KLASSISCHE MUSIK UND IMPROVISATION – FRIEDRICH GULDA

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KLASSISCHE MUSIK UND IMPROVISATION – FRIEDRICH GULDA
Violetta Kargina
KLASSISCHE MUSIK UND IMPROVISATION –
FRIEDRICH GULDA UND DIE FOLGEN
Schriftliche Prüfungsarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
„Magistra Artium“
INSTITUT 15 – ALTE MUSIK UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS
UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST GRAZ
BETREUERIN: AO.UNIV.PROF. MAG.PHIL. DR.PHIL. INGEBORG HARER
Mai 2012
1
ABSTRACTS
Klassische Musik und Improvisation – Friedrich Gulda und die Folgen
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung der Improvisation in
der Geschichte der klassischen Musik, in der historischen und heutigen
Spielpraxis sowie mit der Improvisation im Jazz und dem Einfluss des Jazz auf
klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten. Ferner werden JazzPianistinnen und -Pianisten als Interpreten und Arrangeure klassischer Musik
besprochen.
Schwerpunkt der Arbeit ist die Bedeutung Friedrichs Guldas für die Rolle der
Improvisation in der Klaviermusik. Nach einer Beschreibung der Bedeutung von
improvisatorischen Elementen in der Geschichte der Klaviermusik wird
untersucht, wie Pianistinnen und Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts die
am Ende des 19. Jahrhunderts verlorengegangene Tradition des Improvisierens
wiederbeleben. Ferner werden Beziehungen zwischen klassischer Musik und
Jazz untersucht. Es wird gezeigt, dass klassisch ausgebildete Pianistinnen und
Pianisten, die auch Jazz spielen, durch eine für den Jazz untypische
Zurückhaltung auffallen – sie spielen nicht „dirty“. Die umgekehrte Fragestellung
führt zur gleichen Antwort: Jazz-Pianisten spielen, wenn sie klassische Werke
aufführen, ebenfalls außerordentlich zurückhaltend und vorsichtig.
2
Classical Music and Improvisation – Friedrich Gulda and His Followers
The present work deals with the role of improvisation in the history of classical
music, historical and contemporary performance practice, improvisation in jazz
and the influence of jazz on classically trained pianists. Furthermore, jazz
pianists as performers and arrangers of classical music will be discussed.
The focus of this paper is the importance of Friedrich Gulda for the role of
improvisation in piano music. After describing the importance of improvisatory
elements in the history of piano music it will be examined how pianists of the
20th and 21th centuries bring back to life the lost tradition of improvisation.
Furthermore, relations between classical music and jazz are examined. It is
shown that classically trained pianists who play jazz show an atypical restraint they do not play "dirty". The inverted question leads to the same answer: jazz
pianists, if they perform classical works are also extremely cautious and careful.
3
INHALTSVERZEICHNIS
ABSTRACT ........................................................................................................ 2
VORWORT......................................................................................................... 6
EINLEITUNG...................................................................................................... 7
KAPITEL 1. DIE ROLLE DER IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER
KLAVIERMUSIK................................................................................................. 9
1.1.
DEFINITIONEN UND MUSIKALISCHE FORMEN ................................ 9
1.2.
IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER KLAVIERMUSIK ...... 12
KAPITEL 2. IMPROVISATION IN DER HEUTIGEN SPIELPRAXIS
KLASSISCHER MUSIK .................................................................................... 26
2.1.
DER „MUSIKALISCHE REVOLUTIONÄR“ FRIEDRICH GULDA........ 26
2.2.
ROBERT D. LEVIN ............................................................................. 36
2.3.
GABRIELA MONTERO ...................................................................... 38
KAPITEL 3. KLASSISCH AUSGEBILDETE PIANISTEN UND IHR ZUGANG
ZUM JAZZ ........................................................................................................ 41
3.1.
KLASSIK UND JAZZ ........................................................................... 41
3.2.
FRIEDRICH GULDA ALS JAZZ-KOMPONIST UND JAZZ-PIANIST .. 45
3.3.
ROLAND BATIK – SCHÜLER FRIEDRICH GULDAS......................... 52
3.4.
KATIA LABEQUE – INTERPRETIN VON „JAZZ-KOMPOSITIONEN“54
3.5. KLASSISCHE PIANISTEN SPIELEN JAZZ – WARUM NICHT
„DIRTY“?....................................................................................................... 56
4
KAPITEL 4. JAZZ-PIANISTEN ALS INTERPRETEN KLASSISCHER MUSIK. 58
4.1.
KEITH JARRETT................................................................................. 58
4.2.
CHICK COREA ................................................................................... 62
4.3.
JOE ZAWINUL .................................................................................... 66
4.4.
JAZZ-PIANISTEN SPIELEN „KLASSIK“ – WARUM SO „BRAV“? ...... 68
KAPITEL 5. „VERJAZZTE KLASSIK“.............................................................. 69
5.1.
JACQUES LOUSSIER ........................................................................ 69
5.2.
JOHN LEWIS UND DAS MODERN JAZZ QUARTET......................... 71
5.3.
EUGEN CICERO................................................................................. 73
5.4.
ANDRZEJ JAGODZINKI ..................................................................... 75
5.5.
LESZEK MOZDZER............................................................................ 77
5.6.
AZIZA MUSTAFA ZADEH................................................................... 78
ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................... 80
WERKLISTE FRIEDRICH GULDAS ................................................................ 81
LITERATURLISTE ........................................................................................... 90
CD UND DVD LISTE........................................................................................ 94
5
VORWORT
Ich habe das Thema: „Klassische Musik und Improvisation - Friedrich Gulda
und die Folgen“ für meine Diplomarbeit gewählt, weil ich aufgrund meiner
Tätigkeit als Klavierpädagogin ein umfangreiches Interesse an der Klaviermusik
und an ihrer Vermittlung gefunden habe, das über die Reproduktion klassischer
Musik hinausgeht. Seit Jahren beschäftige ich mich nicht nur mit dem Studium
und mit dem Unterrichten klassischer Klaviermusik, sondern auch mit den
Grundlagen der populären Musik und des Jazz. Dadurch kam ich zur Frage der
Improvisation, sowohl in der Spielpraxis klassischer Kompositionen, als auch im
Jazz des 20. Jahrhunderts. Besonders interessant für mich waren Pianistinnen
und Pianisten, die sowohl klassische Werke als auch Jazz spielen. Die zentrale
Aufgabe bestand für mich darin, herauszufinden, ob stilistische
Wechselwirkungen zwischen diesen Musikbereichen bei jenen Pianistinnen und
Pianisten zu erkennen waren, die sich sowohl mit Klassik als auch mit Jazz
auseinandersetzen. Die Schwierigkeit dieser Fragestellung bestand für mich vor
allem darin, dass es nur wenig Literatur gibt, die diese Frage untersucht und
dass sich nur wenige Pianistinnen und Pianisten von internationaler Bedeutung
mit beiden Bereichen beschäftigen. Nach eingehenden Analysen von
entsprechenden Tonträgern glaube ich erkannt zu haben, dass die Probleme,
vor denen sich klassisch ausgebildete Musikerrinnen und Musiker gestellt
sehen, wenn sie improvisieren oder Jazz spielen, ganz ähnlich sind wie jene
Probleme, die im umgekehrten Fall auftreten.
6
EINLEITUNG
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung der Improvisation in
der Geschichte der klassischen Musik, in der historischen und heutigen
Spielpraxis sowie mit der Improvisation im Jazz und dem Einfluss des Jazz auf
klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten. Ferner werden JazzPianistinnen und -Pianisten als Interpreten und Arrangeure klassischer Musik
besprochen. Ausgangspunkt und Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Rolle
Friedrich Guldas.
Das erste Kapitel („Die Rolle der Improvisation in der Geschichte der
Klaviermusik“) beschäftigt sich mit der Frage, was unter Improvisation in den
verschiedenen musikalischen Formen und in der Spielpraxis klassischer Musik
zu verstehen ist sowie mit der Improvisation im Verlauf der Geschichte der
Klaviermusik.
Im zweiten Kapitel („Improvisation in der heutigen Spielpraxis klassischer
Musik“) wird am Beispiel von Friedrich Gulda, Robert D. Levin und Gabriela
Montero gezeigt, in welchen Formen Pianistinnen und Pianisten des 20. und 21.
Jahrhunderts die Tradition der Improvisation wiederbeleben.
Im dritten Kapitel („Klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten und ihr
Zugang zum Jazz“) wird untersucht, in welcher Weise „klassische“
Musikerinnen und Musiker (Friedrich Gulda, Roland Batik und Katia Labeque)
Jazz interpretieren. Es wird die Frage untersucht, ob sich ihr Jazz-Spiel
stilistisch von dem der „Jazzer“ unterscheidet.
Im vierten Kapitel („Jazz-Pianisten als Interpreten klassischer Musik“) wird die
umgekehrte Fragestellung untersucht: Unterscheiden sich die Interpretationen
von klassischen Kompositionen durch Jazz-Pianisten (Keith Jarrett, Chick
Corea, Joe Zawinul) stilistisch von jenen der klassisch ausgebildeten
Pianistinnen und Pianisten?
Schließlich werden im fünften Kapitel („Verjazzte Klassik“) am Beispiel von
Jacques Loussier, John Lewis, Eugen Cicero, Andrzej Jagodzinski, Leszek
7
Mozdzer sowie Aziza Mustafa Zadeh erfolgreiche Versuche analysiert,
klassische Werke in Jazz-Arrangements aufzuführen.
8
KAPITEL 1. DIE ROLLE DER IMPROVISATION IN DER
GESCHICHTE DER KLAVIERMUSIK.
1.1. DEFINITIONEN UND MUSIKALISCHE FORMEN
Was versteht man unter Improvisation? „Komposition und Interpretation (d.h.
klangliche Realisierung) in einem Vorgang“. 1 „Als Improvisation wird die Form
musikalischer Darbietung verstanden, in der das ausgeführte Tonmaterial in der
Ausführung selbst entsteht und nicht vorher schriftlich fixiert worden ist.“ 2
Improvisation ist eine „sehr schnelle Komposition, bei der ein Spieler Musik mit
seinem inneren Ohr hört und diese dann aus dem Stegreif spielt.“ 3
Improvisieren wird oft als extemporieren, aus dem Stegreif spielen oder als
freies Fantasieren bezeichnet. 4
Voraussetzung für Improvisation ist neben der Beherrschung des jeweiligen
Instrumentes die Beherrschung der dem jeweiligen Stil entsprechenden
musikalischen Parameter und die Kenntnis verschiedenster musikalischer
Muster (Texturen, Akkordfolgen, Melodiemodule, Periodenbau etc.).
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die Improvisation in der
„klassischen“ Musik eine bedeutende Rolle. In vielen musikalischen Gattungen
und Formen war sie sogar von überragender Bedeutung. Das gilt zum Beispiel
für: Choralvorspiele, Choralbearbeitungen, Fantasien, Präludien, Capriccios,
Canzone, Ricercar (einleitendes instrumentales Stück mit Imitationstechnik und
hohem Improvisationsanteil), Tiento (spanisches Instrumentalstück aus dem 16.
Jahrhundert mit hohem Improvisationsanteil), Toccaten.
1
Reinhard Amon, Lexikon der musikalischen Form, Wien 2011, S. 161. Zur Definition vgl. auch die
einzelnen Einträge in der Lexikonliteratur wie z.B.: den Artikel „Improvisation“ in Oxford Music Online
[online verfügbar:
http://han.kug.ac.at/han/OXFORDMUSICONLINE/www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grov
e/music/13738?q=improvisation&search=quick&pos=1&_start=1#firsth 2.4.2012] sowie den Artikel
„Improvisation“ im Österreichischen Musiklexikon [online verfügbar:
http://han.kug.ac.at/han/OesterreichischesMusiklexikon/www.musiklexikon.ac.at/ml?frames=yes
2.4.2012]
2
Improvisation (Musik), in: Wikipedia, [online verfügbar:
http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation_%28Musik%29 30.11.2011]
3
Gabriela Montero, Die Kunst der Improvisation – Beiheft zur CD: Gabriela Montero – Live in
Germany, S. 4.
4
Reinhard Amon, Lexikon der musikalischen Form, Wien 2011, S. 161.
9
Von besonderer Bedeutung für die Möglichkeit zur Improvisation waren auch
die Solo-Kadenzen in den Instrumentalkonzerten. Unter einer Solo-Kadenz
versteht man jenen Teil eines Instrumentalkonzertes – meist am Ende des
Kopfsatzes, aber auch oft im Schlusssatz – in welchem auf dem Soloinstrument
ohne Orchesterbegleitung über das thematische Material des jeweiligen Satzes
improvisiert wird. Charakteristisch für solche Kadenzen sind weitläufige
Modulationen, kontrapunktische Elemente, sowie besondere technische
Herausforderungen wie Läufe, Akkordzerlegungen, Triller etc. Die Kadenz gab
dem Solisten die Möglichkeit, seine instrumentale Virtuosität unter Beweis zu
stellen.
In der Zeit der Wiener Klassik wurde die Solo-Kadenz meistens vom
begleitenden Orchester mit einem Quartsextakkord eingeleitet und vom Solisten
mit einem Triller auf dem Leitton über dem Dominantseptakkord beendet. Diese
Kadenzen wurden bis ca. 1825 in den meisten Fällen tatsächlich improvisiert,
da der Instrumentalsolist auch der Komponist des Werkes war. Erst bei
Beethoven findet sich für alle fünf Klavierkonzerte zumindest eine notierte
Kadenz, für das vierte Klavierkonzert stellt er zwei Kadenzen zur Auswahl.
Die improvisierten Kadenzen in Instrumentalkonzerten waren sowohl im 18. wie
im 19. Jahrhundert eine verbreitete und beliebte Form der Improvisation. Das
gleiche kann über die Paraphrase gesagt werden, die ebenfalls im 18. und 19.
Jahrhundert ihre Blüte erreichte. Unter einer Paraphrase versteht man das freie
Umspielen oder Ausschmücken eines Themas. Im 19. Jahrhundert entwickelte
sich diese Form der Improvisation zu einer musikalischen Großform, zu einer
oft zeitlich ausgedehnten Fantasie meist über damals beliebte, aus Liedern und
vor allem aus Opern entnommenen Themen. Den künstlerischen Höhepunkt
erreichte die Paraphrase für Klavier bei Franz Liszt, der unzählige Paraphrasen
über Themen aus heute vergessenen Opern improvisierte und komponierte und
dabei außerordentlich virtuose Techniken verwendete. Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts wurden ebenfalls sehr virtuose Paraphrasen über bekannte
Walzer-Themen, etwa von Johann Strauss, komponiert. Da diese musikalische
Form im weiteren Verlauf aber als „Salonmusik“ eingeschätzt wurde,
10
verschwand sie mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend aus den
Konzertprogrammen der Pianisten und Pianistinnen.
Ferner war die Improvisation von großer aufführungspraktischer Bedeutung im
Generalbass-Spiel, bei Ornamenten, Variationen, in der barocken
Verzierungspraxis sowie beim Interpretieren von Stücken, die auf
Ostinatobässen (Ground, Folia, Romanesca, Passacaglia, Chaconne etc.)
beruhen. Im 20. Jahrhundert spielt die Improvisation bei der Aleatorik und in
grafischen Notationsformen eine Rolle sowie im Jazz als Einzel- oder
Gruppenimprovisation.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden sogar Versuche
unternommen, Maschinen zu bauen, die das wertvolle „Fantasieren“ und
Improvisieren von großen Musikern aufzeichnen konnten. So wurde eine solche
„Fantasiemaschine“ im Jahr 1752 von Johann Friedrich Unger konstruiert und
im Jahr 1753 von Johann Hohlfeld technisch realisiert. Diese Maschine war
offensichtlich ein Misserfolg, da die Übertragung der Aufzeichnungen der
Maschine in einen normalen Notentext sehr umständlich war. Es sind leider
keine auf diese Art aufgezeichneten Improvisationen überliefert. 5
Die bedeutende Rolle der Improvisation lässt sich zum Beispiel in Ph. E. Bachs
„Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ erkennen. Diese im Jahr
1753 erschienene Klavierschule wurde das Standardwerk für die folgenden
Jahrzehnte. Darin beschreibt Ph. E. Bach ausführlich die verschiedenen
Formen von Verzierungen und freien Improvisationen. Er unterscheidet notierte
„wesentliche Manieren“ (Verzierungen) von „freien“ oder „willkürlichen
Manieren“ (Improvisationen):
„Die Manieren lassen sich sehr wohl in zwey Classen abtheilen. Zu den ersten
rechne ich diejeniegen, welche man theils durch gewisse angenommene
Kennzeichen, theils durch wenige kleine Nötgen anzudeuten pflegt; zu der
5
Improvisation (Musik), in: Wikipedia, [online verfügbar:
http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation_%28Musik%29 30.11.2011]
11
andern können die übrigen gehören, welche kein Zeichen haben und aus vielen
kurzen Noten bestehen.“ 6
Er schreibt weiters: „Diesem ohngeachtet stehet es jedem, wer die
Geschicklichkeit besitzet, frey, außer unsern Manieren weitläuftigere
einzumischen. Nur brauche man hierbey die Vorsicht, daß dieses selten, an
dem rechten Orte und ohne dem Affecte des Stückes Gewalt zu thun geschehe.
Man wird von selbst begreifen, daß zum Exempel die Vorstellung der Unschuld
oder Traurigkeit weniger Auszierung leidet, als andere Leidenschaften. Wer
hierinnen das nöthige in Obacht nimmt, den kann man für vollkommen paßiren
lassen, weil er mit der singenden Art sein Instrument zu spielen, das
überraschende und feurige, welches die Instrumente vor der Singe-Stimme
voraus haben, auf eine geschickte Art verknüpfet, und folglich die
Aufmerksamkeit seiner Zuhörer durch eine beständige Veränderung vorzüglich
aufzumuntern und zu unterhalten weiß.“
7
Die Improvisation verlor ihre überragende Bedeutung in jenen musikalischen
Formen (insbesondere in der Sonatenform), die das 19. Jahrhundert
dominierten. Dennoch waren jene Komponisten der „Wiener Klassik“, die die
Sonatenform zu ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung entwickelten, auch
berühmte Improvisatoren – zum Beispiel Mozart oder Beethoven. Erst gegen
Ende des 19. Jahrhunderts verschwand die Improvisation weitgehend aus der
Aufführungspraxis.
1.2. IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER
KLAVIERMUSIK
In der Geschichte der Alten Musik spielt die Improvisation eine hervorragende
Rolle. Bis in die Epoche des Barock wurde Instrumentalmusik zum größten Teil
improvisiert. Im Mittelalter wurde ausschließlich über einstimmige Melodien
improvisiert. Eine der bekanntesten Sammlungen solcher Themen ist die
6
Carl Philipp Emanuel Bach, „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ 1753. Zitiert nach:
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 22.
7
Carl Philipp Emanuel Bach, „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ 1753. Zitiert nach:
Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 22.
12
mittelalterliche Liedersammlung „Codex verus“. 8 Wie im Jazz des 20.
Jahrhunderts wurde im Mittelalter über damals sehr bekannte „Standards“
improvisiert. Es bestehen deutliche Parallelen zu heutigen „Realbooks“.
Es war die Aufgabe der Musiker, aus den „Mittelalter-Standards“ Musikstücke
zu machen. Dazu bedienten sie sich der Vor-, Zwischen- und Nachspiele. Die
Melodien wurden häufig zweistimmig variiert, wobei die Musiker Quart- und
Quintparallelen verwendeten oder eine zweite Stimme frei improvisierten.
Die „Troubadours“ (Dichtermusiker im 11. Jahrhundert in Südfrankreich) sangen
auf der Basis von Kirchentonarten und ließen sich dabei von Instrumentalisten
(Fiedel, Laute, Harfe) begleiten. Diese Begleitungen erfolgten meist in der Form
der so genannten „Heterophonie“ - eine mehrfach wiederholte gleichbleibende
Melodie wurde mit improvisierten Variationen und Verzierungen angereichert
sowie mit Vor-, Zwischen- und Nachspielen.
In der Renaissance entwickelte sich eine eigenständige Instrumentalmusik, die
ebenfalls weitgehend improvisiert wurde. Diese diente als Begleitung zu Tanz,
Gesang oder als Untermalung und Unterhaltung bei festlichen Anlässen.
Die Musik der Renaissance wurde nur in groben Notenwerten notiert. Damals
entwickelten sich die musikalischen Formen der Ricercaren, Tokkaten,
Kanzonen, Sonaten usw. Wie im Mittelalter gab es auch in der Renaissance
häufig verwendete und bekannte Melodiemodelle. Diese wurden in
pädagogischen Lehrbüchern gesammelt. Damals gab es noch kein
eigenständiges Repertoire für Claviere – die Kompositionen für
Tasteninstrumente wurden auch auf der Orgel interpretiert. Die Lehrbücher für
Orgel aus dem 15. Jahrhundert (zum Beispiel: Fundamenta) enthielten
Anweisungen und Beispiele für das „Absetzen“ (aus dem Stegreif
Vokalkompositionen an die Möglichkeiten eines Tasteninstrumentes
anzupassen), für die Bearbeitung eines cantus firmus, für das Präludieren und
für Tanzimprovisationen.
In der Zeit des Barock zählte die Fähigkeit zum Improvisieren ausnahmslos
zum professionellen Spiel von Tasteninstrumenten wie Orgel und Cembalo. So
8
Improvisation (Musik), in: Wikipedia, [online verfügbar:
http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation_%28Musik%29 30.11.2011]
13
war es etwa bei den Prüfungen von Organisten selbstverständlich, dass diese
ihre Fähigkeiten durch Improvisationen nachweisen mussten. Die Wiedergabe
von vorbereiteten Kompositionen („Handstücke“) war unzulässig. Ferner galt es
als selbstverständlich über vorgegebenen Themen Fugen improvisieren zu
können.
Der Generalbass bzw. der bezifferte Bass wurde aus dem Stegreif auf der
Orgel und am Cembalo ausgeführt sowie durch improvisierte Ornamente
verziert. Die bereits erwähnten „freien“ oder „willkürlichen Manieren“ wurden in
Rahmen der Aufführungspraxis langsamer Sätze unbedingt gefordert.
Der berühmteste Improvisator der späten Barockzeit war J.S. Bach. Besonders
bekannt wurde seine Einladung zu Friedrich dem Großen 1747. Bei diesem
Anlass soll J.S.Bach aus dem Stegreif eine dreistimmige Fuge improvisiert
haben. Darüber konnte man in den „Berlinischen Nachrichten“ am 11.5.1747
Folgendes lesen:
„Aus Postdam vernimmt man, daß daselbst verwichenen Sontag der berühmte
Kapellmeister aus Leipzig, Herr Bach, eingetroffen ist, in der Absicht, das
Vergnügen zu geniessen, die dasige vortreffliche Königl. Music zu hören. Des
Abends, gegen die Zeit, da die gewöhnliche Cammer-Music in den Königl.
Apartements anzugehen pflegt, ward Sr. Majestät berichtet, daß der
Capelmeister Bach in Postdam angelanget sey, und daß er sich itzt in Dero Vor
Cammer aufhalte, allwo er Dero allergnädigste Erlaubniß erwarte, der Music zu
hören zu dürfen. Höchstdieselben ertheilten sogleich Befehl, ihn herein
kommen zu lassen, und giengen bey dessen Eintritt an das sogenante Forte
und Piano, geruheten auch, ohne einege Vorbereitung in eigner höchster
Person dem Capellmeister Bach ein Thema vorzuspielen, welches er in einer
Fuga ausführen sollte. Es geschahe dieses vom gemeldeten Capelmeister so
glücklich, daß nicht nur Se. Majestät Dero allegnädigstes Wohlgefallen darüber
zu bezeigen beliebten, sondern auch sämtliche Anwesenden in Verwunderung
gesetzt wurden.“
9
9
Berlinische Nachrichten, 11.5.1747, zitiert in J. S. Bach-Dokumente, Kassel. 1975. Zitiert nach: Uli
Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 18.
14
Zu den „sämtlichen Anwesenden“ zählte sicher auch Carl Philipp Emanuel
Bach, der zwanzig Jahre lang Musiklehrer und Begleiter Friedrichs des Zweiten
war.
Auch die anderen berühmten Komponisten der Barockzeit waren große
Improvisatoren. G. F. Händel improvisierte zwischen den Akten seiner Oratorien
auf der Orgel. In seinen Kompositionen gibt es zahlreiche „organo ad libitum“ –
Stellen. Auch Vivaldi erwartete bei der Aufführung seiner Instrumentalkonzerte
Improvisationen und freie Auszierungen.
Die bedeutendsten Improvisatoren der Wiener Klassik waren Mozart und
Beethoven. Mozart konnte - wie J.S.Bach - Fugen improvisieren. Er schreibt
über seine Frau Konstanze: „[…] weil sie mich nun öfters aus dem kopfe fugen
spiellen gehört hat, so fragte sie mich ob ich noch keine aufgeschrieben hätte?
und als ich ihr Nein sagte, so zankte sie mich recht sehr daß ich eben das
künstlichste und schönste in der Musick nicht schreiben wollte; und gab mit
bitten nicht nach, bis ich ihr eine fuge aufsetzte, und so war sie.“ 10
Harold C. Schonberg beschreibt in seinem Buch „The Great Pianists“ eine
Konzertreise des vierzehnjährigen Mozart mit seinem Vater durch Italien. Ein
typisches Konzertprogramm bestand damals aus einer Sinfonie, einem
Klavierkonzert und improvisierten Variationen, Sonaten und Fugen. Auch noch
1783 beschreibt Mozart in einem Brief an seinen Vater das Programm eines
von ihm veranstalteten Konzertes, dass selbstverständlich neben Sinfonien,
Arien und Klavierkonzerten eine improvisierte Fuge und improvisierte
Variationen über Themen aus bekannten Opern beinhaltete. 11
Berühmt wurde das Wettspiel Mozarts gegen Clementi 1781 bei Kaiser Josef II.
Auch bei diesem Anlass wurde von beiden Komponisten überwiegend
improvisiert: „Clementi led off with an improvised prelude and his Sonata in B
flat (Op. 47, No. 2). (Mozart, even though he sneered at Clementi’s music, used
the opening theme of this sonata in the Magic Flute Overture.) Then Clementi
followed with one of his specialities, a toccata featuring thirds and other double
10
W. A. Mozart, Brief vom 20.4.1782. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in
historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 47.
11
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 36.
15
notes. Now it was Mozart’s turn. He too improvised a prelude, and followed with
a set of variations. The Grand Duchess prodeced some sonatas of Paisiello
(‘wretchedly written out in his own hand,’ later complained Mozart), and both
pianists read them off at sight, Mozart playing the allegros, Clementi the
adagios, rondos. Both were asked to select a theme from one of these sonatas,
developing it on two pianos. Presumably Mozart would have taken a theme and
played it, Clementi noting the harmonies. Then Clementi would have
accompanied Mozart on the second piano while Mozart developed his material.
And vice versa. It probably ended with a grand two-piano splash, in which all
the melodic fragments were woven together. “ 12
Das Ergebnis dieses Wettspiels war umstritten. Mozart selbst hielt sich für den
Sieger und bezeichnete Clementi in einem Brief an seine Schwester als
„Scharlatan – wie alle Italiener“, dessen Kompositionen „wertlos“ seien. 13
Dieses negative Urteil mag auch darin begründet sein, dass Clementi in einem
völlig anderen Klavierstil spielte, als Mozart. Clementi hat das durchgehende
Legatospiel entwickelt, das auch Beethoven übernommen hat, das aber Mozart
fremd war.
Beethoven war laut Czerny ein besserer Improvisator als Interpret seiner bereits
veröffentlichen Kompositionen. Über Beethovens Improvisieren schreibt Czerny
in seinen Erinnerungen:
„Beethovens Improvisieren, wodurch er in den ersten Jahren nach seiner
Ankunft in Wien das meiste Aufsehen erregte, und selbst Mozarts
Bewunderung gewann, war von verschiedener Art, ob er nun auf
selbstgewählte oder auf gegebene Themen fantasierte. Erstens: In der Form
des ersten Satzes oder des Final-Rondo einer Sonate, wobey er den ersten Teil
regelmäßig abschloß, und in demselben auch in der verwandten Tonart eine
Mittelmelodie etc. anbrachte, sich aber dann im zweiten Teile ganz frei, jedoch
stets mit allen möglichen Benützungen des Motivs, seiner Begeisterung
überließ. Im Allegrotempo wurde das ganze durch Bravourpassagen belebter,
die meist noch schwieriger waren, als jene, die man in seinen Werken findet.
12
13
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 52.
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 54.
16
Zweitens in der freien Variations-Form ungefähr wie seine Chorfantasie op. 80
oder das Chorfinale der 9. Sinfonie, welche beyde ein treues Bild seiner
Improvisation dieser Art geben. Drittens. In der gemischten Gattung, wo
potpourri-artig ein Gedanke dem anderen folgt, wie in seiner Solo-Fantasie op.
77. Oft reichten ein paar einzelne, unbedeutende Töne hin, um aus denselben
ein ganzes Tonwerk zu improvisieren.“ 14
Außerordentlich interessant ist auch die detaillierte Beschreibung Beethovens
Klavierspiel durch seinen Sekretär Schindler. Schindler berichtet, wie
Beethoven selbst seine Klaviersonaten op.14, Nr. 1 und 2 gespielt hat.
Beethoven hat offensichtlich auch seine veröffentlichten Kompositionen sehr
frei gespielt, ohne ein durchgehendes Tempo einzuhalten. Schonberg schreibt:
„[…] Beethoven was no metronome […] The pianist who tried it [nämlich heute
wie Beethoven zu spielen] would be laughed off the stage as an incompetent, a
stylistic idiot who knew nothing about the Beethoven style, and as a bungler
who was incapable of adhering to a basic tempo.“
15
Beethovens außerordentliche Fähigkeit zum Improvisieren wurde auch im
Wettspiel mit Joseph Gelinek deutlich. Laut Carl Czerny waren die
berühmtesten Pianisten jener Zeit Joseph Gelinek (1758 - 1825, Klavierlehrer
aus Böhmen), Joseph Wölfl (1773 – 1812, Salzburger Pianist und Komponist)
und Josef Lipavsky (1772 – 1810, Böhmischer Komponist). Czerny schreibt in
seinen „Erinnerungen aus meinem Leben“: „Ich erinnere mich noch jetzt, als
eines Tages Gelinek meinem Vater erzählte, er sey für den Abend in eine
Gesellschaft gebeten, wo er mit einem fremden Clavieristen eine Lanze
brechen sollte. ‚Den wollen wir zusammenhauen‘, fügte Gelinek hinzu.
Den folgenden Tag fragte mein Vater den Gelinek, wie der gestrige Kampf
ausgefallen sey? ‚O!‘ – sagte Gelinek ganz niedergeschlagen, ‚an den gestrigen
Tag werde ich denken ! In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie hab‘ ich
so spielen gehört! Er fantasierte auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich
selbst Mozart nie fantasieren gehört habe. Dann spielte er eigene
Compositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig sind, und er
14
Carl Czerny in seinen Erinnerungen. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in
historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 63.
15
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 91.
17
bringt auf dem Clavier Schwierigkeiten und Effecte hervor, von denen wir uns
nie haben etwas träumen lassen.‘
‚Ey,‘ sagte mein Vater, ‚wie heißt dieser Mensch?‘
‚Er ist,‘ antwortete Gelinek, ‚ein kleiner, häßlicher, schwarz und störrisch
aussehender junger Mann, den der Fürst Lichnowsky vor einigen Jahren aus
Deutschland hierher gebracht, um ihn bey Haydn, Albrechtsberger und Salieri
die Composition lernen zu lassen, und er heißt Beethoven.“
16
Bei diesem Wettspiel war – im Unterschied zu dem bereits erwähnten Wettspiel
Mozart gegen Clementi – der Sieger eindeutig. Gelineks Talent dürfte über
konventionelle Variationen nicht hinausgegangen sein. Er soll später
Beethovens Klavierspiel vor dessen Wohnung belauscht haben, um
anschließend Variationen über von Beethoven gestohlenen Themen zu
komponieren. Beethoven fühlte sich durch Gelineks Verhalten so sehr belästigt,
so dass er schließlich 1794 in eine Wohnung übersiedelte, wo sein Klavierspiel
nicht mehr abgehört werden konnte. Beethoven bezeichnete Gelinek wie auch
viele andere Pianisten seiner Zeit als seine „Todfeinde“.
17
Auch Johann Nepomuk Hummel soll ein großer Improvisator gewesen sein.
Während Hummel als Komponist heute weitgehend in Vergessenheit geraten
ist (in den Programmen der heutigen Konzertpianistinnen und -pianisten spielt
er praktisch keine Rolle mehr), galt er um 1800 und danach als der
bedeutendste Pianist seiner Zeit und war als solcher neben Joseph Wölfl der
schärfste Konkurrent Beethovens. Hummel war ein bedeutender Klavierlehrer,
zu seinen Schülern zählten Ferdinand Hiller (1811 – 1885, deutscher
Komponist, Dirigent und Musikpädagoge), Adolf Henselt (1814 – 1889,
deutscher Komponist und Klaviervirtuose der Spätromantik), Sigismund
Thalberg (1812 – 1871, österreichischer Komponist und Klaviervirtuose) und für
kurze Zeit Felix Mendelssohn Bartholdy. Franz Liszt, der Schüler Carl Czernys
16
Carl Czerny, Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethoven’schen Klavierwerke, nebst
Czerny’s, Erinnerungen an Beethoven, Herausgegeben und kommentiert von Paul Badura-Skoda, Wien
1963,
S. 10.
17
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S.71.
18
war, wollte eigentlich bei Hummel Unterricht nehmen, konnte sich aber das von
Hummel geforderte hohe Honorar für die Klavierstunden nicht leisten.
Der junge Hummel lebte zwei Jahre in der Wohnung Mozarts, der ihm
kostenlosen Klavierunterricht gab. Unter seinen Werken für Klavier solo waren
vor allem jene Kompositionen besonders einflussreich, die aus Formen der
Improvisation entstanden sind, wie etwa die Fantasie Op. 18. Seine
Klavierkompositionen übten vor allem auf Franz Schubert und Felix
Mendelssohn Bartholdy großen Einfluss aus. In der Kammermusik bildete sein
Quintett Op. 87 (mit Kontrabass) das Vorbild für Schuberts „Forellenquintett“.
Laut Czerny konnte niemand auf einem so hohen technischen Niveau
improvisieren, wie Hummel. Diesem Urteil schloss sich auch Louis Spohr
(1784–1859, deutscher Komponist, Dirigent, Geiger) an. Hummel soll einmal
eineinhalb Stunden über ein Thema von Daniel-Francois-Esprit Auber (1782 –
1882, französischer Komponist) improvisiert haben. Nach Beethovens Tod und
auf dessen eigenen Wunsch improvisierte Hummel im Rahmen der Trauerfeier
über Themen des Verstorbenen.
Da Hummel bei seinen Auftritten als Pianist die leichtgängigen und hell
klingenden Wiener Hammerflügel gegenüber den dynamischeren englischen
Flügeln bevorzugte und seine Kompositionen im Vergleich zur Musik der frühen
Romantiker konventionell klangen, verringerte sich seine Bedeutung und sein
Einfluss gegen Ende seines Lebens.
Bei den Pianisten in der Zeit der Romantik standen neben der Fähigkeit zur
Improvisation das Vorführen technischer Tricks und das Hervorheben der
Virtuosität im Vordergrund. Der Virtuose war der König. Berühmt wurde zum
Beispiel der böhmische Pianist Alexander Dreyschock (1818 – 1869,
böhmischer Komponist und Klaviervirtuose) für seine technischen Zaubereien.
Er hatte sich auf das schnelle Oktaven-Spiel spezialisiert und konnte die
schnellen Passagen der linken Hand in Chopins „Revolutionsetüde“ in Oktaven
spielen! Diese Tradition hat sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in
Einzelfällen erhalten. So hat etwa Leopold Godowsky (1870 – 1938, polnischamerikanischer Pianist und Komponist) eine Paraphrase über Chopins
„Revolutionsetüde“ für die linke Hand allein geschrieben.
19
In der Zeit der Romantik galt es als selbstverständlich, die Werke der
Komponisten aus der Zeit der Wiener Klassik zu virtuosen Schaustücken
umzuarbeiten. Auch die Werke von J.S. Bach wurden von den Pianisten auch
noch in der Zeit der Spätromantik zum Teil in Bearbeitungen interpretiert.
Der berühmteste Pianist und Improvisator der Romantik war Franz Liszt. Er gab
die ersten Solokonzerte als Pianist. Schonberg stellt dazu fest, dass Liszt in
seinen Klavierabenden klassische Kompositionen in einem Ausmaß bearbeitet
und arrangiert hat, dass sie nicht wiedererkennbar gewesen sein dürften. Dies
gilt vor allem für die Zeit von 1840 bis 1850. 18
Zu den berühmtesten Pianistinnen des 19. Jahrhunderts zählen Marie MokePleyel und Clara Schumann. Marie Moke-Pleyel (1811 – 1875) war eine
französisch-belgische Pianistin, die als eine der bedeutendsten ihrer Zeit galt.
Sie war Schülerin von berühmten Pianisten wie etwa Ignaz Moscheles und
Friedrich Kalkbrenner. Mit zwölf Jahren gab sie ihr erstes Konzert. 1931
heiratete sie Camile Pleyel, den Sohn des Komponisten und
Klavierproduzenten Ignaz Josef Pleyel.
Zu ihren unzähligen Bewunderern zählten Felix Mendelssohn Bartoldy, Frederic
Chopin, Robert Schumann, Hector Berlioz und Franz Liszt. Sie konzertierte in
vielen europäischen Städten und wurde 1848 an das Konservatorium in Brüssel
als Professorin für Klavier berufen.
Clara Schumann (geborene Wieck, 1819 – 1896) wurde von ihrem Vater,
Friedrich Wieck, am Klavier unterrichtet. Sein Unterricht dürfte streng und
autoritär gewesen sein. Unter seinem Einfluss konzentrierte sie sich auf
Kompositionen von Friedrich Kalkbrenner, Camille Pleyel oder Ignaz
Moscheles. Erst unter dem Einfluss von Robert Schumann (den sie 1840
heiratete) begann sie sich intensiv mit J. S. Bach und den Klaviersonaten von L.
v. Beethoven zu beschäftigen. Auch als Komponistin war sie schon in jungen
Jahren aktiv. Später versuchte Robert Schumann (der sich ihr gegenüber
ähnlich autoritär verhalten haben dürfte wie ihr Vater) ihren Kompositionsstil
nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen.
18
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 177.
20
Als Konzertpianistin erneuerte sie das traditionelle Programm: Anstelle
eingängiger Virtuosenstücke traten Sonaten von Ludwig van Beethoven sowie
die Werke von Robert Schumann und später die von Johannes Brahms. Sie
lehnte Franz Liszt vollständig ab. Darüber schreibt Schonberg: „She deliberately
set herself up as the keeper of the tradition, and when the name of Liszt was
mentioned she picked up her skirt and moved fastidiously away.” 19 Clara
Schumann dürfte die erste Pianistin gewesen sein, die in ihren Konzerten nur
mehr auswendig spielte.
In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass bis ungefähr
1835 jedes Konzert einer Pianistin oder eines Pianisten mit einer Improvisation
endete. Erst ab ca. 1860 kamen die Potpourris, die akrobatischen Kunststücke
und die Improvisationen aus der Mode. Die Künstler wurden zu „Interpreten“.
Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ging die Kunst der Improvisation
bei den Interpreten der „ernsten Musik“ weitgehend verloren. Eine allerletzte
Ausnahme war Mary Wurm, eine Pianistin, Improvisatorin, Dirigentin und
Komponistin. Mary Wurm studierte 1880 bis 1882 bei Clara Schumann, die
allerdings mit deren Interpretationen unzufrieden gewesen sein dürfte. Mary
Wurm sorgte 1895 für viel Aufsehen, als sie in London ein Konzert gab, das
ausschließlich aus Improvisationen bestand. Die Themen für diese
Improvisationen wurden ihr erst vom Publikum am Beginn der Veranstaltung in
einem Umschlag überreicht. Mary Wurm war imstande, über diese Themen
auch über in ihr vorgegebenen musikalischen Formen (Fuge, Suite, viersätzige
Sonate) zu improvisieren.
20
Die Aussage, dass die Kunst der Improvisation im 20. Jahrhundert verloren
ging, gilt allerdings nur unter Einschränkungen. In der Kirchenmusik spielt die
Improvisation auf der Orgel sowohl während der Ausbildung als auch in der
Spielpraxis bis heute eine hervorragende Rolle. Auch in der neuen „ernsten
Musik“ finden sich Formen der Improvisation (Aleatorik, grafische Notation). Im
„Jazz“ erlebte die Improvisation eine neue Blüte und wird heute als
Selbstverständlichkeit empfunden. (Eine spezielle Form der Improvisation war
19
Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 235.
Ulrike Keil / Markus Gärtner: Mary Wurm [online verfügbar: http://www.sophie-drinkerinstitut.de/cms/index.php?page=wurm-mary 15.12.2011]
20
21
allerdings auf die Zeit von 1900 bis 1930 beschränkt: die improvisierte
Begleitmusik zum Stummfilm.)
In der Organistenausbildung ist bis heute das liturgische Orgelspiel (jene
Orgelmusik, die im direkten Zusammenhang mit dem liturgischen Geschehen
im Gottesdienst und dem Gemeindegesang steht) ein Hauptfach. Im
liturgischen Orgelspiel wird über ein geistliches Lied oder einen liturgischen
Gesang improvisiert. Diese Art des Orgelspiels fand seit der karolingischen Zeit
mit dem Bau von Orgeln Eingang in die abendländische Kirche. Improvisationen
auf der Orgel wurden während des Aus- und Einzugs der Gemeinde und der
Einleitung der Gesänge durchgeführt. Grundlage der liturgischen Improvisation
ist das Choralspiel, das genaue Kenntnisse der Harmonielehre und des
Kontrapunkts voraussetzt. Improvisiert werden zwei bis vierstimmige Sätze. Da
sich die vorliegende Arbeit aber mit der Rolle der Klavierimprovisation in der
klassischen Musik und nicht mit der Orgelimprovisation beschäftigt, wird das
Thema des liturgischen Orgelspiels im Weiteren nicht mehr behandelt.
In der „Neuen Musik“ spielt die Improvisation manchmal eine hervorragende
Rolle, zum Beispiel in jenen Extremfällen, wo den ausführenden
Instrumentalisten lediglich eine Grafik als Partitur vorliegt. Da eine „grafische
Notation“ keine konkreten Hinweise darüber enthält, welche Art von Musik zu
spielen ist, liegt hier zwar keine „freie“, aber doch eine extreme Form der
Improvisation vor.
In den Aufforderungen zur Improvisation in Rahmen der „Neuen Musik“ kann
man eine Reaktion auf den strengen Serialismus der Komponisten in der
Schule der Zwölftontechnik sehen, wo sämtliche musikalischen Parameter
durch die Reihentechnik festgelegt worden waren. In den 50er und 60er Jahren
des 20. Jahrhunderts begannen einige Komponisten damit, den Interpreten
ihrer Werke verschiedene Grade der Improvisationsfreiheit zuzugestehen. Dies
erfolgte zum Beispiel durch die Möglichkeit aleatorischer Entscheidungen,
seltener wurden die ausführenden Musiker direkt zu Improvisation aufgefordert.
In den letzten Jahren entstanden Versuche der Annäherung zwischen der
„Neuen Musik“ und dem „Free Jazz“. (Siehe unten)
22
Jene Musikrichtung des 20. Jahrhunderts, die der Improvisation eine
überragende Rolle zukommen lässt, ist der Jazz. Jazz ist eine ungefähr um
1900 in den Südstaaten der USA entstandene, überwiegend von
Afroamerikanern entwickelte Musikrichtung, die auf der Tradition der
Straßenmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruht. Diese Musik
wurde von sogenannten „Brass Bands“ (schwarze, aber auch weiße
Blasmusikkapellen) zu unterschiedlichen Anlässen gespielt. „Brass Bands“
kombinierten Elemente des Blues und der kreolischen Musik mit der
europäischen Musiktradition. Bereits in diesem „archaischen Jazz“ gab es
Elemente der Improvisation.
21
Um ca. 1890 entstand der „Ragtime“, ein ausnotierter schneller Klavierstil, bei
dem die linke Hand des Pianisten die Rhythmusgruppe einer Band ersetzte.
Auch im Ragtime gab es bereits improvisatorische Elemente - die frühen
Ragtime-Pianisten konnten oft keine Noten lesen. Dazu schreibt Ingeborg
Harer „Besonders unter den schwarzen Pianisten gab es einige, die das
Notenlesen nicht beherrschten und schon dadurch gezwungen waren, sich an
den schriftlos verbreiteten, musikalischen Konventionen zu orientieren. Die
beliebtesten Methoden, ein Musikstück individuell zu gestalten, waren das
Einfügen von chromatischen Läufen, Glissando- und Tremolo-Effekten.“
22
Der bekannteste Komponist des Ragtime-Stils war Scott Joplin (der erst wieder
durch den Film „Der Clou“ 1973 populär wurde). Aus der Spannung zwischen
dem durchgehenden Beat und der synkopierten Melodik entwickelten sich die
ersten Ansätze des Swing.
Weniger nach ausnotierten Musikstücken, eher in Richtung des späteren Jazz
spielte der Pianist Jelly Roll Morton in New Orleans. „Ende der dreißiger Jahre
konnte man auf den Straßen Harlems einem Mann begegnen, der allen
Vorüberkommenden, die geduldig genug waren ihm zuzuhören, erklärte, daß
die Musik, die in den zahllosen Bars, Nachtclubs und Ballrooms gespielt wurde
und mit der viele Swingmusiker das große Geld verdienten, eigentlich seine
Musik sei. Er habe den Jazz erfunden, sagte er, und ‚bis 1926, als ich mich in
21
Ingeborg Harer, Ragtime, in: Mellonee Burnim / Portia Maultsby, African American Music, New York
2006 S. 127 – 144.
22
Ingeborg Harer, Ragtime – Versuch einer Typologie, Tutzing 1989, S. 52.
23
New York niederzulassen beschloß, hatten sie hier nicht die blasseste Ahnung
davon, was richtiger Jazz war‘“. 23 Ob Morton tatsächlich um 1902 den Jazz
„erfunden“ hat ist umstritten. Richtig ist aber, dass in New Orleans um die
Wende von 19. zum 20. Jahrhundert eine riesige Vergnügungsindustrie
existierte, die den gesellschaftlichen Rahmen für die Entwicklung des Jazz
darstellte.
Die erste Schallplatte in der Geschichte des Jazz wurde von der – aus weißen
Musikern bestehenden – „Original Dixieland Jass Band“ des Trompeters Nick
LaRocca am 26. Februar 1917 eingespielt. Diese enthielt noch weitgehend
Kollektivimprovisationen. Erst am 12. November 1925 spielte Louis
Armstrong’s „Hot Five“ die (vermutlich) ersten Aufnahmen ein, bei der Soli der
Instrumentalisten die Kollektivimprovisation des früheren Jazz teilweise
ablösten.
Die kommerziell erfolgreichste Phase in der Geschichte des Jazz war die
„Swing-Ära“ vom Ende der 1920er Jahre bis Mitte der 1940er Jahre. Der
„Swing“ hatte in den 1930er Jahren seinen Durchbruch als schnelle Tanzmusik.
In diesen Jahren entstand die erste musikalische „Jugendkultur“, deren Stars
die Bandleader Benny Goodman, Artie Shaw, Duke Ellington und Count Basie
waren.
Als Reaktion auf Jazz als „Unterhaltungsmusik“ entwickelte sich seit den 1940er
Jahren mit dem Bebop der Modern Jazz, der versuchte, die stereotypen
Klischees der kommerziellen Swingmusik durch eine erweiterte Harmonik und
den Primat der Improvisation über die Arrangements zu überwinden. Der
Modern Jazz war nicht mehr als Tanzmusik konzipiert. Auch die auf den Bebop
folgenden Formen des Jazz (Afro Cuban Jazz, Hard Bop und Soul Jazz) waren
durch den Primat der Improvisation charakterisiert. Lediglich im „Cool Jazz“ der
1950er Jahre entstanden wieder komplexe, vielstimmige Arrangements, die die
Improvisation einschränkten.
Mit dem „Free Jazz“ entstanden ab etwa 1957 freiere Spielweisen, in denen
sich die Jazzmusiker schrittweise von der Jazzharmonik lösten. „Free Jazz“
wurde zum historischen Begriff für freies, ungebundenes Improvisationsspiel.
23
Michael Jacobs, All That Jazz – Die Geschichte einer Musik, Stuttgart 1996, S.18.
24
Im zeitgenössischen „Avantgarde Jazz“ kehren allerdings durchgehende Metren
wieder. 24
24
Free Jazz, in: Wikipedia, [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Free_Jazz 5.1.2012]
25
KAPITEL 2. IMPROVISATION IN DER HEUTIGEN SPIELPRAXIS
KLASSISCHER MUSIK
Im Folgenden wird die Bedeutung von ausgewählten Pianistinnen und
Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts analysiert, die versuchten und
versuchen, Elemente der Improvisation in der Tradition „klassischer“
Komponisten und Interpreten neu zu beleben. Am Beispiel von Friedrich Gulda,
Robert Levin und Gabriela Montero werden solche improvisatorische Aspekte
untersucht. Der Schwerpunkt wird dabei auf der historischen Rolle von Friedrich
Gulda liegen, obwohl er selbst in seinen Studioproduktionen klassischer Werke,
wie z.B. Kompositionen von J.S.Bach, Mozart oder Beethoven, nur selten – im
Gegensatz zu seinen Konzertauftritten – improvisierte Elemente eingeführt hat.
Seine Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit liegt aber darin, dass er die
Trennung von Interpreten und Komponisten sowie die Trennung von
Improvisation und Interpretation notierter Werke grundsätzlich in Frage gestellt
hat: „Pianisten, die nicht selbst komponieren, sind für mich keine Musiker im
vollen Sinne des Wortes, sondern sie spielen halt zum x-ten Mal mehr oder
weniger gut die sicher großartig angeordneten Noten von fremden Leuten, die
nota bene meist schon lang tot sind. Ich halte die Trennung von Interpreten und
Komponisten für eine Degenerationserscheinung, die im 19. Jahrhundert
begann und mit dem Erscheinen der Jazzmusik zum Glück unterging.“
25
2.1. DER „MUSIKALISCHE REVOLUTIONÄR“ FRIEDRICH
GULDA
Friedrich Gulda wurde 1930 in Wien geboren, begann im Alter von sieben
Jahren mit dem Klavierspiel und nahm 1942 ein Musikstudium bei Bruno
Seidlhofer (Klavier) und Joseph Marx (Musiktheorie und Komposition) an der
Wiener Musikakademie, der heutigen Universität für Musik und darstellende
Kunst Wien, auf. Seine Konzentration auf das Musikstudium hatte zur Folge,
dass er das Gymnasium in der sechsten Klasse, abbrach. (Angeblich verließ er
25
Friedrich Gulda, Ich will keine lebende Leiche sein. Zitiert nach: ZEIT ONLINE Nr. 23/1989, [online
verfügbar: http://www.zeit.de/1989/23/ich-will-keine-lebende-leiche-sein 5.1.2012]
26
während einer Mathematikstunde die Klasse um die Schule nie wieder zu
betreten.) Gulda beendete sein Studium in Wien 1947 mit der Reifeprüfung an
der Musikakademie: „Da war das vollständige Professorenkollegium
versammelt, und die haben – wie sie sehr wohl wußten – zum letzten Mal ein
Gulda-Konzert gratis gehört. Sie haben mich, ich glaube drei Stunden spielen
lassen.“
26
Am Beginn seiner Karriere als klassischer Pianist steht sein Sieg im
internationalen Genfer Musikwettbewerb 1946 mit sechzehn Jahren. (Den
letzten Genfer Wettbewerb vor dem zweiten Weltkrieg hatte 1939 Benedetti
Michelangeli gewonnen.) Die Teilnahme und der Sieg waren für die weitere
Entwicklung Guldas von zweifacher Bedeutung.
Einerseits begründete sein Erfolg in Genf seine überaus schnelle Karriere als
klassischer Pianist. In der Folge gab er zahlreiche Klavierabende in
verschiedenen Kontinenten und trat bereits mit zwanzig Jahren mit großem
Erfolg in der „Carnegie Hall“ in New York auf. Andererseits stellt Leila Hossein
dazu fest: „Zu diesem Zeitpunkt war er […] am Zenit seines Erfolges angelangt.
Es machte ihn zwar sehr glücklich, so erfolgreich zu sein, aber trotzdem hatte
er in diesem Alter mit der klassischen Musik schon mehr erreicht als andere in
einem ganzen Leben. Es war die Zeit, in der er sich immer mehr mit Jazz
beschäftigte. Er sammelte Jazzplatten und ging nach seinen eigenen Konzerten
immer öfters in Jazzclubs.“
27
Als Jazzmusiker war Friedrich Gulda Autodidakt. Er beschreibt seine erste
Beschäftigung mit Jazz folgendermaßen: „Der Zeitpunkt, wo ich mich damals
gefragt habe, was willst du musikalisch eigentlich, fällt mit meiner Reise 1946
zu diesem Wettbewerb in Genf zusammen. Ich wurde dort in einem Haus
aufgenommen, wo die Söhne, alle in meinem Alter, eingefleischte Jazzfans
waren. Das hatte zur Folge, daß dort Tag und Nacht die 78er Schellackplatten
mit Musik von Count Basie, Duke Ellington, Charlie Parker, Dizzy Gillespie,
26
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990,
S. 52.
27
Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 8.
27
Dexter Gorden usw. liefen.[ …] Ich fand diese Musik am Anfang wirklich
ziemlich widerlich.“ 28
Seine Entwicklung zum Jazzpianisten fand durch seine Praxis in den Jazzclubs
statt. Der erste Höhepunkt in dieser zweiten Karriere war für Gulda sein Auftritt
im „Birdland“ 1956 in New York.
Die Begegnung mit dem Jazz hat Guldas weitere Entwicklung als Musiker sowohl als Interpret als auch als Komponist - entscheidend geprägt. Der Jazz
hat sein Leben verändert: „Das Motiv, in den Jazzclub zu gehen, war nicht die
tiefe Unzufriedenheit mit dem, was sich meiner jetzigen Ansicht nach völlig zu
Unrecht ‚Moderne Musik‘ nennt. Das war nicht der Anlaß, es hat sich so
ergeben. Diese Musik und was mit ihr zusammenhängt, hätte sicherlich zu
meinem Selbstmord geführt, zumindest zu geistigem Selbstmord, wenn ich
nicht auf der anderen Seite die Kompensation, den Trost und die Rettung und
die Antwort auf die musikalischen Fragen der Gegenwart im Jazzclub gefunden
hätte.“
29
Friedrich Gulda hat in Interviews öfters betont, dass der Jazz für ihn
lebensrettend war – im Gegensatz etwa zu Glenn Gould, der sich früh vom
Konzertpodium zurückzog.
Friedrich Gulda als Jazzpianist ist Gegenstand des dritten Kapitels. Im
Folgenden soll die Bedeutung seiner Begegnung mit dem Jazz für seine
Haltung zu Fragen der Interpretation und Improvisation behandelt werden.
Gulda vertrat die Ansicht, dass die Rolle der Improvisation außerordentlich hoch
eingeschätzt werden sollte. Er sprach sich oft gegen die „Notentrommelei“ in
der Musik, das heißt die Beschränkung auf die reine Reproduktion von notierter
Musik aus. Berühmt wurde sein Konflikt mit der Wiener Musikakademie 1969,
dessen Ursache in Guldas hoher Einschätzung der Rolle der Improvisation lag.
Die Wiener Musikakademie hatte ihm 1969 den „Beethovenring“ verliehen.
Gulda nutzte diese Gelegenheit in seiner Dankesrede an die Musikstudenten
28
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990,
S. 61/62.
29
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 66/67.
28
und Lehrenden der Musikakademie, um auf Missstände im damaligen
Musikunterricht hinzuweisen und Lösungsvorschläge zu bringen.
In seiner Rede kritisierte er die Praxis des Musikunterrichtes fundamental und
sagte, an die Studierenden gerichtet: „Ich halte nämlich ein so durch und durch
konservatives Institut wie die Wiener Staatsakademie eigentlich nicht für
berechtigt, eine Auszeichnung zu vergeben, die den Namen eines der größten
Revolutionäre der Musikgeschichte trägt. Erzieht die Staatsakademie euch, ihre
Studenten, zu wahren Nachfolgern des musikalischen Rebellen und Neuerers
Beethoven? Sicher nicht; sie leitet euch im Gegenteil zu zahmen Nachbeten an.
Die Botschaft Beethovens an euch aber lautet: ‚Ich war ein musikalischer
Revolutionär, werdet wie ich!‘ Stattdessen aber werdet ihr zu fügsamen
Musikbeamten erzogen. Die Akademie handelt auch nicht in Beethovens Sinne,
wenn sie dafür sorgt, dass Euer musikalischer Blick nicht über die musikalische
Heimatkunde hinaus zur musikalischen Geographie der Welt vorstößt. Sie
vergeht sich damit an der Botschaft: ‚Seid umschlungen, Millionen!‘ Damit will
ich sagen, dass nur die Musik unserer engeren Heimat gelehrt wird, nicht aber
die der ganzen Welt, wie es einer wahren Hochschule für Musik zukäme.
Die Akademie belastet euch im Fach ‚Musikgeschichte‘ mit den Geburts- und
Sterbedaten völlig unwichtiger Barock- und Renaissancekomponisten, anstatt
euch zu sagen, worin die wahre musikalische Kraft des Barock- und
Renaissancezeitalters gelegen hat: nämlich in der ungeheuren Verbreitung der
aus spontaner Begeisterung geborenen musikalischen Improvisation. Sie redet
Euch ein, dass das Abspielen von vorgeschriebenen Noten eine größere
musikalische Leistung sei als die schöpferisch-improvisatorische
Eigenbetätigung. So erzieht euch die Akademie zu einer herablassenden und
abschätzigen Haltung jenen Musikern gegenüber, die die gegenteilige Ansicht
vertreten – besonders dann, wenn sie es wagen, diese auch zu praktizieren –
wie zum Beispiel auch ich selbst.“
30
Guldas Lösungsvorschläge bestanden darin, die musikalischen Studien durch
die Beschäftigung mit wichtigen außereuropäischen Praktiken, wie z.B. der
Jazzmusik zu erweitern. Darüber hinaus sollte eine intensive Beschäftigung mit
30
Ursula Anders, Friedrich Gulda – Ein Leben für die Musik, Weitra 2010, vordere Umschlagseite.
29
den Improvisationspraktiken und Improvisationstechniken in der europäischen
Musikgeschichte erfolgen.
Guldas scharf formulierte Kritik führte zu heftigen Reaktionen seitens der
Musikakademie. In der Folge gab er den „Beethovenring“ zurück.
Gulda sprach in einem Vortrag beim Ersten Internationalen Musikforum
Ossiachersee 1968 über seine grundsätzliche Haltung zur Musikausbildung und
zur Improvisation. („Wider die Notentrommelei in der Musik“) 31
Zusammengefasst vertrat er darin folgende Position: Bereits am Beginn des
Musikunterrichts sollte das Improvisieren stehen, nicht das Notenlernen. Die
Kinder sollten am Anfang nicht mit dem Notenlesen belastet werden, sondern
direkt in die Musik eingeführt werden. Kinder hätten Lust an der Improvisation,
am Rhythmus, sie hörten Kinderlieder. Es würde ihnen aber schon früh
beigebracht, dass die geschriebenen Noten dem Gehörten oder Erlebten
vorzuziehen seien.
Man könne im Lauf der Musikgeschichte verfolgen, wie das Geschriebene, das
Dauerhafte einen immer höheren Wert zuerkannt erhalten hätte. Deshalb sei
auch die höfische und die geistliche Musik schriftlich überliefert, weil ihre
Festhaltung wichtig erschien. Bei anderen Formen von Musik – wie zum
Beispiel der Musik der Spielleute oder wie die Flamencomusik – wäre das nicht
der Fall gewesen.
Diese Unterscheidung hatte für Gulda offensichtlich soziale Ursachen. Die
höfische und die geistliche Musik wären eine Kunst für die reiche Oberschicht
gewesen. Die notierte „offizielle“ Musik war „die Kunst der Unterdrücker“.
Dagegen war die improvisierte, die nichtaufgeschriebene Musik die Kunst der
armen, „die Kunst der Unterdrückten“.
Die klassische europäische Musik hätte sich in den musikalischen Formen der
Fuge, der Sonate und der Symphonie entwickelt. Die Ansicht, dass nur Musik,
die nach strengen Gesetzen und in perfekten formalen Formen komponiert ist,
hohe Kunst darstelle, sei hochmütig. So sei zum Beispiel die klassische
indische Musik eine rein improvisierte Musik, die aber dennoch nach strengen
31
Ursula Anders, Friedrich Gulda – Ein Leben für die Musik, Weitra 2010, S. 116 f.
30
und komplizierten Gesetzen ohne schriftliche Fixierung ausgeführt würde. Auch
bei dieser Musik handle es sich um großartige Kunst, die auf gleicher Höhe mit
der klassischen Musik des Abendlandes stünde.
Obwohl diese von Gulda vertretene radikale Position zumindest in einem
Aspekt fragwürdig erscheint – die Improvisation spielte auch in der Musik für die
Oberschicht im 17. und 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, was auch von
Gulda selbst immer wieder hervorgehoben wurde – dient sie doch zum
besseren Verständnis der Entwicklung Guldas als Interpret und Komponist.
Für Friedrich Gulda als Interpret und Komponist spielt die Improvisation eine
vielfältige Rolle. Ein eigenes Thema ist dabei Gulda als Jazz-Pianist, das im
Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit behandelt wird. Im Weiteren werden folgende
Aspekte kurz beschrieben: die Tradition des Ansagens von Musik mit dem
„Hinmoderieren“ zur jeweiligen Komposition, improvisierte Verzierungen in
seinen Aufführungen klassischer Werke, Improvisationen über klassische
Themen, die improvisatorischen Elemente in seinen eigenen Kompositionen,
die freie Improvisation am Klavier, sowie sein Versuch mit „freier Musik“.
„Hinmoderieren“: Bereits das klavierspielende Lehrerskind Gulda erprobte im
Kreis seiner Familie das Erzählen und die Kunst des Ansagens seiner Musik,
des „Hinmoderierens“ und das Verbinden einzelner Stücke durch Worte. Diese
Praxis behielt er auch in vielen seiner Konzerte bei. Damit führte er eine
Tradition weiter, die in alten Tondokumenten von Live-Konzerten dokumentiert
ist. So moderierte etwa die Sängerin Lotte Lehmann in ihren Schubert-LiederAbenden, begleitet vom ihrem präludierenden Pianisten. „Dass einzelne
Musikstücke durch Moderation oder Improvisation verbunden werden, ist im 20.
Jahrhundert noch gut geübt. Gulda gibt dieses Wissen auch lehrend weiter;
Roland Batik, einer seiner wenigen Schüler, erlernt sie bei ihm. Batiks
Erfahrungen des Hinpräludierens auf den ersten Programmpunkt schriftlich
fixierter Musik, des Einstimmens auf die vom Komponisten geforderte Tonart
hat Karl Löbl in einer Kurier-Kritik vom 2. März 1975 beschrieben: ‚Gulda saß
schon während des Einlasses auf dem Podium, phantasierte pianissimo vor
31
sich hin, modulierte zuletzt nach Es-Dur, nach der Tonart jener Sonate, mit der
das Programm begann.‘“
32
Improvisierte Verzierungen: Gulda hat in seinen Konzerten mit Klassischer
Musik die Tradition der improvisierten Verzierungen wiederbelebt.
Bedauerlicherweise ist diese Praxis auf Tonträgern kaum dokumentiert. Bei
seinen Einspielungen von Werken etwa von J.S.Bach oder Mozart, hielt sich
Gulda viel strenger an den Notentext, als das in seinen Live-Konzerten der Fall
war. Ein Beispiel dafür ist seine Einspielung von vier Mozart-Klavierkonzerten
unter Claudio Abbado mit den Wiener Philharmonikern, die sich streng am
Notentext orientiert. Andere Mozart-Einspielungen Guldas (mit dem
Concertgebouw Orchestra unter Nikolaus Harnoncourt) enthalten freiere
Verzierungen, kommen aber dennoch nicht an seine Live-Konzerte heran.
Ein Beispiel improvisierter Verzierungspraxis findet sich bei J.S.Bach notiert:
Die „Englische Suite Nr. 2 in a-moll“ (BWV 807) enthält eine Sarabande in zwei
verschiedenen Fassungen – ein erstes Mal mit wenigen Verzierungen, das
zweite Mal mit ausgeschriebenen, ausführlichen Verzierungen. Es ist wohl kein
Zufall, dass Gulda gerade diese Suite oft aufgeführt und auch eingespielt hat.
Eine besondere Form der improvisierten Ergänzung klassischer Kompositionen
stellt das Begleiten notierter Werke (etwa von Mozart) „aus dem Stegreif“ dar.
„Mozart ist der unmittelbare Lehrmeister: ‚Wissen Sie‘, sagt er [Gulda] vor
seinem Tod zu Heinz Sichrovsky im Jahr 2000, ‚ich habe in meinem Studium
gelernt, wie man Mozart-Sonaten aus dem Stegreif begleitet. Und, stellen Sie
sich vor, ein paar Monate später lese ich, dass Mozarts Schwester Nannerl die
schwersten Sonaten gespielt und ihr Bruder sie aus dem Stegreif begleitet hat.
Da war ich ganz nahe an der mozartischen Wahrheit dran, Ich tue nichts
anderes, als was mir der Meister bereits vorgemacht hat.‘“
33
Improvisationen über klassische Themen: Improvisationen von Friedrich Gulda
über klassische Themen sind nur weniger dokumentiert. Ein Beispiel dafür ist
seine Komposition „Epitaph für eine Liebe“, die – anschließend an Chopins
Prelude Nr. 20 in c-moll eine Improvisation über Chopins Themen enthält.
32
33
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 19 f.
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 284.
32
Hinzuweisen ist auch auf Guldas Paraphrasen über Themen und Motive von
Johann Strauss, zum Beispiel die „G’schichten aus dem Wienerwald“, die er oft
aufgeführt hat, so auch bei seinem allerletzten Konzert 1999 im Wiener
Musikverein.
Improvisatorische Elemente in Guldas Kompositionen: Solche finden sich vor
allem in seinen Werken für Jazz-Ensembles, aber auch in Kompositionen, die
sich der klassischen Musiksprache bedienen. Ein Beispiel für eine Komposition
Guldas, die dem Solisten viel Raum für Improvisation gibt, ist „Wings – A
Concert Piece für Solo Violin, String Orchestra and Rhythm Section“. „‘Ein
gutes Stück mit Pferdefüßen‘, so kommentiert der Geiger Josef Sivo Guldas
einziges Violinkonzert Wings, dessen Solopart er 1974 uraufgeführt hat. Bei der
Uraufführung in Salzburg, erinnert sich Sivo, ging Gulda während der Kadenzen
für die Solo-Geige im Publikum spazieren, den Solisten in der Konzentration mit
den Worten störend: ‚Wenn dir die Kraft ausgeht, spiel ich dir ein paar Akkorde
hinein.‘ Sivo erduldete den Schelm Gulda. ‘Coming out directly of your tuning,
play energically, surprisingly and proudly’, so beginnt Wings. An das Stimmen
der Saiten der Sologeige schließt sich eine Solo-Arie für den Geiger unmittelbar
an, in freiem Rhythmus notiert ‚Piu lento con dolore sempre liberamente‘, nach
dieser zur Freiheit auffordernden Solo-Arie lässt Gulda die Geige von einem
Orchesterschlag begleiten. ‘Intenso e vibrato’ erklingen Streicherpizzicati, dann
heißt es: ‘Take a deep breath and get into another mood.’ Gulda fordert
wiederholt zu Freiheit auf: ‘Repeat ad libitum’, ‘Play Rhythm on a «Beat Basis»
but use a lot of Sixteenths – sometimes also Sixteenth – Triplets‘. Er gibt der
Solo-Geige Anweisungen zum Tonmaterial, die übertreten werden können, und
relativiert die Anweisungen für die Pauke: ‚Use your fantasy‘ […]‘“
34
Improvisiert wird auch in der von Gulda komponierten Musik zum Film: „Moos
auf den Steinen“ (Regie: Geord Lhotsky, 1968). Dieser Film basiert auf einem
Roman von Gerhard Fritsch (1956). Er spielt in einem verfallenen Schloss an
der österreichischen Grenze zu Tschechien in einer Landschaft, die an Galizien
erinnert. Die Bewohner und Besucher dieses Marchfeld-Schlosses (das damals
noch nicht renovierte Schloss Niederleis bei Ernstbrunn) stellen einen
Mikrokosmus der österreichischen Nachkriegsgesellschaft dar. „Moos auf den
34
Irene Suchy, in: Beiheft zur CD „Wings – Gulda symphonisch“ S. 2.
33
Steinen erzählt seine Geschichte an der Schnittstelle zwischen den Ausläufern
des untergegangenen alten Österreich und dem Pragmatismus einer Zukunft,
die dessen Relikte wirtschaftlich verwertet.“ 35 Irene Suchy über die Filmmusik
Guldas: „Die Musik Guldas, stoisch und selbstständig, verweist unerbittlich
darauf, dass es weitergeht.“ 36 Bereits 1961 hatte Gulda für den Film „Mann im
Schatten“ (Regie: Arthur Maria Rabenalts) – ein Film mit Helmut Qualtinger –
die Musik komponiert.
Freie Improvisation am Klavier: Als Beispiel für Guldas Fähigkeit, auch längere
Musikstücke frei zu improvisieren, seien die „3 Piano Pieces“ genannt, die er
1986 im Wiener Konzerthaus (aber ohne Publikum) improvisierte. Diese Stücke
(von Günther Rabl als posthumes opus in seiner CD-Serie „canto crudo“ als
Zeichen großer Wertschätzung veröffentlicht) stellen das musikalische
Basismaterial für Rabls Komposition: „Landschaft mit Pianist“ dar. Diese
Improvisationen (über 56 Minuten lang) enthalten überraschende Anklänge und
Bezüge zu Komponisten des 20. Jahrhunderts, die von Gulda oft kritisiert
worden sind – wie zum Beispiel Strawinsky, Bartok, Schönberg, Stockhausen
und Boulez. „Guldas Ideenreichtum und Konsequenz im Improvisieren machen
dieses Werk zu einem Beweis seiner Kompetenz in diesem Genre.“
37
Versuche mit „Freier Musik“: Von 1971 bis 1978 experimentiert Gulda mit Paul
und Limpe Fuchs im Bereich der „Freien Musik“. Das musikalische Projekt trägt
den Titel „Anima“, benannt nach einem experimentellen Kurzfilm vom C.G.Jung.
Paul und Limpe Fuchs treten mit Trommeln, Horn, selbstgebauten Instrumenten
und Gesang auf, in einer völlig freien musikalischen Form. Ein „Anima“-Konzert
im Jahr 1972 beschrieb Andrea Seebohm in der Tageszeitung „Kurier“
(6.03.1972) folgendermaßen: „Der Samstagabend gestaltete sich im vollen
Mozart-Saal zum Happening-Debakel: aufschlußreich, amüsant, der Mühe wert
allerdings und auf Wiens modrigem Kulturboden allemal zu begrüßen. Der
Beginn gelang: Da dominierten die ‚Füchse mit ihrem faszinierenden ‚Anima‘Sound aus Selbstgebasteltem […] Gulda und Rettenbacher paßten sich
mühelos an, improvisierten ‚animiert‘. Aus dem Publikum nach und nach
35
Elisabeth Büttner / Cristian Dewald, Anschluß an Morgen. Zitiert nach Klappentext der DVD „Moos
auf den Steinen“.
36
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 125.
37
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 267.
34
Einwürfe (auf mitgebrachten Pfeifen, Flöten, Kämmen, Trommeln) – Gulda
fängt sie auf, variiert sie am Klavier, horcht auf Gegenreaktionen. Hat sichtlich
Spaß an der Sache, blickt aufmunternd in den Saal, provoziert mit
Themenfetzen. Stimmung kommt auf, Atmosphäre wird dick, ‘irgend etwas‘ ist
im Entstehen. ‚Trau di!‘ ruft er einem Kammbläser zu. Amüsement und
Begeisterung wachsen, entladen sich in einem fulminanten Tutti der Haupt- und
Mitakteure […]“ 38 Später setzte er seine „freien“ musikalischen Experimente mit
der Sängerin und Schlagzeugerin Ursula Anders fort.
Gulda sagte über seine Versuche der totalen Improvisation, der „Freien Musik“:
„Der Begriff von gut und schlecht , also von guter oder schlechter musikalischer
Aussage, ist ja in der ‚Freien Musik‘ fast bis zur Ungültigkeit relativiert. Es gilt
die Regellosigkeit als Prinzip. Es gibt nur eine einzige Regel, nämlich keinerlei
Regeln anzuerkennen.“
39
Gulda hat sich später von der totalen Improvisation distanziert: „Ich muß aber
für die Einwände gegen meine Tätigkeit in den siebziger Jahren, die meine
Kritiker vorgebracht haben, gerade im Lichte der achtziger Jahre ein gewisses
Verständnis äußern […] Den Haupteinwand kann man auch so formulieren:
‚Where everything goes nothing matters.‘ (Wo alles erlaubt ist, ist auch nichts
mehr wichtig.)“ 40 „Natürlich war es nicht leicht, über so viele Jahre hinweg mit
einer massiven Verständnislosigkeit von vielen Seiten zu leben. Ich muß
allerdings diesen Leuten, die in meinen Konzerten Vorbehalte gegen mich mehr
oder weniger artikuliert haben, mehr oder weniger intelligent, durch Wegbleiben
zum Ausdruck gebracht haben, letztlich recht geben. Ich fühle mich heute dazu
verpflichtet. Daß das, was wir wollen oder ich wollte – vor allem in den siebziger
Jahren - , daß das nicht geht, ich möchte es aber nicht eine Sekunde missen.
Diese Dekade war eine ganz wichtige und unersetzliche Erfahrung. Das Urteil,
das ich ausspreche, daß ich sage, es geht nicht, bekommt erst durch diese
Erfahrung einen Wert.“ 41 Als Konsequenz dieser musikalischen Erfahrungen
kehrte Gulda in seinen Kompositionen der 80er Jahre (zum Beispiel im Konzert
38
Andrea Seebohm, Tageszeitung „Kurier“ 6.03.1972. Zitiert nach Ursula Anders, Friedrich Gulda – Ein
Leben für die Musik, Weitra 2010, S. 197.
39
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 77.
40
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 80.
41
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990,
S. 120.
35
für Violoncello und Blasorchester für Heinrich Schiff) wieder zu traditionellen
Formen zurück.
2.2. ROBERT D. LEVIN
Robert D. Levin (geboren 1947 in Brooklyn/New York) ist ein klassischer
Pianist, ein Musikwissenschaftler und Komponist. Er war Professor für Klavier
an der Hochschule für Musik in Freiburg und ist gegenwertig Professor an der
Universität Harvard. Seine Spezialität ist der Hammerflügel.
Levin wurde für seine künstlerische Arbeit in zwei Bereichen bekannt: Einerseits
durch die Rekonstruierung und Ergänzung von unvollständigen Kompositionen,
insbesondere von J.S.Bach und Mozart. Beispiele dafür sind unter anderen: Die
Bach-Kantaten Nr. 37, 139 und 162, wo Levin fehlende Instrumentalstimmen
ergänzte, oder die c-moll Messe, das d-moll Requiem und das F-Dur Konzert
für Oboe von Mozart. Er hat auch für zahlreiche Kompositionen aus der Zeit der
Wiener Klassik sogenannte Eingänge komponiert. Andererseits wurde er
bekannt durch seine Fähigkeit, im Stil des jeweiligen Komponisten (zum
Beispiel Mozarts, Beethovens oder Schuberts) zu improvisieren. So hat er
beispielsweise in Konzerten die unvollendeten Sonaten von Schubert durch
improvisierte Passagen ergänzt und vervollständigt. Er nahm auch die
vergessene Tradition der improvisierten Konzerte wieder auf, in denen er über
Themen improvisierte, die ihm vorher aus dem Publikum vorgeschlagen
wurden.
Levin hat sich in zahlreichen Publikationen zum Thema „Improvisation“ in der
klassischen Musik geäußert. Wie Gulda kritisiert er, dass sich heute die
Ausbildung von Instrumentalisten auf die möglichst genaue Reproduktion von
notierten Kompositionen beschränkt. „Classical musicians have become highly
specialised. Most of today’s performers practise many hours a day painstakingly
learning and perfecting text written by others. Highly skilled at reproducing
music, they often have little or no training in inventing it […] In the 18th century
all composers were performers and virtually all performers composed.
Furthermore, virtually all the musik performed was new […] Mozart’s
36
performances were designed to display his talents as improviser, pianist and
composer (that is the order his contemporaries assigned to his gifts).“
42
Levin schreibt über die Veränderungen in der Aufführungspraxis seit der Zeit
Mozarts: „Als Mozart seine bahnbrechenden Klavierkonzerte komponierte und
der Öffentlichkeit vorstellte, waren sie alles andere als Klassiker. Ihre Sprache
war und bleibt eine brisante Synthese aus Eleganz, Charme, Schalkhaftigkeit,
Kühnheit, opernhafter Theatralik, Ernsthaftigkeit, Pathos und Tragik. Ein
Aufführungsstil, der in der Lage ist, eine derart gewaltige dramaturgische
Bandbreite zu erfassen, muß von Spontaneität durchdrungen und durch eine
Direktheit des Vortrags gekennzeichnet gewesen sein, die weit entfernt ist vom
ausschließlichen Bemühen der jüngsten Generationen von Mozart-Interpreten
um Klangschönheit, Anmut und Pietät. Seit sich die Ästhetik des Vortrags vom
lebendigen Ausdruck abgewandt hat und der zunehmend perfekten, glanzvollen
Wiedergabe festgelegter Texte befleißigt, ist das Gefühl, eine improvisierte
Darbietung zu erleben, zugunsten bis auf jedes Detail reproduzierbarer
Aufführungen gewichen, und das Improvisieren an sich hat aufgehört.“
43
Levin hat immer wieder betont, dass die Fähigkeit, in der musikalischen
Sprache eines bestimmten Komponisten zu improvisieren, die genaue Kenntnis
der jeweiligen Kompositionstechnik voraussetzt. Er selbst hätte erst diese
Fähigkeit erlangt, nachdem er sich viele Jahre lang mit dem Rekonstruieren und
Ergänzen von unvollständigen Kompositionen beschäftigt hat. „If you want to do
something that sounds like Haydn but not Mozart, something that sounds like
Beethoven but not Schubert, there have to be a lot of switches that are
triggered in your brain and they’re based on linguistic things […] If you want to
improvise in the style of a certain composer, you’d better be able to compose in
that style.“
44
Unter den zahlreichen Einspielungen Levins sei insbesondere auf seine
Aufnahmen von Mozart-Klavierkonzerten mit der Acadamy of Ancient Music
unter Christopher Hogwood verwiesen, in denen er alle Kadenzen improvisiert.
42
Robert Levin, Improvising Mozart. Zitiert nach: Academy of Ancient Music [online verfügbar:
http://www.aam.co.uk/media/Files/Resources/Features/Improvising%20Mozart.pdf 15.1.2012]
43
Robert Levin, im Beiheft zur CD „Robert Levin, Mozart - Klavierkonzerte Nr. 22 und 23“.
44
Robert Levin, The Classical Improviser, in: Fonseca-Wollheim [online verfügbar:
http://online.wsj.com/article/SB1000142405274870346670457549020331546176.html16.1.2012]
37
Erwähnt sei auch seine Einspielung vom Beethovens Fantasie für Klavier, Chor
und Orchester c-moll op. 80. Dieses Werk beginnt mit einer Fantasie für
Klavier-Solo, die Beethoven bei der Uraufführung 1808 im Theater an der Wien
frei improvisierte. (In diesem Konzert vom 22.12.1808 kamen auch Beethovens
viertes Klavierkonzert, die fünfte und die sechste Sinfonie, drei Sätze aus der CDur-Messe sowie die Arie „Ah! perfido“ zur Aufführung!) Levin improvisiert auf
dieser Einspielung zwei alternative einleitende Fantasien.
Auch die historische Praxis, wonach Solisten das Orchester in den Tutti-Stellen
(zum Beispiel in den Klavierkonzerten Mozarts, aber auch Beethovens)
begleiteten, wurde von Levin wiederbelebt. In zahlreichen Partituren aus der
Zeit der Wiener Klassik findet sich die Anweisung „Col Basso“, die den Solisten
auffordert, mit der linken Hand die Bassstimme zu verdoppeln und mit der
rechten Hand eine Begleitung zu improvisieren.
Was Levin über seine improvisierten Einleitungen zu Beethovens Chor-Fantasie
schreibt, gilt gleichermaßen für viele Eingänge und Kadenzen: „Beide
Fassungen benutzen Beethovens Material, zielen aber jeweils in eine andere
Richtung. Beide können und wollen sie nicht mit der großartigen Fassung des
Meisters konkurrieren, aber beide helfen sie zumindest dem Verständnis, daß
auch die unsterblichsten Gedanken nicht unausweichlich sind, sondern
Ergebnis einer Wahl, die reflektierte und spontane Elemente zu einem Ganzen
zusammenfasst.“
45
2.3. GABRIELA MONTERO
Die venezolanische Konzertpianistin Gabriela Montero wurde 1970 in Caracas
geboren. Schon sehr früh zeigte sie außerordentliches musikalisches Talent
und eine einzigartige Begabung zur Improvisation. Diese Begabung wurde
allerdings von einer ihrer Klavierlehrerinnen über viele Jahre unterdrückt, für die
die Kunst des Improvisierens nicht Teil der Ausbildung zur klassischen
Konzertpianistin war.
45
Robert Levin, im Beiheft zur CD „Robert Levin, Beethoven Klavierkonzert Nr.5 und Chor-Fantasie“.
38
Eine Begegnung mit Martha Argerich hatte entscheidenden Einfluss auf ihre
weitere künstlerische Entwicklung. Argerich, die Gabriela Montero bereits als
Kind kennengelernt hat, unterstützte sie bei ihren Versuchen, über klassische
Themen zu improvisieren. Sie beschreibt die Begegnung mit Argerich, die in
einer Phase Monteros Lebens stattfand, in der sie das Klavierspielen gänzlich
aufgeben wollte, wie folgt: „I had just quit playing again […]. She asked to hear
me. I said: ‘No, let’s just have coffee’. But she insisted. I remember it was about
1 a.m., and I ran through some standard repertoire and also improvised. Her
enthusiasm and encouragement were unbelievable. Something in that moment
transformed my life.“ 46
Gabriela Montero betont in Interviews immer wieder den spontanen Charakter
ihrer Improvisationen, die sich wesentlich von den strukturierten
Improvisationen im Jazz – etwa bei Keith Jarrett – unterscheiden: „Bei mir
handelt es sich dabei um etwas völlig Spontanes. Die Improvisation entwickelt
sich wirklich von allein. Es gilt aber vielleicht in anderen Gattungen der
populären Musik, wie etwa im Jazz, bestimmten Methoden oder Regeln zu
folgen. Ich kenne und beherrsche diese Verfahren nicht und würde lieber von
allen akademischen bzw. technischen Kenntnissen so fern wie möglich bleiben,
denn das Improvisieren muss bei mir immer intuitiv sein. So fühle ich die Musik
authentischer, weil diese Begabung meiner Meinung nach gar nichts mit der
Ausbildung zu tun hat, und man kann es deswegen auch nicht wie andere
Fähigkeiten lehren.“
47
Gabriela Montero begann, bestärkt und gefördert durch Martha Argerich, in
ihren Konzerten mit klassischer Klaviermusik damit, Zugaben zu improvisieren.
Sie musste allerdings erkennen, dass ihr Publikum auf diese Weise nicht davon
zu überzeugen war, dass es sich dabei tatsächlich um freie, spontane
Improvisationen handelte. „Urspünglich musste ich mich an das Publikum
wenden und sagen, dass ich improvisieren wolle, und dann fing ich einfach an,
zu meinen eigenen Themen frei zu spielen. Nach und nach erkannte ich eine
gewisse Skepsis und beschloss, es lieber anders zu machen: Ich bot dem
46
Gabriela Montero, in: Interview mit Stuart Isacoff, New York Philharmonic [online verfügbar:
http://nyphil.org/attend/guests/index.cfm?page=interview&interviewNum=31&selectedNav= 3.4.2012]
47
Carsten Dürer, Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007, S. 277.
39
Publikum an, Themen vorzuschlagen, damit die Leute sehen konnten, dass
meine Improvisationen wirklich spontan sind. Auf diese Art und Weise kann ich
auch das Publikum in meinen kreativen Verlauf einbeziehen.“
48
Die Klavierabende Gabriela Monteros, die sie in den letzten Jahren gab,
bestanden meist aus einem ersten Teil mit klassischen und romantischen
Kompositionen, und einem zweiten Teil, in dem sie über Themen improvisierte,
die ihr aus dem Publikum vorgeschlagen wurden. Montero schließt damit – über
hundert Jahre später – an eine Tradition an, die zuletzt von Mary Wurm (siehe
Kapitel 1.2.) repräsentiert wurde. Montero besitzt die Fähigkeit, über
unterschiedlichste Themen in verschiedenen Stilen zu improvisieren, auch
kontrapunktisch, etwa dreistimmige Fugen.
Ein Beispiel für ihre Begabung zur Improvisation ist auf der CD: „Gabriela
Montero: Live in Germany“ 49 dokumentiert, die Konzerte in Frankfurt und
Düsseldorf enthält. Montero improvisiert über vom Publikum vorgeschlagene
oder vorgesungene Themen von Pachelbel, Mozart, Rossini, Schubert,
Rachmaninov sowie über traditionelle Volkslieder. Auf diese Weise gelingt es
ihr, einen lebendigen Kontakt zum Konzertpublikum herzustellen.
Obwohl Montero die Ansicht vertritt, man könne die Fähigkeit zur Improvisation
weder lehren noch lernen, sieht sie aber doch in der Improvisation eine
pädagogische Funktion: „Was ich auch sehr gerne mache, ist Kinder zu
motivieren, mit der Musik zu spielen und neugierig zu sein. Es gibt eine
fantastische Welt zu entdecken und wenn jemand ein solches Talent hat,
erkennt man dies in der Kindheit – was aber eine frühe Motivation voraussetzt.
Bei schon ausgebildeten Pianisten kann die Improvisation einen neuen Weg
aufzeigen, Musik anders zu machen und zu fühlen. Es kann eine sehr positive
Erfahrung sein. In diesen Fällen geht es nur darum, eine gewisse Freiheit in der
Beziehung zur Musik zu schaffen.“
50
48
Carsten Dürer, Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007, S. 278.
Gabriela Montero, Die Kunst der Improvisation, in: Beiheft zur CD „Gabriela Montero – Live in
Germany“.
50
Carsten Dürer, Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007, S. 278.
49
40
KAPITEL 3. KLASSISCH AUSGEBILDETE PIANISTEN UND IHR
ZUGANG ZUM JAZZ
Im Folgenden wird am Beispiel ausgewählter klassisch ausgebildeter Pianisten
(Friedrich Gulda, Roland Batik, Katia Labeque) deren Zugang zum Jazz
untersucht. Einleitend werden die wichtigsten Unterschiede zwischen der
europäischen klassischen Musik und dem Jazz beschrieben.
3.1. KLASSIK UND JAZZ
Wesentliche Unterschiede zwischen der Interpretation klassischer
Kompositionen und dem Jazz des 20. Jahrhunderts liegen in drei Bereichen:
Tonbildung und Phrasierung, Rhythmik und Improvisation.
Tonbildung und Phrasierung unterscheiden die beiden Musikstile wesentlich.
„Während sich die klassische europäische Musik darauf konzentriert, einen
schönen und homogenen Klang zu bilden, ist das Hauptziel eines JazzMusikers seinen eigenen unverwechselbaren Ton zu finden, der nicht in erster
Linie ‚schön‘ sein muss, sondern einzigartig und wieder erkennbar.“ 51 So
schreibt etwa Heinrich Neuhaus in seinem einflussreichen Buch über „Die Kunst
des Klavierspiels“ im Kapitel „Über den Ton“ ausführlich darüber, dass der
„Urgrund aller hörbaren Musik […] der Gesang [ist], und die Klavierliteratur ist
überreich an Sanglichkeit; deswegen muss es die erste und wichtigste Aufgabe
jedes Pianisten sein, sich einen ausgeprägten, vollen, aller Nuancierungen
fähigen, ‚reichen‘ Ton […] zu erarbeiten.“ 52 Für Neuhaus ist die Meisterung des
Tones – und zwar eines „schönen“ Tones – die wichtigste aller
klaviertechnische Aufgaben, die jede Pianistin und jeder Pianist zu lösen hat:
„Indem wir ihn [den Ton] vervollkommnen und veredeln, heben wir die Musik
selbst auf eine höhere Stufe. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass meine
Arbeit mit den Schülern zu drei Vierteln aus der Arbeit am Ton besteht.“ 53 Um
das Ziel des „schönen“ und gleichmäßigen Tones zu erreichen, verlangt
51
Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 22.
Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, Leipzig 1969, S. 74.
53
Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, Leipzig 1969, S. 64.
52
41
Neuhaus vor allem das polyphone Spiel am Klavier und das „Singen auf dem
Klavier“ von kantablen, melodiösen Stücken.
Nichts könnte den Unterschied zwischen beiden Musikstilen deutlicher
charakterisieren als diese von Neuhaus vertretene Position. Für einen
Jazzmusiker ist ein „schöner“ Ton kein Ziel, er strebt nach einem persönlichen
und damit wiedererkennbaren Ausdruck, nach einer für den Jazz typischen
Artikulation. Dazu schreibt Oscar Peterson in seinen „Jazz Exercises“: „The
player should attempt different types of articulation in order to obtain the final
and correct jazz feeling that he desires. In doing this he should then be able to
realize how the jazz player (professional) changes the complete complexion of
a tune by changing his articulation. “ 54 Peterson begründet seine Übungsstücke
für angehende Jazz-Pianisten damit, dass man an ihnen erkennen soll „that a
jazz technique in many ways is a completely new form of technique when
compared with the classical.“ 55
Auch Mike Schoenmehl stellt in seiner Jazzklavierschule: „Modern Jazz Piano“
dazu fest: „Das Beste ist […] wenn du im Laufe der Zeit einen persönlichen,
unverwechselbaren Stil entwickelst.“ 56
Ein Hauptmerkmal des Jazz ist die Jazz-Rhythmik, die tendenziell einen
polyrhythmischen Charakter aufweist. Die Vielschichtigkeit der Rhythmen
orientiert sich am „Beat“, dem gleichbleibenden, oft durchgeschlagenen
Rhythmus. Unterschiede zur klassischen europäischen Musik zeigen sich in
der Betonung des zweiten und vierten Schlags im Takt und auch darin, dass
Achtelnoten nicht regelmäßig, sondern ungerade gespielt werden, das heißt,
dass eine Viertelnote in Achteltriolen geteilt wird, wobei die zweite Achtel auf
der letzten Triolennote gespielt wird. (Das gilt auch für sehr schnelle Passagen
– im Unterschied zur Klassik, wo solche Passagen grundsetzlich gleichmäßig
gespielt werden sollen. Diese Art des Rhythmus ist die Grundlage des „Swing“,
mit dem die stark „schwingende“ rhythmische Qualität des Jazz bezeichnet
wird. (Der Begriff „Swing“ wurde vor allem im Zusammenhang mit den
berühmten Big Bands der 30er und 40er Jahre – Duke Ellington, Benny
54
Oscar Peterson, Jazz Exercises, Menuets, Etudes & Pieces for Piano, Mississauga 1965, S. 14.
Oscar Peterson, Jazz Exercises, Menuets, Etudes & Pieces for Piano, Mississauga 1965, S. 4.
56
Mike Schoenmehl, Modern Jazz Piano, Mainz 1992, S. 146.
55
42
Goodman, Glenn Miller – benutzt, die eine tanzbare Form der Jazz-Musik
spielten.)
Der Ursprung der Jazz-Rhythmik liegt in der afrikanischen Rhythmusvielfallt, die
vor allem in neueren Jazzrichtungen in der Form polyrhythmischer Strukturen
zum Ausdruck kommt. Einerseits in der Überlagerung von binären Rhythmen
mit ternären Rhythmen, andererseits durch den „Offbeat“ (weg vom Schlag).
Unter „Offbeat“ versteht man die für den Jazz typische Phrasierung, bei der
nicht nur die unbetonten Taktteile oft betont, sondern der durchlaufende
Grundrhythmus durch melodische Akzente kurz vor oder nach dem Beat
überlagert werden. Diese Art der Phrasierung erzeugt eine latente rhythmische
Spannung, ohne die Jazz-Musik nicht swingen würde.
Neben dem „Swing“ gehört der „Groove“ zu den Fundamenten der JazzRhythmik. Groove-Musik baut auf einem gleichmäßigen Puls auf, der der
Frequenz des Herzschlages, des Gehens oder des Laufens entspricht. Der
Begriff „Groove“ bezeichnet aber nicht nur eine Art des mehrschichtigen
Rhythmus, sondern auch die besondere gefühlsmäßige Wirkung, das
Rhythmusgefühl afro-asiatischer Musik. Auf seiner Grundlage finden auch die
Improvisationen der Jazz-Musiker statt.
Diese rhythmischen Besonderheiten des Jazz sind aber die einzigen, die sich
von afrikanischen Traditionen ableiten. Alle anderen Elemente der Jazz-Musik
beruhen dagegen auf europäischen Traditionen. So wird fast ausschließlich
(abgesehen von „modal“ geprägten Improvisationen oder vom „Free-Jazz“) die
klassische europäische Harmonik – bis etwa Debussy – benutzt. Auch
musikalische Formen wie der „Song“ und die Verwendung europäischer
Musikinstrumente verweisen auf die europäische Musiktradition.
Konstituierendes Merkmal des Jazz ist die Improvisation. „Es wurde in der
gesamten Geschichte des Jazz (außer im Free Jazz) nach den gleichen
Techniken und Methoden der alten europäischen Musik improvisiert und zwar
mit Hilfe von Harmoniegerüsten, die einer gewissen Form unterliegen: zum
Beispiel ein Standard in 32-taktiger Liedform oder eine zwölftaktige Bluesform.
Die Aufgabe eines Jazzmusikers besteht darin, spontan eine neue
musikalische Linie über diese Harmonien zu legen, während in der heutigen
43
klassischen europäischen Musik nach dem Maßstab der Werktreue von
Kompositionen, die meist mehrere hundert Jahre alt sind, gemessen wird.“
57
Diese Aussage Hosseins ist aber in mehrfacher Hinsicht zu präzisieren.
Richtig ist, dass in der „Alten Musik“ in bestimmten Formen improvisiert wurde,
die Ähnlichkeiten mit der Improvisation in der Jazz-Musik aufweisen. Dazu zählt
vor allem die Improvisation über den Formen Ground, Folia, Romanesca,
Passacaglia, Chaconne, Aria etc. Es ist dabei allerdings zu bezweifeln, dass die
Improvisationen über diese historischen Formen tatsächlich mit den kollektiven
Improvisationen im Jazz gleich zu setzen sind. Ein besonderes Merkmal der
Jazz-Improvisation liegt gerade darin, dass mehrere Musiker gleichzeitig über
eine Harmoniefolge oder über eine Skala improvisieren. Diese Form der
kollektiven Improvisation findet sich in den verschiedenen Stilen des Jazz in
verschiedenen Formen ausgeprägt. Im New Orleans-Jazz haben oft bis zu
sechs Musiker gleichzeitig improvisiert, wobei die improvisatorische Freiheit
dabei aber sehr beschränkt war. In einem typischen Jazz-Quartett ab den 30er
Jahren (zum Beispiel in der Besetzung Schlagzeug, Kontrabass, Klavier und ein
Blasinstrument) findet die Improvisation im Rahmen einer genauen
Funktionszuweisung statt. Das Schlagzeug ist ein reines Rhythmusinstrument,
der Kontrabass spielt die Bass-Linie, der Pianist unterstützt den Rhythmus, gibt
die Akkordfolge vor und improvisiert entweder als Solist oder als Begleiter des
Melodieinstrumentes. Im Laufe eines Stückes kann jedes Mitglied dieses
Ensembles improvisieren.
Richtig ist auch, dass die Improvisation im Jazz sehr oft über „Standards“ des
„Great American Songbook“ erfolgt. Allerdings gibt es nicht nur im „Free Jazz“
(ab 1960) davon stark abweichende Formen der Improvisation, sondern vor
allem in jenen Jazz-Improvisationen, die nicht über eine Harmoniefolge eines
Themas stattfinden, sondern über eine Skala. Das (angeblich) meist verkaufte
Album in der Geschichte des Jazz ist „Kind Of Blue“ von Miles Davis (1959),
das er unter anderem mit John Coltrane, Cannonball Adderly und Bill Evans
einspielte, gilt als das wichtigste Album des „Modalen Jazz“.
57
Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 22.
44
„Im Modalen Jazz verläuft die Improvisation des Solisten auf wenigen, über
weite Strecken ausgehaltenen Modi (Skalen) statt nach Vorgabe
konventioneller, harmonischer Akkordfolgen. Neben den konventionellen
Tonleitern der westlichen Musik werden ebenso die auf die mittelalterlichen
Kirchentonarten zurückgehenden modalen Tonleitern und außereuropäische
Tonskalen verwendet, und auch chromatische Passagen finden vermehrt
Verwendung. Moderne Musiker, welche den modalen Stil anwenden, setzen
auch viele andere Techniken wie Vorhalts- und Durchgangstöne, das
Einkreisen von Tönen, das Outside Playing und andere Techniken ein, um ihre
Improvisation zu bereichern. Den Primat hat der, ohne an ein Korsett
konventioneller, begleitender Harmonien des Ensembles gebundene, darüber
frei improvisierende Solist. Die Begleitung besteht oft nur aus wenigen, ständig
wiederholten Akkorden (Vamps).
Modaler Jazz lässt sich als ein Ergebnis einer teilwesen Abwendung vom
Bebop interpretieren, für den komplizierte Akkordfolgen und artistische
Phrasierungen besonders der Soli charakteristisch waren. Während der Bebop
mit seinen vielen Verzierungen die Musiker zu komplizierten Fingerübungen
zwang, wirkte der Modale Jazz mit seinen eher kargen, minimalistischen
Tonfolgen in dieser Hinsicht entspannter. Modaler Jazz ist im Tempo häufig von
ruhigem bis meditativen Charakter, verfügt aber durch seine oft
ungewöhnlichen Harmonien bis hin zu scharfen (nicht rauen) Dissonanzen
gleichwohl über genügend Spannung.“
58
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Improvisation im Jazz eine
historisch neue musikalische Form darstellt. Sie ist ein bedeutender und
schöpferischer Beitrag der afro-amerikanischen Musiker zur Musikgeschichte.
3.2. FRIEDRICH GULDA ALS JAZZ-KOMPONIST UND JAZZPIANIST
Welche lebensgeschichtlich und künstlerisch überragende Bedeutung die
Begegnung mit dem Jazz für Friedrich Gulda darstellte, wurde bereits im
58
Modaler Jazz, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Modaler_Jazz 21.2.2012]
45
zweiten Kapitel beschrieben. Er selbst sah seine Hinwendung zum Jazz als
seine größte Leistung an: „[…] jetzt, wo ich mein Leben zum größten Teil
überblicke, muß ich sagen, daß gerade die Öffnung in Richtung Jazzmusik oder
in Richtung schwarzer Musik die wichtigste Lebensleistung von mir ist und
bleibt. Vor allem [eine] kulturpolitische Leistung […]“ 59
Gulda hat sich sowohl als Komponist wie auch als Pianist intensiv mit dem Jazz
beschäftigt. Während (wenige) andere Pianisten versuchten, sowohl klassische
Werke wie auch Jazz auf hohem Niveau zu spielen, war es das künstlerische
Ziel Guldas, diese beiden gegensätzlichen musikalischen Welten miteinander
zu verbinden. Er formulierte dieses Ziel auf einer musikhistorischen und
geschichtlichen Ebene ausgehend von seiner Einschätzung, dass nach zwei
Weltkriegen Kontinentaleuropa zu politischer Bedeutungslosigkeit
herabgesunken sei und in kultureller Hinsicht kaum mehr als eine Kolonie der
USA darstelle (der „American Way of Life“ käme in der Musik, in Filmen,
Fernsehprogrammen, in der Freizeitgestaltung usw. übermächtig zum
Ausdruck). Gulda veröffentlichte im Beiheft zu der von ihm selbst produzierten
CD: „Friedrich Gulda: Sein Eurojazzorchester und Solisten der Sechzigerjahre“
einen wenig bekannten, aber grundlegenden Text über seine Intentionen. In
diesem Beiheft, das die bezeichnende und für viele Jazz-Fans wohl irritierende
Überschrift: „Die Überlegenheit der klassisch-europäischen Großform“ enthält
formulierte er 1999: „In diese Ausgangssituation hineingestellt kam ich zu dem
Schluß, daß es sich, wie immer in der Geschichte, wenn zwei Kulturen einander
begegnen, um ein Assimilationsproblem handelt. Oder, primitiv ausgedrückt:
Wer frißt wen? Du mich oder ich dich? Die Antwort ist klar: Lieber ich dich, als
du mich! So habe ich mich denn tief in eine fremde Musiktradition, eben die
afro-amerikanische, versenkt, alles gelernt, was dort zu lernen war in Praxis
und Theorie, aber letztlich doch ohne mich ihrem mächtigen Einfluß gänzlich zu
unterwerfen. Ich habe auch nicht versucht, mich ihm zu verschließen. Sondern
ich habe ihn assimiliert, gefressen, in geistige Nahrung, in ein Stück meiner
selbst verwandelt und meiner europäischen Formenwelt einverleibt. Lied- und
Variationenform haben beide Traditionen gemeinsam. Zwischen etwa einer
Klaviervariationenkette von Mozart und sagen wir einmal einer gelungenen
59
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 125.
46
Chorusfolge von Bill Evans oder Keith Jarrett besteht formal und qualitativ kein
Unterschied. Den hierzulande gewachsenen Großformen hingegen,
insbesondere der Sonatenform, aber auch der Fugen- oder Rondoform hat der
angelsächsische Raum in Hinsicht auf Weiträumigkeit, Vielfalt und Komplexität
der formalen Organisation nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Durch die
Erneuerung dieser gewaltigen Tradition nach dem Motto: Neuer Wein in alte
Schläuche – glaube ich einen wichtigen Beitrag zur musikalischen
Selbstachtung Europas trotz widriger politischer Umstände geleistet zu
haben.“60
Jazz spielt in Guldas Kompositionen auch dort, wo sie der traditionellen
europäischen Musikform verbunden bleiben, eine zentrale Rolle. Im Folgenden
werden einige ausgewählte Kompositionen Guldas kurz besprochen.
Anschließend wird versucht, Gulda als Jazz-Pianist einzuordnen und zu
bewerten.
Friedrich Gulda hat bereits als Schüler mit dem Komponieren begonnen. (Siehe
dazu das Verzeichnis seiner Kompositionen im Anhang.) Besonders intensiv
hat er sich mit dem Komponieren bis zum Beginn der 70er Jahre und dann
wieder nach der Zeit der „Freien Musik“ beschäftigt. Seine Kompositionsweise
lässt sich – trotz aller Unterschiede zwischen seinen einzelnen Werken und
trotz des stilistischen Gegensatzes zwischen den Werken der 80er Jahre und
jenen der 70er Jahre – durch drei Merkmale charakterisieren: Erstens hat Gulda
immer versucht, klassische musikalische Formen mit Elementen des Jazz
anzureichern, die meisten seiner Kompositionen sind in der klassischen
dreisätzigen Form ausgeführt. Zweitens zeichnet seine Kompositionen eine
zunehmende Neigung zum „Eklektizismus“ aus, die in den frühen 90er Jahren
bis zu Einbeziehung von Pop- und Disco-Musik („Paradise Island“, eine
„Fantasy Show“) geht. Drittens sind seine Kompositionen durch eine starke
tänzerische und „positive“ Komponente gekennzeichnet. Gulda: „Aus tiefster
Überzeugung bin ich gegen die depressive Seite. Ich gehe nicht konform mit
Kollegen, deren Kunst sich darauf beschränkt, das Elend der Welt abzubilden.
Darüber hat man sich zwar im klaren (sic) zu sein, aber die Verpflichtung,
60
Friedrich Gulda im Beiheft zur CD „Friedrich Gulda - Sein Eurojazzorchester und Solisten der
Sechzigerjahre“.
47
dagegen etwas zu unternehmen. Abbilden ist zuwenig. Ich muß Gutes
vermehren.“
61
Im Folgenden wird auf einige Kompositionen hingewiesen, an
denen diese Merkmale besonders deutlich zu erkennen sind.
1971 führte Gulda sein „Concertino for Players and Singers“ auf. Es besteht –
wie ein klassisches Solistenkonzert – aus drei Sätzen in der Reihenfolge
schnell/langsam/schnell. Dabei wird ein Jazz-Trio (Klavier, Bass, Schlagzeug)
vom Wiener Kammerorchester und vom Wiener Kammerchor begleitet.
Musikalisch kombiniert es Zitate aus der Musiksprache der Wiener Klassik mit
Klaviertrio-Jazz und einem Chor im Stil der „Swingle Singers“. (Die „Swingle
Singers“ sind ein A-capella-Oktett, das Stücke der klassischen Musik mit Silben
des Scat-Gesanges interpretiert.) Der dritte Satz „Finale for Ludwig“ enthält mit
Pauke und Chor ironische Anspielungen auf den Schlusssatz von Beethovens
9. Symphonie.
Während das „Concertino“ noch für Klavier und klassisches Orchester
konzipiert ist, sind Guldas Klavierkonzerte für Klavier und Jazz-Band
komponiert. Das „Piano Concerto No. 1“ (1972) ist ebenfalls in der klassischen
dreisätzigen Form geschrieben. Der Solist (in der Einspielung von 1972 ist Fritz
Pauer, nicht Friedrich Gulda am Klavier zu hören) spielt mit Friedrich Guldas
Reunion Big Band, für die Gulda bedeutende Jazz-Musiker, wie zum Beispiel
Phil Woods, Benny Bailey sowie die Österreicher Hans Salomon und Fatty
George verpflichten konnte. Dieses Konzert – wie auch das „Piano Concerto
No. 2“ (ebenfalls 1972 eingespielt) – ist stilistisch dem klassischen Big Band
Jazz der 40er und 50er Jahre zuzuordnen.
In einem gänzlich anderen Stil komponierte Gulda in den 80er Jahren sein
„Concerto for Myself“ (Sonata concertante for Piano and Orchestra), ein
Konzert für Klavier und Symphonie-Orchester. Auch dieses Werk besteht aus
den traditionellen drei Sätzen mit einer „Free Cadenza“ vor dem Schlusssatz.
Stilistisch ist diese eklektizistische Komposition schwer einzuordnen. Sie zitiert
musikalische Elemente der Wiener Klassik und der Frühromantik und verbindet
sie mit der Musik eines Klavier-Jazz-Trios. Über dieses Konzert schrieb der
61
Friedrich Gulda, Zitiert nach: Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda,
Saarbrücken 2011, S. 40.
48
damalige Generalsekretär des Wiener Konzerthauses Peter Weiser 1990 im
Programmheft: „Guldas ‚Concerto for myself‘ ist ein Bekenntniswerk, eine
Auseinandersetzung und eine Liebeserklärung zugleich. Es ist eine
Liebeserklärung an die klassische Musik, vor allem an Mozart und Beethoven,
umflort von der Trauer, daß solch große Musik zu schreiben heute nicht mehr
möglich ist. Und es ist andererseits eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob
in unseren Tagen, in einer von Fortschritt und Technik durchpulsten und von
Computern vorprogrammierten Welt, Musik einen Sinn hat, die auf den Abglanz
der Schönheit dieser Welt verzichtet. Liebeserklärung und Auseinandersetzung:
Jeder, der das Allegro und die Aria con variazioni dieses ‚Concerto for myself‘
unvoreingenommen anhört, wird mir beipflichten, daß ihre musikalische Gestalt
nicht altmodisch ist, sondern eine neue Sicht der Dinge in sich birgt. Und wer
sich mit der Free Cadenza befaßt und sensibel ist, wird die Betrübnis, ja
Verzweiflung spüren, die Gulda erfüllt und von der er nur durch den
beethovenartigen Eintritt des Orchesters im Rondo finale erlöst wird. Und
dieses ist ein jubelndes Bekenntnis zur Tonalität, für Gulda in ähnlicher Weise
der Rettungsanker in der stürmischen See atonaler, serieller, konkreter und
aleatorischer Musik, wie für Leonard Bernstein“.
62
Unter seinen zahlreichen Werken für Klavier solo sei insbesondere auf „Play
Piano Play“ hingewiesen. Dabei handelt es sich um zehn Übungsstücke für
Klavier mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad und zunehmendem
Improvisationsanteil. Dass sich Gulda bereits Anfang der 70er Jahre mit der
angelsächsischen Pop-Musik beschäftigt hat, zeigen seine virtuosen KlavierVariationen über „Light My Fire“, einem Song der „Doors“. Sehr bekannt wurden
auch zwei Kompositionen für seine Söhne Paul und Rico: „Für Paul“ und „Für
Rico“. Hier notiert Gulda jeweils nur das Thema und die Schlusstakte und
fordert den Interpreten zu einem improvisierten Mittelteil auf.
Gulda als Jazz-Pianist erregte Aufmerksamkeit, weil er als klassischer Pianist in
Jazz-Kellern auftrat. Zumindest am Anfang wurde er allerdings als Kuriosität
betrachtet. Sein Debut als Jazz-Pianist gab er 1956 im New Yorker Jazz-Club:
„Birdland“. Über seine Entscheidung, als professioneller Jazz-Pianist in einem
berühmten Jazz-Club aufzutreten, sagte Gulda später: „1956 […] da bin ich
62
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 177.
49
gestanden am Flughafen von Buenos Aries und hab‘ zwei Verpflichtungen
gehabt. Die eine war ein Meisterkurs am Mozarteum in Salzburg und das
andere ein Engagement im Birdland in New York. Tollkühn bin ich einfach ins
Birdland gegangen, obwohl ich mich immer noch als Anfänger fühlte. Es ist
wurscht, man muss sich einmal trauen. Ich hab dort Jazz gespielt, obwohl ich
genau wusste, gestern spielte der Charlie Parker und morgen spielt der Dizzy
Gillespie. Das war wirklich eine Mutprobe. Die habe ich bestanden und darauf
bin ich auch ziemlich stolz. Es war sozusagen meine Gesellenprüfung“.
63
Dieses Konzert ist auf der CD: „Friedrich Gulda at Birdland“ dokumentiert. Für
seinen Auftritt stellte er 1956 ein Sextett zusammen, das aus hervorragendem
Interpreten des „Modern Jazz“ bestand. Beim Hören dieser historischen
Aufnahme fällt auf, dass sich Gulda bei den ersten neun Stücken als Pianist
völlig im Hintergrund hält und erst danach mit längeren Soli zu hören ist. Daniel
Halperin schrieb 1957 im Covertext der LP über diesen Auftritt Guldas: „Seine
Fähigkeit zu empfinden, was Jazz ist und wie man ihn spielt, ist
außerordentlich, vor allem in Anbetracht seines Hintergrundes als
hervorragender Beethoven-Interpret. Aber es gibt offensichtlich noch Grenzen
in seinem Vermögen, Jazz zu erschaffen. Bisweilen fehlt seinem Spiel die
Wärme, das Tiefgründig-Dichte, das zum Rüstzeug der großen amerikanischen
Jazzkünstler gehört. Technisch gesehen lässt Gulda nichts zu wünschen übrig.
Sein Anschlag ist vorzüglich – sicher, stark, bestimmt. Schnelle Tempi bereiten
ihm keinerlei Schwierigkeiten, und seine Unterstützung eines Solisten, der eine
ausgedehnte Ballade spielt, ist äußerst hilfreich, auch wenn ihm klar ist, dass er
selbst noch ein Solo für solch eine Ballade aufnehmen muss. Guldas
improvisierte Linien sind fast immer logisch und interessant. Und er vermeidet
kurze, abgehackte Phrasen, die so häufig auf eine zeitweilige Konfusion seitens
des Solisten schließen lassen; er hält mehr von längeren Phrasen, die deutlich
zeigen, dass er weiß, was er tut und wohin sein Weg führt“. 64 An diesem
Kommentar fällt zweierlei auf: Einerseits die Kritik an Gulda als Jazz-Musiker
(im Covertext zur LP!), andererseits der Hinweis auf Guldas Fähigkeit, längere
63
64
Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 56.
Daniel Halperin, in: Beiheft zur CD „Friedrich Gulda at Birdland“, S. 8 f.
50
Phrasen zu improvisieren, die auf seine Ausbildung als klassischer Pianist
zurückzuführen sein dürfte.
Unter den zahlreichen Tondokumenten, die Gulda als Jazz-Pianisten zeigen,
sei nur auf drei hingewiesen: „Friedrich Gulda – As You Like It“, 1970 im Trio
mit J. A. Rettenbacher (bass) und Klaus Weiss (drums); „Friedrich Gulda – Fata
Morgana – Live At The Domicile“, 1971 mit Fritz Pauer (piano, electric piano)
und Klaus Weiss (drums) sowie: „Friedrich Gulda – Mozart No End and the
Paradise Band“, 1989/1990 mit der deutschen Jazz-Organistin Barbara
Dennerlein.
Ob Gulda seine Grenzen als Jazz-Pianist und als Improvisator gesehen hat, ist
umstritten. Professionelle Jazz-Musiker – selbst solche, die mit Gulda
befreundet waren und mit ihm zusammengearbeitet haben wie Joe Zawinul
oder Chick Corea – äußerten sich oft skeptisch über Guldas Versuche, Jazz zu
spielen. So erzählte Joe Zawinul von seiner Enttäuschung und
Fassungslosigkeit nach den Proben für ein gemeinsames Konzert in der Kölner
Philharmonie 1986 und bezeichnete Gulda als „total out of touch“ und als
„altväterisch“. 65 „’He is a great piano player but he can’t play Jazz’, raunt
Guldas Duopartner in Klassik and Jazz, Chick Corea, 1984 dem Musikmanager
Jeff Maxian zu. ‚Er ist ein wunderbarer Musiker, aber Klassik kann er nicht
spielen‘, sagt Gulda zu Maxian im gleichen Augenblick.“
66
Auch der österreichische Jazz-Pianist Fritz Pauer sieht in Gulda vor allem den
klassischen Pianisten: „Er hat sich mit Jazz-Phrasierung mehr auf intellektuelle
Art auseinander gesetzt […] Meiner Meinung nach war Friedrich Gulda
hauptsächlich in der so genannten klassischen Musik zuhause, seine
Formgebung, Phrasierung und Rhythmik sind von der klassischen Musik
beeinflusst.“
67
Auch die Kritiker der Tageszeitungen standen Gulda als Jazz-Pianist reserviert
gegenüber: „Guldas Hobby Jazz. Keiner im Auditorium hatte das
unwiderstehliche Bedürfnis in den Fußspitzen, den Takt mitzuwippen – dieses
65
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 263.
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 265.
67
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 83.
66
51
untrügliche Zeichen für jeden echten Jazz fehlte im ausverkauften Großen
Musikvereinssaal, als Friedrich Gulda dort sein eigens für die Wiener
Festwochen aus meist europäischen Spitzenjazzmusikern zusammengestelltes
„Eurojazz-Orchester“ vorstellte.“
68
Gulda hat einige Jahre auch Saxophon geübt. Sowohl der bekannte
österreichische Saxophonist Hans Salomon wie auch der Pianist Rudi Wilfer
vertraten die Ansicht, dass Gulda am Saxophon ein wesentlich besserer Jazzer
gewesen ist, weil er da das Hindernis der Perfektion des Pianisten nicht hatte.
3.3. ROLAND BATIK – SCHÜLER FRIEDRICH GULDAS
Roland Batik wurde 1951 in Wien geboren. Er studierte Klavier an der
Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien (heute: Universität) bei
Professor W. Fleischmann und Jazz-Piano bei Fritz Pauer. Privat studierte er
bei Friedrich Gulda, dessen Sohn Paul er später selbst unterrichtete. Er schloss
sein Klassik- und Jazz- Studium fast gleichzeitig 1975 ab. Im selben Jahr
debütierte er im Musikverein. Seit 1978 unterrichtet er am Konservatorium der
Stadt Wien (heute Konservatorium Wien Privatuniversität).
Besonders erfolgreich war die Zusammenarbeit mit Paul Gulda als Klavier-Duo
von 1982 bis 1988. Danach trat Roland Batik als Pianist auf, der in seinen
Klavierabenden das klassische, romantische und impressionistische Repertoire
mit eigenen Kompositionen kombinierte. (Ein solches Programm ist zum
Beispiel auf der 2004 eingespielten CD: „Roland Batik – From Bach to Batik“
dokumentiert, die Kompositionen von J. S. Bach, F. Schubert und R. Batik
enthält, unter anderem seinen „Waltz for Patrizia“.)
Roland Batik gründete 1977 sein Klaviertrio mit Heinrich Werkl (bass) und
Walter Grassman (drums), mit dem er zahlreiche Auftritte sowohl in
traditionellen Konzertsälen als auch in Jazz-Clubs hatte. Die Musik dieses
Trios, das fast ausschließlich Kompositionen von Roland Batik interpretiert,
wurde auf mehreren CDs veröffentlicht, zum Beispiel auf der CD: „Roland Batik
68
Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 116.
52
Trio – Roots“ (1994), die unter anderen seine bekannteste Komposition
„Bagatelle“ enthält. Batiks Kompositionen für Jazz-Trio zeigen sein Gefühl für
formale Geschlossenheit wie bei seinem Lehrer Friedrich Gulda. Er hat auch
eine Reihe von Kompositionen für Klavier und Orchester veröffentlicht, zum
Beispiel die Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 und ein Konzert für Klavier, Percussion
und Orchester.
Über seine Doppelrolle als Pianist und Komponist schreibt Batik auf seiner
Homepage: „Ich bin natürlich ein Pianist, der auch komponiert und aus seinem
Spiel heraus etwas entwickelt. So steht bei mir auch der Weg zur Komposition
im Zusammenhang mit dem Klavier – eigentlich geht es immer über die
Improvisation. Wenn ich ein gutes Motiv finde, versuche ich es festzuhalten und
zu entwickeln. Mein Stil? Ich habe noch immer den Mut, im tonalen Bereich zu
bleiben; das Innovativ-Zeitgeistige geht an mir zwar nicht vorüber, aber es gibt
so viele, die in diese Richtung arbeiten. Da ist es vielleicht nicht ganz falsch,
etwas anderes [zu] machen. Außerdem kann ich einfach nicht anders!“
69
In einem Interview mit der „Zeitschrift der Gesellschaft der Musikfreunde in
Wien“ (2006) sagte Batik zu den technischen Anforderungen, die heute an die
Pianistinnen und Pianisten sowohl im Bereich der Klassik wie des Jazz gestellt
werden, dass es wegen der fortgeschrittenen Spezialisierung sehr schwierig
sei, in beiden Bereichen Höchstleistungen zu erbringen. Auf die Frage, ob es
früher nicht Musiker im Jazz gegeben habe, die technisch viel einfacher
spielten, antwortete Batik: „Es gab zum Beispiel den prägenden Jazzpianisten
Thelonious Monk, der mit einer ureigenen Spielart sehr kauzig, sehr originell,
sehr ‚dirty‘ war und im technischen Bereich kein hoch ausgebildeter Pianist.
Trotzdem war seine Ausdrucksstärke enorm. Er hat noch immer Vorbildwirkung
auf ganze Pianistengenerationen. Das etwas Schlampige könnte man im Jazz
so interpretieren, daß es im Jazz etwas geben muß, was man fühlen und
erleben muß, wo man sich einfach fallenlassen können muß, in die Musik.“
70
Batik versucht als Klavierpädagoge, der sich intensiv mit Jazz auseinander
setzt, seinen Studentinnen und Studenten zwei Erfahrungen zu weiterzugeben:
69
Roland Batik, in: Roland Batik - Homepage [online verfügbar: www.rolandbatik.com 16.2.2012]
Roland Batik, in: Musikverein-Monatszeitung, März 2006 [online verfügbar:
http://www.musikverein.at/monatszeitung/monatszeitung.asp?idx=709 18.2.2012]
70
53
Einerseits versucht er ihnen eine Ahnung von der Kunst der Improvisation zu
vermitteln, andererseits ihnen ein starkes Rhythmusgefühl zu geben. „Ich merke
eben auch, daß es da ein Defizit gibt, daß viele junge Menschen sich in der
klassischen Interpretation einen agogischen Freiraum nehmen und sich in ein
Tempo rubato flüchten, ohne vorher den Puls, den „Beat“ wirklich erlebt zu
haben. Denn erst, wenn man den Puls, das rhythmische Grundkonzept
verstanden hat, darf man beginnen, persönliche Spielräume auszuloten, frei zu
werden. Aber einfach ‚frei‘ zu spielen und agogisch hin- und herzuziehen (und
hier wird er fast streng), das ist für mich dann definitiv unrhythmisch […]
Wirklich große, stilbildende Musiker hatten das eben: das perfekte Timing.“
71
3.4. KATIA LABEQUE – INTERPRETIN VON „JAZZKOMPOSITIONEN“
Katia Labeque wurde 1950 in Hendaye (Frankreich) geboren, ihre Schwester
Marielle Labeque 1952 ebenfalls in Hendaye. Die beiden Schwestern erhielten
bereits früh Klavierunterricht von ihrer Mutter Ada Cecchi, einer italienischen
Pianistin, die Schülerin von Marguerite Long war. Sie studierten am Pariser
Konservatorium und bildeten nach ihrem Studienabschluss 1968 ein KlavierDuo. Das Duo Labeque ist bis heute eines der berühmtesten Klavier-Duos mit
einem breiten Repertoire, das von J. S. Bach bis Berio und Messiaen reicht. 72
Die beiden Schwestern gründeten ein eigenes Platten-Label, um damit
gemeinsam mit zeitgenössischen Künstlern Projekte verwirklichen zu können,
für die die großen internationalen Firmen wenig Interesse zeigten.
Katia Labeque entdeckte parallel zu ihrer Karriere als klassische Pianistin ihre
Neigung zum Jazz, gleichzeitig wurden bedeutende Jazz-Musiker auf sie
aufmerksam. So veröffentlichte zum Beispiel der Trompeter Miles Davis auf
seinem Album „Your’re Under Arrest“ (1985) zwei Stücke („Katia Prelude“ und
71
Roland Batik, in: Musikverein-Monatszeitung, März 2006 [online verfügbar:
http://www.musikverein.at/monatszeitung/monatszeitung.asp?idx=709 18.2.2012]
72
Zu weiteren biografischen Details siehe Ingo Harden/ Gregor Willmes, Pianisten Profile, S. 409.
54
„Katia“), die Pop-Sängerin Madonna bezeichnete Katia Labeque als eine ihrer
„Lieblingspianistinnen“.
In den 80er Jahren musizierte Katia Labeque mit dem Jazz-Gitarristen John
McLaughlin, 2001 gründete sie die Katia-Labeque-Band. Gemeinsam mit ihrer
Schwester Marielle spielte sie auf Konzertflügeln und auf Synthesizern Musik
von John McLaughlin, Miles Davis, Chick Corea, Thelonious Monk und
anderen. Für ihren Zugang zum Jazz ist ihre 1995 veröffentlichte CD „Katia
Labeque – Little Girl Blue“ besonders informativ. Auf dieser CD ist sie im Duo
mit berühmten Jazz-Pianisten – Chick Corea, Herbie Hancock, Gonzalo
Rubalcaba, Joe Zawinul und Michel Camilo – zu hören. Es handelt sich dabei
aber nicht um konventionelle Jazz-Improvisationen an zwei Klavieren, sondern
bei Katia Labeque (zum Teil) um das genaue Nachspielen von Improvisationen,
die von anderen Jazz-Pianisten eingespielt worden sind.
Als Beispiel dafür sei auf ihre Interpretation des bekannten Jazz-Standards „My
Funny Valentine“, gemeinsam mit Herbie Hancock, hingewiesen. Sie spielt hier
Note für Note Improvisationen nach, die Hancock 1964 und 1978 eingespielt
hat. „It was Katia’s idea that Herbie Hancock should improvise a conversation
with two of his own earlier selves. The introduction of ‘My Funny Valentine’ is
from Miles Davis’s 1964 album of the same name, and then Katia plays the
interpretation of the tune which Hancock recorded in 1978. After 3 mins. 20
secs. the new material begins, as Herbie joins in and creates a new solo over
Katia’s backing for 2-1/2 minutes, which he then continues as a 1995
accompaniment to Katia’s performance of his 1964 improvisation (transcribed
like the 1978 version by the writer of these comments). The roles are then
reversed again as Herbie takes over the lead for the closing minute, resolving
the cumulative collaboration with an ending which was left deliberately
undecided until the recording session.“
73
Über ihr Jazz-Spiel sagte Katia Labeque: „I don’t play jazz, I play the music of
jazz composers.“ Sie sieht sich mit ihrer Praxis, Improvisationen anderer
Pianisten zu reproduzieren in der Tradition jener klassischen
73
Brian Priestley, in: Beiheft zur CD „Katia Labeque – Little Girl Blue“, S. 3 f.
55
Pianisten/Komponisten, die ausgehend von ihren Interpretationen neue Werke
komponierten.
Auf ihrer 2009 veröffentlichten CD „Katia Labeque – Shape of my heart“
arbeitete sie wieder mit Pop- und Jazz-Musikern zusammen (Sting, Herbie
Hancock, Gonzalo Rubalcaba) und interpretiert auch Kompositionen von
Chopin und Satie.
3.5. KLASSISCHE PIANISTEN SPIELEN JAZZ – WARUM NICHT
„DIRTY“?
Wie spielen klassisch ausgebildete Pianisten Jazz? Was ist ihren
Interpretationen gemeinsam? Ein genaues vergleichendes Hören der JazzProduktionen von Friedrich Gulda, Roland Batik und Katia Labeque (ein
ähnliches Urteil würde auch für Andre Previn als Jazz-Pianist gelten, der aber,
da „hauptberuflich“ Dirigent klassischer Symphonieorchester, in dieser Arbeit
nicht berücksichtig werden konnte) führt zu folgender Einschätzung:
Gemeinsam ist diesen Pianisten als Jazz-Musiker eine im Vergleich zu
professionellen Jazz-Pianisten auffallende Zurückhaltung und Glätte. Es fehlt
ihrem Spiel durchgehend jene Ekstase, die für die Sprache des Jazz typisch ist.
Um nochmals Batik zu zitieren: Sie spielen nicht „dirty“.
Über die Gründe für das unzureichende Beherrschen der Sprache des Jazz
durch klassisch ausgebildete Musiker lässt sich Folgendes vermuten:
Erstens ist, worauf Batik hingewiesen hat, die Spezialisierung in diesen beiden
Musikbereichen so weit fortgeschritten, dass die vollkommene Beherrschung
beider Musiksprachen kaum noch möglich ist. Keine Pianistin und kein Pianist
könnten zum Beispiel acht Stunden am Tag klassische Werke üben und danach
weitere acht Stunden Jazz üben und in einem Jazz-Lokal spielen.
Zweitens verlangen die beiden Musiksprachen eine völlig unterschiedliche
Beherrschung des Rhythmus und der Aufteilung des musikalischen Materials in
der Zeit. (Rubato und Agogik in der klassischen Musik, Timing im Jazz.)
56
Drittens dürfte die grundlegend unterschiedliche Art der Phrasierung und der
Tonbildung dazu führen, dass eine Spezialisierung auf nur eine der beiden
Musiksprachen notwendig wird. Klassisch ausgebildete Pianistinnen und
Pianisten werden jahrelang geschult, ein „schönes“ Legatospiel zu erzielen und
in längeren Phrasen zu denken, Fähigkeiten, die der Sprache des Jazz
widersprechen.
Viertens unterscheiden sich auch die Denkweise und der Zugang zur Tastatur
des Klaviers bei klassischen Pianisten und bei Jazz-Pianisten: Ihr „Tastenbild“
ist verschieden – sie „sehen“ unterschiedliche Herausforderungen. JazzPianisten „sehen“ auf der Tastatur Skalen und Akkorde, die ihnen als Basis für
Improvisationen dienen. Klassische Pianisten „sehen“ die vorgegebenen und
auszuführenden Phrasen und Stimmführungen voraus.
57
KAPITEL 4. JAZZ-PIANISTEN ALS INTERPRETEN KLASSISCHER
MUSIK
Während klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten sich häufiger dem
Jazz zuwenden, ist die Zahl der Jazz-Pianisten, die klassische Musik in
öffentlichen Konzerten oder auf Tonträgern interpretieren, sehr beschränkt. Der
einzige Jazz-Pianist mit Weltruhm, der öfters mit klassischen Programmen
aufgetreten ist und eine Reihe von Tonträgern mit Werken der klassischen
Musik veröffentlicht hat, ist Keith Jarrett. Einige seiner diesbezüglichen
Interpretationen werden in diesem Kapitel analysiert. Ferner werden kurz die
Interpretationen klassischer Musik durch Chick Corea und Joe Zawinul
besprochen, die beide von Friedrich Gulda beeinflusst worden sind und mit ihm
zusammen gearbeitet haben.
4.1. KEITH JARRETT
Keith Jarrett wurde 1945 in Allentown, Pennsylvania (USA) geboren und erhielt
bereits seit dem dritten Lebensjahr Klavierunterricht. Mit sieben Jahren trat er
zum ersten Mal mit einem Programm auf, das sowohl klassische Werke als
auch eigene Kompositionen beinhaltete. Er lehnte ein Angebot ab, bei Nadia
Boulanger (1887 – 1979, französische Komponistin, Pianistin, Dirigentin,
Musiktheoretikerin und Musikpädagogin) in Paris zu studieren und begann ein
Studium am Berklee College of Music in Boston. Sein Studium finanzierte er als
Bar-Pianist.
Ab den frühen 60er Jahren spielte er mit bekannten Jazz-Musikern wie dem
Trompeter Chet Baker, dem Saxophonisten Lee Konitz und dem Schlagzeuger
Art Blakey zusammen. 1961 gründete er ein eigenes Trio mit dem Bassisten
Charlie Haden und dem Schlagzeuger Paul Motian. Der Durchbruch als JazzPianist gelang ihm ab 1969 als Mitglied der Jazzrockformation von Miles Davis,
in der er neben Chick Corea vor allem E-Piano und Orgel spielte.
58
Nach einigen Plattenaufnahmen für Columbia Records, die sich dann aber
gegen Jarrett und für den Jazz-Pianisten Herbie Hancock entschied,
veröffentlichte er sein erstes Solo-Album „Facing You“ (1972) mit dem
deutschen Produzenden Manfred Eicher, der 1969 sein Label „ECM“ unter
anderen mit einem Solo-Album von Chick Corea gegründet hatte. Seit 1977
wurden fast alle Einspielungen Jarretts von Manfred Eicher produziert, auch die
mit klassischer Musik.
1973 begann Jarrett mit Solo-Konzerten, in denen er eine neue Form
weitausgedehnter Jazz-Improvisationen entwickelte. Diese neue Art
improvisierter Konzerte wurde auf zahlreichen Tonträgern dokumentiert. Sein
berühmtestes Album ist „The Köln Concert“ (1975), auf dem zum Beispiel der
erste improvisierte Teil über 26 Minuten dauert. (Von diesem Konzert wurde –
nachdem Jarrett seinen Widerstand dagegen aufgegeben hatte – eine
komplette Transkription veröffentlicht.)
Zwei weitere Jazz-Formationen Jarretts seien noch erwähnt: Das in den 70er
Jahren von Manfred Eicher produzierte Quartett mit Jarrett und Jan Garbarek
(„Belonging“, 1974, „My Song“, 1978) sowie das 1983 gegründete Trio mit Gary
Peacock (bass) und Jack DeJohnette (drums), das bis heute außerordentlich
erfolgreich zahlreiche Standards-Einspielungen des traditionellen BroadwayRepertoires veröffentlichte.
Zu Beginn der 80er Jahre begann Jarrett sich intensiv mit klassischen Werken
zu beschäftigen. Anfangs spielte er aber in öffentlichen Konzerten – um sich
nicht vom Beginn an übermächtiger Konkurrenz auszusetzen – unbekannte und
ungewöhnliche Kompositionen, zum Beispiel Musik von Lou Harrison (1917 –
2003, amerikanischer Komponist, der sein Klavierkonzert Keith Jarrett
widmete). Später interpretierte er Kompositionen von Samuel Barber,
Stravinsky und anderen und begann die Zusammenarbeit mit berühmten
Musikern wie zum Beispiel dem Pianisten Vladimir Ashkenazy und dem
Dirigenten und Spezialisten für Alte Musik, Christopher Hogwood. Allerdings
beschloss Jarrett nach einer Zeitungskritik eines seiner Konzerte im Lincoln
Center keine öffentlichen Konzerte mehr mit klassischen Werken zu spielen,
sondern sich auf Plattenproduktionen zu beschränken. So spielte er etwa
59
Suiten von Händel, die beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers von J. S.
Bach, die „Goldberg Variationen“ sowie einige Mozart-Klavierkonzerte ein.
In einem 1996 geführten Interview mit dem Pianisten Ted Rosenthal
(veröffentlicht in „Piano and Keyboard Magazine“ 1997) hat sich Jarrett
ausführlich zu den Problemen geäußert, denen Jazz-Pianisten
gegenüberstehen, wenn sie klassische Musik aufführen. 74
Jarrett betont in diesem Interview, dass ein Auftritt als „klassischer“ Pianist eine
wesentlich andere Vorbereitung verlangt, als ein Auftritt als Jazz-Pianist: „Well
you have to clean up your act to do the classical repertoire and jazz doesn’t
demand that, but the more of an arsenal you have to use, the better. So in that
sense, jazz never demands that you work on a particular thing […] I suffer from
the same nerves that all the other classical players have […] I didn’t have that
problem until I got into the classical world […]“ 75
Auf die Frage, ob er in einem Konzert in der ersten Hälfte Mozart und in der
zweiten Hälfte Jazz mit seinem Trio spielen würde, antwortete Jarrett: „I mean
that is true insanity […] I think the thing that can get ruined, that would be
destroyed first if someone does both these, is the jazz.“
76
Er begründet diese
Aussage folgendermaßen: „Because if a player gets used to not disappearing
into the music completely and starts thinking about the kind of details you have
to think about in classical performance, that’s not what you should be doing
when you play the blues […] I think if someone sat down and looked at (the
people) who play jazz and classical music, it’s almost 100 percent across the
board that they don’t really have an individual jazz voice […] You become a
musicologist when you become a classical player. You go back to jazz and if
you’re a musicologist, then you’re like a jazz professor.“
74
77
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
75
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
76
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
77
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
60
Diese Einstellung Jarretts führt ihn auch dazu, niemals die Kadenzen in
klassischen Klavierkonzerten zu improvisieren: „I don’t improvise in historical
context.“
78
Dennoch sieht Jarrett einen positiven Einfluss des Spielens klassischer Musik
auf ihn als Jazz-Pianist. Auf die Frage: „When you play with the trio after a
period of playing Mozart, how would you say the Mozart affects your jazz
playing?“ antwortet Jarrett: „Mostly the touch. If I think of what happens with my
jazz playing, it’s mainly that I could actually add colors within the same
perimeters that I might have used before, and have there be more music in the
same amount of notes than there used to be.“ 79 Er sieht allerdings in dieser
Wirkung auch eine Gefahr für den Jazz-Pianisten: „You can’t let the clarity that
you can develop become something you use in jazz because it would be like
hearing a white Oscar Peterson solo!“
80
Jarrett kritisiert in diesem Interview auch die konservativen Tendenzen im
heutigen Jazz. Die akademische Ausbildung junger Jazz-Musiker führe dazu,
dass sich kaum mehr neue, individuelle Stile und Ausdrucksformen entwickeln
können. Der Jazz würde immer mehr zu einer musealen Kunst: „It reminds me
of setting up a museum. That’s what you put in museums, things that are
finished […] Because the whole survival of jazz depends on there being people
who aren’t playing like anybody else.“
81
Keith Jarrett hat circa zwanzig Alben mit „klassischer“ Musik beziehungsweise
mit eigenen Kompositionen, die der E-Musik zuzuordnen sind, eingespielt.
Bereits in den 70er Jahren veröffentlichte er eigene Kompositionen für Klavier
und verschiedene Kammermusik-Ensembles. Für die Zwecke der vorliegenden
Arbeit wurden vor allem seine kompletten Einspielungen der beiden Bände von
J. S. Bachs Wohltemperiertem Klavier und der 24 Präludien und Fugen op. 87
von Dmitri Schostakowitsch analysiert. Diese beiden umfangreichen Zyklen
78
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
79
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
80
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
81
Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar:
http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012]
61
weisen Parallelen, aber auch Unterschiede auf. Schostakowitsch bezieht sich
insofern auf J. S. Bach, als er einen Zyklus von Präludien und Fugen in allen
Tonarten komponierte. Die Unterschiede liegen darin, dass Schostakowitsch
keine chromatische Abfolge der Stücke vorsieht (sie sind im Quinten-Zirkel
angeordnet) und auch darin, dass Schostakowitschs Präludien formal
unselbstständig und nur als Einleitung zu den anschließenden Fugen angelegt
sind. Der Grund dafür, dass Jarrett gerade diese Zyklen eingespielt hat, dürfte
in den Beziehungen zwischen diesen stilistisch völlig unterschiedlichen Werken
sein.
Über die Bach-Interpretation Jarretts schreibt der deutsche Musikpublizist
Hans-Klaus Jungheinrich im Beiheft zu Schostakowitschs op. 87, dass „Jarretts
Bachspiel von großer Gelassenheit gekennzeichnet ist, auf auffälligere
Maßnahmen, auf jedwede ‚Mache‘, auf all die beliebten und neugierig
erwarteten Virtuosen-Visitenkarten, vollständig verzichtet. Man muß dafür den
Begriff der Interpretation verabschieden und auf den bescheideneren, aber
auch umfassenderen der Wiedergabe zurückgreifen. Jarrett ist sicherlich
besonders an überpersönlichen, ‚objektiven‘ Gegebenheiten und Gehalten der
Bachschen Musik interessiert. Und das als ein Musiker, der sich,
improvisierend, am Klavier voll auslebte.“ 82 Eine ähnliche Einschätzung findet
sich durchgehend in den Rezensionen von Jarretts SchostakowitschEinspielung, die entweder (positiv) als „gelassen“ oder (negativ) als
„konventionell“ bezeichnet wurde.
4.2.
CHICK COREA
Chick Corea zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Jazz-Pianisten und
Jazz-Komponisten. Er wurde 1941 in Chelsea (Massachusetts, USA) geboren
und erhielt mit vier Jahren durch seinen Vater, einem Bandleader,
Klavierunterricht. Schon früh entdeckte er für sich den Jazz. Er nennt als seine
82
Hans-Klaus Jungheinrich, Die Fuge als Idee des Absoluten, in: Beiheft zur CD „Keith Jarrett, Dmitri
Shostakovich – 24 Preludes und Fuges op. 87”.
62
Vorbilder unter den Jazz-Pianisten Horace Silver und Bud Powell. Sein erstes
Solo-Album nahm er 1966 auf.
Seit damals hat Corea mit verschiedenen Jazz-Formationen (zum Beispiel mit
seiner Band „Return to Forever“ oder der „Elektric Band“) sowie solo zahlreiche
Alben veröffentlicht.
Als Komponist schrieb er auch Werke, die der E-Musik nahe stehen. Bekannt
wurden vor allem seine „Children‘s Songs“ (1984), ein Zyklus von leichten bis
mittelschweren Klavierstücken. Ferner komponierte Corea zwei Klavierkonzerte
(das erste im Jahr 2000, das zweite mit dem Titel „ The Continents“ 2006, das
im Rahmen des Mozart-Jahres 2006 in der Wiener Staatsoper uraufgeführt
wurde.)
Anlässlich seines Auftritts mit seinem zweiten Klavierkonzert in Wien beschrieb
er in einem Interview seine Beziehung zur klassischen Musik, insbesondere zu
Mozart: „Die Idee, ein Klavierkonzert a la Mozart zu schreiben, kam mir vor 23
Jahren, als ich seiner Musik das erste Mal bewusst begegnet bin […] 1983
wurde ich zum Münchner Klaviersommer eingeladen, wo sonst nur klassische
Pianisten spielten. Ich war dort der einzige Jazzpianist. Es spielte auch
Friedrich Gulda […] und er ließ mir ausrichten, dass er mich treffen wollte. […]
Er wollte mich nicht sehen oder sprechen, sondern wir sollten uns gleich im
Konzertsaal auf der Bühne begegnen. Also spielten wir. Es galt zu
improvisieren. Wir fanden Dinge - es war wilde Musik. Und nach einer Zeit,
gerade als er mit dem ganzen Arm das Klavier bearbeitet hat, entschied ich
mich aufzuhören, und ihn sich zeigen zu lassen. Es ging noch ziemlich wild zu,
bis er plötzlich ganz zart eine kleine Melodie spielte, die ganz offensichtlich
notierte Musik war. Ich dachte, das muss von einem jungen talentierten
Komponisten sein, von einem, von dem ich noch nichts gehört hatte, der im
klassischen Stil schreibt. Später hab ich Gulda gefragt, von wem diese Musik
war, und er hat ganz entsetzt geantwortet: 'Natürlich Mozart!' Jetzt wollte ich
mehr wissen. Einige Zeit später hatte ich in meinem Briefkasten einen riesigen
Umschlag und darin war die Partitur von Mozarts Konzert für zwei Klaviere in
Es-Dur KV 365 mit einer kleinen Notiz von Gulda: 'Du wolltest mehr über Mozart
lernen?! Du spielst die zweite Stimme beim Amsterdamer Festival.' Beide,
63
Nikolaus Harnoncourt und Friedrich Gulda, haben mir Mut gemacht, und so
spielten wir mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester ohne Probe das
Konzert.“
83
Die Einspielung des Konzerts für zwei Klaviere und Orchester Nr. 10 Es-Dur KV
365 von W.A.Mozart durch Chick Corea und Friedrich Gulda mit dem
Concertgebouw Orchester unter Nikolaus Harnoncourt ist für die Fragestellung
der vorliegenden Arbeit von besonders großer Bedeutung, da sie die
Möglichkeit bietet, die Ausdrucksweise eines klassischen Pianisten mit der
eines Jazz-Pianisten, der ausnahmsweise ein klassisches Konzert spielt,
unmittelbar zu vergleichen. Mozart schrieb dieses Konzert 1779 nach der für ihn
enttäuschenden Reise nach Paris für sich und seine Schwester Nannerl. Er hat
dieses Konzert offensichtlich sehr geschätzt und bei seinen AkademieKonzerten in Wien wiederaufgeführt. Es bietet für beide Solisten vielfältige
Möglichkeiten des Zusammenspiels und der gegenseitigen musikalischen
Konversation.
Hinsichtlich der Interpretation durch Corea und Gulda schreibt Werner
Burkhardt (deutscher Jazz-Journalist und Musik- und Theaterkritiker): „Corea
kommt von links, Gulda von rechts […] Wahlverwandt scheinen die Solisten und
dennoch Kontrastfiguren. Gulda wirkt heller und sicherer, Corea dunkler und
suchender, ohne deshalb technisch ins Hintertreffen zu geraten.“
84
Hört man diese Aufnahme aus 1984 (vor allem, wenn man sie konzentriert über
Kopfhörer anhört), dann erscheint das Urteil Burkhardts über den
unterschiedlichen Zugang der beiden Pianisten zur Mozart-Interpretation
übervorsichtig. Tatsächlich könnte der Kontrast zwischen dem selbstsicheren
und kräftigen Spiel Guldas und dem vorsichtigen und zurückhaltenden Spiel
Coreas gar nicht größer sein. Das wird bereits in den allerersten Takten der
Solisten nach der Orchestereinleitung klar. Die Parallelen zwischen dem
Zugang Coreas zu klassischen Werken und dem Keith Jarretts sind
83
Chick Corea, in: Interview in Kulturwoche.at [online verfügbar
http://www.kulturwoche.at/index.php?option=com_content&task=view&id=17&Itemid=27 16.2.2012]
84
Werner Burkhardt, in: Beiheft zur CD „Chick Corea / Friedrich Gulda / Concertgebow Orchestra mit
Nikolaus Harnoncourt, Mozart Double Concerto“.
64
offensichtlich: Äußerste Zurückhaltung in der Dynamik, „neutrale“ Wiedergabe
des Notentexts.
Zwölf Jahre später (1996) realisierte Chick Corea gemeinsam mit dem JazzSänger und Dirigenten Bobby McFerrin ein weiteres Mozart-Projekt, diesmal mit
sechsmonatiger Vorbereitungszeit. Sie spielten gemeinsam mit dem Saint Paul
Orchestra die Konzerte Nr. 23 in A-Dur KV 488 sowie und Nr. 20 in d-moll KV
466 ein. Trotz zweier Probentage, vier Konzerten und einer zwei Tage
dauernden Einspielung erscheint das Ergebnis in stilistischer Hinsicht
problematisch. Zum A-Dur Konzert ist folgendes festzustellen:
Corea und McFerrin stellen dem Konzert ein „Prelude“ voran, ein in A-Dur
improvisiertes „Hinmoderieren“ durch Gesang und Klavier. Dazu schreibt Tony
Scherman im Beiheft zur CD: „Die beiden kurzen Präludien zu den Konzerten
waren Coreas Idee. ‚Im Jazz sind Einführungen des Klaviers seit eh und je ein
Mittel, sich einzustimmen, sich zu sammeln und die Muse anzurufen.‘ Diese
Präludien sollen nicht nur Corea Spaß machen, sie sind auch fürs Publikum
gedacht. ‚Stellen Sie sich einen Gastgeber vor, der seine Gäste zu einer großen
Party begrüßt‘, erläutert Corea. ‚Er tritt vors Haus und sagt: ‚Willkommen!
Schön, daß Sie gekommen sind.‘ Dann lotst er sie geschickt ins Haus, führt sie
ein bißchen herum und versetzt sie in die richtige Stimmung. Genau so sollen
diese Präludien wirken: wie eine sanfte Einleitung, ein persönlicher,
improvisierter und spontaner Ausblick auf das Hauptereignis.‘“
85
An dieses „Prelude“ schließt unmittelbar Mozarts Orchester-Einleitung an.
Corea spielt zu den Orchester-Tutti die entsprechenden Harmonien und selten
kurze Verzierungen. Die solistischen Passagen im ersten Satz (Allegro) sind oft
rhythmisch ungenau. Während im Jazz „swingend“ gespielt wird, stört diese
Spielweise bei Mozart. Das aus dem Jazz übernommene Synkopieren und die
jazzmäßigen Vorhalte wirken oft willkürlich. Corea setzt oft unvermittelt Akzente
auf schwache Notenwerte wie im Jazz. (Das fällt besonders störend, weil dem
Stil Mozarts widersprechend, in den Takten 256 – 266 auf.) Verzierungen
klingen oft ungenau, Phrasenenden steif. Die von Corea improvisierten
85
Tony Scherman (übersetzt von Ulrike Bode), Mozart und die Muse des Musizierens, in: Beiheft zur CD
„Bobby McFerrin / Chick Corea, The Mozart Sessions“.
65
Verzierungen entsprechen nicht dem Stil Mozarts. Coreas Staccato, vom Jazz
geprägt, ist meist zu scharf. Der positive Höhepunkt der Einspielung des ersten
Satzes liegt in der frei improvisierten Kadenz. Sie erklingt zwar nicht im MozartStil, demonstriert aber Originalität und Professionalität eines großen JazzPianisten.
Im zweiten Satz (Adagio) fällt eine gewisse stilistische Unsicherheit auf. Corea
versucht durch improvisierte Verzierungen den Satz auf seine Art zu „beleben“,
erreicht aber nur Ähnlichkeiten mit sentimentaler Unterhaltungsmusik.
Im dritten Satz (Allegro assai) fallen veränderte Verzierungen auf, die
offensichtlich aus technischen Gründen der Vereinfachung gewählt werden.
4.3. JOE ZAWINUL
Joe Zawinul war einer der bedeutendsten Jazz-Musiker des 20. Jahrhunderts.
Er wurde 1932 in Wien geboren und starb dort 2007. Als er mit sechs Jahren
ein kleines Akkordeon geschenkt erhielt, begann er sich intensiv mit Musik zu
beschäftigen. Als sich herausstellte, dass Zawinul über ein absolutes Gehör
verfügte, erhielt er einen „Freiplatz“ am Konservatorium der Stadt Wien für den
kostenlosen Unterricht in Klavier, Violine und Klarinette. Anfangs dachte er an
eine Karriere als klassischer Pianist. Als er mit zwölf Jahren zum ersten Mal
Jazz-Musik hörte, begann er seine Pläne zu ändern. Schließlich brach er als
17-Jähriger seine Vorbereitung zu dem Genfer Klavierwettbewerb 1949 ab und
konzentrierte sich auf den Jazz. Er lernte 1951 Friedrich Gulda kennen und
arbeitete ab 1952 als Jazz-Musiker in Österreich.
Zawinul gründete zusammen mit dem Saxophonisten Hans Salomon die JazzBand „Austrian All Stars“, die durch die Unterstützung durch Friedrich Gulda
auch international bekannt wurde. 1959 übersiedelte er in die USA, wo er
bereits nach kurzer Zeit als Liedbegleiter von Ella Fitzgerald tätig war. In der
Folge spielte er mit berühmten amerikanischen Jazz- Musikerinnen und Musikern zusammen, zum Beispiel mit Dinah Washington. Von 1961 bis 1970
spielte er im Quintett von Cannonball Adderley. Für diese Band komponierte er
66
zahlreiche Stücke, unter anderen seinen ersten großen Erfolg „Mercy, Mercy,
Mercy“. (In der Single-Version wurde diese Aufnahme über eine Million Mal
verkauft.)
Entscheidend war für ihn die Zusammenarbeit mit Miles Davis ab 1969/70, mit
dem er komplexe Rhythmen und neue musikalischen Formen entwickelte.
Große kommerzielle Erfolge feierte Zawinul mit seiner Band „Weather Report“
in den 70er und 80er Jahren. Mit seinem Ensemble „Zawinul Syndicate“
entwickelte er einen eigenen Stil, der Elemente des Jazz mit der Welt- und
Popmusik verband.
Von Joe Zawinul wurde nur eine einzige Aufnahme einer klassischen
Komposition veröffentlicht. 1988 spielte er gemeinsam mit Friedrich Gulda in
der Kölner Philharmonie die Variationen über ein Thema von Joseph Haydn,
op. 56b von Johannes Brahms. (Im Rahmen dieses Konzerts wurden auch
Kompositionen von Gulda und Zawinul aufgeführt.) Über dieses Konzert schrieb
Friedrich Gulda: „Der dramaturgische Ablauf des heutigen Programms führt tief
in die österreichische Tradition hinein, weit zurück bis zu einem populären alten
Wallfahrtslied, aufgezeichnet von Joseph Haydn, variiert von Johannes Brahms.
Warum dies aber im Duett mit Josef Zawinul, dem Star der internationalen
Rockjazz Szene? Weil dieser ebenso wie ich, tief in der urösterreichischen
Tradition verwurzelt ist, ein Wiener Erzmusikant, wie er im Büchl steht, der auf
seine Weise etwas meiner Sache ganz Ähnliches tat und tut: nämlich sich der
internationalen Musik zu öffnen aber nicht, um sich ihr auszuliefern, sondern um
sie zu beherrschen und doch dabei niemals zu vergessen, was er seinen
eigenen musikalischen Wurzeln (roots) schuldet. Deshalb ist er für mich bei
Haydn und Brahms der einzig richtige Partner.“
86
Diese Einspielung von Brahms‘ Haydn-Variationen dokumentiert auch das vor
allem von Gulda oft praktizierte „Hinmoderieren“ – Gulda und Zawinul
präludieren improvisiert einige Minuten, bevor sie mit dem Haydn-Thema
einsetzen.
86
Tony Scherman (übersetzt von Ulrike Bode), Mozart und die Muse des Musizierens, in: Beiheft zur CD
„Bobby McFerrin / Chick Corea, The Mozart Sessions“.
67
4.4. JAZZ-PIANISTEN SPIELEN „KLASSIK“ – WARUM SO
„BRAV“?
Im Abschnitt 3.5. „Klassische Pianisten spielen Jazz – Warum nicht „dirty“?“
wurden einige Überlegungen darüber angestellt, aus welchen Gründen die
Jazz-Einspielungen von klassisch ausgebildeten Pianistinnen und Pianisten oft
zurückhaltend klingen. Analysiert man die Klassik-Einspielungen bekannter
Jazz-Musiker, kommt man zu dem gleichenErgebnis: die Interpretationen
wirken zurückhaltend, vorsichtig und unpersönlich.
Als Beispiel dafür sei auf Präludium und Fuge Nr. 4 in e-moll von Dmitri
Schostakowitsch in der Interpretation von Keith Jarrett hingewiesen. Jarrett
genießt offensichtlich in der Fuge den harmonischen Wohlklang dieses Stücks,
es ist ihm aber nicht wichtig, die Struktur der Fuge durch das Hervorheben der
Einsätze des Fugen-Themas darzustellen. Durch die undeutliche
Stimmführung wird aus der Fuge Schostakowitschs meditative
„Hintergrundmusik“.
Das Problem, das Jazz-Pianistinnen und Pianisten mit klassischen Werken
haben, dürfte darin liegen, dass sie die im Jazz erworbenen pianistischen
Ausdrucksformen (Verlauf der Harmonien, Akzente, Spontanität) beim Spielen
klassischer Musik nicht einsetzen können.
68
KAPITEL 5. „VERJAZZTE KLASSIK“
In diesem Abschnitt werden die Jazz-Arrangements und Interpretationen von
klassischen Werken durch fünf Jazz-Pianisten und eine Pianistin kurz
untersucht: Jacques Loussier, John Lewis (Modern Jazz Quartet), Eugen
Cicero, Andrzej Jagodzinski, Leszek Mozdzer und Aziza Mustafa Zadeh.
5.1. JACQUES LOUSSIER
Bereits vor dem zweiten Weltkrieg hat der Jazz-Gitarrist Django Reinhardt
(1910 – 1953) das Experiment unternommen, Musik von J. S. Bach zu
„verjazzen“. Er spielte eine Suite von Improvisationen und eine „swingende“
Version des ersten Satzes von Bachs Violinkonzert in d-moll. Aber erst der
französische Pianist Jacques Loussier erzielte mit ähnlichen musikalischen
Experimenten Welterfolg.
Jacques Loussier wurde 1934 in Angers in Frankreich geboren. Bereits als
zehnjähriger Klavierschüler improvisierte er kleine Variationen über Präludien
aus dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“. Er studierte am Pariser
Konservatorium. In den 50er Jahren begann er sich mit Jazz-Arrangements von
Werken von J.S.Bach zu beschäftigen und gründete 1959 mit dem Bassisten
Pierre Michelot und dem Schlagzeuger Christian Garros sein „Play Bach Trio“.
Dieses Trio veröffentlichte 1959 die LP „Play Bach“ mit verjazzten
Arrangements von Präludien und Fugen aus dem Ersten Band des
Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach. Diese Einspielung – der noch vier
weitere „Play Bach“ – LP‘s folgen sollten, wurde zu einem millionenmal
verkauften Welterfolg, der bis heute andauert.
Der kanadische Pianist und Bach-Spezialist Glenn Gould soll über Loussier
gesagt haben: „Play Bach is a good way to play Bach“.
87
87
Jacques Loussier, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Jacques_Loussier
15.2.2012]
69
1978 löste Loussier dieses Trio auf und arbeitete vor allem als Filmkomponist.
1985 gründete er das „Play Bach Trio“ neu mit Vincent Charbonnier (bass) – ab
1997 mit Benoit Dunoyer de Segonzac – und dem Schlagzeuger Andre Arpino.
In dieser Besetzung veröffentlichte er zahlreiche Jazz-Arrangements von
klassischen Werken: Kompositionen von J. S. Bach, Vivaldi, Händel, Mozart,
Beethoven, Chopin, Ravel, Debussy und Satie. Seine neueste Veröffentlichung
sind die „Kinderszenen“ von Robert Schumann.
Seinen Weg zu Bach in Jazz-Arrangements beschreibt Jacques Loussier in
einem CD-Beiheft folgendermaßen: „Wenn mich heute jemand fragt, wie ich
auf die Idee zu ‚Play Bach‘ kam: Vielleicht war es eigentlich keine Idee, sondern
kam ganz natürlich […] Um ehrlich zu sein, schien es mir schon immer so, daß
sich die Jazzmusik ganz natürlich aus der Musik Bachs ergibt, sogar so
natürlich, daß ich mich manchmal frage ob der alte Leipziger Meister vielleicht
durch eine inspirierte Eingebung die Rhythmen aus der neuen Welt
vorausgesehen hat.
Während meines Studiums am Konservatorium begann ich sechs Jahre später
meine ersten Jazzimprovisationen der Bachmusik. Nein, natürlich nicht
während der Schulzeit, sondern beim Mittagessen im Speisesaal wenn mich
meine Freunde darum baten. Da entdeckte ich dann eine ganz andere
musikalische Auffassung: variiert, mit breiten Perspektiven, allen Einflüssen,
Sounds und Methoden gegenüber offen. Mit einem Wort: Freiheit.“
88
Ein charakteristisches Beispiel für die zahlreichen Jazz-Arrangements von
Jacques Loussier ist die 1993/94 eingespielte und 2004 veröffentlichte CD:
„The Best of Play Bach“. Darauf findet sich auch eine Einspielung des
„Italienischen Konzerts“ von J. S. Bach.
In der Fassung des Jacques Loussier Trios entspricht der erste Satz (Concerto)
weitgehend dem ursprünglichen Notentext. Allerdings wird die Bachsche
Komposition durchgehend im Stil der Jazz-Sprache verziert. Der Rhythmus wird
verschärft und synkopiert, Noten- und Pausenwerte werden einer swingenden
Jazz-Rhythmik (Jazz Swing 4-Feel) angepasst. Die Basslinie wird zum größten
Teil vom Kontrabass übernommen, der öfters Orgelpunkte hinzufügt.
88
Jacques Loussier, in: Beiheft zur CD „Jacques Loussier Trio – The Best of Play Bach“.
70
Auch der zweite Satz (Andante) beginnt weitgehend „texttreu“, ab der zweiten
Hälfte (Takt 27) wird auf dem von Bass und Schlagzeug gegebenen
harmonischen Gerüst vom Klavier improvisiert. Der von Bach notierte 3/4 Takt,
der wie ein 6/8 Takt klingt, wird zum Jazz-Waltz in drei Achtel.
Der dritte Satz (Presto) wird in einem sehr hohen Tempo (Jazz Swing 4-Feel,
wie im ersten Satz) gespielt. Während Bach das Hauptthema in der Tonika,
Dominante und der Subdominante ausführt, wiederholt das Jacques Loussier
Trio das Hauptthema ausschließlich in der Tonika (F-Dur). An den Stellen, wo
Bach Zwischenspiele ausführt, wird improvisiert.
5.2. JOHN LEWIS UND DAS MODERN JAZZ QUARTET
Lohn Lewis (geboren 1920 in La Grangem Illinoes, gestorben 2001 in New
York) war US-amerikanischer Jazz-Pianist, Komponist und Arrangeur. Er
studierte an der University of New Mexico Musik und Anthropologie. Während
seines Studiums schrieb er Arrangements für Jazz-Bands und spielte ab 1945
mit bedeutenden Jazz-Musikern (wie zum Beispiel Trompeter Dizzy Gillespie,
dem Saxophonisten Charlie Parker und dem Trompeter Miles Davis)
zusammen.
1952 gründete er mit dem Vibraphonisten Milt Jackson, dem Bassisten Percy
Heath sowie dem Schlagzeuger Kenny Clarke (der 1955 durch Connie Kay
ersetzt wurde) das „Modern Jazz Quartet“. 1974 trennte sich die Gruppe,
schloss sich 1981 wieder zusammen und spielte in unveränderter Besetzung
bis 1993.
Das Modern Jazz Quartet, für das John Lewis viele Stücke komponierte (das
berühmteste wurde „Django“) und sämtliche Arrangements schrieb, entwickelte
eine einzigartige Kombination von „Cool Jazz“ und europäisch geprägter
Kammermusik. Lewis bediente sich vor allem der Form der Fuge, der Invention,
des Concerto Grosso und kontrapunktischen Improvisationen. Die Gruppe war
ab 1957 besonders in Europa erfolgreich, was mit dieser besonderen
Kombination aus europäischer Musik und modernem Jazz zusammenhängen
71
dürfte. Die Kompositionen John Lewis’s zeichnen sich durch Symmetrie,
Transparenz und ein im Jazz eher unübliches Gefühl für Form aus. Der
deutsche Jazz-Publizist Joachim E. Berendt stellte dazu fest: „Erst seit ihm und
durch ihn versteht es sich von selbst, dass eine Jazzaufnahme ein Ganzes ist,
dass sie in sich geschlossen sein muss und nicht einfach eine Folge schöner
Soli.“
89
Anlässlich der Europa-Tournee des MJQ 1983 bezeichnete der
„Spiegel“ die Musik dieser Gruppe als „Schwarze Kammermusik“.
John Lewis hat sich besonders intensiv mit J. S. Bach auseinandergesetzt. Die
Bedeutung des MJQ liegt nicht in Jazz-Improvisationen über klassischen
Themen, sondern in der Berücksichtigung klassischer Formprinzipien in den
Jazz-Arrangements. Auf der CD „The Modern Jazz Quartet – Blues on Bach“
(1973) finden sich sowohl weitgehend notengetreue Interpretationen von BachKompositionen, als auch Improvisationen über Blues-Themen, die von der
barocken Kontrapunktik beeinflusst sind.
Die Arrangements von fünf Werken von J. S. Bach auf dieser Aufnahme folgen
alle demselben Schema. Die Stücke beginnen zumeist mit einem leisen
Klingeln des Perkussionisten. Die polyphonische Textur wird auf die drei
Instrumente Vibraphon, Cembalo und Kontrabass verteilt, wobei der Bachsche
Notentext fast unverändert wiedergegeben wird. Die wenigen Veränderungen
sind kaum merkbar: Die barocke Verzierungspraxis wird etwas reduziert,
melodische Linien werden teilweise in einem dem Barock angepassten Stil
verändert, Harmonien werden an einigen Stellen vorsichtig der Jazz-Sprache
angepasst und „modernisiert“. Durch die aus dem Jazz entnommene
Artikulation (das ein wenig verzögerte schwache Achtel), den typischen SwingRhythmus (Dehnen der ersten Achtel, Verkürzen der zweiten Achtel) und den
Beitrag der Perkussion erhält die Bachsche Musik einen Swing-Charakter.
89
Joachim E. Berendt, John Lewis (Pianist), in: Wikipedia [online verfügbar:
http://de.wikipedia.org/wiki/John_Lewis_%28Pianist%29 25.2.2012]
72
5.3. EUGEN CICERO
Eugen Cicero (eigentlich Eugen Ciceu, geboren 1940 in Klausenburg,
Rumänien, gestorben 1997 in Zürich), war ein klassisch ausgebildete JazzPianist, der mit seinen Interpretationen und Bearbeitungen von barocken,
klassischen und romantischen Werken berühmt wurde.
Er begann im Alter von vier Jahren mit dem Klavierspielen, führte bereits mit
sechs Jahren ein Klavierkonzert von Mozart mit dem Symphonieorchester von
Klausenburg auf und studierte später an der Hochschule in Bukarest, von der er
jedoch für zwei Jahre lang aus politischen Gründen verwiesen wurde. „Meine
Spezialität waren Liszt und Chopin, sowie Bela Bartok, George Enesco,
Debussy und Ravel. Aber […] schon auf der Schule improvisierte ich lieber frei,
als nach Partituren zu üben.“
90
1962 unternahm er eine Tournee nach Ost-Berlin, von wo aus er nach WestBerlin flüchtete, um dort seine internationale Karriere zu begründen. Unmittelbar
nach seiner Flucht erklärte er gegenüber der „Berliner Morgenpost“: „Ich war
bereit, alles zu ertragen, aber man hätte mich so musizieren lassen sollen, wie
ich das will […] In unserer Heimat durften wir nur ‚sozialistischen Jazz‘ spielen.
Auf die Dauer dreht man da durch […] Heimlich haben wir nachts am Radio
westliche Musik gehört. Und das ist streng verboten […] In Amerika finden wir
die besten Lehrer, mein großes Vorbild ist der amerikanische Jazzpianist Erroll
Garner“. 91
Über sein Verhältnis zu Chopin sagte Eugen Cicero:
"Chopin war schon immer etwas Besonderes für mich. Ich meine, ich hab ihn
nicht so phantastisch gespielt, wie er gespielt gehört, niemand kann ihn gut
genug spielen. Aber ich fühle ihn. Mir liegt diese Art Traurigkeit und
Melancholie. Es ist meine Art, Musik zu empfinden. Vielleicht hängt das mit
meiner rumänischen Herkunft zusammen – mit dem Slawischen. Bei uns
90
Eugen Cicero, zitiert nach: Friends of Eugen Cicero [online verfügbar: [online verfügbar:
http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012]
91
Eugen Cicero, zitiert nach: Friends of Eugen Cicero [online verfügbar: [online verfügbar:
http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012]
73
zuhause klingen viele Volksweisen wie Chopin. Es gibt das gleiche leise und
zarte Filigranwerk darin.
Ich hab die Préludes schon gekonnt, als ich acht oder neun war. Wenn ich
heute Chopin spiele, mit Charly Antolini und Peter Witte, dann fühle ich einfach,
es ist hübsch ihn so zu spielen, wie wir das tun. So ungefähr hätte er selbst es
gemacht, wenn er heute lebt – nur natürlich viel, viel besser. Eine so poetische
lyrische Musik wie den Bossa Nova aus Brasilien – ich bin ganz sicher: Chopin
hätte sie geliebt.
Deshalb habe ich das e-moll-Prélude zu einem Bossa Nova gemacht. Am
meisten gefallen mir die Klarheit und die Einfachheit und die Zartheit des
Filigrans bei Chopin. Darin ist er den Komponisten des Rokoko – Scarlatti zum
Beispiel – nahe."
92
Eugen Cicero hat circa siebzig Schallplatten eingespielt, wobei er JazzImprovisationen über Werke von Couperin bis Tschaikowsky vorlegte. Die von
ihm erwähnte Einspielung des e-moll Preludes von F. Chopin mit Peter Witte
(Bass) und Charly Antolini (Drums) (ursprünglich 1966 veröffentlicht auf der LP
„Cicero’s Chopin“, wiederveröffentlicht auf: „Eugen Cicero – Swinging The
Classics On MPS“) ist für seine Art, über klassische Themen improvisieren,
typisch. Die Einspielung beginnt mit dem Prelude, gespielt am Klavier solo, ab
der zweiten Hälfte setzt der Bass und das Schlagzeug ein. Nach kurzen
improvisierten Schlusstakten setzt der Schlagzeuger mit einem Bossa NovaRhythmus ein, über den Cicero, begleitet vom Bassisten zuerst sehr nahe am
Notentext über das Chopin-Prelude improvisiert, um später zu einer freieren
Improvisation überzugehen, wobei das harmonische Gerüst des Preludes die
Grundlage bildet. Das Stück schließt mit einer Wiederholung des Themas,
zuerst durch das Klavier solo und ab der Hälfte wieder als Bossa Nova mit Bass
und Schlagzeug.
Seine letzte Aufnahme stammt aus dem Jahr 1996. Vergleicht man diese LiveAufnahme (mit dem Bassisten Decebal Badila) mit den Einspielungen aus den
60er Jahren, so zeigt sich kaum eine stilistische Weiterentwicklung. Seine
92
Eugen Cicero, zitiert nach: Friends of Eugen Cicero [online verfügbar: [online verfügbar:
http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012]
74
Neigung zu Potpourris und sein spontanes Eingehen auf das Konzertpublikum
erinnern an die Praxis von Bar-Pianisten. Andererseits ist festzustellen, dass
seine Interpretation beispielweise des Chopins-Preludes in e-moll an
Ausdruckskraft deutlich zugenommen hat.
5.4. ANDRZEJ JAGODZINKI
Andrzej Jagodzinski (geboren 1953 in Garbatce-Letnisko, Polen) ist ein
polnischer Jazz-Pianist, der stilistisch beeinflusst von Chick Corea, Herbie
Hancock und Keith Jarrett eine Reihe von Jazz-Alben über Kompositionen von
Chopin eingespielt hat.
Er studierte Horn und Klavier an der Musikakademie F. Chopin in Warschau
und arbeitete während seines Studiums als Hornist im Symphonieorchester der
polnischen Rundfunks. Gleichzeitig begann er seine Karriere als Jazz-Pianist.
Sein bekanntestes Album ist „Chopin“ (1994) im Trio mit Adam Cegielski (Bass)
und Czeslaw Bartkowski (Schlagzeug). Über dieses Album schrieb Brian
Morton: „If Chopin was really a composer for the right hand only, as Wagner
grouchily complained, then perhaps Andrzej Jagodzinski has provided a
missing accompaniment. These are not jazzed-up interpretations of Chopin
compositions, but a set of jazz originals inspired by the great Pole’s most
evocative pieces.“
93
Bohdan Pociej schrieb darüber in einer Rezension im
polnischem „Jazz Forum“: „The recording of the disc ‘Chopin’, played by the
Andrzej Jagodzinski Trio goes beyond all experimentation done in jazz or
pseudo-jazz with Chopin's music. It is a high-level, splendid piece of work and, I
would even say, a masterpiece of jazz improvisation in the classic-modern style
[…] If my personal opinion counts, every jazz fan and Chopin lover should get
this record and find pleasure in listening to it as I did. What is most striking is
the originality and perfection which melt into one, its fine taste and elegance - all
signs of masterful art, the aristocracy of art in the most noble sense. Music
lovers looking for a taste of something unusual, will find this recording alluring. It
93
Brian Morton, in: Beiheft zur CD „Andrzej Jagodzinski Trio – Chopin les brillantes“.
75
invites the listener to discover and translate the secret of the ‚grease-lightening
harmony‘ that exists between the music of Chopin and the art of playing jazz.“ 94
2009 veröffentlichte Andrzej Jagodzinski mit seinem Trio die CD „Chopin –
Jagodzinski – Sonata b-moll“. Das Besondere dieser Aufnahme liegt darin,
dass nicht einzelne kurze Kompositionen von Chopin von einem Jazz-Trio
interpretiert werden, sondern eine komplette Klaviersonate mit allen vier Sätzen
(Grave – Doppio movimento / Scherzo. Presto, ma non troppo / Marche funebre
/ Finale. Presto).
„In Part I, the musicians follow the trail of Chopin’s allegro, accenting all of the
essential moments in the exposition. The development section, in turn, is a
signal for greater freedom and improvisation, mainly against the backdrop of the
first theme, though also with new fragments which expand the formal space ad
libitum. The motor activity of the left hand accompaniment in the original is
dissected, hence the different, ‘quasi-bop’ accented disposition of the pianist.” 95
Das Jagodzinski Trio beginnt den ersten Satz nach einem Wirbel und einem
Akzent des Schlagzeuges mit dem Einsatz des Klaviers und gibt die
Komposition mit allen Wiederholungen und weitgehend notengetreu wieder. An
das einleitende Grave schließt ein swingender Sonatensatz im doppelten
Tempo an. Am Höhepunkt der Durchführung setzt das Trio eine vom
Schlagzeug unterlegte Fermate und schließt mit einem improvisierten Teil.
Auch das Scherzo wird swingend interpretiert, der Mittelteil (piu lento) wird zu
einem Jazz-Waltz. Die bei Chopin von der linken Hand gespielte Stimme wird
vom Kontrabass mit Begleitung des Klaviers übernommen. Am Ende des
Satzes führt ein längeres improvisiertes Bass-Solo zum Trauermarsch:
„[…] a singular and astonishing march! Admittedly, the march is introduced by
an even beat, but this beat is divided into 4/8 + 2/8 bars, as if on two and three
at the same time, with a simultaneous doubling of the tempo.”
94
96
Aus dem 4/4
Bohdan Pociej, Stroke of Genius, in: Jazz Forum/Poland 1994 [online verfügbar:
http://www.jagodzinski.art.pl/reviews.htm 3.3.2012]
95
Tomasz Szachowski, in: Beiheft zur CD „Chopin - Jagodzinski Sonata b-moll“, S. 11 f.
96
Tomasz Szachowski, in: Beiheft zur CD „Chopin - Jagodzinski Sonata b-moll“, S. 11 f.
76
Takt des Trauermarsches wird ein verjazzter 4/8 + 2/8 Takt, aus dem
Trauermarsch wird fast ein Reggae.
Ein Schlagzeugsolo leitet zum Finale über. Dieses Finale wird in einem
raschen Swing-Tempo gespielt, das Klavier spielt eine Oktave höher als von
Chopin notiert, die linke Hand setzt rhythmische Akzente durch Akkorde,
während Chopin für beide Hände schnelle Triolen-Passagen geschrieben hat.
Die rechte Hand improvisiert über Fragmente der Chopin‘schen Komposition.
5.5. LESZEK MOZDZER
Leszek Mozdzer (geboren 1971 in Danzig) gilt als der begabteste und
erfolgreichste polnischer Jazz-Pianist.
Er begann mit fünf Jahren mit dem Klavierspiel und studierte bis 1996 in Danzig
Klavier. Die Musik Chick Coreas, die er mit 18 Jahren kennenlernte, führte ihn
zum Jazz. Bereits 1992 gewann er den ersten Preis beim Junior Jazz Festival
in Krakau. Seit Mitte der 90er Jahre spielte er mit international bekannten JazzMusikern wie etwa Pat Metheny (Gitarrist), Lester Bowie (Trompeter) und
Archie Shepp (Saxophonist). Er komponierte auch Musik für das Theater und
zu polnischen Kinofilmen.
Über sein Selbstverständnis als Musiker sagt Mozdzer: „Wer zu viel denkt,
beginnt zu leiden […] Es kommt als Musiker darauf an, die Balance zwischen
Denken und Nichtdenken zu finden.“
97
Durch seine klassische Ausbildung hat Mozdzer die Fähigkeit entwickelt,
Elemente der klassischen Musik in seine Jazz-Improvisationen einzubauen.
Über seinen individuellen Ton als Pianist schreibt Anna Wloch: „Fünf, sechs
Takte – und man erkennt ihn blind. Leszek Mozdzer hat einen Glockenton, der
ihn von allen anderen romantisch gefärbten Jazzpianisten unterscheidet.
Harmonisch mag er ein verwechselbares Esperanto sprechen, das mal
97
Leszek Mozdzer, zitiert nach: Anna Wloch, Jazzpianist Leszek Mozdzer - Der Mann, der die Hämmer
in die Luft wirft, in: ZEIT ONLINE [online verfügbar: http://www.zeit.de/kultur/2011-10/StarpianistLeszek-Mozdzer 5.3.2012].
77
impressionistisch verschwebt und mal die Konturen heftiger Blockakkorde
annimmt. Melodisch mag man das ornamentale Glitzern seines polnischen
Landsmanns Frédéric Chopin und die gestochene Schärfe von Chick Corea
erkennen, dessen Kunst ihn im Alter von 18 Jahren von einem auf den anderen
Tag zum Jazz bekehrte.“
98
1999 nahm Leszek Mozdzer eine CD mit Jazz-Improvisationen über
Kompositionen von Chopin auf. („Lezek Mozdzer: Impressions on Chopin“) Die
musikalischen Feinheiten dieser CD sind wahrscheinlich nur Chopin-Kennern
zugänglich. So ändert Mozdzer zum Beispiel in der Etüde Ges-Dur op. 25 Nr. 9
die harmonische Struktur, der melodischer Umriss bleibt aber erkennbar. Die
improvisierten Teile werden im Stil älterer Jazz-Pianisten (wie zum Beispiel Art
Tatum, einer der bedeutendsten US-amerikanischen Klaviervirtuosen oder
Erroll Garner, Pianist und Komponist der Swing- und Bebop-Zeit) ausgeführt.
5.6. AZIZA MUSTAFA ZADEH
Aziza Mustafa Zadeh (geboren 1969 in Baku, Aserbaidschanische SSR) ist
Komponistin, Pianistin und Sängerin. Der von ihr entwickelte Stil ist eine
Mischung aus klassischer Klaviermusik, Jazz, Scat-Gesang und
aserbaidschanischer Improvisationsmusik (Mugam). Mugham
Musik, der ein festgelegter, als modal bezeichneter Melodietyp zugrunde liegt.
Zugleich bestimmt der Mugham die Art der melodischen Intervalle, den
Rhythmus und die Aufführungspraxis des Sängers und seiner instrumentalen
Begleiter. Mugham wird nicht aufgeschrieben, sondern von einer Generation an
die nächste weitergegeben.
99
Zadeh stammt aus einer Musikerfamilie. Ihr Vater war Pianist und Komponist
und ein führender Vertreter des Mugam Jazz in Aserbaidschan. Ihre Mutter ist
eine klassisch ausgebildete Sängerin.
98
Anna Wloch, Jazzpianist Leszek Mozdzer - Der Mann, der die Hämmer in die Luft wirft, in: ZEIT
ONLINE [online verfügbar: http://www.zeit.de/kultur/2011-10/Starpianist-Leszek-Mozdzer 5.3.2012].
99
Mugam, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Mugam 18.2.2012]
78
Aziza Mustafa Zadeh studierte am Konservatorium in Baku Klavier und zeigte
früh ein ausgeprägtes Improvisationstalent und eine Vorliebe für Jazz. Mit
siebzehn Jahren wurde sie beim „Thelonious-Monk-Klavierwettbewerb“ in
Washington, D.C. ausgezeichnet.
Ihren Scat-Gesang beschreibt sie als Begleitung zu ihren Jazz-Kompositionen:
„It's just another extension of my intensity when I play. It's characteristic of me. I
really don't know of any Azeri tradition that uses it.“
100
Von Aziza Mustafa Zadeh liegen nur wenige Einspielungen von Improvisationen
über klassische Kompositionen vor. Zwei Beispiele dafür finden sich auf der
2002 veröffentlichte CD „ Shamans“: „Bach-Zadeh“ und „Portrait of Chopin“.
Bei „Bach-Zadeh“ handelt es sich um die Corrente aus der Partita Nr. 6 in emoll BWV 830 von J. S. Bach. Zadeh macht aus der zweistimmigen
Komposition eine dreistimmige. Die dritte Stimme ist ihr virtuoser Scat-Gesang.
Die Gesangstimme und die Klavierstimme der rechten Hand gehen manchmal
parallel, manchmal gehen sie neue Wege, um die Dreistimmigkeit herzustellen.
In den Takten 73 und 78 setzt Zadeh „romantische“ Fermaten ein.
Bei „Portrait of Chopin“ handelt es sich um die Bearbeitung einer ChopinMazurka (a-moll op.17 Nr.4). Zadeh ergänzt diese Mazurka vor allem im
Mittelteil mit improvisierten virtuosen Passagen, die an Franz Liszt erinnern
beziehungsweise aus dem Jazz stammen. Die Harmoniestruktur reichert sie
durch zusätzliche Töne an, wodurch diese als Jazz-Akkorde erkennbar werden.
Aus der Mazurka wird ein romantisches Impromptu, das von einer virtuosen
Jazz-Pianistin improvisiert wird.
100
Aziza Mustafa Zadeh, in: Wikipedia [online verfügbar:
http://de.wikipedia.org/wiki/Aziza_Mustafa_Zadeh 18.3.2012]
79
ZUSAMMENFASSUNG
Schwerpunkt der Arbeit ist die Bedeutung Friedrichs Guldas für die Rolle der
Improvisation in der Klaviermusik. Der „Musikalische Revolutionär“ Friedrich
Gulda hat durch sein Klavierspiel sowohl im Bereich der „klassischen Musik“
und der traditionellen Konzertpraxis als auch durch seine Aktivitäten als JazzKomponist und als Jazz-Pianist bedeutenden Einfluss auf viele Pianistinnen
und Pianisten des 20. Jahrhunderts ausgeübt. Dies gilt vor allem für die
Wertschätzung der Improvisation als auch für die Öffnung zu unterschiedlichen
Musikformen.
Nach einer Beschreibung der Bedeutung von improvisatorischen Elementen in
der Geschichte der Klaviermusik wurde untersucht, wie Pianistinnen und
Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts die am Ende des 19. Jahrhunderts
verlorengegangene Tradition des Improvisierens wiederbeleben. Ferner wurden
Beziehungen zwischen klassischer Musik und Jazz herausgearbeitet. Es wurde
gezeigt, dass klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten, die auch Jazz
spielen, durch eine für den Jazz untypische Zurückhaltung auffallen – sie
spielen nicht „dirty“. Die umgekehrte Fragestellung führt zur gleichen Antwort:
Jazz-Pianisten spielen, wenn sie klassische Werke aufführen, ebenfalls
außerordentlich zurückhaltend und vorsichtig.
Diese Einschätzung ist das Resultat einer Untersuchung der Spielpraxis von
Pianistinnen und Pianisten, die die Improvisation wiederentdeckten: Robert D.
Levin belebt die Improvisation im Rahmen klassischer Klaviermusik, Gabriela
Montero nimmt die Tradition frei improvisierter Konzerte wieder auf. Klassisch
ausgebildete Pianistinnen und Pianisten – wie zum Beispiel Roland Batik und
Katia Labeque – nähern sich auf verschiedenen Wegen dem Jazz an, JazzPianisten treten als Interpreten klassischer Musik auf. Jazz-Pianistinnen und
Jazz-Pianisten – wie zum Beispiel Jacques Loussier, John Lewis, Eugen
Cicero, Andrzej Jagodzinski, Leszek Mozdzer und Aziza Mustafa Zadeh –
versuchen in unterschiedlichen Stilen Klassik zu „verjazzen“.
80
WERKLISTE FRIEDRICH GULDAS
(Quelle: Website Friedrich Gulda [online verfügbar:
http://www.gulda.at/deutsch/werkliste/text.php])
Auswahl (von Friedrich Gulda) aus frühen kompositorischen Versuchen (1939 1941):
1939 Allegretto für Klavier
1940 Lied des Fridolin aus "Oberon"
1940 Zwischenspiel für Klavier
1940 Variationen über ein Volkslied für Klavier
1940 Variationen über ein eigenes Thema für Klavier
1940 Scherzo Nr. 1 für Klavier
1940 Scherzo Nr. 2 für Klavier
1940 Kleines Stück für Klavier
1940 Kleines Stück für Klavier
1940 Larghetto für Streichtrio
1941 Andante für Violine und Klavier
1941 Variationen für Streichquartett
1941 Drei Menuette für Streichorchester
81
Arbeiten, die während der Studienzeit bei Prof. Joseph Marx entstanden (1942 1949):
1942 Invention für Klavier
1943 6 vierstimmige Choräle
1943 5 Lieder für Frauenchor
1944 3 Stücke für 2 Blockflöten
1944 2 Fugen
1945 2 Liedformen für Klavier
1946 4 Eichendorff-Lieder
1946 Klavierstück
1947 So genannte "Übung" im fünfstimmigen Satz
1948 Messe in B-Dur
1949 Vierhändiges Klavierstück
1949 Fuga für 2 Klaviere
1950 Sieben Galgenlieder (Urfassung)
1950 Streichquartett in fis-Moll
1954 Vorarbeiten zu einer Oper
1954 The Air From Other Planets
1955 Cool-Da
1955 12 Birdland-Compositions
1957 Kadenzen zu Mozart Klavierkonzerten
82
1960 Concertino for Players and Singers
1961 3 Jazzstücke
1961 Filmmusik
1962 Music for 3 Soloists and Band
1962 Music for Piano and Band Nr. 1 später betitelt Piano Concerto No. 1
1962 The Opener
1962 The Horn and I
1962 Blue most
1963 Music for Piano and Band Nr. 2 später betitelt Piano Concerto No. 2
1964 The Veiled Old Land später betitelt Fantasy for 4 Soloists and Band
1964 Music for 4 Soloists and Band später betitelt Concerto a Quattro
1965 Little Suite
1965 Lullaby
1965 The Excursion
1965 Les Hommages
1965 Prelude and Fugue
1966 Closer
1966 Der Neue Wiener Walzer
1966 Neuer Wiener Walzer
1966 Variations for 2 Pianos and Band
1966 Depression
1966 Variations
1967 Sonatine
83
1968 Filmmusik zu "Moos auf den Steinen"
1969 Neue Wiener Lieder (7 Golowin-Lieder)
1969 Theme from Dropout
1969 Spanische Fliege
1969 Introduktion und Scherzo später betitelt Introduction and Dance
1969 Suite for Piano, E-Piano and Drums
1969 Wheel in the right machine - Workshop Suite
1970 Variationen über Light My Fire
1970 I see
1970 Sinfonie in G
1970 Blues Fantasy
1971 Play Piano Play - 10 Übungsstücke für Klavier
1973 Wings
1974 Für Paul
1974 Für Rico
1977 Bassflute Blues
1978 Blues for Joe Venuti später betitelt Old World Blues
1980 Filmmusik zu dem Film "Wohin denn ich"
1980 Opus Anders
1980 Konzert für Violoncello und Blasorchester
1981 Concerto for Ursula
1988 Concerto for myself - Sonata concertante for Piano and Orchestra
1991 Paradise Island
84
Events bzw. Gesamtkunstwerke der späten Schaffensphase F. Guldas:
(mit Originalwerken von J. S. Bach und W. A. Mozart, sowie
Eigenkompositionen, Arrangements und Improvisationen)
1994 Fiesta Electra - Mega-Techno-Rave into Paradise Party
1994 A Night with Friedrich Gulda and Friends
1995 Ein Fest mit Friedrich Gulda und Freunden
1996 Flite thru the Nite
1996 Mozartiana
1997 The Gulda Experience
1998 The Legacy
1998 Midnite Party
1998 Summer Dance
1999 Resurrection Party
Improvisationen und Freie Musik von und mit Friedrich Gulda:
1973 New Age Suite
1975 G´schichten aus dem Golowinerwald - Hommage á Johann Strauß
1977 Arabisch-zigeunerische Fantasie
1978 Besuch vom alten G.
1979 Double Dance 1
1979 Double Dance 2
85
1979 Solo
1979 Performance
1979 Good Night
1981 Öffentliche Musikmeditation
1982 The meeting - Improvisations on two pianos
1983 Gedanken über Kadenz und Menuett des Cellokonzertes
1983 Freie Musik
1983 Out of my head, heart and body
1983 Ping Pong
1984 Wintermeditation
1986 Consonanza personale
1986 Landschaft mit Pianist
1986 Epitaph
1987 Play like a child - Kindesweisheit
1987 Memories
Arrangements eigener und anderer Werke:
1954 Sieben Galgenlieder Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1955 Bernie´s Tune – Orig. B. Miller / Arr. F. Gulda
1955 Night in Tunisia – Orig. D. Gillespie / Arr. F. Gulda
1955 Out of Nowhere – Orig. J. Green / Arr. F. Gulda
1955 All the things you are – Orig. J. Kern / Arr. F. Gulda
86
1955 Lullaby of Birdland – Orig. G. Shearing / Arr. F. Gulda
1962 My funny Valentine Orig. R. Rodgers / Arr. F. Gulda
1962 Very, very fast – Orig. Georg Riedel / Arr. F. Gulda
1963 Penzing Nocturne – Orig. Fatty George / Arr. F. Gulda
1965 Sieben Galgenlieder (Neufassung) – Orig. F. Gulda/ Arr. F. Gulda
1965 Prelude Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1969 Ouverture for 2 Pianos – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1969 Die Reblaus – Orig. Föderl/Marischka / Arr. F. Gulda
1969 Meditation III – Orig. Fritz Pauer / Arr. F. Gulda
1970 Aria (in stile italiano) – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1970 Arie (ursprünglich Aria) – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1970 Nina Carina – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1974 6 Etüden – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1977 Der Wanderer – Orig. F. Schubert / Arr. F. Gulda
1977 Mondnacht – Orig. R. Schumann / Arr. F. Gulda
1977 Fiakerlied – Trad. / Arr. F. Gulda
1978 Night in Tunisia – Orig. D. Gillespie / Arr. F. Gulda
1978 The Air From Other Planets – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1978 What is this thing called love– Orig. C. Porter / Arr. F. Gulda
1979 In diesen heil´gen Hallen – Orig. W.A. Mozart / Arr. F.Gulda
1980 Dies Bildnis ist bezaubernd schön – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda
1982 Air – Orig. J.S. Bach / Arr. F. Gulda
87
1983 1. Arie des Cherubin aus “Figaro“ – Orig. W.A. Mozart / Arr. Friedrich
Gulda
1985 Guten Abend, gut´ Nacht – Orig. J. Brahms / Arr. F. Gulda
1986 Du und i – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1986 Dein ist mein ganzes Herz – Orig. F. Lehar / Arr. F. Gulda
1986 La ci darem la Mano – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda
1986 Lacrimosa – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda
1986 Guten Abend, gut´ Nacht – Orig. J. Brahms / Arr. Gulda/Zawinul
1986 2. Satz des Klavierkonzerts KV 537 – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda
1986 Am Meer – Orig. F. Schubert / Arr. F. Gulda
1986 Rosenkavalier Walzer – Orig. R. Strauss / Arr. F. Gulda
1986 Du und i – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1989 Aria – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1989 Exercise 9 – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1989 General Dance – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1989 Rezitativ und Arie aus "Figaro" – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda
1989 Opus de Funk – Orig. H. Silver / Arr. F. Gulda
1989 Stormy Weather Blues – Orig. B. Dennerlein / Arr. F. Gulda
1989 Theme from the 2nd Movement of Concerto for Ursula – Orig. & Arr. F.
Gulda
1990 For Paul – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1990 Du und i – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1990 Donauwalzer – Orig. J. Strauß / Arr. F. Gulda
1990 Isn´t she lovely – Orig. S. Wonder / Arr. F. Gulda
88
1990 Hit Hat – Orig. H. Sokal / Arr. F. Gulda
1990 Ich lade gern mir Gäste ein – Orig. J. Strauß / Arr. F. Gulda
1990 Brüderlein und Schwesterlein – Orig. J. Strauß / Arr. F. Gulda
1992 Hier an dem Herzen treu geborgen – Orig. Georges Bizet / Arr. F. Gulda
1993 Rezitativ und Arie der Lady Strange – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda
1993 Georgia on my mind – Orig. H. Carmichael / Arr. F. Gulda
1993 Light my fire – Orig. The Doors / Arr. F. Gulda
89
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Aziza Mustafa Zadeh, Shamans, Decca Records 2002
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Bobby McFerrin / Chick Corea / Saint Paul Chamber Orchertra, „The Mozart
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Chick Corea / Friedrich Gulda / Concertgebow Orchestra mit Nikolaus
Harnoncourt, Mozart Double Concerto, Teldec 1984
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Friedrich Gulda, As You Like It, MPS / 2011
94
Friedrich Gulda, Fata Morgana - Friedrich Gulda Live at the Domicile, MPS
1971 / 2003
Friedrich Gulda, Friedrich Gulda at Birdland, DECCA 2007
Friedrich Gulda, Gulda Plays Gulda, Friedrich Gulda – Piano Compositions,
Philips Digital Classics 1984
Friedrich Gulda, Midlife Harvest, MPS 2005
Friedrich Gulda, Mozart No End and the Paradise Band, SONY Classical 1991
Friedrich Gulda: Sein Eurojazzorchester und Solisten der Sechzigerjahre,
Paradise Productions 1999
Gabriela Montero, Bach & Beyond, EMI Classics Records 2006
Gabriela Montero, Live in Germany, EMI Classics Records 2010
Jacques Loussier, „Jacques Loussier Trio – The Best of Play Bach“ Telarc
2004
Jacques Loussier, Play Bach (Nr. 1), Decca 1959
John Eliot Gardiner / Robert Levin, Beethoven Piano Concerto No.5,
„Emperor“, Choral Fantasy, Archiv Produktion 1996
Katia Labeque, Little Girl Blue, Dreifus (Sony) 1995
Keith Jarrett, Dmitri Shostakovich – 24 Preludes und Fuges op. 87, ECM NEW
SERIES 1992
Keith Jarrett, J. S. Bach – Das Wohltemperierte Klavier Buch I, ECM NEW
SERIES 1987
Keith Jarrett, J. S. Bach – Das Wohltemperierte Klavier Buch II, ECM NEW
SERIES 1991
Keith Jarrett, The Köln Concert, ECM 1975
Lezek Mozdzer, Impressions on Chopin, NAIVE 1999
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Robert Levin /The Academy of Ancient Musik - Christopher Hogwood, Mozart
Piano Concertos No.22, K482 No. 23, K488, Editions de L’OISEAU – LYRE
1998
Roland Batik, From Bach to Batik, Camerata Tokyo 2004
Roland Batik, Roland Batik Trio – Roots, ORF Studio Burgenland 1994
The Modern Jazz Quartet, Blues on Bach, Atlantic 1973
DVDS:
Friederich Gulda, So What?, Deutsche Grammophon 2002
Georg Lhotsky, Moos auf den Steinen, Hoanzl 1968
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