Classique Tourbillon EXTRA-PLAT
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Classique Tourbillon EXTRA-PLAT
LE QUAI DE L’HOR LOGE NO 4 Français 4 BR EGUET 4 1 Liebe Freunde und Kenner edler Zeitmesser, es gibt wenige ästhetische Vorlieben, die sich seit mehr als zwei Jahrhunderten behaupten und schließlich zeitlos werden. Sie zeichnen sich durch eine Konzeption aus, die heute ebenso modern und attraktiv wirkt wie zu Zeiten ihres Aufkommens. Das beweisen die großen stilistischen Entscheidungen unseres Gründers Abraham-Louis Breguet. Die guillochierten Zifferblätter, die Zeiger mit der durchbrochenen „Pomme“-Spitze und die unverkennbaren Ziffern (beide sind heute branchenweit als Breguetzeiger und Breguetziffern bekannt) ebenso wie die geriffelten bzw. kannelierten Gehäuseflanken sind Merkmale, die untrennbar mit unserer Marke verbunden sind. Zu ihrem genetischen Erbe gehört noch ein weiteres wesentliches Element: erstaunlich feine Profile. Vor zweihundert Jahren wurden möglichst flache Gehäuse ein Imperativ für die von Abraham-Louis Breguet gefertigten ebenso eleganten und erlesenen wie technisch raffinierten Taschenuhren. Heute halten wir dieser Tradition mit der Uhr Classique Tourbillon Extra-Plat die Treue, der ein Kapitel dieser Ausgabe gewidmet ist. Die vollständig neue Architektur ihrer Konstruktion ermöglichte es, der Uhr ein Profil von atemberaubender Feinheit zu verleihen. Dabei war unser Ziel nicht, mit diesem Modell einen Wettbewerb für extraflache Zeitmesser zu gewinnen, sondern diesen spezifischen Bereich der Uhrmacherkunst weiterzuentwickeln und dennoch die Eleganz und Raffinesse des fertigen Stücks zu wahren. Deshalb ist die Classique Tourbillon Extra-Plat mit einem Zifferblatt aus Massivgold, unseren emblematischen Zeigern und dem berühmten geriffelten Gehäusemittelteil ausgestattet. Im Gegensatz zu zahl reichen anderen extraflachen Mechanismen zeichnet sich diese Kreation durch absolute Kompromisslosigkeit aus, was ihre Robustheit und Leistung betrifft. Ich freue mich, dass Sie auf den folgenden Seiten die Innovationen entdecken können, die es möglich machten, diesen Zeitmesser zu verwirklichen. Der Gründer unserer Manufaktur war zwar schweizerischer Herkunft, jedoch auch Wahlfranzose, weshalb der Name Breguet eng mit der französischen Geschichte und Kultur verbunden ist. In dieser Ausgabe beschäftigen wir uns mit zwei dieser Beziehungen: Einerseits erzählen wir die Saga jenes Breguet-Familienzweigs, der sich durch seine Pionierrolle in der Luftfahrt auszeichnete, und andererseits erinnern wir an die reiche Vergangenheit des Musée du Louvre, dessen Richelieu-Flügel nach einer von Breguet unterstützten umfassenden Renovierung kürzlich wieder seine Pforten öffnete. Mit freundlichen Grüßen Marc A. Hayek, Präsident und CEO der Montres Breguet SA 2 3 INHALT Inhalt 1. Classique Tourbillon Extra-Plat 6 2.Kameen 22 3. Louis Breguet, Pionier der Luftfahrt 38 4. Reine de Naples Jour/Nuit 56 5. Skelettierte Uhren 70 6. Das Schicksal des Louvre 4 88 5 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT Classique Tourbillon EXTRA-PLAT Von Jeffrey S. Kingston 6 7 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT B itten Sie einen kompetenten Uhrenliebhaber, eine umfassende Liste der Komplikationen zu erstellen, wird diese zweifellos Mechanismen wie Kalender, ewige Kalender, Tourbillons, Chronographen, Schleppzeiger-Chronographen, Minutenrepetitionen, die Anzeige einer zweiten Zeitzone und die großen Schlagwerke enthalten. Zumindest, sofern Ihr Kenner kein Uhrwerkkonstrukteur ist. Ein solcher würde mit Sicherheit den extraflachen Kalibern eine Vorrangstellung einräumen. Mit gutem Recht, denn diesen Fachleuten ist bestens bewusst, wie viel außerordentliche Kreativität und Erfahrung erforderlich ist, um derart extrem flache Uhrwerke zu entwickeln und zur Funktionsreife zu bringen. ◆◆◆ Beschäftigen wir uns zunächst kurz mit den verschiedenen Definitionen des extraflachen Zeitmessers. Im Französischen verwenden die Uhrmacher zwei Begriffe, die auf den ersten Blick identisch scheinen, jedoch unterschied liche Bedeutungen haben: extra-plat und ultra-plat. Mit „extraflach“ bezeichnen sie dünne Uhrwerke, die unabhängig vom Gehäuse funktionieren, während man unter „ultra flachen“ Uhren meist Zeitmesser versteht, bei denen ein Teil des G ehäuses als funktionelles Element des Werks dient, beispielsweise der Boden als Platine. Hier handelt es sich also um Uhren, deren Werke ohne diese Gehäuseteile nicht funktionieren würden. Für mechanische Zeitmesser ist diese Lösung keineswegs ideal, und die Geschichte der ultraflachen Uhren ist denn auch reich an Problemen bezüglich Ganggenauigkeit und Zuverlässigkeit. Als die Manufaktur Breguet mit der Entwicklung der Classique Tourbillon Extra-Plat begann, setzte sie die Messlatte beeindruckend hoch an. Das erklärte Ziel war, ein atemberaubend flaches Uhrwerk mit Tourbillon zu 8 konstruieren, das den Komfort des Selbstaufzugs bietet, jedoch die Probleme der ultraflachen Mechanismen vermeidet. Dieses Uhrwerk musste überdies robust gebaut sein, da ungeachtet der reduzierten Höhe bei der Präzision und Zuverlässigkeit keinerlei Abstriche gemacht werden durften. Und weil schließlich jeder Kenner und Liebhaber edler Zeitmesser auch das schöne Erscheinungsbild einer Uhr schätzt, hatte ihr Design der Ästhetik der Linie Classique von Breguet zu entsprechen. Das Ergebnis erfüllt das Pflichtenheft in allen Punkten. Das Uhrwerk der Classique Tourbillon Extra-Plat, das Kaliber 581 DR, ist nur 3 mm hoch. Eine kurze Retrospektive auf die extraflachen Automatikwerke ohne Tourbillon rückt diese Glanzleistung ins rechte Licht. Den Weltrekord in Sachen Flachheit hält das Kaliber 2100 von Breguet mit 2,10 mm Stärke (es wird nicht mehr produziert). Ihm folgen drei Kaliber mit einer Höhe von 2,40 mm: das Kaliber 502 von Breguet und zwei Automatikwerke anderer Her steller von vergleichbarer Stärke. In jüngster Vergangenheit ◆ Breguet-Uhr Nr. 4691. Halbviertelstundenrepetition, Kalender und Anzeige der Mondphasen, Zeitgleichung und Gangreserve, Höhe 7,7 mm. Verkauft an Lord Henry Seymour Conway. 9 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT reduzierte eine Uhrenmarke diesen Wert in einem neuen Automatikwerk ohne Tourbillon kaum wahrnehmbar auf 2,35 mm. Dabei handelt es sich jedoch um einen Vergleich zwischen Automatikwerken ohne zusätzliche Komplikation. Das Werk der Classique Tourbillon Extra-Plat hingegen verfügt neben dem Automatikaufzug über ein Regulier organ mit Tourbillon-Drehgestell und eine Anzeige der Gangreserve, unterscheidet sich aber in der Höhe nicht wesentlich von diesen weniger komplexen Kalibern. Als weiteres wichtiges Element übertrifft die Gangreserve der Classique Tourbillon Extra-Plat mit 80 Stunden bei weitem diejenige der meisten extraflachen Automatikwerke ohne Tourbillon. Diese Gangautonomie ist angesichts der hohen Frequenz von 4 Hz ihrer Unruh (28 800 Halbschwingungen pro Stunde) noch beeindruckender. Die Unruhen der übrigen, deutlich einfacheren extraflachen Uhrwerke schwingen meist mit Frequenzen von 2,25 oder 2,5 Hz (16 200 bzw. 18 000 HS), im Kaliber 502 von Breguet mit 3 Hz oder 21 600 Halbschwingungen. Mit steigender F requenz erhöht sich auch die Präzision (die Auswirkungen von Störungen werden durch höhere Frequenzen schneller beseitigt), und es wird zudem schwieriger, eine große Gang reserve zu erreichen. Jedes Ticktack der Uhr entspricht einem leichten Entspannen der Zugfeder, weshalb die Energiereserve bei höherer Frequenz notwendigerweise schneller erschöpft ist. Das Uhrwerk der Classique Tourbillon Extra-Plat hebt sich also durch die drei folgenden wesentlichen Aspekte von anderen extraflachen Kalibern ab: mehr Anzeigen, größere Gangreserve und höhere Frequenz. Doch man trägt ja eine Uhr, nicht nur ein Uhrwerk. Das Roségold- oder Platingehäuse der Classique Tourbillon Extra-Plat ist 7 mm hoch, was harmonisch zu seinem Durchmesser von 42 mm passt. Es entspricht in allem den prägenden Merkmalen der Linie Classique von Breguet: guillochiertes Zifferblatt aus Massivgold, Breguetzeiger mit 10 KEIN ZAUBERTRICK. Das Uhrwerk konnte so flach gebaut werden, weil alle grundlegenden Komponenten neu kreiert wurden. der charakteristischen durchbrochenen „Pomme“-Spitze, kanneliertes Mittelteil mit angeschweißten Bandanstößen, transparenter Saphirglasboden. Zu Beginn des Entwicklungsprozesses stellten sich bei den Konstrukteuren von Breguet gewisse Vorstellungen von selbst ein. Die letzte bedeutende Innovation, die eine beachtliche Verringerung der Werkhöhe zur Folge hatte, datiert von 1775. Damals erfand der französische Uhrmacher Jean-Antoine Lépine einen Mechanismus, der durch den Einsatz von Brücken die Konstruktion wesentlich vereinfachte und feinere Strukturen ermöglichte. Das Breguet-Team konzentrierte sich deshalb darauf, alle übrigen grundlegenden Komponenten des Uhrwerks neu zu d efinieren. 11 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT Eine der ersten Komponenten im Zentrum ihres Interesses war das Federhaus, der Motor der Uhr. Seine drei Hauptelemente sind die Zug- oder Antriebsfeder, die Federhaustrommel selbst und die Federwelle, an deren Kern das eine Ende der Feder befestigt ist. Die Federwelle ist fest mit dem sogenannten Sperrrad verbunden. Bei praktisch allen Uhren wird die Zugfeder mit dem Sperrrad aufgezogen, das wiederum von der Welle der Krone oder durch den Automatikaufzug gedreht wird. In umgekehrter Richtung entspannt sich die Feder jedesmal leicht, wenn sich die Federhaustrommel dreht und über ihre äußere Zahnung die Kraft an das Räderwerk der Uhr abgibt. In herkömmlichen Uhrwerken sind diese Schlüsselelemente wie folgt aufgebaut: In der Platine als Grundlage dreht sich der Zapfen der Federwelle, auf der die Federhaustrommel mit der Zugfeder und dem Federhausdeckel montiert ist. Dann passiert die Federwelle die Brücke als obere Halterung und ist darüber starr mit dem Sperrrad verbunden. ◆ Oben: Das Federhaus wird durch drei Kugellager getragen, die in einer Nut auf dem Umfang der Trommel rollen. ◆ Unten: Der seitlich angeordnete Aufzugrotor ruht ebenfalls auf drei Kugellagern, die jedoch in eine Nut auf dem inneren Umfang eingreifen. 12 Um die Gesamthöhe des Federhauses um 25 Prozent zu verringern, dachten sich die Konstrukteure von Breguet eine völlig andere Vorrichtung aus. Die Brücke und der Federhausdeckel wurden eliminiert und die Reihenfolge der Elemente umgekehrt. Statt der Federhaustrommel folgt unmittelbar auf die Platine das Sperrrad. Es ist über Kugellager mit der Platine verbunden, so dass es sich beim Aufziehen über die Krone oder den Automatikaufzug sowie beim Entspannen drehen kann. Diese Struktur ist insofern komplizierter, als die herkömmliche Lösung ohne Kugellager auskommt. Als Kompensation für die fehlende obere Halterung in Form der Brücke konzipierten die Konstrukteure drei kleine seitliche, auf der Platine montierte Kugellager als Führungen, die in eine Nut auf dem Umfang der Federhaustrommel eingreifen. Diese ist so einwandfrei fixiert und kann sich auch ohne obere Brücke verzugfrei drehen und ihre Aufgabe als Motor erfüllen. BEI DER KONSTRUKTION DES UHRWERKS WURDEN KEINE KOMPROMISSE GEMACHT. Das Streben nach Flachheit durfte keinesfalls die Leistungen und Funktionen beeinträchtigen. Diese Architektur reduziert die Werkhöhe und ist gleichzeitig sehr robust und erschütterungsresistent. Die Antriebskraft, die dieses neuartige Federhaus speichern kann, ist ebenso erstaunlich. Bei einer um ein Viertel reduzierten Höhe kann es gleichzeitig über 20 Prozent mehr Energie akkumulieren, so dass die Uhr voll aufgezogen eine Gangautonomie von 80 Stunden hat. Das ist für ein extraflaches Uhrwerk eine außergewöhnlich hohe Reserve und angesichts der hohen Frequenz dieses Kalibers noch bemerkenswerter. Schauen wir nun den Mechanismus an, der das Federhaus selbsttätig mit Energie versorgt: den Automatikaufzug. Die weit überwiegende Mehrheit der modernen Selbstaufzugsysteme ist mit einer einseitig befestigten Schwingmasse (auch Rotor genannt) ausgestattet, die aufgrund ihres Eigengewichts hin und her schwingt oder sich vollständig dreht, je nach Heftigkeit der Handgelenkbewegungen des Trägers. Diese Rotationen werden über ein R äderwerk auf das Sperrrad übertragen, das die Zugfeder spannt. Von einigen Ausnahmen abgesehen ist dieser R otor auf der 13 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT FINESSE UND SCHÖNHEIT VERBINDEN SICH AUF HARMONISCHE WEISE. Dank dem peripher angeordneten Rotor bleibt das Uhrwerk nicht nur flacher; die Brücken und die Federhaustrommel, die alle von Hand graviert wurden, sind auch vollständig sichtbar. nterseite des Werks montiert, zwischen den Brücken und U dem Gehäuseboden. Dadurch erhöht sich selbstverständlich die Gesamtstärke des Werks. Um das zu vermeiden und das Automatikwerk der Classique Tourbillon Extra- Plat möglichst flach zu halten, schlug das Breguet-Team einen revolutionären Weg ein und montierte den Rotor seitlich außerhalb des Werkumfangs. Dank dieser Lösung bleibt die Werkhöhe gleich wie bei einer Handaufzuguhr, und trotzdem wird die Uhr automatisch aufgezogen, wenn ihr Träger aktiv ist. Die Konstruktion dieses seitlichen Aufzugs ist jedoch viel komplizierter als diejenige eines herkömmlichen, unter dem Werk montierten Automatikaufzugs. Zunächst einmal ist dieser Rotor ringförmig, nicht nur ein Kreissegment wie die üblichen Schwingmassen. Da jedoch die eine Ringhälfte durch ein Platin-Halbkreissegment verstärkt und deshalb viel schwerer ist als die andere, arbeitet dieser Rotor dank der Schwerkraft genau gleich wie eine herkömmliche Schwingmasse. Ähnlich wie beim Lager- beziehungsweise 14 Aufhängungssystem der Federhaustrommel ist der Rotor mit drei kleinen Kugellagern fixiert, die hier jedoch in eine Nut auf seinem inneren Umfang eingreifen. Dessen Zahnung überträgt die Drehung des Rotors auf ein Räderwerk, das mit dem Sperrrad verbunden ist. Dieses periphere Aufzugsystem bietet einen zusätzlichen Vorteil. Beim herkömmlichen Automatikaufzug verdeckt die Schwingmasse einen beträchtlichen Teil des Uhrwerks. Will der Besitzer eines Zeitmessers mit transparentem Boden die prachtvollen Verzierungen seiner Komponenten bewundern, muss er die Uhr hin und her neigen, bis die Schwingmasse dank der Schwerkraft den Teil des Werks dem Blick freigibt, den er betrachten will. Dank der seitlichen Anordnung des Rotors entfällt dieser Nachteil, und die dekorierte Unterseite des Uhrwerks ist stets in ihrer ganzen Pracht sichtbar. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Uhrwerkkonstrukteure von Breguet selbstverständlich dem Tourbillon 15 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT EIN TOURBILLON MIT EINZIGARTIGER KONSTRUKTION. Die luftige Architektur bringt außergewöhnlich viel Licht in die Tourbillonöffnung und wertet die Komponenten dieses Mechanismus auf. und der Unruh. Aufgabe des Tourbillonmechanismus ist es bekanntlich, die Auswirkungen der Schwerkraft auf die Elemente des Regulierorgans – Unruh, Spiralfeder und Hemmung – zu kompensieren, indem diese in einem Drehgestell angeordnet sind, das sich üblicherweise einmal pro Minute vollständig dreht. In diesem Kontext kann man sich die H erausforderungen leicht vorstellen, vor denen das Team bei der Aufgabe stand, diesen ebenso komplizierten wie fili granen Mechanismus in ein extraflaches Werk einzubauen, ist es doch schon schwierig genug, in diesem begrenzten Raum herkömmliche Regulierorgane ohne die zusätzliche Komplikation eines Tourbillonkäfigs unterzubringen. Das Streben nach Verschlankung begann schon bei der Konzeption der Unruh. Dank den gesammelten Erfahrungen mit den extraflachen Breguet-Kalibern 1200, 2100 und 502, die sich seit Jahrzehnten durch ihre Feinheit auszeichnen, entwarfen die Konstrukteure eine Unruh, bei der die Spiralfeder vollständig in die Höhe des Unruhreifs integriert ist. Dabei spielten modernste Technologien wie die Herstellung dieser Feder aus Silizium eine entscheidende Rolle. Die patentierte Siliziumspiralfeder bietet vielfältige Vorteile: Sie ist amagnetisch, hat die ideale Form, um Gewähr für höchste G anggenauigkeit 16 17 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT KENNER EDLER ZEITMESSER TRAGEN UHREN, NICHT UHRWERKE. Von grundlegender Bedeutung ist die Art und Weise, wie ein extraflaches Uhrwerk mit dem Zifferblatt und dem Gehäuse der Uhr kombiniert wird. ◆ Zeichnung des Tourbillons mit der Zahnung auf dem Umfang des Tourbillon-Drehgestells. Sie liefert die notwendige Energie für die Rotationen und die Hemmung. zu leisten, und bietet beim Entspannen der Zugfeder eine länger als üblich anhaltende stabile chronometrische L eistung. Diese Leistungskurve wird in der Uhrmachersprache Isochronismus genannt. Der Tourbillonkäfig selbst unterscheidet sich beträchtlich von den anderen derartigen Konstruktionen von Breguet, die durch einen im Rotationszentrum des Gestells montierten Trieb mit Energie versorgt werden. Diese Anordnung erfordert selbstverständlich ein Räderwerk unter dem Käfig, was die Gesamthöhe der Vorrichtung steigert. Indem hier die Kraft direkt auf den gezahnten Umfang des Käfigs übertragen wird, konnte ein flacheres Profil erreicht werden. Das so von außen angetriebene Drehgestell ist zudem aus Titan gefertigt, einem Metall, das sehr leicht ist und trotzdem über die notwendige Festigkeit verfügt, um Hochleistungen zu erbringen. Der Drehmodus ist eine weitere Neuerung dieses Tourbillons. Übliche Konstruk tionen basieren auf einem feststehenden Sekundenrad mit Außenzahnung, das über einen Trieb mit der Hemmung 18 verbunden ist. Statt dieses Sekundenrad unter dem Drehgestell zu montieren, hat das Breguet-Team ein großes, außen montiertes Rad mit innerer Zahnung entwickelt, die in den Hemmungstrieb eingreift. Abgesehen davon erfüllt es dieselbe Funktion, denn die Rotation des Käfigs im Verhältnis zum feststehenden Rad treibt alle für die Zeitteilung wesentlichen Elemente des Regulierorgans an. Die Änderung verringert jedoch die Höhe des Mechanismus um einige Zehntelmillimeter und verleiht dem Tourbillon eine außergewöhnliche Transparenz, dank der die Schönheit der anderen Komponenten noch besser zur Geltung kommt. Doch man trägt ja, wie bereits erwähnt, Uhren, nicht nur Uhrwerke. Deshalb wurde auch der Kombination des Kalibers 581 DR mit dem Zifferblatt und dem Gehäuse besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei hatten die Konstrukteure einen unveränderlichen Imperativ zu respektieren: das handguillochierte Zifferblatt aus Massivgold. Bei gewissen extraflachen Uhren wird ein besonders dünnes Zifferblatt verwendet oder ganz darauf verzichtet, um 19 CLASSIQUE TOURBILLON EXTRA-PLAT einige zusätzliche Zehntelmillimeter zu gewinnen. Dieser ästhetische Kompromiss kam für Breguet nicht in Frage. Da zudem der traditionelle Zifferblattdekor mit der Handguillochiermaschine eine bestimmte Mindeststärke der Goldplatte erfordert und Breguet nicht auf dieses Erbe verzichten wollte, wurde die zusätzliche Höhe in Kauf genommen. Dessenungeachtet ist ein weiterer technischer Kniff, der zur Flachheit beiträgt, mit dem Zifferblatt verbunden. Die waagrechte, stabartige obere Tourbillonbrücke ist zwar unterseitig fest mit dem Uhrwerk verbunden, passt jedoch beidseits der Kreisöffnung des Tourbillons exakt in je eine Zifferblattaussparung und scheint so zum Gesicht der Uhr zu gehören. Das flache Profil war ebenfalls kein Hindernis für den traditionellen Uhrwerkdekor: Die Platine, die Brücken und das Federhaus sind sorgfältig von Hand graviert. Breguet verfügt über ein reiches Erbe an Innovationen, das sich über mehr als zwei Jahrhunderte erstreckt und dem dieses neue Mitglied der Tourbillonuhren die Ehre erweist. Selbstverständlich gehört auch der Tourbillonmechanismus dazu, den Abraham-Louis Breguet 1801 erfand und patentieren ließ. Der Gründer der Manufaktur Breguet bewies sein stupendes uhrmacherisches Können jedoch auch mit bemerkenswerten extraflachen Konstruktionen, zum Beispiel der außergewöhnlichen Uhr Nr. 3306, die ungeachtet ihrer Viertelstundenrepetition nur 8 mm hoch ist. Noch erstaunlicher ist die Nr. 4691 mit Halbviertelstundenrepetition, Kalender und Anzeige der Mondphasen, der Zeitgleichung und der Gangreserve, die sage und schreibe nur 7,7 mm hoch ist. Die Classique Tourbillon Extra-Plat illu striert, dass dieses einzigartige Erbe lebendig ist und bereichert es um weitere, noch nie dagewesene Meisterleistungen. 20 21 KAMEEN KAMEEN Von Jeffrey S. Kingston 22 23 KAMEEN E ine Breguet-Uhr wird immer etwas Rares sein. Die Exklusivität jedes Stücks wird stets durch eine individuelle Nummer bescheinigt, und zwar seit Abraham-Louis Breguet 1775 seine Werkstatt am Quai de l’Horloge in Paris eröffnete. Heute gibt es bei jeder Reine de Naples Cammea oder Secret de la Reine noch einen zusätzlichen Faktor der Einzigartigkeit: Beide Damenuhren sind mit handgefertigten Kameen aus Muschelschalen verziert; bei der Reine de Naples Cammea ist das Zifferblatt mit einer solchen Miniatur geschmückt, während auf dem Deckel der Secret de la Reine eine Kamee in Rosenform prangt. Dieser außergewöhnlich fein gearbeitete Dekor unterstreicht den kostbaren Charakter jeder Uhr und verleiht ihr den Status eines Einzelstücks, ist doch kein Exemplar genau gleich wie das andere. ◆◆◆ Die Kunst des Kameenschnitzens ist eine alte, seit der Antike bekannte Schmucktechnik. Die frühesten bekannten, aus Stein geschnittenen Objekte stammen aus dem Griechenland des 3. Jahrhunderts v. Chr. Die vermutlich im 2. Jahrhundert v. Chr. im hellenistischen Alexandrien geschaffene Tazza Farnese ist das berühmteste erhaltene Beispiel aus der Antike. Mit ihren fein abgestuften Lichtkon trasten und den dreidimensional gravierten allegorischen Figuren illustriert diese exquisite Schale aus Sardonyx die Ausdruckskraft der hellfarbenen Reliefdarstellungen auf dunklem Grund und definierte diese Kunstgattung in den mehr als zwei Jahrtausenden seit ihrer Kreation. Heute befindet sich die prachtvolle Tazza Farnese im A rchäologischen Nationalmuseum in Neapel. Wie andere Kunstformen war das Kameenschneiden über die Jahrhunderte mehr oder weniger gefragt. Im 18. Jahrhundert machte Katharina die Große mit ihrer Vorliebe für eleganten Schmuck die K amee hoffähig. Im 19. Jahrhundert, während der Regierungszeit von Königin Victoria, wurden vor allem 24 Perlmuttkameen populär. Die britische Monarchin schätzte sie so sehr, dass sie sich bei bestimmten Gelegenheiten gleich mit mehreren schmückte. Dank der steigenden Nachfrage im viktorianischen England blühte das Kunsthandwerk der Kameenschnitzer in Torre del Greco am Fuße des Vesuvs auf. Da das Mittelmeer vor der Türe liegt, entwickelte sich das Städtchen rasch zum Zentrum der Muschelkamee, während anderswo auch Materialien wie Glas oder Edelsteine verarbeitet wurden. Breguet fand denn auch in Torre del Greco zwei Graveure – Vater und Sohn – für die Fertigung der Kameenteile der Uhren. Obwohl von jeher verschiedenste Muschelarten zu Kameen verarbeitet wurden, benutzt man für die feinsten Arbeiten die Schalen der Sardonyxmuschel (Cassis madagascariensis), die im Volksmund auch „Helmschnecke“ oder „Sturmhaube“ genannt wird. Selbstverständlich ist auch für die Kameen von Breguet nur das Beste gut genug. Der wissenschaftliche Name dieser bis zu 40 Zentimeter großen, 25 KAMEEN 26 meerschneckenförmigen Mollusken ist allerdings irreführend, da sie nicht bei Madagaskar, sondern vor allem im westlichen Atlantik vor Florida vorkommen. Sie werden nicht nur wegen ihrer Größe geschätzt, sondern auch wegen der intensiven und kontrastreichen Färbung ihrer Schalen. Arbeitet sich der Stichel des Graveurs durch die milchigweiße Oberfläche, kommen die dunkleren Schichten zum Vorschein. Die Farbunterschiede und die Tiefenwirkung erlauben, weiße Relieffiguren auf dunklem Hintergrund im klassischen Stil der Tazza Farnese zu schaffen. Damenuhren von Hand an. Pasquale lernte sein Handwerk beim großen Cameo-Meister Giuseppe Scialanga (1889– 1960), in dessen Werkstatt er bereits als Siebenjähriger antrat. Fabio wiederum vervollständigte seine Ausbildung an der Accademia di belle arti in Neapel. Berühmt wurden Pasquale und Fabio schon vor ihrer Zusammenarbeit mit Breguet für Kameen wie jene der berühmten drei Grazien aus Botticellis Gemälde Frühling (Primavera, das Original hängt in den Uffizien in Florenz) und andere mit Darstellungen biblischer Szenen und neapolitanischer Heiligen. Die Kunst der Kamee ist bei den Bewohnern von Torre del Greco tief verwurzelt, zahlreiche Familien sind seit Generationen mit dieser Tradition verbunden. Pasquale und sein Sohn Fabio fertigen die Kameen für die beiden Breguet- Pasquale und Fabio haben ihr Studio in einer kleinen, lichtdurchfluteten Wohnung südlich des Vesuvs eingerichtet. Seit Beginn ihrer Tätigkeit für Breguet war Fabio ausschließlich mit den Zifferblättern und Rosen für die 27 KAMEEN ◆ Nach dem Zuschneiden der Muschelschale folgt das Polieren und Abrunden der Kanten. DIE GEBURT JEDER KAMEE BEGINNT MIT DER SORGFÄLTIGEN PRÜFUNG UND SELEKTION DER MUSCHELSCHALEN. Der Künstler bestimmt dann die Bereiche der Schale, die sich für die Herstellung eines Zifferblatts der Cammea oder einer Blüte im Fall der Secret de la Reine eignen. ◆ Ist das Zifferblatt aus der Muschelschale geschnitten, wird es mit einer Wachs-Pech-Mischung auf einem Holzstock fixiert. Reine de Naples beschäftigt, während sein Vater seine Zeit zwischen Breguet und anderen Arbeiten aufteilt. Früher wurden viele Kameen aus Muschelschalen geschnitten, die von neapolitanischen Fischern angelandet wurden. Diese Tradition verschwand, da Muscheln von besserer Qualität und insbesondere Sardonyxmuscheln gefragt waren, die Händler im Ausland kaufen und den Künstlern in Mengen von fünfzig bis hundert Stück liefern. Diese Schalen sind absolut natürlich und unbehandelt. Sie werden vor dem Verkauf auf Bambusstöcken während 12 bis 18 Monaten im Freien getrocknet. Zuerst werden die Muschelschalen sorgfältig geprüft und selektioniert. Die beiden Graveure nehmen jede genauestens unter die Lupe, um winzige Spuren von Rissen 28 und anderen Mängeln auszumachen. Nur die als perfekt beurteilten Exemplare werden ausgewählt. Dann müssen die Bereiche der Schalen bestimmt werden, die sich für das Zifferblatt der Reine de Naples Cammea beziehungsweise für die Rose der Secret de la Reine eignen. In der Regel können aus einer Schale zwei Zifferblätter oder zwei bis drei Rosen geschnitten werden. Nachdem deren Konturen mit Bleistift markiert und von den Graveuren noch einmal überprüft worden sind, schneiden sie sie mit einer feinen Säge aus und polieren und runden anschließend die Kanten. Bevor sie mit dem Schnitzen beginnen, sind mehrere Schritte notwendig. Zunächst fixiert man die Schale mit einer Mischung aus Wachs und Pech auf einem Holzstock. Dann wird die äußere Oberfläche eingeebnet. Dadurch wird sie nicht nur gleichmäßig, was für ein Zifferblatt 29 KAMEEN ◆ Vor dem Gravieren wird das Motiv aufgezeichnet. ◆ Die natürlichen Farben der Muschelschale kommen zum Vorschein, wenn sich die Werkzeuge des Graveurs in tiefere Schichten vorarbeiten. e rwünscht ist, durch das Abtragen der höckrigen und rauhen Außenseite der Muschel wird die milchigweiße Schicht freigelegt, die den beiden Künstlern gewissermaßen die leere „Leinwand“ für ihr reliefiertes Bild liefert. Fabio und Pasquale zeichnen zuerst das Motiv mit Bleistift auf. Die Zifferblattkamee der Reine de Naples Cammea bildet eine Sonnenblume, in deren Mitte die Zeiger befestigt sind. Breguet bietet zudem die Möglichkeit, ein personalisiertes Zifferblattmotiv zu bestellen, das auf dieselbe Weise entworfen wird. Mit dem italienisch bulino genannten Stichel beginnen sie die Oberfläche zu bearbeiten. Zuerst kommen die Umrisse zum Vorschein. Allmählich 30 ALLE FARBEN SIND IN DER MUSCHELSCHALE NATÜRLICH VORHANDEN. Nichts wird gemalt oder beigefügt. 31 KAMEEN DAS WERKZEUG DES KÜNSTLERS. Das Motiv wird ausschließlich mit den „bulini“ genannten Sticheln bearbeitet. 32 33 KAMEEN ◆ Die künstlerische Interpretation neuer Motive für Kameen-Zifferblätter. DIE MUSCHEL WANDELT SICH ZUR SONNENBLUME. Die Zeiger werden im Zentrum der Blume montiert. werden die Details der Blume und die Werkzeuge immer feiner. Je tiefer die Graveure in die Schichten vordringen, desto klarer wird der dunklere Hintergrund erkennbar. Alle Farben sind natürlich, nichts wird gemalt oder beigefügt. Die Farbtöne jeder Muschelschale sind einzigartig in ihren Abstufungen, ihrer Opazität und Tiefenwirkung. Aufgrund dieser unterschiedlichen Farbtönungen in Verbindung mit den subtilen formalen Abweichungen des handwerklich kreierten Blütenmotivs darf jede Kamee mit Fug und Recht als Unikat bezeichnet werden. Wie erwähnt, dient die Kamee bei der Reine de Naples Cammea als Zifferblatt. Darum muss diese MiniaturReliefskulptur künstlerische Virtuosität mit den strengen Passungsanforderungen an ein Zifferblatt samt Zeiger und Gehäuse verbinden. Ist die Gravur beendet, wird an verschiedenen flachen Punkten der Rückseite eine Bodenplatte für exakte Befestigung auf dem Uhrwerk aufgeklebt. 34 35 KAMEEN Die Reine de Naples Cammea ist in ein Gehäuse aus Weißgold eingeschalt, dessen Lünette mit 24 Diamanten von insgesamt 2,32 Karat besetzt ist. Die Rosenkamee der Secret de la Reine hingegen ist auf dem Gehäusedeckel befestigt, der in geschlossener Position das Zifferblatt verdeckt und von der mit Diamanten besetzten Lünette in Form einer Rosette eingerahmt wird. Eine Drehung des Deckels enthüllt das „Geheimnis“: das mit unsichtbar gefassten Diamanten geschmückte Zifferblatt und sein ovales Perlmuttschild mit dem Breguet-Logo. Erhältlich ist dieses Modell in Rosé- oder Weißgold mit einem Armband aus Leder oder aus geflochtenem Gold. Beide Uhren sind mit Automatikwerken ausgestattet. Die Rose in Form einer Kamee ist auch in den Joaillerieund Haute-Joaillerie-Kollektionen von Breguet prominent vertreten, wo sie auf Ohr- und Fingerringen, Armbändern, Anhängern und Halsketten in unterschiedlichen Formen, Größen und Kombinationen von Gold und Perlen blüht. Die Reine de Naples Cammea und die Secret de la Reine sind die einzigen Beispiele in der zeitgenössischen Uhrmacherei, die sich mit der Kunst des Kameenschneidens schmücken. Sie sind nicht nur einzigartig, weil sie ein traditionelles Handwerk mit Haute Horlogerie verbinden, sondern weil jedes einzelne Modell in Farbe und Design einmalig ist. 36 37 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT Louis Breguet, PIONIER DER LUFTFAHRT und Uhrenliebhaber Von Emmanuel Breguet Hydravion de transport Breguet 531 Saigon de la compagnie Air France photographié au-dessus du Havre 1934 der Gesellschaft ◆ Das Transport-Wasserflugzeug Breguet 531en „Saigon“ Air France, 1934 fotografiert über Le Havre in Nordfrankreich. 38 39 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT D er Name Breguet ist nicht nur in der Uhrmacherkunst, sondern auch in der Luftfahrt ein Begriff. Das ist das Verdienst von Louis Breguet (1880–1955), einem der großen Pioniere der Aviatik. Und die Frage, ob Abraham-Louis und Louis Breguet wohl verwandt seien, kann mit Ja beantwortet werden. ◆◆◆ Louis Breguet ist ein Vertreter der fünften Generation der Familie, wenn man mit der Zählung bei seinem Ururgroßvater Abraham-Louis Breguet (1747–1823) beginnt. Dieser war 1762 von Neuchâtel nach Frankreich gezogen, um in Versailles und Paris seine Ausbildung als Uhrmacher weiterzuführen. Mit seiner eigenen Werkstatt am Quai de l’Horloge in Paris machte er Karriere, wurde zum Mitglied der französischen Académie des sciences ernannt und brachte zusammen mit seinem Sohn Antoine-Louis (1776–1858) die Uhrmacherkunst auf ihren Höhepunkt. Dessen Sohn, der Großvater von Louis, Louis-Clément Breguet (1804–1883), erfand unzählige elektrische Instrumente und war Ehrenmitglied der Académie des sciences. Er entwickelte und konstruierte einen Telegrafen mit Alphabet- und Ziffernscheibe, der von vielen Ländern übernommen wurde, sowie mehrere Fernmeldesysteme, welche die Sicherheit der Eisenbahnen erhöhten. Als Anerkennung für seine zahlreichen Verdienste wurde sein Name auf dem Eiffelturm verewigt. Louis’ Vater, Antoine Breguet (1851–1882), nach Abschluss der Ecole polytechnique einer der vielversprechendsten Ingenieure seiner Generation, führte in Frankreich das Telefon von Bell ein, bevor er mit nur 31 Jahren starb. 40 Louis Breguet, der die Ecole supérieure d’électricité absolvierte, sollte eigentlich in den Aktivitäten der Familie im Fernmeldewesen und dem Bau von Elektromotoren – sein Großvater hatte die Uhrenmanufaktur 1870 verkauft1 – tätig werden, überraschte jedoch mit dem Entschluss, sich voll und ganz der Eroberung des Himmels zu widmen. Die Karriere von Louis Breguet in einigen Zeilen zusammenzufassen ist nicht einfach, da er selbst und die von ihm gegründete und geführte Société anonyme des ateliers d’aviation Louis Breguet, die später in Breguet Aviation umbenannt wurde, fast ein Jahrhundert lang bedeutende Akteure der Welt der Luftfahrt waren. Der Ingenieur und Unternehmer Louis Breguet schrieb in dreifacher Weise Aviatikgeschichte: als Hubschrauberpionier, mit einem wichtigen Beitrag zum Militärflugwesen und beim Aufbau der Zivilluftfahrt.2 Der Gyroplane, Vorläufer des modernen Helikopters Von 1905 bis 1909 machte Louis Breguet mit seinem Bruder Jacques und Professor Charles Richet3 die ersten Schritte in der jungen Luftfahrt. Gemeinsam entwickelten sie über den originellen Umweg des Tragschraubers den ◆ Der Ingenieur und Pilot Louis Breguet 1910 im Cockpit eines seiner frühen Fluggeräte. 41 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT ◆ Der Gyroplane Breguet-Richet Nr.1, eine der wenigen Aufnahmen vom Abheben am 24. August 1907 in Douai. Helfer verhindern ein seitliches Verschieben dieses Vorläufers des Helikopters. ◆ Postkarte mit Darstellungen des kuriosen Gyroplane Breguet-Richet Nr. 2 bis. Vertikalflug. 1907 schwebte sein bemannter Gyroplane Nr. 1, ein seltsames Gefährt mit vier Rotorsystemen zu je acht Blättern, während ungefähr einer Minute in der Luft: Am 24. August hob es 60 Zentimeter vom Boden ab, am 20. September beinahe 1,5 Meter. Über diese Weltpremiere informierte Louis Breguet umgehend die Académie des sciences, die das Ereignis vom 24. August an ihrer Sitzung vom 16. September offiziell bestätigte: „Einem Apparat in der Art eines Helikopters gelang es zum ersten Mal, sich vollständig schwerelos zu machen und mit seinem Motor, seiner Energieversorgung und einem Mann an Bord vom Boden abzuheben.“ Obwohl Louis Breguet von der Zukunft des Vertikalflugs überzeugt war, verzichtete er 1909 angesichts der ungenügenden Ergebnisse, die er mit zwei weiteren Maschinen mit 42 Rotationsflügeln erzielte, auf die Weiterentwicklung und wandte sich stattdessen dem Bau herkömmlicher Flugzeuge zu, zunächst Doppeldeckern und dann Eindeckern. Doch damit hatte er noch nicht sein letztes Wort gesagt. Dreiundzwanzig Jahre später, anno 1932, entschloss er sich, das Abenteuer des Gyroplanes fortzusetzen, zu einer Zeit, als er auf dem Höhepunkt seiner Karriere war und von den Konkurrenten weltweit geachtet und beobachtet wurde. Obwohl die Technik große Fortschritte gemacht hatte, zumal auf dem Gebiet der Motorisierung, schien dieses Unterfangen ein wenig verrückt. Doch nach drei Jahren hartnäckiger Arbeit zusammen mit René Dorand und Maurice Claisse war der Erfolg in Griffnähe: 1935 und 1936 brach der Versuchs- Gyroplane Breguet-Dorand alle Rekorde hinsichtlich Manövrierfähigkeit, Geschwindigkeit (108 Stundenkilometer), Höhe (158 Meter), Flugdauer (63 Minuten) und Standschwebe (10 Minuten), womit er sich unbestreitbar als erster moderner Helikopter4 erwies. Louis Breguet prägte so zweimal die Geschichte des Helikopters auf markante Weise und inspirierte eine ganze folgende Generation von Ingenieuren wie Igor Sikorski und Franck Piaseki. ◆ Der Gyroplane Breguet-Dorand, fotografiert bei seinem historischen Flug vom 22. September 1936. Breguet und die Militäraviatik Ab 1911 baute er Doppeldecker für die Streitkräfte Frankreichs, Großbritanniens und Russlands. Wie andere Aviatikpioniere weltweit widmete er sich von 1914 an vollständig der industriellen Produktion von Flugzeugen, die ausnahmslos militärischen Zwecken dienten. Am 2. September 1914, einige Tage bevor er die Front verließ, um sich um seine Fabriken zu kümmern, unternahm er auf eigene Initiative einen jener gefährlichen Aufklärungsflüge, die den französischen Führungsstab über den deutschen Versuch informierten, Paris östlich zu umgehen. Die von den Generälen Galliéni und Joffre sehr ernst genommenen Nachrichten führten zum Ausbruch der Marneschlacht, von der vor allem die berühmte Geschichte der Pariser Taxis 43 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT DIE BREGUET 14 STARTETE IM NOVEMBER 1916 ZU IHREM JUNGFERNFLUG. Diese während mehr als zehn Jahren im Dienst stehende Maschine machte Louis Breguet international bekannt. ◆ Zwei Breguet-14-Maschinen, wie sie im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden. 44 45 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT ◆ Montagestraße der Breguet 19 in den Flugzeugwerken in Villacoublay bei Paris. ◆ Louis Breguet 1936 in seinem Büro in der Rue Georges-Bizet in Paris an seinem Zeichenbrett. in Erinnerung bleibt, die angeheuert wurden, um eine Brigade Infanteriesoldaten möglichst schnell an die Front zu transportieren. Louis Breguet wurde für diese außerordentliche Tat das Kriegsverdienstkreuz verliehen, und sein Name bleibt mit dem „Sieg an der Marne“, der den Kriegsverlauf beeinflusste, für immer verbunden. französischen Generalstab, aber auch von Belgien und Schweden, erst so spät geordert wurde, dass er 1940 in der Schlacht um Frankreich nicht mehr viel ausrichten konnte. Lieferant der Streitkräfte blieb Louis Breguet bis zu seinem Tod, und seine Nachfolger setzten sein Werk fort. Die 1950er und 1960er Jahre waren von der Entwicklung und Produktion des U-Boot-Jägers Breguet 1050 Alizé ge prägt, der auf den französischen Flugzeugträgern Foch und Clemenceau bis zum Jahr 2000 im Einsatz stand und ebenfalls an die indische Marine geliefert wurde; aber auch vom bekannten Seefernaufklärer Breguet 1150 Atlantic, Sieger des Nato-Wettbewerbs 1958, erworben von Frankreich, Italien, Deutschland und den Niederlanden, von dem eine modernisierte Version noch heute über den Ozeanen und Wüsten unserer Erde fliegt; vom Militärtransportflugzeug Breguet 941, das auf einem Fußballplatz landen und starten Doch das Völkerringen zog sich hin, und es kam die Zeit der Grabenkämpfe. Die Produktion der Flugzeuge spielte sich ein, es brauchte allerdings noch zwei Jahre, bis die Luftwaffe auf technologischer Ebene echte Fortschritte machte. Im November 1916 startete die Breguet 14 zu ihrem Jungfernflug, und ab 1917 wurde sie in großer Stückzahl produziert. Dieser für die damalige Zeit ultramoderne Zweiplätzer-Doppeldecker war das Ergebnis von Louis Breguets persönlichen Überlegungen. Seine Struktur be46 steht vollständig aus Metall, und zwar erstmals aus Duraluminium, der Rumpf und die Flügel sind mit Leinwand bespannt. Das als Aufklärer und Bomber konzipierte Flugzeug begeisterte die Piloten mit seiner Geschwindigkeit, Wendigkeit, hohen Nutzlast und maximalen Flughöhe von 6000 Metern, unerreichbar für die damaligen gegnerischen Jagdflugzeuge. Es sollte sich als wichtiges Instrument für den Sieg der Alliierten 1918 erweisen. Die Breguet14, von der man ungefähr 8000 Stück herstellte, die von etwa fünfzehn Ländern, darunter den Vereinigten Staaten, gekauft wurden und während über zehn Jahren im Dienst standen, sicherte ihrem Entwickler weltweites Ansehen.5 Das Nachfolgemodell, die Breguet 19, war von ähnlichem Zuschnitt und stand in Luftwaffen rund um den Globus im Einsatz.6 1934 begann die Entwicklung des taktischen Bombers Breguet 690, eines Eindeckers, der jedoch vom 47 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT ◆ Die Breguet 280T Limousine, 1929 fotografiert auf dem Flugplatz Paris-Le Bourget. konnte, und schließlich vom franko-britischen Jagdbomber Jaguar, dem eine lange und brillante Karriere beschieden war. Jahren a rbeitete er daran, mit Hilfe von Beziehungen, Zusammenschlüssen und Fusionen ein bedeutendes, sinnvolles und möglichst rentables Flugverkehrsnetz aufzubauen. Breguet und die Zivilluftfahrt 1921 wurde die Linie Paris–Le Havre als Anbindung an die Im Bereich der zivilen Luftfahrt erwies sich Louis Schifffahrtslinie nach New York eröffnet, und im Sommer Breguet schon früh als brillanter Theoretiker, aber auch als 1922 konnte die Strecke Paris–Lyon–Marseille eingeweiht visionärer Praktiker. Seinen Traum, zahlreiche Passagiere zu werden, schon bald ergänzt durch Lyon–Genf. Im März transportieren, verwirklichte er am 23. März 1911, als er 1923 fusionierte Louis Breguet sein Unternehmen mit der mit seinem Doppeldecker mit einem 90-PS-Motor und Compagnie des grands express aériens, seinem Rivalen auf elf Passagieren abhob und so einen neuen Weltrekord der Strecke Paris–London, und nannte die von ihm präsiaufstellte!7 Kaum war der Weltkrieg zu Ende, wandte er sich dierte neue Gesellschaft Air Union. 1929 wurde die Linie sofort der Aviatik für zivile Zwecke zu. Im Februar 1919 Marseille–Ajaccio–Tunis lanciert, 1931 folgte Tunis–Algier gründete er die Compagnie des messageries aériennes, die und 1932 Lyon–Cannes. 1932 begann die Air Union in nicht nur für die Luftpost, sondern auch für den Transport Zusammenarbeit mit der Swissair die direkte Linie Paris– von Passagieren zwischen Paris und Brüssel und später zwi- Genf mit Anschluss an die Verbindungen innerhalb der schen Paris und London bestimmt war. Während fünfzehn Schweiz zu betreiben. Im selben Jahr war die Air Union mit 48 ◆ Blick in ein Passagierflugzeug der Gesellschaft Air Union auf der Strecke Paris–London. Bezug auf die Flugkilometer und die Passagierzahl die größte französische Fluggesellschaft. 1933 setzte Louis Breguet seine Unterschrift auf die Gründungsakte der Air France, da die französische Regierung beschlossen hatte, die fünf bestehenden Fluggesellschaften – Air Union, Air Orient, CIDNA, Lignes Farman und Aéropostale – zu vereinigen. Einen wichtigen Beitrag zur Zivilluftfahrt leisteten auch die Breguet-14-Maschinen8, die von den Société des lignes aériennes Latécoère, der späteren Aéropostale, für den Luftpostverkehr in Europa, Afrika und später auch in Lateinamerika eingesetzt und durch die Erzählungen von Mermoz, Guillaumet und Saint-Exupéry unsterblich wurden … Erwähnenswert sind zudem die „Grands Raids“, die Langstrecken-Erstflüge von Anfang der zwanziger bis Mitte der dreißiger Jahre, bei denen Breguet-Flugzeuge weltweit ENTWICKLUNG DER FLUGGESELLSCHAFTEN 1933 setzte Louis Breguet seine Unterschrift unter die Gründungsakte der Gesellschaft Air France. 49 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT ◆ Die „Chronique des Avions Louis-Breguet“, Ausgabe September- Oktober 1930, signiert von Dieudonné Costes. Diese Zeitschrift erschien von 1925 an. DIE BERÜHMTE BREGUET 19 „Point d’Interrogation“ ermöglichte Coste und Bellonte den ersten Nonstop-Flug von Paris nach New York. zu den wichtigsten Akteuren gehörten. Obwohl sie in der Regel nur von einem oder zwei Piloten bemannt waren, zeigten sie doch die Möglichkeiten des Flugverkehrs auf und bahnten den späteren Luftstraßen den Weg. Die bekanntesten dieser Erstflüge mit Breguet-Maschinen sind: Paris–Tokio 1924 durch Pelletier d’Oisy und Bésin; Madrid–Manila 1926 durch Gallarza und Loriga; Weltumrundung 1927 durch Costes und Le Brix mit der ersten Überquerung des Südatlantiks von Saint-Louis-de-Sénégal nach Natal in Brasilien; Paris–Peking 1929 durch Arrachart und Rignot und schließlich der Flug mit einer Breguet, der am meisten Aufsehen erregte: Paris–New York nonstop durch Costes und Bellonte in 37 Stunden und 18 Minuten am 1. und 2. September 1930 an Bord der berühmten Breguet 19 „Point d’Interrogation“.9 Seine Tätigkeit als Gründerpräsident einer Fluggesellschaft begann Louis Breguet zunächst mit umgebauten Militärversionen der Breguet 14, doch danach setzte er sich für die Konzeption von Passagierflugzeugen wie der Breguet 28 Limousine und der dreimotorigen Breguet 393 ein, die sich als besonders sicher erwiesen. Seine spektakulärste Leistung nach dem Zweiten Weltkrieg ist und bleibt jedoch die viermotorige Breguet 761 „Deux-Ponts“. Mit ihren beiden Decks für rund hundert Passagiere war sie die unbestrittene Vorläuferin des Airbus A-380 und zudem eine außergewöhnlich zuverlässige und wirtschaftliche Maschine; während ihres zwanzigjährigen Einsatzes kam es zu keinem 50 ◆ Der Triumphzug von Coste und Bellonte auf dem Broadway am Tag nach ihrem unvergesslichen Flug. 51 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT DIE HUNDERTJAHRFEIERN 1923 präsidierte Louis Breguet den Ausschuss für die Veranstaltungen zum hundertsten Todestag von Abraham-Louis Breguet. In Frankreich und in der Schweiz fanden bedeutende Gedenkfeiern statt. einzigen tödlichen Unfall. 1921 beschrieb er an einer visionären Konferenz das Flugzeug der Zukunft, das bis zu 13 500 Meter Höhe erreichen und die Strecke Paris–New York in sechs Stunden zurücklegen werde.10 Louis Breguet unternahm alles, um Flugreisen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, er begnügte sich nicht mit einer elitären, nur den Reichsten vorbehaltenen Luftfahrt. Schon 1943 wollte er den Ticketpreis dem Eisenbahntarif der 3. Klasse angleichen und theoretisierte dreißig Jahre vor ihrer Zeit über Charter- und Low-Cost-Angebote.11 1955 starb Louis Breguet mitten in seiner Geschäftstätigkeit. Breguet Aviation wurde vom französischen Unternehmer Sylvain Floirat erworben, der zahlreiche Projekte fortführte. 1967 integrierte dann Marcel Dassault, der andere große französische Aviatikpionier, den Betrieb in seinen von da an S.A. Avions Marcel Dassault-Breguet Aviation oder kurz Dassault-Breguet genannten Konzern. Die französische Regierung billigte und unterstützte diese Konzentration, die Marcel Dassault mit den Standorten Toulouse und Anglet12 zusätzlich industrielle Mittel verschaffte, welche sich hinsichtlich seiner Ambitionen auf den Weltmarkt als überaus nützlich erwiesen. ◆ Einladung zur Gedenkfeier in der Pariser Sorbonne vom 27. Oktober 1923. 52 Louis Breguets Beziehungen zur Uhrenindustrie Neben seinen Aktivitäten im Bereich der Luftfahrt und des Sports13 war Louis Breguet stets in Kontakt mit der Familie Brown, die seinem Großvater die Uhrenfirma abgekauft hatte, und erinnerte sich häufig mit Stolz des uhrmacherischen Werks seiner Vorfahren. Von 1922 an ist die Société des ateliers d’aviation Louis Breguet regelmäßig in den Verkaufsbüchern der Uhrenmanufaktur erwähnt. Das lässt den Schluss zu, dass Louis Breguet es verstand, den damaligen Leitern der Montres Breguet die Zukunftsaussichten für Uhrenprodukte für die Luftfahrt aufzuzeigen. ◆ Werbebroschüre für die Einführung des Verkehrsflugzeugs Breguet 761 „Deux-Ponts“. 1923 präsidierte er übrigens anlässlich des HundertJahr-Jubiläums das Comité du centenaire d’Abraham-Louis Breguet (1747–1823), das in Frankreich und in der Schweiz vielbeachtete Veranstaltungen organisierte. Deren Höhepunkt war die Ausstellung im Pariser Musée Galliera, die Louis Breguet an der Seite von Alexandre Millerand eröffnete, dem Präsidenten der Französischen Republik.14 Während mehrerer Wochen tauchte der Flugzeughersteller in die Welt der Uhrmacherei ein und begegnete ihren herausragendsten Vertretern in Frankreich, Großbritannien und der Schweiz. Er verbrachte viel Zeit mit dem Londoner Industriellen Sir David Salomons sowie mit dem Besitzer 53 LOUIS BREGUET, PIONIER DER LUFTFAHRT ◆ Die Breguet 14 F-POST der Manufaktur Breguet, Henri Brown, und seinem Sohn und späteren Nachfolger Georges. Am 26. Oktober empfing Louis Breguet all diese Vertreter der Uhrenwelt zu einem Besuch in seinen Fabriken in Vélizy-Villacoublay. Und am nächsten Tag schloss er in Paris seine lange Rede im großen Amphitheater der Sorbonne mit folgendem Satz: „Eine der schönsten Blüten im Kranze der Uhrenindustrie ist es, der Seefahrt bei der Lösung ihrer Navigationsprobleme auf hoher See geholfen zu haben, so wie sie heute die Navigatoren des Himmels – deren Leistungen mir besonders teuer sind – tatkräftig dabei unterstützt, ihre Route im Luftraum zu erleuchten und zu erkennen.“ Hier spricht eindeutig der Ingenieur: Ja, die Uhrenindustrie hat Herausforderungen zu meistern und ihre Rolle zu spielen, um den Aufschwung der Luftfahrt zu begleiten und sogar zu erleichtern, wie sie es einst für die Seefahrt tat. Von Louis Breguet formuliert, dem Flugzeugkonstrukteur und Präsidenten des französischen Verbands der Flugzeugindustrie, hatte diese Bestätigung besonderes Gewicht! 54 ◆ Eine Breguet „Deux-Ponts“ der Air France. Die häufigen Bestellungen von Breguet-Uhreninstrumenten durch den Flugzeughersteller Louis Breguet erstreckten sich über einen langen Zeitraum15, und selbstverständlich findet man in den Cockpits der BreguetMaschinen auch Breguet-Uhren! Eines der allerersten Chronographenmodelle aus Stahl mit „Spezialfunktion“, das heißt mit Flyback, wurde übrigens bezeichnenderweise 1952 der Société Louis Breguet verkauft. Dass damit eines der frühesten Exemplare der zwei Jahre später erscheinenden Type-XX-Stoppuhr durch Louis Breguet und seine Mitarbeiter getestet wurde, belegt, wie nahe sich die beiden Unternehmen namens Breguet standen. Der große Flugpionier war also offensichtlich auch ein großer Freund der Uhrmacherei. Er interessierte sich in er ster Linie für die Uhr als wissenschaftliches Instrument, und obwohl seine Rolle als diskreter Berater der Manufaktur Breguet allgemein unterschätzt wird, ist sie dennoch erwiesen und bedeutsam. ◆ U-Boot-Jäger Breguet 1050 Alizé. 1 870 verkauft Louis-Clément Breguet den Uhrenbereich seiner Aktivitäten seinem Werkstattchef Edward Brown, einem Pariser Uhrmacher britischer Herkunft. Drei Generationen der Familie Brown folgten sich bis 1970 an der Spitze von Breguet. 2 Eine Gesamtübersicht der Karriere von Louis Breguet findet man in BREGUET, un siècle d’aviation von Emmanuel Breguet, 144 S., Editions Privat, 2012. 3 Charles Richet (1850–1935), Freund von Antoine Breguet und Pate von Louis Breguet. Dieser vielseitig interessierte Arzt war von der Luftfahrt fasziniert und erhielt 1913 den Nobelpreis für Medizin. 4 Über die internationale Geschichte des Helikopters informiert das Buch Hélicoptères, la genèse, de Léonard de Vinci à Louis Breguet, von Bernard Bombeau, 364 S., Editions Privat, 2006. 5 Außer in Frankreich flog die Breguet 14 in Belgien, Dänemark, Schweden, Rumänien, Polen, Spanien, Portugal, Brasilien, Siam, Japan, in der Tschechoslowakei und den Vereinigten Staaten. 6 Die Breguet 19 wurde von den folgenden Staaten gekauft: Frankreich, Belgien, Jugoslawien, Rumänien, Polen, Griechenland, Bolivien, Venezuela, Argentinien, Persien, Türkei, Spanien, China und Japan. 7 Dieser Rekord fand in La Brayelle bei der nordfranzösischen Stadt Douai statt, wo Louis Breguet mit dem Flugzeugbau begann. 8 Die von Eugène Bellet geleitete Association Breguet XIV baute eine Replik der Breguet 14 mit dem Kennzeichen F-POST; diese Maschine ist die einzige heute noch flugtaugliche Breguet 14. 2010 flog Bellet von Toulouse nach Cap Juby (heute Tarfaya, Marokko), dies zu Ehren der Pioniere dieser Linie. 2015 will er sich seinen Wunsch erfüllen, die Spuren der Pioniere weiterzuverfolgen, diesmal jedoch in Südamerika mit der Route Brasilien–Uruguay– Argentinien. Eugène Bellet ist der Verfasser des Werks BREGUET XIV, des tranchées à l’Aéropostale, Editions Privat, 144 S., 2011. 1 ◆ Der Jagdbomber Breguet SEPECAT Jaguar, eine Gemeinschaftsproduktion von Frankreich und Großbritannien aus den 1960er Jahren. Diese „Fragezeichen“ getaufte Breguet 19 befindet sich in der Sammlung des Musée de l’Air et de l’Espace im Pariser Flughafen Le Bourget. In diesem Museum zur Luft- und Raumfahrttechnik kann man auch eine Breguet 14 aus dem Ersten Weltkrieg besichtigen, außerdem die Breguet 19 „Nungesser et Coli“ von Costes und Le Brix, einen Gyroplane und mehrere weitere Maschinen jüngeren Datums. Ein Breguet-Doppeldecker aus dem Jahr 1911 befindet sich im Musée des Arts et Métiers in Paris, das in seiner Uhrensammlung ebenfalls mehrere Meisterwerke von Abraham- Louis B reguet besitzt. 10 L’avenir de l’aviation (Zukunft der Luftfahrt), Konferenz vom 16. November 1921. 11 L’avenir de l’aviation de transport (Zukunft der Transportflugverkehrs), Konferenz vom 24. November 1943. 12 Nach Douai, wo Louis Breguet vor 1941 sein industrielles Debüt gab, wurde Vélizy-Villacoublay in der Region Paris der wichtigste Produktionsstandort für Breguet-Flugzeuge. Die Fabriken in Toulouse und in Anglet (einer Gemeinde zwischen Bayonne und Biarritz) erwarb Louis Breguet 1939. 13 Als großer Skipper errang Louis Breguet an den Olympischen Spielen von 1924 am Ruder seines 8-Meter-Segelboots Namoussa bei den Regatten in Le Havre eine Bronzemedaille. 1928 gründete er den Deauville Yacht Club, den er bis zu seinem Tod am 4. Mai 1955 in Saint-Germain-en-Laye präsidierte. 14 Die Ausstellung zum hundertsten Todesjahr von Abraham-Louis Breguet, die vom 25. Oktober bis 24. November 1923 im Musée Galliera in Paris zu sehen war, ist bis heute die größte ihrer Art geblieben: 266 Exponate wurden gezeigt, darunter rund hundert Leihgaben von Sir David Salomons (1851–1925), dem legendärsten Sammler von Uhren und Pendülen aus dem Hause B reguet. 15 Archives Montres Breguet SA, Paris, Verkaufsregister. 9 55 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT REINE DE NAPLES Jour / Nuit Von Jeffrey S. Kingston 56 57 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT A ls Abraham-Louis Breguet sein 1801 patentiertes Tourbillon entwickelte, verfolgte er mit dieser Konstruktion ein klares Ziel. Denn unter dem Einfluss der Erdanziehungskraft hat jede Uhr die Tendenz, in gewissen Positionen der Unruh schneller und in anderen langsamer zu l aufen, was zu Abweichungen der Ganggenauigkeit führen kann. Diesem Umstand half Breguet ab, indem er die Elemente des Regulierorgans so anordnete, dass sie sich dauernd um 360 Grad drehen. Da sie so nacheinander alle Positionen durchlaufen, die ein Vor- oder Nachgehen b ewirken, kompensieren sich diese Abweichungen gegenseitig. Das Prinzip dieses Geniestreichs ist im Kern einfach, seine Verwirklichung erfordert jedoch ein außerordentliches uhrmacherisches Können. ◆◆◆ So zweckorientiert diese originale Erfindung war und auch für neue Standards der Ganggenauigkeit sorgte, das filigrane Ballett des Regulierorgans im Tourbillon-Drehgestell hatte wohl schon damals etwas Romantisches. Und in seiner miniaturisierten Form in der Armbanduhr regt es heute die Phantasie ganz besonders an. Dieses poetische Element gehörte denn auch zum Pflichtenheft für die Konstruktion der Damenuhr Reine de Naples Jour/Nuit. Sie basiert auf dem Grundgedanken eines Tourbillons, dessen Unruh und Spiralfeder einen 24-Stunden-Tag durchwandern. Seine Rotation dient dabei nicht nur der Steigerung der Ganggenauigkeit, sondern bietet gleichzeitig eine bezaubernde Darstellung von Tag und Nacht. Der Tag und die Nacht sind dabei logischerweise durch eine Sonne und einen Mond verkörpert, die auf einem 58 Himmelszelt aus Lapislazuli angeordnet sind. Der Mond ist traditionell in Form eines in eine Titanscheibe eingravierten Gesichts dargestellt, das beidseits von goldenen Sternen begleitet wird. Ungewöhnlicher ist die Sonne gestaltet, wird sie doch durch die Unruh verkörpert, die von Wolken aus Perlmutt eingerahmt wird. Der breite Unruhreif ist mit einem gezahnten Guillochemuster verziert. Die Lapislazuli-Scheibe mit der „Sonnen-Unruh“ für die Tages- und dem Mann im Mond für die Nachtstunden dreht sich einmal in 24 Stunden. Diese Tag/Nacht-Anzeige ist mit einer zusätzlichen Funktion verbunden: Der obere Arm, der die „SonnenUnruh“ trägt, hat nämlich die Form eines Zeigers, der dem Stundenkreis mit arabischen Ziffern und Indexen folgt und so die Zeit des 24-Stunden-Tags präzise anzeigt. Er ist j edoch nicht nur eine zusätzliche Zeitanzeige, sondern als Unruhbrücke auch ein grundlegendes Element des Uhrwerks. 59 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT DIE KONSTRUKTION BASIERT AUF DEM GRUNDGEDANKEN EINES 24-STUNDEN-TOURBILLONS. In dieser Reine de Naples machen die Unruh und die Hemmung, die grundlegenden Elemente der Zeitmessung, eine Umdrehung pro Tag. ◆ Die Tag/Nacht-Anzeige auf einer drehenden Scheibe aus Lapislazuli; die Sonne wird durch die Unruh vertreten, das Mondgesicht ist in die in den Stein eingesetzte Titanscheibe graviert. 60 Das Rotationsprinzip wirkt beinahe trivial: „Dreht sie einfach!“ Doch wie jeder Mechanismus, der die Komponenten des Regulierorgans rotieren lassen soll, bildete die auf 24 Stunden verlangsamte Umdrehung eine besonders schwierige Aufgabe für die Uhrmacher, und zwar sowohl bei der Konzeption wie bei der Montage. Zunächst mussten die Konstrukteure von Breguet ein System entwickeln, das einerseits die Unruh und Spiralfeder sowie s elbstverständlich die Scheibe mit dem Firmament aus Lapislazuli tragen und andererseits die Hemmung der Uhr mit Energie versorgen konnte. Die Lösung, um diese beiden Forderungen zu vereinen, bestand darin, ein Räderwerk zu entwickeln, das vom Federhaus aus zweigeteilt verläuft. Der eine Übertragungsast nimmt einen Trieb mit, der wiederum die Lapislazuli-Scheibe dreht, die als Tourbillonkäfig oder -drehgestell wirkt und die Komponenten des Regulierorgans rotieren lässt. Das zweite Räderwerk treibt den Hemmungstrieb an. In dieser Konfiguration ist die Unruh fest mit dem fünfarmigen und auf seinem Umfang gezahnten Drehgestell verbunden. Selbstverständlich sind weder die feinen Zähne noch die Arme auf der Zifferblattseite des Werks sichtbar. Die völlig neue Anordnung des Hemmungsrads im Zentrum des drehenden Tourbillonkäfigs stellte die Konstruk teure vor eine ganze Reihe spannender Herausforderungen. Die erste betrifft die Kombination der Drehbewegungen: Die vom Räderwerk der Zeitanzeige mit ihrem 12-StundenRhythmus ausgehende Rotation des Hemmungsrads ist mit jener des Käfigs verbunden, der sich einmal pro Tag dreht. Deshalb „verliert“ das Hemmungsrad alle 24 Stunden eine 61 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT EIN ECHTES KUNSTWERK. Die Lapislazuli-Scheibe der 24-StundenAnzeige mit ihrem Mond aus graviertem Titan sowie den goldenen Sternen und Wolken aus Perlmutt. ◆ Die Lapislazuli-Scheibe mit den Sternen und Wolken wird auf einem beweglichen Rad montiert. 62 63 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT DIE KOMPLEXITÄT DER ROTIERENDEN ANZEIGE BLEIBT DEM BLICK VERBORGEN. Das Zifferblatt hat etwas Romantisches mit der drehenden Anzeige von Sonne, Mond, Sternen und Wolken. Umdrehung. Es galt also eine Methode zu finden, um diese Abweichung zu korrigieren. Die Lösung bestand darin, das Hemmungsrad mit 21 statt wie üblich mit 20 oder 15 Zähnen auszustatten und eine Frequenz von 3,5 Hertz zu wählen. Zudem drängte sich eine zweite Anpassung der Uhrwerkkonzeption auf. Die guillochierte Unruh befindet sich sehr nahe bei der zentralen Hemmung. Deren Anker hat zwar die traditionelle Form, wie sie für eine Schweizer Ankerhemmung erforderlich ist, er ist jedoch das kürzeste derartige Teil, das gegenwärtig in einer in Serie produzierten Uhr verwendet wird. Auch die gesamte Hemmung wurde übrigens von Breguet noch nie in so kurzer Form hergestellt. Wie die Spiralfeder bestehen auch die Hörner des umgekehrten Ankers – eine von Breguet entwickelte Spezia lität – aus Silizium. 64 Auf der Zifferblattseite der Uhr sind diese komplizierten Vorrichtungen unsichtbar, damit sich der Blick auf die Lapislazuli-Scheibe mit Sonne und Mond, Wolken und Sternen sowie auf den vergoldeten 24-Stunden-Zeiger konzentrieren kann. Der übliche 12-Stunden-Kreis für Stunde und Minute quert die Lapislazuli-Scheibe in ihrem unteren Drittel. Dieser Ausschnitt des Stundenkreises verkörpert gleichzeitig ein funktionelles Element des Uhrwerks, dient er doch gleichzeitig als obere Brücke für d as Tourbillon-Drehgestell. Die Kombination der sich überschneidenden 12- und 24-Stunden-Kreise enthält insofern ein poetisches Element, als sie die Konturen der Ziffer 8 bilden. Da die Kreation dieser Komplikationen keinesfalls den Komfort der Trägerin beeinträchtigen durfte, wurde die 65 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT 66 67 REINE DE NAPLES JOUR / NUIT Reine de Naples Jour/Nuit mit einem Automatikaufzug ausgestattet. Die sorgfältig dekorierte goldene Schwing masse zeigt einen ziselierten Mond, umgeben von eingravierten und vergoldeten Sonnenstrahlen. Sie rotiert auf einem Rubinlager, um die Uhr aufzuziehen. Um eine möglichst flache Konstruktion ohne Leistungsverlust zu realisieren, erfolgt das Spannen der Feder nur in einer Richtung. Die Reine de Naples Jour/Nuit wirkt mit ihrer überaus schlichten, reinen Erscheinung ebenso anziehend wie geheimnisvoll. Die Lünette des eiförmigen Gehäuses aus Rosé- oder Weißgold ist ebenso mit Diamanten besetzt wie Teile des handguillochierten Zifferblatts mit seinen drei Zeigern. Im Tageslauf wandern Sonne und Mond gemächlich über das Firmament, ohne etwas von dem darunter verborgenen komplizierten zweigeteilten Räderwerk sowie seiner besonderen Frequenz und der einzigartigen Anordnung des Hemmungsrads erahnen zu lassen. Die Verbindung von höchst originellen Anzeigen mit avant gardistischen technischen Neuerungen macht die Reine de Naples Jour/Nuit zu einer Ausnahmekreation von unwider stehlicher Anziehungskraft. 68 69 SKELETTIERTE UHREN SKELETTIERTE UHREN Von Jeffrey S. Kingston 70 71 SKELETTIERTE UHREN D ie mechanische Uhrmacherei erlebte ihre erste Blütezeit zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Federhauses und seiner Antriebsfeder. Dank dieser Kraftquelle konnte man erstmals tragbare Zeitmesser bauen, die wirklich funktionierten, wobei Präzision nicht gerade ihre Stärke war. (Eine höhere Ganggenauigkeit tragbarer Uhren wurde erst anderthalb Jahrhunderte später mit der Erfindung der Unruh und Spiralfeder durch den niederländischen Mathematiker Christiaan Huygens möglich.) Ja diese ersten tragbaren Uhren waren so ungenau, dass manche zusätzlich über eine Miniatur-Sonnenuhr verfügten, damit der Besitzer die Zeit wenigstens einigermaßen zuverlässig ablesen konnte. Da die mechanische Präzision noch außer Reichweite lag, griffen die Uhrmacher nach anderen Mitteln, um ihre Kreationen aufzuwerten, zum Beispiel durch künstlerische Verzierungen. Die Techniken des Emaillierens und V ergoldens florierten im Jahrhundert vor dem Erscheinen von Mechanismen mit U nruh-Regulierorgan. A nfänglich sollte dieser Dekor vor allem den Wert des kostbaren Objekts und gleichzeitig die Bedeutung seines Besitzers hervorheben. Doch obwohl seither die Präzision der Uhrwerke immer wichtiger wurde, blieben künstlerische Schmuckverfahren oft entscheidende Verkaufsargumente, die zum Aufschwung der Uhrmacherei beitrugen und Uhrenliebhaber weiterhin faszinieren. ◆◆◆ Obwohl die Skelettierung ein Paradebeispiel für den künstlerischen Schmuck des Uhrwerks ist, gehört sie eindeutig in eine andere Kategorie als die übrigen Dekorverfahren. Denn diese Technik betrifft die grundlegenden Komponenten des Mechanismus, während die meisten anderen schmückenden Elemente, etwa das Emaillieren von Gehäusen und Zifferblättern, keinen direkten Bezug zum Uhrwerk haben. Das Skelettieren hingegen entspricht einem Eingriff im schlagenden Herz der Uhr. Und so schön die Filigranarbeiten und Ziselierungen eines skelettierten Werks auch sind: Die Präzision der Uhr dürfen sie nicht 72 beeinträchtigen. So gesehen vereint das Skelettieren Kunsthandwerk und Uhrmacherkunst auf einzigartige Weise. Die Suche nach den Ursprüngen des Skelettierens von Uhren ähnelt einem Schattenboxen: Kaum glaubt man eines dieser Schemen gestellt zu haben, ist es schon wieder verschwunden. Im Fall des Skelettierens nicht etwa, weil historische Zeugnisse fehlten oder sehr selten wären, sondern weil man sich nicht auf eine klare Definition einigen kann, was genau man als erste Skelettuhren bezeichnen kann. Gewisse Uhren des 15. Jahrhunderts zeugen z weifellos ◆ Montage der Tourbillonbrücke in der Breguet-Uhr Classique Tourbillon Quantième Perpétuel 3797. 73 SKELETTIERTE UHREN von einer ursprünglichen Form des Skelettierens oder lassen sie zumindest erahnen. Denn ihr Gehäuse verfügt tatsächlich über eine Öffnung, die ihr mechanisches Innenleben zumindest teilweise sichtbar macht. Selbstverständlich hatten sie noch keine durchbrochenen Platinen und Brücken, da ja diese Elemente erst zwei Jahrhunderte später erfunden wurden. Nichtsdestotrotz war die Idee geboren, die bewegten Rädchen sichtbar zu machen, und das steht schließlich im Mittelpunkt der Skelettisierungsidee. Einige Historiker siedeln den Beginn des Skelettierens bei den gotischen Tischuhren des 16. Jahrhunderts an. Diese basieren auf einer offenen Eisenrahmenkonstruktion, dank der die wichtigen Elemente des Werks vollständig sichtbar sind. Damit stehen sie dem Begriff des Skelettierens zweifellos näher, ist doch hier nicht nur das Zifferblatt durchbrochen beziehungsweise ajouriert. Sie sind so konzipiert, dass sie die wichtigen Werkteile vorn und im Zen trum zur Schau stellen. Da es sich bei diesen Stücken jedoch nicht um Taschen-, sondern um Pendeluhren handelt, gehören sie in eine andere Kategorie. All diese frühen Zeitmesser als erste Skelettuhren zu bezeichnen erfordert eine gewisse Flexibilität bei der Defini tion und eine großzügige Auslegung des Konzepts. Geht man von der strengeren Norm aus, es müsse sich um eine Taschenuhr handeln, in der die Platine und die Brücken durchbrochen und dekoriert sind, damit man sie als Skelett uhr qualifizieren kann, müsste der Startpunkt in der Zeit um 1760 angesetzt werden, also rund fünfzehn Jahre bevor Abraham-Louis Breguet seine Werkstatt am Quai de l’Horloge in Paris eröffnete. Damals wetteiferten zwei französische Uhrmacher, Jean-Antoine Lépine und Pierre-Auguste Caron, um den Preis für die erste Skelettuhr. In beiden Fällen haben die Uhren ziselierte und durchbrochene Platinen für den Einblick ins Räderwerk und geöffnete Federhäuser, 74 KUNST IM HERZEN DER UHR. Das Skelettieren eines Uhrwerks unterscheidet sich grundlegend von den übrigen Dekorverfahren, weil es seine wichtigsten Komponenten betrifft. um die Antriebsfeder zu zeigen, sowie eine auf ein Dreieck reduzierte Unruhbrücke, dank der man die beweglichen Teile darunter beobachten kann. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden diese eindeutig skelettierten Zeitmesser geschaffen, weil Mitglieder des königlichen Hofstaats sich für derartige Präzisionsmechanismen interessierten. Die Gelehrten dieser Epoche waren vom Studium der Wissenschaften und den dafür erfundenen Instrumenten fasziniert. So hatte der Kronprinz und künftige Ludwig XVI., der auf der Guillotine enden sollte, in dieser Zeit eine wahre Leidenschaft für Uhren und Mechanismen jeglicher Art entwickelt und dafür im Schloss von Versailles so etwas wie ein Uhrmacheratelier eingerichtet. Beinahe alle grundlegenden Elemente der skelettierten Zeitmesser der heutigen Feinuhrmacherei waren in 75 SKELETTIERTE UHREN 76 77 SKELETTIERTE UHREN DAS ZISELIEREN DER EINZELTEILE ILLUSTRIERT DAS GESCHICK DES UHRMACHERS. Skelettieren erfordert sowohl technischhandwerkliche Meisterschaft als auch künstlerisches Talent. den e rsten Uhren dieser Art von Lépine und Caron vorhanden. Die Platinen und Brücken waren nicht nur durchbrochen, sondern auf ihren funktionellen Partien kunstvoll graviert und verziert. Caron, der später das Uhrmacherhandwerk aufgab, um unter dem Namen Beaumarchais als Schriftsteller und Vater der Bühnenfigur Figaro unsterblichen Ruhm zu erlangen, trieb die Idee der Verzierung des Uhrwerks noch weiter, indem er ein emailliertes Porträt in die Mitte setzte. Dennoch unterscheiden sich die Uhren von Lépine und Caron in einem fundamentalen Aspekt von den heutigen Kreationen: Sie waren mit den damals üblichen emaillierten Zifferblättern ausgestattet. Die Skelettierarbeit ist deshalb lediglich durch das Glas auf dem Gehäuseboden sichtbar. Abraham-Louis Breguet machte diesen Trend, der in Paris während einer gewissen Zeit florierte, nicht mit. Er ging gestalterisch in eine andere Richtung und zog die Funktionalität der Dekoration vor. Das beweist zum Beispiel sein revolutionärer Einsatz des Guillochierverfahrens auf den Zifferblättern. Dieses ästhetische Element, das für 78 seine Zeitmesser charakteristisch wurde, diente in erster Linie den beiden konkreten Zielen, die Ablesbarkeit der Anzeigen zu steigern und auf dem Zifferblatt klar definierte Zonen abzugrenzen. Die heutige Manufaktur Breguet hat der Kunst des Skelettierens neue Perspektiven eröffnet. Das Durchbrechen beziehungsweise Aushöhlen der Platine und der Brücken macht die Uhren nicht leistungsfähiger, die kunstvolle Architektur und die sorgfältige Ausführung illustrieren jedoch das Können ihrer Uhrmacher auf beeindruckende Weise. Wie die großen Komplikationen ist auch die Fili granarbeit der skelettierten Uhrwerke ein klares Statement der Uhrmacherkunst. Beide zeugen vom Savoir-faire ihrer Schöpfer. Es gibt allerdings eine Grenze, die man respektieren sollte. Auf dem Uhrenmarkt finden sich zahlreiche Zeitmesser von anderen Herstellern, die nichts mit den minutiös von Hand skelettierten Zeitmessern der Manufaktur Breguet zu tun haben. Diese Uhren haben Platinen und Brücken mit ausgestanzten oder ausgefrästen Öffnungen, um die darunterliegenden Komponenten sichtbar zu machen. Bei den gröbsten Beispielen dieser auf computergesteuerten Automaten gefertigten Teile fehlt jede Spur manueller Verzierungen. Einige haben maschinenpolierte Öffnungen, doch so lobenswert es ist, dass diese Uhren Einblick ins m echanische Innenleben gewähren, mit Haute-Horlogerie-Skelettuhren lassen sie sich kaum vergleichen. Bevor wir uns dem Vorgehen von Breguet beim Skelettieren zuwenden, sei daran erinnert, dass dafür sowohl eine entschieden künstlerische als auch eine höchst technische Fertigkeit erforderlich sind. Obwohl die modernen Skelettuhren der Manufaktur von einer uhrmacherischen ◆ Montage der Kalender-Werkplatte in der Classique Tourbillon Quantième Perpétuel 3797. 79 SKELETTIERTE UHREN DIE KENNZEICHEN SORGFÄLTIGSTER, MINUTIÖSER HANDARBEIT. Achten Sie beim Prüfen einer Skelettuhr auf die Innenwinkel. Sind sie glänzend glatt und leicht ausgerundet, zeugen sie von manueller Endbearbeitung. Tradition zeugen, die in der wunderschönen Verzierung der Taschenuhren aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wurzelt, unterscheiden sie sich grundlegend von diesen alten Zeitmessern. In der Vergangenheit ließ sich der Uhrmacher beim Durchbrechen der Werkteile weitgehend von ästhetischen Kriterien leiten. Diese sind selbstverständlich auch heute noch wesentlich, sie werden jedoch durch technische Berechnungen und Tests gestützt. Die Uhrwerkkonstrukteure von Breguet studieren und analysieren, wie die kunstvoll ajourierten Teile auf Schläge und Stöße reagieren. Denn so filigran sie auch sein mögen, Abstriche bei der chronometrischen Leistung kommen nicht in Frage. Deshalb wird die Funktionalität der Formen durch hochpräzise Computersimulationen geprüft. Zurzeit sind vier Modelle der Breguet-Kollektion mit skelettierten Uhrwerken ausgestattet: die Ref. 3555 Tourbillon Squelette aus Platin; die Ref. 5335 Tourbillon Messidor; die Ref. 3795 Tourbillon Quantième Perpétuel und der Haute-Joaillerie-Chronograph Ref. 5238. Weitere Modelle haben zwar kein vollständig skelettiertes Uhrwerk, jedoch durchbrochene Schwingmassen, so die Ref. 5317 Tourbillon Automatique und der Calendrier Perpétuel Ref. 5327. 80 81 SKELETTIERTE UHREN Im Gegensatz zu den vielen für Großserien bestimmten maschinell skelettierten Komponenten werden diese Teile der Breguet-Skelettuhren rein manuell bearbeitet. Die Platinen, Brücken und Federhausdeckel werden sorgfältig von Hand durchbrochen und prachtvoll ziseliert. Die Ränder dieser Öffnungen werden in der Technik des „Langziehens“ verziert und danach angliert, zunächst mit der Feile und dann mit dem Polierstab aus hartem Buchsholz, um den Kanten höchsten Glanz zu verleihen. So angliert man etwa das Werk der Uhr Tourbillon Messidor mehr als hundert Stunden sorgfältig von Hand, bis es den letzten Schliff erhalten hat. Für geübte Augen ist es einfach, Stücke mit solchen von Hand abgeschrägten Kanten von maschinell polierten Komponenten zu unterscheiden. Die aufschlussreichen Zeichen sind bei der Inspektion der Innen- und Außenwinkel klar sichtbar. Nur durch manuelles Feilen erhält man gleichzeitig saubere und glänzende Innen- und Außenwinkel. Werden diese Flächen nur maschinell bearbeitet, sind die Winkel nicht abgerundet. Kein Wunder, examinieren Kenner, wenn sie eine Uhr in die Hand nehmen, als erstes diese Winkel, die wahre Kunst von indu strieller Massenproduktion unterscheiden. Das manuelle Langziehen und Anglieren sind nur die ersten Etappen der bei Breguet üblichen Endbearbeitung skelettierter Uhrwerke. Im Fall der skelettierten Tourbillonuhr, der Tourbillonuhr mit ewigem Kalender und des Haute-Joaillerie-Chronographen werden die glatten Oberflächen mit einer Vielzahl dekorativer Motive ziseliert. Beim Modell Tourbillon Messidor wiederum werden diese Flächen nicht ziseliert, sondern fein von Hand gebürstet oder satiniert. In beiden Fällen erfordern diese Dekorarbeiten zahlreiche Stunden geduldiger Handarbeit. 82 83 SKELETTIERTE UHREN SKELETTIERTE UHREN NEHMEN IN DER WELT DER HAUTE HORLOGERIE Langziehen, Anglieren und Satinieren oder Bürsten sind kunsthandwerkliche Techniken, die man erst nach jahrelangem Üben bei sämtlichen Uhrwerkteilen meistert. Bei skelettierten und durchbrochenen Teilen nimmt ihr Schwierigkeitsgrad exponentiell zu. Denken Sie nur an all die zusätzlich entstehenden Oberflächen, die dekoriert sein wollen. Wird ein herkömmliches Werkteil graviert, geschieht dies üblicherweise nur auf der sichtbaren Seite, während bei durchbrochenen Teilen die manuelle Endbearbeitung sowohl der Innen- als auch der Außenseiten gleichermaßen notwendig wird. Dasselbe gilt für das Ziselieren. Skelettuhren sind oben und unten mit Saphirgläsern aus gestattet, weshalb auch zahlreiche Uhrwerkteile beidseitig einsehbar sind und verziert werden müssen. Als zusätzliche Schwierigkeit werden bei Breguet die Ober- und Unterseiten mit verschiedenen Motiven verziert. Abgesehen von der unterschiedlichen Zahl und Komplexität der manuellen Endbearbeitungen sind die skelettierten Teile auch viel feiner, was ihr Bearbeiten und Verzieren um so heikler macht. Bringt der Uhrmacher das feine Gitterwerk-Dekormotiv auf einem skelettierten Teil an, muss er höchst vorsichtig sein, um dieses nicht zu verbiegen oder anderweitig zu beschädigen. So schön der Schmuck auch sein soll: All diese Präzisionsteile müssen nach der Montage einwandfrei zusammenpassen und funktionieren, was durch die manuellen Eingriffe nicht beeinträchtigt werden darf. ◆ Kontrolle der Kalender-Werkplatte auf der Rektifizier- oder Abrichtplatte, um zu prüfen, ob sie vollkommen plan ist. 84 Die gleiche Anforderung gilt auch, wenn es an die Montage geht. Jedes skelettierte Teil wird auf die absolut plan polierte stählerne Rektifizier- oder Abrichtplatte gelegt, um zu kontrollieren, ob das Teil beim Dekorieren verbogen wurde oder nicht. Denn selbst die kleinste Verformung kann das einwandfreie Funktionieren des EINEN BESONDEREN PLATZ EIN. Die Verwirklichung eines skelettierten Uhrwerks ist äußerst schwierig und erfordert große technische und kunsthandwerkliche Fähigkeiten. Ganzen beeinträchtigen. Stellen Sie sich vor, die Räder und Triebe – konzipiert, um mit Toleranzen von Tausendstelmillimetern ineinanderzugreifen – würden auf einer verkrümmten Platine oder Brücke fixiert! Beim Schwierigkeitsgrad des Verzierens von Uhrwerkkomponenten denkt man übrigens meist zuerst an die filigransten Teile. Denn dem Laien erscheint schon das Manipulieren einer winzigen Schraube oder feinen Feder als kaum zu bewältigende Herausforderung. Erstaunlicherweise sind jedoch gerade die größten Komponenten die heikelsten Elemente, da sie viel eher beschädigt oder verbogen werden, wenn man sie nicht nach allen Regeln der Uhrmacherkunst behandelt. Jedes Teil muss ohne die geringste Verformung oder Spannung einwandfrei befestigt werden. 85 SKELETTIERTE UHREN Die Montage des Federhauses bietet in dieser Hinsicht eine besondere Schwierigkeit. Der Deckel eines herkömmlichen Federhauses besteht aus massivem Metall, ist fest mit der zylindrischen Trommel verbunden und kann kaum verbogen werden. Bei einer Skelettuhr hingegen ist dieser Deckel filigran durchbrochen und gibt den Blick auf die Aufzugfeder frei. Beim Aufsetzen dieses Deckels muss der Uhrmacher besonders große Sorgfalt walten lassen und ihn völlig gleichmäßig und plan montieren, damit jeder Kontakt zwischen Deckel und Feder vermieden wird. Skelettierte Uhren nehmen in der Welt der Haute Horlogerie einen besonderen Platz ein. Die Handwerker von Breguet, die ihnen Leben verleihen, verstehen es, künstlerisches Talent und technische Meisterleistungen miteinander zu verbinden. Auf diese Weise gelingt es ihnen, Zeitmesser von bemerkenswerter Genauigkeit und außergewöhnlicher Schönheit zu verwirklichen. 86 87 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE Das Schicksal DES LOUVRE Von Marie-Hélène Huet ◆ Die Cour Carrée des Louvre um 1840–1845, Lithografie nach einer Zeichnung von C. Gavard (1794–1871), Musée de la Ville de Paris, Musée Carnavalet, Paris, Frankreich / Archives Charmet. 88 89 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE A nno 1685 wies André Félibien, der unter Ludwig XIV. von Staatsminister Colbert zum Historiographe du Roi et de ses Bâtiments ernannt worden war, seine Leser darauf hin, dass „ Alexander die Malerei und Bildhauerei, deren Schönheiten er kennen wollte, liebte, nicht weil er als Maler oder Bildhauer zu arbeiten gedachte, sondern um über alles urteilen zu können, wie es einem großen Prinzen geziemt“. Und er fügte hinzu: „Weil der Louvre auf eine Weise geschmückt wird, die der Größe [Ludwigs XIV.] würdig ist, wird man dort sein Leben und seine Tätigkeiten in so edler und vielfältiger Weise beschrieben sehen, dass die Nachwelt nirgendwo anders nach Themen für ihre Studien und Bewunderung suchen wird.“1 Heute überrascht uns an diesen Zeilen der Umstand, dass Félibien hier nicht von Versailles spricht, sondern vom L ouvre. Diesen hatte der König einige Jahre zuvor verlassen, um in sein neues Schloss zu ziehen, welches zutiefst mit seinem Namen verbunden bleibt. Allerdings hat heutzutage der Reichtum des L ouvreMuseums die Pracht dieses Palastes, der seine Sammlungen beherbergt und der über J ahrhunderte Sitz der französischen Könige war, etwas in den Hintergrund gedrängt. ◆◆◆ Die Flussschiffer, die gegen 1200 die Seine hinunterfahren, können zwei beeindruckende Baustellen bewundern: linkerhand jene der Kathedrale Notre-Dame in ihren Anfängen und etwas unterhalb auf dem rechten Ufer die unter Philippe-Auguste erbaute wuchtige Festung. Dieser erste Louvre dient mit seinen zehn Türmen und dem mächtigen Bergfried vor allem der Verteidigung und schützt sowohl die Einwohner der allmählich heranwachsenden Stadt als auch die Erbauer der Kathedrale. Die Könige leben hier nur zeitweilig, denn der Louvre wird in dieser Epoche vor allem als Arsenal und Gefängnis genutzt. Victor Hugo beschrieb ihn später im mittelalterlichen Paris als „dieses maßlose Gebäude … [diese] Hydra von Türmen, gigantische Wächterin von Paris, mit ihren vierundzwanzig stets aufgerichteten Köpfen und den monströsen Kruppen, mit 90 Blei bedeckt oder mit Schieferplatten geschuppt, alle mit metallischen Reflexen wie glitzernde Bäche“.2 „Gleich dem Tower von London“, schreibt der ehemalige Konservator des Museums, André Blum, „weckt der Turm des Louvre in den Minneliedern und den ritterlichen Romanen den Gedanken an ein Gefängnis.“3 Eine erste Konzeption dessen, was später die große Rolle des Louvre-Palasts sein wird, kann Karl V. (1338 – 1380) zugeschrieben werden. Er fügt dem Bau zwei Flügel an und vereinigt in der Tour de la Fauconnerie eine prachtvolle Sammlung von Manuskripten mit Miniaturmale reien. Doch nach Ende des Hundertjährigen Kriegs (Juli 1453) verlieren die Könige allmählich das Interesse an der Festung. ◆ Oktober, die Winteraussaat mit Blick auf den Louvre-Palast, aus: „Les Très Riches Heures du Duc de Berry“, Frères Limbourg (ca. 1400–1416, Musée Condé, Chantilly, Frankreich. 91 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE Hôtel du Petit-Bourbon Eine neue Sicht Der große französische König der Renaissance, Franz I. (1515–1547), bringt aus seinen Kriegen in Italien eine neue Sicht der Kunst und Architektur mit, die den Zwängen der militärischen Anlagen die Anmut der Symmetrie vorzieht. 1527 gibt er in einem Schreiben an die Pariser Stadtverwaltung seine Absicht bekannt, den Louvre zu seiner Residenz zu machen. Der alte Bergfried wird geschleift und das Schloss völlig neu als königliche Residenz konzipiert. Die Arbeiten waren noch längst nicht fertig, als Franz I. seinen großen Rivalen, Kaiser Karl V., zu einem Besuch in Paris einlud. Der König von Frankreich erinnerte sich zweifellos an seine monatelange Gefangenschaft in der Gewalt des Spaniers. Er beschloss, ihn durch seine Reichtümer zu blenden: Alle Säle des Louvre wurden mit kostbaren Tapisserien und gold- und silbergewirkten Seidentapeten bespannt; man vergrößerte die Fenster und ergänzte sämtliche Dekors durch das Wappen des Königs. Dem Kaiser wurde ein Empfang von noch nie dagewesenem Glanz b ereitet, doch der imperiale Gast soll nach der Überlieferung ungeachtet des Prunks und der königlichen Festivitäten im Augenblick der Abreise kaum gelächelt, sondern eine Falle seines ehemaligen Gefangenen befürchtet haben. Kurz danach erhielten die Baumeister Pierre Lescot und Jean Goujon von Franz I. den Auftrag, den Louvre in ein Meisterwerk der Renaissance zu verwandeln. Ihre Beiträge können heute noch bewundert werden, vor allem in der Cour Carrée. Verweilen wir einen Augenblick beim 12. Februar 1556, dem Tag, an dem Pierre Lescot König Heinrich II. die Entwürfe für die Decke im Paradezimmer des Monarchen vorstellte.4 „Dieser aus Eichen-, Walnuss- und Lindenholz konstruierte Plafond war vollständig vergoldet; in der Mitte befand sich ein riesiges Schild mit dem Wappen 92 Der Louvre im Mittelalter Philippe Auguste und Karl V. Der Louvre der Renaissance Heinrich II. Cour des cuisines Franz I. Grande Galerie Heinrich IV. Palais des Tuileries Katharina de Medici Grande écurie Katharina de Medici Jardin des Tuileries Katharina de Medici ◆ Der Louvre, der Tuilerienpalast und die Grande Galerie im Jahr 1615. Auszug des Merian-Plans. Frankreichs, die Winkel schmückten Amazonenschilder mit dem Wappen des Königs, und die Ränder waren gesäumt von Girlanden mit Lorbeer und Rosen, Füllhörnern und Trophäen. Damit feierte der Louvre der Renaissance gleichzeitig die Künste und die Majestät des Fürsten.“ Doch die königlichen Paläste entkamen den Wirren der Geschichte nicht. Nach dem Unfalltod von Heinrich II. 1559 sollten die Religionskriege ausbrechen, welche die königliche Autorität gefährdeten und den Dichter Pierre de Ronsard 1562 zu seinem Discours des misères de ce temps (Rede über die Nöte der Gegenwart) inspirierten. Königin Katharina de Medici, 1560 nach dem Tod ihres Sohnes Franz II. Regentin ihrer beiden jüngeren Söhne geworden, legte die Trauerkleidung nie mehr ab. Vielleicht um den düsteren Erinnerungen zu entkommen, die der Louvre in ihr weckte, ließ sie das Hôtel des Tournelles abreißen, wohin ihr Gatte vor seinem Ableben verbracht worden war, und westlich davon den Palais des Tuileries als ihre persönliche Residenz erbauen. Die Königin wohnte allerdings nie dort, weil Cosimo Ruggieri, der Astrologe ihres Vertrauens, ihr prophezeit hatte, sie werde an einem Ort nahe von Saint-Germain sterben. Da sie dachte, die Kirche Saint- Germain-l’Auxerrois sei gefährlich nahe an den Tuilerien, überließ sie den neuen Palast anderen Bewohnern. In den Religionskriegen, die Frankreich spalteten, wurde der Louvre zu einem Ort der Verschwörungen und Geheimnisse, in dem auch gemordet wurde. In der berüchtigten Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572, auch Pariser Bluthochzeit genannt, stand der Königspalast im Zentrum der Massaker an den Hugenotten, die zu der als Versöhnung gedachten Hochzeit angereist waren: „Unter den Augen des Königs, der Königin und des ganzen Hofes warf man die nackten Leichen dieser Unglücklichen vor das Schloss“, notierte ein Augenzeuge5. Ein anderer versicherte, König Karl IX. – der zweite Sohn von Katharina de Medici – habe selbst mit der Armbrust aus den Fenstern des Louvre auf die Protestanten geschossen. Auf das Ende der Religionskriege und die endgültige Thronbesteigung Heinrichs IV. anno 1594, nachdem er 1593 zum Katholizismus übergetreten war – als König Heinrich III. von Navarra war er ein Anführer der Hugenotten gewesen –, folgte eine friedlichere Epoche. Nun konnten die bedeutenden Erneuerungs- und Vergrößerungsarbeiten am Louvre wiederaufgenommen werden. In dieser Zeit empfing Heinrich IV. seine Gäste im riesigen 93 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE „VON OBEN BIS UNTEN findet sich nur schwarzer, roter, grauer, jaspisartiger, rosafarbener und geäderter Marmor. (…) Die Mittelpfosten sind mit spindelförmigen Säulen und Nischen mit Marmorstatuen geschmückt.“ Saal der Ambassadoren, von dem noch eine Beschreibung erhalten ist: „Von oben bis unten findet sich nur schwarzer, roter, grauer, jaspisartiger, rosafarbener und geäderter Marmor. (…) Die Mittelpfosten sind mit spindelförmigen Säulen und Nischen mit Marmorstatuen geschmückt.“6 Wie sein Minister Sully in seinen Memoiren schreibt, befand sich vor den Gemächern des Königs ein großes „Vogel kabinett“, von dem einige vermuten, es habe sich um eine Voliere gehandelt. Doch Heinrichs zweite Gattin, Maria de Medici, ertrug ihre Situation im Louvre nur schlecht. Der König hatte hier seine Mätressen installiert, unbekümmert um die Streitereien, die in den Privatgemächern immer wieder ausbrachen. Nach seiner Ermordung ließ die Königin, die als Regentin für ihren Sohn Ludwig XIII. herrschte, den Palais du Luxembourg erbauen und wohnte schon vor der Beendigung der Arbeiten kurze Zeit dort. Ihr Sohn hingegen fühlte sich wohl im Louvre. Hatte er von seinem Vater das Interesse an den Vögeln geerbt? Sein Favorit, der Herzog von Luynes, Maître des oiseaux im Kabinett des Königs, richtete die Falken ab, und Ludwig ließ in den italienischen Gärten des Louvre eine riesige Voliere errichten. Neue Pläne wurden ausgearbeitet; dabei ging es darum, das Erweite94 rungsprojekt für den Louvre zu vervierfachen und gleichzeitig den Komfort in den Gemächern deutlich zu verbessern. Prunkvolles Schlossleben Ludwig XIV., der 1643 als Fünfjähriger den Thron geerbt hatte, leitete nach der Übernahme der Amtsgeschäfte die großen Projekte für den Louvre und den Bau von Schloss Versailles gleichzeitig. Er war im Palais Cardinal (heute Palais-Royal) aufgewachsen und hatte den größten Teil der Fronde-Wirren und ihrem Machtkampf zwischen dem Adel und dem Königshaus fern der Hauptstadt verbracht. 1651 mit dreizehn für volljährig erklärt, wählte Ludwig XIV. 1652 bei seiner Rückkehr nach Paris den Louvre als Residenz und blieb dort während dreißig Jahren. Zwei Räume illustrieren den damals im Palast herrschenden Luxus besonders, zum einen das prachtvolle „Zimmer der Bäder“, das Königinmutter Anna von Österreich in ihren Gemächern hatte einrichten lassen. „Das Badezimmer, dessen Ausgestaltung wir miterlebt haben“, schreibt Henri Sauval, „entstand unter der Leitung von Jacques Lemercier; Gold (…) wurde auf verschwenderische Weise eingesetzt; die Wandverkleidungen sind mit Fruchtkörben und Reliefs geschmückt, die so kunstvoll mit Gold, Email und Farbe hervorgehoben sind, dass sie Auge und Hand der Betrachter täuschen; am Boden ruht die Badewanne nur auf sechs Säulen aus weißem und schwarzem Marmor, deren Sockel und Kapitelle aus feuervergoldeter Bronze bestehen.“ Und er fügt hinzu, diese prachtvollen Säulen seien aus einem so abwechslungsreichen Marmor gefertigt, dass man sich fragen könne, „ob die Griechen und Römer je etwas Vergleichbares gefunden haben“.7 Die Wände waren mit königlichen Porträts und Allegorien geschmückt, welche die Tugenden der Königin illustrierten. ◆ Die Galerie d’Apollon, französische Schule, 17. Jahrhundert, Musée du Louvre, Paris, Frankreich. Der andere für den Louvre in der Zeit Ludwigs XIV. charakteristische Raum ist die 1661 von Lebrun dekorierte 95 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE „MAN SPRICHT VON EINEM GROSSEN UND HERRLICHEN VORHABEN, dem schönsten Tempel der Künste aller Zeiten … die Galerie d’Apollon soll restauriert werden.“ Galerie d’Apollon. Man sieht hier den Lauf der Sonne, welche die Züge des griechischen Gottes trägt. Die Alleinherrschaft des Monarchen hat eben erst begonnen, doch der Sonnenkönig hat schon darüber entschieden, wie er von der Welt gesehen werden will. Der Prunk, mit dem Ludwig XIV. sich zu umgeben liebt, verwandelt den Louvre: Galadiners, Empfänge, Ballett und Theater finden statt; schon ab 1658 tritt Molière mit seiner Schauspieltruppe regelmäßig hier auf. Offenbar dient der Louvre dazu, den Prunk und die höfischen Rituale zu entwickeln, die danach in Versailles den Glanz des Sonnenkönigs verewigen sollten. Louis Le Vau leitet jetzt im Louvre die Bauarbeiten, Charles Le Brun die Dekormalereien. ◆„Apollon vainqueur du serpent Python“, zentrale Malerei der Decke in der Galerie d’Apollon, gemalt 1850/51 von Eugène Delacroix (1798–1863). 1682 verlässt der König Paris endgültig und verlegt den Hofstaat nach Versailles. Den Louvre und den Tuilerien palast betreten Könige erst wieder im Oktober 1789 bei der erzwungenen Rückkehr von Ludwig XVI. und Marie- Antoinette nach Paris. Vom Salon zum Museum Die erste wirklich öffentliche Gemäldeausstellung in Paris fand im Oktober 1750 im Palais du Luxembourg statt. Die 99 Ölbilder und 20 Zeichnungen stammten aus den 96 königlichen Sammlungen. Bedeutende Werke der flämischen, italienischen und französischen Schulen waren chronologisch gehängt, und das Publikum konnte die großen Gemälde, die Rubens zu Ehren von Maria de Medici gemalt hatte, in den Originalrahmen bewundern. Die Ausstellung war jeweils am Mittwoch und Samstag geöffnet8 und dauerte bis 1779, als König Ludwig XVI. den Palais du Luxembourg seinem Bruder schenkte, dem Grafen der Provence und späteren Ludwig XVIII. Damals kam der Gedanke auf, die große Galerie des Louvre der Öffentlichkeit ständig zugänglich zu machen. Denn nachdem der König und sein Hofstaat den Louvre aufgegeben hatten, blieb der Palast nicht leer. Zahlreichen Adligen und Höflingen war erlaubt worden, die verschiedenen Appartements ständig zu bewohnen; außerdem richteten sich mehrere Verwaltungen hier ein, darunter die Académie Royale de Peinture et de Sculpture. Sie zeigte 1699 ihre alle zwei Jahre stattfindenden Ausstellungen erstmals im Louvre.9 Doch im Unterschied zu den späteren Ausstellungen im Palais de Luxembourg wurden in diesen Salons nur die Bilder von Künstlern gezeigt, die der Königlichen Akademie angehörten. Davon abgesehen war keineswegs Schluss mit den Umbauten und Veränderungen im Louvre. Zu Ende der Herrschaft von Ludwig XV. wurden die Cour Carrée und die prachtvolle östliche Hauptfassade mit den Kolonnaden von Perrault von verschiedenen parasitären Anbauten befreit, welche die Ausgewogenheit der ursprünglichen Konzeption beeinträchtigt hatten. Der Gedanke, die königlichen Sammlungen im Louvre zu vereinigen, hatte wie schon erwähnt bereits einige Jahre zirkuliert, bevor der Marquis de Marigny, Bauleiter des Königs, Ludwig XV. ein Projekt vorlegte, das am 3. Januar 1768 genehmigt wurde. Ein zeitgenössischer Verfasser dazu: „Die Bilder des Königs, die reichste Sammlung der Welt, 97 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE DREI KRIEGE und ein berühmter Diebstahl sollten das Schicksal des Louvre als Nationalmuseum erneut stören. Ihre Auswirkungen können sich mit den Abenteuern der Mona Lisa messen. sind in den Lagerräumen versteckt. Man spricht von einem großen und herrlichen Vorhaben, das den schönsten Tempel der Künste aller Zeiten bilden wird … die Galerie d’Apollon soll restauriert und der Salon, in dem man die Bilder ausstellt, angemessen dekoriert werden … dann wird die kostbare Sammlung der Bilder des Königs in der riesigen Galerie des Louvre präsentiert, wo das Publikum all diese Schätze genießen kann.“10 Doch der Plan machte zahlreiche Umbauten notwendig, welche die königliche Schatzkammer nicht alle finanzieren konnte, und der für den Louvre zuständige führende Architekt, Jacques- Germain Soufflot, starb 1780. Doch immerhin hatte man ein Inventar erstellt und die letzten Entscheidungen getroffen, bevor das Schicksal des Louvre einmal mehr verändert wurde, diesmal durch die Französische Revolution. Das Museum und die Nation Unter den wichtigen Reformen der ersten Revolutionsjahre stimmte die Nationalversammlung einem Antrag des Politikers und Journalisten Bertrand Barère zu. Mit diesem Dekret wurden der Louvre und die Tuilerien zu „einem nationalen Palast erklärt, der für den Wohnsitz des Königs und die Vereinigung sämtlicher Denkmäler der Wissenschaften und der Kunst bestimmt ist“. In seinem Bericht hatte Barère zudem geschrieben: „Die Restaurierung des Louvre und der Tuilerien, um dem konstitutionellen König einen der französischen Nation würdigen Wohnsitz zu geben und dort ein berühmtes Museum einzurichten, wird weitere Maßnahmen erfordern, die mit dem König abzustimmen sind.“11 Die sich überstürzenden Ereignisse erlaubten nicht, dieses Vorhaben in Angriff zu nehmen. Doch nach dem Tuileriensturm vom 10. August 1792, der zum Sturz des Königshauses führte, wurde eine Kommission gebildet, die den Transport der in den königlichen Residenzen gefundenen Kunstwerke, die nun Güter der Nation geworden waren, organisieren sollte. 98 Das Gemälde gelangte 1797 in die Sammlung des Louvre, ohne besonderes Aufsehen zu erregen. Während des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 wurde das Bild ins Arsenal von Brest ausgelagert. 1911 stahl ein kunst liebender Glaser das Porträt und flüchtete damit nach Italien, wo es drei Jahre später Die neue revolutionäre Regierung musste nun den Koalitionstruppen der gegnerischen europäischen Mächte trotzen, die an den Grenzen standen, aber auch Aufständen in der Vendée und in der Bretagne. Die Gründung eines Nationalmuseums wurde deshalb keineswegs aufgegeben, ja sie erschien als Symbol einer in der Bewunderung der schönen Künste geeinten Nation um so dringender. Die von allen Seiten zur Eile gedrängte Commission des Arts bereitete sich darauf vor, den Louvre am 10. August 1793, dem Tag der großen, vom Maler Jacques-Louis David organisierten Feier der nationalen Einheit, für das Publikum zu öffnen. Doch erst am 18. November konnte dieses die Grande Galerie besichtigen und den Catalogue des objets contenus dans la galerie du Muséum français erwerben. Das Musée du Louvre war geboren, doch der Palast blieb noch immer eine prachtvolle Residenz. Die Hochzeit Napoleons mit Marie-Louise von Österreich fand hier im Salon Carré statt, gefolgt von einem feierlichen Defilee durch die Grande Galerie. Der Kaiser bereicherte die Sammlungen des Louvre um die unermesslichen Schätze, die er von seinen Feldzügen nach Hause brachte: etwa die Pferde der Basilika San Marco in Venedig und die prachtvolle Marmorgruppe des Laokoon und seiner Söhne, die dem Vatikan gehörte. Die meisten dieser Schätze wurden nach dem Ende des Ersten Kaiserreichs 1815 zurückge geben oder von den Alliierten verschleppt. aufgefunden wurde. Knapp sechs Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrte die Mona Lisa in den Louvre zurück und reiste alsbald erneut, zuerst in ein Versteck in Bordeaux, dann in Toulouse. Ein Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg begannen die Konservatoren die Schätze des Louvre in Sicherheit zu bringen. Die Mona Lisa, die Venus von Milo und die Nike von Samothrake wurden verpackt und an geheime Orte verbracht. ◆ Die Siegesgöttin Nike von Samothrake, hellenistische Statue aus weißem Paros-Marmor, um 190 v. Chr., Musée du Louvre, Paris, Frankreich, 1935. 99 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE Im 19. Jahrhundert hielten einige der berühmtesten Kunstwerke Einzug im Louvre, so die Venus von Milo, die der Marquis de Rivière 1821 König Ludwig XVIII. schenkte, oder die Nike von Samothrake, 1863 entdeckt von Charles Champoiseau, damals Vizekonsul in Adrianopel (Edirne). Der Umbau des großen Ensembles des Louvre und der Tuilerien wurde im Zweiten Kaiserreich fertiggestellt, und Napoleon III. konnte am 14. August 1857 feierlich erklären: „Die Vollendung des Louvre war keine Laune des Augenblicks, sondern die Verwirklichung eines großen Plans, während mehr als dreihundert Jahren getragen vom Selbsterhaltungstrieb des Landes.“12 ◆ „La France au milieu des rois législateurs et des jurisconsultes français, reçoit de Louis XVIII la Charte constitutionnelle“, Deckengemälde im zweiten Staatsratssaal, gemalt 1827 von Merry-Joseph Blondel (1781–1853). Dieser „große Plan“ sollte jedoch noch anderen Veränderungen unterworfen sein. Der Tuilerienpalast brannte während des Aufstands der Pariser Kommune am 23. Mai 1871 aus und wurde später abgerissen. Doch diese Zerstörung eröffnete eine neue Perspektive, in die sich die 1989 fertiggestellte Glaspyramide von I. M. Pei heute harmonisch einfügt. Zurück in den Louvre Gegenwärtig geht eine Renovierung ihrem Ende entgegen, welche die Liebhaber der Kunst des 18. Jahrhunderts besonders interessiert. Es handelt sich um die Staatsratssäle (Salles du Conseil d’Etat) und den Salon Beauvais im Obergeschoss des sogenannten Sully-Flügels. In diesen Sälen sollen Sammlungen mit Mobiliar, Bronzearbeiten und anderen Kunstgegenständen ausgestellt werden, die vom erlesenen Geschmack des Ancien Régime zeugen. Der Dekor der Staatsratssäle illustriert die Glanzzeiten der französischen Geschichte: Das Deckengemälde La France victorieuse à Bouvines feiert den größten Sieg von König Philippe- Auguste, der den ersten Louvre errichten ließ. Es wurde 1828 vom klassizistischen Maler Merry-Joseph Blondel geschaffen, der auch die achteckige Decke des zweiten 100 ◆ Louvre-Saal Gilbert et Rose Marie Chagoury. Wandverkleidungen aus bemaltem Holz, Möbel und Kunstgegenstände aus der Zeit um 1700. Musée du Louvre, Département des Objets d’art. 101 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE ◆ Unten links: Der von Kunsttischler Adam Weisweiler 1784 geschaffene Schreibtisch für das Kabinett von Marie-Antoinette in Schloss Saint-Cloud; Sammlung des Fürsten von Beauvau; blauer Salon der Kaiserin Eugénie im Palais des Tuileries anno 1865. ◆ Unten rechts: Der Schreibtisch mit den geflügelten Sirenen (linke Seite) im türkischen Kabinett des Grafen von Artois im mittleren Flügel von Schloss Versailles. Saals mit dem Gemälde La France recevant la Charte constitutionnelle des mains du roi Louis XVIII schmückte. Acht Flachreliefs in Goldtönen stellen verschiedene patriotische Allegorien dar. Ein Gemälde von Jean-Baptiste Mauzaisse mit dem Titel La sagesse divine donnant des lois aux rois et législateurs entourés de l’équité et de la prudence feiert die Legitimität der auf den Thron zurückgekehrten Bourbonen und die Weisheit ihrer Entscheidungen. Michel- Martin Drölling wiederum schuf das letzte Deckengemälde, La loi descend sur terre, elle établit son empire et y répand ses bienfaits, mit den Allegorien des Friedens, der Weisheit und des Gesetzes auf einem Triumphwagen. Unter den zahlreichen Schätzen, die in diesen Sälen ausgestellt werden, zeugen drei Möbel besonders von den verschiedenen Stilen, die in der Zeit von Abraham-Louis Breguet beliebt waren. Das erste ist die „Commode au singe“ (Affenkommode) mit erlesenen Furnierarbeiten aus Blutund Amarantholz und aufgesetzten Bronzegirlanden, in deren Mitte ein Äffchen auf einer Schaukel sitzt, von 102 Charles Cressent. Dieser berühmteste französische Kunsttischler seiner Zeit war auch ein talentierter Bildhauer. Die um 1745 gebaute Kommode ist ein vollendetes Beispiel des Rokokostils der ersten Jahrhunderthälfte. Faszinierend ist auch ein etwas späteres Möbel, der erstaunliche Konsolentisch, den Georges Jacob 1781 für das türkische Kabinett des Grafen von Artois schuf. Die Türkenmode war damals im Schwange: Königin Marie- Antoinette ließ sich ihr eigenes türkisches Kabinett bauen, und der Graf von Artois – als Karl X. Nachfolger seiner älteren Brüder Ludwig XVI. und Ludwig XVIII. auf dem französischen Thron – besaß nicht weniger als drei, eines in jedem seiner drei Wohnsitze. Vier Beine aus vergoldetem 103 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE Holz in Form geflügelter Sirenen tragen das Marmor-Tischblatt. Die Gesamtkonzeption ist zwar schlichter als die dekorativen Exzesse des Rokoko, doch der Künstler ließ hier seiner Phantasie freien Lauf. Bewundernswert ist auch der Schreibtisch, den der Kunsttischler Adam Weisweiler 1784 für Königin Marie- Antoinette schuf. Nur drei Jahre älter als Abraham-Louis Breguet, war er wie dieser nach Paris gekommen, um hier seine Träume zu verwirklichen. Beiden gelang dies auf bewundernswerte Weise. Weisweiler wurde 1777 Tischlermeister und eröffnete sofort seine eigene Werkstatt, wie dies Breguet zwei Jahre früher am Quai de l’Horloge getan hatte. Die beiden Handwerksmeister waren überaus empfänglich für die ästhetischen Strömungen, welche auf den überflüssigen Dekor der ersten Jahrhunderthälfte verzichteten und reine Linien anstrebten, deren Verzierungen d ie formale Struktur eher betonten als überlagerten. Der Schreibtisch von Marie-Antoinette besteht aus Ebenholz, Japanlack, Bronze und Stahl mit einem entzückenden aufklappbaren Lesepult. Zwei Jahre zuvor hatte Breguet der Königin eine erste Uhr geliefert. ◆ Ausstellung der Produkte der französischen Industrie in der Cour Carrée des Louvre, 1801, Frankreich, 19. Jahrhundert, Collection De Agostini. 104 ◆ Louvre-Saal Gilbert et Rose Marie Chagoury. Wandverkleidungen aus bemaltem Holz, Möbel und Kunstgegenstände aus der Zeit um 1700. Musée du Louvre, Département des Objets d’art. Breguet war zweifellos bereits mit dem Louvre vertraut, als er an der dritten Ausstellung der Produkte der französischen Industrie teilnahm, die 1802 in der Cour Carrée stattfand und ihm eine Goldmedaille eintrug. Dies war der Beginn einer langen Verbindung zwischen dem Louvre und der Uhrenmarke Breguet. Vivant Denon, der im selben Jahr zum Direktor des Museums ernannt wurde, erwarb später eine Repetieruhr und eine Pendüle aus Biskuitporzellan. Die Ausstellung Breguet im Louvre – Ein Höhepunkt der europäischen Uhrmacherkunst von 2009 vereinigte hier die 105 DAS SCHICKSAL DES LOUVRE außergewöhnlichsten Zeitmesser des Meisteruhrmachers und Künstlers.13 Die Renovierung der Säle, die den Möbeln und Kunstgegenständen des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmet sind, erfolgte mit einem Mäzenat von Breguet: ein zusätzliches Zeugnis für die engen Bande zwischen der Uhrmacherei und den schönen Künsten. Der Dichter Léon-Paul Fargue veröffentlichte 1948 eine echte Liebeserklärung an den prachtvollen Bau des Louvre, der seine Jugend an den Ufern der Seine beschirmt und ihm so viel gegeben hatte: Der Besucher entdecke hier geheime Kräfte, schreibt er, „Formen, Farben, Aspekte, Lichter und diffuse Ströme, die von den Konturen und der Farbgebung ausgehen … Der gesamte Louvre lebt von diesem Austausch zwischen dem Spaziergänger und den Mei sterwerken … Das Genie des Louvre ist eben gerade, dem unbekannten Passanten gegenüberzustehen … eine Kombination von Vergangenheit und Gegenwart, aus der der letztere die Kräfte der Kunst und des Geschmacks schöpft, eine Verbindung, die niemanden enttäuscht“.14 André Félibien des Avaux, Entretiens sur les vies et les ouvrages des plus excellens peintres, Paris 1685, S. 24, 33. 2 Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, Paris, Hetzel, S. 70. 3 André Blum, Le Louvre, du palais au musée, Paris, Éditions Milieu du monde, 1946, S.19. 4 L ouis Hautecœur, Histoire du Louvre, Le château, le palais, le musée, Paris, L’Illustration, 1928, S. 20 (übersetztes Zitat aus d iesem A rtikel). 5 De Thou, zitiert von Louis Hautecœur, L’Illustration, 1928, S. 24. 6 Henri Sauval, Histoire et recherches des antiquités de la ville de Paris, Paris, Moette et Chardon, 1724, Bd. 2, S. 32. 7 Henri Sauval, Bd. 2, S. 34. 8 Siehe Andrew McClellan, Inventing the Louvre, Arts, Politics, and the Origins of the Modern Museum in Eighteenth-Century Paris, Berkeley, University of California Press, 1994, S. 13 /14. 1 ◆ Die 1989 eingeweihte Pyramide des Architekten I. M. Pei im Hof des Musée du Louvre. 106 Die früheren Ausstellungen der Akademie fanden im Palais-Royal statt. 10 Siehe Reboul, Essai sur les mœurs du temps, London und Paris, Vincent, 1768, zitiert in André Blum, S. 136. 11 André Blum, S. 146 /47. 12 Zitiert von Louis Hautecœur, L’Illustration,1928, S. 99. 13 Siehe N. Hayek, A.-E. Emch, M. Bascou, E. Breguet und R. de Pieri, Breguet, un apogée de l’horlogerie européenne, Musée du L ouvre Éditions, 2009. 14 Léon-Paul Fargue, Les Grandes heures du Louvre, Paris, Les Deux Sirènes, 1948, S. 227/28. 9 107 4 HERAUSGEBER Montres Breguet SA CH-1344 L’Abbaye Schweiz Tel.: +41 21 841 90 90 www.breguet.com PRODUKTMANAGEMENT Géraldine Joz-Roland CHEFREDAKTION Géraldine Joz-Roland Jeffrey S. Kingston AUTOREN Jeffrey S. 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S. 55 rechts: © Service Historique de la Défense, Vincennes, Frankreich, Breguet Sepecat Jaguar. S. 88 / 89: © Musée de la Ville de Paris, Musée Carnavalet, Paris, Frankreich /Archives Charmet / Bridgeman Images, Innenraum der Cour Carrée des Louvre, um 1840 /45 (Farblithografie nach einer Zeichnung von C. Gavard (1794–1871). S. 91: © Musée Condé, Chantilly, Frankreich/Bridgeman Images /Ms 65 /1284 f.10v Oktober, „Die Winteraussaat“ aus Les Très Riches Heures du Duc de Berry (Velinpapier) der Gebrüder Limbourg (ca. 1400–1416). S. 93: © Louvre. Der Louvre, der Palais des Tuileries und die Grande Galerie im Jahr 1615. Auszug des Merian- Plans. S. 95: © Louvre, Paris, Frankreich / Bridgeman Images, Innenansicht der Galerie d’Apollon. S. 96: © RMN-Grand Palais (Musée du Louvre) / Gérard Blot, Apollon vainqueur du serpent Python von Eugène Delacroix (1798–1863), zentrale Deckenmalerei in der Galerie d’Apollon. S. 99: Photo © Musée du Louvre, Dist. RMN-Grand Palais / Philippe Fuzeau, Nike von Samothrake, Paris, Musée du Louvre. S. 100: Paris, Musée du Louvre, Photo © RMN-Grand Palais (Musée du Louvre) / Daniel Arnaudet, La France au milieu des rois législateurs et des jurisconsultes français, reçoit de Louis XVIII la Charte constitutionnelle, Merry-Joseph Blondel (1781–1853). S. 101: © Musée du Louvre, Dist. RMN-Grand Palais / Olivier Ouadah, Bau des Stadtpalasts für Claude Le Bas de Montargis im Jahr 1707, Sully-Flügel, Obergeschoss, Saal 38, Gilbert et Rose-Marie Chagoury, Département des Objets d’art. S. 102: Photo © Musée du Louvre, Dist. RMN-Grand Palais / Thierry Ollivier, Detail des Schreibtischs von S. 103 rechts mit den geflügelten Sirenen im türkischen Kabinett des Grafen von Artois im mittleren Flügel von Schloss Versailles, Georges Jacob, Paris, Musée du Louvre. S. 103 links: © RMN-Grand Palais (Musée du Louvre)– Daniel Arnaudet, Schreibtisch mit geöffnetem Lesepult von Adam Weisweiler (1744 –1820) und François Rémond (1747–1812), Musée du Louvre. S. 104: © De Agostini Picture Library / G. Dagli Orti / Bridgeman Images, Ausstellung der Produkte der fran- zösischen Industrie in der Cour Carrée des Louvre, 1801. S. 105: siehe S. 101. S. 106: © Pyramide du Louvre, Architekt I. M. Pei, Musée du Louvre. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Montres Breguet SA ist es nicht gestattet, Texte, Bilder oder das Layout dieser Zeitschrift zu reproduzieren oder anderweitig zu verwenden. © Montres Breguet SA 2015. Gedruckt im Juli 2015. LE QUAI DE L’HOR LOGE NO 4 Français 4 BR EGUET