, Präsident der Republik und prominente Stütze des Dreyfus-feindlichen Blocks, war plötzlich gestorben, und zwar, wie sich
peinlicherweise herausstellte, inmitten rd e nachmittäglichen galanten Betätigung, von der ihn auch die Staatsgeschäfte nicht abhalten konnten. Auf die atemlose Frage des eilig ins Elysec zitierten
katholischen Geistlichen «Lc President a-t-:I encore sa connaissance?» soll der ihn am Portal erwartende Lakai
so wenigstens
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Modernisierung um 1900: die erste handgesteuerte Verkehrsampel.
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Pferdetram
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nostalgische Boulevardidylle des Fin-de-siicle.
wollte es das hartnäckig umgehende Gerücht
erwidert haben:
«Non, Monsieur le Pretre, on Pa fait sortir par la porte de derriere.» Von den Bistros bis in die eleganten Salons des Faubourg
Saint-Germain begann sich das Gewölk plötzlich zu lichten. Die
«Belle Epoque» war wirklich ausgebrochen.
In jener Zeit schien es, als Hessen sich der gemächliche -L e
bensstil und die Eleganz des Second Empire fast nahtlos mit dem
rascheren Rhythmus des aufziehenden technischen Zeitalters verschmelzen. Die Herren zogen noch immer die Zylinder, wenn ihr
von dem livrierten «mecanicien» gesteuertes neumodisches Automobil im Corso rd e Kaleschen und Victorias das Gefährt einer
schönen Bekannten oder Unbekannten kreuzte. Man flanierte
heute auf den Champs-Elysees und liess sich vielleicht schon morgen im Orientexpress nach rd e Levante entführen. Dringende
Botschaften erreichten ihre Empfänger in rd e Hauptstadt durch
die Pressluftröhren des «pneumatiquc» nun mit der gleichen Windeseile, mit der sie per Transatlantikkabcl den Adressaten in New
York fanden. Während die Töchter aus gutem Hause sich im
Bois de Boulogne mit der neuen Modespielerei, dem «velocipedc»
(später bicyclette geheissen), vergnügten, bestaunten ihre Eltern in
kleinen verdunkelten Boulevardtheatern die lebenden Bilder, die
die Brüder Lumiere über die Leinwand flimmern liessen.
Es waren nicht die Namen der damaligen Politiker, der Loubet, Waldeck-Rousseau, Millerand, Delcasse und Clemenceau, die
der «Belle Epoque» ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Galerie
der Köpfe ist farbiger und abwechslungsreicher. Sie beginnt mit
dem späteren König Eduard VII., der zu Lebzeiten seiner Mutter
Viktoria als Prince of Wales zu den treuesten Kunden «Chez Maxim's» an der Rue Royale zählte und dort, im Kreise von Pariser
Dandies, russischen Grossfürsten und schönen Frauen, die Fundamente rd e Entente Cordiale legte. Und sie reicht weiter über die
Aristokratie der «beaux quartiers» mit ihren literarischen Salons
und ihren Grafen und Marquisen, die Marcel Proust später unter
kaum verhüllender Maske im monumentalen «A la Recherche
du Temps perdu» gezeichnet hat, über grosse Schauspielerinnen
Der für die Weltausstellung von 1889 errichtete und anfangs heftig umstrittene Eiffelturm im Bau. Im Hintergrund die Türme des alten, vor
dem Zweiten Weltkrieg verschwundenen «Trocadero».
Treppe zur Metro: Der Vekehr xing unter Grund.
wie Sarah Bernhardt und berühmte Kurtisanen wie Cleo de Meroe bis zu den Chansonniers der Butte Montmartre, ohne deren
d
gallische Satire weder Paris noch die
«Belle Epoque» denkbar wären. Die Seite des Bildes, die bei Proust zu kurz kam, hatte Toulouse-Lautrec schon früher mit erbarmungslosem Stift festgehalten: die schwarzen Handschuhe der Yvette Guilbert, die blonde
Jane Avril, La Goulue und die Cancan-Tänzerinnen des Moulin
Rouge. Und schliesslich war es der,
wenn auch in Frankreich geborene, Abkomme eines alten Bündner Geschlechts, der
schon 1897 verstorbene Rodolphe Salis, der in seinem Cabaret
«Chat Noir» einer ganzen Generation französischer Chansonniers
n
den Weg gewiese
hatte.
Erst als die sorglose Zeit 1914 ihr brüskes Ende fand, mögen
sich manche wieder an Victor Hugos prophetische Warnung erinnert habt-'n: :<;Ce
serait une erreur de croire quc ces choses
Finiront par des chants et des apotheoses.»
Prisma einer Stadt» von Gabriele und Justus Wittkop.
Aufnahmen aus: «rParis
Atlantis-Verlag, Ende Mai 1978.
Der Bau des Metro-Netzes verwandelte künftige Knotenpunkte wie die Place de la Nation während Jahren in gewaltige Baugruben.
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