KLASSISCHE MUSIK UND IMPROVISATION – FRIEDRICH GULDA
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KLASSISCHE MUSIK UND IMPROVISATION – FRIEDRICH GULDA
Violetta Kargina KLASSISCHE MUSIK UND IMPROVISATION – FRIEDRICH GULDA UND DIE FOLGEN Schriftliche Prüfungsarbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Magistra Artium“ INSTITUT 15 – ALTE MUSIK UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST GRAZ BETREUERIN: AO.UNIV.PROF. MAG.PHIL. DR.PHIL. INGEBORG HARER Mai 2012 1 ABSTRACTS Klassische Musik und Improvisation – Friedrich Gulda und die Folgen Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung der Improvisation in der Geschichte der klassischen Musik, in der historischen und heutigen Spielpraxis sowie mit der Improvisation im Jazz und dem Einfluss des Jazz auf klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten. Ferner werden JazzPianistinnen und -Pianisten als Interpreten und Arrangeure klassischer Musik besprochen. Schwerpunkt der Arbeit ist die Bedeutung Friedrichs Guldas für die Rolle der Improvisation in der Klaviermusik. Nach einer Beschreibung der Bedeutung von improvisatorischen Elementen in der Geschichte der Klaviermusik wird untersucht, wie Pianistinnen und Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts die am Ende des 19. Jahrhunderts verlorengegangene Tradition des Improvisierens wiederbeleben. Ferner werden Beziehungen zwischen klassischer Musik und Jazz untersucht. Es wird gezeigt, dass klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten, die auch Jazz spielen, durch eine für den Jazz untypische Zurückhaltung auffallen – sie spielen nicht „dirty“. Die umgekehrte Fragestellung führt zur gleichen Antwort: Jazz-Pianisten spielen, wenn sie klassische Werke aufführen, ebenfalls außerordentlich zurückhaltend und vorsichtig. 2 Classical Music and Improvisation – Friedrich Gulda and His Followers The present work deals with the role of improvisation in the history of classical music, historical and contemporary performance practice, improvisation in jazz and the influence of jazz on classically trained pianists. Furthermore, jazz pianists as performers and arrangers of classical music will be discussed. The focus of this paper is the importance of Friedrich Gulda for the role of improvisation in piano music. After describing the importance of improvisatory elements in the history of piano music it will be examined how pianists of the 20th and 21th centuries bring back to life the lost tradition of improvisation. Furthermore, relations between classical music and jazz are examined. It is shown that classically trained pianists who play jazz show an atypical restraint they do not play "dirty". The inverted question leads to the same answer: jazz pianists, if they perform classical works are also extremely cautious and careful. 3 INHALTSVERZEICHNIS ABSTRACT ........................................................................................................ 2 VORWORT......................................................................................................... 6 EINLEITUNG...................................................................................................... 7 KAPITEL 1. DIE ROLLE DER IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER KLAVIERMUSIK................................................................................................. 9 1.1. DEFINITIONEN UND MUSIKALISCHE FORMEN ................................ 9 1.2. IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER KLAVIERMUSIK ...... 12 KAPITEL 2. IMPROVISATION IN DER HEUTIGEN SPIELPRAXIS KLASSISCHER MUSIK .................................................................................... 26 2.1. DER „MUSIKALISCHE REVOLUTIONÄR“ FRIEDRICH GULDA........ 26 2.2. ROBERT D. LEVIN ............................................................................. 36 2.3. GABRIELA MONTERO ...................................................................... 38 KAPITEL 3. KLASSISCH AUSGEBILDETE PIANISTEN UND IHR ZUGANG ZUM JAZZ ........................................................................................................ 41 3.1. KLASSIK UND JAZZ ........................................................................... 41 3.2. FRIEDRICH GULDA ALS JAZZ-KOMPONIST UND JAZZ-PIANIST .. 45 3.3. ROLAND BATIK – SCHÜLER FRIEDRICH GULDAS......................... 52 3.4. KATIA LABEQUE – INTERPRETIN VON „JAZZ-KOMPOSITIONEN“54 3.5. KLASSISCHE PIANISTEN SPIELEN JAZZ – WARUM NICHT „DIRTY“?....................................................................................................... 56 4 KAPITEL 4. JAZZ-PIANISTEN ALS INTERPRETEN KLASSISCHER MUSIK. 58 4.1. KEITH JARRETT................................................................................. 58 4.2. CHICK COREA ................................................................................... 62 4.3. JOE ZAWINUL .................................................................................... 66 4.4. JAZZ-PIANISTEN SPIELEN „KLASSIK“ – WARUM SO „BRAV“? ...... 68 KAPITEL 5. „VERJAZZTE KLASSIK“.............................................................. 69 5.1. JACQUES LOUSSIER ........................................................................ 69 5.2. JOHN LEWIS UND DAS MODERN JAZZ QUARTET......................... 71 5.3. EUGEN CICERO................................................................................. 73 5.4. ANDRZEJ JAGODZINKI ..................................................................... 75 5.5. LESZEK MOZDZER............................................................................ 77 5.6. AZIZA MUSTAFA ZADEH................................................................... 78 ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................... 80 WERKLISTE FRIEDRICH GULDAS ................................................................ 81 LITERATURLISTE ........................................................................................... 90 CD UND DVD LISTE........................................................................................ 94 5 VORWORT Ich habe das Thema: „Klassische Musik und Improvisation - Friedrich Gulda und die Folgen“ für meine Diplomarbeit gewählt, weil ich aufgrund meiner Tätigkeit als Klavierpädagogin ein umfangreiches Interesse an der Klaviermusik und an ihrer Vermittlung gefunden habe, das über die Reproduktion klassischer Musik hinausgeht. Seit Jahren beschäftige ich mich nicht nur mit dem Studium und mit dem Unterrichten klassischer Klaviermusik, sondern auch mit den Grundlagen der populären Musik und des Jazz. Dadurch kam ich zur Frage der Improvisation, sowohl in der Spielpraxis klassischer Kompositionen, als auch im Jazz des 20. Jahrhunderts. Besonders interessant für mich waren Pianistinnen und Pianisten, die sowohl klassische Werke als auch Jazz spielen. Die zentrale Aufgabe bestand für mich darin, herauszufinden, ob stilistische Wechselwirkungen zwischen diesen Musikbereichen bei jenen Pianistinnen und Pianisten zu erkennen waren, die sich sowohl mit Klassik als auch mit Jazz auseinandersetzen. Die Schwierigkeit dieser Fragestellung bestand für mich vor allem darin, dass es nur wenig Literatur gibt, die diese Frage untersucht und dass sich nur wenige Pianistinnen und Pianisten von internationaler Bedeutung mit beiden Bereichen beschäftigen. Nach eingehenden Analysen von entsprechenden Tonträgern glaube ich erkannt zu haben, dass die Probleme, vor denen sich klassisch ausgebildete Musikerrinnen und Musiker gestellt sehen, wenn sie improvisieren oder Jazz spielen, ganz ähnlich sind wie jene Probleme, die im umgekehrten Fall auftreten. 6 EINLEITUNG Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung der Improvisation in der Geschichte der klassischen Musik, in der historischen und heutigen Spielpraxis sowie mit der Improvisation im Jazz und dem Einfluss des Jazz auf klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten. Ferner werden JazzPianistinnen und -Pianisten als Interpreten und Arrangeure klassischer Musik besprochen. Ausgangspunkt und Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Rolle Friedrich Guldas. Das erste Kapitel („Die Rolle der Improvisation in der Geschichte der Klaviermusik“) beschäftigt sich mit der Frage, was unter Improvisation in den verschiedenen musikalischen Formen und in der Spielpraxis klassischer Musik zu verstehen ist sowie mit der Improvisation im Verlauf der Geschichte der Klaviermusik. Im zweiten Kapitel („Improvisation in der heutigen Spielpraxis klassischer Musik“) wird am Beispiel von Friedrich Gulda, Robert D. Levin und Gabriela Montero gezeigt, in welchen Formen Pianistinnen und Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts die Tradition der Improvisation wiederbeleben. Im dritten Kapitel („Klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten und ihr Zugang zum Jazz“) wird untersucht, in welcher Weise „klassische“ Musikerinnen und Musiker (Friedrich Gulda, Roland Batik und Katia Labeque) Jazz interpretieren. Es wird die Frage untersucht, ob sich ihr Jazz-Spiel stilistisch von dem der „Jazzer“ unterscheidet. Im vierten Kapitel („Jazz-Pianisten als Interpreten klassischer Musik“) wird die umgekehrte Fragestellung untersucht: Unterscheiden sich die Interpretationen von klassischen Kompositionen durch Jazz-Pianisten (Keith Jarrett, Chick Corea, Joe Zawinul) stilistisch von jenen der klassisch ausgebildeten Pianistinnen und Pianisten? Schließlich werden im fünften Kapitel („Verjazzte Klassik“) am Beispiel von Jacques Loussier, John Lewis, Eugen Cicero, Andrzej Jagodzinski, Leszek 7 Mozdzer sowie Aziza Mustafa Zadeh erfolgreiche Versuche analysiert, klassische Werke in Jazz-Arrangements aufzuführen. 8 KAPITEL 1. DIE ROLLE DER IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER KLAVIERMUSIK. 1.1. DEFINITIONEN UND MUSIKALISCHE FORMEN Was versteht man unter Improvisation? „Komposition und Interpretation (d.h. klangliche Realisierung) in einem Vorgang“. 1 „Als Improvisation wird die Form musikalischer Darbietung verstanden, in der das ausgeführte Tonmaterial in der Ausführung selbst entsteht und nicht vorher schriftlich fixiert worden ist.“ 2 Improvisation ist eine „sehr schnelle Komposition, bei der ein Spieler Musik mit seinem inneren Ohr hört und diese dann aus dem Stegreif spielt.“ 3 Improvisieren wird oft als extemporieren, aus dem Stegreif spielen oder als freies Fantasieren bezeichnet. 4 Voraussetzung für Improvisation ist neben der Beherrschung des jeweiligen Instrumentes die Beherrschung der dem jeweiligen Stil entsprechenden musikalischen Parameter und die Kenntnis verschiedenster musikalischer Muster (Texturen, Akkordfolgen, Melodiemodule, Periodenbau etc.). Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die Improvisation in der „klassischen“ Musik eine bedeutende Rolle. In vielen musikalischen Gattungen und Formen war sie sogar von überragender Bedeutung. Das gilt zum Beispiel für: Choralvorspiele, Choralbearbeitungen, Fantasien, Präludien, Capriccios, Canzone, Ricercar (einleitendes instrumentales Stück mit Imitationstechnik und hohem Improvisationsanteil), Tiento (spanisches Instrumentalstück aus dem 16. Jahrhundert mit hohem Improvisationsanteil), Toccaten. 1 Reinhard Amon, Lexikon der musikalischen Form, Wien 2011, S. 161. Zur Definition vgl. auch die einzelnen Einträge in der Lexikonliteratur wie z.B.: den Artikel „Improvisation“ in Oxford Music Online [online verfügbar: http://han.kug.ac.at/han/OXFORDMUSICONLINE/www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grov e/music/13738?q=improvisation&search=quick&pos=1&_start=1#firsth 2.4.2012] sowie den Artikel „Improvisation“ im Österreichischen Musiklexikon [online verfügbar: http://han.kug.ac.at/han/OesterreichischesMusiklexikon/www.musiklexikon.ac.at/ml?frames=yes 2.4.2012] 2 Improvisation (Musik), in: Wikipedia, [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation_%28Musik%29 30.11.2011] 3 Gabriela Montero, Die Kunst der Improvisation – Beiheft zur CD: Gabriela Montero – Live in Germany, S. 4. 4 Reinhard Amon, Lexikon der musikalischen Form, Wien 2011, S. 161. 9 Von besonderer Bedeutung für die Möglichkeit zur Improvisation waren auch die Solo-Kadenzen in den Instrumentalkonzerten. Unter einer Solo-Kadenz versteht man jenen Teil eines Instrumentalkonzertes – meist am Ende des Kopfsatzes, aber auch oft im Schlusssatz – in welchem auf dem Soloinstrument ohne Orchesterbegleitung über das thematische Material des jeweiligen Satzes improvisiert wird. Charakteristisch für solche Kadenzen sind weitläufige Modulationen, kontrapunktische Elemente, sowie besondere technische Herausforderungen wie Läufe, Akkordzerlegungen, Triller etc. Die Kadenz gab dem Solisten die Möglichkeit, seine instrumentale Virtuosität unter Beweis zu stellen. In der Zeit der Wiener Klassik wurde die Solo-Kadenz meistens vom begleitenden Orchester mit einem Quartsextakkord eingeleitet und vom Solisten mit einem Triller auf dem Leitton über dem Dominantseptakkord beendet. Diese Kadenzen wurden bis ca. 1825 in den meisten Fällen tatsächlich improvisiert, da der Instrumentalsolist auch der Komponist des Werkes war. Erst bei Beethoven findet sich für alle fünf Klavierkonzerte zumindest eine notierte Kadenz, für das vierte Klavierkonzert stellt er zwei Kadenzen zur Auswahl. Die improvisierten Kadenzen in Instrumentalkonzerten waren sowohl im 18. wie im 19. Jahrhundert eine verbreitete und beliebte Form der Improvisation. Das gleiche kann über die Paraphrase gesagt werden, die ebenfalls im 18. und 19. Jahrhundert ihre Blüte erreichte. Unter einer Paraphrase versteht man das freie Umspielen oder Ausschmücken eines Themas. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich diese Form der Improvisation zu einer musikalischen Großform, zu einer oft zeitlich ausgedehnten Fantasie meist über damals beliebte, aus Liedern und vor allem aus Opern entnommenen Themen. Den künstlerischen Höhepunkt erreichte die Paraphrase für Klavier bei Franz Liszt, der unzählige Paraphrasen über Themen aus heute vergessenen Opern improvisierte und komponierte und dabei außerordentlich virtuose Techniken verwendete. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ebenfalls sehr virtuose Paraphrasen über bekannte Walzer-Themen, etwa von Johann Strauss, komponiert. Da diese musikalische Form im weiteren Verlauf aber als „Salonmusik“ eingeschätzt wurde, 10 verschwand sie mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend aus den Konzertprogrammen der Pianisten und Pianistinnen. Ferner war die Improvisation von großer aufführungspraktischer Bedeutung im Generalbass-Spiel, bei Ornamenten, Variationen, in der barocken Verzierungspraxis sowie beim Interpretieren von Stücken, die auf Ostinatobässen (Ground, Folia, Romanesca, Passacaglia, Chaconne etc.) beruhen. Im 20. Jahrhundert spielt die Improvisation bei der Aleatorik und in grafischen Notationsformen eine Rolle sowie im Jazz als Einzel- oder Gruppenimprovisation. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden sogar Versuche unternommen, Maschinen zu bauen, die das wertvolle „Fantasieren“ und Improvisieren von großen Musikern aufzeichnen konnten. So wurde eine solche „Fantasiemaschine“ im Jahr 1752 von Johann Friedrich Unger konstruiert und im Jahr 1753 von Johann Hohlfeld technisch realisiert. Diese Maschine war offensichtlich ein Misserfolg, da die Übertragung der Aufzeichnungen der Maschine in einen normalen Notentext sehr umständlich war. Es sind leider keine auf diese Art aufgezeichneten Improvisationen überliefert. 5 Die bedeutende Rolle der Improvisation lässt sich zum Beispiel in Ph. E. Bachs „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ erkennen. Diese im Jahr 1753 erschienene Klavierschule wurde das Standardwerk für die folgenden Jahrzehnte. Darin beschreibt Ph. E. Bach ausführlich die verschiedenen Formen von Verzierungen und freien Improvisationen. Er unterscheidet notierte „wesentliche Manieren“ (Verzierungen) von „freien“ oder „willkürlichen Manieren“ (Improvisationen): „Die Manieren lassen sich sehr wohl in zwey Classen abtheilen. Zu den ersten rechne ich diejeniegen, welche man theils durch gewisse angenommene Kennzeichen, theils durch wenige kleine Nötgen anzudeuten pflegt; zu der 5 Improvisation (Musik), in: Wikipedia, [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation_%28Musik%29 30.11.2011] 11 andern können die übrigen gehören, welche kein Zeichen haben und aus vielen kurzen Noten bestehen.“ 6 Er schreibt weiters: „Diesem ohngeachtet stehet es jedem, wer die Geschicklichkeit besitzet, frey, außer unsern Manieren weitläuftigere einzumischen. Nur brauche man hierbey die Vorsicht, daß dieses selten, an dem rechten Orte und ohne dem Affecte des Stückes Gewalt zu thun geschehe. Man wird von selbst begreifen, daß zum Exempel die Vorstellung der Unschuld oder Traurigkeit weniger Auszierung leidet, als andere Leidenschaften. Wer hierinnen das nöthige in Obacht nimmt, den kann man für vollkommen paßiren lassen, weil er mit der singenden Art sein Instrument zu spielen, das überraschende und feurige, welches die Instrumente vor der Singe-Stimme voraus haben, auf eine geschickte Art verknüpfet, und folglich die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer durch eine beständige Veränderung vorzüglich aufzumuntern und zu unterhalten weiß.“ 7 Die Improvisation verlor ihre überragende Bedeutung in jenen musikalischen Formen (insbesondere in der Sonatenform), die das 19. Jahrhundert dominierten. Dennoch waren jene Komponisten der „Wiener Klassik“, die die Sonatenform zu ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung entwickelten, auch berühmte Improvisatoren – zum Beispiel Mozart oder Beethoven. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwand die Improvisation weitgehend aus der Aufführungspraxis. 1.2. IMPROVISATION IN DER GESCHICHTE DER KLAVIERMUSIK In der Geschichte der Alten Musik spielt die Improvisation eine hervorragende Rolle. Bis in die Epoche des Barock wurde Instrumentalmusik zum größten Teil improvisiert. Im Mittelalter wurde ausschließlich über einstimmige Melodien improvisiert. Eine der bekanntesten Sammlungen solcher Themen ist die 6 Carl Philipp Emanuel Bach, „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ 1753. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 22. 7 Carl Philipp Emanuel Bach, „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ 1753. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 22. 12 mittelalterliche Liedersammlung „Codex verus“. 8 Wie im Jazz des 20. Jahrhunderts wurde im Mittelalter über damals sehr bekannte „Standards“ improvisiert. Es bestehen deutliche Parallelen zu heutigen „Realbooks“. Es war die Aufgabe der Musiker, aus den „Mittelalter-Standards“ Musikstücke zu machen. Dazu bedienten sie sich der Vor-, Zwischen- und Nachspiele. Die Melodien wurden häufig zweistimmig variiert, wobei die Musiker Quart- und Quintparallelen verwendeten oder eine zweite Stimme frei improvisierten. Die „Troubadours“ (Dichtermusiker im 11. Jahrhundert in Südfrankreich) sangen auf der Basis von Kirchentonarten und ließen sich dabei von Instrumentalisten (Fiedel, Laute, Harfe) begleiten. Diese Begleitungen erfolgten meist in der Form der so genannten „Heterophonie“ - eine mehrfach wiederholte gleichbleibende Melodie wurde mit improvisierten Variationen und Verzierungen angereichert sowie mit Vor-, Zwischen- und Nachspielen. In der Renaissance entwickelte sich eine eigenständige Instrumentalmusik, die ebenfalls weitgehend improvisiert wurde. Diese diente als Begleitung zu Tanz, Gesang oder als Untermalung und Unterhaltung bei festlichen Anlässen. Die Musik der Renaissance wurde nur in groben Notenwerten notiert. Damals entwickelten sich die musikalischen Formen der Ricercaren, Tokkaten, Kanzonen, Sonaten usw. Wie im Mittelalter gab es auch in der Renaissance häufig verwendete und bekannte Melodiemodelle. Diese wurden in pädagogischen Lehrbüchern gesammelt. Damals gab es noch kein eigenständiges Repertoire für Claviere – die Kompositionen für Tasteninstrumente wurden auch auf der Orgel interpretiert. Die Lehrbücher für Orgel aus dem 15. Jahrhundert (zum Beispiel: Fundamenta) enthielten Anweisungen und Beispiele für das „Absetzen“ (aus dem Stegreif Vokalkompositionen an die Möglichkeiten eines Tasteninstrumentes anzupassen), für die Bearbeitung eines cantus firmus, für das Präludieren und für Tanzimprovisationen. In der Zeit des Barock zählte die Fähigkeit zum Improvisieren ausnahmslos zum professionellen Spiel von Tasteninstrumenten wie Orgel und Cembalo. So 8 Improvisation (Musik), in: Wikipedia, [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation_%28Musik%29 30.11.2011] 13 war es etwa bei den Prüfungen von Organisten selbstverständlich, dass diese ihre Fähigkeiten durch Improvisationen nachweisen mussten. Die Wiedergabe von vorbereiteten Kompositionen („Handstücke“) war unzulässig. Ferner galt es als selbstverständlich über vorgegebenen Themen Fugen improvisieren zu können. Der Generalbass bzw. der bezifferte Bass wurde aus dem Stegreif auf der Orgel und am Cembalo ausgeführt sowie durch improvisierte Ornamente verziert. Die bereits erwähnten „freien“ oder „willkürlichen Manieren“ wurden in Rahmen der Aufführungspraxis langsamer Sätze unbedingt gefordert. Der berühmteste Improvisator der späten Barockzeit war J.S. Bach. Besonders bekannt wurde seine Einladung zu Friedrich dem Großen 1747. Bei diesem Anlass soll J.S.Bach aus dem Stegreif eine dreistimmige Fuge improvisiert haben. Darüber konnte man in den „Berlinischen Nachrichten“ am 11.5.1747 Folgendes lesen: „Aus Postdam vernimmt man, daß daselbst verwichenen Sontag der berühmte Kapellmeister aus Leipzig, Herr Bach, eingetroffen ist, in der Absicht, das Vergnügen zu geniessen, die dasige vortreffliche Königl. Music zu hören. Des Abends, gegen die Zeit, da die gewöhnliche Cammer-Music in den Königl. Apartements anzugehen pflegt, ward Sr. Majestät berichtet, daß der Capelmeister Bach in Postdam angelanget sey, und daß er sich itzt in Dero Vor Cammer aufhalte, allwo er Dero allergnädigste Erlaubniß erwarte, der Music zu hören zu dürfen. Höchstdieselben ertheilten sogleich Befehl, ihn herein kommen zu lassen, und giengen bey dessen Eintritt an das sogenante Forte und Piano, geruheten auch, ohne einege Vorbereitung in eigner höchster Person dem Capellmeister Bach ein Thema vorzuspielen, welches er in einer Fuga ausführen sollte. Es geschahe dieses vom gemeldeten Capelmeister so glücklich, daß nicht nur Se. Majestät Dero allegnädigstes Wohlgefallen darüber zu bezeigen beliebten, sondern auch sämtliche Anwesenden in Verwunderung gesetzt wurden.“ 9 9 Berlinische Nachrichten, 11.5.1747, zitiert in J. S. Bach-Dokumente, Kassel. 1975. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 18. 14 Zu den „sämtlichen Anwesenden“ zählte sicher auch Carl Philipp Emanuel Bach, der zwanzig Jahre lang Musiklehrer und Begleiter Friedrichs des Zweiten war. Auch die anderen berühmten Komponisten der Barockzeit waren große Improvisatoren. G. F. Händel improvisierte zwischen den Akten seiner Oratorien auf der Orgel. In seinen Kompositionen gibt es zahlreiche „organo ad libitum“ – Stellen. Auch Vivaldi erwartete bei der Aufführung seiner Instrumentalkonzerte Improvisationen und freie Auszierungen. Die bedeutendsten Improvisatoren der Wiener Klassik waren Mozart und Beethoven. Mozart konnte - wie J.S.Bach - Fugen improvisieren. Er schreibt über seine Frau Konstanze: „[…] weil sie mich nun öfters aus dem kopfe fugen spiellen gehört hat, so fragte sie mich ob ich noch keine aufgeschrieben hätte? und als ich ihr Nein sagte, so zankte sie mich recht sehr daß ich eben das künstlichste und schönste in der Musick nicht schreiben wollte; und gab mit bitten nicht nach, bis ich ihr eine fuge aufsetzte, und so war sie.“ 10 Harold C. Schonberg beschreibt in seinem Buch „The Great Pianists“ eine Konzertreise des vierzehnjährigen Mozart mit seinem Vater durch Italien. Ein typisches Konzertprogramm bestand damals aus einer Sinfonie, einem Klavierkonzert und improvisierten Variationen, Sonaten und Fugen. Auch noch 1783 beschreibt Mozart in einem Brief an seinen Vater das Programm eines von ihm veranstalteten Konzertes, dass selbstverständlich neben Sinfonien, Arien und Klavierkonzerten eine improvisierte Fuge und improvisierte Variationen über Themen aus bekannten Opern beinhaltete. 11 Berühmt wurde das Wettspiel Mozarts gegen Clementi 1781 bei Kaiser Josef II. Auch bei diesem Anlass wurde von beiden Komponisten überwiegend improvisiert: „Clementi led off with an improvised prelude and his Sonata in B flat (Op. 47, No. 2). (Mozart, even though he sneered at Clementi’s music, used the opening theme of this sonata in the Magic Flute Overture.) Then Clementi followed with one of his specialities, a toccata featuring thirds and other double 10 W. A. Mozart, Brief vom 20.4.1782. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 47. 11 Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 36. 15 notes. Now it was Mozart’s turn. He too improvised a prelude, and followed with a set of variations. The Grand Duchess prodeced some sonatas of Paisiello (‘wretchedly written out in his own hand,’ later complained Mozart), and both pianists read them off at sight, Mozart playing the allegros, Clementi the adagios, rondos. Both were asked to select a theme from one of these sonatas, developing it on two pianos. Presumably Mozart would have taken a theme and played it, Clementi noting the harmonies. Then Clementi would have accompanied Mozart on the second piano while Mozart developed his material. And vice versa. It probably ended with a grand two-piano splash, in which all the melodic fragments were woven together. “ 12 Das Ergebnis dieses Wettspiels war umstritten. Mozart selbst hielt sich für den Sieger und bezeichnete Clementi in einem Brief an seine Schwester als „Scharlatan – wie alle Italiener“, dessen Kompositionen „wertlos“ seien. 13 Dieses negative Urteil mag auch darin begründet sein, dass Clementi in einem völlig anderen Klavierstil spielte, als Mozart. Clementi hat das durchgehende Legatospiel entwickelt, das auch Beethoven übernommen hat, das aber Mozart fremd war. Beethoven war laut Czerny ein besserer Improvisator als Interpret seiner bereits veröffentlichen Kompositionen. Über Beethovens Improvisieren schreibt Czerny in seinen Erinnerungen: „Beethovens Improvisieren, wodurch er in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in Wien das meiste Aufsehen erregte, und selbst Mozarts Bewunderung gewann, war von verschiedener Art, ob er nun auf selbstgewählte oder auf gegebene Themen fantasierte. Erstens: In der Form des ersten Satzes oder des Final-Rondo einer Sonate, wobey er den ersten Teil regelmäßig abschloß, und in demselben auch in der verwandten Tonart eine Mittelmelodie etc. anbrachte, sich aber dann im zweiten Teile ganz frei, jedoch stets mit allen möglichen Benützungen des Motivs, seiner Begeisterung überließ. Im Allegrotempo wurde das ganze durch Bravourpassagen belebter, die meist noch schwieriger waren, als jene, die man in seinen Werken findet. 12 13 Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 52. Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 54. 16 Zweitens in der freien Variations-Form ungefähr wie seine Chorfantasie op. 80 oder das Chorfinale der 9. Sinfonie, welche beyde ein treues Bild seiner Improvisation dieser Art geben. Drittens. In der gemischten Gattung, wo potpourri-artig ein Gedanke dem anderen folgt, wie in seiner Solo-Fantasie op. 77. Oft reichten ein paar einzelne, unbedeutende Töne hin, um aus denselben ein ganzes Tonwerk zu improvisieren.“ 14 Außerordentlich interessant ist auch die detaillierte Beschreibung Beethovens Klavierspiel durch seinen Sekretär Schindler. Schindler berichtet, wie Beethoven selbst seine Klaviersonaten op.14, Nr. 1 und 2 gespielt hat. Beethoven hat offensichtlich auch seine veröffentlichten Kompositionen sehr frei gespielt, ohne ein durchgehendes Tempo einzuhalten. Schonberg schreibt: „[…] Beethoven was no metronome […] The pianist who tried it [nämlich heute wie Beethoven zu spielen] would be laughed off the stage as an incompetent, a stylistic idiot who knew nothing about the Beethoven style, and as a bungler who was incapable of adhering to a basic tempo.“ 15 Beethovens außerordentliche Fähigkeit zum Improvisieren wurde auch im Wettspiel mit Joseph Gelinek deutlich. Laut Carl Czerny waren die berühmtesten Pianisten jener Zeit Joseph Gelinek (1758 - 1825, Klavierlehrer aus Böhmen), Joseph Wölfl (1773 – 1812, Salzburger Pianist und Komponist) und Josef Lipavsky (1772 – 1810, Böhmischer Komponist). Czerny schreibt in seinen „Erinnerungen aus meinem Leben“: „Ich erinnere mich noch jetzt, als eines Tages Gelinek meinem Vater erzählte, er sey für den Abend in eine Gesellschaft gebeten, wo er mit einem fremden Clavieristen eine Lanze brechen sollte. ‚Den wollen wir zusammenhauen‘, fügte Gelinek hinzu. Den folgenden Tag fragte mein Vater den Gelinek, wie der gestrige Kampf ausgefallen sey? ‚O!‘ – sagte Gelinek ganz niedergeschlagen, ‚an den gestrigen Tag werde ich denken ! In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie hab‘ ich so spielen gehört! Er fantasierte auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich selbst Mozart nie fantasieren gehört habe. Dann spielte er eigene Compositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig sind, und er 14 Carl Czerny in seinen Erinnerungen. Zitiert nach: Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Balingen-Endingen 1982, S. 63. 15 Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 91. 17 bringt auf dem Clavier Schwierigkeiten und Effecte hervor, von denen wir uns nie haben etwas träumen lassen.‘ ‚Ey,‘ sagte mein Vater, ‚wie heißt dieser Mensch?‘ ‚Er ist,‘ antwortete Gelinek, ‚ein kleiner, häßlicher, schwarz und störrisch aussehender junger Mann, den der Fürst Lichnowsky vor einigen Jahren aus Deutschland hierher gebracht, um ihn bey Haydn, Albrechtsberger und Salieri die Composition lernen zu lassen, und er heißt Beethoven.“ 16 Bei diesem Wettspiel war – im Unterschied zu dem bereits erwähnten Wettspiel Mozart gegen Clementi – der Sieger eindeutig. Gelineks Talent dürfte über konventionelle Variationen nicht hinausgegangen sein. Er soll später Beethovens Klavierspiel vor dessen Wohnung belauscht haben, um anschließend Variationen über von Beethoven gestohlenen Themen zu komponieren. Beethoven fühlte sich durch Gelineks Verhalten so sehr belästigt, so dass er schließlich 1794 in eine Wohnung übersiedelte, wo sein Klavierspiel nicht mehr abgehört werden konnte. Beethoven bezeichnete Gelinek wie auch viele andere Pianisten seiner Zeit als seine „Todfeinde“. 17 Auch Johann Nepomuk Hummel soll ein großer Improvisator gewesen sein. Während Hummel als Komponist heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist (in den Programmen der heutigen Konzertpianistinnen und -pianisten spielt er praktisch keine Rolle mehr), galt er um 1800 und danach als der bedeutendste Pianist seiner Zeit und war als solcher neben Joseph Wölfl der schärfste Konkurrent Beethovens. Hummel war ein bedeutender Klavierlehrer, zu seinen Schülern zählten Ferdinand Hiller (1811 – 1885, deutscher Komponist, Dirigent und Musikpädagoge), Adolf Henselt (1814 – 1889, deutscher Komponist und Klaviervirtuose der Spätromantik), Sigismund Thalberg (1812 – 1871, österreichischer Komponist und Klaviervirtuose) und für kurze Zeit Felix Mendelssohn Bartholdy. Franz Liszt, der Schüler Carl Czernys 16 Carl Czerny, Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethoven’schen Klavierwerke, nebst Czerny’s, Erinnerungen an Beethoven, Herausgegeben und kommentiert von Paul Badura-Skoda, Wien 1963, S. 10. 17 Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S.71. 18 war, wollte eigentlich bei Hummel Unterricht nehmen, konnte sich aber das von Hummel geforderte hohe Honorar für die Klavierstunden nicht leisten. Der junge Hummel lebte zwei Jahre in der Wohnung Mozarts, der ihm kostenlosen Klavierunterricht gab. Unter seinen Werken für Klavier solo waren vor allem jene Kompositionen besonders einflussreich, die aus Formen der Improvisation entstanden sind, wie etwa die Fantasie Op. 18. Seine Klavierkompositionen übten vor allem auf Franz Schubert und Felix Mendelssohn Bartholdy großen Einfluss aus. In der Kammermusik bildete sein Quintett Op. 87 (mit Kontrabass) das Vorbild für Schuberts „Forellenquintett“. Laut Czerny konnte niemand auf einem so hohen technischen Niveau improvisieren, wie Hummel. Diesem Urteil schloss sich auch Louis Spohr (1784–1859, deutscher Komponist, Dirigent, Geiger) an. Hummel soll einmal eineinhalb Stunden über ein Thema von Daniel-Francois-Esprit Auber (1782 – 1882, französischer Komponist) improvisiert haben. Nach Beethovens Tod und auf dessen eigenen Wunsch improvisierte Hummel im Rahmen der Trauerfeier über Themen des Verstorbenen. Da Hummel bei seinen Auftritten als Pianist die leichtgängigen und hell klingenden Wiener Hammerflügel gegenüber den dynamischeren englischen Flügeln bevorzugte und seine Kompositionen im Vergleich zur Musik der frühen Romantiker konventionell klangen, verringerte sich seine Bedeutung und sein Einfluss gegen Ende seines Lebens. Bei den Pianisten in der Zeit der Romantik standen neben der Fähigkeit zur Improvisation das Vorführen technischer Tricks und das Hervorheben der Virtuosität im Vordergrund. Der Virtuose war der König. Berühmt wurde zum Beispiel der böhmische Pianist Alexander Dreyschock (1818 – 1869, böhmischer Komponist und Klaviervirtuose) für seine technischen Zaubereien. Er hatte sich auf das schnelle Oktaven-Spiel spezialisiert und konnte die schnellen Passagen der linken Hand in Chopins „Revolutionsetüde“ in Oktaven spielen! Diese Tradition hat sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Einzelfällen erhalten. So hat etwa Leopold Godowsky (1870 – 1938, polnischamerikanischer Pianist und Komponist) eine Paraphrase über Chopins „Revolutionsetüde“ für die linke Hand allein geschrieben. 19 In der Zeit der Romantik galt es als selbstverständlich, die Werke der Komponisten aus der Zeit der Wiener Klassik zu virtuosen Schaustücken umzuarbeiten. Auch die Werke von J.S. Bach wurden von den Pianisten auch noch in der Zeit der Spätromantik zum Teil in Bearbeitungen interpretiert. Der berühmteste Pianist und Improvisator der Romantik war Franz Liszt. Er gab die ersten Solokonzerte als Pianist. Schonberg stellt dazu fest, dass Liszt in seinen Klavierabenden klassische Kompositionen in einem Ausmaß bearbeitet und arrangiert hat, dass sie nicht wiedererkennbar gewesen sein dürften. Dies gilt vor allem für die Zeit von 1840 bis 1850. 18 Zu den berühmtesten Pianistinnen des 19. Jahrhunderts zählen Marie MokePleyel und Clara Schumann. Marie Moke-Pleyel (1811 – 1875) war eine französisch-belgische Pianistin, die als eine der bedeutendsten ihrer Zeit galt. Sie war Schülerin von berühmten Pianisten wie etwa Ignaz Moscheles und Friedrich Kalkbrenner. Mit zwölf Jahren gab sie ihr erstes Konzert. 1931 heiratete sie Camile Pleyel, den Sohn des Komponisten und Klavierproduzenten Ignaz Josef Pleyel. Zu ihren unzähligen Bewunderern zählten Felix Mendelssohn Bartoldy, Frederic Chopin, Robert Schumann, Hector Berlioz und Franz Liszt. Sie konzertierte in vielen europäischen Städten und wurde 1848 an das Konservatorium in Brüssel als Professorin für Klavier berufen. Clara Schumann (geborene Wieck, 1819 – 1896) wurde von ihrem Vater, Friedrich Wieck, am Klavier unterrichtet. Sein Unterricht dürfte streng und autoritär gewesen sein. Unter seinem Einfluss konzentrierte sie sich auf Kompositionen von Friedrich Kalkbrenner, Camille Pleyel oder Ignaz Moscheles. Erst unter dem Einfluss von Robert Schumann (den sie 1840 heiratete) begann sie sich intensiv mit J. S. Bach und den Klaviersonaten von L. v. Beethoven zu beschäftigen. Auch als Komponistin war sie schon in jungen Jahren aktiv. Später versuchte Robert Schumann (der sich ihr gegenüber ähnlich autoritär verhalten haben dürfte wie ihr Vater) ihren Kompositionsstil nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen. 18 Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 177. 20 Als Konzertpianistin erneuerte sie das traditionelle Programm: Anstelle eingängiger Virtuosenstücke traten Sonaten von Ludwig van Beethoven sowie die Werke von Robert Schumann und später die von Johannes Brahms. Sie lehnte Franz Liszt vollständig ab. Darüber schreibt Schonberg: „She deliberately set herself up as the keeper of the tradition, and when the name of Liszt was mentioned she picked up her skirt and moved fastidiously away.” 19 Clara Schumann dürfte die erste Pianistin gewesen sein, die in ihren Konzerten nur mehr auswendig spielte. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass bis ungefähr 1835 jedes Konzert einer Pianistin oder eines Pianisten mit einer Improvisation endete. Erst ab ca. 1860 kamen die Potpourris, die akrobatischen Kunststücke und die Improvisationen aus der Mode. Die Künstler wurden zu „Interpreten“. Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ging die Kunst der Improvisation bei den Interpreten der „ernsten Musik“ weitgehend verloren. Eine allerletzte Ausnahme war Mary Wurm, eine Pianistin, Improvisatorin, Dirigentin und Komponistin. Mary Wurm studierte 1880 bis 1882 bei Clara Schumann, die allerdings mit deren Interpretationen unzufrieden gewesen sein dürfte. Mary Wurm sorgte 1895 für viel Aufsehen, als sie in London ein Konzert gab, das ausschließlich aus Improvisationen bestand. Die Themen für diese Improvisationen wurden ihr erst vom Publikum am Beginn der Veranstaltung in einem Umschlag überreicht. Mary Wurm war imstande, über diese Themen auch über in ihr vorgegebenen musikalischen Formen (Fuge, Suite, viersätzige Sonate) zu improvisieren. 20 Die Aussage, dass die Kunst der Improvisation im 20. Jahrhundert verloren ging, gilt allerdings nur unter Einschränkungen. In der Kirchenmusik spielt die Improvisation auf der Orgel sowohl während der Ausbildung als auch in der Spielpraxis bis heute eine hervorragende Rolle. Auch in der neuen „ernsten Musik“ finden sich Formen der Improvisation (Aleatorik, grafische Notation). Im „Jazz“ erlebte die Improvisation eine neue Blüte und wird heute als Selbstverständlichkeit empfunden. (Eine spezielle Form der Improvisation war 19 Harold C. Schonberg, The Great Pianists (From Mozart to the Present), New York, 1987, S. 235. Ulrike Keil / Markus Gärtner: Mary Wurm [online verfügbar: http://www.sophie-drinkerinstitut.de/cms/index.php?page=wurm-mary 15.12.2011] 20 21 allerdings auf die Zeit von 1900 bis 1930 beschränkt: die improvisierte Begleitmusik zum Stummfilm.) In der Organistenausbildung ist bis heute das liturgische Orgelspiel (jene Orgelmusik, die im direkten Zusammenhang mit dem liturgischen Geschehen im Gottesdienst und dem Gemeindegesang steht) ein Hauptfach. Im liturgischen Orgelspiel wird über ein geistliches Lied oder einen liturgischen Gesang improvisiert. Diese Art des Orgelspiels fand seit der karolingischen Zeit mit dem Bau von Orgeln Eingang in die abendländische Kirche. Improvisationen auf der Orgel wurden während des Aus- und Einzugs der Gemeinde und der Einleitung der Gesänge durchgeführt. Grundlage der liturgischen Improvisation ist das Choralspiel, das genaue Kenntnisse der Harmonielehre und des Kontrapunkts voraussetzt. Improvisiert werden zwei bis vierstimmige Sätze. Da sich die vorliegende Arbeit aber mit der Rolle der Klavierimprovisation in der klassischen Musik und nicht mit der Orgelimprovisation beschäftigt, wird das Thema des liturgischen Orgelspiels im Weiteren nicht mehr behandelt. In der „Neuen Musik“ spielt die Improvisation manchmal eine hervorragende Rolle, zum Beispiel in jenen Extremfällen, wo den ausführenden Instrumentalisten lediglich eine Grafik als Partitur vorliegt. Da eine „grafische Notation“ keine konkreten Hinweise darüber enthält, welche Art von Musik zu spielen ist, liegt hier zwar keine „freie“, aber doch eine extreme Form der Improvisation vor. In den Aufforderungen zur Improvisation in Rahmen der „Neuen Musik“ kann man eine Reaktion auf den strengen Serialismus der Komponisten in der Schule der Zwölftontechnik sehen, wo sämtliche musikalischen Parameter durch die Reihentechnik festgelegt worden waren. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen einige Komponisten damit, den Interpreten ihrer Werke verschiedene Grade der Improvisationsfreiheit zuzugestehen. Dies erfolgte zum Beispiel durch die Möglichkeit aleatorischer Entscheidungen, seltener wurden die ausführenden Musiker direkt zu Improvisation aufgefordert. In den letzten Jahren entstanden Versuche der Annäherung zwischen der „Neuen Musik“ und dem „Free Jazz“. (Siehe unten) 22 Jene Musikrichtung des 20. Jahrhunderts, die der Improvisation eine überragende Rolle zukommen lässt, ist der Jazz. Jazz ist eine ungefähr um 1900 in den Südstaaten der USA entstandene, überwiegend von Afroamerikanern entwickelte Musikrichtung, die auf der Tradition der Straßenmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruht. Diese Musik wurde von sogenannten „Brass Bands“ (schwarze, aber auch weiße Blasmusikkapellen) zu unterschiedlichen Anlässen gespielt. „Brass Bands“ kombinierten Elemente des Blues und der kreolischen Musik mit der europäischen Musiktradition. Bereits in diesem „archaischen Jazz“ gab es Elemente der Improvisation. 21 Um ca. 1890 entstand der „Ragtime“, ein ausnotierter schneller Klavierstil, bei dem die linke Hand des Pianisten die Rhythmusgruppe einer Band ersetzte. Auch im Ragtime gab es bereits improvisatorische Elemente - die frühen Ragtime-Pianisten konnten oft keine Noten lesen. Dazu schreibt Ingeborg Harer „Besonders unter den schwarzen Pianisten gab es einige, die das Notenlesen nicht beherrschten und schon dadurch gezwungen waren, sich an den schriftlos verbreiteten, musikalischen Konventionen zu orientieren. Die beliebtesten Methoden, ein Musikstück individuell zu gestalten, waren das Einfügen von chromatischen Läufen, Glissando- und Tremolo-Effekten.“ 22 Der bekannteste Komponist des Ragtime-Stils war Scott Joplin (der erst wieder durch den Film „Der Clou“ 1973 populär wurde). Aus der Spannung zwischen dem durchgehenden Beat und der synkopierten Melodik entwickelten sich die ersten Ansätze des Swing. Weniger nach ausnotierten Musikstücken, eher in Richtung des späteren Jazz spielte der Pianist Jelly Roll Morton in New Orleans. „Ende der dreißiger Jahre konnte man auf den Straßen Harlems einem Mann begegnen, der allen Vorüberkommenden, die geduldig genug waren ihm zuzuhören, erklärte, daß die Musik, die in den zahllosen Bars, Nachtclubs und Ballrooms gespielt wurde und mit der viele Swingmusiker das große Geld verdienten, eigentlich seine Musik sei. Er habe den Jazz erfunden, sagte er, und ‚bis 1926, als ich mich in 21 Ingeborg Harer, Ragtime, in: Mellonee Burnim / Portia Maultsby, African American Music, New York 2006 S. 127 – 144. 22 Ingeborg Harer, Ragtime – Versuch einer Typologie, Tutzing 1989, S. 52. 23 New York niederzulassen beschloß, hatten sie hier nicht die blasseste Ahnung davon, was richtiger Jazz war‘“. 23 Ob Morton tatsächlich um 1902 den Jazz „erfunden“ hat ist umstritten. Richtig ist aber, dass in New Orleans um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert eine riesige Vergnügungsindustrie existierte, die den gesellschaftlichen Rahmen für die Entwicklung des Jazz darstellte. Die erste Schallplatte in der Geschichte des Jazz wurde von der – aus weißen Musikern bestehenden – „Original Dixieland Jass Band“ des Trompeters Nick LaRocca am 26. Februar 1917 eingespielt. Diese enthielt noch weitgehend Kollektivimprovisationen. Erst am 12. November 1925 spielte Louis Armstrong’s „Hot Five“ die (vermutlich) ersten Aufnahmen ein, bei der Soli der Instrumentalisten die Kollektivimprovisation des früheren Jazz teilweise ablösten. Die kommerziell erfolgreichste Phase in der Geschichte des Jazz war die „Swing-Ära“ vom Ende der 1920er Jahre bis Mitte der 1940er Jahre. Der „Swing“ hatte in den 1930er Jahren seinen Durchbruch als schnelle Tanzmusik. In diesen Jahren entstand die erste musikalische „Jugendkultur“, deren Stars die Bandleader Benny Goodman, Artie Shaw, Duke Ellington und Count Basie waren. Als Reaktion auf Jazz als „Unterhaltungsmusik“ entwickelte sich seit den 1940er Jahren mit dem Bebop der Modern Jazz, der versuchte, die stereotypen Klischees der kommerziellen Swingmusik durch eine erweiterte Harmonik und den Primat der Improvisation über die Arrangements zu überwinden. Der Modern Jazz war nicht mehr als Tanzmusik konzipiert. Auch die auf den Bebop folgenden Formen des Jazz (Afro Cuban Jazz, Hard Bop und Soul Jazz) waren durch den Primat der Improvisation charakterisiert. Lediglich im „Cool Jazz“ der 1950er Jahre entstanden wieder komplexe, vielstimmige Arrangements, die die Improvisation einschränkten. Mit dem „Free Jazz“ entstanden ab etwa 1957 freiere Spielweisen, in denen sich die Jazzmusiker schrittweise von der Jazzharmonik lösten. „Free Jazz“ wurde zum historischen Begriff für freies, ungebundenes Improvisationsspiel. 23 Michael Jacobs, All That Jazz – Die Geschichte einer Musik, Stuttgart 1996, S.18. 24 Im zeitgenössischen „Avantgarde Jazz“ kehren allerdings durchgehende Metren wieder. 24 24 Free Jazz, in: Wikipedia, [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Free_Jazz 5.1.2012] 25 KAPITEL 2. IMPROVISATION IN DER HEUTIGEN SPIELPRAXIS KLASSISCHER MUSIK Im Folgenden wird die Bedeutung von ausgewählten Pianistinnen und Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts analysiert, die versuchten und versuchen, Elemente der Improvisation in der Tradition „klassischer“ Komponisten und Interpreten neu zu beleben. Am Beispiel von Friedrich Gulda, Robert Levin und Gabriela Montero werden solche improvisatorische Aspekte untersucht. Der Schwerpunkt wird dabei auf der historischen Rolle von Friedrich Gulda liegen, obwohl er selbst in seinen Studioproduktionen klassischer Werke, wie z.B. Kompositionen von J.S.Bach, Mozart oder Beethoven, nur selten – im Gegensatz zu seinen Konzertauftritten – improvisierte Elemente eingeführt hat. Seine Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit liegt aber darin, dass er die Trennung von Interpreten und Komponisten sowie die Trennung von Improvisation und Interpretation notierter Werke grundsätzlich in Frage gestellt hat: „Pianisten, die nicht selbst komponieren, sind für mich keine Musiker im vollen Sinne des Wortes, sondern sie spielen halt zum x-ten Mal mehr oder weniger gut die sicher großartig angeordneten Noten von fremden Leuten, die nota bene meist schon lang tot sind. Ich halte die Trennung von Interpreten und Komponisten für eine Degenerationserscheinung, die im 19. Jahrhundert begann und mit dem Erscheinen der Jazzmusik zum Glück unterging.“ 25 2.1. DER „MUSIKALISCHE REVOLUTIONÄR“ FRIEDRICH GULDA Friedrich Gulda wurde 1930 in Wien geboren, begann im Alter von sieben Jahren mit dem Klavierspiel und nahm 1942 ein Musikstudium bei Bruno Seidlhofer (Klavier) und Joseph Marx (Musiktheorie und Komposition) an der Wiener Musikakademie, der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, auf. Seine Konzentration auf das Musikstudium hatte zur Folge, dass er das Gymnasium in der sechsten Klasse, abbrach. (Angeblich verließ er 25 Friedrich Gulda, Ich will keine lebende Leiche sein. Zitiert nach: ZEIT ONLINE Nr. 23/1989, [online verfügbar: http://www.zeit.de/1989/23/ich-will-keine-lebende-leiche-sein 5.1.2012] 26 während einer Mathematikstunde die Klasse um die Schule nie wieder zu betreten.) Gulda beendete sein Studium in Wien 1947 mit der Reifeprüfung an der Musikakademie: „Da war das vollständige Professorenkollegium versammelt, und die haben – wie sie sehr wohl wußten – zum letzten Mal ein Gulda-Konzert gratis gehört. Sie haben mich, ich glaube drei Stunden spielen lassen.“ 26 Am Beginn seiner Karriere als klassischer Pianist steht sein Sieg im internationalen Genfer Musikwettbewerb 1946 mit sechzehn Jahren. (Den letzten Genfer Wettbewerb vor dem zweiten Weltkrieg hatte 1939 Benedetti Michelangeli gewonnen.) Die Teilnahme und der Sieg waren für die weitere Entwicklung Guldas von zweifacher Bedeutung. Einerseits begründete sein Erfolg in Genf seine überaus schnelle Karriere als klassischer Pianist. In der Folge gab er zahlreiche Klavierabende in verschiedenen Kontinenten und trat bereits mit zwanzig Jahren mit großem Erfolg in der „Carnegie Hall“ in New York auf. Andererseits stellt Leila Hossein dazu fest: „Zu diesem Zeitpunkt war er […] am Zenit seines Erfolges angelangt. Es machte ihn zwar sehr glücklich, so erfolgreich zu sein, aber trotzdem hatte er in diesem Alter mit der klassischen Musik schon mehr erreicht als andere in einem ganzen Leben. Es war die Zeit, in der er sich immer mehr mit Jazz beschäftigte. Er sammelte Jazzplatten und ging nach seinen eigenen Konzerten immer öfters in Jazzclubs.“ 27 Als Jazzmusiker war Friedrich Gulda Autodidakt. Er beschreibt seine erste Beschäftigung mit Jazz folgendermaßen: „Der Zeitpunkt, wo ich mich damals gefragt habe, was willst du musikalisch eigentlich, fällt mit meiner Reise 1946 zu diesem Wettbewerb in Genf zusammen. Ich wurde dort in einem Haus aufgenommen, wo die Söhne, alle in meinem Alter, eingefleischte Jazzfans waren. Das hatte zur Folge, daß dort Tag und Nacht die 78er Schellackplatten mit Musik von Count Basie, Duke Ellington, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, 26 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 52. 27 Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 8. 27 Dexter Gorden usw. liefen.[ …] Ich fand diese Musik am Anfang wirklich ziemlich widerlich.“ 28 Seine Entwicklung zum Jazzpianisten fand durch seine Praxis in den Jazzclubs statt. Der erste Höhepunkt in dieser zweiten Karriere war für Gulda sein Auftritt im „Birdland“ 1956 in New York. Die Begegnung mit dem Jazz hat Guldas weitere Entwicklung als Musiker sowohl als Interpret als auch als Komponist - entscheidend geprägt. Der Jazz hat sein Leben verändert: „Das Motiv, in den Jazzclub zu gehen, war nicht die tiefe Unzufriedenheit mit dem, was sich meiner jetzigen Ansicht nach völlig zu Unrecht ‚Moderne Musik‘ nennt. Das war nicht der Anlaß, es hat sich so ergeben. Diese Musik und was mit ihr zusammenhängt, hätte sicherlich zu meinem Selbstmord geführt, zumindest zu geistigem Selbstmord, wenn ich nicht auf der anderen Seite die Kompensation, den Trost und die Rettung und die Antwort auf die musikalischen Fragen der Gegenwart im Jazzclub gefunden hätte.“ 29 Friedrich Gulda hat in Interviews öfters betont, dass der Jazz für ihn lebensrettend war – im Gegensatz etwa zu Glenn Gould, der sich früh vom Konzertpodium zurückzog. Friedrich Gulda als Jazzpianist ist Gegenstand des dritten Kapitels. Im Folgenden soll die Bedeutung seiner Begegnung mit dem Jazz für seine Haltung zu Fragen der Interpretation und Improvisation behandelt werden. Gulda vertrat die Ansicht, dass die Rolle der Improvisation außerordentlich hoch eingeschätzt werden sollte. Er sprach sich oft gegen die „Notentrommelei“ in der Musik, das heißt die Beschränkung auf die reine Reproduktion von notierter Musik aus. Berühmt wurde sein Konflikt mit der Wiener Musikakademie 1969, dessen Ursache in Guldas hoher Einschätzung der Rolle der Improvisation lag. Die Wiener Musikakademie hatte ihm 1969 den „Beethovenring“ verliehen. Gulda nutzte diese Gelegenheit in seiner Dankesrede an die Musikstudenten 28 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 61/62. 29 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 66/67. 28 und Lehrenden der Musikakademie, um auf Missstände im damaligen Musikunterricht hinzuweisen und Lösungsvorschläge zu bringen. In seiner Rede kritisierte er die Praxis des Musikunterrichtes fundamental und sagte, an die Studierenden gerichtet: „Ich halte nämlich ein so durch und durch konservatives Institut wie die Wiener Staatsakademie eigentlich nicht für berechtigt, eine Auszeichnung zu vergeben, die den Namen eines der größten Revolutionäre der Musikgeschichte trägt. Erzieht die Staatsakademie euch, ihre Studenten, zu wahren Nachfolgern des musikalischen Rebellen und Neuerers Beethoven? Sicher nicht; sie leitet euch im Gegenteil zu zahmen Nachbeten an. Die Botschaft Beethovens an euch aber lautet: ‚Ich war ein musikalischer Revolutionär, werdet wie ich!‘ Stattdessen aber werdet ihr zu fügsamen Musikbeamten erzogen. Die Akademie handelt auch nicht in Beethovens Sinne, wenn sie dafür sorgt, dass Euer musikalischer Blick nicht über die musikalische Heimatkunde hinaus zur musikalischen Geographie der Welt vorstößt. Sie vergeht sich damit an der Botschaft: ‚Seid umschlungen, Millionen!‘ Damit will ich sagen, dass nur die Musik unserer engeren Heimat gelehrt wird, nicht aber die der ganzen Welt, wie es einer wahren Hochschule für Musik zukäme. Die Akademie belastet euch im Fach ‚Musikgeschichte‘ mit den Geburts- und Sterbedaten völlig unwichtiger Barock- und Renaissancekomponisten, anstatt euch zu sagen, worin die wahre musikalische Kraft des Barock- und Renaissancezeitalters gelegen hat: nämlich in der ungeheuren Verbreitung der aus spontaner Begeisterung geborenen musikalischen Improvisation. Sie redet Euch ein, dass das Abspielen von vorgeschriebenen Noten eine größere musikalische Leistung sei als die schöpferisch-improvisatorische Eigenbetätigung. So erzieht euch die Akademie zu einer herablassenden und abschätzigen Haltung jenen Musikern gegenüber, die die gegenteilige Ansicht vertreten – besonders dann, wenn sie es wagen, diese auch zu praktizieren – wie zum Beispiel auch ich selbst.“ 30 Guldas Lösungsvorschläge bestanden darin, die musikalischen Studien durch die Beschäftigung mit wichtigen außereuropäischen Praktiken, wie z.B. der Jazzmusik zu erweitern. Darüber hinaus sollte eine intensive Beschäftigung mit 30 Ursula Anders, Friedrich Gulda – Ein Leben für die Musik, Weitra 2010, vordere Umschlagseite. 29 den Improvisationspraktiken und Improvisationstechniken in der europäischen Musikgeschichte erfolgen. Guldas scharf formulierte Kritik führte zu heftigen Reaktionen seitens der Musikakademie. In der Folge gab er den „Beethovenring“ zurück. Gulda sprach in einem Vortrag beim Ersten Internationalen Musikforum Ossiachersee 1968 über seine grundsätzliche Haltung zur Musikausbildung und zur Improvisation. („Wider die Notentrommelei in der Musik“) 31 Zusammengefasst vertrat er darin folgende Position: Bereits am Beginn des Musikunterrichts sollte das Improvisieren stehen, nicht das Notenlernen. Die Kinder sollten am Anfang nicht mit dem Notenlesen belastet werden, sondern direkt in die Musik eingeführt werden. Kinder hätten Lust an der Improvisation, am Rhythmus, sie hörten Kinderlieder. Es würde ihnen aber schon früh beigebracht, dass die geschriebenen Noten dem Gehörten oder Erlebten vorzuziehen seien. Man könne im Lauf der Musikgeschichte verfolgen, wie das Geschriebene, das Dauerhafte einen immer höheren Wert zuerkannt erhalten hätte. Deshalb sei auch die höfische und die geistliche Musik schriftlich überliefert, weil ihre Festhaltung wichtig erschien. Bei anderen Formen von Musik – wie zum Beispiel der Musik der Spielleute oder wie die Flamencomusik – wäre das nicht der Fall gewesen. Diese Unterscheidung hatte für Gulda offensichtlich soziale Ursachen. Die höfische und die geistliche Musik wären eine Kunst für die reiche Oberschicht gewesen. Die notierte „offizielle“ Musik war „die Kunst der Unterdrücker“. Dagegen war die improvisierte, die nichtaufgeschriebene Musik die Kunst der armen, „die Kunst der Unterdrückten“. Die klassische europäische Musik hätte sich in den musikalischen Formen der Fuge, der Sonate und der Symphonie entwickelt. Die Ansicht, dass nur Musik, die nach strengen Gesetzen und in perfekten formalen Formen komponiert ist, hohe Kunst darstelle, sei hochmütig. So sei zum Beispiel die klassische indische Musik eine rein improvisierte Musik, die aber dennoch nach strengen 31 Ursula Anders, Friedrich Gulda – Ein Leben für die Musik, Weitra 2010, S. 116 f. 30 und komplizierten Gesetzen ohne schriftliche Fixierung ausgeführt würde. Auch bei dieser Musik handle es sich um großartige Kunst, die auf gleicher Höhe mit der klassischen Musik des Abendlandes stünde. Obwohl diese von Gulda vertretene radikale Position zumindest in einem Aspekt fragwürdig erscheint – die Improvisation spielte auch in der Musik für die Oberschicht im 17. und 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, was auch von Gulda selbst immer wieder hervorgehoben wurde – dient sie doch zum besseren Verständnis der Entwicklung Guldas als Interpret und Komponist. Für Friedrich Gulda als Interpret und Komponist spielt die Improvisation eine vielfältige Rolle. Ein eigenes Thema ist dabei Gulda als Jazz-Pianist, das im Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit behandelt wird. Im Weiteren werden folgende Aspekte kurz beschrieben: die Tradition des Ansagens von Musik mit dem „Hinmoderieren“ zur jeweiligen Komposition, improvisierte Verzierungen in seinen Aufführungen klassischer Werke, Improvisationen über klassische Themen, die improvisatorischen Elemente in seinen eigenen Kompositionen, die freie Improvisation am Klavier, sowie sein Versuch mit „freier Musik“. „Hinmoderieren“: Bereits das klavierspielende Lehrerskind Gulda erprobte im Kreis seiner Familie das Erzählen und die Kunst des Ansagens seiner Musik, des „Hinmoderierens“ und das Verbinden einzelner Stücke durch Worte. Diese Praxis behielt er auch in vielen seiner Konzerte bei. Damit führte er eine Tradition weiter, die in alten Tondokumenten von Live-Konzerten dokumentiert ist. So moderierte etwa die Sängerin Lotte Lehmann in ihren Schubert-LiederAbenden, begleitet vom ihrem präludierenden Pianisten. „Dass einzelne Musikstücke durch Moderation oder Improvisation verbunden werden, ist im 20. Jahrhundert noch gut geübt. Gulda gibt dieses Wissen auch lehrend weiter; Roland Batik, einer seiner wenigen Schüler, erlernt sie bei ihm. Batiks Erfahrungen des Hinpräludierens auf den ersten Programmpunkt schriftlich fixierter Musik, des Einstimmens auf die vom Komponisten geforderte Tonart hat Karl Löbl in einer Kurier-Kritik vom 2. März 1975 beschrieben: ‚Gulda saß schon während des Einlasses auf dem Podium, phantasierte pianissimo vor 31 sich hin, modulierte zuletzt nach Es-Dur, nach der Tonart jener Sonate, mit der das Programm begann.‘“ 32 Improvisierte Verzierungen: Gulda hat in seinen Konzerten mit Klassischer Musik die Tradition der improvisierten Verzierungen wiederbelebt. Bedauerlicherweise ist diese Praxis auf Tonträgern kaum dokumentiert. Bei seinen Einspielungen von Werken etwa von J.S.Bach oder Mozart, hielt sich Gulda viel strenger an den Notentext, als das in seinen Live-Konzerten der Fall war. Ein Beispiel dafür ist seine Einspielung von vier Mozart-Klavierkonzerten unter Claudio Abbado mit den Wiener Philharmonikern, die sich streng am Notentext orientiert. Andere Mozart-Einspielungen Guldas (mit dem Concertgebouw Orchestra unter Nikolaus Harnoncourt) enthalten freiere Verzierungen, kommen aber dennoch nicht an seine Live-Konzerte heran. Ein Beispiel improvisierter Verzierungspraxis findet sich bei J.S.Bach notiert: Die „Englische Suite Nr. 2 in a-moll“ (BWV 807) enthält eine Sarabande in zwei verschiedenen Fassungen – ein erstes Mal mit wenigen Verzierungen, das zweite Mal mit ausgeschriebenen, ausführlichen Verzierungen. Es ist wohl kein Zufall, dass Gulda gerade diese Suite oft aufgeführt und auch eingespielt hat. Eine besondere Form der improvisierten Ergänzung klassischer Kompositionen stellt das Begleiten notierter Werke (etwa von Mozart) „aus dem Stegreif“ dar. „Mozart ist der unmittelbare Lehrmeister: ‚Wissen Sie‘, sagt er [Gulda] vor seinem Tod zu Heinz Sichrovsky im Jahr 2000, ‚ich habe in meinem Studium gelernt, wie man Mozart-Sonaten aus dem Stegreif begleitet. Und, stellen Sie sich vor, ein paar Monate später lese ich, dass Mozarts Schwester Nannerl die schwersten Sonaten gespielt und ihr Bruder sie aus dem Stegreif begleitet hat. Da war ich ganz nahe an der mozartischen Wahrheit dran, Ich tue nichts anderes, als was mir der Meister bereits vorgemacht hat.‘“ 33 Improvisationen über klassische Themen: Improvisationen von Friedrich Gulda über klassische Themen sind nur weniger dokumentiert. Ein Beispiel dafür ist seine Komposition „Epitaph für eine Liebe“, die – anschließend an Chopins Prelude Nr. 20 in c-moll eine Improvisation über Chopins Themen enthält. 32 33 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 19 f. Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 284. 32 Hinzuweisen ist auch auf Guldas Paraphrasen über Themen und Motive von Johann Strauss, zum Beispiel die „G’schichten aus dem Wienerwald“, die er oft aufgeführt hat, so auch bei seinem allerletzten Konzert 1999 im Wiener Musikverein. Improvisatorische Elemente in Guldas Kompositionen: Solche finden sich vor allem in seinen Werken für Jazz-Ensembles, aber auch in Kompositionen, die sich der klassischen Musiksprache bedienen. Ein Beispiel für eine Komposition Guldas, die dem Solisten viel Raum für Improvisation gibt, ist „Wings – A Concert Piece für Solo Violin, String Orchestra and Rhythm Section“. „‘Ein gutes Stück mit Pferdefüßen‘, so kommentiert der Geiger Josef Sivo Guldas einziges Violinkonzert Wings, dessen Solopart er 1974 uraufgeführt hat. Bei der Uraufführung in Salzburg, erinnert sich Sivo, ging Gulda während der Kadenzen für die Solo-Geige im Publikum spazieren, den Solisten in der Konzentration mit den Worten störend: ‚Wenn dir die Kraft ausgeht, spiel ich dir ein paar Akkorde hinein.‘ Sivo erduldete den Schelm Gulda. ‘Coming out directly of your tuning, play energically, surprisingly and proudly’, so beginnt Wings. An das Stimmen der Saiten der Sologeige schließt sich eine Solo-Arie für den Geiger unmittelbar an, in freiem Rhythmus notiert ‚Piu lento con dolore sempre liberamente‘, nach dieser zur Freiheit auffordernden Solo-Arie lässt Gulda die Geige von einem Orchesterschlag begleiten. ‘Intenso e vibrato’ erklingen Streicherpizzicati, dann heißt es: ‘Take a deep breath and get into another mood.’ Gulda fordert wiederholt zu Freiheit auf: ‘Repeat ad libitum’, ‘Play Rhythm on a «Beat Basis» but use a lot of Sixteenths – sometimes also Sixteenth – Triplets‘. Er gibt der Solo-Geige Anweisungen zum Tonmaterial, die übertreten werden können, und relativiert die Anweisungen für die Pauke: ‚Use your fantasy‘ […]‘“ 34 Improvisiert wird auch in der von Gulda komponierten Musik zum Film: „Moos auf den Steinen“ (Regie: Geord Lhotsky, 1968). Dieser Film basiert auf einem Roman von Gerhard Fritsch (1956). Er spielt in einem verfallenen Schloss an der österreichischen Grenze zu Tschechien in einer Landschaft, die an Galizien erinnert. Die Bewohner und Besucher dieses Marchfeld-Schlosses (das damals noch nicht renovierte Schloss Niederleis bei Ernstbrunn) stellen einen Mikrokosmus der österreichischen Nachkriegsgesellschaft dar. „Moos auf den 34 Irene Suchy, in: Beiheft zur CD „Wings – Gulda symphonisch“ S. 2. 33 Steinen erzählt seine Geschichte an der Schnittstelle zwischen den Ausläufern des untergegangenen alten Österreich und dem Pragmatismus einer Zukunft, die dessen Relikte wirtschaftlich verwertet.“ 35 Irene Suchy über die Filmmusik Guldas: „Die Musik Guldas, stoisch und selbstständig, verweist unerbittlich darauf, dass es weitergeht.“ 36 Bereits 1961 hatte Gulda für den Film „Mann im Schatten“ (Regie: Arthur Maria Rabenalts) – ein Film mit Helmut Qualtinger – die Musik komponiert. Freie Improvisation am Klavier: Als Beispiel für Guldas Fähigkeit, auch längere Musikstücke frei zu improvisieren, seien die „3 Piano Pieces“ genannt, die er 1986 im Wiener Konzerthaus (aber ohne Publikum) improvisierte. Diese Stücke (von Günther Rabl als posthumes opus in seiner CD-Serie „canto crudo“ als Zeichen großer Wertschätzung veröffentlicht) stellen das musikalische Basismaterial für Rabls Komposition: „Landschaft mit Pianist“ dar. Diese Improvisationen (über 56 Minuten lang) enthalten überraschende Anklänge und Bezüge zu Komponisten des 20. Jahrhunderts, die von Gulda oft kritisiert worden sind – wie zum Beispiel Strawinsky, Bartok, Schönberg, Stockhausen und Boulez. „Guldas Ideenreichtum und Konsequenz im Improvisieren machen dieses Werk zu einem Beweis seiner Kompetenz in diesem Genre.“ 37 Versuche mit „Freier Musik“: Von 1971 bis 1978 experimentiert Gulda mit Paul und Limpe Fuchs im Bereich der „Freien Musik“. Das musikalische Projekt trägt den Titel „Anima“, benannt nach einem experimentellen Kurzfilm vom C.G.Jung. Paul und Limpe Fuchs treten mit Trommeln, Horn, selbstgebauten Instrumenten und Gesang auf, in einer völlig freien musikalischen Form. Ein „Anima“-Konzert im Jahr 1972 beschrieb Andrea Seebohm in der Tageszeitung „Kurier“ (6.03.1972) folgendermaßen: „Der Samstagabend gestaltete sich im vollen Mozart-Saal zum Happening-Debakel: aufschlußreich, amüsant, der Mühe wert allerdings und auf Wiens modrigem Kulturboden allemal zu begrüßen. Der Beginn gelang: Da dominierten die ‚Füchse mit ihrem faszinierenden ‚Anima‘Sound aus Selbstgebasteltem […] Gulda und Rettenbacher paßten sich mühelos an, improvisierten ‚animiert‘. Aus dem Publikum nach und nach 35 Elisabeth Büttner / Cristian Dewald, Anschluß an Morgen. Zitiert nach Klappentext der DVD „Moos auf den Steinen“. 36 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 125. 37 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 267. 34 Einwürfe (auf mitgebrachten Pfeifen, Flöten, Kämmen, Trommeln) – Gulda fängt sie auf, variiert sie am Klavier, horcht auf Gegenreaktionen. Hat sichtlich Spaß an der Sache, blickt aufmunternd in den Saal, provoziert mit Themenfetzen. Stimmung kommt auf, Atmosphäre wird dick, ‘irgend etwas‘ ist im Entstehen. ‚Trau di!‘ ruft er einem Kammbläser zu. Amüsement und Begeisterung wachsen, entladen sich in einem fulminanten Tutti der Haupt- und Mitakteure […]“ 38 Später setzte er seine „freien“ musikalischen Experimente mit der Sängerin und Schlagzeugerin Ursula Anders fort. Gulda sagte über seine Versuche der totalen Improvisation, der „Freien Musik“: „Der Begriff von gut und schlecht , also von guter oder schlechter musikalischer Aussage, ist ja in der ‚Freien Musik‘ fast bis zur Ungültigkeit relativiert. Es gilt die Regellosigkeit als Prinzip. Es gibt nur eine einzige Regel, nämlich keinerlei Regeln anzuerkennen.“ 39 Gulda hat sich später von der totalen Improvisation distanziert: „Ich muß aber für die Einwände gegen meine Tätigkeit in den siebziger Jahren, die meine Kritiker vorgebracht haben, gerade im Lichte der achtziger Jahre ein gewisses Verständnis äußern […] Den Haupteinwand kann man auch so formulieren: ‚Where everything goes nothing matters.‘ (Wo alles erlaubt ist, ist auch nichts mehr wichtig.)“ 40 „Natürlich war es nicht leicht, über so viele Jahre hinweg mit einer massiven Verständnislosigkeit von vielen Seiten zu leben. Ich muß allerdings diesen Leuten, die in meinen Konzerten Vorbehalte gegen mich mehr oder weniger artikuliert haben, mehr oder weniger intelligent, durch Wegbleiben zum Ausdruck gebracht haben, letztlich recht geben. Ich fühle mich heute dazu verpflichtet. Daß das, was wir wollen oder ich wollte – vor allem in den siebziger Jahren - , daß das nicht geht, ich möchte es aber nicht eine Sekunde missen. Diese Dekade war eine ganz wichtige und unersetzliche Erfahrung. Das Urteil, das ich ausspreche, daß ich sage, es geht nicht, bekommt erst durch diese Erfahrung einen Wert.“ 41 Als Konsequenz dieser musikalischen Erfahrungen kehrte Gulda in seinen Kompositionen der 80er Jahre (zum Beispiel im Konzert 38 Andrea Seebohm, Tageszeitung „Kurier“ 6.03.1972. Zitiert nach Ursula Anders, Friedrich Gulda – Ein Leben für die Musik, Weitra 2010, S. 197. 39 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 77. 40 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 80. 41 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 120. 35 für Violoncello und Blasorchester für Heinrich Schiff) wieder zu traditionellen Formen zurück. 2.2. ROBERT D. LEVIN Robert D. Levin (geboren 1947 in Brooklyn/New York) ist ein klassischer Pianist, ein Musikwissenschaftler und Komponist. Er war Professor für Klavier an der Hochschule für Musik in Freiburg und ist gegenwertig Professor an der Universität Harvard. Seine Spezialität ist der Hammerflügel. Levin wurde für seine künstlerische Arbeit in zwei Bereichen bekannt: Einerseits durch die Rekonstruierung und Ergänzung von unvollständigen Kompositionen, insbesondere von J.S.Bach und Mozart. Beispiele dafür sind unter anderen: Die Bach-Kantaten Nr. 37, 139 und 162, wo Levin fehlende Instrumentalstimmen ergänzte, oder die c-moll Messe, das d-moll Requiem und das F-Dur Konzert für Oboe von Mozart. Er hat auch für zahlreiche Kompositionen aus der Zeit der Wiener Klassik sogenannte Eingänge komponiert. Andererseits wurde er bekannt durch seine Fähigkeit, im Stil des jeweiligen Komponisten (zum Beispiel Mozarts, Beethovens oder Schuberts) zu improvisieren. So hat er beispielsweise in Konzerten die unvollendeten Sonaten von Schubert durch improvisierte Passagen ergänzt und vervollständigt. Er nahm auch die vergessene Tradition der improvisierten Konzerte wieder auf, in denen er über Themen improvisierte, die ihm vorher aus dem Publikum vorgeschlagen wurden. Levin hat sich in zahlreichen Publikationen zum Thema „Improvisation“ in der klassischen Musik geäußert. Wie Gulda kritisiert er, dass sich heute die Ausbildung von Instrumentalisten auf die möglichst genaue Reproduktion von notierten Kompositionen beschränkt. „Classical musicians have become highly specialised. Most of today’s performers practise many hours a day painstakingly learning and perfecting text written by others. Highly skilled at reproducing music, they often have little or no training in inventing it […] In the 18th century all composers were performers and virtually all performers composed. Furthermore, virtually all the musik performed was new […] Mozart’s 36 performances were designed to display his talents as improviser, pianist and composer (that is the order his contemporaries assigned to his gifts).“ 42 Levin schreibt über die Veränderungen in der Aufführungspraxis seit der Zeit Mozarts: „Als Mozart seine bahnbrechenden Klavierkonzerte komponierte und der Öffentlichkeit vorstellte, waren sie alles andere als Klassiker. Ihre Sprache war und bleibt eine brisante Synthese aus Eleganz, Charme, Schalkhaftigkeit, Kühnheit, opernhafter Theatralik, Ernsthaftigkeit, Pathos und Tragik. Ein Aufführungsstil, der in der Lage ist, eine derart gewaltige dramaturgische Bandbreite zu erfassen, muß von Spontaneität durchdrungen und durch eine Direktheit des Vortrags gekennzeichnet gewesen sein, die weit entfernt ist vom ausschließlichen Bemühen der jüngsten Generationen von Mozart-Interpreten um Klangschönheit, Anmut und Pietät. Seit sich die Ästhetik des Vortrags vom lebendigen Ausdruck abgewandt hat und der zunehmend perfekten, glanzvollen Wiedergabe festgelegter Texte befleißigt, ist das Gefühl, eine improvisierte Darbietung zu erleben, zugunsten bis auf jedes Detail reproduzierbarer Aufführungen gewichen, und das Improvisieren an sich hat aufgehört.“ 43 Levin hat immer wieder betont, dass die Fähigkeit, in der musikalischen Sprache eines bestimmten Komponisten zu improvisieren, die genaue Kenntnis der jeweiligen Kompositionstechnik voraussetzt. Er selbst hätte erst diese Fähigkeit erlangt, nachdem er sich viele Jahre lang mit dem Rekonstruieren und Ergänzen von unvollständigen Kompositionen beschäftigt hat. „If you want to do something that sounds like Haydn but not Mozart, something that sounds like Beethoven but not Schubert, there have to be a lot of switches that are triggered in your brain and they’re based on linguistic things […] If you want to improvise in the style of a certain composer, you’d better be able to compose in that style.“ 44 Unter den zahlreichen Einspielungen Levins sei insbesondere auf seine Aufnahmen von Mozart-Klavierkonzerten mit der Acadamy of Ancient Music unter Christopher Hogwood verwiesen, in denen er alle Kadenzen improvisiert. 42 Robert Levin, Improvising Mozart. Zitiert nach: Academy of Ancient Music [online verfügbar: http://www.aam.co.uk/media/Files/Resources/Features/Improvising%20Mozart.pdf 15.1.2012] 43 Robert Levin, im Beiheft zur CD „Robert Levin, Mozart - Klavierkonzerte Nr. 22 und 23“. 44 Robert Levin, The Classical Improviser, in: Fonseca-Wollheim [online verfügbar: http://online.wsj.com/article/SB1000142405274870346670457549020331546176.html16.1.2012] 37 Erwähnt sei auch seine Einspielung vom Beethovens Fantasie für Klavier, Chor und Orchester c-moll op. 80. Dieses Werk beginnt mit einer Fantasie für Klavier-Solo, die Beethoven bei der Uraufführung 1808 im Theater an der Wien frei improvisierte. (In diesem Konzert vom 22.12.1808 kamen auch Beethovens viertes Klavierkonzert, die fünfte und die sechste Sinfonie, drei Sätze aus der CDur-Messe sowie die Arie „Ah! perfido“ zur Aufführung!) Levin improvisiert auf dieser Einspielung zwei alternative einleitende Fantasien. Auch die historische Praxis, wonach Solisten das Orchester in den Tutti-Stellen (zum Beispiel in den Klavierkonzerten Mozarts, aber auch Beethovens) begleiteten, wurde von Levin wiederbelebt. In zahlreichen Partituren aus der Zeit der Wiener Klassik findet sich die Anweisung „Col Basso“, die den Solisten auffordert, mit der linken Hand die Bassstimme zu verdoppeln und mit der rechten Hand eine Begleitung zu improvisieren. Was Levin über seine improvisierten Einleitungen zu Beethovens Chor-Fantasie schreibt, gilt gleichermaßen für viele Eingänge und Kadenzen: „Beide Fassungen benutzen Beethovens Material, zielen aber jeweils in eine andere Richtung. Beide können und wollen sie nicht mit der großartigen Fassung des Meisters konkurrieren, aber beide helfen sie zumindest dem Verständnis, daß auch die unsterblichsten Gedanken nicht unausweichlich sind, sondern Ergebnis einer Wahl, die reflektierte und spontane Elemente zu einem Ganzen zusammenfasst.“ 45 2.3. GABRIELA MONTERO Die venezolanische Konzertpianistin Gabriela Montero wurde 1970 in Caracas geboren. Schon sehr früh zeigte sie außerordentliches musikalisches Talent und eine einzigartige Begabung zur Improvisation. Diese Begabung wurde allerdings von einer ihrer Klavierlehrerinnen über viele Jahre unterdrückt, für die die Kunst des Improvisierens nicht Teil der Ausbildung zur klassischen Konzertpianistin war. 45 Robert Levin, im Beiheft zur CD „Robert Levin, Beethoven Klavierkonzert Nr.5 und Chor-Fantasie“. 38 Eine Begegnung mit Martha Argerich hatte entscheidenden Einfluss auf ihre weitere künstlerische Entwicklung. Argerich, die Gabriela Montero bereits als Kind kennengelernt hat, unterstützte sie bei ihren Versuchen, über klassische Themen zu improvisieren. Sie beschreibt die Begegnung mit Argerich, die in einer Phase Monteros Lebens stattfand, in der sie das Klavierspielen gänzlich aufgeben wollte, wie folgt: „I had just quit playing again […]. She asked to hear me. I said: ‘No, let’s just have coffee’. But she insisted. I remember it was about 1 a.m., and I ran through some standard repertoire and also improvised. Her enthusiasm and encouragement were unbelievable. Something in that moment transformed my life.“ 46 Gabriela Montero betont in Interviews immer wieder den spontanen Charakter ihrer Improvisationen, die sich wesentlich von den strukturierten Improvisationen im Jazz – etwa bei Keith Jarrett – unterscheiden: „Bei mir handelt es sich dabei um etwas völlig Spontanes. Die Improvisation entwickelt sich wirklich von allein. Es gilt aber vielleicht in anderen Gattungen der populären Musik, wie etwa im Jazz, bestimmten Methoden oder Regeln zu folgen. Ich kenne und beherrsche diese Verfahren nicht und würde lieber von allen akademischen bzw. technischen Kenntnissen so fern wie möglich bleiben, denn das Improvisieren muss bei mir immer intuitiv sein. So fühle ich die Musik authentischer, weil diese Begabung meiner Meinung nach gar nichts mit der Ausbildung zu tun hat, und man kann es deswegen auch nicht wie andere Fähigkeiten lehren.“ 47 Gabriela Montero begann, bestärkt und gefördert durch Martha Argerich, in ihren Konzerten mit klassischer Klaviermusik damit, Zugaben zu improvisieren. Sie musste allerdings erkennen, dass ihr Publikum auf diese Weise nicht davon zu überzeugen war, dass es sich dabei tatsächlich um freie, spontane Improvisationen handelte. „Urspünglich musste ich mich an das Publikum wenden und sagen, dass ich improvisieren wolle, und dann fing ich einfach an, zu meinen eigenen Themen frei zu spielen. Nach und nach erkannte ich eine gewisse Skepsis und beschloss, es lieber anders zu machen: Ich bot dem 46 Gabriela Montero, in: Interview mit Stuart Isacoff, New York Philharmonic [online verfügbar: http://nyphil.org/attend/guests/index.cfm?page=interview&interviewNum=31&selectedNav= 3.4.2012] 47 Carsten Dürer, Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007, S. 277. 39 Publikum an, Themen vorzuschlagen, damit die Leute sehen konnten, dass meine Improvisationen wirklich spontan sind. Auf diese Art und Weise kann ich auch das Publikum in meinen kreativen Verlauf einbeziehen.“ 48 Die Klavierabende Gabriela Monteros, die sie in den letzten Jahren gab, bestanden meist aus einem ersten Teil mit klassischen und romantischen Kompositionen, und einem zweiten Teil, in dem sie über Themen improvisierte, die ihr aus dem Publikum vorgeschlagen wurden. Montero schließt damit – über hundert Jahre später – an eine Tradition an, die zuletzt von Mary Wurm (siehe Kapitel 1.2.) repräsentiert wurde. Montero besitzt die Fähigkeit, über unterschiedlichste Themen in verschiedenen Stilen zu improvisieren, auch kontrapunktisch, etwa dreistimmige Fugen. Ein Beispiel für ihre Begabung zur Improvisation ist auf der CD: „Gabriela Montero: Live in Germany“ 49 dokumentiert, die Konzerte in Frankfurt und Düsseldorf enthält. Montero improvisiert über vom Publikum vorgeschlagene oder vorgesungene Themen von Pachelbel, Mozart, Rossini, Schubert, Rachmaninov sowie über traditionelle Volkslieder. Auf diese Weise gelingt es ihr, einen lebendigen Kontakt zum Konzertpublikum herzustellen. Obwohl Montero die Ansicht vertritt, man könne die Fähigkeit zur Improvisation weder lehren noch lernen, sieht sie aber doch in der Improvisation eine pädagogische Funktion: „Was ich auch sehr gerne mache, ist Kinder zu motivieren, mit der Musik zu spielen und neugierig zu sein. Es gibt eine fantastische Welt zu entdecken und wenn jemand ein solches Talent hat, erkennt man dies in der Kindheit – was aber eine frühe Motivation voraussetzt. Bei schon ausgebildeten Pianisten kann die Improvisation einen neuen Weg aufzeigen, Musik anders zu machen und zu fühlen. Es kann eine sehr positive Erfahrung sein. In diesen Fällen geht es nur darum, eine gewisse Freiheit in der Beziehung zur Musik zu schaffen.“ 50 48 Carsten Dürer, Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007, S. 278. Gabriela Montero, Die Kunst der Improvisation, in: Beiheft zur CD „Gabriela Montero – Live in Germany“. 50 Carsten Dürer, Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007, S. 278. 49 40 KAPITEL 3. KLASSISCH AUSGEBILDETE PIANISTEN UND IHR ZUGANG ZUM JAZZ Im Folgenden wird am Beispiel ausgewählter klassisch ausgebildeter Pianisten (Friedrich Gulda, Roland Batik, Katia Labeque) deren Zugang zum Jazz untersucht. Einleitend werden die wichtigsten Unterschiede zwischen der europäischen klassischen Musik und dem Jazz beschrieben. 3.1. KLASSIK UND JAZZ Wesentliche Unterschiede zwischen der Interpretation klassischer Kompositionen und dem Jazz des 20. Jahrhunderts liegen in drei Bereichen: Tonbildung und Phrasierung, Rhythmik und Improvisation. Tonbildung und Phrasierung unterscheiden die beiden Musikstile wesentlich. „Während sich die klassische europäische Musik darauf konzentriert, einen schönen und homogenen Klang zu bilden, ist das Hauptziel eines JazzMusikers seinen eigenen unverwechselbaren Ton zu finden, der nicht in erster Linie ‚schön‘ sein muss, sondern einzigartig und wieder erkennbar.“ 51 So schreibt etwa Heinrich Neuhaus in seinem einflussreichen Buch über „Die Kunst des Klavierspiels“ im Kapitel „Über den Ton“ ausführlich darüber, dass der „Urgrund aller hörbaren Musik […] der Gesang [ist], und die Klavierliteratur ist überreich an Sanglichkeit; deswegen muss es die erste und wichtigste Aufgabe jedes Pianisten sein, sich einen ausgeprägten, vollen, aller Nuancierungen fähigen, ‚reichen‘ Ton […] zu erarbeiten.“ 52 Für Neuhaus ist die Meisterung des Tones – und zwar eines „schönen“ Tones – die wichtigste aller klaviertechnische Aufgaben, die jede Pianistin und jeder Pianist zu lösen hat: „Indem wir ihn [den Ton] vervollkommnen und veredeln, heben wir die Musik selbst auf eine höhere Stufe. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass meine Arbeit mit den Schülern zu drei Vierteln aus der Arbeit am Ton besteht.“ 53 Um das Ziel des „schönen“ und gleichmäßigen Tones zu erreichen, verlangt 51 Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 22. Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, Leipzig 1969, S. 74. 53 Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, Leipzig 1969, S. 64. 52 41 Neuhaus vor allem das polyphone Spiel am Klavier und das „Singen auf dem Klavier“ von kantablen, melodiösen Stücken. Nichts könnte den Unterschied zwischen beiden Musikstilen deutlicher charakterisieren als diese von Neuhaus vertretene Position. Für einen Jazzmusiker ist ein „schöner“ Ton kein Ziel, er strebt nach einem persönlichen und damit wiedererkennbaren Ausdruck, nach einer für den Jazz typischen Artikulation. Dazu schreibt Oscar Peterson in seinen „Jazz Exercises“: „The player should attempt different types of articulation in order to obtain the final and correct jazz feeling that he desires. In doing this he should then be able to realize how the jazz player (professional) changes the complete complexion of a tune by changing his articulation. “ 54 Peterson begründet seine Übungsstücke für angehende Jazz-Pianisten damit, dass man an ihnen erkennen soll „that a jazz technique in many ways is a completely new form of technique when compared with the classical.“ 55 Auch Mike Schoenmehl stellt in seiner Jazzklavierschule: „Modern Jazz Piano“ dazu fest: „Das Beste ist […] wenn du im Laufe der Zeit einen persönlichen, unverwechselbaren Stil entwickelst.“ 56 Ein Hauptmerkmal des Jazz ist die Jazz-Rhythmik, die tendenziell einen polyrhythmischen Charakter aufweist. Die Vielschichtigkeit der Rhythmen orientiert sich am „Beat“, dem gleichbleibenden, oft durchgeschlagenen Rhythmus. Unterschiede zur klassischen europäischen Musik zeigen sich in der Betonung des zweiten und vierten Schlags im Takt und auch darin, dass Achtelnoten nicht regelmäßig, sondern ungerade gespielt werden, das heißt, dass eine Viertelnote in Achteltriolen geteilt wird, wobei die zweite Achtel auf der letzten Triolennote gespielt wird. (Das gilt auch für sehr schnelle Passagen – im Unterschied zur Klassik, wo solche Passagen grundsetzlich gleichmäßig gespielt werden sollen. Diese Art des Rhythmus ist die Grundlage des „Swing“, mit dem die stark „schwingende“ rhythmische Qualität des Jazz bezeichnet wird. (Der Begriff „Swing“ wurde vor allem im Zusammenhang mit den berühmten Big Bands der 30er und 40er Jahre – Duke Ellington, Benny 54 Oscar Peterson, Jazz Exercises, Menuets, Etudes & Pieces for Piano, Mississauga 1965, S. 14. Oscar Peterson, Jazz Exercises, Menuets, Etudes & Pieces for Piano, Mississauga 1965, S. 4. 56 Mike Schoenmehl, Modern Jazz Piano, Mainz 1992, S. 146. 55 42 Goodman, Glenn Miller – benutzt, die eine tanzbare Form der Jazz-Musik spielten.) Der Ursprung der Jazz-Rhythmik liegt in der afrikanischen Rhythmusvielfallt, die vor allem in neueren Jazzrichtungen in der Form polyrhythmischer Strukturen zum Ausdruck kommt. Einerseits in der Überlagerung von binären Rhythmen mit ternären Rhythmen, andererseits durch den „Offbeat“ (weg vom Schlag). Unter „Offbeat“ versteht man die für den Jazz typische Phrasierung, bei der nicht nur die unbetonten Taktteile oft betont, sondern der durchlaufende Grundrhythmus durch melodische Akzente kurz vor oder nach dem Beat überlagert werden. Diese Art der Phrasierung erzeugt eine latente rhythmische Spannung, ohne die Jazz-Musik nicht swingen würde. Neben dem „Swing“ gehört der „Groove“ zu den Fundamenten der JazzRhythmik. Groove-Musik baut auf einem gleichmäßigen Puls auf, der der Frequenz des Herzschlages, des Gehens oder des Laufens entspricht. Der Begriff „Groove“ bezeichnet aber nicht nur eine Art des mehrschichtigen Rhythmus, sondern auch die besondere gefühlsmäßige Wirkung, das Rhythmusgefühl afro-asiatischer Musik. Auf seiner Grundlage finden auch die Improvisationen der Jazz-Musiker statt. Diese rhythmischen Besonderheiten des Jazz sind aber die einzigen, die sich von afrikanischen Traditionen ableiten. Alle anderen Elemente der Jazz-Musik beruhen dagegen auf europäischen Traditionen. So wird fast ausschließlich (abgesehen von „modal“ geprägten Improvisationen oder vom „Free-Jazz“) die klassische europäische Harmonik – bis etwa Debussy – benutzt. Auch musikalische Formen wie der „Song“ und die Verwendung europäischer Musikinstrumente verweisen auf die europäische Musiktradition. Konstituierendes Merkmal des Jazz ist die Improvisation. „Es wurde in der gesamten Geschichte des Jazz (außer im Free Jazz) nach den gleichen Techniken und Methoden der alten europäischen Musik improvisiert und zwar mit Hilfe von Harmoniegerüsten, die einer gewissen Form unterliegen: zum Beispiel ein Standard in 32-taktiger Liedform oder eine zwölftaktige Bluesform. Die Aufgabe eines Jazzmusikers besteht darin, spontan eine neue musikalische Linie über diese Harmonien zu legen, während in der heutigen 43 klassischen europäischen Musik nach dem Maßstab der Werktreue von Kompositionen, die meist mehrere hundert Jahre alt sind, gemessen wird.“ 57 Diese Aussage Hosseins ist aber in mehrfacher Hinsicht zu präzisieren. Richtig ist, dass in der „Alten Musik“ in bestimmten Formen improvisiert wurde, die Ähnlichkeiten mit der Improvisation in der Jazz-Musik aufweisen. Dazu zählt vor allem die Improvisation über den Formen Ground, Folia, Romanesca, Passacaglia, Chaconne, Aria etc. Es ist dabei allerdings zu bezweifeln, dass die Improvisationen über diese historischen Formen tatsächlich mit den kollektiven Improvisationen im Jazz gleich zu setzen sind. Ein besonderes Merkmal der Jazz-Improvisation liegt gerade darin, dass mehrere Musiker gleichzeitig über eine Harmoniefolge oder über eine Skala improvisieren. Diese Form der kollektiven Improvisation findet sich in den verschiedenen Stilen des Jazz in verschiedenen Formen ausgeprägt. Im New Orleans-Jazz haben oft bis zu sechs Musiker gleichzeitig improvisiert, wobei die improvisatorische Freiheit dabei aber sehr beschränkt war. In einem typischen Jazz-Quartett ab den 30er Jahren (zum Beispiel in der Besetzung Schlagzeug, Kontrabass, Klavier und ein Blasinstrument) findet die Improvisation im Rahmen einer genauen Funktionszuweisung statt. Das Schlagzeug ist ein reines Rhythmusinstrument, der Kontrabass spielt die Bass-Linie, der Pianist unterstützt den Rhythmus, gibt die Akkordfolge vor und improvisiert entweder als Solist oder als Begleiter des Melodieinstrumentes. Im Laufe eines Stückes kann jedes Mitglied dieses Ensembles improvisieren. Richtig ist auch, dass die Improvisation im Jazz sehr oft über „Standards“ des „Great American Songbook“ erfolgt. Allerdings gibt es nicht nur im „Free Jazz“ (ab 1960) davon stark abweichende Formen der Improvisation, sondern vor allem in jenen Jazz-Improvisationen, die nicht über eine Harmoniefolge eines Themas stattfinden, sondern über eine Skala. Das (angeblich) meist verkaufte Album in der Geschichte des Jazz ist „Kind Of Blue“ von Miles Davis (1959), das er unter anderem mit John Coltrane, Cannonball Adderly und Bill Evans einspielte, gilt als das wichtigste Album des „Modalen Jazz“. 57 Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 22. 44 „Im Modalen Jazz verläuft die Improvisation des Solisten auf wenigen, über weite Strecken ausgehaltenen Modi (Skalen) statt nach Vorgabe konventioneller, harmonischer Akkordfolgen. Neben den konventionellen Tonleitern der westlichen Musik werden ebenso die auf die mittelalterlichen Kirchentonarten zurückgehenden modalen Tonleitern und außereuropäische Tonskalen verwendet, und auch chromatische Passagen finden vermehrt Verwendung. Moderne Musiker, welche den modalen Stil anwenden, setzen auch viele andere Techniken wie Vorhalts- und Durchgangstöne, das Einkreisen von Tönen, das Outside Playing und andere Techniken ein, um ihre Improvisation zu bereichern. Den Primat hat der, ohne an ein Korsett konventioneller, begleitender Harmonien des Ensembles gebundene, darüber frei improvisierende Solist. Die Begleitung besteht oft nur aus wenigen, ständig wiederholten Akkorden (Vamps). Modaler Jazz lässt sich als ein Ergebnis einer teilwesen Abwendung vom Bebop interpretieren, für den komplizierte Akkordfolgen und artistische Phrasierungen besonders der Soli charakteristisch waren. Während der Bebop mit seinen vielen Verzierungen die Musiker zu komplizierten Fingerübungen zwang, wirkte der Modale Jazz mit seinen eher kargen, minimalistischen Tonfolgen in dieser Hinsicht entspannter. Modaler Jazz ist im Tempo häufig von ruhigem bis meditativen Charakter, verfügt aber durch seine oft ungewöhnlichen Harmonien bis hin zu scharfen (nicht rauen) Dissonanzen gleichwohl über genügend Spannung.“ 58 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Improvisation im Jazz eine historisch neue musikalische Form darstellt. Sie ist ein bedeutender und schöpferischer Beitrag der afro-amerikanischen Musiker zur Musikgeschichte. 3.2. FRIEDRICH GULDA ALS JAZZ-KOMPONIST UND JAZZPIANIST Welche lebensgeschichtlich und künstlerisch überragende Bedeutung die Begegnung mit dem Jazz für Friedrich Gulda darstellte, wurde bereits im 58 Modaler Jazz, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Modaler_Jazz 21.2.2012] 45 zweiten Kapitel beschrieben. Er selbst sah seine Hinwendung zum Jazz als seine größte Leistung an: „[…] jetzt, wo ich mein Leben zum größten Teil überblicke, muß ich sagen, daß gerade die Öffnung in Richtung Jazzmusik oder in Richtung schwarzer Musik die wichtigste Lebensleistung von mir ist und bleibt. Vor allem [eine] kulturpolitische Leistung […]“ 59 Gulda hat sich sowohl als Komponist wie auch als Pianist intensiv mit dem Jazz beschäftigt. Während (wenige) andere Pianisten versuchten, sowohl klassische Werke wie auch Jazz auf hohem Niveau zu spielen, war es das künstlerische Ziel Guldas, diese beiden gegensätzlichen musikalischen Welten miteinander zu verbinden. Er formulierte dieses Ziel auf einer musikhistorischen und geschichtlichen Ebene ausgehend von seiner Einschätzung, dass nach zwei Weltkriegen Kontinentaleuropa zu politischer Bedeutungslosigkeit herabgesunken sei und in kultureller Hinsicht kaum mehr als eine Kolonie der USA darstelle (der „American Way of Life“ käme in der Musik, in Filmen, Fernsehprogrammen, in der Freizeitgestaltung usw. übermächtig zum Ausdruck). Gulda veröffentlichte im Beiheft zu der von ihm selbst produzierten CD: „Friedrich Gulda: Sein Eurojazzorchester und Solisten der Sechzigerjahre“ einen wenig bekannten, aber grundlegenden Text über seine Intentionen. In diesem Beiheft, das die bezeichnende und für viele Jazz-Fans wohl irritierende Überschrift: „Die Überlegenheit der klassisch-europäischen Großform“ enthält formulierte er 1999: „In diese Ausgangssituation hineingestellt kam ich zu dem Schluß, daß es sich, wie immer in der Geschichte, wenn zwei Kulturen einander begegnen, um ein Assimilationsproblem handelt. Oder, primitiv ausgedrückt: Wer frißt wen? Du mich oder ich dich? Die Antwort ist klar: Lieber ich dich, als du mich! So habe ich mich denn tief in eine fremde Musiktradition, eben die afro-amerikanische, versenkt, alles gelernt, was dort zu lernen war in Praxis und Theorie, aber letztlich doch ohne mich ihrem mächtigen Einfluß gänzlich zu unterwerfen. Ich habe auch nicht versucht, mich ihm zu verschließen. Sondern ich habe ihn assimiliert, gefressen, in geistige Nahrung, in ein Stück meiner selbst verwandelt und meiner europäischen Formenwelt einverleibt. Lied- und Variationenform haben beide Traditionen gemeinsam. Zwischen etwa einer Klaviervariationenkette von Mozart und sagen wir einmal einer gelungenen 59 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 125. 46 Chorusfolge von Bill Evans oder Keith Jarrett besteht formal und qualitativ kein Unterschied. Den hierzulande gewachsenen Großformen hingegen, insbesondere der Sonatenform, aber auch der Fugen- oder Rondoform hat der angelsächsische Raum in Hinsicht auf Weiträumigkeit, Vielfalt und Komplexität der formalen Organisation nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Durch die Erneuerung dieser gewaltigen Tradition nach dem Motto: Neuer Wein in alte Schläuche – glaube ich einen wichtigen Beitrag zur musikalischen Selbstachtung Europas trotz widriger politischer Umstände geleistet zu haben.“60 Jazz spielt in Guldas Kompositionen auch dort, wo sie der traditionellen europäischen Musikform verbunden bleiben, eine zentrale Rolle. Im Folgenden werden einige ausgewählte Kompositionen Guldas kurz besprochen. Anschließend wird versucht, Gulda als Jazz-Pianist einzuordnen und zu bewerten. Friedrich Gulda hat bereits als Schüler mit dem Komponieren begonnen. (Siehe dazu das Verzeichnis seiner Kompositionen im Anhang.) Besonders intensiv hat er sich mit dem Komponieren bis zum Beginn der 70er Jahre und dann wieder nach der Zeit der „Freien Musik“ beschäftigt. Seine Kompositionsweise lässt sich – trotz aller Unterschiede zwischen seinen einzelnen Werken und trotz des stilistischen Gegensatzes zwischen den Werken der 80er Jahre und jenen der 70er Jahre – durch drei Merkmale charakterisieren: Erstens hat Gulda immer versucht, klassische musikalische Formen mit Elementen des Jazz anzureichern, die meisten seiner Kompositionen sind in der klassischen dreisätzigen Form ausgeführt. Zweitens zeichnet seine Kompositionen eine zunehmende Neigung zum „Eklektizismus“ aus, die in den frühen 90er Jahren bis zu Einbeziehung von Pop- und Disco-Musik („Paradise Island“, eine „Fantasy Show“) geht. Drittens sind seine Kompositionen durch eine starke tänzerische und „positive“ Komponente gekennzeichnet. Gulda: „Aus tiefster Überzeugung bin ich gegen die depressive Seite. Ich gehe nicht konform mit Kollegen, deren Kunst sich darauf beschränkt, das Elend der Welt abzubilden. Darüber hat man sich zwar im klaren (sic) zu sein, aber die Verpflichtung, 60 Friedrich Gulda im Beiheft zur CD „Friedrich Gulda - Sein Eurojazzorchester und Solisten der Sechzigerjahre“. 47 dagegen etwas zu unternehmen. Abbilden ist zuwenig. Ich muß Gutes vermehren.“ 61 Im Folgenden wird auf einige Kompositionen hingewiesen, an denen diese Merkmale besonders deutlich zu erkennen sind. 1971 führte Gulda sein „Concertino for Players and Singers“ auf. Es besteht – wie ein klassisches Solistenkonzert – aus drei Sätzen in der Reihenfolge schnell/langsam/schnell. Dabei wird ein Jazz-Trio (Klavier, Bass, Schlagzeug) vom Wiener Kammerorchester und vom Wiener Kammerchor begleitet. Musikalisch kombiniert es Zitate aus der Musiksprache der Wiener Klassik mit Klaviertrio-Jazz und einem Chor im Stil der „Swingle Singers“. (Die „Swingle Singers“ sind ein A-capella-Oktett, das Stücke der klassischen Musik mit Silben des Scat-Gesanges interpretiert.) Der dritte Satz „Finale for Ludwig“ enthält mit Pauke und Chor ironische Anspielungen auf den Schlusssatz von Beethovens 9. Symphonie. Während das „Concertino“ noch für Klavier und klassisches Orchester konzipiert ist, sind Guldas Klavierkonzerte für Klavier und Jazz-Band komponiert. Das „Piano Concerto No. 1“ (1972) ist ebenfalls in der klassischen dreisätzigen Form geschrieben. Der Solist (in der Einspielung von 1972 ist Fritz Pauer, nicht Friedrich Gulda am Klavier zu hören) spielt mit Friedrich Guldas Reunion Big Band, für die Gulda bedeutende Jazz-Musiker, wie zum Beispiel Phil Woods, Benny Bailey sowie die Österreicher Hans Salomon und Fatty George verpflichten konnte. Dieses Konzert – wie auch das „Piano Concerto No. 2“ (ebenfalls 1972 eingespielt) – ist stilistisch dem klassischen Big Band Jazz der 40er und 50er Jahre zuzuordnen. In einem gänzlich anderen Stil komponierte Gulda in den 80er Jahren sein „Concerto for Myself“ (Sonata concertante for Piano and Orchestra), ein Konzert für Klavier und Symphonie-Orchester. Auch dieses Werk besteht aus den traditionellen drei Sätzen mit einer „Free Cadenza“ vor dem Schlusssatz. Stilistisch ist diese eklektizistische Komposition schwer einzuordnen. Sie zitiert musikalische Elemente der Wiener Klassik und der Frühromantik und verbindet sie mit der Musik eines Klavier-Jazz-Trios. Über dieses Konzert schrieb der 61 Friedrich Gulda, Zitiert nach: Leila Hossein, Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011, S. 40. 48 damalige Generalsekretär des Wiener Konzerthauses Peter Weiser 1990 im Programmheft: „Guldas ‚Concerto for myself‘ ist ein Bekenntniswerk, eine Auseinandersetzung und eine Liebeserklärung zugleich. Es ist eine Liebeserklärung an die klassische Musik, vor allem an Mozart und Beethoven, umflort von der Trauer, daß solch große Musik zu schreiben heute nicht mehr möglich ist. Und es ist andererseits eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob in unseren Tagen, in einer von Fortschritt und Technik durchpulsten und von Computern vorprogrammierten Welt, Musik einen Sinn hat, die auf den Abglanz der Schönheit dieser Welt verzichtet. Liebeserklärung und Auseinandersetzung: Jeder, der das Allegro und die Aria con variazioni dieses ‚Concerto for myself‘ unvoreingenommen anhört, wird mir beipflichten, daß ihre musikalische Gestalt nicht altmodisch ist, sondern eine neue Sicht der Dinge in sich birgt. Und wer sich mit der Free Cadenza befaßt und sensibel ist, wird die Betrübnis, ja Verzweiflung spüren, die Gulda erfüllt und von der er nur durch den beethovenartigen Eintritt des Orchesters im Rondo finale erlöst wird. Und dieses ist ein jubelndes Bekenntnis zur Tonalität, für Gulda in ähnlicher Weise der Rettungsanker in der stürmischen See atonaler, serieller, konkreter und aleatorischer Musik, wie für Leonard Bernstein“. 62 Unter seinen zahlreichen Werken für Klavier solo sei insbesondere auf „Play Piano Play“ hingewiesen. Dabei handelt es sich um zehn Übungsstücke für Klavier mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad und zunehmendem Improvisationsanteil. Dass sich Gulda bereits Anfang der 70er Jahre mit der angelsächsischen Pop-Musik beschäftigt hat, zeigen seine virtuosen KlavierVariationen über „Light My Fire“, einem Song der „Doors“. Sehr bekannt wurden auch zwei Kompositionen für seine Söhne Paul und Rico: „Für Paul“ und „Für Rico“. Hier notiert Gulda jeweils nur das Thema und die Schlusstakte und fordert den Interpreten zu einem improvisierten Mittelteil auf. Gulda als Jazz-Pianist erregte Aufmerksamkeit, weil er als klassischer Pianist in Jazz-Kellern auftrat. Zumindest am Anfang wurde er allerdings als Kuriosität betrachtet. Sein Debut als Jazz-Pianist gab er 1956 im New Yorker Jazz-Club: „Birdland“. Über seine Entscheidung, als professioneller Jazz-Pianist in einem berühmten Jazz-Club aufzutreten, sagte Gulda später: „1956 […] da bin ich 62 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 177. 49 gestanden am Flughafen von Buenos Aries und hab‘ zwei Verpflichtungen gehabt. Die eine war ein Meisterkurs am Mozarteum in Salzburg und das andere ein Engagement im Birdland in New York. Tollkühn bin ich einfach ins Birdland gegangen, obwohl ich mich immer noch als Anfänger fühlte. Es ist wurscht, man muss sich einmal trauen. Ich hab dort Jazz gespielt, obwohl ich genau wusste, gestern spielte der Charlie Parker und morgen spielt der Dizzy Gillespie. Das war wirklich eine Mutprobe. Die habe ich bestanden und darauf bin ich auch ziemlich stolz. Es war sozusagen meine Gesellenprüfung“. 63 Dieses Konzert ist auf der CD: „Friedrich Gulda at Birdland“ dokumentiert. Für seinen Auftritt stellte er 1956 ein Sextett zusammen, das aus hervorragendem Interpreten des „Modern Jazz“ bestand. Beim Hören dieser historischen Aufnahme fällt auf, dass sich Gulda bei den ersten neun Stücken als Pianist völlig im Hintergrund hält und erst danach mit längeren Soli zu hören ist. Daniel Halperin schrieb 1957 im Covertext der LP über diesen Auftritt Guldas: „Seine Fähigkeit zu empfinden, was Jazz ist und wie man ihn spielt, ist außerordentlich, vor allem in Anbetracht seines Hintergrundes als hervorragender Beethoven-Interpret. Aber es gibt offensichtlich noch Grenzen in seinem Vermögen, Jazz zu erschaffen. Bisweilen fehlt seinem Spiel die Wärme, das Tiefgründig-Dichte, das zum Rüstzeug der großen amerikanischen Jazzkünstler gehört. Technisch gesehen lässt Gulda nichts zu wünschen übrig. Sein Anschlag ist vorzüglich – sicher, stark, bestimmt. Schnelle Tempi bereiten ihm keinerlei Schwierigkeiten, und seine Unterstützung eines Solisten, der eine ausgedehnte Ballade spielt, ist äußerst hilfreich, auch wenn ihm klar ist, dass er selbst noch ein Solo für solch eine Ballade aufnehmen muss. Guldas improvisierte Linien sind fast immer logisch und interessant. Und er vermeidet kurze, abgehackte Phrasen, die so häufig auf eine zeitweilige Konfusion seitens des Solisten schließen lassen; er hält mehr von längeren Phrasen, die deutlich zeigen, dass er weiß, was er tut und wohin sein Weg führt“. 64 An diesem Kommentar fällt zweierlei auf: Einerseits die Kritik an Gulda als Jazz-Musiker (im Covertext zur LP!), andererseits der Hinweis auf Guldas Fähigkeit, längere 63 64 Kurt Hofmann / Friedrich Gulda, Mein ganzes Leben ist ein Skandal, München 1990, S. 56. Daniel Halperin, in: Beiheft zur CD „Friedrich Gulda at Birdland“, S. 8 f. 50 Phrasen zu improvisieren, die auf seine Ausbildung als klassischer Pianist zurückzuführen sein dürfte. Unter den zahlreichen Tondokumenten, die Gulda als Jazz-Pianisten zeigen, sei nur auf drei hingewiesen: „Friedrich Gulda – As You Like It“, 1970 im Trio mit J. A. Rettenbacher (bass) und Klaus Weiss (drums); „Friedrich Gulda – Fata Morgana – Live At The Domicile“, 1971 mit Fritz Pauer (piano, electric piano) und Klaus Weiss (drums) sowie: „Friedrich Gulda – Mozart No End and the Paradise Band“, 1989/1990 mit der deutschen Jazz-Organistin Barbara Dennerlein. Ob Gulda seine Grenzen als Jazz-Pianist und als Improvisator gesehen hat, ist umstritten. Professionelle Jazz-Musiker – selbst solche, die mit Gulda befreundet waren und mit ihm zusammengearbeitet haben wie Joe Zawinul oder Chick Corea – äußerten sich oft skeptisch über Guldas Versuche, Jazz zu spielen. So erzählte Joe Zawinul von seiner Enttäuschung und Fassungslosigkeit nach den Proben für ein gemeinsames Konzert in der Kölner Philharmonie 1986 und bezeichnete Gulda als „total out of touch“ und als „altväterisch“. 65 „’He is a great piano player but he can’t play Jazz’, raunt Guldas Duopartner in Klassik and Jazz, Chick Corea, 1984 dem Musikmanager Jeff Maxian zu. ‚Er ist ein wunderbarer Musiker, aber Klassik kann er nicht spielen‘, sagt Gulda zu Maxian im gleichen Augenblick.“ 66 Auch der österreichische Jazz-Pianist Fritz Pauer sieht in Gulda vor allem den klassischen Pianisten: „Er hat sich mit Jazz-Phrasierung mehr auf intellektuelle Art auseinander gesetzt […] Meiner Meinung nach war Friedrich Gulda hauptsächlich in der so genannten klassischen Musik zuhause, seine Formgebung, Phrasierung und Rhythmik sind von der klassischen Musik beeinflusst.“ 67 Auch die Kritiker der Tageszeitungen standen Gulda als Jazz-Pianist reserviert gegenüber: „Guldas Hobby Jazz. Keiner im Auditorium hatte das unwiderstehliche Bedürfnis in den Fußspitzen, den Takt mitzuwippen – dieses 65 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 263. Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 265. 67 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 83. 66 51 untrügliche Zeichen für jeden echten Jazz fehlte im ausverkauften Großen Musikvereinssaal, als Friedrich Gulda dort sein eigens für die Wiener Festwochen aus meist europäischen Spitzenjazzmusikern zusammengestelltes „Eurojazz-Orchester“ vorstellte.“ 68 Gulda hat einige Jahre auch Saxophon geübt. Sowohl der bekannte österreichische Saxophonist Hans Salomon wie auch der Pianist Rudi Wilfer vertraten die Ansicht, dass Gulda am Saxophon ein wesentlich besserer Jazzer gewesen ist, weil er da das Hindernis der Perfektion des Pianisten nicht hatte. 3.3. ROLAND BATIK – SCHÜLER FRIEDRICH GULDAS Roland Batik wurde 1951 in Wien geboren. Er studierte Klavier an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien (heute: Universität) bei Professor W. Fleischmann und Jazz-Piano bei Fritz Pauer. Privat studierte er bei Friedrich Gulda, dessen Sohn Paul er später selbst unterrichtete. Er schloss sein Klassik- und Jazz- Studium fast gleichzeitig 1975 ab. Im selben Jahr debütierte er im Musikverein. Seit 1978 unterrichtet er am Konservatorium der Stadt Wien (heute Konservatorium Wien Privatuniversität). Besonders erfolgreich war die Zusammenarbeit mit Paul Gulda als Klavier-Duo von 1982 bis 1988. Danach trat Roland Batik als Pianist auf, der in seinen Klavierabenden das klassische, romantische und impressionistische Repertoire mit eigenen Kompositionen kombinierte. (Ein solches Programm ist zum Beispiel auf der 2004 eingespielten CD: „Roland Batik – From Bach to Batik“ dokumentiert, die Kompositionen von J. S. Bach, F. Schubert und R. Batik enthält, unter anderem seinen „Waltz for Patrizia“.) Roland Batik gründete 1977 sein Klaviertrio mit Heinrich Werkl (bass) und Walter Grassman (drums), mit dem er zahlreiche Auftritte sowohl in traditionellen Konzertsälen als auch in Jazz-Clubs hatte. Die Musik dieses Trios, das fast ausschließlich Kompositionen von Roland Batik interpretiert, wurde auf mehreren CDs veröffentlicht, zum Beispiel auf der CD: „Roland Batik 68 Irene Suchy, Friedrich Gulda Ich-Theater, Wien 2010, S. 116. 52 Trio – Roots“ (1994), die unter anderen seine bekannteste Komposition „Bagatelle“ enthält. Batiks Kompositionen für Jazz-Trio zeigen sein Gefühl für formale Geschlossenheit wie bei seinem Lehrer Friedrich Gulda. Er hat auch eine Reihe von Kompositionen für Klavier und Orchester veröffentlicht, zum Beispiel die Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 und ein Konzert für Klavier, Percussion und Orchester. Über seine Doppelrolle als Pianist und Komponist schreibt Batik auf seiner Homepage: „Ich bin natürlich ein Pianist, der auch komponiert und aus seinem Spiel heraus etwas entwickelt. So steht bei mir auch der Weg zur Komposition im Zusammenhang mit dem Klavier – eigentlich geht es immer über die Improvisation. Wenn ich ein gutes Motiv finde, versuche ich es festzuhalten und zu entwickeln. Mein Stil? Ich habe noch immer den Mut, im tonalen Bereich zu bleiben; das Innovativ-Zeitgeistige geht an mir zwar nicht vorüber, aber es gibt so viele, die in diese Richtung arbeiten. Da ist es vielleicht nicht ganz falsch, etwas anderes [zu] machen. Außerdem kann ich einfach nicht anders!“ 69 In einem Interview mit der „Zeitschrift der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ (2006) sagte Batik zu den technischen Anforderungen, die heute an die Pianistinnen und Pianisten sowohl im Bereich der Klassik wie des Jazz gestellt werden, dass es wegen der fortgeschrittenen Spezialisierung sehr schwierig sei, in beiden Bereichen Höchstleistungen zu erbringen. Auf die Frage, ob es früher nicht Musiker im Jazz gegeben habe, die technisch viel einfacher spielten, antwortete Batik: „Es gab zum Beispiel den prägenden Jazzpianisten Thelonious Monk, der mit einer ureigenen Spielart sehr kauzig, sehr originell, sehr ‚dirty‘ war und im technischen Bereich kein hoch ausgebildeter Pianist. Trotzdem war seine Ausdrucksstärke enorm. Er hat noch immer Vorbildwirkung auf ganze Pianistengenerationen. Das etwas Schlampige könnte man im Jazz so interpretieren, daß es im Jazz etwas geben muß, was man fühlen und erleben muß, wo man sich einfach fallenlassen können muß, in die Musik.“ 70 Batik versucht als Klavierpädagoge, der sich intensiv mit Jazz auseinander setzt, seinen Studentinnen und Studenten zwei Erfahrungen zu weiterzugeben: 69 Roland Batik, in: Roland Batik - Homepage [online verfügbar: www.rolandbatik.com 16.2.2012] Roland Batik, in: Musikverein-Monatszeitung, März 2006 [online verfügbar: http://www.musikverein.at/monatszeitung/monatszeitung.asp?idx=709 18.2.2012] 70 53 Einerseits versucht er ihnen eine Ahnung von der Kunst der Improvisation zu vermitteln, andererseits ihnen ein starkes Rhythmusgefühl zu geben. „Ich merke eben auch, daß es da ein Defizit gibt, daß viele junge Menschen sich in der klassischen Interpretation einen agogischen Freiraum nehmen und sich in ein Tempo rubato flüchten, ohne vorher den Puls, den „Beat“ wirklich erlebt zu haben. Denn erst, wenn man den Puls, das rhythmische Grundkonzept verstanden hat, darf man beginnen, persönliche Spielräume auszuloten, frei zu werden. Aber einfach ‚frei‘ zu spielen und agogisch hin- und herzuziehen (und hier wird er fast streng), das ist für mich dann definitiv unrhythmisch […] Wirklich große, stilbildende Musiker hatten das eben: das perfekte Timing.“ 71 3.4. KATIA LABEQUE – INTERPRETIN VON „JAZZKOMPOSITIONEN“ Katia Labeque wurde 1950 in Hendaye (Frankreich) geboren, ihre Schwester Marielle Labeque 1952 ebenfalls in Hendaye. Die beiden Schwestern erhielten bereits früh Klavierunterricht von ihrer Mutter Ada Cecchi, einer italienischen Pianistin, die Schülerin von Marguerite Long war. Sie studierten am Pariser Konservatorium und bildeten nach ihrem Studienabschluss 1968 ein KlavierDuo. Das Duo Labeque ist bis heute eines der berühmtesten Klavier-Duos mit einem breiten Repertoire, das von J. S. Bach bis Berio und Messiaen reicht. 72 Die beiden Schwestern gründeten ein eigenes Platten-Label, um damit gemeinsam mit zeitgenössischen Künstlern Projekte verwirklichen zu können, für die die großen internationalen Firmen wenig Interesse zeigten. Katia Labeque entdeckte parallel zu ihrer Karriere als klassische Pianistin ihre Neigung zum Jazz, gleichzeitig wurden bedeutende Jazz-Musiker auf sie aufmerksam. So veröffentlichte zum Beispiel der Trompeter Miles Davis auf seinem Album „Your’re Under Arrest“ (1985) zwei Stücke („Katia Prelude“ und 71 Roland Batik, in: Musikverein-Monatszeitung, März 2006 [online verfügbar: http://www.musikverein.at/monatszeitung/monatszeitung.asp?idx=709 18.2.2012] 72 Zu weiteren biografischen Details siehe Ingo Harden/ Gregor Willmes, Pianisten Profile, S. 409. 54 „Katia“), die Pop-Sängerin Madonna bezeichnete Katia Labeque als eine ihrer „Lieblingspianistinnen“. In den 80er Jahren musizierte Katia Labeque mit dem Jazz-Gitarristen John McLaughlin, 2001 gründete sie die Katia-Labeque-Band. Gemeinsam mit ihrer Schwester Marielle spielte sie auf Konzertflügeln und auf Synthesizern Musik von John McLaughlin, Miles Davis, Chick Corea, Thelonious Monk und anderen. Für ihren Zugang zum Jazz ist ihre 1995 veröffentlichte CD „Katia Labeque – Little Girl Blue“ besonders informativ. Auf dieser CD ist sie im Duo mit berühmten Jazz-Pianisten – Chick Corea, Herbie Hancock, Gonzalo Rubalcaba, Joe Zawinul und Michel Camilo – zu hören. Es handelt sich dabei aber nicht um konventionelle Jazz-Improvisationen an zwei Klavieren, sondern bei Katia Labeque (zum Teil) um das genaue Nachspielen von Improvisationen, die von anderen Jazz-Pianisten eingespielt worden sind. Als Beispiel dafür sei auf ihre Interpretation des bekannten Jazz-Standards „My Funny Valentine“, gemeinsam mit Herbie Hancock, hingewiesen. Sie spielt hier Note für Note Improvisationen nach, die Hancock 1964 und 1978 eingespielt hat. „It was Katia’s idea that Herbie Hancock should improvise a conversation with two of his own earlier selves. The introduction of ‘My Funny Valentine’ is from Miles Davis’s 1964 album of the same name, and then Katia plays the interpretation of the tune which Hancock recorded in 1978. After 3 mins. 20 secs. the new material begins, as Herbie joins in and creates a new solo over Katia’s backing for 2-1/2 minutes, which he then continues as a 1995 accompaniment to Katia’s performance of his 1964 improvisation (transcribed like the 1978 version by the writer of these comments). The roles are then reversed again as Herbie takes over the lead for the closing minute, resolving the cumulative collaboration with an ending which was left deliberately undecided until the recording session.“ 73 Über ihr Jazz-Spiel sagte Katia Labeque: „I don’t play jazz, I play the music of jazz composers.“ Sie sieht sich mit ihrer Praxis, Improvisationen anderer Pianisten zu reproduzieren in der Tradition jener klassischen 73 Brian Priestley, in: Beiheft zur CD „Katia Labeque – Little Girl Blue“, S. 3 f. 55 Pianisten/Komponisten, die ausgehend von ihren Interpretationen neue Werke komponierten. Auf ihrer 2009 veröffentlichten CD „Katia Labeque – Shape of my heart“ arbeitete sie wieder mit Pop- und Jazz-Musikern zusammen (Sting, Herbie Hancock, Gonzalo Rubalcaba) und interpretiert auch Kompositionen von Chopin und Satie. 3.5. KLASSISCHE PIANISTEN SPIELEN JAZZ – WARUM NICHT „DIRTY“? Wie spielen klassisch ausgebildete Pianisten Jazz? Was ist ihren Interpretationen gemeinsam? Ein genaues vergleichendes Hören der JazzProduktionen von Friedrich Gulda, Roland Batik und Katia Labeque (ein ähnliches Urteil würde auch für Andre Previn als Jazz-Pianist gelten, der aber, da „hauptberuflich“ Dirigent klassischer Symphonieorchester, in dieser Arbeit nicht berücksichtig werden konnte) führt zu folgender Einschätzung: Gemeinsam ist diesen Pianisten als Jazz-Musiker eine im Vergleich zu professionellen Jazz-Pianisten auffallende Zurückhaltung und Glätte. Es fehlt ihrem Spiel durchgehend jene Ekstase, die für die Sprache des Jazz typisch ist. Um nochmals Batik zu zitieren: Sie spielen nicht „dirty“. Über die Gründe für das unzureichende Beherrschen der Sprache des Jazz durch klassisch ausgebildete Musiker lässt sich Folgendes vermuten: Erstens ist, worauf Batik hingewiesen hat, die Spezialisierung in diesen beiden Musikbereichen so weit fortgeschritten, dass die vollkommene Beherrschung beider Musiksprachen kaum noch möglich ist. Keine Pianistin und kein Pianist könnten zum Beispiel acht Stunden am Tag klassische Werke üben und danach weitere acht Stunden Jazz üben und in einem Jazz-Lokal spielen. Zweitens verlangen die beiden Musiksprachen eine völlig unterschiedliche Beherrschung des Rhythmus und der Aufteilung des musikalischen Materials in der Zeit. (Rubato und Agogik in der klassischen Musik, Timing im Jazz.) 56 Drittens dürfte die grundlegend unterschiedliche Art der Phrasierung und der Tonbildung dazu führen, dass eine Spezialisierung auf nur eine der beiden Musiksprachen notwendig wird. Klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten werden jahrelang geschult, ein „schönes“ Legatospiel zu erzielen und in längeren Phrasen zu denken, Fähigkeiten, die der Sprache des Jazz widersprechen. Viertens unterscheiden sich auch die Denkweise und der Zugang zur Tastatur des Klaviers bei klassischen Pianisten und bei Jazz-Pianisten: Ihr „Tastenbild“ ist verschieden – sie „sehen“ unterschiedliche Herausforderungen. JazzPianisten „sehen“ auf der Tastatur Skalen und Akkorde, die ihnen als Basis für Improvisationen dienen. Klassische Pianisten „sehen“ die vorgegebenen und auszuführenden Phrasen und Stimmführungen voraus. 57 KAPITEL 4. JAZZ-PIANISTEN ALS INTERPRETEN KLASSISCHER MUSIK Während klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten sich häufiger dem Jazz zuwenden, ist die Zahl der Jazz-Pianisten, die klassische Musik in öffentlichen Konzerten oder auf Tonträgern interpretieren, sehr beschränkt. Der einzige Jazz-Pianist mit Weltruhm, der öfters mit klassischen Programmen aufgetreten ist und eine Reihe von Tonträgern mit Werken der klassischen Musik veröffentlicht hat, ist Keith Jarrett. Einige seiner diesbezüglichen Interpretationen werden in diesem Kapitel analysiert. Ferner werden kurz die Interpretationen klassischer Musik durch Chick Corea und Joe Zawinul besprochen, die beide von Friedrich Gulda beeinflusst worden sind und mit ihm zusammen gearbeitet haben. 4.1. KEITH JARRETT Keith Jarrett wurde 1945 in Allentown, Pennsylvania (USA) geboren und erhielt bereits seit dem dritten Lebensjahr Klavierunterricht. Mit sieben Jahren trat er zum ersten Mal mit einem Programm auf, das sowohl klassische Werke als auch eigene Kompositionen beinhaltete. Er lehnte ein Angebot ab, bei Nadia Boulanger (1887 – 1979, französische Komponistin, Pianistin, Dirigentin, Musiktheoretikerin und Musikpädagogin) in Paris zu studieren und begann ein Studium am Berklee College of Music in Boston. Sein Studium finanzierte er als Bar-Pianist. Ab den frühen 60er Jahren spielte er mit bekannten Jazz-Musikern wie dem Trompeter Chet Baker, dem Saxophonisten Lee Konitz und dem Schlagzeuger Art Blakey zusammen. 1961 gründete er ein eigenes Trio mit dem Bassisten Charlie Haden und dem Schlagzeuger Paul Motian. Der Durchbruch als JazzPianist gelang ihm ab 1969 als Mitglied der Jazzrockformation von Miles Davis, in der er neben Chick Corea vor allem E-Piano und Orgel spielte. 58 Nach einigen Plattenaufnahmen für Columbia Records, die sich dann aber gegen Jarrett und für den Jazz-Pianisten Herbie Hancock entschied, veröffentlichte er sein erstes Solo-Album „Facing You“ (1972) mit dem deutschen Produzenden Manfred Eicher, der 1969 sein Label „ECM“ unter anderen mit einem Solo-Album von Chick Corea gegründet hatte. Seit 1977 wurden fast alle Einspielungen Jarretts von Manfred Eicher produziert, auch die mit klassischer Musik. 1973 begann Jarrett mit Solo-Konzerten, in denen er eine neue Form weitausgedehnter Jazz-Improvisationen entwickelte. Diese neue Art improvisierter Konzerte wurde auf zahlreichen Tonträgern dokumentiert. Sein berühmtestes Album ist „The Köln Concert“ (1975), auf dem zum Beispiel der erste improvisierte Teil über 26 Minuten dauert. (Von diesem Konzert wurde – nachdem Jarrett seinen Widerstand dagegen aufgegeben hatte – eine komplette Transkription veröffentlicht.) Zwei weitere Jazz-Formationen Jarretts seien noch erwähnt: Das in den 70er Jahren von Manfred Eicher produzierte Quartett mit Jarrett und Jan Garbarek („Belonging“, 1974, „My Song“, 1978) sowie das 1983 gegründete Trio mit Gary Peacock (bass) und Jack DeJohnette (drums), das bis heute außerordentlich erfolgreich zahlreiche Standards-Einspielungen des traditionellen BroadwayRepertoires veröffentlichte. Zu Beginn der 80er Jahre begann Jarrett sich intensiv mit klassischen Werken zu beschäftigen. Anfangs spielte er aber in öffentlichen Konzerten – um sich nicht vom Beginn an übermächtiger Konkurrenz auszusetzen – unbekannte und ungewöhnliche Kompositionen, zum Beispiel Musik von Lou Harrison (1917 – 2003, amerikanischer Komponist, der sein Klavierkonzert Keith Jarrett widmete). Später interpretierte er Kompositionen von Samuel Barber, Stravinsky und anderen und begann die Zusammenarbeit mit berühmten Musikern wie zum Beispiel dem Pianisten Vladimir Ashkenazy und dem Dirigenten und Spezialisten für Alte Musik, Christopher Hogwood. Allerdings beschloss Jarrett nach einer Zeitungskritik eines seiner Konzerte im Lincoln Center keine öffentlichen Konzerte mehr mit klassischen Werken zu spielen, sondern sich auf Plattenproduktionen zu beschränken. So spielte er etwa 59 Suiten von Händel, die beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach, die „Goldberg Variationen“ sowie einige Mozart-Klavierkonzerte ein. In einem 1996 geführten Interview mit dem Pianisten Ted Rosenthal (veröffentlicht in „Piano and Keyboard Magazine“ 1997) hat sich Jarrett ausführlich zu den Problemen geäußert, denen Jazz-Pianisten gegenüberstehen, wenn sie klassische Musik aufführen. 74 Jarrett betont in diesem Interview, dass ein Auftritt als „klassischer“ Pianist eine wesentlich andere Vorbereitung verlangt, als ein Auftritt als Jazz-Pianist: „Well you have to clean up your act to do the classical repertoire and jazz doesn’t demand that, but the more of an arsenal you have to use, the better. So in that sense, jazz never demands that you work on a particular thing […] I suffer from the same nerves that all the other classical players have […] I didn’t have that problem until I got into the classical world […]“ 75 Auf die Frage, ob er in einem Konzert in der ersten Hälfte Mozart und in der zweiten Hälfte Jazz mit seinem Trio spielen würde, antwortete Jarrett: „I mean that is true insanity […] I think the thing that can get ruined, that would be destroyed first if someone does both these, is the jazz.“ 76 Er begründet diese Aussage folgendermaßen: „Because if a player gets used to not disappearing into the music completely and starts thinking about the kind of details you have to think about in classical performance, that’s not what you should be doing when you play the blues […] I think if someone sat down and looked at (the people) who play jazz and classical music, it’s almost 100 percent across the board that they don’t really have an individual jazz voice […] You become a musicologist when you become a classical player. You go back to jazz and if you’re a musicologist, then you’re like a jazz professor.“ 74 77 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 75 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 76 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 77 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 60 Diese Einstellung Jarretts führt ihn auch dazu, niemals die Kadenzen in klassischen Klavierkonzerten zu improvisieren: „I don’t improvise in historical context.“ 78 Dennoch sieht Jarrett einen positiven Einfluss des Spielens klassischer Musik auf ihn als Jazz-Pianist. Auf die Frage: „When you play with the trio after a period of playing Mozart, how would you say the Mozart affects your jazz playing?“ antwortet Jarrett: „Mostly the touch. If I think of what happens with my jazz playing, it’s mainly that I could actually add colors within the same perimeters that I might have used before, and have there be more music in the same amount of notes than there used to be.“ 79 Er sieht allerdings in dieser Wirkung auch eine Gefahr für den Jazz-Pianisten: „You can’t let the clarity that you can develop become something you use in jazz because it would be like hearing a white Oscar Peterson solo!“ 80 Jarrett kritisiert in diesem Interview auch die konservativen Tendenzen im heutigen Jazz. Die akademische Ausbildung junger Jazz-Musiker führe dazu, dass sich kaum mehr neue, individuelle Stile und Ausdrucksformen entwickeln können. Der Jazz würde immer mehr zu einer musealen Kunst: „It reminds me of setting up a museum. That’s what you put in museums, things that are finished […] Because the whole survival of jazz depends on there being people who aren’t playing like anybody else.“ 81 Keith Jarrett hat circa zwanzig Alben mit „klassischer“ Musik beziehungsweise mit eigenen Kompositionen, die der E-Musik zuzuordnen sind, eingespielt. Bereits in den 70er Jahren veröffentlichte er eigene Kompositionen für Klavier und verschiedene Kammermusik-Ensembles. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit wurden vor allem seine kompletten Einspielungen der beiden Bände von J. S. Bachs Wohltemperiertem Klavier und der 24 Präludien und Fugen op. 87 von Dmitri Schostakowitsch analysiert. Diese beiden umfangreichen Zyklen 78 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 79 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 80 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 81 Ted Rosenthal, Keith Jarrett – The „insanity“ of doing more than one (musical) thing [online verfügbar: http:/www.tedrosenthal.com/tr-kj.htm 12.2.2012] 61 weisen Parallelen, aber auch Unterschiede auf. Schostakowitsch bezieht sich insofern auf J. S. Bach, als er einen Zyklus von Präludien und Fugen in allen Tonarten komponierte. Die Unterschiede liegen darin, dass Schostakowitsch keine chromatische Abfolge der Stücke vorsieht (sie sind im Quinten-Zirkel angeordnet) und auch darin, dass Schostakowitschs Präludien formal unselbstständig und nur als Einleitung zu den anschließenden Fugen angelegt sind. Der Grund dafür, dass Jarrett gerade diese Zyklen eingespielt hat, dürfte in den Beziehungen zwischen diesen stilistisch völlig unterschiedlichen Werken sein. Über die Bach-Interpretation Jarretts schreibt der deutsche Musikpublizist Hans-Klaus Jungheinrich im Beiheft zu Schostakowitschs op. 87, dass „Jarretts Bachspiel von großer Gelassenheit gekennzeichnet ist, auf auffälligere Maßnahmen, auf jedwede ‚Mache‘, auf all die beliebten und neugierig erwarteten Virtuosen-Visitenkarten, vollständig verzichtet. Man muß dafür den Begriff der Interpretation verabschieden und auf den bescheideneren, aber auch umfassenderen der Wiedergabe zurückgreifen. Jarrett ist sicherlich besonders an überpersönlichen, ‚objektiven‘ Gegebenheiten und Gehalten der Bachschen Musik interessiert. Und das als ein Musiker, der sich, improvisierend, am Klavier voll auslebte.“ 82 Eine ähnliche Einschätzung findet sich durchgehend in den Rezensionen von Jarretts SchostakowitschEinspielung, die entweder (positiv) als „gelassen“ oder (negativ) als „konventionell“ bezeichnet wurde. 4.2. CHICK COREA Chick Corea zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Jazz-Pianisten und Jazz-Komponisten. Er wurde 1941 in Chelsea (Massachusetts, USA) geboren und erhielt mit vier Jahren durch seinen Vater, einem Bandleader, Klavierunterricht. Schon früh entdeckte er für sich den Jazz. Er nennt als seine 82 Hans-Klaus Jungheinrich, Die Fuge als Idee des Absoluten, in: Beiheft zur CD „Keith Jarrett, Dmitri Shostakovich – 24 Preludes und Fuges op. 87”. 62 Vorbilder unter den Jazz-Pianisten Horace Silver und Bud Powell. Sein erstes Solo-Album nahm er 1966 auf. Seit damals hat Corea mit verschiedenen Jazz-Formationen (zum Beispiel mit seiner Band „Return to Forever“ oder der „Elektric Band“) sowie solo zahlreiche Alben veröffentlicht. Als Komponist schrieb er auch Werke, die der E-Musik nahe stehen. Bekannt wurden vor allem seine „Children‘s Songs“ (1984), ein Zyklus von leichten bis mittelschweren Klavierstücken. Ferner komponierte Corea zwei Klavierkonzerte (das erste im Jahr 2000, das zweite mit dem Titel „ The Continents“ 2006, das im Rahmen des Mozart-Jahres 2006 in der Wiener Staatsoper uraufgeführt wurde.) Anlässlich seines Auftritts mit seinem zweiten Klavierkonzert in Wien beschrieb er in einem Interview seine Beziehung zur klassischen Musik, insbesondere zu Mozart: „Die Idee, ein Klavierkonzert a la Mozart zu schreiben, kam mir vor 23 Jahren, als ich seiner Musik das erste Mal bewusst begegnet bin […] 1983 wurde ich zum Münchner Klaviersommer eingeladen, wo sonst nur klassische Pianisten spielten. Ich war dort der einzige Jazzpianist. Es spielte auch Friedrich Gulda […] und er ließ mir ausrichten, dass er mich treffen wollte. […] Er wollte mich nicht sehen oder sprechen, sondern wir sollten uns gleich im Konzertsaal auf der Bühne begegnen. Also spielten wir. Es galt zu improvisieren. Wir fanden Dinge - es war wilde Musik. Und nach einer Zeit, gerade als er mit dem ganzen Arm das Klavier bearbeitet hat, entschied ich mich aufzuhören, und ihn sich zeigen zu lassen. Es ging noch ziemlich wild zu, bis er plötzlich ganz zart eine kleine Melodie spielte, die ganz offensichtlich notierte Musik war. Ich dachte, das muss von einem jungen talentierten Komponisten sein, von einem, von dem ich noch nichts gehört hatte, der im klassischen Stil schreibt. Später hab ich Gulda gefragt, von wem diese Musik war, und er hat ganz entsetzt geantwortet: 'Natürlich Mozart!' Jetzt wollte ich mehr wissen. Einige Zeit später hatte ich in meinem Briefkasten einen riesigen Umschlag und darin war die Partitur von Mozarts Konzert für zwei Klaviere in Es-Dur KV 365 mit einer kleinen Notiz von Gulda: 'Du wolltest mehr über Mozart lernen?! Du spielst die zweite Stimme beim Amsterdamer Festival.' Beide, 63 Nikolaus Harnoncourt und Friedrich Gulda, haben mir Mut gemacht, und so spielten wir mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester ohne Probe das Konzert.“ 83 Die Einspielung des Konzerts für zwei Klaviere und Orchester Nr. 10 Es-Dur KV 365 von W.A.Mozart durch Chick Corea und Friedrich Gulda mit dem Concertgebouw Orchester unter Nikolaus Harnoncourt ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von besonders großer Bedeutung, da sie die Möglichkeit bietet, die Ausdrucksweise eines klassischen Pianisten mit der eines Jazz-Pianisten, der ausnahmsweise ein klassisches Konzert spielt, unmittelbar zu vergleichen. Mozart schrieb dieses Konzert 1779 nach der für ihn enttäuschenden Reise nach Paris für sich und seine Schwester Nannerl. Er hat dieses Konzert offensichtlich sehr geschätzt und bei seinen AkademieKonzerten in Wien wiederaufgeführt. Es bietet für beide Solisten vielfältige Möglichkeiten des Zusammenspiels und der gegenseitigen musikalischen Konversation. Hinsichtlich der Interpretation durch Corea und Gulda schreibt Werner Burkhardt (deutscher Jazz-Journalist und Musik- und Theaterkritiker): „Corea kommt von links, Gulda von rechts […] Wahlverwandt scheinen die Solisten und dennoch Kontrastfiguren. Gulda wirkt heller und sicherer, Corea dunkler und suchender, ohne deshalb technisch ins Hintertreffen zu geraten.“ 84 Hört man diese Aufnahme aus 1984 (vor allem, wenn man sie konzentriert über Kopfhörer anhört), dann erscheint das Urteil Burkhardts über den unterschiedlichen Zugang der beiden Pianisten zur Mozart-Interpretation übervorsichtig. Tatsächlich könnte der Kontrast zwischen dem selbstsicheren und kräftigen Spiel Guldas und dem vorsichtigen und zurückhaltenden Spiel Coreas gar nicht größer sein. Das wird bereits in den allerersten Takten der Solisten nach der Orchestereinleitung klar. Die Parallelen zwischen dem Zugang Coreas zu klassischen Werken und dem Keith Jarretts sind 83 Chick Corea, in: Interview in Kulturwoche.at [online verfügbar http://www.kulturwoche.at/index.php?option=com_content&task=view&id=17&Itemid=27 16.2.2012] 84 Werner Burkhardt, in: Beiheft zur CD „Chick Corea / Friedrich Gulda / Concertgebow Orchestra mit Nikolaus Harnoncourt, Mozart Double Concerto“. 64 offensichtlich: Äußerste Zurückhaltung in der Dynamik, „neutrale“ Wiedergabe des Notentexts. Zwölf Jahre später (1996) realisierte Chick Corea gemeinsam mit dem JazzSänger und Dirigenten Bobby McFerrin ein weiteres Mozart-Projekt, diesmal mit sechsmonatiger Vorbereitungszeit. Sie spielten gemeinsam mit dem Saint Paul Orchestra die Konzerte Nr. 23 in A-Dur KV 488 sowie und Nr. 20 in d-moll KV 466 ein. Trotz zweier Probentage, vier Konzerten und einer zwei Tage dauernden Einspielung erscheint das Ergebnis in stilistischer Hinsicht problematisch. Zum A-Dur Konzert ist folgendes festzustellen: Corea und McFerrin stellen dem Konzert ein „Prelude“ voran, ein in A-Dur improvisiertes „Hinmoderieren“ durch Gesang und Klavier. Dazu schreibt Tony Scherman im Beiheft zur CD: „Die beiden kurzen Präludien zu den Konzerten waren Coreas Idee. ‚Im Jazz sind Einführungen des Klaviers seit eh und je ein Mittel, sich einzustimmen, sich zu sammeln und die Muse anzurufen.‘ Diese Präludien sollen nicht nur Corea Spaß machen, sie sind auch fürs Publikum gedacht. ‚Stellen Sie sich einen Gastgeber vor, der seine Gäste zu einer großen Party begrüßt‘, erläutert Corea. ‚Er tritt vors Haus und sagt: ‚Willkommen! Schön, daß Sie gekommen sind.‘ Dann lotst er sie geschickt ins Haus, führt sie ein bißchen herum und versetzt sie in die richtige Stimmung. Genau so sollen diese Präludien wirken: wie eine sanfte Einleitung, ein persönlicher, improvisierter und spontaner Ausblick auf das Hauptereignis.‘“ 85 An dieses „Prelude“ schließt unmittelbar Mozarts Orchester-Einleitung an. Corea spielt zu den Orchester-Tutti die entsprechenden Harmonien und selten kurze Verzierungen. Die solistischen Passagen im ersten Satz (Allegro) sind oft rhythmisch ungenau. Während im Jazz „swingend“ gespielt wird, stört diese Spielweise bei Mozart. Das aus dem Jazz übernommene Synkopieren und die jazzmäßigen Vorhalte wirken oft willkürlich. Corea setzt oft unvermittelt Akzente auf schwache Notenwerte wie im Jazz. (Das fällt besonders störend, weil dem Stil Mozarts widersprechend, in den Takten 256 – 266 auf.) Verzierungen klingen oft ungenau, Phrasenenden steif. Die von Corea improvisierten 85 Tony Scherman (übersetzt von Ulrike Bode), Mozart und die Muse des Musizierens, in: Beiheft zur CD „Bobby McFerrin / Chick Corea, The Mozart Sessions“. 65 Verzierungen entsprechen nicht dem Stil Mozarts. Coreas Staccato, vom Jazz geprägt, ist meist zu scharf. Der positive Höhepunkt der Einspielung des ersten Satzes liegt in der frei improvisierten Kadenz. Sie erklingt zwar nicht im MozartStil, demonstriert aber Originalität und Professionalität eines großen JazzPianisten. Im zweiten Satz (Adagio) fällt eine gewisse stilistische Unsicherheit auf. Corea versucht durch improvisierte Verzierungen den Satz auf seine Art zu „beleben“, erreicht aber nur Ähnlichkeiten mit sentimentaler Unterhaltungsmusik. Im dritten Satz (Allegro assai) fallen veränderte Verzierungen auf, die offensichtlich aus technischen Gründen der Vereinfachung gewählt werden. 4.3. JOE ZAWINUL Joe Zawinul war einer der bedeutendsten Jazz-Musiker des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1932 in Wien geboren und starb dort 2007. Als er mit sechs Jahren ein kleines Akkordeon geschenkt erhielt, begann er sich intensiv mit Musik zu beschäftigen. Als sich herausstellte, dass Zawinul über ein absolutes Gehör verfügte, erhielt er einen „Freiplatz“ am Konservatorium der Stadt Wien für den kostenlosen Unterricht in Klavier, Violine und Klarinette. Anfangs dachte er an eine Karriere als klassischer Pianist. Als er mit zwölf Jahren zum ersten Mal Jazz-Musik hörte, begann er seine Pläne zu ändern. Schließlich brach er als 17-Jähriger seine Vorbereitung zu dem Genfer Klavierwettbewerb 1949 ab und konzentrierte sich auf den Jazz. Er lernte 1951 Friedrich Gulda kennen und arbeitete ab 1952 als Jazz-Musiker in Österreich. Zawinul gründete zusammen mit dem Saxophonisten Hans Salomon die JazzBand „Austrian All Stars“, die durch die Unterstützung durch Friedrich Gulda auch international bekannt wurde. 1959 übersiedelte er in die USA, wo er bereits nach kurzer Zeit als Liedbegleiter von Ella Fitzgerald tätig war. In der Folge spielte er mit berühmten amerikanischen Jazz- Musikerinnen und Musikern zusammen, zum Beispiel mit Dinah Washington. Von 1961 bis 1970 spielte er im Quintett von Cannonball Adderley. Für diese Band komponierte er 66 zahlreiche Stücke, unter anderen seinen ersten großen Erfolg „Mercy, Mercy, Mercy“. (In der Single-Version wurde diese Aufnahme über eine Million Mal verkauft.) Entscheidend war für ihn die Zusammenarbeit mit Miles Davis ab 1969/70, mit dem er komplexe Rhythmen und neue musikalischen Formen entwickelte. Große kommerzielle Erfolge feierte Zawinul mit seiner Band „Weather Report“ in den 70er und 80er Jahren. Mit seinem Ensemble „Zawinul Syndicate“ entwickelte er einen eigenen Stil, der Elemente des Jazz mit der Welt- und Popmusik verband. Von Joe Zawinul wurde nur eine einzige Aufnahme einer klassischen Komposition veröffentlicht. 1988 spielte er gemeinsam mit Friedrich Gulda in der Kölner Philharmonie die Variationen über ein Thema von Joseph Haydn, op. 56b von Johannes Brahms. (Im Rahmen dieses Konzerts wurden auch Kompositionen von Gulda und Zawinul aufgeführt.) Über dieses Konzert schrieb Friedrich Gulda: „Der dramaturgische Ablauf des heutigen Programms führt tief in die österreichische Tradition hinein, weit zurück bis zu einem populären alten Wallfahrtslied, aufgezeichnet von Joseph Haydn, variiert von Johannes Brahms. Warum dies aber im Duett mit Josef Zawinul, dem Star der internationalen Rockjazz Szene? Weil dieser ebenso wie ich, tief in der urösterreichischen Tradition verwurzelt ist, ein Wiener Erzmusikant, wie er im Büchl steht, der auf seine Weise etwas meiner Sache ganz Ähnliches tat und tut: nämlich sich der internationalen Musik zu öffnen aber nicht, um sich ihr auszuliefern, sondern um sie zu beherrschen und doch dabei niemals zu vergessen, was er seinen eigenen musikalischen Wurzeln (roots) schuldet. Deshalb ist er für mich bei Haydn und Brahms der einzig richtige Partner.“ 86 Diese Einspielung von Brahms‘ Haydn-Variationen dokumentiert auch das vor allem von Gulda oft praktizierte „Hinmoderieren“ – Gulda und Zawinul präludieren improvisiert einige Minuten, bevor sie mit dem Haydn-Thema einsetzen. 86 Tony Scherman (übersetzt von Ulrike Bode), Mozart und die Muse des Musizierens, in: Beiheft zur CD „Bobby McFerrin / Chick Corea, The Mozart Sessions“. 67 4.4. JAZZ-PIANISTEN SPIELEN „KLASSIK“ – WARUM SO „BRAV“? Im Abschnitt 3.5. „Klassische Pianisten spielen Jazz – Warum nicht „dirty“?“ wurden einige Überlegungen darüber angestellt, aus welchen Gründen die Jazz-Einspielungen von klassisch ausgebildeten Pianistinnen und Pianisten oft zurückhaltend klingen. Analysiert man die Klassik-Einspielungen bekannter Jazz-Musiker, kommt man zu dem gleichenErgebnis: die Interpretationen wirken zurückhaltend, vorsichtig und unpersönlich. Als Beispiel dafür sei auf Präludium und Fuge Nr. 4 in e-moll von Dmitri Schostakowitsch in der Interpretation von Keith Jarrett hingewiesen. Jarrett genießt offensichtlich in der Fuge den harmonischen Wohlklang dieses Stücks, es ist ihm aber nicht wichtig, die Struktur der Fuge durch das Hervorheben der Einsätze des Fugen-Themas darzustellen. Durch die undeutliche Stimmführung wird aus der Fuge Schostakowitschs meditative „Hintergrundmusik“. Das Problem, das Jazz-Pianistinnen und Pianisten mit klassischen Werken haben, dürfte darin liegen, dass sie die im Jazz erworbenen pianistischen Ausdrucksformen (Verlauf der Harmonien, Akzente, Spontanität) beim Spielen klassischer Musik nicht einsetzen können. 68 KAPITEL 5. „VERJAZZTE KLASSIK“ In diesem Abschnitt werden die Jazz-Arrangements und Interpretationen von klassischen Werken durch fünf Jazz-Pianisten und eine Pianistin kurz untersucht: Jacques Loussier, John Lewis (Modern Jazz Quartet), Eugen Cicero, Andrzej Jagodzinski, Leszek Mozdzer und Aziza Mustafa Zadeh. 5.1. JACQUES LOUSSIER Bereits vor dem zweiten Weltkrieg hat der Jazz-Gitarrist Django Reinhardt (1910 – 1953) das Experiment unternommen, Musik von J. S. Bach zu „verjazzen“. Er spielte eine Suite von Improvisationen und eine „swingende“ Version des ersten Satzes von Bachs Violinkonzert in d-moll. Aber erst der französische Pianist Jacques Loussier erzielte mit ähnlichen musikalischen Experimenten Welterfolg. Jacques Loussier wurde 1934 in Angers in Frankreich geboren. Bereits als zehnjähriger Klavierschüler improvisierte er kleine Variationen über Präludien aus dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“. Er studierte am Pariser Konservatorium. In den 50er Jahren begann er sich mit Jazz-Arrangements von Werken von J.S.Bach zu beschäftigen und gründete 1959 mit dem Bassisten Pierre Michelot und dem Schlagzeuger Christian Garros sein „Play Bach Trio“. Dieses Trio veröffentlichte 1959 die LP „Play Bach“ mit verjazzten Arrangements von Präludien und Fugen aus dem Ersten Band des Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach. Diese Einspielung – der noch vier weitere „Play Bach“ – LP‘s folgen sollten, wurde zu einem millionenmal verkauften Welterfolg, der bis heute andauert. Der kanadische Pianist und Bach-Spezialist Glenn Gould soll über Loussier gesagt haben: „Play Bach is a good way to play Bach“. 87 87 Jacques Loussier, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Jacques_Loussier 15.2.2012] 69 1978 löste Loussier dieses Trio auf und arbeitete vor allem als Filmkomponist. 1985 gründete er das „Play Bach Trio“ neu mit Vincent Charbonnier (bass) – ab 1997 mit Benoit Dunoyer de Segonzac – und dem Schlagzeuger Andre Arpino. In dieser Besetzung veröffentlichte er zahlreiche Jazz-Arrangements von klassischen Werken: Kompositionen von J. S. Bach, Vivaldi, Händel, Mozart, Beethoven, Chopin, Ravel, Debussy und Satie. Seine neueste Veröffentlichung sind die „Kinderszenen“ von Robert Schumann. Seinen Weg zu Bach in Jazz-Arrangements beschreibt Jacques Loussier in einem CD-Beiheft folgendermaßen: „Wenn mich heute jemand fragt, wie ich auf die Idee zu ‚Play Bach‘ kam: Vielleicht war es eigentlich keine Idee, sondern kam ganz natürlich […] Um ehrlich zu sein, schien es mir schon immer so, daß sich die Jazzmusik ganz natürlich aus der Musik Bachs ergibt, sogar so natürlich, daß ich mich manchmal frage ob der alte Leipziger Meister vielleicht durch eine inspirierte Eingebung die Rhythmen aus der neuen Welt vorausgesehen hat. Während meines Studiums am Konservatorium begann ich sechs Jahre später meine ersten Jazzimprovisationen der Bachmusik. Nein, natürlich nicht während der Schulzeit, sondern beim Mittagessen im Speisesaal wenn mich meine Freunde darum baten. Da entdeckte ich dann eine ganz andere musikalische Auffassung: variiert, mit breiten Perspektiven, allen Einflüssen, Sounds und Methoden gegenüber offen. Mit einem Wort: Freiheit.“ 88 Ein charakteristisches Beispiel für die zahlreichen Jazz-Arrangements von Jacques Loussier ist die 1993/94 eingespielte und 2004 veröffentlichte CD: „The Best of Play Bach“. Darauf findet sich auch eine Einspielung des „Italienischen Konzerts“ von J. S. Bach. In der Fassung des Jacques Loussier Trios entspricht der erste Satz (Concerto) weitgehend dem ursprünglichen Notentext. Allerdings wird die Bachsche Komposition durchgehend im Stil der Jazz-Sprache verziert. Der Rhythmus wird verschärft und synkopiert, Noten- und Pausenwerte werden einer swingenden Jazz-Rhythmik (Jazz Swing 4-Feel) angepasst. Die Basslinie wird zum größten Teil vom Kontrabass übernommen, der öfters Orgelpunkte hinzufügt. 88 Jacques Loussier, in: Beiheft zur CD „Jacques Loussier Trio – The Best of Play Bach“. 70 Auch der zweite Satz (Andante) beginnt weitgehend „texttreu“, ab der zweiten Hälfte (Takt 27) wird auf dem von Bass und Schlagzeug gegebenen harmonischen Gerüst vom Klavier improvisiert. Der von Bach notierte 3/4 Takt, der wie ein 6/8 Takt klingt, wird zum Jazz-Waltz in drei Achtel. Der dritte Satz (Presto) wird in einem sehr hohen Tempo (Jazz Swing 4-Feel, wie im ersten Satz) gespielt. Während Bach das Hauptthema in der Tonika, Dominante und der Subdominante ausführt, wiederholt das Jacques Loussier Trio das Hauptthema ausschließlich in der Tonika (F-Dur). An den Stellen, wo Bach Zwischenspiele ausführt, wird improvisiert. 5.2. JOHN LEWIS UND DAS MODERN JAZZ QUARTET Lohn Lewis (geboren 1920 in La Grangem Illinoes, gestorben 2001 in New York) war US-amerikanischer Jazz-Pianist, Komponist und Arrangeur. Er studierte an der University of New Mexico Musik und Anthropologie. Während seines Studiums schrieb er Arrangements für Jazz-Bands und spielte ab 1945 mit bedeutenden Jazz-Musikern (wie zum Beispiel Trompeter Dizzy Gillespie, dem Saxophonisten Charlie Parker und dem Trompeter Miles Davis) zusammen. 1952 gründete er mit dem Vibraphonisten Milt Jackson, dem Bassisten Percy Heath sowie dem Schlagzeuger Kenny Clarke (der 1955 durch Connie Kay ersetzt wurde) das „Modern Jazz Quartet“. 1974 trennte sich die Gruppe, schloss sich 1981 wieder zusammen und spielte in unveränderter Besetzung bis 1993. Das Modern Jazz Quartet, für das John Lewis viele Stücke komponierte (das berühmteste wurde „Django“) und sämtliche Arrangements schrieb, entwickelte eine einzigartige Kombination von „Cool Jazz“ und europäisch geprägter Kammermusik. Lewis bediente sich vor allem der Form der Fuge, der Invention, des Concerto Grosso und kontrapunktischen Improvisationen. Die Gruppe war ab 1957 besonders in Europa erfolgreich, was mit dieser besonderen Kombination aus europäischer Musik und modernem Jazz zusammenhängen 71 dürfte. Die Kompositionen John Lewis’s zeichnen sich durch Symmetrie, Transparenz und ein im Jazz eher unübliches Gefühl für Form aus. Der deutsche Jazz-Publizist Joachim E. Berendt stellte dazu fest: „Erst seit ihm und durch ihn versteht es sich von selbst, dass eine Jazzaufnahme ein Ganzes ist, dass sie in sich geschlossen sein muss und nicht einfach eine Folge schöner Soli.“ 89 Anlässlich der Europa-Tournee des MJQ 1983 bezeichnete der „Spiegel“ die Musik dieser Gruppe als „Schwarze Kammermusik“. John Lewis hat sich besonders intensiv mit J. S. Bach auseinandergesetzt. Die Bedeutung des MJQ liegt nicht in Jazz-Improvisationen über klassischen Themen, sondern in der Berücksichtigung klassischer Formprinzipien in den Jazz-Arrangements. Auf der CD „The Modern Jazz Quartet – Blues on Bach“ (1973) finden sich sowohl weitgehend notengetreue Interpretationen von BachKompositionen, als auch Improvisationen über Blues-Themen, die von der barocken Kontrapunktik beeinflusst sind. Die Arrangements von fünf Werken von J. S. Bach auf dieser Aufnahme folgen alle demselben Schema. Die Stücke beginnen zumeist mit einem leisen Klingeln des Perkussionisten. Die polyphonische Textur wird auf die drei Instrumente Vibraphon, Cembalo und Kontrabass verteilt, wobei der Bachsche Notentext fast unverändert wiedergegeben wird. Die wenigen Veränderungen sind kaum merkbar: Die barocke Verzierungspraxis wird etwas reduziert, melodische Linien werden teilweise in einem dem Barock angepassten Stil verändert, Harmonien werden an einigen Stellen vorsichtig der Jazz-Sprache angepasst und „modernisiert“. Durch die aus dem Jazz entnommene Artikulation (das ein wenig verzögerte schwache Achtel), den typischen SwingRhythmus (Dehnen der ersten Achtel, Verkürzen der zweiten Achtel) und den Beitrag der Perkussion erhält die Bachsche Musik einen Swing-Charakter. 89 Joachim E. Berendt, John Lewis (Pianist), in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/John_Lewis_%28Pianist%29 25.2.2012] 72 5.3. EUGEN CICERO Eugen Cicero (eigentlich Eugen Ciceu, geboren 1940 in Klausenburg, Rumänien, gestorben 1997 in Zürich), war ein klassisch ausgebildete JazzPianist, der mit seinen Interpretationen und Bearbeitungen von barocken, klassischen und romantischen Werken berühmt wurde. Er begann im Alter von vier Jahren mit dem Klavierspielen, führte bereits mit sechs Jahren ein Klavierkonzert von Mozart mit dem Symphonieorchester von Klausenburg auf und studierte später an der Hochschule in Bukarest, von der er jedoch für zwei Jahre lang aus politischen Gründen verwiesen wurde. „Meine Spezialität waren Liszt und Chopin, sowie Bela Bartok, George Enesco, Debussy und Ravel. Aber […] schon auf der Schule improvisierte ich lieber frei, als nach Partituren zu üben.“ 90 1962 unternahm er eine Tournee nach Ost-Berlin, von wo aus er nach WestBerlin flüchtete, um dort seine internationale Karriere zu begründen. Unmittelbar nach seiner Flucht erklärte er gegenüber der „Berliner Morgenpost“: „Ich war bereit, alles zu ertragen, aber man hätte mich so musizieren lassen sollen, wie ich das will […] In unserer Heimat durften wir nur ‚sozialistischen Jazz‘ spielen. Auf die Dauer dreht man da durch […] Heimlich haben wir nachts am Radio westliche Musik gehört. Und das ist streng verboten […] In Amerika finden wir die besten Lehrer, mein großes Vorbild ist der amerikanische Jazzpianist Erroll Garner“. 91 Über sein Verhältnis zu Chopin sagte Eugen Cicero: "Chopin war schon immer etwas Besonderes für mich. Ich meine, ich hab ihn nicht so phantastisch gespielt, wie er gespielt gehört, niemand kann ihn gut genug spielen. Aber ich fühle ihn. Mir liegt diese Art Traurigkeit und Melancholie. Es ist meine Art, Musik zu empfinden. Vielleicht hängt das mit meiner rumänischen Herkunft zusammen – mit dem Slawischen. Bei uns 90 Eugen Cicero, zitiert nach: Friends of Eugen Cicero [online verfügbar: [online verfügbar: http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012] 91 Eugen Cicero, zitiert nach: Friends of Eugen Cicero [online verfügbar: [online verfügbar: http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012] 73 zuhause klingen viele Volksweisen wie Chopin. Es gibt das gleiche leise und zarte Filigranwerk darin. Ich hab die Préludes schon gekonnt, als ich acht oder neun war. Wenn ich heute Chopin spiele, mit Charly Antolini und Peter Witte, dann fühle ich einfach, es ist hübsch ihn so zu spielen, wie wir das tun. So ungefähr hätte er selbst es gemacht, wenn er heute lebt – nur natürlich viel, viel besser. Eine so poetische lyrische Musik wie den Bossa Nova aus Brasilien – ich bin ganz sicher: Chopin hätte sie geliebt. Deshalb habe ich das e-moll-Prélude zu einem Bossa Nova gemacht. Am meisten gefallen mir die Klarheit und die Einfachheit und die Zartheit des Filigrans bei Chopin. Darin ist er den Komponisten des Rokoko – Scarlatti zum Beispiel – nahe." 92 Eugen Cicero hat circa siebzig Schallplatten eingespielt, wobei er JazzImprovisationen über Werke von Couperin bis Tschaikowsky vorlegte. Die von ihm erwähnte Einspielung des e-moll Preludes von F. Chopin mit Peter Witte (Bass) und Charly Antolini (Drums) (ursprünglich 1966 veröffentlicht auf der LP „Cicero’s Chopin“, wiederveröffentlicht auf: „Eugen Cicero – Swinging The Classics On MPS“) ist für seine Art, über klassische Themen improvisieren, typisch. Die Einspielung beginnt mit dem Prelude, gespielt am Klavier solo, ab der zweiten Hälfte setzt der Bass und das Schlagzeug ein. Nach kurzen improvisierten Schlusstakten setzt der Schlagzeuger mit einem Bossa NovaRhythmus ein, über den Cicero, begleitet vom Bassisten zuerst sehr nahe am Notentext über das Chopin-Prelude improvisiert, um später zu einer freieren Improvisation überzugehen, wobei das harmonische Gerüst des Preludes die Grundlage bildet. Das Stück schließt mit einer Wiederholung des Themas, zuerst durch das Klavier solo und ab der Hälfte wieder als Bossa Nova mit Bass und Schlagzeug. Seine letzte Aufnahme stammt aus dem Jahr 1996. Vergleicht man diese LiveAufnahme (mit dem Bassisten Decebal Badila) mit den Einspielungen aus den 60er Jahren, so zeigt sich kaum eine stilistische Weiterentwicklung. Seine 92 Eugen Cicero, zitiert nach: Friends of Eugen Cicero [online verfügbar: [online verfügbar: http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012] 74 Neigung zu Potpourris und sein spontanes Eingehen auf das Konzertpublikum erinnern an die Praxis von Bar-Pianisten. Andererseits ist festzustellen, dass seine Interpretation beispielweise des Chopins-Preludes in e-moll an Ausdruckskraft deutlich zugenommen hat. 5.4. ANDRZEJ JAGODZINKI Andrzej Jagodzinski (geboren 1953 in Garbatce-Letnisko, Polen) ist ein polnischer Jazz-Pianist, der stilistisch beeinflusst von Chick Corea, Herbie Hancock und Keith Jarrett eine Reihe von Jazz-Alben über Kompositionen von Chopin eingespielt hat. Er studierte Horn und Klavier an der Musikakademie F. Chopin in Warschau und arbeitete während seines Studiums als Hornist im Symphonieorchester der polnischen Rundfunks. Gleichzeitig begann er seine Karriere als Jazz-Pianist. Sein bekanntestes Album ist „Chopin“ (1994) im Trio mit Adam Cegielski (Bass) und Czeslaw Bartkowski (Schlagzeug). Über dieses Album schrieb Brian Morton: „If Chopin was really a composer for the right hand only, as Wagner grouchily complained, then perhaps Andrzej Jagodzinski has provided a missing accompaniment. These are not jazzed-up interpretations of Chopin compositions, but a set of jazz originals inspired by the great Pole’s most evocative pieces.“ 93 Bohdan Pociej schrieb darüber in einer Rezension im polnischem „Jazz Forum“: „The recording of the disc ‘Chopin’, played by the Andrzej Jagodzinski Trio goes beyond all experimentation done in jazz or pseudo-jazz with Chopin's music. It is a high-level, splendid piece of work and, I would even say, a masterpiece of jazz improvisation in the classic-modern style […] If my personal opinion counts, every jazz fan and Chopin lover should get this record and find pleasure in listening to it as I did. What is most striking is the originality and perfection which melt into one, its fine taste and elegance - all signs of masterful art, the aristocracy of art in the most noble sense. Music lovers looking for a taste of something unusual, will find this recording alluring. It 93 Brian Morton, in: Beiheft zur CD „Andrzej Jagodzinski Trio – Chopin les brillantes“. 75 invites the listener to discover and translate the secret of the ‚grease-lightening harmony‘ that exists between the music of Chopin and the art of playing jazz.“ 94 2009 veröffentlichte Andrzej Jagodzinski mit seinem Trio die CD „Chopin – Jagodzinski – Sonata b-moll“. Das Besondere dieser Aufnahme liegt darin, dass nicht einzelne kurze Kompositionen von Chopin von einem Jazz-Trio interpretiert werden, sondern eine komplette Klaviersonate mit allen vier Sätzen (Grave – Doppio movimento / Scherzo. Presto, ma non troppo / Marche funebre / Finale. Presto). „In Part I, the musicians follow the trail of Chopin’s allegro, accenting all of the essential moments in the exposition. The development section, in turn, is a signal for greater freedom and improvisation, mainly against the backdrop of the first theme, though also with new fragments which expand the formal space ad libitum. The motor activity of the left hand accompaniment in the original is dissected, hence the different, ‘quasi-bop’ accented disposition of the pianist.” 95 Das Jagodzinski Trio beginnt den ersten Satz nach einem Wirbel und einem Akzent des Schlagzeuges mit dem Einsatz des Klaviers und gibt die Komposition mit allen Wiederholungen und weitgehend notengetreu wieder. An das einleitende Grave schließt ein swingender Sonatensatz im doppelten Tempo an. Am Höhepunkt der Durchführung setzt das Trio eine vom Schlagzeug unterlegte Fermate und schließt mit einem improvisierten Teil. Auch das Scherzo wird swingend interpretiert, der Mittelteil (piu lento) wird zu einem Jazz-Waltz. Die bei Chopin von der linken Hand gespielte Stimme wird vom Kontrabass mit Begleitung des Klaviers übernommen. Am Ende des Satzes führt ein längeres improvisiertes Bass-Solo zum Trauermarsch: „[…] a singular and astonishing march! Admittedly, the march is introduced by an even beat, but this beat is divided into 4/8 + 2/8 bars, as if on two and three at the same time, with a simultaneous doubling of the tempo.” 94 96 Aus dem 4/4 Bohdan Pociej, Stroke of Genius, in: Jazz Forum/Poland 1994 [online verfügbar: http://www.jagodzinski.art.pl/reviews.htm 3.3.2012] 95 Tomasz Szachowski, in: Beiheft zur CD „Chopin - Jagodzinski Sonata b-moll“, S. 11 f. 96 Tomasz Szachowski, in: Beiheft zur CD „Chopin - Jagodzinski Sonata b-moll“, S. 11 f. 76 Takt des Trauermarsches wird ein verjazzter 4/8 + 2/8 Takt, aus dem Trauermarsch wird fast ein Reggae. Ein Schlagzeugsolo leitet zum Finale über. Dieses Finale wird in einem raschen Swing-Tempo gespielt, das Klavier spielt eine Oktave höher als von Chopin notiert, die linke Hand setzt rhythmische Akzente durch Akkorde, während Chopin für beide Hände schnelle Triolen-Passagen geschrieben hat. Die rechte Hand improvisiert über Fragmente der Chopin‘schen Komposition. 5.5. LESZEK MOZDZER Leszek Mozdzer (geboren 1971 in Danzig) gilt als der begabteste und erfolgreichste polnischer Jazz-Pianist. Er begann mit fünf Jahren mit dem Klavierspiel und studierte bis 1996 in Danzig Klavier. Die Musik Chick Coreas, die er mit 18 Jahren kennenlernte, führte ihn zum Jazz. Bereits 1992 gewann er den ersten Preis beim Junior Jazz Festival in Krakau. Seit Mitte der 90er Jahre spielte er mit international bekannten JazzMusikern wie etwa Pat Metheny (Gitarrist), Lester Bowie (Trompeter) und Archie Shepp (Saxophonist). Er komponierte auch Musik für das Theater und zu polnischen Kinofilmen. Über sein Selbstverständnis als Musiker sagt Mozdzer: „Wer zu viel denkt, beginnt zu leiden […] Es kommt als Musiker darauf an, die Balance zwischen Denken und Nichtdenken zu finden.“ 97 Durch seine klassische Ausbildung hat Mozdzer die Fähigkeit entwickelt, Elemente der klassischen Musik in seine Jazz-Improvisationen einzubauen. Über seinen individuellen Ton als Pianist schreibt Anna Wloch: „Fünf, sechs Takte – und man erkennt ihn blind. Leszek Mozdzer hat einen Glockenton, der ihn von allen anderen romantisch gefärbten Jazzpianisten unterscheidet. Harmonisch mag er ein verwechselbares Esperanto sprechen, das mal 97 Leszek Mozdzer, zitiert nach: Anna Wloch, Jazzpianist Leszek Mozdzer - Der Mann, der die Hämmer in die Luft wirft, in: ZEIT ONLINE [online verfügbar: http://www.zeit.de/kultur/2011-10/StarpianistLeszek-Mozdzer 5.3.2012]. 77 impressionistisch verschwebt und mal die Konturen heftiger Blockakkorde annimmt. Melodisch mag man das ornamentale Glitzern seines polnischen Landsmanns Frédéric Chopin und die gestochene Schärfe von Chick Corea erkennen, dessen Kunst ihn im Alter von 18 Jahren von einem auf den anderen Tag zum Jazz bekehrte.“ 98 1999 nahm Leszek Mozdzer eine CD mit Jazz-Improvisationen über Kompositionen von Chopin auf. („Lezek Mozdzer: Impressions on Chopin“) Die musikalischen Feinheiten dieser CD sind wahrscheinlich nur Chopin-Kennern zugänglich. So ändert Mozdzer zum Beispiel in der Etüde Ges-Dur op. 25 Nr. 9 die harmonische Struktur, der melodischer Umriss bleibt aber erkennbar. Die improvisierten Teile werden im Stil älterer Jazz-Pianisten (wie zum Beispiel Art Tatum, einer der bedeutendsten US-amerikanischen Klaviervirtuosen oder Erroll Garner, Pianist und Komponist der Swing- und Bebop-Zeit) ausgeführt. 5.6. AZIZA MUSTAFA ZADEH Aziza Mustafa Zadeh (geboren 1969 in Baku, Aserbaidschanische SSR) ist Komponistin, Pianistin und Sängerin. Der von ihr entwickelte Stil ist eine Mischung aus klassischer Klaviermusik, Jazz, Scat-Gesang und aserbaidschanischer Improvisationsmusik (Mugam). Mugham Musik, der ein festgelegter, als modal bezeichneter Melodietyp zugrunde liegt. Zugleich bestimmt der Mugham die Art der melodischen Intervalle, den Rhythmus und die Aufführungspraxis des Sängers und seiner instrumentalen Begleiter. Mugham wird nicht aufgeschrieben, sondern von einer Generation an die nächste weitergegeben. 99 Zadeh stammt aus einer Musikerfamilie. Ihr Vater war Pianist und Komponist und ein führender Vertreter des Mugam Jazz in Aserbaidschan. Ihre Mutter ist eine klassisch ausgebildete Sängerin. 98 Anna Wloch, Jazzpianist Leszek Mozdzer - Der Mann, der die Hämmer in die Luft wirft, in: ZEIT ONLINE [online verfügbar: http://www.zeit.de/kultur/2011-10/Starpianist-Leszek-Mozdzer 5.3.2012]. 99 Mugam, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Mugam 18.2.2012] 78 Aziza Mustafa Zadeh studierte am Konservatorium in Baku Klavier und zeigte früh ein ausgeprägtes Improvisationstalent und eine Vorliebe für Jazz. Mit siebzehn Jahren wurde sie beim „Thelonious-Monk-Klavierwettbewerb“ in Washington, D.C. ausgezeichnet. Ihren Scat-Gesang beschreibt sie als Begleitung zu ihren Jazz-Kompositionen: „It's just another extension of my intensity when I play. It's characteristic of me. I really don't know of any Azeri tradition that uses it.“ 100 Von Aziza Mustafa Zadeh liegen nur wenige Einspielungen von Improvisationen über klassische Kompositionen vor. Zwei Beispiele dafür finden sich auf der 2002 veröffentlichte CD „ Shamans“: „Bach-Zadeh“ und „Portrait of Chopin“. Bei „Bach-Zadeh“ handelt es sich um die Corrente aus der Partita Nr. 6 in emoll BWV 830 von J. S. Bach. Zadeh macht aus der zweistimmigen Komposition eine dreistimmige. Die dritte Stimme ist ihr virtuoser Scat-Gesang. Die Gesangstimme und die Klavierstimme der rechten Hand gehen manchmal parallel, manchmal gehen sie neue Wege, um die Dreistimmigkeit herzustellen. In den Takten 73 und 78 setzt Zadeh „romantische“ Fermaten ein. Bei „Portrait of Chopin“ handelt es sich um die Bearbeitung einer ChopinMazurka (a-moll op.17 Nr.4). Zadeh ergänzt diese Mazurka vor allem im Mittelteil mit improvisierten virtuosen Passagen, die an Franz Liszt erinnern beziehungsweise aus dem Jazz stammen. Die Harmoniestruktur reichert sie durch zusätzliche Töne an, wodurch diese als Jazz-Akkorde erkennbar werden. Aus der Mazurka wird ein romantisches Impromptu, das von einer virtuosen Jazz-Pianistin improvisiert wird. 100 Aziza Mustafa Zadeh, in: Wikipedia [online verfügbar: http://de.wikipedia.org/wiki/Aziza_Mustafa_Zadeh 18.3.2012] 79 ZUSAMMENFASSUNG Schwerpunkt der Arbeit ist die Bedeutung Friedrichs Guldas für die Rolle der Improvisation in der Klaviermusik. Der „Musikalische Revolutionär“ Friedrich Gulda hat durch sein Klavierspiel sowohl im Bereich der „klassischen Musik“ und der traditionellen Konzertpraxis als auch durch seine Aktivitäten als JazzKomponist und als Jazz-Pianist bedeutenden Einfluss auf viele Pianistinnen und Pianisten des 20. Jahrhunderts ausgeübt. Dies gilt vor allem für die Wertschätzung der Improvisation als auch für die Öffnung zu unterschiedlichen Musikformen. Nach einer Beschreibung der Bedeutung von improvisatorischen Elementen in der Geschichte der Klaviermusik wurde untersucht, wie Pianistinnen und Pianisten des 20. und 21. Jahrhunderts die am Ende des 19. Jahrhunderts verlorengegangene Tradition des Improvisierens wiederbeleben. Ferner wurden Beziehungen zwischen klassischer Musik und Jazz herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, dass klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten, die auch Jazz spielen, durch eine für den Jazz untypische Zurückhaltung auffallen – sie spielen nicht „dirty“. Die umgekehrte Fragestellung führt zur gleichen Antwort: Jazz-Pianisten spielen, wenn sie klassische Werke aufführen, ebenfalls außerordentlich zurückhaltend und vorsichtig. Diese Einschätzung ist das Resultat einer Untersuchung der Spielpraxis von Pianistinnen und Pianisten, die die Improvisation wiederentdeckten: Robert D. Levin belebt die Improvisation im Rahmen klassischer Klaviermusik, Gabriela Montero nimmt die Tradition frei improvisierter Konzerte wieder auf. Klassisch ausgebildete Pianistinnen und Pianisten – wie zum Beispiel Roland Batik und Katia Labeque – nähern sich auf verschiedenen Wegen dem Jazz an, JazzPianisten treten als Interpreten klassischer Musik auf. Jazz-Pianistinnen und Jazz-Pianisten – wie zum Beispiel Jacques Loussier, John Lewis, Eugen Cicero, Andrzej Jagodzinski, Leszek Mozdzer und Aziza Mustafa Zadeh – versuchen in unterschiedlichen Stilen Klassik zu „verjazzen“. 80 WERKLISTE FRIEDRICH GULDAS (Quelle: Website Friedrich Gulda [online verfügbar: http://www.gulda.at/deutsch/werkliste/text.php]) Auswahl (von Friedrich Gulda) aus frühen kompositorischen Versuchen (1939 1941): 1939 Allegretto für Klavier 1940 Lied des Fridolin aus "Oberon" 1940 Zwischenspiel für Klavier 1940 Variationen über ein Volkslied für Klavier 1940 Variationen über ein eigenes Thema für Klavier 1940 Scherzo Nr. 1 für Klavier 1940 Scherzo Nr. 2 für Klavier 1940 Kleines Stück für Klavier 1940 Kleines Stück für Klavier 1940 Larghetto für Streichtrio 1941 Andante für Violine und Klavier 1941 Variationen für Streichquartett 1941 Drei Menuette für Streichorchester 81 Arbeiten, die während der Studienzeit bei Prof. Joseph Marx entstanden (1942 1949): 1942 Invention für Klavier 1943 6 vierstimmige Choräle 1943 5 Lieder für Frauenchor 1944 3 Stücke für 2 Blockflöten 1944 2 Fugen 1945 2 Liedformen für Klavier 1946 4 Eichendorff-Lieder 1946 Klavierstück 1947 So genannte "Übung" im fünfstimmigen Satz 1948 Messe in B-Dur 1949 Vierhändiges Klavierstück 1949 Fuga für 2 Klaviere 1950 Sieben Galgenlieder (Urfassung) 1950 Streichquartett in fis-Moll 1954 Vorarbeiten zu einer Oper 1954 The Air From Other Planets 1955 Cool-Da 1955 12 Birdland-Compositions 1957 Kadenzen zu Mozart Klavierkonzerten 82 1960 Concertino for Players and Singers 1961 3 Jazzstücke 1961 Filmmusik 1962 Music for 3 Soloists and Band 1962 Music for Piano and Band Nr. 1 später betitelt Piano Concerto No. 1 1962 The Opener 1962 The Horn and I 1962 Blue most 1963 Music for Piano and Band Nr. 2 später betitelt Piano Concerto No. 2 1964 The Veiled Old Land später betitelt Fantasy for 4 Soloists and Band 1964 Music for 4 Soloists and Band später betitelt Concerto a Quattro 1965 Little Suite 1965 Lullaby 1965 The Excursion 1965 Les Hommages 1965 Prelude and Fugue 1966 Closer 1966 Der Neue Wiener Walzer 1966 Neuer Wiener Walzer 1966 Variations for 2 Pianos and Band 1966 Depression 1966 Variations 1967 Sonatine 83 1968 Filmmusik zu "Moos auf den Steinen" 1969 Neue Wiener Lieder (7 Golowin-Lieder) 1969 Theme from Dropout 1969 Spanische Fliege 1969 Introduktion und Scherzo später betitelt Introduction and Dance 1969 Suite for Piano, E-Piano and Drums 1969 Wheel in the right machine - Workshop Suite 1970 Variationen über Light My Fire 1970 I see 1970 Sinfonie in G 1970 Blues Fantasy 1971 Play Piano Play - 10 Übungsstücke für Klavier 1973 Wings 1974 Für Paul 1974 Für Rico 1977 Bassflute Blues 1978 Blues for Joe Venuti später betitelt Old World Blues 1980 Filmmusik zu dem Film "Wohin denn ich" 1980 Opus Anders 1980 Konzert für Violoncello und Blasorchester 1981 Concerto for Ursula 1988 Concerto for myself - Sonata concertante for Piano and Orchestra 1991 Paradise Island 84 Events bzw. Gesamtkunstwerke der späten Schaffensphase F. Guldas: (mit Originalwerken von J. S. Bach und W. A. Mozart, sowie Eigenkompositionen, Arrangements und Improvisationen) 1994 Fiesta Electra - Mega-Techno-Rave into Paradise Party 1994 A Night with Friedrich Gulda and Friends 1995 Ein Fest mit Friedrich Gulda und Freunden 1996 Flite thru the Nite 1996 Mozartiana 1997 The Gulda Experience 1998 The Legacy 1998 Midnite Party 1998 Summer Dance 1999 Resurrection Party Improvisationen und Freie Musik von und mit Friedrich Gulda: 1973 New Age Suite 1975 G´schichten aus dem Golowinerwald - Hommage á Johann Strauß 1977 Arabisch-zigeunerische Fantasie 1978 Besuch vom alten G. 1979 Double Dance 1 1979 Double Dance 2 85 1979 Solo 1979 Performance 1979 Good Night 1981 Öffentliche Musikmeditation 1982 The meeting - Improvisations on two pianos 1983 Gedanken über Kadenz und Menuett des Cellokonzertes 1983 Freie Musik 1983 Out of my head, heart and body 1983 Ping Pong 1984 Wintermeditation 1986 Consonanza personale 1986 Landschaft mit Pianist 1986 Epitaph 1987 Play like a child - Kindesweisheit 1987 Memories Arrangements eigener und anderer Werke: 1954 Sieben Galgenlieder Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1955 Bernie´s Tune – Orig. B. Miller / Arr. F. Gulda 1955 Night in Tunisia – Orig. D. Gillespie / Arr. F. Gulda 1955 Out of Nowhere – Orig. J. Green / Arr. F. Gulda 1955 All the things you are – Orig. J. Kern / Arr. F. Gulda 86 1955 Lullaby of Birdland – Orig. G. Shearing / Arr. F. Gulda 1962 My funny Valentine Orig. R. Rodgers / Arr. F. Gulda 1962 Very, very fast – Orig. Georg Riedel / Arr. F. Gulda 1963 Penzing Nocturne – Orig. Fatty George / Arr. F. Gulda 1965 Sieben Galgenlieder (Neufassung) – Orig. F. Gulda/ Arr. F. Gulda 1965 Prelude Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1969 Ouverture for 2 Pianos – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1969 Die Reblaus – Orig. Föderl/Marischka / Arr. F. Gulda 1969 Meditation III – Orig. Fritz Pauer / Arr. F. Gulda 1970 Aria (in stile italiano) – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1970 Arie (ursprünglich Aria) – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1970 Nina Carina – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1974 6 Etüden – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1977 Der Wanderer – Orig. F. Schubert / Arr. F. Gulda 1977 Mondnacht – Orig. R. Schumann / Arr. F. Gulda 1977 Fiakerlied – Trad. / Arr. F. Gulda 1978 Night in Tunisia – Orig. D. Gillespie / Arr. F. Gulda 1978 The Air From Other Planets – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1978 What is this thing called love– Orig. C. Porter / Arr. F. Gulda 1979 In diesen heil´gen Hallen – Orig. W.A. Mozart / Arr. F.Gulda 1980 Dies Bildnis ist bezaubernd schön – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda 1982 Air – Orig. J.S. Bach / Arr. F. Gulda 87 1983 1. Arie des Cherubin aus “Figaro“ – Orig. W.A. Mozart / Arr. Friedrich Gulda 1985 Guten Abend, gut´ Nacht – Orig. J. Brahms / Arr. F. Gulda 1986 Du und i – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1986 Dein ist mein ganzes Herz – Orig. F. Lehar / Arr. F. Gulda 1986 La ci darem la Mano – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda 1986 Lacrimosa – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda 1986 Guten Abend, gut´ Nacht – Orig. J. Brahms / Arr. Gulda/Zawinul 1986 2. Satz des Klavierkonzerts KV 537 – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda 1986 Am Meer – Orig. F. Schubert / Arr. F. Gulda 1986 Rosenkavalier Walzer – Orig. R. Strauss / Arr. F. Gulda 1986 Du und i – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1989 Aria – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1989 Exercise 9 – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1989 General Dance – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1989 Rezitativ und Arie aus "Figaro" – Orig. W.A. Mozart / Arr. F. Gulda 1989 Opus de Funk – Orig. H. Silver / Arr. F. Gulda 1989 Stormy Weather Blues – Orig. B. Dennerlein / Arr. F. Gulda 1989 Theme from the 2nd Movement of Concerto for Ursula – Orig. & Arr. F. Gulda 1990 For Paul – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1990 Du und i – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1990 Donauwalzer – Orig. J. Strauß / Arr. F. Gulda 1990 Isn´t she lovely – Orig. S. Wonder / Arr. F. Gulda 88 1990 Hit Hat – Orig. H. Sokal / Arr. F. Gulda 1990 Ich lade gern mir Gäste ein – Orig. J. Strauß / Arr. F. Gulda 1990 Brüderlein und Schwesterlein – Orig. J. Strauß / Arr. F. Gulda 1992 Hier an dem Herzen treu geborgen – Orig. Georges Bizet / Arr. F. Gulda 1993 Rezitativ und Arie der Lady Strange – Orig. F. Gulda / Arr. F. Gulda 1993 Georgia on my mind – Orig. H. Carmichael / Arr. F. Gulda 1993 Light my fire – Orig. The Doors / Arr. F. Gulda 89 LITERATURLISTE Amon, Reinhard: Lexikon der musikalischen Form, Wien 2011 Anders, Ursula: Friedrich Gulda – Ein Leben für die Musik, Weitra 2010 Batik, Roland: Eigene Homepage [online verfügbar: www.rolandbatik.com 16.2.2012] Batik, Roland: Musikverein – Monatszeitung, März 2006 [online verfügbar: http://www.musikverein.at/monatszeitung/monatszeitung.asp?idx=709 18.2.2012] Burnim, Mellonee / Maultsby, Portia (Hg.): African American Music, New York 2006 Czerny, Carl: Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethoven’schen Klavierwerke, nebst Czerny’s „Erinnerungen an Beethoven“ [Herausgegeben und kommentiert von Paul Badura-Skoda, Wien 1963] Dürer, Carsten: Gespräche mit Pianisten, Band 2, Düsseldorf 2007 Friedrich Gulda - Website [online verfügbar: http://www.gulda.at/deutsch/werkliste/text.php 20.1.2012] Friends of Eugen Cicero, [online verfügbar: http://www.eugen-cicero.de/ 1.3.2012] Harden, Ingo/Willmes, Gregor: Pianisten Profile, Kassel 2008 Harer, Ingeborg: Ragtime – Versuch einer Typologie, Tutzing 1989 Harer, Ingeborg: Ragtime, in: Burnim, Mellonee / Maultsby, Portia: African American Music, New York, 2006 (S.127 – 144) Hofmann, Kurt/Gulda, Friedrich: „Mein ganzes Leben ist ein Skandal“, München 1990 90 Hossein, Leila: Der musikalische Revolutionär Friedrich Gulda, Saarbrücken 2011 Isacoff, Stuart: Interview mit Gabriela Montero [online verfügbar: http://nyphil.org/attend/guests/index.cfm?page=interview&interviewNum=31&sel ectedNav= 3.4.2012] Jacobs, Michael: All That Jazz – Die Geschichte einer Musik, Stuttgart 1996 Keil, Ulrike / Gärtner, Markus: Wurm, Mary, Marie, Mary J. 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