epoQue - Neue Zürcher Zeitung
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91nic3i!td|er 114/75 WOCHENENDE Mimis Samstag/Sonntag, 20./21. Mai 1978 Nr. 114 73 Auf der Avenue du Bois, der heutigen Avenue Foch, waren um die Jahrhundertwende die leichten Kaleschen und die vornehmen Victorias noch unter sich. Man fuhr an schönen Nachmittagen in die eleganten Restaurants Bagatelle, Boulogne des Bois de oder zu den Rosen von am Sonntag zu den Rennen in Auteuil und Longchamp. fefl Bette epoQue VON RUDOLPH P. HAFTER Jeder Blick zurück in eine noch am Horizont des Selbsterleb«ton liegende oder doch durch überlieferte Eindrücke vermittelte Vergangenheit trägt nostalgische Züge. In der Verwirrung und Bedrängnis des Heute wird das Gestern leicht zur vermeintlichen sorgenfreien Idylle, selbst dort, wo der Befund nüchterner historischer Prüfung kaum mehr standzuhalten vermag. Generation um Generation nimmt ihre eigene «gute alte Zeit» mit sich ins Grab. Und dennoch gibt es eine noch nicht weit zurückliegende Reihe von Jahren, denen vielleicht auch die künftigen Geschichtsschreiber das freundlich weitende Prädikat «La Belle Epoque» nicht verweigern werden. Der Zeitpunkt des knapp bemessenen Kapitels ist die letzte Jahrhundertwende, rd e Hauptort der Handlung: Paris. U.eber das Ende der «Belle Epoque» bestoht kein Zweifel. Die Schüsse serbischer Nationalisten in dem fernen Sarajewo, denen am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger zum Opfer fiel und denen wenige Wochen später der Ausbruch des Ersten Weltkriegs folgte, verkündeten das unwiderrufliche Ende einer Aera. Ihr Beginn lässt sich nicht mit der gleichen Deutlichkeit festlegen. Noch 1870 war Frankreich unversehens in ein tiefes Wellental seiner bewegten Geschichte geraten. Napoleon III. hatte in fataler Ueberschätzung seiner selbstbewussten, aber technisch rückständi- gen und schlecht geführten Armee Preussen den Krieg erklärt; sechs Wochen später ging das Second Empire mit der Gefangennahme des Kaisers bei Sedan unter. Während ein triumphierender Köni Bismarck im Spiegelsaal von Versailles dem preussischen g Wilhelm I. die Kaiserkrone des neuen Deutschen Reichs aufs Haupt setzte, erlebte Paris den ersten Winter der III. Republik im Zeichen der Belagerung und der demütigenden Kapitulation. Der Aufstand der Commune, in dem sich das durch die Entbehrungen und die Schmach der Niederlage erbitterte Volk im Frühjahr 1871 gegen die eigene Regierung erhob, richtete in der Hauptstadt weit schlimmere Verheerungen an als die modernen Krupp-Geschütze, Gare du Nord, August 1914. Frankreich mobilisiert seine Soldaten. Die "Belle Epoque» Ist zu Ende. Die nächsten Stationen heissen Marne und Verdun. Neue Zürcher Zeitung vom 20.05.1978 114/7 74 Samstag/Sonntag, 20./21. Mai 1978 <; . Nr. 114 WOCHENENDE . 3Uuf Mxd\tr 3eituitfl mit denen Moltkes Artillerie die Stadt vorher Nacht für Nacht bombardiert hatte. Nach zehnwöchigen erbitterten Strassenkämpfen, die in der «semaine sanglante» vom 21. bis 28. Mai kulminierten, brach die Revolte im Feuer der regimetreuen Nationalgarde zusammen. Ueber 20 000 «Comrnunards» waren gefallen, zahllose weitere endeten in der Verbannung oder im Exil. Die Hauptstadt, die soeben noch am Rande des Abgrunds gestanden hatte, atmete auf. Das Pendel schlug mit jener Vehemenz zurück, die Frankreich, und insbesondere Paris, nach revolutionären Erschütterungen von 1789 bis in die allerjüngste Vergangenheit immer wiexier erlebt hat. In den grossen Boulevards und den von ihren Rond-Points ausstrahlenden Avenuen, die der Baron Haussmann noch zur Zeit des dritten Napoleon durch das zu eng. gewordene Strassengewirr rd e Innenstadt gezogen hatte, vernarbten die Wunden des Bürgerkriegs hinter dem Laub rd e Ulmen und Platanen. Hinter den rauchgeschwärzten Fassaden des Hotel de Ville, rd e Polizeipräfektur, des Palais Royal, des Finanzministeriums und der langen Häuserzeilen, die in rd e Ruc de Rivoli, der Rue de Lille und vielen anderen Strassen dem brandschatzenden Pöbel und den rabiaten «Pctroleuses» zum Opfer gefallen waren, ging man unverzüglich an den Wiederaufbau. Nur das prunkvolle Wahrzeichen der Monarchie und der beiden Kaiserreiche, der Tuilerienpalast, hat die Commune nicht überlebt; an der Stelle seiner einige Jahre später endgültig abgebrochenen Ruinen geben seither Ziergärten und Teiche die einzigartige Perspektive vom Are de Triomphe über den Obelisken von Luxor bis zu den Portalen des Louvre frei. Allen aus jener Zeit überlieferten Augenzeugenberichten lässt . D/e Napoleonstatue auf der Place Vendöme gehörte zu den Opfern der Commune von 1871. sich entnehmen, wie schnell Paris nach den Schreckenstagen des Winters 70/71 die alte douceur de vivre wiederzufinden schien. Schon bei Sommeranfang schickte Thomas Cook, rd e Erfinder des organisierten Tourismus, seine reiselustigen Landsleute in Scharen über den Aermelkanal. In den überfüllten Cafes, den wiedereröffneten Theatern und den auf der Seine kreuzenden bateaux-mouches vergassen sie die Ruinen, um derentwillen sie eigentlich gekommen waren; im Louvre, der mit seinen Kunstschätzen wunderbarerweise verschont geblieben war, stand selbst die bereits verloren geglaubte Venus von Milo wieder auf ihrem Piedestal. In rd e brennenden Polizeipräfektur, nach der man sie sicherheitshalber evakuiert hatte, war sie durch eine platzende Wasserleitung gerettet worden. Die in den ersten Tagen rd e III. Republik von links drohenden revolutionären Gefahren schienen mit der Niederschlagung rd e Commune und der Eliminierung ihrer Führer für lange Zeit gebannt; Marschall Mac-Mahon, der sich gegen Preussen keineswegs mit besonderem Ruhm bedeckt hatte, wurde nach dem kui>; zcn Bürgerkrieg als Retter der Nation gefeiert und zwei Jahre später trotz seiner nie verleugneten monarchistischen Gesinnung von der aus überwiegend konservativen Elementen zusammenge- Die bunten Fassaden der Place du Tertre sind längst unter Denkmalschutz tgestell worden. Aber von der dörflichen Idylle der Jahrhundertwende ist im heutigen Rummel des internationalen Massentourismus nicht mehr viel zu spuren. In diesem 1925 abgerissenen Haus im Montmartre soll Mimi Pinson, Alfred de Mussets legendäre Midinette, gewohnt haben. setzten Nationalversammlung anstelle des zurücktretenden Thiers zum Präsidenten der Republik gewählt. Fast gleichzeitig er/.wang das wirtschaftlich bereits wieder florierende Frankreich, das seine vorerst als horrend empfundene Reparationenschuld von fünf Milliarden Francs weit schneller als erwartet abgetragen hatte, den Abzug der letzten noch auf seinem Boden stehenden deutschen Soldaten. Nur der Verlust EIsass-Lothringens blieb als nagendes Geschwür haften. «Nie davon sprechen, immer daran denken», hatte Gambetta seinen Landsleuten zugerufen. folgenden In den Jahren schuf sich Frankreich ein neues, vom Südrand des Mittelmeers über grosse Teile des schwarzen Afrika und Madagaskar bis nach Indochina reichendes Kolonialreich. Die Besucher aus aller Welt, die 1889 zu einer der grossen Ausstellungen strömten, in denen die wiedererstarkte Grossmacht im elfjährigen Turnus die letzten Errungenschaften ihrer aufstrebenden Industrie zur Schau stellte, starrten mit ungläubigem Staunen zu dem stählernen Riesengerippc empor, das der Ingenieur Eiffel über den Marsfeldern errichtet hatte. Es dauerte nicht lange, bis die Pariser selbst den anfangs als geschmacklosen Missgriff eines megalomanen Exzentrikers verhöhnten Eiffelturm als stolzes Wahrzeichen ihrer wiedergefundenen Stadt ins Herz geschlossen hatten. Eigentlich wäre man versucht, genau hier den Beginn der «Belle Epoque» zu konstatieren hätte sich nicht in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts das Sturmgewitter rd e Affäre Dreyfus über Paris entladen. Im leidenschaftlichen Meinungsstreit um die Schuld oder Unschuld des 1894 wegen Hochverrats aus rd e Armee ausgestossenen und zur lebenslänglichen Deportation nach der Teufelsinsel verurteilten jüdischen Artilleriehauptmanns Dreyfus prallten Links und Rechts, Armee und Antimilitaristen, Kirche und Antiklerikalismus während Jahren aufeinander. Die konfuse Spionagegeschichte wurde zum alle Energien rd e Nation absorbierenden Religionskrieg, der keine Neutralität mehr zuliess. Die Grössen der französischen Literatur, Anatole France, Gide und Peguy, stauden neben den Politikern auf den Barrikaden; Emile Zola, der sich mit seinem «J'accuse» in vorderster Linie exponiert hatte, wurde in einem tumulterfüllten Schauprozess zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, rd e er sich nur durch Flucht nach England entziehen konnte. Vielleicht war es eher Erschöpfung als echte Versöhnung, die den von allen Seiten geschürten Brand schliesslich verglimmen liess. Wohl musste sich der im Kampf zwischen «Dreyfusards» und «Anti-Dreyfusards» längst zur abstrakten Symbolfigur gewordene Protagonist der Affäre nach den ersten, 1899 unternommenen zaghaften Anläufen zur Revision des längst erwiesenen Justizirrtums noch sieben Jahre bis zu seiner endgültigen Rehabilitierung gedulden; aber die der heftigen Emotionen überdrüssig gewordene Bevölkerung begann nach harmloseren Vergnügen Ausschau zu haJten. Die Pariser Weltausstellung von 1900 läutete das 20. Jahrhundert ein. Zar Alexander III. wurde als Wegbereiter rd e französisch^russischen Allianz postum mit einer von prächtigen steinernen Löwen flankierten Seine-Brücke gefeiert, Frankreichs Künstler zeigten in den imposanten neuen Prunkbauten des Grand und des Petit Palais ihre Werke, von der Porte Maillot zur Porte de Vincennes fuhren die ersten, von rd e neuen Wunderquelle Elektrizität getriebenen Züge der unterirdischen Pariser Metro. Schon im Vorjahr hatte ein politisches fait divers die Pariser erstmals wieder auf andere, frivolere Gedanken gebracht. Felix Faure, Präsident der Republik und prominente Stütze des Dreyfus-feindlichen Blocks, war plötzlich gestorben, und zwar, wie sich peinlicherweise herausstellte, inmitten rd e nachmittäglichen galanten Betätigung, von der ihn auch die Staatsgeschäfte nicht abhalten konnten. Auf die atemlose Frage des eilig ins Elysec zitierten katholischen Geistlichen «Lc President a-t-:I encore sa connaissance?» soll der ihn am Portal erwartende Lakai so wenigstens Neue Zürcher Zeitung vom 20.05.1978 3l(iK Äif|tr Ailiinn Modernisierung um 1900: die erste handgesteuerte Verkehrsampel. WOCHENENDE Pferdetram Samstap/Sonntag, 20./21. Mai 1978 Nr. 114 75 nostalgische Boulevardidylle des Fin-de-siicle. wollte es das hartnäckig umgehende Gerücht erwidert haben: «Non, Monsieur le Pretre, on Pa fait sortir par la porte de derriere.» Von den Bistros bis in die eleganten Salons des Faubourg Saint-Germain begann sich das Gewölk plötzlich zu lichten. Die «Belle Epoque» war wirklich ausgebrochen. In jener Zeit schien es, als Hessen sich der gemächliche -L e bensstil und die Eleganz des Second Empire fast nahtlos mit dem rascheren Rhythmus des aufziehenden technischen Zeitalters verschmelzen. Die Herren zogen noch immer die Zylinder, wenn ihr von dem livrierten «mecanicien» gesteuertes neumodisches Automobil im Corso rd e Kaleschen und Victorias das Gefährt einer schönen Bekannten oder Unbekannten kreuzte. Man flanierte heute auf den Champs-Elysees und liess sich vielleicht schon morgen im Orientexpress nach rd e Levante entführen. Dringende Botschaften erreichten ihre Empfänger in rd e Hauptstadt durch die Pressluftröhren des «pneumatiquc» nun mit der gleichen Windeseile, mit der sie per Transatlantikkabcl den Adressaten in New York fanden. Während die Töchter aus gutem Hause sich im Bois de Boulogne mit der neuen Modespielerei, dem «velocipedc» (später bicyclette geheissen), vergnügten, bestaunten ihre Eltern in kleinen verdunkelten Boulevardtheatern die lebenden Bilder, die die Brüder Lumiere über die Leinwand flimmern liessen. Es waren nicht die Namen der damaligen Politiker, der Loubet, Waldeck-Rousseau, Millerand, Delcasse und Clemenceau, die der «Belle Epoque» ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Galerie der Köpfe ist farbiger und abwechslungsreicher. Sie beginnt mit dem späteren König Eduard VII., der zu Lebzeiten seiner Mutter Viktoria als Prince of Wales zu den treuesten Kunden «Chez Maxim's» an der Rue Royale zählte und dort, im Kreise von Pariser Dandies, russischen Grossfürsten und schönen Frauen, die Fundamente rd e Entente Cordiale legte. Und sie reicht weiter über die Aristokratie der «beaux quartiers» mit ihren literarischen Salons und ihren Grafen und Marquisen, die Marcel Proust später unter kaum verhüllender Maske im monumentalen «A la Recherche du Temps perdu» gezeichnet hat, über grosse Schauspielerinnen Der für die Weltausstellung von 1889 errichtete und anfangs heftig umstrittene Eiffelturm im Bau. Im Hintergrund die Türme des alten, vor dem Zweiten Weltkrieg verschwundenen «Trocadero». Treppe zur Metro: Der Vekehr xing unter Grund. wie Sarah Bernhardt und berühmte Kurtisanen wie Cleo de Meroe bis zu den Chansonniers der Butte Montmartre, ohne deren d gallische Satire weder Paris noch die «Belle Epoque» denkbar wären. Die Seite des Bildes, die bei Proust zu kurz kam, hatte Toulouse-Lautrec schon früher mit erbarmungslosem Stift festgehalten: die schwarzen Handschuhe der Yvette Guilbert, die blonde Jane Avril, La Goulue und die Cancan-Tänzerinnen des Moulin Rouge. Und schliesslich war es der, wenn auch in Frankreich geborene, Abkomme eines alten Bündner Geschlechts, der schon 1897 verstorbene Rodolphe Salis, der in seinem Cabaret «Chat Noir» einer ganzen Generation französischer Chansonniers n den Weg gewiese hatte. Erst als die sorglose Zeit 1914 ihr brüskes Ende fand, mögen sich manche wieder an Victor Hugos prophetische Warnung erinnert habt-'n: :<;Ce serait une erreur de croire quc ces choses Finiront par des chants et des apotheoses.» Prisma einer Stadt» von Gabriele und Justus Wittkop. Aufnahmen aus: «rParis Atlantis-Verlag, Ende Mai 1978. Der Bau des Metro-Netzes verwandelte künftige Knotenpunkte wie die Place de la Nation während Jahren in gewaltige Baugruben. Neue Zürcher Zeitung vom 20.05.1978