Wir sind Helden, ganz verschiedene Helden
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Wir sind Helden, ganz verschiedene Helden
Universiteit Gent Academiejaar 2008-2009 „Wir sind Helden, ganz verschiedene Helden“ Eine intratextuelle und intertextuelle Analyse von Thomas Brussigs Helden wie wir, Philip Roths Portnoy’s Complaint und Günter Grass‘ Blechtrommel Promotor: Prof. Dr. Jaak De Vos Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits door Maaike Van Liefde 2 3 Dankeswort Ich könnte in diesem Vorwort wie ‚meine‘ drei Helden, Klaus Uhltzscht, Alexander Portnoy und Oskar Matzerath vorgehen, und meine Geschichte ab ovo erzählen. So habe ich die Sicherheit, jedem gedankt zu haben, der mit dafür gesorgt hat, dass ich hier angelangt bin. Es ist jedoch nicht meine Absicht, wie meine Helden 323, 274, geschweige denn 779 Seiten zu füllen; deswegen werde ich zum Beispiel nicht erzählen, wie meine Oma mir als fünfjährigem Kind ein Exemplar des Buches De Witte van Zichem von Ernest Claes schenkte (statt die von mir erwünschte Barbiepuppe), sodass ich mich schon für Literatur und schelmische Figuren interessieren musste. Das würde mich wirklich zu weit führen, auch wenn ich ihr dafür eigentlich sehr dankbar bin. Wer hier schon und vor allem erwähnt werden muss, ist Prof. Dr. Jaak De Vos. In seinen begeisterten Vorlesungen entstand meine Liebe zur deutschen Literatur. Beim Schreiben meiner Magisterarbeit stand er immer mit Rat und Tat zur Seite, und seine motivierende Hilfe schien ohne Ende. Auch dem Fachbereich deutsche Literatur möchte ich bedanken: Nirgendwo sonst auf dem ‚Blandijnberg‘ fühlt man sich als Student so zu Hause. Ich bin meiner Mutter, die mir die Liebe für die deutsche Sprache genetisch weitergegeben hat, sehr dankbar, dass sie mir die Chance zu einer universitären Studie geboten hat: Nicht nur ihre materielle Unterstützung, aber vor allem die moralische war für mich sehr wichtig. Nach ihrem Vorbild werde ich immer versuchen, mein Bestes zu geben. Obschon ich von meiner Großmutter damals keine Barbiepuppe bekam, eroberte ich später trotzdem einen persönlichen Ken. Auch er ist ein großes Dankeschön wert, weil er mich immer dazu angeregt hat, einen Schritt weiter zu denken. Sein liebevolles und reines Dasein macht ihn zum wichtigsten ‚Pfeiler‘ meines Lebens. Und last but not least möchte ich auch meinen Mädchen, und im Besonderen Tine Hendrickx und Linde Lapauw einen Kuss zuwerfen. Für die liebevollste Freundschaft, für die interessantesten Diskussionen, für die hirnlosesten, absurdesten und zugleich schönsten Plauderstunden. Ohne sie wäre es nicht halb so toll gewesen. Dann sind Stunden wie Sekunden – Merci mes amies, es war wunderschön. Maaike Van Liefde, 21. Mai 2009 4 5 Inhalt Dankeswort 3 0. 7 Zur Einleitung 0.1. Die intratextuelle Komponente: Humor und Ideologiekritik als Pfeiler der Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir 8 0.2. Die intertextuelle Komponente: Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel 9 1. 2. Eine Einstimmung: Freudsche Überlegungen 15 1.1. Part One: der Ödipuskomplex 16 1.2. Part Two: der Humor 26 Der Humor als erster Pfeiler der Analyse 2.1. Ironie, Naivität und Schelmengehalt 33 35 2.1.1. Die ironische Naivität von Klaus Uhltzscht 36 2.1.2. Oskar, Alexander und Klaus als Schelme? 40 2.1.2.1. Der Schelm als halb-Außenseiter 43 2.1.2.2. Die Form der Pseudo-Autobiographie 52 2.1.2.3. Der einseitige Blickwinkel 54 2.1.2.4. Die reflexive Kritik des Protagonisten an seinem Leben 56 2.1.2.5. Die Hervorhebung des Materiellen 60 2.1.2.6. Der kriminelle Biotop 63 2.1.2.7. Die zweidimensionale Reise durch ein Zeitpanorama 64 2.1.2.8. Der episodische Aufbau 66 2.1.2.9. Klaus, Alexander, Oskar: reine Schelme oder ‚nur‘ schelmisch? 70 2.2. Die ‚Körpergroteske‘ 2.2.1. Die und das Groteske in Helden wie wir: eine Neudefinierung 71 72 6 2.2.2. Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel als Körpergrotesken 2.2.2.1. Die groteske Sexualität von Klaus und Alex 76 2.2.2.2. Der groteske Körper von Klaus und Oskar 85 2.3. Der (nicht-)markierte Sarkasmus 3. 92 2.3.1. Die sarkastische Autorinstanz in Helden wie wir 2.3.2. Die sarkastischen Protagonisten in Portnoy’s Complaint und der 93 Blechtrommel 95 Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der Analyse 98 3.1. Die pervertierte Ideologie in der Schlusslinie 101 3.1.1. In Helden wie wir: „Sozialismus braucht Perversion!“ 101 3.1.2. In Portnoy’s Complaint: Perversion in zwei Richtungen 103 3.1.3. In der Blechtrommel: die perverse Wirklichkeit 105 3.2. Die Menschen in der Schusslinie 3.2.1. Die Kritik an der Elterngeneration 107 108 3.2.1.1. In Helden wie wir: ‚Stasi-Ratten‘ und Trümmerfrauen 3.2.1.2. In Portnoy’s Complaint: Ressentiment und Hypokrisie der Juden 112 3.2.1.3. In der Blechtrommel: Jan und Alfred als Vertreter des Krieges 3.2.2. 4. 75 Die Kritik an ‚dem Volk‘ 108 117 119 3.2.2.1. In Helden wie wir: Wir sind das Volk, oder? 119 3.2.2.2. In Portnoy’s Complaint: die Sage der leidenden Juden 121 3.2.2.3. In der Blechtrommel: das Kleinbürgertum als NS-Nährboden 123 Schlussfolgerungen und Ausblick Bibliografie 126 130 Primärliteratur 130 Sekundärliteratur 130 7 0. Zur Einleitung Ein „Paukenschlag in gedrückter Stille“1, „eine Kabarettnummer“2, „ein grotesker Mythos […], reich an subversiver Ironie und satirischen Ausfällen“3: Mit diesen begeisterten Lobesworten – unter anderen – wird Helden wie wir von Thomas Brussig 1995 durch Literaturkritiker im Innen- und Außenland empfangen. Das Werk bekommt schon bald nach der Veröffentlichung das Epitheton „heißersehnter Wenderoman“ und der Schriftsteller Brussig wird den Status eines DDR-Experten bescheinigt. Die DDR sei „sein“ Thema, weil sie „sich gut erzählen lässt“4, und die Mauer sei sein Leitmotiv, „das DDR-Phänomen schlechthin!“5. Nachdem auch Wolf Biermann, Sänger, Dichter und DDR-Kritiker pur sang, in Der Spiegel Lobesworte aufzeichnen lässt – „Verehrte Damen und Herren, das Werk Helden wie wir handelt vom Wichsen. Ich empfehle es Ihnen - das Buch -, es ist ein herzerfrischendes Gelächter“6 – erlebt die Schriftstellerkarriere von Brussig einen weiteren Boom. Seine Popularität steigert sich, sowohl bei den Lesern als auch bei den Literaturwissenschaftlern. Trotz der relativ kurzen Rezeptionsgeschichte ist, teils wegen dieser Popularität über Helden wie wir also schon Vieles geschrieben worden. Die Art und Weise, wie Brussig in seinen Werken das Leben in und nach der DDR analysiert und darstellt, ist immer von Humor durchdrungen, auch wenn der Autor immer andere Akzente setzt. Das ziemlich ernsthafte Wasserfarben (1991) und das stark zur ‚Ostalgie‘ neigende Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) stehen im großen Kontrast zum bissigen Humor in Helden wie wir, aber immer übt Brussig durch diesen Humor auch Kritik am DDR-System, in dem er und seine Protagonisten aufgewachsen sind. Durch diese Verschiedenheit der Arten von Humor, die immer zu Diensten der Ideologiekritik stehen, ist im Werk Brussigs eine reiche intratextuelle Kaleidoskopie 1 Frauke Meyer-Gosau: “Ost-West-Schmerz. Beobachtungen zu einer sich wandelnden Gemütslage”. In: KLG. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik 2000, S. 8. 2 Iris Radisch: “Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West”. In: KLG, S. 19. 3 Heide Hollmer: “The next generation. Thomas Brussig erzählt Erich Honeckers DDR”. In: KLG, S. 111. 4 Jörg Magenau: “Kindheitsmuster. Thomas Brussig oder Die ewige Jugend der DDR”. In: Aufgerissen: zur Literatur der 90er. Hg. von Thomas Kraft. München: Piper 2000, S. 41. 5 Hollmer: “The next generation”. In: KLG, S. 119. 6 Wolf Biermann: “Wenig Wahrheiten und viel Witz”. In: Der Spiegel 5/1996, 29.1. <http://www.thomasbrussig.de/Rezensionen/Buecher/Wenig%20Wahrheiten%20und%20viel%20Witz.ht m> 8 vorzufinden. In dieser Arbeit werden einerseits diese zwei Pfeiler – Humor und Ideologiekritik – in Helden wie wir an zentraler Stelle stehen, andererseits die vielen intertextuellen Bezüge, die Helden wie wir zu anderen Romanen aufweist, insbesondere Portnoy’s Complaint von Philip Roth (1969) und Die Blechtrommel von Günter Grass (1959), Gegenstand einer eingehenden Untersuchung sein. Die intratextuelle Wechselwirkung zwischen Humor und Ideologiekritik in Helden wie wir wird dabei zugleich der intertextuellen Analyse zum Rahmen dienen: Es wird sich herausstellen, dass diese Wechselwirkung auch in den zwei anderen Werken wirksam ist. Zunächst möchte ich aber die zwei Komponenten – intratextuell und intertextuell – näher erläutern. 0.1. Die intratextuelle Komponente: Humor und Ideologiekritik als Pfeiler der Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir Die erste Absicht vorliegender Arbeit ist aufzuzeigen, dass die komplexe Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir von zwei Pfeilern getragen wird, einerseits dem Humor, andererseits der Ideologiekritik. Ich widme diesen zwei Komplexen in meiner Arbeit zwei unterschiedliche Kapitel, obwohl wir sie eigentlich nicht separat betrachten können: Der Humor bekommt seine spezifische Wirkung, weil er oft auch Kritik enthält, und die Ideologiekritik wirkt gerade durch die verschiedenen Ausdrucksformen des Humors. In meiner Arbeit werde ich diese komplexe Wechselwirkung denn auch ständig berücksichtigen. In der Analyse des Humor-Pfeilers werde ich mich mit drei spezifischen Humorformen beschäftigen, die meines Erachtens sowohl humoristisch als auch ideologiekritisch – wenn auch in wechselndem Grad, und auf unterschiedlichen Ebenen – die wirksamsten Effekte erreichen: Ironie, Groteske und Sarkasmus. Der ‚Humor in Helden wie wir‘ ist schon in manchen Sekundärwerken behandelt worden, wie die wenigen Zitate am Anfang dieser Einführung illustrieren, aber manchmal geschah das eher registrierend, ohne Methodologie oder deutliche Bestimmung der verwendeten Terminologie. Ich möchte unter unter methodologischer Betreuung durch einige einschlägige Literaturlexika die Ironie, die Groteske und den Sarkasmus untersuchen 9 und deren gängige Definition ständig an der jeweiligen Realisierung in Helden wie wir prüfen. Danach wird der zweite Pfeiler von Brussigs Vergangenheitsbewältigung, die Ideologiekritik, ausführlich analysiert. Ich möchte dabei untersuchen, wie die Ideologiekritik in Helden wie wir zum Ausdruck kommt: Sie greift sichtbar einerseits die DDR-Ideologie an sich an, aber auch Menschen, die diese Ideologie vertreten. Durch Analyse verschiedener ausgeprägter Textstellen möchte ich versuchen, die Ideologiekritik, in ihrer ständigen Interferenz mit Humor, klar zu stellen. 0.2. Die intertextuelle Komponente: Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel Die zweite Absicht dieser Magisterarbeit liegt darin, den literarischen, intertextuellen Horizont, in den Brussigs Vergangenheitsbewältigung eingebettet ist, im Rahmen der zwei Pfeiler Humor und Ideologiekritik zu überprüfen. In Helden wie wir ist nämlich auch eine reichhaltige intertextuelle Konstellation wirksam. Schon am Anfang der Rezeptionsgeschichte von Helden wie wir wurde klar, dass Klaus Uhltzscht als Romanfigur kein aufgeschlagenes Buch war, an und für sich schon, weil er sich selbst mit so vielen Epitheta beschreibt. Er präsentiert sich selbst nicht nur als zukünftiger Literatur- und Friedensnobelpreisträger7, als Titelbild der auflagenstärksten Illustrierten [HWW: 13-14], als „der zukünftige Straßenname“ [HWW: 63] und „Missing link der jüngsten deutschen Geschichte“ [HWW: 323], wodurch er eine seiner „hervorstechenden Eigenschaften“, seinen „Größenwahn“ [HWW: 6] deutlich hervorbringt, sondern auch als „Klautz am Bein“ [HWW: 25], „der letzte Flachschwimmer“ [HWW: 40], verlachter „Totensonntagsfick“ [HWW: 46], „ein sagenhafter Sachenverlierer“ [HWW: 48] und „Frauenschänder und Treppenbekleckerer“ [HWW: 194]. Diese radikal gespaltene Selbstcharakterisierung verrät schon die komplexe Mehrschichtigkeit des Phänomens ‚Klaus Uhltzscht‘. Nicht nur erfindet Klaus sich selber durch diese farbige Charakterisierung immer neu, er ordnet sich auch in bestehende literarische Traditionen ein, indem er sich als Nachfolger verschiedener weltberühmter (Roman)Figuren bekannt gibt. Seine 7 Thomas Brussig: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 200513, S. 5. Auf Helden wie wir wird weiter im Text folgendermaßen verwiesen: [HWW: xx]. 10 erwünschte Schriftstellerkarriere sollte sich in Erfolg und Größe an jener von Heinrich Mann und Charles Dickens messen können [HWW: 7]: Folglich gibt sich Klaus‘ Lebensgeschichte genauso wichtig wie die Geschichte Europas – für die Mann übrigens oft einen sarkastischen Blick übrig hat, den man auch in Helden wie wir erkennen kann – und ähnelt sie dem turbulenten Leben David Copperfields. Auch in seiner Karriere bei der Stasi soll er legendär werden: Tagsüber der unauffällige Stasi-Agent, dessen Wichtigkeit für die DDR und dessen Macht als Retter des Sozialismus sich aber rasch herausstellen wird – nach dem Vorbild von Seeräuber-Jenny aus Brechts Dreigroschenoper [HWW: 110], die für die Öffentlichkeit nur ein Arbeitstier in einer Kneipe ist, jedoch eine mächtige Frau wird, die über Leben und Tod der Stadtmenschen entscheidet. Obwohl in Helden wie wir diese drei Vorbilder oder ‚Helden‘ also wortwörtlich als direkte Inspiration genannt werden – bei denen der intertextuelle Bezug eher verschleiert aufscheint –, habe ich trotzdem dafür gewählt, in dieser Analyse Klaus Uhltzscht zwei andere Romanfiguren entgegenzustellen. Wie unter anderen Heide Hollmer8 und Tanja Nause9 erwähnen, gibt es zwischen Helden wie wir und noch vielen anderen literarischen Werken komplexe intertextuelle Bezüge: unter anderen zu Sigmund Freud (später in dieser Arbeit ausführlich zu behandeln), zu den Werken von Christa Wolf (Der geteilte Himmel, 1973, aber auch Was bleibt, 1979, und „Sprache der Wende“, ihrer Rede am Alexanderplatz in Berlin am 4. November 1989) und zu der psychoanalytischen Studie Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (1990), von Hans-Joachim Maaz. Klaus wurde als Nachkomme von ‚älteren‘ Figuren wie Gargantua und Pantagruel (François Rabelais, 1532-1534) und Simplicissimus (Der abentheuerliche Simplicissimus teutsch von Christoffel von Grimmelshausen, 1668) bezeichnet, aber stehe auch in der Tradition von ‚modernen literarischen Helden‘ wie Edgar Wibeau (Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, 1973) und T.S. Garp (The World According to Garp von John Irving, 1978). 8 Hollmer: “The next generation”, S. 113. Nause: Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie der Nachwendeliteratur. Leipzig: Universitätsverlag 2002, S. 140. 9 11 Die zwei – meines Erachtens wichtigsten – „Prätexte“10, die ich hier aber behandeln möchte, sind Die Blechtrommel von Günter Grass (1959) und Portnoy’s Complaint von Philip Roth (1969). Obwohl es alles andere als der Hauptgrund ist, weswegen ich gerade diese zwei Werke in der intertextuellen Analyse betrachte, gestand Brussig selber den intertextuellen Bezug zu diesen Werken, wie Holger Briel aufzeichnet: Bei einer Lesung am 30.10.1998 in Guildford nannte Brussig sein Buch eine Geschichte voller „Größenwahn und kruder Sexualität“. Als Modelle für seinen Text nennt er Grass‘ Oskar Matzerath und Philip Roths Portnoy’s Complaint.11 Auch Brad Prager erwähnt den intertextuellen Bezug zu diesen zwei Prätexten. Mit Portnoy’s Complaint (und anderen amerikanischen Werken) vergleicht er Helden wie wir „as regards its sexually explicit features“12. Den Vergleich zu der Blechtrommel ergibt sich aus einer ‚zweiten, deutschen Tradition‘, die Werke über die deutsche Geschichte umfasst. Genau wie Günter Grass, verknüpft auch Brussig in Helden wie wir die deutsche Geschichte mit der Sexualität seiner Protagonisten: [T]he war deformed private life in the way GDR repression and the Berlin Wall did in the case of Brussig. For both authors, sexuality becomes a means to monitor the multiple forms of freedom and constraint that directly and indirectly followed from periods of dictatorship.13 Meiner Meinung nach sind Alexander Portnoy und Oskar Matzerath die interessantesten literarischen Vorläufer von Klaus, weil sie dem Leser helfen können, die psychischen Beweggründe von Klaus Uhltzscht und die Gestaltung der Figur besser zu verstehen; außerdem lassen sich so die verwendeten rhetorischen Mittel und literarischen Traditionen, die in Helden wie wir zum Ausdruck kommen, in einen breiteren Rahmen einordnen. Einerseits weisen Oskar Matzerath und Alexander Portnoy in sich Elemente auf, die wir auch bei Klaus Uhltzscht vorfinden, wie eine gestörte Sexualität und ein doppeldeutiges Verhältnis zu der Mutter- und Vatergenerationen. 10 Zu diesem und anderen Begriffen über Intertextualität: Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 35), S. 11-20. 11 Holger Briel: “Humor im Angesicht der Absurdität. Gesellschaftskritik in Thomas Brussigs Helden wie wir und Ingo Schulzes Simple Storys”. In: Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989-1999. Hg. von Gerhard Fischer und David Roberts. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 264. 12 Brad Prager: “The erection of the Berlin Wall: Thomas Brussig’s Helden wie wir and the end of East Germany”. In: The Modern Language Review 4 (Oktober 2004), S. 983. 13 Prager: “The erection of the Berlin Wall”, S. 985. 12 Thematisch liegen diese zwei Werken also sehr in der Nähe von Helden wie wir. Sowohl in Portnoy’s Complaint als auch in der Blechtrommel werden sehr oft ideologiekritische Positionen eingenommen, in der Blechtrommel sogar direkt gegenüber Deutschland und seiner Geschichte. Die Ideologiekritik in Portnoy’s Complaint scheint mit der in Helden wie wir weniger vergleichbar, weil im erstgenannten Werk vor allem die Diskrepanz zwischen dem jüdischen Schuldkomplex und dem jüdischen Erhabenheitsgefühl kritisiert wird, aber damit ist eine scharfe Beanstandung der Mutter- und Vatergeneration verbunden, die auch in Helden wie wir eine strukturelle Rolle spielt. Andererseits bemerken wir auf formaler Ebene Parallelen, die zu deutlich sind, als dass wir daran vorbeigehen können, vor allem in Portnoy’s Complaint. Abgesehen von der Tatsache, dass Thomas Brussig selber das Buch als eine der wichtigsten (thematischen) Inspirationsquellen für sein Schreiben erwähnt – beim Lesen von „Portnoys Beschwerden […]“ habe er gemerkt, „wie wirksam es sein kann, über Sexualität zu schreiben, wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt“14 – fällt auf, wie Roth und Brussig aus demselben Arsenal von formalen Erzählstrategien schöpfen. Die als Dialog mit einer therapeutischen Instanz inszenierte monologische Erzählweise, der provokativ-hyperbolische Erzählstil, das Schlagzeilen-Reden, die biographische Annäherungsweise der Lebensgeschichte der beiden Protagonisten: Dies alles sind Elemente, welche die Ansicht berechtigen, Thomas Brussig habe seine Schreibfertigkeit dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth abgesehen. Das schlussfolgert jedenfalls Mirjam Gebauer in ihrem Vergleich zwischen den beiden Werken: Die Parallelen sind so beschaffen, dass es kein allzu großes Wagnis sein dürfte, die These zu vertreten, Brussig hätte seine grundlegende Erzählhaltung bei Roth gefunden und diese für seinen Erzählkontext entsprechend modifiziert.15 Sie nuanciert aber, indem sie sagt, dass diese These „das scheinbar so Neuartige der Helden nicht schmälern“ müsse, es aber wohl „verlagern“16 könne. Von reinem ‚CopyPaste‘ oder Plagiat könne bei Brussig also keineswegs die Rede sein. Eine weitere 14 Barbara Felsmann: “Wer saß unten im System? Icke! Thomas Brussig über DDR-Nostalgie, Sex, sozialistische Perversion und seinen Roman Helden wie wir“. In: Wochenpost 39 (21. September 1995), S. 40-41. <http://www.thomasbrussig.de/Interviews/inte2.htm> 15 Mirjam Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”. In: Orbis Litterarum 57 (2002), S. 223. 16 Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 223. 13 Nuancierung ist trotzdem erwünscht: Gebauer hat gewiss darin Recht, dass Helden wie wir erzählstilistisch ‚Schnee von gestern‘ sei, durch die Modifizierung jedoch etwas Neues, etwas Frisches bekomme, aber sie scheint Helden wie wir hier als einzigen Prüfstein der Erzählhaltung Thomas Brussigs zu betrachten. Jedoch würde sich aus einer Analyse der anderen Werke Brussigs herausstellen, dass sich die von Gebauer erwähnte „grundlegende Erzählhaltung“ nicht überall durchsetzt und der Erzählstil von Thomas Brussig auf mehr als ein reines Transponieren bestehender und erfolgreicher literarischer Traditionen gründet. Am Ende ihrer Auseinandersetzung verweist Gebauer auf ein anderes Interview17, in dem Thomas Brussig über seine Inspirationsquelle für Am kürzeren Ende der Sonnenallee spricht, wohl nicht zufällig wieder eine amerikanische, nämlich Radio Days von Woody Allen. Zuvor erwähnt sie, dass die Analyse der intertextuellen Bezüge vor allem auf produktionsästhetischer und weniger auf rezeptionsästhetischer Ebene interessant sei, aber meines Erachtens dürfen wir die produktionsästhetische Tragweite der intertextuellen Bezüge auch nicht überschätzen. Die aemulatio bleibt immerhin wichtiger als die imitatio. Auch zwischen der Blechtrommel und Helden wie wir kann man formale Parallelen aufstellen, sei es weniger im Bereich der Erzählhaltung, vielmehr in der Anwendung des Grotesken. Während Oskar Matzerath sich entscheidet, durch einen absichtlichen Treppensturz im Wachstum zurückzubleiben, sehen wir, dass Klaus Uhltzscht –der „spätgeborene Bruder von Oskar Matzerath“18 – nichts lieber will, als zu wachsen, und letztendlich durch seinen Treppensturz am Alexanderplatz auch dieses übertriebene Wachstum erlangt. Im Folgenden werde ich Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel eingehend und in ständiger Beziehung zueinander analysieren; dabei werden mir die zwei „Pfeiler“ (Humor und Ideologiekritik) als strukturierende Prinzipien der Analyse dienen. Ich werde immer Helden wie wir zum Ausgangspunkt nehmen: Eine Vorbedingung für eine eingehende und ergiebige intertextuelle Analyse 17 Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 237. Zitiert nach Volker Hage: „Jubelfeiern wird's geben“. In: Der Spiegel 36 (6. September 1999), S. 255-256. 18 Tilman Krause: “Kleine Trompete, zur großen Tuba aufgeblasen. Götz Schubert als darstellerischer Tausendsassa in ‚Helden wie wir‘ an den Kammerspielen“. In: Der Tagesspiegel 29.4. (1996), S. 20. 14 ist, dass man zuerst den „Hypertext“19 einmal an sich betrachtet. Dabei werde ich versuchen, die schon vorhandene Forschung kritisch anzugehen und ergänzend meine eigenen Befunde zu Brussigs Vergangenheitsbewältigung darzustellen. Auch werde ich untersuchen, wie Humor und Ideologiekritik in Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel wirksam sind und zur Figurengestalt von Alexander Portnoy und Oskar Matzerath beitragen. In dieser Hinsicht ist meine Analyse vor allem rezeptionsästhetisch orientiert, und werden produktionsästhetische Fragen weniger in den Mittelpunkt gerückt. Ich möchte Klaus seinen literarischen Vorfahren Oskar und Alexander begegnen lassen, sie in verschiedenen Aspekten miteinander vergleichen, Parallelen und Unterschiede feststellen, um so eine eingehende und nuancierte Charakterisierung dieser drei ‚Helden‘ darzubieten. Die Frage, warum Thomas Brussig die intertextuellen Bezüge zu Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel markiert20 oder nicht in Helden wie wir hat einfließen lassen, interessiert mich dabei weniger. Zunächst aber möchte ich als ‚Einstimmung‘ einen spezifischen intertextuellen Bezug zwischen Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel näher analysieren: die Theorien von Sigmund Freud. 19 Vgl. zu diesem Begriff Broich, Pfister (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, S. 17. 20 Broich, Pfister (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, S. 33. 15 1. Eine Einstimmung: Freudsche Überlegungen Bevor ich zur Analyse des Humors und der Ideologiekritik übergehe möchte ich zunächst einen anderen intertextuellen Bezug in den drei Romanen näher betrachten: die Theorien des Psychoanalytikers Sigmund Freud, insbesondere seine Befunde über den Ödipuskomplex einerseits, und über Humor andererseits. In Helden wie wir und Portnoy’s Complaint sind die intertextuellen Bezüge zu den Theorien von Sigmund Freud markiert: Sowohl Klaus Uhltzscht, als auch Alexander Portnoy sind mit Freud vertraut und erwähnen ihn und seine Theorien mehrmals. Als Klaus am Ende seiner vorläufigen Lebensgeschichte in den Westen kommt, wird er unmittelbar von einem Westberliner Fotografen in die Pornoindustrie eingeführt. Ein neuer Höhepunkt in seinem Streben, der Perverseste aller Perversen zu werden, ergibt sich: Dasjenige, was Klaus (mit dem „ist der aber klein“-Penis [HWW: 190]) vor der Wende in aller Heimlichkeit beschäftigte, nämlich die Mission von „Perversionen für alle!“ [HWW: 247], kommt jetzt in Griffnähe. Diese Perversionsforschung, die Klaus 2005 veröffentlichen will, soll die letztendliche Hommage an Sigmund Freud werden, dessen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie dann ihren hundertsten Jahrestag haben. In Freud findet Klaus einigermaßen einen anachronistischen ‚partner in crime‘, weil der in dieser Sexualtheorie die Perversionen, von Freud ‚Deviationen‘ genannt, ausführlich beschreibt. Auch in Portnoy’s Complaint wird Freud häufig erwähnt: Schon im Prolog des Buches, der eine Definition des Titels aus der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse gibt, wird an den Vater der Psychoanalyse erinnert, aber es gibt auch sonst im Buch eine Menge explizite Verweise. Alexander kennt sich mit den Konzepten Freuds offensichtlich sehr gut aus: „But then all the unconscious can do anyway, so Freud tells us, is want. And want! And WANT! Oh Freud, do I know!“21 Er masturbiert sogar mit einem Band aus Freuds „Collected Papers“ [PC: 185] in der Hand: Er zitiert aus dem Essay „Über Die Allgemeinste Erniedrigung Des Liebeslebens“, nimmt dabei die Arbeit von Dr. Spielvogel vorweg und unterzieht sich selber und sein Liebesleben einer Psychoanalyse anhand der Theorie der „currents of feeling“ [PC: 185]. Im Vorliegenden möchte ich aber eine andere Theorie von Freud erforschen, die in Portnoy’s Complaint Alexander selber intertextuell markiert, die aber auch in Helden 21 Philip Roth: Portnoy’s Complaint. London: Vintage 2005, S. 103. Auf Portnoy’s Complaint wird weiter im Text folgendermaßen verwiesen: [PC: xx]. 16 wie wir und der Blechtrommel – weniger oder nicht-markiert – vorzufinden ist. Die drei Protagonisten kämpfen nämlich alle mit einem Ödipuskomplex und stellen, in Alexanders Worten, eine „culmination of the Oedipal drama“ [PC: 266] dar. Dass in dieser Analyse von Humor noch keine Rede sein kann, wäre an Alexander Portnoys Worten zu verstehen „Oedipus Rex is a famous tragedy, schmuck, not another joke! […] Oedipus Rex is the most horrendous and serious play in the history of literature – it is not a gag!” [PC: 266-267] Den Freudschen Überlegungen, ‚Part One‘ folgt in ‚Part Two‘ eine Überleitung zum nächsten Pfeiler der intertextuellen Analyse, dem Humor. Dabei werden mir zwei Texte über Humor methodologisch zum Bezugspunkt dienen, nämlich Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) und – in geringerem Maße – Der Humor (1927). In dieser überleitenden Analyse wird auf Helden wie wir fokussiert, auch weil die Intertextualität mit den zwei Vergleichsromanen nach meinem Empfinden auf dieser Ebene kaum oder gar nicht wirksam ist. Für Die Blechtrommel würde die Untersuchung nach den vier Tendenzen des Witzes, wie Freud sie in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten beschrieben hat, nicht aufschlussreich sein. Für Portnoy’s Complaint wäre eine solche Analyse schon nützlich, würde aber die intertextuelle und strukturelle Trias Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel durchbrechen. 1.1. Part One: der Ödipuskomplex Um uns über die Ödipuskomplexe, an denen Klaus, Alexander und Oskar leiden, Einblick zu verschaffen, ist es wichtig, dass wir zuerst genau dem nachgehen, was Freud mit diesem Begriff meint. Er redet von einem ödipalen Begehren, wenn das Kind im Unterbewussten ein sexuelles Begehren nach der Mutter aufweist. Gegenüber dem Vater fühlt das Kind eine unbewusste Rivalität, die im günstigsten Fall letztendlich verschwindet und durch Identifizierung und Anerkennung ersetzt wird22. Diese Konstellation finden wir in jedem der drei Romane vor: Klaus rechnet im zweiten Kapitel des Buches, ‚Der letzte Flachschwimmer‘, mit einer Art von Ödipuskomplex 22 Über den Ödipuskomplex hat Freud sich in vielen seiner Vorlesungen ausführlich geäußert: Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge. Studienausgabe Conditio humana: Band I. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt: S. Fischer 1969, S. 324-332, S. 558-560. 17 ab, indem er die problematische und oft doppeldeutige Beziehung zu seiner ‚perfekten‘ Mutter und dem ‚Stinkstiefel‘, der sein Vater ist, schildert. Alexander umschreibt seine Mutter schon im ersten Satz des Buches als „The Most Unforgettable Character I’ve Met“, betont ihre Vollkommenheit – „It was my mother who could accomplish anything“ [PC: 11] – und stellt seinen Vater entsprechend als Schwächling dar. Und auch in der Blechtrommel zeigt Oskar nur Liebe für Agnes Matzerath (und später für seine Stiefmutter Maria Truczinski), während ihn seine zwei Väter kalt lassen. Wenn wir diese psychoanalytische Theorie auf die Kindheit von Klaus anwenden, zeigen sich einige interessante Parallelen und Kontraste. Lucie Uhltzscht ist die Göttin des kleinen Klaus, die Inkarnation von „Zuverlässigkeit! […] Kompetenz! […] Engagement! […] Unbestechlichkeit!“ [HWW: 25]. Obschon wir bei Klaus kein sexuelles Begehren nach seiner Mutter spüren können, stellen wir doch fest, dass Mutterfiguren wie Jutta Müller, die „Alterspräsidentin [s]einer sexuellen Phantasien“ [HWW: 285] eine rein sexuelle Lust erregen23.Trotzdem ist er durch seine Kritik an seiner Mutter ein ‚undankbarer Sohn‘, aber anfangs ist es für ihn doch sehr schwierig, sich negativ über seine Mutter zu äußern: „Gibt es keine Möglichkeit, über sie zu sprechen, ohne sofort ein Loblied anzustimmen?“ fragt Klaus verzweifelt [HWW: 26]. Als Lösung seines Gewissenskonflikts listet er drei positive oder sogar schwärmende Erinnerungen an seine Mutter auf, damit er danach ruhig Gift und Galle spucken kann – Es scheint, als ob er dadurch einen symbolischen Muttermord (statt des von Freud erwähnten Vatermordes) verübt, denn weiter in der Geschichte gibt es von dieser Vergötterung keine Spur mehr. Klaus ist in seiner Kindheit also ein richtiges Muttersöhnchen. Die Trennung von seiner Mutter als Klaus ins Ferienlager fährt, lässt er als das schrecklichste Ereignis seines Lebens aufzeichnen [HWW: 48]. Von Liebe oder sogar einer neutralen Beziehung zum Vater ist dagegen kaum die Rede. Freud redet in seiner Theorie des Ödipuskomplexes von einer Rivalität, die der Sohn mit dem Vater austrägt. Die Gefühle zwischen Klaus und seinem Vater können wir schwerlich als rivalisierend kennzeichnen, vielmehr spricht daraus eine gegenseitige Enttäuschung: 23 Dass später auch Minister Mielke zum Objekt der Wichsphantasien von Klaus wird, möchte ich jetzt übergehen und in der Analyse der vier Tendenzen des Witzes näher betrachten. 18 Er sagte nicht mal meinen Namen! Niemals habe ich aus seinem Munde meinen Namen gehört! [HWW: 10] Über den Namen-Komplex, der aus diesem Zitat hervorgeht, äußert Klaus sich übrigens öfters in seiner Erzählung. Er habe einen „so verunglückte[n], [einen] so eindeutig missratene[n] Name[n]“ [HWW: 42], dass wir ihn wohl als die primäre Ursache – als ein „Menetekel“ [HWW: 43] – seines Minderwertigkeitsgefühls bezeichnen können. Er analysiert seinen Namen wie folgt: „ Klaus steht für meine leidenschaftliche Artigkeit […] und Uhltzscht für mein Abstrampeln, dass ich jede, aber auch jede Anstrengung auf mich nahm, um meine Mutter nicht zu enttäuschen.“ [HWW: 43] Der Hass gegen seinen ‚widerwärtigen‘ Nachnamen wird hier einerseits mit der Zuneigung für seine Mutter verknüpft, und andererseits mit dem Hass gegen seinen Vater, der für diesen Namen ‚der Schuldige‘ ist. Die Gegensätzlichkeit zwischen Klaus‘ liebevoller Beziehung zu seiner Mutter und seiner unterkühlten Beziehung zu seinem Vater wird dadurch aufs Neue bestätigt. Oh, was wollte er von mir? Sagen Sie es mir? Gibt es denn keinen Menschen, der mir verraten kann, wie ich hätte sein sollen, was ich hätte tun können, damit so was wie Atmosphäre zwischen mir und diesem demoralisierenden Vater aufkommt! […] Der Gedanke, dass er mich um irgendwas beneiden könnte, kam mir nie. [HWW: 40] Klaus weist im letzten Satz auf eine väterliche Missgunst hin, die aber nicht spezifiziert wird. Deutlich ist, dass Eberhard Uhltzscht seinen Sohn nicht leiden kann, seine Gründe dafür sind weniger klar. Vielleicht beneidet er seinen Sohn wegen der Sonderbehandlung, die er ständig von der Mutter bekommt, oder wie Klaus selbst ahnt, liebt er seinen Sohn, aber „kann er sich nur nicht so richtig zeigen“ [HWW: 37]. Seinerseits zeigt Klaus die Identifizierung mit seinem Vater – die nach Freud entsteht, nachdem der Ödipuskomplex gelöst wurde – schon früh in seiner Kindheit auf, wie er auch seinem Interviewer erzählt: „Mr. Kitzelstein, wenn ich je zu einem Menschen aufblickte, dann zu ihm.“ [HWW: 37] Die Identifizierung erreicht ihren Höhepunkt im Augenblick, in dem Klaus genauso wie sein Vater bei der Stasi arbeiten geht. Zugleich fällt diese Entscheidung zusammen mit dem einzigen Moment, da Vater Uhltzscht für seinen Sohn Interesse zeigt: „Von da an war ich ein Mensch ohne Selbstwertgefühl – bis mein Vater eines Tages die Zeitung herunterklappte und sagte: Sag mal, du fängst doch auch bei uns an.““ [HWW: 92] 19 Klaus‘ Haltung gegenüber seinem Vater hat sich im Moment des Erzählens jedoch durchgreifend geändert: Klaus hat sich irgendwann nicht länger Mühe gegeben – die sowieso vergeblich war –, den Erwartungen seines Vaters zu entsprechen, und bewundert ihn, „das Monster“, „die Scheiße in Menschengestalt“ [HWW: 267] nicht mehr. Er nimmt sich seinen Vater nicht länger zum Vorbild und fragt sich sogar explizit, was er tun kann, um nicht wie er zu enden. Nach seinem Tod nimmt Klaus Rache wegen der lebenslangen Demütigung: Ich schlug die Decke zurück und sah mir das an, was er immer vor mir versteckte: seine Eier. […] Ich konnte für zwanzig Sekunden seine Eier quetschen. Er hat meine zwanzig Jahre gequetscht, so wie sie aussehen. Es gibt Dinge, die ich getan habe und heute am liebsten ungeschehen machen würde. Das nicht. [HWW: 268] Diesen Vorgang können wir einigermaßen auch mit Freuds Theorie der Kastrationsangst24 verknüpfen. Die Kastrationsangst ist nach Freud die Ursache der Lösung des Ödipuskonflikts: Das Kind gibt die sexuelle Begierde nach seiner Mutter auf, verdrängt sie, weil es Angst hat, dass der Vater ihn zur Strafe für diese Gefühle kastrieren könnte. Der junge Klaus fühlt sich jedoch nicht von einer Kastration bedroht, bei ihm sehen wir eher das Gegenteil, indem er sich über seinen wachsenden Penis Sorgen macht: „Und wenn ich mal ein Mann bin – sehe ich eines Tages ebenfalls aus wie ein Afrikaner? Mein niedliches kleines Zipfelchen wächst nicht brav mit und wird ein etwas größeres Zipfelchen?“ [HWW: 55] Später in seinem Leben, als er nach einem Treppensturz den ‚Riesenschwanz‘ bekommt, mit dem er die Berliner Mauer zum Einsturz bringt, wird sich zeigen, dass er damals das Schlimmste noch gar nicht geahnt hatte. Die dargestellte Rache von Klaus an seinem Vater ist eine umgekehrte Art von Kastration, weil jetzt sich der Sohn an seinem Vater ‚vergreift‘: Es ist ein postumer, symbolischer Vatermord. Eberhard Uhltzscht wird durch diese Handlung von seinem Sohn entmachtet. Die Tatsache, dass Klaus erst nach dem Tod des Vaters es wagt, seine Rache auszuüben, ist kennzeichnend für seine Feigheit, aber die Rache bildet trotzdem einen Wendepunkt in seinem Leben. Der Tod des Vaters ist unmittelbar mit dem Anfang von Klaus‘ allmählicher Revolte gegen die DDR, ihre Stasi und ihre Ideologie verknüpft. Er erzählt über den Tod seines Vaters an zwei Stellen im Buch, die unmittelbar vor und nach der Erzählung seiner Konfrontation mit der „echten Stasi“ 24 Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge, S. 522 und S. 559. 20 kommen25. Diese Konfrontation, die Klaus zum persönlichen Blutspender von Erich Honecker macht, ist eine der letzten Gelegenheiten, bei denen Klaus sich – eben unbewusst – in den Dienst der Stasi stellt. Im siebten Kapitel, ‚Der geheilte Pimmel‘, erzählt er den Ablauf seiner Revolte, die in dem von ihm verursachten Umschmeißen der Berliner Mauer kulminiert. Der symbolische Vatermord ist also ein Vorbote des Mordes an der DDR. Diese Beziehung zwischen der Vatergeneration und der DDR und Stasi wird später in dieser Arbeit ausführlicher erläutert. Sophie Portnoy, geborene Ginsky, ist für den kleinen Alexander dieselbe Göttin, die Lucie für Klaus ist: Auch Alex dichtet seiner Mutter die Qualitäten einer Superheldin an. Sie schafft die schönsten Marmorkuchen, trotzt mit ihrem „jello […] with sliced peaches hanging in it“ [PC: 11] den Gravitationsgesetzen; Alexander glaubt sogar, sie habe Transformationskräfte, könne außerdem fliegen und sei daher überall, wo auch Alex ist. Obwohl sie nicht als Hygieneinspektorin tätig ist, wie Lucie Uhltzscht, könnte sie für diesen Job sofort eingestellt werden, denn auch ihre „energy!“ und „thoroughness!“ sind maßlos: For mistakes she checked my sums; for holes, my socks; for dirt, my nails, my nick, every seam and crease of my body. She even dredges the furthest recesses of my ears by pouring cold peroxide into my head. […] A medical procedure like this (crackpot as though it may be) takes time, of course; it takes effort, to be sure – but where health and cleanliness are concerned, germs and bodily secretions, she will not spare herself and sacrifice others. [PC: 12] Genauso wie bei Klaus ist Alexanders Verhältnis zu seiner Mutter im Moment des Erzählens nicht mehr das liebevolle, das es einst gewesen ist: Die beiden Mütter sind nur noch kontrollierende, sich in alles einmischende Besserwisserinnen, die ihren Söhnen ständig Schuldkomplexe aufhalsen. Wie Klaus fängt auch Alex erst mit einem Muttermord, einer ausführlichen Darstellung der Qualitäten seiner Mutter an, damit er sie später ohne allzu viel Schuldgefühle kritisieren kann – obwohl er diesen Vorgang nicht expliziert. Es ist bedeutend, dass das sexuelle Leben der zwei Protagonisten Alex und Klaus – und, wie wir sehen werden, auch dasjenige von Oskar – mit dem Begehren einer Mutterfigur anfängt. Mag schon – wie sich herausgestellt hat – Klaus gegen seine eigene Mutter kein sexuelles Begehren aufweisen (aber schon gegen Mutterfiguren), so finden wir in Portnoy’s Complaint die erotische Komponente zwischen Alex und seiner 25 Klaus‘ Überlegungen der echten und unechten Stasi finden Sie auf S. 256-258 und S. 266-267. 21 Mutter schon vor. Alexanders erste Bekanntschaft mit sexueller Erregung erfolgt, als er seine Mutter beim Anziehen beobachtet: … I am so small I hardly know what sex I am, or so you would imagine. […] She sits on the edge of the bed in her padded bra and her girdle, rolling on her stockings and chattering away. Who is Mommy’s good little boy? […] Ah, it might be cunt I’m sniffing. Maybe it is! Oh, I want to growl with pleasure. Four years old, and yet I sense in my blood – uh-huh, again with the blood – how rich with passion is the moment, how dense with possibility. [PC: 44-45] Sophie trägt in großem Maße selbst zu den ödipalen Gefühlen ihres Sohnes bei: Während der Kindheit verherrlicht – „Albert Einstein the Second!“ [PC: 4] – und bemuttert – „Who is Mommy’s good little boy?” [PC: 45] – sie ihn, was er sich wohl gefallen lässt. Später aber, nachdem Alex schon längst erwachsen ist, nennt sie ihn zu seiner Empörung noch immer ihren Liebhaber – „Her lover she calls me, while her husband is listening on the other extension!“ [PC: 97]. Der Ödipuskomplex löst sich in Portnoy’s Complaint also eigentlich nie auf: Auch Alexander selber muss feststellen, wie ein ödipales Begehren noch immer sein erwachsenes Sexualleben prägt. Er erlebt die ‚Kulmination des Ödipuskomplexes‘ ganz bewusst, indem er sich Hals über Kopf in Naomi verliebt, die mit ihren roten Haaren und Sommersprossen das Abbild seiner Mutter, ein „mother-substitute“ [PC:266] ist26. Auch Jack Portnoy fügt sich unbewusst perfekt in die ödipale Konstellation ein. Während Alex’ Kindheit ist er eine abwesende Figur, an der Alex bewusst eine Rivalität aufweist. Jack Portnoy sei nur „a man who lives with us at night and on Sunday afternoons“, ein Mann, den Alex gerne loswerden möchte, sodass er seine Mutter mit niemandem teilen muss: „This man, my father, is off somewhere making money, as best he is able. These two are gone, and who knows, maybe I’ll be lucky, maybe they’ll never come back…” [PC: 45] Diese Rivalität verschwindet tatsächlich, aber weder die von Freud ebenfalls beschriebene Anerkennung, noch die Identifikation tritt in Portnoy’s Complaint an ihre Stelle – abgesehen von dem Moment, in dem Alex 26 Dass Alexander gerade bei Naomi impotent wird, möchte ich erst in der Analyse der Ideologiekritik behandeln, weil ich diese Impotenz eher als Folge der unterschiedlichen Ideologie betrachte, als dass sie mit dem Ödipuskomplex zusammenhängt. Ich möchte jetzt jedoch schon die Parallelen zu Klaus und Oskar vorwegnehmen: Klaus erlebt bei Yvonne eine Impotenz, Oskar bei Schwester Dorothea. Auch diese letztere ist das Abbild der Mutter des Protagonisten (Agnes war vor der Geburt Oskars als Krankenschwester tätig), bei Yvonne gibt es aber keine Übereinstimmungen mit Lucie Uhltzscht. Auch diese Impotenz wird in der Analyse der Ideologiekritik eingehender betrachtet. Bei Oskar sehe ich keine Verbindung mit einer ideologiekritischen Komponente, eher ein Abschwören der Gefühle der Liebe oder Emotionen im Allgemeinen. 22 beschreibt, wie er mit seinem Vater ins türkische Bad geht. Die Bewunderung und Anerkennung, die Alex seinem Vater hier bezeugt, ist eine sexuelle, im Gegensatz zur Klaus‘ Bewunderung für seinen Vater, die alles andere als eine sexuell geprägte ist, denn „[s]ein Vater zeigte sich niemals nackt!“ [HWW: 54]. Klaus spricht fast mit Abscheu über die „Pimmel wie die Wilden in Afrika“ [HWW: 55-56], und wenn er sich von der üblichen Penisgröße – übrigens auch in einem Schwimmbad [HWW: 55] – bewusst wird, spielt sein Vater dabei keine Rolle. Alexander dagegen betrachtet die Intimteile seines Vaters als phallisches Symbol von Kraft und Selbstständigkeit, und kann nicht warten, bis sein „fingertip of a prick“ [PC: 50] genauso groß ist wie die ‚schlong‘ seines Vaters: „Schlong: the word somehow catches exactly the brutishness, the meatishness, that I admire so“ [PC: 50]. Jack Portnoy löst die Erwartungen seines Sohnes aber nicht ein, und darin spielt Sophie Portnoy‘s Dominanz eine wichtige Rolle: I want like he does to shift the tides of the toilet bowl! “Jack,” my mother calls to him, “would you close that door, please? Some example you’re setting for you know who.” But if only that had been so, Mother! If only you-know-who could have found some inspiration in what’s-his-name’s coarseness! [PC: 50] Schon früh sieht Alexander ein, dass sein Vater eigentlich eine schwache Figur, ein Pantoffelheld, ein „schmegeggy” [PC: 97] ist (was so viel wie ‚Idiot’ bedeutet), der nicht einmal ein Schlagholz richtig anfassen kann. Auch er wird durch eine ScheißeMetaphorik – die in Helden wie wir wohl als intertextueller Bezug zu Portnoy’s Complaint erscheint – charakterisiert: „He stands there, a blank, a thing, a body full of shit and no more.“ [PC: 116] Die Rollenerwartung wird bei den Portnoys öfters völlig zerstört: So ist es Sophie, die ihrem Sohn lehrt, „to piss standing up […] like a big man“ [PC: 132]. Alexander ist sich dieser Rollenumkehrung ganz bewusst und beschwert sich darüber, dass er in seinem Vater nie ein richtiges Vorbild gehabt hat: „Christ, in the face of my defiance – if my father had only been my mother! and my mother my father! But what a mix-up of the sexes in our house!“ [PC: 41] Während Klaus in der Kindheit für seinen Vater eine gewisse Bewunderung fühlt, die sich später in Hass verwandelt, erfährt Alexander keine wirkliche Hass, sondern Mitleid. Dieser Unterschied hat meines Erachtens damit zu tun, dass Eberhard Uhltzscht sich nichts aus seinem Sohn macht, während Jack Portnoy seinen Sohn wirklich liebt: „Among his other misfortunes, I was his wife’s favorite. To make life harder, he loved me himself.“ [PC: 5] Alexander laviert 23 zwischen zwei einander entgegengesetzten Emotionen (Liebe und Hass) und kann sich nicht dazu bringen, eine Wahl zu machen. But what he had to offer I didn’t want – and what I wanted he didn’t have to offer. Yet how unusual is that? Why must it continue to cause such pain? At this late date! Doctor, what should I rid myself of, tell me, the hatred… or the love? [PC: 27] Um diese Wahl zu treffen, wäre es einfacher, wenn Jack einen ‚Stinkstiefel‘, oder zumindest eine Figur mit auch nur einem Schimmer von Autorität gewesen wäre, wie Eberhard Uhltzscht. In Helden wie wir fürchtet Klaus die bösen Worte und Zorn seines Vaters, in Portnoy’s Complaint soll Alexander sich verbeißen, nicht selber gegen seinen schwachen Vater in Wut zu geraten. Er spielt somit auf einen Vatermord an, der nicht so sehr aus einem Streit um die Mutter hervorgeht, sondern aus religiösen Gründen: […] – for as time went on, the enemy was more and more his own beloved son. Indeed, during that extended period of rage that goes by the name of my adolescence, what terrified me most about my father was not the violence I expected him momentarily to unleash upon me, but the violence I wished every night at the dinner table to commit upon his ignorant, barbaric carcass. [PC: 41] Alexander verübt einen symbolischen Vatermord, indem er der Religion seines Vaters abschwört: Jack Portnoy erfährt Alex‘ Ungläubigkeit als einen Anschlag auf sein eigenes Leben, „as though he has just taken a hand grenade in his stomach.“ [PC: 63] Wie Alex‘ Liebe für Naomi illustriert, wird in Portnoy’s Complaint der Ödipuskomplex eigentlich nie gelöst, aber Alex versucht trotzdem, sich aus dieser Konstellation zu befreien. Wir können das Mitleid, das er für seinen Vater fühlt, einigermaßen mit der Kastrationsangst27 verknüpfen, die Freud als Lösung des Ödipuskomplexes betrachtet. Die Angst, dass Jack Portnoy Alex zur Strafe für die Liebesgefühle zu seiner Mutter kastrieren könnte, kommt im folgenden Zitat zum 27 Alexanders Kastrationsangst nimmt eine ganz andere Wendung, als ihm seine erste sexuelle Erfahrung (mit Bubbles Girardi) bevorsteht [PC: 167]. Er gerät in Panik und bildet sich ein absurdes Katastrophenszenario ein, in dem sein Penis vor den Augen seiner Eltern abgestorben herunterfällt, weil er von Bubbles (oder Smolka) mit Syphilis infiziert wurde. Es scheint, als ob er sich seine Strafe vorstellt: Erstens, weil er gegen die hygienischen Prinzipien, die er von seiner Mutter mitbekommen hat, verstoßen wird; zweitens, weil er ein unverlässliches Kondom gebrauchen wird; und, last but not least, drittens, weil er mit einem nicht-jüdischen Mädchen sexuellen Verkehr haben wird. Dass er sich gerade nach dieser Beschreibung mit Religionskritik auseinandersetzt, spricht dafür, dass Klaus‘ Kastrationsangst hier eher durch die Angst vor seiner jüdischen Religion (statt vom Vater) eingegeben wird. In der Analyse der Ideologiekritik werde ich mich mit dieser Interpretation weiter befassen. 24 Ausdruck, wird aber gleich mit dem bedauernswerten Bild des unfähigen Vaters gekontert: […] Mommy still hitches up the stockings in front of her little boy. Now, however, he takes it upon himself to look the other way when the flag goes fluttering up the pole – and out of concern not just for his own mental health. That’s the truth, I look away not for me but for the sake of that poor man, my father! Yet what preference does Father really have? If there in the living room their grown-up little boy were to tumble all at once onto the rug with his Mommy, what would Daddy do? Pour a bucket of boiling water on the raging maddened couple? Would he draw his knife – or would he go off to the other room and watch television until they were finished? [PC: 46] Von einer richtigen Angst vor seinem Vater ist aber nie die Rede. Es ist Alex’ Mutter, die ihre Messer hervorzieht [PC: 16] und alles daran setzt, damit Alex ihr lieber und artiger kleiner Junge bleibt: „Who else was so lucky as to have the threat of castration so straight-forwardly put by his momma?“ [PC: 257] Die Blechtrommel zeigt im Bereich des Ödipuskomplexes zwei Konstellationen, weil Oskar mit zwei Mutterfiguren und sogar auch zwei Vaterfiguren abzurechnen hat. Die erste ödipale Konstellation ist diejenige zwischen Agnes (sie ist die einzige, die Oskar versteht und der er anfänglich seine Liebe zeigt), den zwei Vaterfiguren Jan Bronski und Alfred Matzerath, und Oskar selbst. Im Gegensatz zu Alexander und in Übereinstimmung mit Klaus zeigt Oskar sein sexuelles Begehren nach seiner Mutter nie explizite, aber es ist schon implizite anwesend: Oskar möchte nichts lieber, als in die Geborgenheit von Agnes‘ Gebärmutter zurückkehren. Diese Sehnsucht wird Oskar nie loswerden: So stellt auch Neuhaus fest, dass für Oskar „im Liebesakt immer die Rückkehr in den Mutterleib gemeint ist“28. Später, nachdem seine Mutter schon längst verstorben ist, symbolisiert er diese Sehnsucht, indem er in der Geborgenheit von Schwester Dorotheas Kleiderschrank masturbiert. Oskars sexueller Hang zu Krankenschwestern29 (nicht nur Schwester Dorothea, sondern auch Schwester Inge und Schwester ‚Erni oder Berni‘ fordern Oskars Zuneigung und sogar Erregung heraus) stammt übrigens aus dem unbewussten Begehren nach seiner Mutter. 28 Volker Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. München: Oldenbourg 1982 (Interpretationen für Schule und Studium), S. 91. 29 Die früheren professionellen Tätigkeiten von Agnes Matzerath und Lucie Uhltzscht weisen auch einen intertextuellen Bezug auf: Oskars Mutter Agnes war früher Krankenschwester, Lucie unterbricht eine ähnliche Karriere als Fachärztin. Dieser Bezug ist übrigens auch in The World According To Garp (John Irving) vorzufinden: Die Mutter von T.S. Garp – der in Helden wie wir beim Namen erwähnt wird [HWW: 155] und mit dem Klaus schon oft verglichen wurde – ist auch als Krankenschwester tätig. 25 Gegenüber seinen zwei mutmaßlichen Vätern empfindet Oskar nicht wirklich eine Rivalität, aber doch keineswegs so etwas wie Liebe: Er akzeptiert ihr Dasein einfach, ohne weder Sympathie, noch Abneigung30 [DB: 374] zu zeigen. Nachdem Agnes aber gestorben ist, ist Oskar jedoch auf ihre zwei Liebhaber neidisch. Wie Meister Bebra es treffend analysiert: „Aus purer Eifersucht grollen Sie Ihrer toten Mama. Weil sie nicht Ihretwegen, vielmehr der angestrengten Liebhaber wegen ins Grab ging, fühlen Sie sich zurückgesetzt.“ [DB: 219] Außerdem trägt sie das Kind eines dieser zwei Männer, und bietet so einem Anderen die Geborgenheit, nach der Oskar sich so sehnt. Implizite wäre sogar eine Feindschaft vorzufinden: Dass er ausgerechnet sein drittes Lebensjahr wählt, um „sein Wachstum einzustellen“, kann nur – das dritte Lebensjahr ist nach den Psychologen gerade die Zeit, in der sich der Ödipuskomplex bildet – dahin gedeutet werden, dass er hier das Opfer seiner ihm unbewussten, seine normale Entwicklung in Frage stellenden Feindschaft gegen den Vater wird.31 Dass Oskar erst weiterwächst, nachdem seine zwei mutmaßlichen Väter gestorben sind, spricht auch für diese Feindschaft-These. Die zweite ödipale Konstellation ist explizite mit Oskars sexuellem Begehren nach einer Mutterfigur und Hass gegenüber seinem Vater (d.h. Alfred Matzerath) verbunden. Jetzt nimmt Maria die Mutterrolle ein: Nicht nur ihr Name deutet auf ihre Ur-Mütterlichkeit hin (zudem identifiziert Oskar sich mit dem Sohn Jesus: „Eineiig! Der hätte mein Zwillingsbruder sein können.“ [DB:180]), sie ist auch diejenige, die Oskar aufs Neue eine Blechtrommel schenkt, wie einst seine Mutter. Sie wäre fast als eine Art Inkarnation von Agnes zu betrachten: Die (sexuell geprägte) Liebe von Oskar – der außer seiner Mutter sonst noch niemanden geliebt hat – für Maria erwacht am Strand von Brosen, wo der Sterbensprozess seiner biologischen Mutter seinen Anfang fand. Oskars ‚zweiter Ödipuskomplex‘ wird aber erst richtig manifest, als er Vater Matzerath mit Maria auf der Chaiselongue ertappt und das Liebespaar angreift. Er richtet seine Wut vor allem auf Matzerath und schlägt „ihm die Trommel ins Kreuz“ [DB: 373]. Bei Oskar bleibt der Vatermord nicht rein symbolisch wie bei Klaus und Alex. Er verübt ihn tatsächlich, und sogar zweimal: Er ermordet Jan und Alfred. Erst 30 Günter Grass: Die Blechtrommel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 200717, S. 374. Auf Die Blechtrommel wird weiter im Text folgendermaßen verwiesen: [DB: xx]. 31 Robert Leroy: Die Blechtrommel von Günter Grass: Eine Interpretation. Paris: Belles Lettres 1973, S. 62. 26 beim zweiten Erzählen stellt sich der wahre Tatbestand heraus (ein Zeichen für die Unzuverlässigkeit des Erzählers Oskar), inklusive seines Anspruchs, der Tod der Väter sei seine Verantwortlichkeit. Sowohl bei Jan, als auch bei Alfred zeigt Oskar sich sehr rachsüchtig. So machen Oskars „anklagende Gesten“ [DB: 318] Jan zum Schuldigen, sodass er von der Heimwehr erschossen wird; und öffnet er „die Nadel des Parteiabzeichens“ [DB: 531], sodass Alfred erstickt. Fast stolz berichtet Oskar über seinen Status als Mörder: „Meine Trommel, nein, ich selbst, der Trommler Oskar, brachte zuerst meine arme Mama, dann den Jan Bronski, meinen Onkel und Vater, ins Grab“ [DB: 320]. Auch beim Begräbnis seines zweiten mutmaßlichen Vaters „gestand Oskar sich ein, daß er Matzerath vorsätzlich getötet hatte [...]; auch weil er es satt hatte, sein Leben lang einen Vater mit sich herumschleppen zu müssen.“ [DB: 531] Oskar erreicht mit diesen Vatermorden aber nicht, was Ödipus in der Legende Oedipus Rex erreicht, nämlich zum Liebhaber seiner Mutter zu werden. Auch nachdem Alfred gestorben ist, kehrt Maria nicht bei Oskar zurück. 1.2. Part Two: der Humor Nicht nur die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie bringen Helden wie wir und Thomas Brussig in Verbindung mit Sigmund Freud, wie schon Elizabeth Nijdam in ihrer Diplomarbeit32 beobachtet hat. Auch Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, genau wie die Drei Abhandlungen 1905 veröffentlicht und laut James Strachey, der die psychoanalytischen Werke Freuds ins Englische übersetzte, sogar gleichzeitig geschrieben33, kann man mit den Arten von Humor, die Brussig in Helden wie wir benutzt, in Beziehung bringen. Freud bietet uns in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten eine ausführliche und komische Analyse des Witzes, in der er unter anderem die Technik des Witzes, den Lustmechanismus, den wir bei dem Witz vorfinden, die Motive und die Beziehung des Witzes zum Traum erörtert. Im Teil zu den Witztechniken schießt er den einen Wortwitz nach dem anderen ab, bei denen einige Witze aus Helden wie wir nicht schlecht anstehen würden: 32 Elizabeth Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks: Thomas Brussig’s Postalgie. University of Victoria 2007. <http://dspace.library.uvic.ca:8080/dspace/bitstream/1828/182/7/Stasi%20Sex%20and%20Soundtracks.p df> 33 Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 21. 27 „Warum heißt der Zapfenstreich Zapfenstreich?“ fragte Raymund vom Bett über mir […]. „Der Zapfenstreich heißt Zapfenstreich, weil ich mir jetzt den Zapfen streich.“ [HWW: 115] [während Klaus den Vergleich macht zwischen dem Öffnen einer Sektflasche und wichsen, mvl] Da fällt mir ein: Wie meine Eltern mit Sektflaschen hantieren. […] Der Korken knallt nie. Und wenn trotz aller Behutsamkeit sich doch mal etwas Schaum nachzuschießen erlaubt, dann geht er ins Geschirrtuch. Wie nennt man das? Safer Sekt? [HWW: 125] Viele der Witze, die Freud sammelte, sind übrigens gekonnte Proben des bekannten Judenwitzes, in denen die Selbstkritik der Juden nie weit zu suchen ist. Obwohl ich weder Portnoy’s Complaint noch Die Blechtrommel in Hinblick auf die Humor-Theorie von Freud erforschen möchte, weil uns das zu weit führen würde, meine ich trotzdem, dass eine ähnliche Analyse von Portnoy’s Complaint sehr aufschlussreich wäre. Öfters wird nämlich auf diesen Judenwitz angespielt, und Roth tischt seinen Lesern sogar einmal einen richtigen Judenwitz auf: Milty, the G.I., telephones from Japan. “Momma,” he says, “it’s Milton, I have good news! I found a wonderful Japanese girl and we were married today. As soon as I get my discharge I want to bring her home, Momma, for you to meet each other.” “So,” says the mother, “bring her, of course.” “Oh, wonderful, Momma,” says Milty, “wonderful – only I was wondering, in your little apartment, where will me and Ming Toy sleep?” “Where?” says the mother. “Why, in the bed? Where else should you sleep with your bride?” “But then where will you sleep, if we sleep in the bed? Momma, are you sure there’s room?” “Milty darling, please,” says the mother, “everything is fine, don’t you worry, there’ll be all the room you want: as soon as I hang up, I’m killing myself.” [PC: 189] Nicht auf die Techniken des Witzes möchte ich hier fokussieren, sondern vor allem auf die sogenannten Tendenzen des Witzes34, weil deutlich ist, dass Thomas Brussig mit seinem Humor nicht nur die Absicht hat, seine Leser zu unterhalten oder sie in eine angenehme Gemütslage zu bringen: Der Humor in Helden wie wir ist ein Mittel, das Brussig ermöglicht, mit der DDR abzurechnen. Bei Freud lesen wir: „Nur derjenige Witz, welcher eine Tendenz hat, läuft Gefahr, auf Personen zu stoßen, die ihn nicht anhören wollen“35, was genau die Absicht von Brussig ist. Am tendenziösen Witz sind nach Freud drei Instanzen oder Personen beteiligt: Eine, die den Witz macht, eine zweite, die das Objekt der Aggression des Witzes ist und eine ‚unbeteiligte‘ dritte, die 34 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 20068, S. 104. 35 Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor, S. 104. 28 sich den Witz anhört und „an der sich die Absicht des Witzes, Lust zu erzeugen, erfüllt“36. Diese drei Instanzen hat auch Nijdam unterschieden, aber ihre kurze Analyse braucht, meiner Meinung nach, noch eine weitere Differenzierung und Spezifizierung. Nijdam betrachtet „the narrator“37 in Helden wie wir als die erste Instanz (das wäre also Klaus Uhltzscht), während sie in den vorangehenden Absätzen immer Brussig als die ‚intendierende‘ und daher erste Instanz erwähnt. Meiner Ansicht nach ist letztere Betrachtung die richtige: Klaus Uhltzscht ist nicht der Urheber der Witze, wie zum Beispiel bei der Verwechslung von „Mikrofiches“ und „Mikrofischen“: Er macht diese Witze nicht bewusst. Den Grund dafür lege ich bei seiner großen Naivität. Diese Naivität, die ich in Bezug auf Klaus ausführlich besprechen werde, charakterisiert Freud nicht als Witz, deshalb auch nicht als tendenziös: Das Naive wird wie das Komische im allgemeinen gefunden, nicht wie der Witz gemacht, und zwar kann das Naive überhaupt nicht gemacht werden, während beim rein Komischen auch ein Komischmachen, ein Hervorrufen der Komik in Betracht kommt. Das Naive muss sich ohne unser Dazutun ergeben […].38 Die erste Instanz ist diejenige, von der die Tendenz des Witzes ausgeht, und im Buch ist nur Thomas Brussig dafür verantwortlich. Die dritte Instanz, der der Witz erzählt wird, aber selbst nicht daran beteiligt ist, sind in diesem Fall die Leser des Buches. Mit der Identifizierung der zweiten Instanz, des Objekts des Witzes, hat Nijdam unerläuterte Schwierigkeiten: „It is in the presence of the third person [at whose expense the joke is told] that things become more complicated.“39 Meiner Meinung nach lässt sich diese zweite Instanz klar ausmachen: Helden wie wir verspottet das DDR-Regime, die Stasi, die Mitläufer und die Ideologie des Sozialismus. Brussig war übrigens mit seiner Kritik noch nicht fertig, denn er hatte 1995, bei der Veröffentlichung seines Buches schon ein Auge auf eine neue ‚zweite Instanz‘ für das Freudsche Dreieck des tendenziösen Witzes geworfen: „Ich will antreten, Kritiker der Bundesrepublik zu werden, jetzt, nachdem ich ein Buch vorgelegt habe, das ganz vehement das System der DDR kritisiert hat.“40 Wie schon erwähnt, gibt es laut Freud vier Gattungen des tendenziösen Witzes: die entblößende oder obszöne, die aggressive oder feindselige, die zynische oder 36 Freud: Der Witz. Der Humor, S. 114. Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 24. 38 Freud: Der Witz. Der Humor, S. 194. 39 Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 24. 40 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 52. 37 29 kritische und die skeptische Tendenz. In Helden wie wir ist die erste Gattung die nächstliegende: Die ganze Lebensgeschichte von Klaus ist eine Aneinanderreihung von Entblößungen, sowohl auf einer buchstäblichen, eher oberflächlichen Ebene, als auch auf einer bildlichen, tieferen Ebene. Die buchstäbliche Ebene enthält die vielen Obszönitäten, über die Klaus im Laufe der sieben Kapitel erzählt. Die Szene im Schlafzimmer im militärischen Ausbildungslager der Stasi, wo René im Auftrag von Raymund beschreibt, wie er seine Frau „am liebsten nehmen [würde]“ [HWW: 120] und die Szene der Mielke-Onanie [HWW: 195] sind Beispiele dieser buchstäblichen Entblößungen. Die wichtigste buchstäbliche Entblößung findet sich jedoch schon am Anfang seines Gesprächs mit dem Journalisten Kitzelstein, und bildet später auch das Ende des Interviews (und des Buches): Er charakterisiert eins der wichtigsten Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts als die Folge der Entblößung seines ‚Pinsels‘. Diese Obszönitäten können wir als eine Art von Zoten charakterisieren, die Freud wie folgt umschrieben hat: Die Zote ist wie eine Entblößung der sexuell differenten Person, an die sie gerichtet ist. Durch das Aussprechen der obszönen Worte zwingt sie die angegriffene Person zur Vorstellung des betreffenden Körperteiles oder der Verrichtung und zeigt ihr, dass der Angreifer selbst sich solches vorstellt.41 Wie Freud es hier darstellt, hat der Angreifer eine Macht über die angegriffene Person, die gezwungen wird, sich selbst gegen ihren Willen bloßzustellen. Hier situiert sich, meiner Meinung nach, dann die tiefere Ebene der Entblößung in Helden wie wir: Der Angreifer Thomas Brussig zwingt die angegriffene Instanz, die DDR im Allgemeinen und ihr Volk im Besonderen, ‚die Hose herunterzulassen‘, er macht sie lächerlich. Die Mielke-Onanie stellt in diesem Sinne auch eine tiefere Entblößung dar: Klaus macht in seiner Naivität Minister Mielke zum Angegriffenen, zwar indirekt, indem er (in der Form eines fiktiven Briefes) seine Onanie in den Dienst der sozialistischen Ideale stellt: „mein Abspritzen war gesetzmäßig – floggfloggflogg – und unterstreicht die Gültigkeit unserer Lehre – floggfloggflogg –, der Marxismus ist allmächtig – floggfloggflogg – weil er wahr ist […] meine Onanie war der pure Patriotismus“ [HWW: 197-198]. Die 41 Freud: Der Witz. Der Humor, S. 112. 30 Sprache, die Klaus hier benutzt, ist der sozialistischen Ideologie eigen und wird durch die ‚Wichsonomatopöie‘ noch mehr lächerlich gemacht, wie auch Nijdam beobachtet42. Die zweite Tendenz, die feindselige, kann in gewissem Maße mit dem obszönen Witz in Beziehung gebracht werden, wie auch Nijdam macht, aber man muss trotzdem die Nuancen beibehalten: nach Freud diene der obszöne Witz, zur Entblößung und der feindselige zur Aggression, Satire und Abwehr43. Die obszöne Tendenz in Helden wie wir enthält bestimmt auch eine Feindseligkeit, aber wir können diese Beobachtung nicht unbedingt umdrehen: Nicht alle feindseligen Witze enthalten zugleich eine Obszönität. Die feindselige Tendenz tritt meiner Meinung nach am Deutlichsten hervor bei der Darstellung der Vater- und Muttergeneration, in der die DDR und ihr gesellschaftliches System einigermaßen personifiziert werden. Im Licht der Ideologiekritik erläutere ich diesen Punkt später in meiner Arbeit; trotzdem möchte ich hier schon ein Beispiel geben: Im siebten Kapitel ist die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf von Brussigs Feindseligkeit die angegriffene Instanz: Schon mit dem Titel dieses Kapitels verspottet er diese literarische Autorität, und macht sie und ihr Oeuvre lächerlich, indem er sich den Titel Der geteilte Himmel aneignet und in ‚Der geheilte Pimmel‘ verändert. Über seine Leseerfahrungen beim Buch von Wolf berichtet Klaus Uhltzscht in einer höhnischen Tonart: „Christa Wolf hat einen Roman geschrieben. Er ist irgendwie gewidmet.“ [HWW: 296] Ihr Werk ist ihm zu kompliziert, geziert und gekünstelt, beim Lesen fragt er sich „Wasn das? […] Wer schreibt so was?“ [HWW: 297]. Klaus verlacht sie durch den Vergleich mit einem übereifrigen Schulmädchen, das zu tüchtig versucht, ihr Bestes zu tun: „Aber den schönsten Aufsatz hat wieder unsere Christa geschrieben.“ [HWW: 297] Auch über andere Bücher von Wolf macht Klaus sich lustig, und letztendlich gestaltet er sie zur ‚Pornotexterin‘ um, indem er ein Zitat aus Nachdenken über Christa T. (1968) in seiner Karriere als Pornodarsteller verwendet: […] ich musste doch den Nachweis erbringen, dass sie die Autorin für jede, aber auch wirklich für jede Gelegenheit ist. Näheres können Sie in Erfahrung bringen, wenn Sie sich mal die Zeit nehmen, im hinteren Winkel Ihrer Videothek zu stöbern. [HWW: 310-311] Die feindselige Tendenz ist hier deutlich gegen Christa Wolf gerichtet. 42 43 Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 23. Freud: Der Witz. Der Humor, S. 111. 31 Drittens finden wir bei Freud die zynische Tendenz vor, die – wie die zwei schon erwähnten – einen kritischen, blasphemischen Angriff beinhaltet, der jetzt aber spezifisch gerichtet ist gegen […] Institutionen […], Personen, insoferne sie Träger derselben sind, Satzungen der Moral oder der Religion, Lebensanschauungen, die ein solches Ansehen genießen, dass der Einspruch gegen sie nicht anders als in der Maske eines Witzes, und zwar eines durch seine Fassade gedeckten Witzes auftreten kann.44 Durch einen Witz beißende Kritik verhüllen, ist genau dasjenige, was Thomas Brussig macht: Statt einen scharfkritischen, meinungsbildenden Zeitungsartikel zu schreiben, oder sogar eine Autobiographie, in der er unverblümt seine Kritik am kommunistischen System äußern kann, übt er seine Kritik über eine fiktionale Geschichte, die wir als einen 323 Seiten langen Witz auffassen können. Manchmal gibt es auch zynische Passagen, die nicht von einem Witz ‚verschleiert‘ werden: Sie zeigen eine Verbitterung, einen resignierten Unglauben an das angeblich Positive. Meistens gibt es diesen Zynismus bei den Beschreibungen der Mutter- und Vatergeneration; diesen Gesichtspunkt werde ich im Teil der Ideologiekritik eingehender erläutern. Viertens benennt Freud auch die skeptische Tendenz, die auf die Sicherheit unserer Erkenntnis, auf das Wissen an sich gezielt ist45. Diese Tendenz wirkt oft mit und mittels der Technik des Widersinnes, der in Helden wie wir in der Figur des StasiOberleutnants Martin Eulert am besten realisiert wird, über den Klaus sagt: „Da, wo der ist, kann nicht die echte Stasi sein.“ [HWW: 156] Die Auseinandersetzung mit ‚Eules‘ persönlicher Philosophie der „Negation der Negation“ [HWW: 156-158] führt zu einer der absurdesten und zugleich komischsten Szenen des Buches, und betont nochmal die himmelschreiende Inkompetenz und die Sinnlosigkeit desjenigen, was man bei der Stasi macht. Die Annahme einer ‚echten‘ und einer ‚falschen‘ Stasi wirkt übrigens auch skeptisch, da Klaus wirklich nicht glauben kann, dass die Stasi drei Typen wie Wunderlich, Grabs und Eule einstellen würde, und sich verliert in allerhand blühenden Fantasien von demjenigen, was die echte Stasi dann mit ihm vorhat, denn Klaus zeigt sich deutlich schon von Kindheit an (mit seinem „Fassadenprotokoll“ [HWW: 79]) als der prototypische Stasi-Agent. Mit dieser falschen Stasi wird die echte Institution der Staatssicherheit wiederum aufs Korn genommen, verspottet und verhöhnt. 44 45 Freud: Der Witz. Der Humor, S. 123. Freud: Der Witz. Der Humor, S. 130. 32 Freud definiert die Gründe für das Machen eines Witzes aus einem Lustmechanismus heran. Ich werde diesen Mechanismus hier nicht behandeln, denn das würde zu weit führen, aber Freud hat ihn selbst sehr knapp umschrieben, wie wir auf dem Umschlag von Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten lesen können: „Wenn ich den anderen durch die Mitteilung meines Witzes zum Lachen bringe, bediene ich mich seiner eigentlich, um mein eigenes Lachen zu erwecken.“ Wenn man annehmen darf, dass Lachen auch eine heilende Wirkung hat, wird dieses Lustprinzip auch für Thomas Brussig nützlich gewesen sein, denn bei der Veröffentlichung des Buches Am kürzeren Ende der Sonnenallee, das sich – zwar auf eine viel mildere Art und Weise als Helden wie wir – auch mit dem Leben in der DDR beschäftigt, sagte er: „Meine Wunden, die die DDR geschlagen hat, sind verheilt.“46 46 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 52. 33 2. Der Humor als erster Pfeiler der Analyse ‚Wer heute lacht, kann morgen weinen‘ – diese Redewendung enthält viel Wahres, aber man kann sie auch ganz einfach umdrehen: Mit einem Lachen kann man den Schmerz über unangenehme Ereignisse relativieren oder sogar einen Augenblick vergessen. Der Humor wird, abgesehen vom Alltagsleben, auch in der Literatur öfters als ein Mittel verwendet, traumatische Ereignisse zu bewältigen. Diese tröstende und relativierende Wirkung war schon in der ursprünglichen Bedeutung von ‚Humor‘, in der antiken und mittelalterlichen Physiologie, enthalten47: Das Wort beziehe sich auf die vier Körperflüssigkeiten, die die Emotionen und den physischen Zustand des Menschen bestimmten. Diese Körperflüssigkeiten hätten genau dieselbe Wirkung wie jetzt auch die rhetorische Technik Humor in der Literatur: Humor bringe den Leser in eine angenehme Gemütslage. In Helden wie wir stimmt diese primitive Auffassung des Begriffs nicht ganz, weil Brussig so viele verschiedene Arten von Humor benutzt, die bestimmt nicht immer für eine angenehme Gemütslage sorgen. Eine bekannte deutsche Redewendung umschreibt angemessener den Humor in Helden wie wir: ‚Humor ist, wenn man trotzdem lacht‘. Brussig zeigt uns die Tragik seiner Hauptfigur und des Systems, in dem er aufwächst, auf eine komische Art und Weise. Ironie, Satire, Sarkasmus und andere Äußerungen von Humor bewirken nicht nur die Relativierung eines tragischen Erlebnisses, sondern erlauben auch, dass man sich von diesem Erlebnis distanzieren kann. Julia Kormann beschreibt es in ihrer Analyse der Nachwendeliteratur wie folgt: […] sich distanzieren bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, die Augen vor Vergangenheit und Gegenwart zu verschließen, sondern jenen Abstand einzunehmen, aus dem heraus Konturen erkennbar werden, wenn der zu betrachtende Gegenstand zu nah vor Augen steht.48 Weiter zitiert sie auch Joachim Pfeiffer, der die satirischen und ironischen Stileffekte der Nachwendeliteratur charakterisiert „als den Versuch, die mangelnde Tiefenschärfe durch eine perspektivische Vertiefung des Erzählgegenstandes zu kompensieren“49. In 47 Hendrik van Gorp, Rita Ghesquiere und Dirk Delabastita: Lexicon van literaire termen. Zevende, herziene druk. Groningen: Martinus Nijhoff 1998, S. 208. 48 Julia Kormann: “Satire und Ironie in der Literatur nach 1989”. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000). Hg. von Volker Wehdeking. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000, S. 169. 49 Kormann: “Satire und Ironie in der Literatur nach 1989”, S. 169. 34 Helden wie wir gibt es daneben auch die typische Erzählsituation des Zeitungsinterviews, die Distanz herbeiführt: Klaus erzählt seine Geschichte einem Journalisten, er erzählt sein Leben buchstäblich ‚von sich ab‘, wie in einem therapeutischen Gespräch, und lässt es auf sieben Tonbändern speichern. Der Journalist, Mr. Kitzelstein, gehört überdies noch zur ‚dark side‘ des Westens, was eine räumliche und vor allem eine ideologische Distanzierung impliziert. Jeder Art von Humor, die in Helden wie wir eine spezifische Wirkung hat, werde ich in dieser Arbeit einen eigenen Abschnitt widmen. Ironie beziehungsweise Groteske und Sarkasmus sind die Formen von Humor, die in Helden wie wir die bedeutendsten Effekte erreichen, daher werden diese Formen auch eingehend analysiert. Sie operieren jedoch alle drei auf unterschiedlichen Ebenen, wie ich ausführlich darlegen werde. Erstens werde ich in der Analyse der Ironie auf die ironische Naivität von Klaus Uhltzscht fokussieren. In Zusammenhang mit dieser Ironie untersuche ich auch seinen Schelmengehalt, wobei ich die intertextuelle Komponente in Betracht nehme und eine eingehende und detaillierte Figurenanalyse der drei Protagonisten Klaus Uhltzscht, Alexander Portnoy und Oskar Matzerath durchführen werde. Ich nehme bei dieser Analyse den Schelmengehalt der Protagonisten als Leitfaden und interpretiere die Figuren nach den Kategorien im Aufsatz von Claudio Guillén, „Toward a definition of the picaresque“50. Es wird sich herausstellen, dass diese Schelme, wie sie in vielen Sekundärtexten – auf einen Nenner gebracht – umschrieben werden, trotzdem einen unterschiedlichen ‚Schelmengehalt‘ aufweisen. Zweitens untersuche ich die Groteske (als Gattungsbegriff) und das Groteske (in einzelnen Elementen) in Helden wie wir, und werde eine Neudefinierung vorstellen unter dem Begriff ‚Körpergroteske‘. Anhand dieser Definierung werde ich auch Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel als Grotesken analysieren. Drittens behandle ich auch den Sarkasmus und dessen unterschiedlichen Erscheinungsformen in den drei Romanen, als Überleitung zum Kapitel der Ideologiekritik. 50 Claudio Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”. In: Literature as System. Essays toward the Theory of Literary History. Hg. von Claudio Guillén. Princeton: Princeton University Press 1971, S. 71106. 35 2.1. Ironie, Naivität und Schelmengehalt Ich verknüpfe die erste Humorform, die Ironie, mit zwei auf den ersten Blick nicht so nahe liegenden Begriffen, nämlich der Naivität und dem Schelmengehalt. Wie ich zu diesem scheinbar heterogenen Themenkomplex angelangt bin, ist einstweilen schrittweise und logisch zu verfolgen. Die Ironie als Stilfigur hat eine klare Absicht und lässt sich also als vorsätzlich charakterisieren, während die Naivität eher unbeabsichtigt und ungekünstelt wirkt. Sie scheinen in dieser Hinsicht einander also entgegengesetzt zu sein, dennoch, wenn wir die Etymologie der Wörter beobachten, finden wir doch einige Anhaltspunkte für die Verknüpfung von Ironie und Naivität vor. Ironie stammt vom griechischen Wort ‚eironeia‘, was Verstellung, Verhehlung, und genauer, geheuchelte Unkenntnis51 bedeutet. Diesen Begriff der Unkenntnis finden wir auch in der Definition der Naivität vor, aber hier ist sie nicht geheuchelt: Die Unkenntnis zeugt von Einfältigkeit und Arglosigkeit, Eigenschaften, die wir auch bei Klaus Uhltzscht vorfinden. Die Verbindung zwischen Ironie und Naivität ist hinsichtlich der Figur Klaus Uhltzscht also logisch, weil sie die größten Effekte auf der Ebene dessen Charakterisierung erreicht. Die Verbindung zwischen Naivität und Schelmengehalt geht nicht aus der Etymologie oder Definition der Komplexe hervor, sondern hat eine theoretische, literaturwissenschaftliche Grundlage: Tanja Nauses Dissertationsarbeit Inszenierung von Naivität. Nause definiert die Nachwendeliteratur „statt mit dem abgedroschenen Terminus ‚Schelmenroman‘ – treffender mit dem Begriff der ‚inszenierten Naivität‘“52, mit dem sie, wie ich später erläutern werde, eine wertvolle Theorie vorgeschlagen hat. Trotzdem möchte ich der Frage nachgehen, ob den Terminus Schelm wirklich so ‚abgedroschen‘ ist, als Nause behauptet. Dieser Analyse möchte ich eine intertextuelle Komponente hinzufügen, und erforschen, in wie weit wir auch Alexander Portnoy und Oskar Matzerath als Schelm einordnen können. Es wird sich eine Skala verschiedener 51 Für die Erklärung der literarischen Termini habe ich mich auf die Definitionen in den zwei folgenden Lexika gegründet: Metzler Literatur Lexikon: Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart: Metzler 1984. Hendrik van Gorp, Rita Ghesquiere und Dirk Delabastita: Lexicon van literaire termen. Zevende, herziene druk. Groningen: Martinus Nijhoff 1998. 52 Nause: Inszenierung von Naivität, S. 28. 36 Schelmengehalte aufzeigen, je nachdem, wie die Protagonisten verschiedene Kriterien des Pikaresken nach Claudio Guillén53 erfüllen. Bevor wir allerdings der Schelmengehalt von Klaus, Alexander und Oskar unter die Lupe nehmen, möchte ich zuerst anhand der Definitionen im Metzler- und van Gorp-Lexikon die Ironie in Helden wie wir untersuchen. Meine Absicht ist, in diesem Abschnitt darzustellen, dass die Naivität ausgeht von und wirksam ist auf der Ebene von Klaus Uhltzscht, während die Ironie zwar ebenfalls auf dieser Ebene wirksam ist, jedoch außerdem auch von einer zweiten Ebene, der der Autorinstanz, ausgeht. 2.1.1. Die ironische Naivität von Klaus Uhltzscht Eine erste, sehr allgemeine Auslegung der Ironie finden wir bei van Gorp et al.: Ironie sei eine Stilfigur, die mit dem Kontrast zwischen demjenigen, was gesagt, gezeigt oder suggeriert wird und der eigentlichen Bedeutung der Äußerung oder Situation wirkt.54 Es gibt sozusagen eine Diskrepanz zwischen einer expliziten Äußerungsebene und einer impliziten Bedeutungsebene, wobei auf der ersten Ebene vor allem mit Übertreibung, Untertreibung und Umkehrung der zweiten Ebene gearbeitet wird. Schon das erste Kapitel von Helden wie wir bietet uns eine Häufung von Hyperbeln, bezogen auf die Figur von Klaus, und eine Umkehrung eines der wichtigsten historisch-politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, das Teil des Kollektivgedächtnisses geworden ist: der Pressekonferenz des SED-Regierungssprechers Gunther Schabowski am 9. November, auf der er Erlaubnis zur freien Ausreise in den Westen suggerierte, und mit den unzusammenhängenden Worten „das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich“55 die ersten Risse in der Mauer machte, wird von Klaus Uhltzscht als „ein Märchen“ [HWW: 6] abgetan. Er umschreibt sich selbst unverschämt als „Beendiger der Geschichte, auf der Titelseite der New York Times“ – selbstverständlich, denn wo sonst wird man so jemanden präsentieren – „Doch nur auf der Titelseite? Woanders geht’s gar nicht!“ [HWW: 8]. 53 Claudio Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 71-106. van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 223. 55 Spiegel Online: Panorama – Zeitgeschichte. Spezial: 15 Jahre Mauerfall, 09.11.2004. <http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1518,326124,00.html> 54 37 Zwei spezifische Arten von Ironie, die sowohl im Metzler Lexikon als auch bei van Gorp et al. behandelt werden, finden ihre Realisierung in Helden wie wir. Eine erste Art ist die sokratische Ironie, die wir als rhetorisches Stilmittel auffassen können. Die Strategie dieser Ironie, die von Sokrates in seinen Reden oft verwendet wurde, wird in van Gorp treffend umschrieben: „een slechts in schijn onwetende ontmaskert door een schijnbaar naïef-onschuldige vraagstelling, de absurditeiten, waanwijsheden en pretenties van een zelfverzekerde“56. Sonderbar ist, dass der ‚scheinbar Unwissende‘ und der ‚eingebildete Selbstsichere‘ ein und dieselbe Person sind, beziehungsweise Klaus Uhltzscht als erzählendes Ich und Klaus Uhltzscht als erzähltes Ich. Der erzählende Klaus umschreibt sich selbst als der ‚Schlechtstinformierteste’ und sein erzähltes Ich zeigt mehrmals Unwissenheit auf, deren glänzendste Beispiele zweifelsohne die Fehldeutung von Mikrofiche/Mikrofische und die Verwechslung von Christa Wolf mit Jutta Müller sind. Wir bezeichnen ‚den Erzähler Klaus‘ als ‚scheinbar unwissend‘: Er ist nicht mehr ganz unwissend, denn fast ständig kritisiert er das System, in dem er aufgewachsen und gebildet worden ist. Diese Kritik, die an bestimmten Stellen sehr ausgeprägt aus der Erzählung über das ‚frühere Ich‘ tritt, greift dieses Ich an, und erstreckt sich oft auch auf Vater und Mutter (Stellvertreter ihrer Generationen), und auf die Absurdität und Unmenschlichkeit der Stasi. So auch bei der Entlassung des Physiklehrers Herr Küfer: Herr Küfer bekam in den großen Ferien ein Disziplinarbeit und wurde entlassen. Niemand protestierte dagegen – soweit ich das als schlechtstinformiertester Mensch beurteilen kann. Ich protestierte auch nicht, und wenn er mich zehnmal auf die Titelseite gebracht hätte: Ich hielt es für normal. Warum auch nicht! Ich war dreizehn und dachte, wenn Lehrer und Eltern, wen die Älteren, Erfahrenen und Informierten nicht protestieren, dann werden die wohl wissen, was sie tun. Aber dass niemand etwas sagte! Das hatte etwas Unheimliches – als ob ein Erpresser im Spiel war. Vermutlich steckte die Stasi dahinter. [HWW: 74] Klaus, der also einst unwissend war, aber bei seiner Erzählung jetzt ausscheinen lässt, er sei völlig zur Einsicht gekommen, übt hier Kritik an den bedenklichen Praktiken der Stasi: Er stellt sich als scheinbar unwissend dar. Jedoch ist ‚scheinbar‘ hier auf eine doppelte Art und Weise zu analysieren: Gerade durch die Art und Weise, wie er erzählt, scheint es nur, als ob er jetzt alles sehr luzid sehen kann, aber tatsächlich ist sein 56 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 223: “Ein nur scheinbar Unwissender demaskiert durch eine dem Anschein nach naiv-unschuldige Fragestellung die Absurditäten, Überheblichkeiten und Ansprüche eines Selbstsicheren [meine Übersetzung, mvl]“. 38 Beurteilungsvermögen oft noch nicht ganz klar. Wir müssen daher damit rechnen, dass der erzählende Klaus noch immer Spüren seines Größenwahns aufzeigt, die einer einleuchtenden und eindeutigen Perzeption im Wege stehen, und dass er also noch immer einen Teil seines erzählten, unwissenden Ich in sich trägt. Deswegen müssen wir diese sokratische Ironie nicht nur Klaus zuschreiben, sondern auch der Autorinstanz, die sich hinter dieser Fassade, die die fiktive Chronik ist, versteckt, wie auch Tanja Nause bemerkt: [Die Autobiographie] ermöglicht dem Autor Brussig, seinem Helden die Gelegenheit zur ständigen Selbstinszenierung zu geben. Uhltzschts kommentierende Einschübe sind teilweise jedoch auch stark moralisch geprägt. Brussig [hat sich] für diese Form der erzählerischen Metakommentare entschieden […], hinter denen sich deutlich und unmaskiert nichts anderes als die Autorenmeinung verbirgt, […].57 Das Metzler Lexikon deutet darauf hin, dass die sokratische Ironie zugleich als eine „grundsätzlich menschliche Haltung“58 verstanden werden kann, die von einem distanziert-kritischen Verhalten bestimmt wird: Wie ich schon am Anfang des Kapitels erwähnte, erlaubt Humor im Allgemeinen und die ironische Darstellungsweise im Besonderen eine Distanzierung, wodurch die Sicht auf den betreffenden Gegenstand klarer wird und die Kritik demzufolge auch nuancierter. In van Gorp et al. wird eine zweite Art von Ironie beschrieben, die jedoch nicht so sehr verbal ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines Zusammentreffens verschiedener Umstände. Sie wird daher als ‚situationelle’ oder ‚dramatische’ Ironie gekennzeichnet: Diese Ironie „berust op de discrepantie tussen de beperkte informatie van een personage en het weten van de andere personages of van het publiek.”59 Die maßlose Unwissenheit von Klaus wirkt für den Leser humoristisch, weil er dadurch sehr oft dumme Bemerkungen macht, wie bei seiner ersten Sexualaufklärung, bei der ihm erzählt wird, das der Samen, aus dem ein Kind wachsen soll, erst beim Vater ist: „Ich konnte mir jahrelang keinen runterholen, aus Angst vor den Schreien der gemordeten Kinder…“ [HWW: 64]. Diese situationelle Ironie hängt in großem Maße zusammen mit der Naivität, die der Protagonist aufweist, und die auch Nause weitgehend erforscht hat. 57 Tanja Nause: Inszenierung von Naivität, S. 141. Metzler Literatur Lexikon, S. 213. 59 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 223: Diese Ironie „gründet sich auf die Diskrepanz zwischen der beschränkten Information einer Figur und dem Wissen der anderen Figuren oder des Publikums [meine Übersetzung, mvl].“ 58 39 Ein wichtiger Begriff hinsichtlich dieser ironischen Naivität ist das Wort ‚Blödeln‘, ein Terminus von Dieter Wellershof, den Nause in ihrer Arbeit übernommen hat. Wellershof beschreibt „den Blödelnden nun als einen „mangelhaft sozialisierte[n], infantil gebliebene[n] Mensch[en]““60: Diese Umschreibung trifft auf Klaus Uhltzscht durchaus gut zu. Die Diskrepanz zwischen seiner eigenen Kenntnis und der des Publikums ist groß, denn er „scheint nicht in der Lage zu sein, seine angebliche ‚Zurückgebliebenheit‘ wahrzunehmen“61. Wir haben jetzt die Ironie in mehreren Erscheinungsformen in Helden wie wir unter die Lupe genommen. Diese Ironie ist nicht mit nur einer der vielen Definitionen, die wir in den Lexika vorfinden, einfach zu analysieren, sondern ist vielschichtig und bezieht ihre Wirkung aus der Naivität, die bei der Hauptfigur ‚inszeniert‘ wird. Die Naivität macht die Ironie auf der Ebene des Erzählers kenntlich, aber, wie gesagt, ebenfalls auf der Ebene der Autorinstanz. In Helden wie wir steht die Ironie zu Diensten der Satire: Das Missverhältnis zwischen Darstellung und Realität wirkt einerseits komisch, aber will vor allem Kritik üben und belehren – Diese Auffassung können wir mit der vorhin erläuterten sokratischen Ironie verknüpfen. Satire ist meines Erachtens auf zwei Ebenen wirksam: innerhalb der Textrealität (Mikro-Ebene) und außerhalb der Textrealität (Makro-Ebene). Auf der Mikro-Ebene situieren sich vor allem die primären Effekte der Ironie und der Naivität: Der Spott, der unter anderem entsteht bei der Verwechslung von Jutta Müller und Christa Wolf, bei der Annahme einer ‚unechten‘ und einen ‚echten‘ Stasi und bei den zahllosen ‚oberflächlichen‘ Wortverschiebungen wie Aschloch/Arschloch und Mikrofische/Mikrofiche. Auf der Makro-Ebene spüren wir vielmehr die Autorinstanz und operiert Helden wie wir als Ganzes: Brussig schiebt eine ganz absurde Geschichte vor die tatsächliche DDR-Wirklichkeit, ‚wie sie eigentlich gewesen‘ – um es mit den Worten des deutschen Historikers Leopold von Ranke62 zu sagen –, wie die Ereignisse im Kollektivgedächtnis gespeichert sind. Dadurch macht Brussig das historische Ereignis lächerlich und übt er seine scharfe Kritik an der DDRIdeologie. 60 Nause: Inszenierung von Naivität, S. 143. Nause: Inszenierung von Naivität, S. 143. 62 Marc Boone: Historici en hun métier. Een inleiding tot de historische kritiek, Gent: Academia Press 2005, S. 177. 61 40 2.1.2. Oskar, Alexander und Klaus als Schelme? So vieldeutig Klaus Uhltzscht sich selbst in Helden wie wir charakterisiert, so eindeutig wurde er in der Rezeption des Romans bezeichnet: Er sei ein „Simplicissimus or Forrest Gump“63, und Helden wie wir ein „Schelmenroman“64, ein „Narrenspiegel“65, „a Picaresque Tale“66. Die Charakterisierung von Klaus Uhltzscht als Schelm und Helden wie wir als satirischem Schelmenroman geschah damals natürlich eher spontan, ist mittlerweile aber schon weitgehend und gestützt auf theoretische Grundlagen erforscht worden. Unter anderen Nause ist in Inszenierung von Naivität der Frage nachgegangen, ob Klaus nun wirklich ein Pikaro sei. Sie spricht von einer ‚scheinbaren Wiederkehr der Schelme‘ in der Nachwendeliteratur, und versucht nachzuweisen, dass die Einordnung verschiedener Nachwendegeschichten in die Gattung des Schelmenromans nicht stimmt. Dazu benutzt sie die Merkmale der Gattung des pikaresken Romans, wie sie Claudio Guillén67 vorgeschlagen hat. Nause unterlässt in ihrer Arbeit aber, alle acht Merkmale des pikaresken Romans spezifisch auf Helden wie wir anzuwenden und lehnt daher die Ansicht, Helden wie wir sei als Schelmenliteratur einzustufen, vielleicht zu schnell ab. Ihre Behauptung, Klaus Uhltzscht sei keinen Schelm, stimmt nach meinem Empfinden nicht: Im ersten Aspekt dieser Analyse möchte ich daher die acht Guillénschen Merkmale auf Klaus Uhltzscht anwenden, um diese These zu bekräftigen. Wie aber aus dem vorigen Abschnitt hervorgegangen ist, möchte ich die neuen Ansichten von Nause sicherlich nicht radikal ablehnen. Die zwei von ihr entgegengesetzten Begriffe, d.h. ‚Schelmenroman‘ und ‚(inszenierte) Naivität‘, schließen m. E. einander jedoch nicht aus, denn die Naivität ist in der Sekundärliteratur – auch wenn Guillén sie in seiner „Definition“ nicht erwähnt – als „eine 63 Brad Prager: “The erection of the Berlin Wall, S. 983. U.a. bei Frank Auffenberg: “Erich, Maria und Josef in Personalunion. Über Thomas Brussig.“ In: Kritische Ausgabe. Signale aus dem Kulturbetrieb, 1/2001 (Juni), S. 33, und bei Volker Wehdeking: „Mentalitätswandel im deutschen Roman zur Einheit“. In: Mentalitätswandel im deutschen Roman zur Einheit (1990-2000), S. 35. 65 Sabine Brandt: „Bleiche Mutter DDR. Thomas Brussig kuriert den Sozialismus aus einem Punkt“. In: FAZ 235 (10. Oktober 1995), S. L2. <http://www.thomasbrussig.de/Rezensionen/Buecher/Bleiche%20Mutter%20DDR.htm> 66 Carl Weber: “A Picaresque Tale. East Germany’s Last Act”. In: PAJ: A Journal of Performance and Art 65 (2000), S 142. 67 Claudio Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 71-106. Zitiert in Nause: Inszenierung von Naivität, S. 26. 64 41 Haupteigenschaft des pikarischen Helden“68 beschrieben worden. Ihre Beobachtungen bieten dennoch eine schöne und durchgearbeitete Alternative beziehungsweise Erweiterung der traditionellen Definition. Die Effekte der Naivität von Klaus Uhltzscht sind schon einige Male erwähnt worden: Die Unwissenheit, vor allem beim erzählten Ich, bewirkt, dass humoristische und ironische Effekte entstehen, weil der Leser in diesen Albernheiten den Spott des erzählenden Klaus über den erzählten Klaus und über die Ideologie, in deren Dienst er gestellt war, deutlich wahrnehmen kann. Hier trifft die Terminologie von Nause zu: Die Naivität des erzählten Klaus wird von dem erzählenden Klaus inszeniert. Wie ich auch schon bemerkt habe, wird die Erzählung über Klaus‘ Erlebnisse oft von ernsthafteren Kommentaren unterbrochen, in denen wir einen verbitterten Klaus und sogar den scharfkritischen Autor Thomas Brussig entdecken. Nause kennzeichnet diese Passagen als „Aufbrüche der inszeniert regressiven Erzählstrategie“69: An solchen Stellen zeigt sich unverblümt die Meinung des Autors, und deutlicher als hier kann die Kritik von Seiten Brussigs am Prozess der Wende und an der Situation nach 1989 nicht sein.70 Weil diese Passagen kaum noch mit ironischen Stileffekten zu begründen, vielmehr als sarkastisch und sogar zynisch zu verstehen sind, behandle ich sie weiter in meiner Arbeit, genauer: in der Analyse des ernsthaften Sarkasmus. Der zweite Aspekt ist ein intertextueller und hängt mit dem Vergleich zwischen Klaus Uhltzscht einerseits und Oskar Matzerath und Alexander Portnoy andererseits zusammen. Wenn diese zwei Figuren immer als Vorbilder und fast Prototypen für Klaus betrachtet werden, bedeutet das dann, dass auch sie als ‚Schelme‘ einzuordnen seien? Was Oskar Matzerath betrifft, könnte diese Ahnung schon stimmen: In der Sekundärliteratur wird er immer wieder als Schelm umschrieben. Der erste Satz des Klappentextes von Hans Mayer bei der dtv-Ausgabe der Blechtrommel lautet „Ein Schelmenroman, freilich“, unter anderen Willy Schumann nennt ihn einen ‚jüngeren Picaro‘71 und Manfred Kremer72 erwähnt verschiedene gleichlautende Stimmen. 68 Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“. In: The German Quarterly 46/3 (1973), S. 388 69 Nause: Inszenierung von Naivität, S. 167. 70 Nause: Inszenierung von Naivität, S. 168. 71 Willy Schumann: „Wiederkehr der Schelme“. In: PMLA 81/7 (1966), S. 473. 72 Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 382. 42 Trotzdem ist Oskar nicht naiv, was Schumann als einer der wichtigsten Qualitäten eines Schelmes betrachtet. Deswegen möchte ich auch seinen Schelmengehalt an der Definition von Guillén prüfen. Daneben ist im Vorliegenden noch zu erforschen, ob auch Alexander Portnoy anhand der Guillén-Merkmale als Schelm eingeordnet werden kann oder nicht. Im Gegensatz zu Klaus Uhltzscht und Oskar Matzerath wurde er in der Sekundärliteratur bisher noch nicht eindeutig als Schelm gedeutet. Ob die Charakterisierung als solches aufschlussreich ist, ist im Vorliegenden zu untersuchen. Jetzt schon möchte ich vorwegnehmen, dass die typische Naivität, die wir bei Klaus Uhltzscht vorfinden und die Tanja Nause als ‚Ersatzbegriff‘ für die Charakterisierung als Schelm benutzt, genauso wie bei Oskar Matzerath nicht zur Alexander Portnoys Figurengestaltung gehört – zumindest nicht zur Gestaltung des erwachsenen Alexander73. Abgesehen von der inszenierten Naivität in einigen Szenen, die die Kindheit und Adoleszenz Alexanders beleuchten (z.B. in der Eröffnungsszene, in der Portnoy beschreibt, wie er während der Kindheit seiner Mutter die Eigenschaften einer Superheldin andichtete, und beim Besuch der Familie seiner Freundin ‚Pumpkin‘, wo seine kommunikativen Fertigkeiten sich plötzlich auf „Thank you“ beschränken [PC: 220] – was übrigens auch Klaus passiert bei Yvonne, bei der er nur noch „Darf ich?“ sagen kann [HWW: 215]) – ist in Portnoy’s Complaint nicht von einem ‚dumm-naiven‘ Protagonisten die Rede. Während Klaus bei seinen Versuchen, die Vollkommenheit zu erreichen, gewöhnlich scheitert – bis zum Ende seiner Sprechproben betont er seine ‚Großtaten‘ als Versager, er wird von seiner Umgebung, vor allem von seinem Vater, öfters als lebendiger Misserfolg bezeichnet, und seine Blitzkarriere und Unabkömmlichkeit bei der Stasi ist bloß eine eingebildete – ist Alexander Portnoy viel erfolgreicher, und wird, vor allem von seinen Eltern, dafür überschwänglich gelobt. Er ist sich seiner (professionellen) Erfolge – die übrigens reell sind, nicht eingebildet, wie meistens bei Klaus Uhltzscht – auch sehr bewusst: In fact, it is exactly as it always has been: they can’t get over what a success and a genius I am, my name in the paper, an associate now of the glamorous new 73 Die (vom Protagonisten vorsätzlich) inszenierte Naivität in der Blechtrommel, die verhindert, dass Oskar, wie Klaus schon, als ‚dumm‘ charakterisiert wird, werde ich später behandeln. Oskar Matzerath ist aber keineswegs als naiv zu betrachten, wie Klaus schon (siehe dazu auch Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 388). 43 Mayor, on the side of Truth and Justice, enemy of slumlords and bigots and rats […]. [PC: 108] Weil die Schelmenanalyse bei Klaus Uhltzscht, wie sich aus der Sekundärliteratur herausgestellt hat, nicht so einfach zu einem eindeutigen Schluss zu bringen ist, und die Parallelen zwischen Uhltzscht und Portnoy zahlreich sind, wäre zu erwarten, dass auch die Analyse des Schelmengehalts beim letztgenannten Protagonisten zu differenzierten Schlussfolgerungen führen wird. Vorerst möchte ich die acht Merkmale aus der pikarischen Definition Guilléns erläutern, um sie danach gleich auf Klaus, Oskar und Alexander anzuwenden. Mit diesen acht Merkmalen sind gemeint: der Außenseiter-Protagonist, die Form der Pseudo-Biographie, der mit dem vorigen Merkmal zusammenhängende einseitige Blickwinkel, die reflexive Kritik, die der Protagonist an seinem Leben übt, die Hervorhebung des Materiellen, der kriminelle Biotop, die Darstellung eines ganzen ‚Zeitpanoramas‘ und die Bewegungen der Hauptfigur dadurch, und schließlich der episodische Aufbau. Wie er selber eingesteht, hat Guillén nie die Absicht gehabt, mit seiner Studie eine endgültige Definition des Pikaresken darzustellen – „To be sure, a full definition of the term „picaresque“ cannot be attempted here“74 –, aber wenn man jedem dieser Merkmale konsequent rechnet und sie überprüft, kann man meiner Meinung nach eine richtige Analyse des jeweiligen ‚Kandidat-Schelms‘ durchführen. 2.1.2.1. Der Schelm als halb-Außenseiter Das erste Merkmal eines Schelms hat nicht sosehr mit dem Wesen der Figur an sich zu tun, sondern mit seiner psychosozialen Situation oder mit Situationen, in die der Schelm durch seine soziale Verfassung gerät. Die Geschichte des Schelms hängt laut Guillén unverbrüchlich mit „the myth of the orphan“75 zusammen: Das Entbehren einer Vateroder Mutterfigur zwingt den Schelm dazu, ganz alleine den Eintritt in die Erwachsenenwelt zu machen, für die er eigentlich noch lange nicht fertig oder geeignet ist. Dieser ‚Mythos des Waisen‘ ist stricto sensu nicht auf den drei Protagonisten anwendbar, allerdings nicht auf Klaus und Alexander, auf Oskar Matzerath dagegen gewissermaßen schon – Der präsentiert sich selbst sogar als der Verursacher seiner Waisenschaft. Trotzdem sehen wir in den drei Romanen, wie die Figuren um eine 74 75 Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 71. Guillén: o.c., S. 79. 44 Befreiung, eine wortwörtliche Ent-Bevormundung kämpfen. Die Protagonisten haben alle eine Familie, in der sie sozialisiert worden sind, aber diese Sozialisierung oder ‚Moralisierung‘ wie die Familie sie beabsichtigte, ist bei ihnen nicht gelungen: Klaus, Oskar und Alexander „[have] not been adapted to ruling conventions“ – allerdings nicht denjenigen, die in der jeweiligen Familie herrschten – „or shaped into a social or moral person“76 – allerdings nicht die Person, welche die Familie aus ihnen machen wollte. Bei der moralischen Erziehung und Sozialisierung ist, gelinde ausgedruckt, Einiges schief gegangen: „The family, in this sense, has not fulfilled its primary functions“77. Wie die Protagonisten sich von der Sozialisierung durch ihre Eltern distanzieren und eine eigene Sozialisierung wählen, und gerade trotz, oder besser: ‚dank‘ der Sozialisierung der Eltern eine andere Person, als dass beabsichtigt war, werden, ist in der Analyse der Ideologiekritik weiter zu erforschen. Im Augenblick ist es interessanter, die Folgen dieser Nicht- oder eher Fehl-Erziehung zu betrachten: Durch das Entbehren einer Erziehung lebt der Pikaro in einem Zustand der fundamentalen Einsamkeit. Dadurch wird ihm ein Außenseiter-Status zugeschrieben, sei es nur teilweise: Er befindet sich immer auf der Grenze zwischen Abneigung von und Zuneigung zu der Gesellschaft um ihn herum. Er lebt unter denen, die die Gesellschaft bilden, nicht aber mit ihnen: „He can, in short, neither join nor actually reject his fellow men.”78 Bei Klaus, Alexander und Oskar ist von einem Entbehren einer Erziehung nicht wirklich die Rede, indem die Erziehung schon da ist, sie aber in einem bestimmten Moment und mit wechselndem Erfolg dafür wählen, sich gegen ihre Erziehung und Sozialisierung abzusetzen. Trotzdem beschreibt Guillén meines Erachtens mit diesem Satz die spezifische conditio humana von Klaus, Oskar und Alexander. Dennoch sollten wir hier vielleicht eine Nuance anbringen: Die drei Protagonisten sind halb-Außenseiter, weil sie nicht sosehr ihren Mitmenschen ihre Ab- oder Zuneigung nicht zeigen können, sondern weil sie das in erster Linie nicht wollen. Klaus stellt schon von seiner Kindheit an solche hohen Ansprüche an seine Kandidat-Spielkameraden („nur wer von Kompass, Atlas und Lexikon die Mehrzahl weiß, kann mit mir Frisbee spielen“ [HWW: 61]), sodass er letztendlich gar keine hat 76 Guillén: o.c., S. 79. Guillén: o.c., S. 79. 78 Guillén: o.c., S. 80. 77 45 und sich damit ganz einfach abfindet. Als er, vom Frisbee-Werfen mit sich selber erschöpft, die Unannehmlichkeiten seiner Superiorität erfährt, und trotz seines arroganten Benehmens, mit den Kindern mitspielen darf, lehnt er diese Chance zur Freundschaft zum zweiten Mal ab. Er wird von seinen Eltern sogar in diesem Größenwahn bestätigt und unterstützt, was er ihnen allerdings später verübelt. Trotzdem verschwindet sein Größenwahn auch später nicht, indem er glaubt, er sei einer der wichtigsten Steine im Stasi-Mosaik. Er stellt sich auch weiter fast immer über die Gesellschaft: „Es reichte, dass er (wer auch immer das sein möchte – Minister Mielke?) und ich wissen, dass ich etwas Besonderes bin […]. Ich fühlte mich so aufgehoben.“ [HWW: 169] Klaus verweigert sich noch stets, sich mit seiner Umgebung zu identifizieren: Die anderen sind seiner Meinung nach ihm immer untergeordnet, sowohl seine Kollegen beim „Postzeitungsvertrieb, Abteilung Allgemeine Abrechnung“ als auch im Militärlager Freienbrink: Was hatte ich mit den Leuten in meinem Zelt gemeinsam? Nichts! Ich hatte eine Legende, ich hatte meinen ersten konspirativen Auftrag, ich saß schon mit der Stasi an einem Konferenztisch, vom bedeutsamen Tuscheln bei der Musterung mal ganz zu schweigen – ich war was viel Wichtigeres, Bedeutendes, Besseres… [HWW: 118] Paradoxerweise hat dieser Größenwahn auch ein Pendant – oder seine Wurzel, indem seine Megalomanie eine Überkompensierung ist – in einem Minderwertigkeitsgefühl: Ich hatte den widerwärtigsten Namen, ich war der schlechtstinformierteste Mensch, ich war Toilettenverstopfer, Sachenverlierer, Totensonntagsfick und letzter Flachschwimmer. Ich konnte mir nicht mal einen runterholen. Und als Antityp brachte ich es sogar auf die Titelseite. [HWW: 92-93] Im letzten Satz steckt aber immerhin eine Art Stolz auf diesen Antiheld-Status: Klaus ist anders als die anderen, er ist dasjenige, was die anderen nicht sind oder sein können, er ist nicht nur irgendwelcher Typ, wie die anderen, er ist ihr ‚Anti‘, und bedauert das manchmal, aber ist zugleich ungeheuer stolz darauf. Im Militärlager Freienbrink tritt der Minderwertigkeitskomplex sehr stark und sogar wortwörtlich hervor, übrigens gerade nachdem Klaus seinem Überlegenheitsgefühl Ausdruck gegeben hat: Nein, Mr. Kitzelstein, um ehrlich zu sein, ich war total neidisch auf Raymund, vom ersten Tag an. […] Ich war umgeben von Menschen mit Ypsilons und Accent aigus, und was mir zu meinen Unterlegenheitsgefühlen noch fehlte, war, dass Kai den Längsten hatte, wie sich beim Gemeinschaftsduschen herausstellte. Ich wichste nie und hatte den Kleinsten, […]. [HWW: 118-119] 46 Raymund ist der, der Klaus, dank seiner Eltern – „Das sind meine Eltern! Die haben mich – fragen Sie mich nicht, wie! – gemacht!“ [HWW: 126] – nie geworden ist, aber gerne sein möchte. In diesem letzten Satz steckt die ganze Frustration von Klaus darüber, dass er sich nie richtig von den Erwartungen und Sozialisierung seiner Eltern lösen konnte, aber von seinen gescheiterten Versuchen einen ständig anwesenden Schuldkomplex zurückbehalten hat. Die ständige Kontrolle – sei es Lucie Uhltzscht, oder Eberhard, oder die Stasi – haben aus Klaus denjenigen gemacht, der er ist. Obwohl Klaus sich selbst als ein Fremdkörper in seinem eigenen Biotop charakterisiert, wie ein Schelm, müssen wir doch eine Nuancierung anbringen, die eher für Nauses Theorie der ironischen Naivität spricht. Klaus versucht zwar ständig, sich selbst als Außenseiter darzustellen, aber in ‚politischer‘ Hinsicht ist er in seiner kindlichen Naivität kein Außenseiter, was ihm Trost spendet: Beim Ausdauerlauf war ich immer letzter, wenn ich überhaupt durchhielt, ich war der letzte Flachschwimmer und beim Fußball meistens in der Verlierermannschaft, und oft tröstete mich dann ein Blick auf die vier Weltkarten: Da gehörte ich nämlich zu den Führenden, zur roten Welt. [HWW: 95] In einem unbeachteten und ehrlichen Moment gibt er auch Folgendes zu: „Ich war nicht nur das Kind meiner Eltern, ich war auch Schüler meiner Lehrer und Leser meiner Bibliotheken. Ich war einer von uns.“ [HWW: 107] Klaus empfindet eine Abneigung gegen seine Umgebung (oder zumindest gegen einen Teil davon), will sich von ihr absetzen und sich abseits der Gesellschaft stellen, aber möchte zugleich doch so gerne zu ihr gehören. Sein Außenseiter-Status ist ein selbst gewählter und neigt zur Radikalität, ist aber zugleich nicht völlig weitergeführt und enthält dadurch eine Halbheit-Komponente. In dieser Hinsicht trifft die Aussage Guilléns, der Schelm „can neither join, nor reject [meine Hervorhebung, mvl]“ die Gesellschaft und Umgebung, in der er lebt, auf Klaus Uhltzscht doch zu: Er ist ein halb-Außenseiter. Bei Alexander Portnoy und Oskar Matzerath sieht die Situation differenzierter aus. Während ersterer meines Erachtens weniger Außenseiter ist als Klaus, können wir letzteren sogar als Prototyp eines Außenseiters bezeichnen. Alexander Portnoy ist, allerdings in seiner Jugend, im sozialen Bereich weniger ein Einzelgänger als Klaus: Er liebt seine Eltern und Schwester [PC: 95], er spielt in einem Softballteam, wo er als ‚central fielder‘ wortwörtlich im Mittelpunkt des Teams steht, obschon er bedauert, dass er nicht in das „high school team“ [PC: 70] aufgenommen wurde, er hat Freunde und 47 gelegentlich auch längere Verhältnisse. Der wichtigste ‚Außen‘-Aspekt in Alexanders Jugend erfährt er nicht in seiner individuellen Position gegenüber anderen Individuen, wie Klaus, oder gegenüber der Gesellschaft, in der er lebt, sondern im Innen/AußenGegensatz zwischen ‚Jews‘ und ‚Goyim‘. Gerade diese Abtrennung und Superiorität der ersten Gruppe beginnt Alexander während seiner Adoleszenz in Frage zu stellen, wodurch er sich allmählich von der jüdischen Gemeinschaft entfremdet, oder das zumindest versucht. Irgendwo unterwegs ist das Gefühl seiner Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, zusammen mit der sicheren Geborgenheit, die diese Zugehörigkeit mit sich bringt, verschwunden. Alex bedauert das, und sehnt sich, wenn er erwachsen ist, nach diesem Gefühl: […] there are people who feel in life the ease, the self-assurance, the simple and essential affiliation with what is going on, that I used to feel as the center fielder for the Seabees? Why can’t I exist now as I existed for the Seabees out there in the center field! [PC: 72] Wie ich schon erwähnt habe, ist Alex Portnoy, der „Assistant Commissioner of Human Opportunity for The City of New York“ und noch viel mehr [PC: 107], im professionellen Bereich erfolgreich und nicht als Außenseiter zu betrachten. Auch in amouröser Hinsicht ist er viel weniger naiv und unbeholfen als Klaus Uhltzscht – obschon von einer richtigen Erfolgsstory auch hier nicht die Rede sein kann, wie ich später erläutern werde. Im Moment des Erzählens, und wie wir auch aus dem oben stehenden Zitat ableiten können, ist Alex trotzdem ein Außenseiter geworden, vor allem im moralisch-sozialen und sexuellen Bereich. Er verweigert sich, sein Leben nach den jüdischen Sitten und Gebräuchen zu gestalten, allerdings ist seine Trennung von der Gesellschaft und ihrer Sozialisierung, wie bei Klaus, eine selbst gewählte, indem er mit der Aussage “I would rather be a Communist in Russia than a Jew in a synagogue any day […]” [PC: 74] gegen seinen Vater im Besonderen und gegen die jüdische Religion im Allgemeinen zu revoltieren beginnt. Alex‘ Monolog bei Dr. Spielvogel ist mit Schimpftiraden gegen den ewigen jüdischen Schuldkomplex und die jüdische Superiorität einerseits und seine Eltern andererseits gespickt – ersetzen wir die jüdischen Elemente durch ostdeutsche, und Alex‘ Eltern durch Lucie und Eberhard Uhltzscht, dann bekommen wir eine ähnliche Außenseitersituation (im Moment des Erzählens allerdings, denn Klaus revoltiert erst viel später als Alex gegen das ideologische System, in dem er aufgewachsen ist). Während Klaus aber oft durch seine 48 Naivität und die ständige Wechselwirkung zwischen einem Überlegenheitsgefühl und einem Minderwertigkeitskomplex zum Außenseiter entartet, gibt es bei Alex keine Spur von einem ähnlichen Minderwertigkeitskomplex, wohl im Gegenteil: Das beweisen die gelegentlichen Lobreden an sich selbst [PC: 16, 202, 232 unter anderen]. Trotzdem gelingt es auch Alex nicht ganz, sich von seinen Eltern und seine Religion zu trennen: „Fighting off my family, still!“ [PC: 228] klagt er dem Doktor Spielvogel, und als er letztendlich seiner nicht-jüdischen und kaum gebildeten Freundin ‚The Monkey‘ loswerden will, flieht er, von allen Orten auf der Welt, ausgerechnet nach Israel, „A jewish country!“ [PC: 256], wo er überdies mit einem seiner Mutter ähnlich sehenden jüdischen Mädchen Sex haben will [PC: 259]. Auch die Szene aus Alex‘ Jugend, in der seine Schwester Hanna ihm versichert, er sei „a Jewish boy, more than [he] know[s]“ [PC: 76], gerade nachdem er nochmals „the saga of the suffering Jews“ kritisiert hat, und die darauffolgende Diskussion über den Holocaust signalisieren, dass die Trennung von der Religion nicht ganz gelungen ist, und wahrscheinlich auch nie gelingen wird: “[…] for she sheds her tears for six million, or so I think, while I shed mine only for myself. Or so I think. [meine Hervorhebung, mvl]” [PC: 78]. Alexander wird das Bewusstsein und die Folgen seines jüdisch-Sein nicht loswerden, weil seine ganze Welt und sein Denken durch die jüdische Religion geprägt sind, wie auch David Tenenbaum feststellt: The young Portnoy feels that his hope of impressing young shikses skating on a frozen pond is severely limited by his undeniable ethnicity. “I can lie about my name, I can lie about my school, but how am I going to lie about this fucking nose” (PC 76)? In this respect, Alex’s condemnation of Jewish culture is hypocritical insofar as these insecurities represent the same fear of cultural bias that he vows his immunity to.79 In dieser Hinsicht und also vom Moment des Erzählens ausgehend, möchte ich argumentieren, dass Alexander Portnoy weniger Außenseiter ist als Klaus, im Gegensatz zur These von Mirjam Gebauer: Der Akademiker Portnoy, der gerade zum ‚stellvertretenden Vorsitzenden der New-Yorker Städtischen Kommission für Soziale Gerechtigkeit‘ ernannt wurde, (PB, 110) kann sich sozusagen mit der einen Hälfte seiner Persönlichkeit von dem Milieu seiner Herkunft lösen. […] Klaus Uhltzscht dagegen wird als seinem 79 David Tenenbaum: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”. In: Shofar – An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies Vol. 24/4 (2006), S. 36. 49 Milieu vollständig verhaftet gezeigt. Nur so kann auch gestaltet werden, daß er als ahnungsloser Simplicius in die Dienste der Staatssicherheit gerät.80 Gebauer hat Recht in der Ansicht, dass Klaus Uhltzscht, oder zumindest sein ErzählerIch, im DDR-System „verhaftet“ ist, aber letztendlich befreit er sich doch aus dieser Verhaftung, was am Deutlichsten aus der Wiederholung und Variation vom vielbedeutenden „Ich war einer von uns“ hervorgeht: „Ich war einer von ihnen.“ [HWW: 315]. Durch die Betonung der Vergangenheitsform und den Perspektivwechsel von ‚uns‘ zu ‚ihnen‘ entfernt Klaus sich selbst wirklich aus dieser Gesellschaft, was nicht von Alexander Portnoy gesagt werden kann. Der legt seine Probleme dem Psychiater Dr. Spielvogel vor – der übrigens unmissverständlich einen jüdischen Namen hat – und fleht ihn fast um Genesung an, die sich im Buch jedoch nicht vollzieht. Gebauer behauptet auch, dass Portnoy sich mit seiner erfolgreichen professionellen Karriere von seinem Milieu distanziert, aber auch das scheint mir eine falsche Schlussfolgerung: In der Tatsache, dass Portnoy ‚gebildet und kultiviert‘ ist, liegt keineswegs eine Trennung von der jüdischen Religion oder von seinen Eltern beschlossen. Klaus aber präsentiert sich selbst als Befreier aus ‚seinem‘ ideologischen System, indem er die Mauer umschmeißt, und sich in der symbolischen Gestalt des Journalisten Mr. Kitzelstein zum Westen, dem Erzfeind des kommunistischen DDRSystems, wendet. Eine kleine Nuance wäre doch erforderlich: Natürlich ist es für Klaus einfacher, seinen ideologischen Außenseiter-Status im Moment des Erzählens zu wahren, weil das ideologische System dann nicht mehr da ist, während etwas Ähnliches in Portnoy’s Complaint, etwa die Vernichtung der Religion des Judentums, nicht der Fall sein kann. Auch Alexander Portnoy will nicht länger zur Gesellschaft, in der er sozialisiert worden ist, gehören, kann ihr aber doch nicht radikal den Rücken zukehren, was ihm in dieser Hinsicht auch einen gewissen Schelmengehalt verleiht. Alexanders Zugeständnis „Because I love those men! I want to grow up to be one of those men!“ [PC: 245] ist in dieser Hinsicht das Äquivalent von Klaus‘ Aussage „Ich war einer von uns“ [HWW: 107]. Und damit kommen wir zum dritten Protagonisten dieser Analyse, der meines Erachtens in Guilléns Reihe der Urbilder des halb-Außenseiters aufgenommen werden kann. Erstens, und wie schon gesagt, trifft der Mythos des Waisen, der bei Klaus und 80 Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 229. 50 Alexander nicht vorzufinden ist, bei Oskar Matzerath schon einigermaßen zu, obschon auch hier Guilléns ‚Idealtyp‘ des Schelms modifiziert worden ist. Auch bei Oskar ist anfänglich nämlich nicht die Rede von der Abwesenheit einer Familie: Der nicht immer zuverlässige Erzähler Oskar fängt seine Lebensgeschichte sogar mit einer umfangreichen Familienchronik an (und geht damit ein Stück weiter in die Geschichte zurück als Klaus, der die Geschichte erst mit seiner eigenen Geburt anfangen lässt), er schleppt ein Fotoalbum mit Familienfotos – einem „Familiengrab“ [DB: 56] – als „Schatz“ [DB: 56] mit sich herum, und die ersten Jahre seines Lebens bringt er im Geschäft seiner kleinbürgerlichen Familie durch. Trotzdem ist der ‚Geschmack der Einsamkeit‘81, der Protagonist als „insular, isolated being“82 schon vom ersten Beginn an deutlich anwesend: Oskar sieht, „einsam und unverstanden“ [DB: 54], gleich nach seiner Geburt ein, dass „Mama und jener Vater Matzerath nicht das Organ [hatten], meine Einwände und Entschlüsse zu verstehen und gegebenenfalls zu respektieren.“ [DB: 54] Seine emotionale und soziale Einsamkeit werden, obwohl Oskar tatsächlich soziale Kontakte hat, gelegentlich betont: Bei der Beerdigung seiner Mutter weint Oskar nicht, „da all die anderen, […] weinten“ [DB: 207], und genauso wie bei Klaus und Alexander wählt er in einem bestimmten Moment selber, seine Familie und ihre Sozialisierung abzulehnen. Aber während Klaus und Alexander in dieser Ablehnung nicht völlig reüssieren, ist Oskar schon erfolgreich und von den drei Protagonisten ist er gewiss derjenige, der sich am meisten ‚freigekämpft‘ hat. Klaus und Alexander verüben nur ‚wörtlich‘ und symbolisch einen Mutter- und Vatermord, Oskar ist wirklich schuld am Tod seiner Mutter und seiner ‚mutmaßlichen‘ Väter. Außerdem erhärtet er seinen Wunsch, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, dadurch, dass er sich weigert, zu tun wie jeder Mensch, nämlich zu wachsen. Dadurch währt er ihr gegenüber eine vertikale Distanz, lebt er wortwörtlich ‚unter‘ ihr, und nicht mit ihr, sodass er sie als halbAußenseiter aus Froschperspektive, wie auch Manfred Kremer bemerkt83, betrachten kann. Nie gehört Oskar wirklich zu einer Gruppe: Seit seiner Geburt, also vom ersten Beginn an, gewinnt Oskar einen ‚halb‘-Status, indem er ethnisch halb-polnisch mütterlicherseits, halb-reichsdeutsch väterlicherseits (?) ist. An seinem ersten Schultag 81 Guillén: o.c., S. 79. Guillén: o.c., S. 79. 83 Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 385. 82 51 beschließt er, dass dieser Tag zugleich auch sein letzter Schultag ist [DB: 104], er wird das Objekt der Schikanen der ‚Gören‘ seines Mietshauses [DB: 123] und später setzen die Stäuber ihm nach [DB: 477], denen er nachher als ‚Jesus‘ zum Chef wird, aber nicht als ihresgleichen. Auf dem Prozess der Stäuberbande [DB: 502] ist Oskar nämlich der einzige, der einer Strafe entgeht, der nicht ‚springt‘ [DB: 506]: Auf diese Weise macht er sich selbst zum Opfer und verrät seine Bande. Genauso wie Klaus kommt Oskar also schon in Kontakt mit verschiedenen Gruppen, aber nie kann er sich ihnen anpassen. Wie gesagt, ist Klaus oft Außenseiter dank seiner (vom Autor inszenierten) Naivität, wie auch Tanja Nause betont. Bei Alexander Portnoy ist diese Naivität nicht vorzufinden, bei Oskar Matzerath gibt es schon ‚eine‘ Naivität, aber gar nicht dieselbe wie die von Klaus Uhltzscht. In der Blechtrommel ist die Naivität eine vom Protagonisten selber inszenierte: Dadurch, dass Oskar für die Außenwelt immer ein ‚Dreikäsehoch‘ bleiben wird, es aber allenfalls nicht ist, wird ihm eine Naivität unterstellt, die er gerne ausnutzt. Oskar ist aber nicht der einzige auf der Welt, der dafür gewählt hat, klein zu bleiben, das macht ihm jedenfalls sein Artgenosse Meister Bebra bei der ersten Begegnung deutlich: „Da ich immer noch schwieg, nahm er neuen Anlauf: „Unterbrach an meinem zehnten Geburtstag das Wachstum. Etwas spät, aber immerhin!““ [DB: 143]. Oskar erkennt diesen Liliputaner, Haupt einer reisenden Zirkusgesellschaft, sogar als seinen Meister an, und flieht, während der Krieg vollauf wütet, mit dem Fronttheater Bebras nach Frankreich, wo er unter seinesgleichen ist [DB: 431]: Einen größeren Kontrast zum kleinbürgerlichen deutsch-polnischen Herkunftsmilieu Oskars könnte es kaum geben. Oskar ist also Außenseiter in seinem eigenen Herkunftsmilieu durch seine ‚Größe‘ und seine Tätigkeit als Artist, gehört aber zugleich zu einer Gruppe von Außenseitern, in der er seinen Außenseiterstatus aufs Neue verliert. Erst nachdem Vater Matzerath gestorben und Oskar wirklich ‚Vollwaise‘ geworden ist [DB: 529], womit er also die Bedingung Guilléns des Schelms als Waise erfüllt, wird Oskar meines Erachtens ein richtiger halb-Außenseiter wie Guillén ihn gemeint hatte: Er entschließt sich letztendlich doch zum Wachstum, wodurch er sich selbst zwar von seinen früheren Artgenossen distanziert, aber noch immer nicht zur Welt der ‚großen Menschen‘ gehört: […] uralt ließ mich sein Blick werden, bevor er [Bruno] mich mit meinem Meter und den einundzwanzig Zentimetern endlich allein ließ. So groß ist Oskar also! Für einen Zwerg, Gnom, Liliputaner fast zu groß. Wie hoch trug meine Roswitha, 52 die Raguna, den Scheitel? Welche Höhe wußte sich Meister Bebra […] zu bewahren? Selbst auf Kitty und Felix könnte ich heute hinabschauen. [DB: 537] Auch der Moment des Erzählens wird von Oskars halb-Außenseiterstatus gekennzeichnet: Er lebt in „einer Heil- und Pflegeanstalt“ [DB: 9], ist also nicht mehr Teil der Gesellschaft, beobachtet sie aber aus dem Abseits und zugleich auch noch immer von unten. Überdies hat auch er selbst für jene Außenseiterposition gewählt, genauso wie Klaus und Alexander, und genauso wie Oskar einst selbst dafür wählte, nicht mehr zu wachsen. Als am Ende der Geschichte die Entlassung aus der Heil- und Pflegeanstalt unausweichlich scheint, droht die Angst, in der Gestalt der schwarzen Köchin, mehr als je: Oskar fühlt nichts dafür, seine komfortable Abseitsposition und seinen halb-Außenseiterstatus aufzugeben, macht sich aber schon Gedanken über die alternative Existenz, die er in Zukunft führen wird: Die Möglichkeit, die am prominentesten zuvortritt, wird von Oskar aufs Neue einen halb-Außenseiter machen. Wie ein Messias wird er „Jünger sammeln“ [DB: 777], man wird ihm schon folgen, aber ihn nie verstehen können. Ein neues Leben als ewiger halb-Außenseiter ergibt sich. 2.1.2.2. Die Form der Pseudo-Autobiographie Das zweite Merkmal eines Schelms finden wir auf der Erzählebene vor: „the picaresque novel is a pseudoautobiography“84. Die Ich-Erzählperspektive sorgt dafür, dass die Geschichte dem Leser auch auf eine subjektive, oft gefärbte und deswegen auch nicht immer zuverlässige Art und Weise vermittelt wird. Wie die Welt in einem Schelmenroman gerade präsentiert wird, soll aber erst im nächsten Abschnitt erörtert werden. Jetzt ist der Frage nachzugehen, ob wir diesen pseudo-autobiographischen Erzählstil auch in den drei vorliegenden Romanen vorfinden. Guillén erkennt dieser Erzählweise eine entscheidende Ambivalenz zu, die mit dem vorigen Merkmal des halb-Außenseiters zusammenhängt: Der Schelm ist manchmal der homo interior, der von seinen Mitmenschen entfremdet ist, aber auch oft der homo exterior, der sich der Gesellschaft und den Menschen darin anpasst. Die Ambivalenz der Erzählweise liegt darin beschlossen, dass der Leser nicht immer deutlich unterscheiden kann, wer gerade erzählt, und sie wird konkretisiert durch die ironische Sprache einerseits, die ich später 84 Guillén: o.c., S. 81. 53 in der Humoranalyse noch untersuchen werde, und durch die Wechselwirkung zwischen der Selbstverschleierung und Selbstentschleierung des Schelmes andererseits. Die Pseudo-Autobiographie ist in den drei Romanen tatsächlich der zugrunde liegende Erzählstil: Sowohl Klaus, Alexander als auch Oskar erzählen aus der IchPerspektive, obwohl der letzte oft in der dritten Person über sich selbst erzählt und oft auch die zwei Perspektiven in einem Satz miteinander kombiniert: „Ich darf an den Großen und Kleinen Zapfenstreich erinnern, auch auf Oskars bisherige Versuche hinweisen; all das ist nichts gegen die Trommelorgie, die der Nachtfalter anläßlich meiner Geburt auf zwei simplen Sechzig-Watt-Glühbirnen veranstaltete. [meine Hervorhebung, mvl]“ [DB: 53] Diese arbiträre Abwechslung steigert die Verwirrung des Lesers und lässt sich auch aus dem Prinzip der Selbstverschleierung erklären: Mehr als bei Klaus und Alexander ist es Oskars Absicht, ein nicht eindeutiges Bild seines Charakters darzustellen, die Verzerrung zwischen dem homo interior und homo exterior zu betonen. Klaus und Alexander dagegen konstruieren nicht absichtlich den Zwiespalt, durch den ihr Leben tatsächlich geprägt ist, wie ich später noch erläutern werde. Sie haben allerdings Schwierigkeiten, den inneren und äußeren Menschen miteinander in Übereinstimmung zu bringen; ihr ständiges Reden ist etwa ein Versuch, diese Übereinstimmung einigermaßen zu bewirken. Oskar Matzerath dagegen strebt nicht nach einer solchen Übereinstimmung. Das entspricht meines Erachtens auch den verschiedenen Erzählzielen der drei Protagonisten: Während Oskar Matzerath selbst wohlüberlegt und sorgfältig-selektiv seine Geschichte niederschreibt – was in einem bestimmten Moment sogar als etwas sehr ‚Gefährliches‘ [DB: 11] bezeichnet wird, wodurch der Verdacht eines unverlässlichen Erzählers gesteigert wird –, sieht das mündliches Erzählen Klaus‘ und Alexanders ganz anders aus. Sie erzählen nämlich in erster Linie ihre Geschichte einer anderen Instanz (Mr. Kitzelstein bzw. Dr. Spielvogel), die sich in den beiden Fällen allerdings nicht einschaltet – oder die Chance dazu nicht bekommt. Alexander Portnoy erzählt seine Geschichte ganz bewusst mit einem bestimmten Ziel: Er sucht Hilfe beim Psychiater Dr. Spielvogel, fleht ihn an „Bless me with manhood! Make me brave! Make me strong! Make me whole!“ [PC: 37], er will auf der Couch seinem Missvergnügen und seinen Frustrationen Ausdruck geben und so seine zahlreichen Probleme loswerden. Das primäre Erzählziel Klaus‘ ist ein anderes: Er will seine bisher nicht erkannte Hauptrolle in der Weltgeschichte endlich offenbar 54 machen, und erzählt deswegen Mr. Kitzelstein seine Version des Mauerfalls. Trotzdem wird auch dieses Erzählen zu einer therapeutischen Session, in der Klaus mit seiner Vergangenheit, seinen Eltern und manchmal sogar mit seiner Naivität abzurechnen versucht: Klaus erzählt nicht nur diejenigen Ereignisse, die direkt veranlasst haben, dass gerade er den definitiven Fall der Mauer bewirkte, sondern fängt seine Geschichte wortwörtlich ab ovo an, weil das alles „noch einen Sinn“ [HWW: 18] bekommt. Er verweist sogar selber auf die therapeutische Wirkung des Gesprächs (oder besser gesagt, des Monologs): „Wären Sie mein Seelenklempner, könnten wir uns stolz auf die Schultern klopfen“ [HWW: 52]. Klaus hat ursprünglich also andere Absichten als Alexander, aber letztendlich werden die Sprechproben auch für Klaus ein therapeutisches Medium, mit dem eine gewisse ‚Genesung‘ von seinen Frustrationen zustande kommen soll. Er geht nicht nur an sein eigenes Schicksal heran, berührt aber auch fast moralisierend die Rolle der Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist, indem er sagt, er wisse, „dass wir Ostdeutschen uns und der Welt noch eine Debatte schuldig sind“ [HWW: 312]. Klaus, und seiner Meinung nach auch die anderen Menschen der DDR, sind mit sich selbst und ihrer Vergangenheit noch nicht ins Reine gekommen, und deswegen erzählt er seine Geschichte als Vergangenheitsbewältigung. Er stellt sich dabei „die entsprechenden Fragen“, weil er „zum Kern [s]einer Erbärmlichkeit“ vorstoßen will [HWW: 312]. Im Hinblick auf der Selbstentschleierung und Selbstverschleierung, die in der Blechtrommel wie gesagt ganz bewusst vorgeführt wird, müssen wir für Helden wie wir und Portnoy’s Complaint eine andere Schlussfolgerung ziehen: Alexander und Klaus verschleiern sich in ihrem Erzählen nicht, wie Oskar Matzerath es macht, sie sind vor allem damit beschäftigt, sich selbst zu entschleiern, gerade weil sie vorher verschleiert waren und diesen Schleier im Moment des Erzählens abwerfen wollen. 2.1.2.3. Der einseitige Blickwinkel Claudio Guillén befasst sich mit diesem dritten Merkmal des Schelms nur sehr kurz, weil es in großem Maße mit dem vorigen zusammenhängt: Durch die einseitige IchPerspektive und den Prozess der Selbstverschleierung und Selbstentschleierung, bekommen wir die Geschichte nur aus einem, einseitigen, Blickwinkel präsentiert. Der Schelmenroman bietet keine Synthese, keinen Gesamteindruck des menschlichen 55 Lebens dar. Natürlich ist es klar, dass eine solche Totalität in einem (pseudo)autobiographischen Roman sehr schwer zu erlangen ist, aber meines Erachtens ist es interessant, der Frage nachzugehen, ob in den Romanen nicht einmal eine mehr objektivierende Stimme hervortritt, die den Gesichtskreis des Romans erweitern kann. Meiner Meinung nach ist das in Helden wie wir schon der Fall: Gerade durch die Konfrontation zwischen dem erzählenden, etwas klügeren aber noch immer an Größenwahn leidenden Klaus und dem erzählten, beklommenen und naiven Klaus, und die daraus folgende Selbstentschleierung und Infragestellung der früheren Naivität, sowie durch die unüberhörbare Einmischung der Autorinstanz, die in diesen entschleiernden Passagen oft hervortritt, wird das dargestellte Bild von der DDR komplexer und reicher facettiert. Es ist ja klar, dass Helden wie wir in der Tat scharfe Kritik übt am kommunistischen DDR-System und an der individuellen Unfreiheit, die dieses System zustande brachte, aber auch die Ostalgie, die Brussig selber weitgehend in Am kürzeren Ende der Sonnenallee etaliert, kommt manchmal zum Ausdruck, sei es auch in ‚alternativen‘ Umschreibungen – der Sozialismus als warmhaltender Grog, als ein „Lagerfeuergefühl“ [HWW: 288] – und vor allem aus der Perspektive der Elterngeneration wird suggeriert, wie der Sozialismus einst ein System der Geborgenheit gewesen sei, in der für die Menschen eine vielversprechende Zukunft möglich würde. Auch aus dem Skizzieren der typischen ostdeutschen Atmosphäre85 spricht ein gewisses Heimweh, obschon tatsächlich von einer „falschen Idylle“, wie auch Magenau86 feststellt, nicht die Rede ist. Man bekommt also öfters ein mehrdeutiges Bild der DDR und der Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, gerade weil der Blickwinkel des Erzählers in bestimmten Momenten schwankt und eine mildere Kritik an den Beteiligten übt. Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel verhalten sich zu diesem Merkmal aufs Neue anders als Helden wie wir. In der Blechtrommel bekommen wir allerdings eine umfassendere Synthese des menschlichen Lebens, gerade weil Oskar sich durch mehrere Milieus bewegt (wie später noch zu erläuter sein wird), aber seine Stimme ist weniger eindeutig und ehrlich als diejenige von Klaus und Alexander. In diesem 85 So werden z.B. die DDR-Ikone Katarina Witt, Dagmar Frederic, den Wartburg, Egon Olsen, den ‚Goldbroiler‘, die Tageszeitung Neues Deutschland aufgeführt, alles Sachen, die diejenigen, die die DDR nicht am eigenen Leibe erfahren haben, visuell vor allem aus Filme wie Good Bye Lenin! (2003) kennen. 86 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 42. 56 Bereich ist Oskar also ein größerer Schelm als die anderen zwei: Sein Blickwinkel ist absichtlich partiell und voreingenommen. Auch bei Alexander ist diese Partialwiedergabe anwesend, und dadurch, dass er alles aus einem jüdischen Blickwinkel betrachtet, den er loszuwerden versucht, aber nicht loswerden kann, wird ‚das Andere‘ oft als ‚das Schlechte‘ vorgestellt. Bei Klaus ist die Situation im Moment des Erzählens schon anders, weil es die DDR nicht mehr gibt, während Alexander noch immer ‚verhaftet‘ ist. Jedoch sehen wir bei den beiden Protagonisten, wie ihnen ein einseitiger Blickwinkel aufgedrängt wird. Alex‘ Haltung gegenüber der christlichen Religion ist zum Beispiel vergleichbar mit Klaus‘ entsprechender Haltung gegenüber dem Westen, denn anfänglich werden diese Feindbilder kritisiert, aber letztendlich machen Alex und Klaus doch Annäherungsversuche, in denen die Frauen als pars pro toto für die jeweiligen Instanzen einstehen: Alex macht nicht anders, als „chasing […], sniffing […], lapping […], shtupping […], thinking about [shikse cunt]“ [PC: 101], während Klaus eine Faszination für Westfrauen [HWW: 172] aufgreift. Trotzdem sind sie im Moment des Erzählens nicht einer blinden Adoration für eine der beiden Instanzen verfallen und wahren so ein ‚Gleichgewicht‘: Alexander sagt, er, „despise[s] [the Jews] for their narrow-mindedness, their self-righteousness […] – but when it comes to tawdriness and cheapness, to beliefs that would shame even a gorilla, you simply cannot top the goyim” [PC: 168]. Klaus allerdings fasst es nuancierter in Worte: “Nicht daß ich die Bundesrepublik für etwas Entsetzliches halte, aber so perfekt, daß einem dazu nicht Besseres einfallen könnte, ist sie auch nicht.“ [HWW: 322] Von einem rein einseitigen Blickwinkel ist in Helden wie wir also am wenigsten die Rede. 2.1.2.4. Die reflexive Kritik des Protagonisten an seinem Leben Das vierte Merkmal eines Pikaros beinhaltet laut Guillén seine Möglichkeit, um reflexive, philosophische und moralische Kritik an seinem Leben und der Gesellschaft (vor allem in religiöser und moralischer Hinsicht) zu üben. Die Reflexivität ist durch die autobiographische Form der Romane schon anwesend, und wie sich aus den vorigen Abschnitten schon herausgestellt hat, üben die drei Protagonisten ständig Kritik, schonen sie die Menschen um sich herum gar nicht und stellen die Dinge ihres Lebens öfters in Frage. Sie überdenken, analysieren und überprüfen sogar manchmal, wie „an 57 „ongoing“ philosopher“87, die gängigen Normen und Werte ihrer Gesellschaft, gerade indem sie für diese Normen gelinde gesagt nicht immer Respekt zeigen. Nicht nur durch ihre explizite Kritik trifft dieses Merkmal also auf die drei Protagonisten zu, sondern auch durch ihr Benehmen an sich. Im Folgenden werde ich diese explizite und implizite Kritik nur kurz behandeln, weil die in den Romanen gelieferte Ideologiekritik Forschungsgegenstand des zweiten Teils dieser Magisterarbeit ist. Die explizite Kritik, die Klaus, Alexander und Oskar an verschiedenen Instanzen üben, kennt verschiedene ‚Härtegrade‘, nicht nur, wenn wir sie miteinander vergleichen, sondern auch, wenn wir die einzelnen Romane an sich betrachten. In Helden wie wir finden wir vor allem moralische Kritik vor, denn im strengsten Sinne liefert Klaus keineswegs Kritik an einer Religion, es sei denn, dass wir Religion sehr weit als ‚Ideologie‘ auffassen können. Klaus richtet die explizite Kritik anfänglich vor allem auf seine Eltern gerichtet, während die DDR-Kritik vorerst ziemlich implizit bleibt. Mit Eberhard Uhltzscht, dem „größte[n] Kotzbrocken“ [HWW: 11], rechnet Klaus ziemlich schnell und grob ab (obwohl er später mit den Worten „Wenn er mir doch egal gewesen wäre – aber das war er nicht“ [HWW: 37] ausführlicher auf diese Beziehung zurückkommt), aber mit seiner Mutter wird er nicht so leicht fertig. Dieses Verhältnis wird reflektierend und eingehend betrachtet, sodass Guilléns Aussage über den Schelm als „experimenter and doubter where every value or norm is concerned“88 hier wirklich zutrifft. Klaus will seine Mutter kritisieren, obwohl das nicht mit dem Idealbild eines liebhabenden und dankbaren Sohnes übereinstimmt, aber durch diesen inneren Zwiespalt ist er erst zur Kritik imstande, nachdem er sie in den Himmel gehoben hat. Wenn die Kritik seine Mutter betrifft, scheint es fast so, als ob er dabei ständig seine eigene Kritik kritisiert. Die DDR-Kritik bleibt vorerst implizit, weil die Naivität, die Klaus am Anfang noch durchhält, eine eingehende und objektive Einsicht in die politischen Verhältnisse der Welt verhindert. Eine erste implizite DDR-Kritik stellt sich ein, nachdem Klaus den Physiklehrer Herr Küfer kurz erwähnt, der wegen Erweckung pazifistischer Illusionen entlassen wurde; auf den wirklichen Grund der Entlassung geht Klaus aber erst später ein und macht dabei die Stasi, das „Ministerium des Bösen“ [HWW: 79] zu seinem heimlichen Feind. Die explizite DDR-Kritik erfolgt erst, 87 88 Guillén: o.c., S. 82. Guillén: o.c., S. 82. 58 nachdem Klaus die Naivität seiner Kindheit hinter sich gelassen hat, nach einer vielbedeutenden Darstellung seiner vier politischen Weltbilder [HWW: 93] und der Pionierlegenden von Ernst Thälmann [HWW: 96] oder von „Eisleben und der roten Fahne“ [HWW:99], die die Kinder in der DDR mitbekamen. Gerade durch diese sehr detaillierte Inszenierung seiner frühen Erinnerungen ist er imstande, wirklich aus seiner Jugend heraus zu treten, die Naivität zur Seite zu schieben und in wohl durchdachten Worten seine Abneigung gegen das DDR-System kundzugeben: „Oh, Mr. Kitzelstein, so leicht läßt sich das heute alles durchschauen, aber damals […]“ [HWW:100]. Weiter wechseln implizite und explizite Kritik an der DDR einander ab, was meines Erachtens darin kulminiert, dass Klaus gegen die Schriftstellerin Christa Wolf vom Leder zieht: Klaus ärgert sich explizit über die ‚Schönschreiberei‘ und Verschlossenheit ihres Werks – „Aber den schönsten Aufsatz hat wieder unsere Christa geschrieben“ [HWW: 297] – und später übt er auch implizite Kritik, wenn der deutsch-deutsche Literaturstreit in Betracht kommt (der aber nie wirklich erklärt wird): Klaus findet in Wolfs Werken keine Aufforderungen zur Vernichtung der Mauer. Wenn wir das implizit mit dem Literaturstreit in Zusammenhang bringen, wird deutlich, dass Klaus (hier dürfen wir aber mal schon den Autor Thomas Brussig mit erwähnen) hier auch die Rolle der DDRSchriftsteller, die das System mit ihren Büchern unterstützten und so eine ‚Gesinnungsästhetik‘ vertraten, durch die Mangel dreht. Auch Alexander Portnoy übt ständig Kritik, obwohl er damit viel weniger Mühe zu haben scheint als Klaus: Alex‘ Kritik ist durchaus expliziter als diejenige von Klaus. Hier trifft das Guillénsche Kriterium, der Schelm übt Kritik im moralischen und religiösen Bereich, im strengsten Sinne ganz gut zu: Die zwei Instanzen, die Alex ständig verbal unter Beschuss nimmt, sind tatsächlich seine moralisierenden Eltern einerseits und die jüdische Religion andererseits. Alexander ist, wie schon erwähnt, nicht sosehr mit der Naivität, wie Klaus sie innehat, belastet, aber auch bei ihm sehen wir, wie implizit (meistens durch eine ironische Sprache) Kritik geübt wird: Indem er erzählt, wie seine Mutter sich mit den Worten „maybe I’m too good“ [PC: 13] ihren Freundinnen überordnet und zugleich mit ihren (un)bewussten Handlungen die Putzfrau herabwürdigt, bringt er schon eine implizite Kritik hervor. Sogar die Religion wird hier implizit schon kritisiert, indem auf die ‚Unreinheit der schvartze‘ angespielt wird. Später fängt Alex wirklich an, sein Gift zu verspritzen, und schont in seiner Kritik keine 59 einzige heilige Kuh mehr. Gerade durch seine Heftigkeit verschwinden die objektive Reflexivität und die ‚philosophische‘ Qualität, die dem Schelm unterstellt werden: Alexander Portnoy übt meines Erachtens öfter expliziter und dadurch weniger nuanciert Kritik als Klaus, und dadurch sammelt er keine „broad conclusions“89 – wohl im Gegenteil: Alex hat seine Konklusionen schon längst gezogen und scheint sich nicht zu einer etwas objektiveren und differenzierteren Blick bewegen zu lassen. Wie Oskar Matzerath dann seine Kritik äußert, lehnt sich meines Erachtens aufs engste an den philosophischen und reflexiv-kritischen Blickwinkel an, den Guillén erwähnt. Oskar stellt die Welt und ihre Normen am extremsten und von Beginn an in Frage, indem er sich sehr bewusst der Norm des Wachsens verweigert. Oskar ist auch imstande, mehr als Klaus und Alexander, ‚breitere Schlussfolgerungen‘ zu ziehen, weil er weniger als die anderen zwei in einem bestimmten Milieu verhaftet bleibt und über einen größeren Zeitabschnitt erzählt. Daneben gibt es in der Blechtrommel, der Definition von Guillén entsprechend, religiöse und moralische Kritik. Trotzdem müssen wir meines Erachtens auch hier den Unterschied zwischen impliziter und expliziter Kritik beibehalten: Wo Klaus und Alexander sehr oft explizit Gift und Galle speien, ist Oskar enthaltsamer und raffinierter, und seine Kritik impliziter. Helden wie wir und Portnoy’s Complaint enthalten mehr Kritik, die explizit aus dem Munde der Protagonisten kommt – „So kannte ich sie, so brav und häschenhaft und auf Verlierer programmiert“ [HWW: 315] und „The idiocy of the Jews all year long, and then the idiocy of the goyim on these holidays!“ [PC: 144] sind nur zwei Beispiele –, während Oskar seine Kritik nicht so schroff, sondern vorwiegend implizit übt. Meines Erachtens ist diese weitgehende ‚Implizität‘, auch weil Claudio Guillén zwischen implizit und explizit geübter Kritik keinen Unterschied macht, aber nicht problematisch: Man könnte sagen, dass Oskar nicht die Qualität eines reflexiven Philosophen hat, weil er seine Kritik nicht explizit übt. Trotzdem stellt er die Welt gerade durch die Implizität mehr in Frage als Klaus und Alexander, für die ihre Kritik eine ausgemachte Sache ist. Indem er seine Kritik verschleiert, wird Oskar ein richtiger Satiriker – oder wird Günter Grass Satiriker, wie Manfred Kremer90 behauptet – und macht er sogar sein Publikum zum 89 90 Guillén: o.c., S. 82. Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 383. 60 „constant discoverer and rediscoverer […] where every value or norm is concerned“91. Wir finden diese implizite Kritik auf allen möglichen Ebenen vor: Er kritisiert Religionen, die moralischen Sitten des ‚petit bourgeois‘-Milieus, die politischen Lagen, Deutschland an sich, und so weiter. Weil ich die Kritik an den Elterngenerationen und ihrer Moral einerseits und an der jeweiligen politischen Lage andererseits für die Analyse der Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der intertextuellen Analyse reservieren möchte, werde ich hier nur kurz die Religionskritik streifen. Wie auch bei den anderen Kritiken ist die Religionskritik, die Oskar Matzerath übt, vorwiegend implizit: Während er festhält, er sei „schwärzester Katholik“ [DB: 394], und deswegen keine protestantische Kirche betreten will, begeht er später doch ein Sakrileg, indem er Jesus seinen Willen aufzwingen will – „Ich werde ihn noch zum Trommeln bringen. Wenn nicht heute, dann morgen!“ [DB: 425] – und sich selbst mit Jesus identifiziert, in der Eigenschaft eines Bandenführers von Halbstarken, deren wichtigste Tätigkeit das Ausräumen von Kirchen ist. Die Ehrfurcht, die Oskar als sehr strenger katholischer Gläubiger, der er zu sein behauptet, haben sollte, sehen wir in diesem Benehmen allerdings nicht. In dieser expliziten Dekonstruktion ist daher implizite Kritik an der katholischen Religion, und Religion im Allgemeinen, vorzufinden. 2.1.2.5. Die Hervorhebung des Materiellen Guillén erwähnt als fünftes Merkmal die Betonung der materiellen Aspekte des menschlichen Lebens: In einem Schelmenroman wird niederträchtigen, gemeinen Sachen, Hunger und Geld ausgiebig Aufmerksamkeit geschenkt. Es gibt keine „relicta circunstantia“92: Jedes Thema, jede Person oder Sache verdient es, mit den nötigen Details behandelt zu werden. Tanja Nause bemerkt in dieser Hervorhebung des Materiellen eine Benachteiligung des Ideellen93, aber meines Erachtens schließen diese beiden Sachen einander nicht aus, wenn wir die Qualität des Schelms als reflexiven Kritikers auch berücksichtigen. Die Orientierung auf das Materielle hin ist meines Erachtens in den drei Romanen deutlich anwesend, nicht im Geringsten durch die starke Betonung der Körperlichkeit und Sexualität, oft auf eine direkte, detailreiche und obszöne Art und Weise. 91 Guillén: o.c., S. 82. Guillén: o.c., S. 83. 93 Nause: Inszenierung von Naivität, S. 26. 92 61 In Helden wie wir manifestiert sich diese Hervorhebung, indem ständig die kommunistische Ideologie mit Sex und Perversion verknüpft wird. Der wesentliche Kern der Ideologie wird durch diese perverse Konnotation verdrängt und lächerlich gemacht. Wie Klaus seine Perversionen in den Dienst der DDR stellt, werde ich weiter in dieser Arbeit erörtern. Weil diese Obszönitäten vor allem zur Gestaltung von Helden wie wir als Groteske, oder zumindest als Roman mit grotesken Elementen, beitragen, und ich diesen Aspekt im Abschnitt der „Körpergroteske“ schon einzeln behandeln werde, wird dieses Merkmal hier für Helden wie wir nicht weiter ausgeführt. Die Hervorhebung des Materiellen verdient aber hinsichtlich der zwei anderen Romane noch etwas Aufmerksamkeit. Wenn das Materielle sich in Helden wie wir vor allem vom Sexuellen und von grotesken Elementen her definieren lässt, so hat das hat seine Wurzeln in den zwei anderen Romanen: Auch Portnoy’s Complaint ist stark von Perversionen und Obszönitäten geprägt. Sex mit Objekten gehört nicht nur zum Alltag Klaus‘, aber auch zu dem von Alexander, wie ich später erläutern werde. Daneben sehen wir auch das Klischee der jüdischen Geldgier in der Figur von Jack Portnoy wiederkehren. Der hart arbeitende Versicherungsvertreter möchte erleben, dass sein Sohn vor allem finanziell erfolgreich wird: „„Don’t be dumb like your father,“ he would say, joking with the little boy on his lap, „don’t marry beautiful, don’t marry love – marry rich.”” [PC: 5-6] Auch Alexanders Mutter träumt heimlich von einem finanziell komfortableren Leben, wenn sie ihrem Sohn mehrmals über ihren „dark-haired beau“ erzählt, „the biggest manufacturer of mustard in New York“: „And I could have married him instead of your father“ [PC: 32]. Eine ähnliche Hervorhebung des finanziellen Materialismus gibt es in Helden wie wir nicht (durch den Antikapitalismus der DDR zu erklären?), obwohl Lucie Uhltzscht doch in die Nähe kommt, wenn sie fast obsessiv über die Wichtigkeit des Krankenscheins herumquengelt und dabei schon an die Rente denkt, während Klaus auch erst in seiner Ausbildung ist [HWW: 204-205]. In der Blechtrommel wird, neben dem Sexuellen auch der finanzielle Materialismus betont. Man könnte argumentieren, es sei nicht sosehr Oskar, der materialistisch eingestellt ist, sondern vorwiegend die Menschen um ihn herum. Oskar verdient in seiner Trommelkarriere zum Beispiel gutes Geld – seine Karriere ist „ein Geschäft“ [DB: 735], mit dem er „das pure, klingende Gold der Nachkriegszeit“ [DB: 727] verdient –, aber gibt sich jedoch nicht wirklich materialistisch und bleibt z.B. im 62 Zeidlerschen Haus wohnen. Auch sagt er anfänglich, er glaube nicht an die Geschichten über seinen Großvater, der nach seiner Flucht in die Vereinigten Staaten angeblich ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, und skizziert dabei ein einsames Bild des „in einem Wolkenkratzer hinter riesigem Schreibtisch sitzend[en], Ringe mit glühenden Steinen an allen Fingern tragend[en]“ Mannes [DB: 38]. Am Ende seiner Darlegung überlegt er es sich jedoch anders und scheint ihm eine solche Existenz gar nicht so unangenehm. Er umschreibt es sogar als einen alten Traum: „Ich suche meinen Großvater, den Millionär und ehemaligen Brandstifter Joe Colchic, vormals Joseph Koljaiczek. Mit dreißig sollte man seßhaft werden!“ [DB: 774] Auch ist öfters zu vermerken, dass für Oskar nicht sosehr materielle, konkrete Sachen wichtig sind, sondern dass in seiner Erinnerung vor allem noch die Gerüche lebendig bleiben: Sein Treppensturz ist unverbrüchlich mit dem Geruch von Himbeersirup verbunden [DB: 74], Geborgenheit riecht nach „gelblich zerfließende[r], leicht ranzige[r] Butter“ [DB: 216] und nach dem Kleiderschrank der Schwester Dorothea [DB: 649], von seinem ersten Schultag erinnert er sich vor allem den Geruch [DB: 93], und die Frauen in seinem Leben sind alle mit einem bestimmten Geruch, sei es nun Vanille, Moos und Pfifferlingen, Zimmet und Muskat oder Essig, verbunden. Gerade durch seine detaillierten olfaktorischen Umschreibungen materialisiert Oskar etwas NichtGreifbares, was doch auf eine materialistische Einstellung des Protagonisten hindeutet: so entsteht laut Holthusen ein „gesteigerte[r] Sinn für die Wirklichkeit“94. Oskar wächst daneben in einem kleinbürgerlichen Milieu auf, das er bis in die kleinsten Details beschreibt: Die Interieure sind voll verstaut, die Mahlzeiten üppig, einen Anstrich von Kultur gibt es im Bild Beethovens, in Platten Mahlers und Opernbesuchen. Seine Mama hatte „einen wachen Sinn fürs Schöne, Kleidsame und Teure“ [DB: 47], Geldgewinn ist für diese kleinen Gewerbetreibenden sehr wichtig (Schwindeln mit der Waage gehört dazu), und auch Alfred Matzerath dichtet seinem Sohn schon bei der Geburt finanziellerfolgreiche Ambitionen als Geschäftsleiter zu, genauso wie Jack Portnoy. Schließlich finden wir auch Hunger und Gier in der Blechtrommel vor, in der Figur des Obergefreiten Lankes: Als Oskar für sie beide einen Kabeljau zubereitet, will er sich 94 Hans Egon Holthusen: „Günter Grass als politischer Autor“, Der Monat, 18 (1966), Heft 216, S. 66-81. Zitiert in Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 386. 63 dabei obsessiv des besten Stucks des Fischs versichern [DB: 716]. Habgier, Wollust, Materialismus und Üppigkeit sind deutlich wichtige Elemente in der Blechtrommel. 2.1.2.6. Der kriminelle Biotop Guillén erwähnt den kriminellen Biotop, in dem der Pikaro lebt, als sechstes Merkmal. Obschon der Pikaro verschiedene menschliche Konditionen, in denen schurkische Eigenschaften, Betrügereien und Täuschungsversuche Legion sind, auf eine kritische und satirische Art und Weise observiert, übernimmt er als halb-Außenseiter selber auch manche dieser Eigenschaften. Er wird selbst Mitglied der Demimonde, der Welt der scheinbar Anständigen, die es aber mit Moral und Sitten nicht so genau nehmen. Zu sagen, Klaus sei ein Schurke und Betrüger, wäre übertrieben, aber wir können in Klaus‘ Welt trotzdem einige Ähnlichkeiten mit der Halbwelt vorfinden. Dafür sind vor allem die bedenklichen und unsauberen Tätigkeiten der Stasi verantwortlich, an denen Klaus sich beteiligt. So wird er „zum Einbrecher“ [HWW: 224], Kidnapper des Kindes einer unwilligen Mitarbeiterin, und letztendlich stellt er sich sogar mit Nazis „auf eine Stufe“ [HWW: 279]. Klaus macht und umschreibt sich selbst auch ständig als ein Verbrecher, indem er sich in seiner reichen Phantasie oft Schlagzeilen wie „SCHRAUBENSCHLÜSSEL-BESTIE: LEBENSLÄNGLICH!“ [HWW: 225] oder „STASI-SCHERGE VERGING SICH AN DISSIDENTENTOCHTER“ [HWW: 236] ausdenkt. Auch in seiner Kindheit glaubt Klaus öfters, er sei in einer kriminellen Umgebung angelangt: Seine Erfahrungen mit den ‚Dieben‘ im Ferienlager sind nur ein Beispiel davon. Als er einmal bei einem Wettkampf Weitpissen mitmacht, glaubt Klaus, dass er jetzt auch ein richtiger Krimineller sei: „[…] es war falsch, es war schlecht, ich wurde Komplize der Halbwelt!“ [HWW: 52] Interessant ist, zu sehen, dass Klaus in seiner Kindheit in einen Kampf gegen das Ministerium des Bösen zieht, zu der er später selbst gehören wird; das spricht für die ‚Umwandlung‘, die Guillén in seiner Aufsatz beschreibt. Noch interessanter ist, zu bemerken, mit welchen Figuren er sich dabei identifiziert: Klaus wird in seiner Phantasie „legitimer Nachfahre Zorros“ [HWW: 79] und des Plan-Entwicklers Egon Olsen, der sympathischen Robin Hood-Figur aus einer in Ostdeutschland sehr bekannten dänischen Filmreihe, Die Olsenbande. Nicht zufällig sind sie zwei schelmische (Anti)Helden. 64 Auf Alexander Portnoy trifft dieses Merkmal meines Erachtens nicht zu: Er lebt in einer Welt, in der die Moral wichtig ist und keine Betrügereien vorzufinden sind. Wenn es in Portnoy’s Complaint schon Mitglieder einer Halbwelt gibt, ist es Alexander Portnoy selbst, dazu von seiner Freundin ‚The Monkey‘ angeregt, und nur im sexuellen Bereich. Sie wahren tatsächlich für die Außenwelt ein Bild der reinen Moralität, aber hinter den Schlafzimmerwänden (die als ‚Grenzen‘ eigentlich sehr relativ sind, denn sie beschränken ihre Obszönitäten nicht aufs Schlafzimmer) ist ein ganz anderes, fast pervertiertes Bild zu sehen. Trotzdem erfährt Alex eine Abneigung gegen The Monkey, und macht sich Sorgen wegen seiner Würde: „Ah, but there is (let us bow our heads), there is „my dignity“ to consider, my good name. What people will think. What I will think. Doctor, this girl once did it for money.“ [PC: 199] Obwohl Alexander es im sexuellen Bereich auch ‚faustdick hinter den Ohren‘ hat, wird er jedoch nicht zum Kriminellen, wie Guillén ihn gemeint hat und wie man ihn in klassischen Schelmenromanen vorfinden kann. Oskar Matzerath dagegen hat schon eine kriminelle Vergangenheit, als Bandenführer und Anstifter zu den Verbrechen der Stäuber. Dabei scheint es, als ob er seinen Status eines Verbrechers genießt und ihn sogar aufsucht, auch wenn er eigentlich nicht schuldig ist: So macht er sich selbst zum Verantwortlichen des Todes seiner Mutter und seiner zwei Väter, lässt sich wegen seiner angeblichen Schuld am Mord der Schwester Dorothea verhaften und sitzt scheinbar mit Vergnügen eine Strafe aus für ein Verbrechen, das er gar nicht verübt hat. Auch diese Schuldsuche bestätigt meines Erachtens Guilléns Schlussfolgerung, dass in der Blechtrommel ein „process of selfrighteous „dehumanization““95 vorgefunden werden kann. 2.1.2.7. Die zweidimensionale Reise durch ein Zeitpanorama Im Schelmenroman wird – als siebtes Merkmal – oft ein Zeitpanorama verschiedener sozialen Klassen, Berufe und Nationen geschildert, durch das der Protagonist eine Reise unternimmt, und zwar auf zwei Ebenen: er bewege sich horizontal „durch den geographischen Raum“ und vertikal „durch die verschiedensten Gesellschaftsschichten“96. Guillén sieht dadurch ein Narrativ des Abenteuers entstehen, 95 96 Guillén: o.c., S. 84. Nause: Inszenierung von Naivität, S. 26. 65 oft mit kosmopolitischen Dimensionen. Ob auch ‚unsere‘ drei Protagonisten eine solche zweidimensionale Reise machen, wäre erst noch zu überprüfen. In Helden wie wir sind die zwei Bewegungen durch das Zeitpanorama meines Erachtens deutlich anwesend. Obschon die horizontale Bewegung keine wirklich richtigen kosmopolitischen Züge annimmt, sehen wir doch, wie Klaus sich letztendlich in eine ganz andere Welt begibt. Er sei sogar Anstifter der endgültigen Fluchtwelle, die dafür sorgt, dass alle anderen Ostdeutschen endlich aufs Neue die Möglichkeit bekommen, sich horizontal, d.h. in diesem Fall vor allem in westliche Richtung durch den Raum zu bewegen. Klaus begibt sich nicht ‚nur‘ topografisch nach West-Berlin, denn in diesem Umzug wird auch seine Zuneigung zu einem ganz anderen gesellschaftlichen System impliziert. Die Tatsache, dass er einem Vertreter des kapitalistischen Westens, dem Journalisten des NY Times Oscar Kitzelstein seine Geschichte erzählt, trägt zur ‚Internationalität‘ seines Abenteuers bei. Aber aufs Neue sehen wir hier gewissermaßen eine ‚Halbwertigkeit‘, ein Festhalten an der Heimat, indem der Journalist zu Klaus kommt, und nicht Klaus die vertikale Reise nach Amerika macht. Die horizontale Bewegung ist meines Erachtens deutlicher anwesend, und erklärt auch einigermaßen die Abwechslung zwischen dem Minderwertigkeits- und dem Überlegenheitsgefühl, die Klaus so gerne zur Schau trägt. Er macht eine Reise von den untersten Schichten der Stasi (nach ihm der ‚unechten‘ Stasi) bis zur höchsten Stufe der Hierarchie, derjenigen des Mikado spielenden Generalsekretärs Erich Honecker. Dieses Abenteuer denkt er sich schon längst in aller Stille aus, es war nur eine Zeitfrage, bevor man ihn entdecken wurde: „Ich war mir über meine historische Mission im klaren, und alles, was mir geschah, paßte ins Bild.“ [HWW: 255] Die Bewegungen, die Alexander Portnoy durch den so genannten Zeitraum macht, gehen horizontal weiter als die von Klaus (cf. seine Europareise), aber vertikal sehen wir keine derart eingreifenden Bewegungen: Alexander kommt aus einem Milieu, in dem Karriere machen erforderlich ist, und das macht er denn auch vom ersten Beginn an (als Klassenbester, vorbildlicher Sohn, …). Er bekleidet ja eine wichtige Funktion bei der Stadt New York und ist tatsächlich zu einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Leiter aufgestiegen, aber seine professionellen Erfolge sind einfach die logischen Folgen seiner Streber-Persönlichkeit. Wenn er übrigens beschreibt, wie ein Arbeitstag bei ihm aussieht – das Anhören der Beschwerden und Vorwürfe einer fast hysterischen 66 puerto-ricanischen Familie [PC: 207] –, scheint er doch nicht so ein hohes Tier zu sein. Seine Bewegungen durch den geographischen Raum sind dagegen schon eingreifend und bestimmend für seine ‚Emanzipation‘: Durch seine Europareise will er den Eltern deutlich machen, er sei ihnen nicht mehr für jedes einzelne Detail seines Lebens Rechenschaft schuldig. Genauso wie bei Klaus ist diese geographische Bewegung zugleich eine Distanzierung von einem ideologischen System. Alex‘ Versuch ist aber weniger erfolgreich: Statt einer gelungenen Flucht sehen wir eine Rückkehr zur Wiege des Judentums, Israel, wo er näher denn je zu den Wurzeln der Religion kommt, deren engstirnige Prinzipien er so verabscheut. Aufs Neue ist Oskar der Protagonist, der am ehesten unter dieses Merkmal einzuordnen ist. Obwohl er sein vertikales Wachstum buchstäblich unterbricht, verhindert das ihn nicht, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter nach oben zu kommen. Der ‚gesellschaftliche‘ Aspekt dieser Leiter verdient jedoch eine Nuancierung, denn es ist nicht in der Gesellschaft seiner Herkunft, d.h. im kleinbürgerlichen Milieu, dass Oskar Karriere macht. Seine größten Erfolge kennt er nämlich während seiner Künstlerexistenz als „Oskar der Trommler“ [DB: 732]. Auch in dieser Eigenschaft macht Oskar seine horizontalen Ortwechsel durch das Zeitpanorama: Er bekommt vorerst die Chance, mit dem reisenden Fronttheater Bebras Europa (und vor allem Frankreich) kennenzulernen, und später macht er verschiedene Tourneen durch Deutschland. Am Ende kommt sogar Amerika in Frage, nachdem die Entlassung aus der Pflegeanstalt droht. 2.1.2.8. Der episodische Aufbau Als achtes und letztes Merkmal erwähnt Guillén den episodischen Aufbau der Schelmenromane, wobei der Pikaro scheinbar – und dieses Wort wird von Guillén betont – für die inhaltliche und formale Einheit bürgt. Er weist aber darauf hin, dass seit La vida de Lazarillo de Tormes (1554 von Lope de Vega geschrieben) schon viele andere narrative Strukturen in den pikaresken Roman eingeführt wurden, und setzt vor allem die Anwesenheit zurückkehrender Motive und zirkulärer Handlungsstränge voraus. Er vergleicht die narrative Struktur des Schelmenromans mit einer Musikpartitur: Wie es in einem Musikstück Crescendo und Diminuendo gibt, verläuft auch das Pikareske nach einer Wellenstruktur. 67 Helden wie wir ist in sieben Kapitel gegliedert, in denen Klaus in groben Zügen immer eine Periode seines Lebens behandelt, oft mit Vorschau auf dasjenige, was noch kommen wird, und mit kurzem Rückblick auf Vorgänge, über die er schon erzählt hat. Abgesehen von diesen kleinen Vorausdeutungen und Rückblenden erzählt Klaus seine Geschichte aber durchaus chronologisch: Wir können die sieben Tonbänder einigermaßen als Episoden in Klaus‘ Leben auffassen. Im zeitlichen Abstand zwischen dem allerersten Satz des ersten Bandes und dem allerletzten Satz des siebten Bands liegt das Leben von Klaus und alles, was in Helden wie wir erzählt wird, beschlossen. Im ersten Band kommen drei chronologische Einschnitte zusammen: Klaus als Neugeborener, Klaus als Neunjähriger und Klaus als Erwachsener nach der Wende. Der erwachsene Klaus erscheint auf den folgenden Bändern noch mehrmals auf die Bildfläche, indem er bestimmte Sachen aus der Vergangenheit kommentiert oder, wie gesagt, in seinem Diskurs Vorausdeutungen einbaut; sonst aber folgen die sechs nächsten Bänder der Chronologie seines Lebens: Kindheit (‚Das 2. Band: Der letzte Flachschwimmer‘), Teenagerjahre (‚Das 3. Band: Blutbild am Rande des Nierenversagens‘), Abiturzeit (‚Das 4. Band: Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll‘), Ausbildung und Berufstätigkeit bei der Stasi (‚Das 5. Band: wbl. Pers. Str. hns. trat 8:34‘), die Zeit, in der Klaus mit seinen Perversionen anfängt und das Leben Honeckers rettet, in den unruhigen Monaten vor der Wende (‚Das 6. Band: Trompeter, Trompeter‘) und schließlich der letzte Monat vor der Wende, ab dem 7. Oktober, bis zur Nacht des 9. November (‚Der 7. Band: Der geheilte Pimmel‘). Wir sehen anhand der Titel der sieben Bänder auch einigermaßen eine thematische Konzentrierung in jedem Band, und vor allem hinsichtlich der schon erwähnten Abwechslung zwischen ‚positiven‘ und ‚negativen‘ Perioden im Leben des Protagonisten. Die ersten Bänder, und vor allem der zweite und dritte, haben Klaus‘ Minderwertigkeitsgefühle bzw. seinen Außenseiterstatus zum Subjekt, und markieren also eher die ‚Diminuendo‘-Episoden seines Lebens. Welchen Umschwung und Crescendo bringt aber der Titel des vierten Bandes herbei: Mit der Erwähnung von Drugs und Rock ’n’ Roll, aber vor allem von Sex, beginnt Klaus‘ glückliches Leben erst. Auch der sechste Band hat einen sexuell konnotierten Titel: Beim Durchführen seiner perversen Experimente glaubt Klaus, sich für die Menschheit und vor allem für den Sozialismus sehr nützlich zu machen. Die Stasi-Episode steht zwischen diesen beiden vorwiegend sexuell geprägten Kapiteln, als 68 eine Art Katalysator: Im vierten Band lernt Klaus Sex kennen, und glaubt, dass er zugleich auch die Liebe kennengelernt hat – „Was? Keine Liebe? War es der pure 6?“ [HWW: 129] –, im fünften Band lernt er die Stasi kennen, gibt es eine erste Aufflackerung der Perversion (in der Form der Mielke-Onanie), die aber gleich durch die Begegnung mit wahrer Liebe (in der Gestalt von Yvonne) gekontert wird. Klaus versagt aber in der wahren Liebe, und das alles fügt sich im sechsten Band zusammen, in dem er Perversion (Sex) und Sozialismus (Stasi) miteinander kombiniert. Im siebten Band sehen wir dann die Kulmination seiner Perversion, indem er jetzt, „geheilt“, seinen Pimmel in den Dienst der Vernichtung des Systems stellt, das ihn immer wörtlich und bildlich klein gehalten hat. Portnoy’s Complaint hat den deutlichen episodischen Aufbau nicht. Es gibt sechs Kapitel, die aber chronologisch durcheinander laufen und auch thematisch nicht wirklich konsistent sind, obschon man das beim Betrachten der Titel erwarten könnte. Im ersten Kapitel ‚The most unforgettable Character I’ve ever met‘ [PC: 3] beschreibt Alexander Portnoy seine (Beziehung zu seinen) Eltern, im zweiten Kapitel dreht es tatsächlich um ‚Whacking off‘ [PC: 17], indem Alex seinen obsessiven Masturbationsdrang introduziert, aber schon schnell erweitert der Fokus sich auch auf andere Subjekte, und dann vor allem aufs Neue auf sein Eltern-Problem. Im nächsten Teil, ‚The Jewish Blues‘ [PC: 37], fängt er nicht gleich mit Verwünschungen seiner Religion an, sondern erzählt erstens etwas über seinen Pimmel, um dann nahtlos wiederum zur Beziehung mit seinen Eltern überzuleiten. Diese Darstellung endet mit den Worten „Shame and shame and shame and shame“ [PC: 50], mit denen Alex dann wirklich über seinen jüdischen Blues zu erzählen anfängt. Im vierten Teil erzählt Alex dann, wie ‚Cunt Crazy‘ [PC: 78] er ist, aber dieser Teil enthält viel mehr als nur seine Perversionen. Wirklich alle Frustrationen – seine sexuellen Obsessionen, seine Religion, seine Eltern – finden in diesem sehr großen, unstrukturierten und fragmentarischen Teil des Buchs ihren Ausdruck. Manches spricht dafür, dass Alex hier einfach verschiedene Episoden seines Lebens nebeneinander stellt und nur er als roter Faden in diesem chaotischen Wortschwall zu betrachten ist. In dieser Hinsicht trifft die Definition Guilléns, der Schelm sei der einzige Faktor der formalen Einheit, doch zu, aber indem Alex viele dieser ‚Episoden‘ nur teilweise angreift, oft schnell abbricht und irgendwo anders out of the blue wiederum einsetzt, garantiert er nicht sosehr die 69 Einheit, sondern zerstört sie. Auch im fünften Kapitel, ‚The Most Prevalent Form Of Degradation In Erotic Life‘ [PC: 184], gibt es keine chronologische oder thematische Einheit. Nur am Ende von Alex‘ Geschichte, im Kapitel ‚In Exile‘ [PC: 241], ist eine gewisse Einheit, oder jedenfalls eine relative thematische und chronologische Ruhe festzustellen. Nach einigen kurzen Rückblenden, die Alexanders Jugend als „nice little Jewish boy“ [PC: 247] darstellen, lesen wir eine chronologische und konsistente Erzählung über seine freiwillige ‚Verbannung‘ nach Israel. Von einem episodischen Aufbau ist meiner Meinung nach in Portnoy’s Complaint also nicht die Rede; eine bessere Umschreibung dieses narrativen Aufbaus wäre ‚fragmentarisch‘. Aufs Neue ist es Die Blechtrommel, in der wir die Merkmale Guilléns am besten vertreten sehen. Wie ich schon vorher erläutert habe, fängt Oskar seine Geschichte, wie Klaus (abgesehen von den Interventionen auf der Ebene des Moments des Erzählens), ab ovo an, und zwar auf eine extreme Art und Weise, indem er sogar die Geschichte seiner Großeltern in seiner Lebensdarstellung mit berücksichtigt. Er endet auch mit dem Endpunkt seiner bisherigen Geschichte, d.h. mit den unsicheren Perspektiven, die das Alter von dreißig Jahren für Oskar offenbar mit sich bringt. Sein Leben zwischen diesen zwei Zeitpunkten wird chronologisch und episodisch beschrieben: Figuren kommen und gehen, bekannte Orte werden mit neuen Bestimmungen abgewechselt, die politische und gesellschaftliche Lage ändert sich, Berufe und andere Tätigkeiten werden angefangen und eingestellt, aber Oskar bleibt die Konstante der Geschichte. Auch Manfred Kremer erwähnt in seiner Analyse der Blechtrommel als pikaresken Romans den reihenden Erzählstil: Durch die normalerweise zu beobachtende Wanderbewegung des pikarischen Helden kommt es zu einer losen Fügung des Romans, der eine Fülle von Episoden enthalten kann, die scheinbar allein durch die Person des Helden miteinander verbunden sind. Diesem Schema folgt auch die Blechtrommel, indem sie, auch ohne daß der Held große Räume durchmißt, Episoden aneinander reiht und durch Oskar den Leser mit immer neuen Verhältnissen und Vorgängen bekannt macht.97 Anders aber als in meiner Analyse, unterscheidet Kremer die zweidimensionale Reise durch ein Zeitpanorama nicht als Merkmal der Blechtrommel, was er meines Erachtens hier nicht ausreichend motiviert. Aus der vorhergehenden Analyse dieses Merkmals hat 97 Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 387. 70 es sich herausgestellt, dass Die Blechtrommel tatsächlich eine solche „Wanderbewegung des pikarischen Helden“ aufweist. 2.1.2.9. Klaus, Alexander, Oskar: reine Schelme oder ‚nur‘ schelmisch? Im Vorangehenden habe ich versucht, die drei Protagonisten Klaus Uhltzscht, Alexander Portnoy und Oskar Matzerath an Claudio Guilléns acht Merkmalen eines pikaresken Helden zu prüfen. Wenn wir die Merkmale im strengsten Sinne und ohne Konzessionen an deren ‚Buchstaben‘ betrachten, wird deutlich, dass keine der Romane den gleichen Schelmengrad erreichen, wie Guillén ihn in den Urvorbildern des 16. und 17. Jahrhunderts, Lazarillo de Tormes und Guzmán de Alfarache (1599, von Mateo Alemán), erkannt hat. Reine Schelme sind Klaus, Alex und Oskar also nicht. Wie Guillén aber ganz am Anfang seines Aufsatzes meint, verkörpert kein einziges Werk „the picaresque genre [completely]“98. Vielmehr habe ich die Merkmale nach dem ‚Geist‘ aufgefasst und bin dementsprechend der Frage nachgegangen, ob man mit Recht sagen darf, Klaus, Alexander und Oskar seien schelmisch, und wenn ja, in welchem Maße. Ausgehend vom Befund, es findet sich eine Fluktuation um die Merkmale herum, ein kreatives Umgehen mit der literarischen Tradition des Pikaresken, lautet das Urteil: Die drei Protagonisten zeigen einen unterschiedlichen Grad an Schelmengehalt auf. Anhand der Merkmale Guilléns ist Oskar der Protagonist mit dem größten Schelmengehalt, denn alle Merkmale treffen auf ihn zu; Klaus Uhltzscht gewinnt sprichwörtliches Silber und Alexander Portnoy ist am wenigsten ein richtiger Schelm. Alle drei sind halb-Außenseiter, ‚who cannot join, neither reject‘ die Gesellschaft, in der sie leben, alle drei erzählen sie ihre Geschichte in der Form einer PseudoAutobiographie, üben ständige Kritik an ihrer Umgebung und heben materielle Sachen hervor. Oskar und Alexander erzählen ihre Geschichte dabei aus einem einseitigen Blickwinkel, während wir in Helden wie wir öfters einen nuancierteren, relativierenden Blick vorfinden. Nur in diesem Aspekt weichen Klaus und Helden wie wir von den Guillénschen Merkmalen ab. Daher würde ich die Bezeichnung von Helden wie wir als Schelmenroman sicherlich nicht radikal ablehnen (was Nause schon macht), weil meine Analyse aufzeigt, dass in der neueren deutschen Literatur auf eine kreative und ganz persönliche Art und Weise mit traditionellen Gattungstechniken vorgegangen wird. Für 98 Guillén: o.c., S. 72. 71 Portnoy’s Complaint und Alexander hat sich ein niedrigerer Schelmengehalt ergeben: Alexander begibt sich nie wirklich in eine Halbwelt, macht auch nicht dieselben eingreifenden horizontalen, aber vor allem vertikalen Bewegungen durch das Zeitpanorama wie Klaus und Oskar, und schließlich ist seine Geschichte nicht als episodisch, sondern eher als fragmentarisch zu betrachten. Obschon fünf der acht Merkmale auf Alexander zutreffen, würde ich eine Bezeichnung als Schelm oder sogar schelmisch doch ablehnen: Er ist noch zu sehr von der Gesellschaft abhängig, hat nicht wirklich den Mut, sich von den Erwartungen seiner jüdischen Eltern, von seinem erreichten Status und seiner Imago als ‚liebem jüdischem Jungen‘ zu trennen. Im konsequenten Weiterführen seines Außenseiter-Status, laut Guillén doch das entscheidende Merkmal, ist Alex also weiniger erfolgreich als Klaus und Oskar. Auch ergibt sich seine Kritik größtenteils aus seinen eigenen Frustrationen, aus seinem eigenen Egoismus, statt aus der Unzufriedenheit mit einer (obschon auch individuell erfahrenen) kollektiven Repression, wie es viel mehr bei Klaus und Oskar der Fall ist. Alexander Portnoy zeigt also zwar einige schelmische Merkmale auf, aber das führt nicht dazu, dass wir ihn als Schelm, oder sogar als vorwiegend schelmisch charakterisieren können. Klaus und Oskar dagegen, verdienen es nach der eingehenden Analyse als ‚modifizierte‘ Schelme bezeichnet zu werden: Die Guillénsche Definition eines Schelms trifft ‚nach dem Geist‘ auf sie gut zu. Mit gutem Grund werden Helden wie wir und vor allem Die Blechtrommel denn auch als moderne deutsche pikarische Romane perzipiert. Auf die verschiedenen Modifikationen der Merkmale, die während der Analyse zur Sprache gekommen sind, deutete Guillén schon hin: „A genre has stable features, but it also changes, as a precise influence on the work in progress, with the writer, the nation, and the period.“99 Gerade diese Modifikationsprozesse sind auch in den zwei genannten pikaresken Werken, Helden wie wir und der Blechtrommel, zu unterscheiden. 2.2. Die ‚Körpergroteske‘ Für Helden wie wir eignet sich meines Erachtens ‚Groteske‘ am ehesten als HumorKategorie, zumindest auf der Ebene der Geschichte, während die Ironie, die im vorigen 99 Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 73. 72 Abschnitt ausführlich erläutert wurde, ihre größten Effekte auf der Ebene der Figurendarstellung, vor allem der von Klaus Uhltzscht, erreicht. Im ersten Teil dieser Analyse stelle ich zwei Fragen: Welche grotesken Elemente sind in Helden wie wir wirksam? Auf welche Art und Weise können wir die Geschichte in die ‚Groteske‘ als Gattung einordnen? Der Titel des nächsten Abschnitts weist schon auf diese doppelte Vorgehensweise hin; aufs Neue werden mir die van Gorp und Metzler Literaturlexika behilflich sein. Die intertextuelle Komponente findet sich im zweiten Teil der GroteskeAnalyse, in dem ich meine Befunde aus dem ersten Teil auf Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel anwenden möchte. 2.2.1. Die und das Groteske in Helden wie wir: eine Neudefinierung Wenn wir uns die Etymologie des Wortes ‚grotesk‘ anschauen, lernen wir, dass es aus dem italienischen ‚grottesco‘ stammt, was ‚wunderlich, verzerrt‘ bedeutet100. Schon daraus wird deutlich, dass wir die verzerrte Erzählung des Mauerfalls in Helden wie wir als ‚grotesk‘ kennzeichnen dürfen: Sie macht eine Karikatur aus demjenigen, was wirklich geschehen ist, und weil die dargestellte Verzerrung der Realität und der ‚normale‘ Erwartungshorizont dermaßen aufeinanderprallen, erscheint die Geschichte des Mauerfalls als lächerlich. „Scheinbar Unvereinbares“101 wird miteinander verbunden: Der Mauerfall ist nicht länger das Ergebnis einer Revolte des ostdeutschen Volkes, sondern eines ‚riesengroßen Pimmels‘. Den Riesen-Aspekt finden wir übrigens auch im Werk jenes Autors vor, bei dem zum ersten Mal in der Literaturgeschichte das Groteske eine Hauptrolle spielte, nämlich bei François Rabelais und seinen Erzählungen von den Riesen Gargantua und Pantagruel: Auch bei Klaus Uhltzscht sehen wir eine deutliche Vergrößerung ins Riesenhafte, diesmal jedoch eines ganz bestimmten Körperteils. Van Gorp et al. erwähnen die Befunde, die der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin im Bereich des Grotesken gemacht hat. Nach ihm ist der groteske Körper nicht „gesloten, afgerond en afgescheiden“, wie bei der klassischen Körperauffassung, sondern wird er von „buitenmaats naar voren springende 100 101 Metzler Literatur Lexikon, S. 178. Metzler Literatur Lexikon, S. 178. 73 lichaamsdelen (neus, penis, borsten, achterste), openingen (mond, vagina)“102 gekennzeichnet. Klaus‘ Penis ist erst ganz klein, ein ‚Zipfelchen‘ (wir bemerken das ironische Stilmittel der Untertreibung), aber erfährt nach dem Treppensturz ein außerordentliches Wachstum, wird eine ‚Aberration der menschlichen Harmonie‘103. Daneben zeigen Klaus‘ Beschäftigungen mit seinen Perversionen, vor allem den Lippensimulatoren „Fellatiomat I“ [HWW: 250] und „Fellatiomat 2005“ [HWW: 252], seine weitgehende Obsession mit (weiblichen) Körperöffnungen auf: Das Groteske wirkt hier fast obszön. Bachtin spricht auch über eine ‚Grenzüberschreitung‘: Klaus überschreitet alle Grenzen der guten Sitten und seine Handlungen und Gedanken sind oft wider jeglichen Anstand. Die Grenzüberschreitung wird eben am Ende der Geschichte durch den Mauerfall ganz konkret und eminent gemacht, indem Klaus sich selbst darstellt als Anheizer und Urheber der Mauereröffnung. Schließlich enthält das Groteske nach Bachtin sowohl eine Vernichtung als auch eine Regeneration, die er illustriert mit dem Bild einer uralten schwangeren Frau. Diese Komplementarität findet sich in Helden wie wir gewissermaßen auch, auf der Ebene der Erzählhandlung, aber ist deswegen noch nicht direkt als grotesk zu bezeichnen: Klaus Uhltzscht übt ständig Kritik an der DDR und der Stasi und macht ihre Ideologie dem Erdboden gleich, aber genau indem er seine Geschichte erzählt, erweckt er sie zugleich wieder zum Leben. Wenn die grotesken Elemente, die ich nun – ziemlich arbiträr – behandelt habe, ein ganzes Werk beherrschen, können wir es dann auch als eine Groteske im Sinne einer Gattung bezeichnen? In der Sekundärliteratur hat Helden wie wir schon oft das Epitheton einer Groteske bekommen, vor allem bei Hollmer104, Magenau105, Wehdeking106 und Walter Schmitz107. Das Buch ist meines Erachtens jedoch vor allem in der ‚Darstellungsweise‘ vom Grotesken geprägt, und weniger im Bereich des 102 van Gorp: Lexicon van literaire termen, S. 193: Der groteske Körper ist nicht “abgeschlossen, abgerundet und abgesondert […] sondern wird von exzessiv nach vorne springenden Körperteilen (Nase, Penis, Brüsten, Hintern) und Körperöffnungen (Mund, Vagina) [meine Übersetzung, mvl]“ gekennzeichnet. 103 van Gorp: Lexicon van literaire termen, S. 193. 104 Hollmer: “The next generation”, S. 114. 105 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 42. 106 Wehdeking: “Die literarische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Staatssicherheit, Zensur und Schriftstellerrolle”, S. 51. 107 Walter Schmitz: „Ost-West-Passagen in der Erzählprosa Wolfgang Hilbigs“, in: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000), S. 129 74 ‚behandelten Gegenstands‘108, obwohl es tatsächlich einige Effekte einer Groteske aufweist. Im Metzler Lexikon sieht man die Groteske vor allem auftauchen in „Epochen, in denen das überkommene Bild einer heilen Welt angesichts der veränderten Wirklichkeit seine Verbindlichkeit verloren hat, in denen die Welt unfassbar, der Vernunft unzugänglich und von unversöhnlichen Widersprüchen beherrscht scheint.“109 Mit der Wende wurde – auf der Makro-Ebene der Weltgeschichte – die politische und historische Weltkarte neugezeichnet (und entsteht sogar ein ‚fünftes wörtliches Weltbild‘ für Klaus), aber die Veränderungen auf der Mikro-Ebene der Lebensgeschichte eines Menschen, bei den unmittelbar Beteiligten, den DDR-Bürgern, waren wenn möglich noch umwälzender – Wenn man sich den Film Good Bye Lenin! (2003) von Wolfgang Becker anschaut, bekommt man einen – allerdings ziemlich romantisierten und von Ostalgie geprägten – Eindruck von Ausmaß und Auswirkungen des Mauerfalls. Auch Klaus wird bei der Wende von doppelten Gefühlen bedrängt, weil er einerseits die DDR einfach nicht mehr leiden kann, andererseits auch Angst vor dem Neuen hat: Deutschland war mein Wort gegen die Angst vor dem, was ich angerichtet hatte, gegen die Angst vor den Folgen und davor, dass es aus war mit den geregelten Rechten und Pflichten. Dass nach der Befreiung die Freiheit kommt, war mir nicht in dieser Deutlichkeit bewusst. [HWW: 322] Der Humor, spezifischer die Groteske, ist ein Mittel, um mit diesen unruhigen Zeiten und Gefühlen fertig zu werden. Wenn man ‚das Groteske in Helden wie wir‘ erforscht, macht man meines Erachtens eine richtigere Analyse, als wenn man ‚die Groteske Helden wie wir‘ untersuchen möchte. Wenn schon Helden wie wir als eine Groteske charakterisiert werden soll, dann würde ich den etwas genaueren Begriff ‚Körpergroteske‘ vorschlagen. Das Leben von Klaus ist von grotesken Abweichungen und körperlichen Disharmonien geprägt, die sogar zum Höhepunkt der Geschichte führen. Genau diese Verzerrung bildet den wichtigsten Anlass, die Geschichte als grotesk zu bezeichnen. Die gesellschaftskritischen Effekte sind eher Elemente einer parodierenden Satire (eines an sich ernsthaften Ereignisses), als dass sie aus einer reinen Groteske hervorgehen (in der das Unrealistische und das schon absurd Unnatürliche den behandelten Gegenstand 108 109 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193. Metzler Literatur Lexikon, S. 178. 75 bilden). Trotzdem enthält die komisch-verzerrte Karikatur, die Brussig aus der DDRZeit macht, eine Kritik an einer Realität, die an sich eigentlich schon grotesk war, durch die „Diskrepanz zwischen erlebter Alltagswirklichkeit und staatlicher Realitätskonstruktion“110. Wenn wir auf ein Detail eingehen, können wir festhalten, dass diese grotesk-absurde Diskrepanz in Helden wie wir in Major Wunderlich verkörpert wird, dessen Namen schon ein Indiz des ‚grottesco‘, des Verzerrten und Karikaturistischen der Wirkung ‚seiner‘ Staatssicherheit ist. 2.2.2. Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel als Körpergrotesken Es wurde in der separaten Behandlung der Groteske (als Gattungsbegriff) und des Grotesken (in einzelnen Elementen) in Helden wie wir schon deutlich, dass der Roman zwar von grotesken Elementen geprägt ist, aber nicht als Groteske an sich charakterisiert werden kann. Ich habe stattdessen den genaueren Begriff ‚Körpergroteske‘ vorgeschlagen, weil dieser Name sich am ehesten eignet zur Umschreibung der spezifischen Sonderform: Die körperlichen Verzerrungen einerseits und sexuellen Aberrationen andererseits sind für die Figurengestaltung Klaus‘ und zugleich für den Verlauf der Geschichte von großer Bedeutung. Sein kleiner Pimmel bereitet ihm ein fortwährendes Minderwertigkeitsgefühl, mit seinen Perversionsexperimenten versucht er, den Sozialismus zu retten und seinem Leben einen Sinn zu geben, und letztendlich hat er dann doch ‚den Größten‘ – die Kulmination seiner bisherigen Lebensgeschichte. In vorliegender intertextueller Analyse möchte ich den die Körpergroteske weiter funktionalisieren im ständigen Bezug auf die zwei Prätexte, die jeweils eine der zwei Teilbedeutungen der Körpergroteske aus Helden wie wir erfüllen: Portnoy’s Complaint ist von Alexanders sexuellen Aberrationen geprägt, Die Blechtrommel wirkt vielmehr mit grotesken körperlichen Verzerrungen. Im ersten Teil der Groteske-Analyse wird also die groteske Sexualität von Klaus und Alexander (und womöglich auch von Oskar) im Brennpunkt des Interesses stehen, danach werden die Parallelen zwischen Klaus‘ und Oskars groteskem Körper in den Vordergrund gerückt. Wie schon erwähnt wurde, war es vor allem Michail Bachtin, der hinsichtlich 110 Kormann: „Satire und Ironie in der Literatur nach 1989“, S. 167. 76 der Definition des grotesken Körpers einige wichtige Befunde gemacht hat, die auch für diese Analyse ihre Nützlichkeit beweisen werden. Bei der Analyse der grotesken Sexualität von Klaus und Alex ist erstens auf die karikierende Wirkung des Grotesken und zweitens die Obsession mit bestimmten Körperteilen und Körperöffnungen zu fokussieren. Die Analyse des grotesken Körpers von Klaus und Oskar soll sich vor allem mit den Merkmalen der Aberration der menschlichen Harmonie und der grotesken Ambivalenz zwischen Vernichtung und Regeneration auseinandersetzen. Natürlich gibt es Überscheidungen in dieser vielleicht allzu strengen Strukturierung: So bemerken wir auch groteske Elemente in der Körperdarstellung von Alexander, und wird auch Oskar oft sexuell verhaltensauffällig. Auch auf diese Überschneidungen möchte ich, sei es häufig nur kurz, eingehen. 2.2.2.1. Die groteske Sexualität von Klaus und Alex Wie Bachtin sagt, ist der groteske Körper ohne Grenzen, nicht ‚abgeschlossen, abgerundet und abgesondert‘111, was einigermaßen auf die groteske Geschichte übertragen werden kann: Das Groteske enthält, laut Bachtin, immer eine Grenzüberschreitung. Die Sexualakte von Klaus und Alex überschreiten mehrmals die Schwelle des normalen sexuellen Appetits. Auch das Metzler Lexikon spricht in diesem Bereich die ‚ins Maßlos übersteigernde‘ Wirkung des Grotesken an, wodurch Gestalten und Gegenständen humoristisch-karikierende Züge verleiht werden112. Wie im vorigen Kapitel schon kurz angedeutet wurde, ist Klaus‘ und Alex‘ obsessive Beschäftigung mit der Sexualität einer der wichtigsten Gründe, weshalb sie als halb-Außenseiter, als Karikaturen charakterisiert werden. Bei Klaus sind es anfänglich vielmehr die Abwesenheit von sexueller Kenntnis und Erfahrung, und sogar der Ekel vor Vorstellungen über Sex – „Was? Vater-Pisser-reinstecken-Muschi-Mutter? Unmöglich! So eine Sauerei würden meine Eltern niemals tun!“ [HWW: 63] –, die ihn von seinen Altersgenossen trennen und ihn zum Außenseiter machen. Erst später schlägt die Ignoranz in eine gegenpolige Obsessivität um, wodurch ein Zwiespalt entsteht zwischen dem homo exterior Klaus (dem unerwartet talentvollen Stasi-Agenten, dem komplexbeladenen Sohn, dem unauffälligen Freund und Kollegen) und dem homo 111 112 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193. Metzler Literatur Lexikon, S. 178. 77 interior (dem „perverseste[n] Perverse[n]“ [HWW: 248]). Schon durch diesen übertriebenen 180 Grad-Umschwung wird der erwachsene Klaus eine groteske Karikatur seiner selbst, nie geht er in seinem sexuellen Leben den goldenen Mittelweg. Bei Alex ist von einer ähnlichen sexuellen Ignoranz oder Abneigung gar nicht die Rede. Sein sexuelles Leben fängt mit einer fast musterhaften ödipalen Szene [PC: 44-45] an, die in den „Freudschen Überlegungen“ dieser Arbeit eingehend behandelt wurde: Statt Abneigung erfährt Alex dabei – als Vierjähriger – nur Genuss und Begierde. Auch in der Adoleszenz erfährt Alex keine einzige Hemmung, er erzählt auch dann skrupellos über seine übermäßige Onanie: „Then came adolescence – half my waking life spent locked behind the bathroom door, firing my wad down the toilet bowl […]“ [PC: 18]. Das ganze Kapitel ‚Whacking off‘ ist von seinen zahllosen Masturbationserfahrungen geprägt, und auch hier kommen das Karikaturistische und die Grenzüberschreitung ins Spiel: Auch Alexander ist, sogar noch mehr als Klaus, ein Mann von sexuellen Extremen. Gebauer bemerkt diese Extremität ebenfalls, und deutet zugleich auf die Gegenpoligkeit zwischen den Protagonisten hin: Es wird sichtbar, wie hier die sexuelle Thematik modifiziert wird: Aus dem Sexaholic Alexander wird ein vergleichsweise verklemmterer Klaus. Vereinfacht konnte man formulieren: Was Alexander obsessiv tut, darüber denkt Klaus obsessiv nach.113 Gebauer schenkt der Gegenpoligkeit, die in Klaus und Alex‘ geteilter sexueller Extremität steckt, keine weitere Aufmerksamkeit, obwohl sie doch eine nähere Analyse verdient: Meines Erachtens wird gerade durch diese Gegenpoligkeit das Groteske als Humorform in Helden wie wir gemessen an Portnoy’s Complaint gesteigert. Klaus versucht heftig, sich gegen seine sexuellen Triebe und Gefühle zu wehren, Alexander dagegen gibt ihnen meistens nach: Bei Klaus entstehen dadurch grotesk-lächerliche Situationen, Alexanders totale Hemmungslosigkeit mündet vielmehr in grotesk-obszöne Szenen. Beide haben während ihrer Pubertät mit Spontanerektionen abzurechnen, aber gehen auf eine ganz andere und eigene Art und Weise damit um, sodass sie beide auf einer Skala die Extrempunkte darstellen. Während Klaus seinen „Pubertätsständer“ [HWW: 68] zu verstecken oder verhindern versucht – was er selbst allgemein unter dem Nenner „Kaltwasser-Methoden“ [HWW: 72] unterbringt –, wählt Alex für das zweite 113 Gebauer: „Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten“, S. 227. 78 „sichere Mittel gegen den Ständer“ [HWW: 72], wie Klaus es nennt, nämlich die Masturbation: Ich steckte mich einen Rubikwürfel in die Tasche, um die Identifizierung des Ständers zu erschweren. Ich blieb in Theaterpausen sitzen. Ich wurde Mitglied in einem Schachverein, […] weil ich während der Partien nicht aufzustehen brauchte. Ich hörte auf zu trinken, […] [HWW: 69] In the middle of a class I would raise a hand to be excused, rush down the corridor to the lavatory, and with ten or fifteen savage strokes, beat off standing up into a urinal. [PC: 18] Sie haben jedoch beide einen dritten ‚Abwehrmechanismus‘ entwickelt – sodass sie keine dieser zwei Methoden wählen müssen –, der an sich grotesk ist. Das Groteske kombiniert nämlich laut Bachtin Vernichtung mit Regeneration, aber in der dritten Methode von Klaus und Alex bemerken wir eher, wie Regeneration mit Vernichtung gekontert wird. Indem sie beide über übertriebene Unfälle, körperliche Verletzungen und blutrünstige Szenen phantasieren, lassen sie ihre ‚Unbequemlichkeit‘ verschwinden. Brussig potenziert das Groteske (einerseits die Vorstellung selbst, andererseits den grotesken Stil, von dem die Vorstellung geprägt ist) noch stärker als Roth, indem er mit mehr Großbuchstaben suggeriert, wie Klaus sich alles noch detaillierter, blutiger und nachdrücklicher vorstellt: In the classroom I sometimes set myself consciously to thinking about DEATH and HOSPITALS and HORRIBLE AUTOMOBILE ACCIDENTS in the hope that such grave thoughts will cause my “boner” to recede before the bell rings and I have to stand. [PC: 178] Anfangs rief ich mir im Bedarfsfall die Kyklopensage in Erinnerung, aber als sie allmählich ihren Schrecken verlor, konstruierte ich eigene Horrorgeschichten, die immer als Balken-Schlagzeile im Stil der westlichen Gazetten eingeleitet wurden: UNFALL IM STAHLWERK – ARBEITER IN HOCHOFEN GEFALLEN! SÄGEWERK-TRAGÖDIE: SCHLAFENDER ARBEITER ZU KANTHÖLZERN ZERSÄGT! UNFALL AUF DEM RANGIERBAHNHOF – ZWISCHEN DEN PUFFERN ZERQUETSCHT, UNTER DEN WAGEN GEDREITELT! [HWW: 71] Wenn wir ihr sexuelles Leben als Erwachsene betrachten, sehen wir, wie Klaus‘ Gehemmtheit sich einigermaßen auflöst: „Was deinem Schwanz wohltut, darfst du nicht. In diesem Zweispalt war ich zu Hause – bis ich die Perversion entdeckte.“ [HWW: 246-247] Er zügelt seine Triebe nicht länger und stellt, wie gesagt, sein Leben in den Dienst der Perversionen. Die Gegenpoligkeit zwischen Klaus und Alexander, die 79 in den sexuellen Hemmungen von Klaus ihren Ursprung fand, verschwindet so gewissermaßen, aber noch immer erlebt Klaus sein sexuelles Leben nicht auf dieselbe Art und Weise wie der womanizer Alexander: Klaus‘ Hemmungen gegenüber Sexualität im Allgemeinen haben sich verwandelt in Hemmungen gegenüber Frauen, wodurch ein neuer Gegensatz zu Alexander entsteht, allerdings auf einer anderen Ebene. Wie Alexander sich seine Eroberungen, sei es nun ganz unerwartet, mit den Worten „[I want] [t]o eat your pussy, baby, how’s that?“ [PC: 158] angelt, dazu wird der leicht kontaktgestörte Klaus nie imstande sein, obwohl er mit „Na, warum denn so allein?“ [HWW: 188] schon in die Nähe kommt. Längere Beziehungen mit Frauen einzugehen, scheint ihm nahezu unmöglich, und wenn es ihm dann doch gelingt – drei Mal, genau gezählt – scheitern sie recht schnell und entstehen ganz lächerliche, verzerrte, schlichtweg karikaturistische Situationen. Erstens resultiert Klaus‘ Entjungferung in Gonorrhöe; zweitens ist seine sexuelle Erfahrung mit der Wurstfrau eher als katastrophale Nicht-Erfahrung oder Vergewaltigungsversuch einzustufen. Als er sich dabei mit Minister Mielke als Hauptfigur in seiner sexuellen Fantasie masturbiert und sich beide Hände bricht, liegt Slapstick ganz nahe. Drittens denkt er in Yvonnes Zimmer ‚vorspielsweise‘ an die politischen Folgen seines Verhältnisses mit ihr. Er karikiert übrigens auch die Liebe zum rein körperlichen Begehren, indem er bei den zwei ersten Frauen glaubt, er habe die Liebe gefunden, während es nur um die Befriedigung seiner sexuellen Triebe geht: Ich lebte immer im Glauben, daß man vor, während und nach dem Vögeln Ich liebe dich sagen muß. Vor und während war vorbei. Was tun? „Ich liebe dich“, sagte ich probeweise. „Nun beruhige dich mal wieder“, sagte sie. Was? Keine Liebe? War es der pure 6? [HWW: 129] […] also Romantik ist ja in Ordnung, aber ums Ficken kommt sie nicht herum (und ich auch nicht). Ich geriet in Panik. „Außerdem haben wir heute Vollmond! Das … ist… auch… wissenschaftlich nachgewiesen!“ Was ist los mit mir, dachte ich entsetzt. Sinnlose Sätze herumzuschreien! Das ist mir noch nie passiert! Ist es Liebe? [HWW: 191] Als er dann Yvonne begegnet, mit der die echte Liebe zum ersten Mal in Reichweite kommt, gerät seine karikierte, verzerrte Liebesauffassung mit seinen neuen, echten Liebesgefühlen in Konflikt; er belebt ein Moment der Mannesschwäche und flieht: […] sie flüsterte: „Tu mir weh!“ Oje, das war zuviel für mich, verstehen Sie mal, ich hatte mich zwar im Geiste damit abgefunden, einen Engel zu ficken, aber daß 80 ich ihr weh tun sollte, wo ich ihr doch theoretisch meine Liebe beweisen müßte – nein, das war wirklich zu viel für mich. [HWW: 237] Bei Alex ist nie von Liebe die Rede: Er hat Sex aus „lust“ [PC: 102], nicht aus Liebe, und er formuliert sogar explizite seine verzerrte Auffassung von Liebe, nicht selten auch typografisch markiert, indem „love“ im Buch mehrmals zwischen Anführungszeichen steht114: How can I give up what I have never even had, for a girl, who delicious and provocative as once she may have been, will inevitably grow as familiar to me as a loaf of bread? For love? What love? […] Isn’t it something more like weakness? Isn’t it rather convenience and apathy and guilt? Isn’t it rather fear and exhaustion and inertia, gutlessness plain and simple, far far more than that “love” that the marriage counselors and the songwriters and the psychotherapists are forever dreaming about? Please, let us not bullshit one another about “love” and its duration. [PC: 104-105] Sogar nachdem Alexander letztendlich, bei der Begegnung mit Naomi, doch glaubt (und sagt), er habe die Liebe gefunden, wird sie gleich mit sexueller Lust gleichgesetzt. Er fühlt die Liebe gar nicht, er muss sie noch heraufbeschwören: „And again told this girl I hardly knew, and didn’t even like, how deeply in love with her I was. “Love” – oh, it makes me shudder! – “loooove,” as though I could summon forth the feeling with the word.” [PC: 263] Danach folgt übrigens eine Szene, die in Helden wie wir ein Echo findet: Genauso wie Alex bei Naomi – die nahezu die Religion inkorporiert, gegen die er ständig und vehement revoltiert – eine zeitweilige Impotenz erlebt, bekommt auch Klaus „ihn nicht hoch“ [HWW: 245] bei Yvonne, die für ein Land schwärmt, das in der ‚blauen Hälfte‘ der Welt liegt, Jeans trägt und laut Klaus aller Wahrscheinlichkeit nach eine Dissidenten-Tochter ist. Diese Szenen verdienen in der ideologiekritischen Analyse eine weitere und eingehende Interpretation. Während Klaus vor allem die Liebe an sich karikiert, stellt Alexander auch die Frauen, mit denen er sexuelle Beziehungen hat, als Karikaturen dar, z.B. indem er sich für jede einen Spitznamen ausdenkt: Rita Girardi wird „Bubbles“ genannt, Kay Campbell „The Pumpkin“, Sarah Abbott Maulsby „The Pilgrim“, Mary Jane Reed „The Monkey“ und Naomi „The Jewish Pumpkin“ oder „The Heroine“. Diese Spitznamen dienen der Herabwürdigung und betonen Alex‘ Superiorität gegenüber seinen Freundinnen. Obwohl Klaus es nicht so konsequent macht wie Alex, bezeichnet 114 Das steht im Gegensatz zu Klaus, bei dem die Liebe eher implizite karikiert wurde. 81 auch er einmal eine Frau mit einem solchen Namen: die Wurstfrau, denn „sie war klein und dicklich, als wäre sie aus verschiedenen Wurstsorten gefertigt“ [HWW: 188]. Und Marina einen Spitznamen geben, scheint ihm gar nicht nötig zu sein: Ihr eigener Name enthält schon eine Herabwürdigung, denn „zumindest ihr Name hätte jedem Kind einer siebenköpfigen Arbeiterfamilie zur Ehre gereicht.“ [HWW: 124] Abgesehen von dieser Karikierung der Frauen sind Alexanders sexuelle Verhältnisse, anders als bei Klaus, an sich nicht so sehr grotesk im Sinne der lächerlichen und karikierenden Verzerrung, sondern eher im Sinne der obszönen, grenzüberschreitenden Verzerrung. Wie er Sarah Abbott Maulsby einmal fast dazu verpflichtet, „to go down on [him]“ [PC: 238], aber sie dabei nicht macht, was er eigentlich beabsichtigt hatte, wirkt das nicht länger als unanständige Zote, sondern als schockierende und anstößige Obszönität. Diese Obszönitäten finden nicht zufällig ihre Fortsetzung in den verschiedenen Szenen, in denen The Monkey eine Hauptrolle spielt: so z.B. in ihren eigenen abstrusen Sexualfantasien [PC: 213-214], in der VoyeurismusSzene, der sie ihren Spitznamen zu verdanken hat [PC: 159] und nicht zuletzt in der Beschreibung der unappetitlichen Gewohnheiten ihres Exmannes [PC: 156]. Aber auch Alex trägt seinen Teil zum obszönen Grotesken bei: Seine Fantasie über Thereal McCoy [PC: 131] mutet recht pornographisch an, und während in Helden wie wir die Höhepunkte aus Klaus‘ tatsächlicher Pornokarriere sehr selten, und nur implizite oder summarisch erwähnt werden, schildert Alexander seine pornographischen Ambitionen ausführlich und detailreich. The Monkey ist die leibhaftige „star of all those pornographic films“ [PC: 158], die Alexander bisher in seiner Fantasie gedreht hat. The Monkey was by then the one with her back on the bed, and I the one with my ass to the chandelier (and the cameras, I fleetingly thought) – and in the middle, feeding her tits into my Monkey’s mouth, was our whore. Into whose hole, into what sort of hole, I deposited my final load is entirely a matter for conjecture. It could be that in the end I wound up fucking some dank, odoriferous combination of sopping Italian pubic hair, greasy American buttock, and absolutely rank bedsheet. [PC: 138] Brussig steigert meines Erachtens das Groteske zuungunsten des Obszönen von Portnoy’s Complaint, indem er nicht die Pornographie an sich expliziert, sondern in diesem Bezug nur den grotesken Umschwung von Klaus beschreibt. Zum ersten Merkmal des Grotesken – der grenzüberschreitenden Verzerrung – ist also zwischen Klaus und Alexander eine Übereinstimmung und eine Gegenpoligkeit zu bemerken: 82 Beide entarten durch ihre Obsessivität zu einer Karikatur und stellen die Liebe, den Sexualakt und die Frauen als völlig verzerrte Gegenstände, als Karikaturen dar; bei Klaus aber wirkt die groteske Verzerrung eher lächerlich, bei Alexander obszön. Als zweites Merkmal dient Bachtins Feststellung, der groteske Körper sei von übertrieben nach außen springenden Körperteilen und – in dieser Analyse vor allem wichtig – Körperöffnungen gekennzeichnet. Es ist nicht vermessen zu behaupten, das Leben von Klaus und Alexander sei ohnehin von einem nach außen springenden Körperteil ersten Ranges geprägt: Beide sind sie am Glücklichsten, wenn ihr Penis außer Hause, oder genauer, außer Hose gehen darf, um andere Orte aufzusuchen, sei es nun die frische Luft oder die Geborgenheit einer Öffnung – nicht notwendigerweise die eines Körpers. So umschreiben Klaus und Alex ihre Lebensmission auch wirklich aus diesem Blickwinkel: Seitdem mein Schwanz in einer drin war, wollte er nie mehr woanders sein! Er hatte seine wahre Bestimmung gefunden, nämlich in Mösen einzufahren und darin zur Freude aller Beteiligten herumzufuhrwerken. [HWW: 60] How much longer do I go on sticking this thing into the holes that come available to it – first this hole, then when I tire of this hole, that hole over there… and so on. When will it end? Only why should it end! [PC: 102-103] Der ‚übertriebene‘ Aspekt der nach außen springenden Körperteile bezieht sich vorerst vor allem auf die Frequenz, mit der Klaus und Alex ihren Penis zum Einsatz bringen, und nicht so sehr auf die übertriebene Größe – natürlich ändert sich das für Klaus nach der Treppensturz-Operation. Klaus hat anfänglich, genauso wie Alexander, alles andere als einen übertrieben großen Penis, was in Portnoy’s Complaint eine Szene ergibt, die wir in Helden wie wir reproduziert finden: “Here!” I finally cry. “Is that it?” “Well,” I answer, turning colors, “it gets bigger when it gets harder…” [PC: 178] „Ist der aber klein“, sagte sie und lachte. Peinlich, peinlich. „Mußt was mit machen“, schnaufte ich lüstern. „Dann wird er größer.“ Sie sah ihn an und lachte. [HWW: 190] Wie schon erwähnt, genügt vor allem Alex erfolgreich seiner Obsession mit weiblichen Körperöffnungen: ‚Bubbles‘, ‚The Pumpkin‘, ‚The Pilgrim‘ und ‚The Monkey‘, alle stehen sie auf der Liste von Alex‘ sexuellen Eroberungen. Eigentlich verdienen Klaus‘ ‚sexuelle Erfahrungen mit Frauen‘ es nicht, mit einer Mehrzahl versehen zu werden, denn nur Marina hat Klaus „interpenetriert“ [HWW: 236] – zumindest vor der Wende, 83 denn für Klaus‘ Nachwendekarriere als Pornodarsteller sind keine statistischen Belege vorhanden. Klaus‘ wichtigste sexuelle Großtaten sind die Perversionen, bei denen nicht Frauen, sondern Dinge, oder Öffnungen ohne weiteres, buchstäblich die Objekte seiner Affekte sind – aber auch Alexander ist in dieser Hinsicht kein unbeschriebenes Blatt. Er vergewaltigt nicht nur Objekte, er objektiviert auch seine Freundinnen, indem er ihnen einen ‚entmenschlichenden‘ Spitznamen gibt (mit Ausnahme von ‚The Pilgrim‘ Sally), der immer vom bestimmten Artikel ‚the‘ vorangegangen wird. So wird nochmals deutlich, dass diese Namen keine süßen, Liebe ausdrückenden Kosenamen sind, sondern wirklich ätzende Spitznamen, welche die nach Alex ärgerlichen, hässlichen und schäbigen Seiten der Frauen betonen. ‚Pumpkin‘ wäre Ausdruck einer Liebkosung, ‚The Pumpkin‘ ist das keineswegs. Sex mit Objekten kommt in unterschiedlichen Lebensfasen der Protagonisten vor: Alex ist Klaus darin weit voraus und treibt schon in seiner Adoleszenz Perversionen (um seine eigenen Triebe zu befriedigen), während Klaus erst viel später, anfangs seiner zwanziger mit seinen Perversionen anfängt (aus Pflichtbewusstsein eines Stasi-Agenten mit Leib und Seele!). Alexander fängt seine Objekt-orientierten Sexualakte ziemlich unschuldig, mit dem BH seiner Schwester Hanna, an, geht schon etwas weiter mit dem leeren Einwickelpapier eines Schokoriegels und kulminiert erst mit Objekten aus dem Bereich der Lebensmittelindustrie: “Oh shove it in me, Big Boy,“ cried the apple that I banged silly on that picnic. “Big Boy, Big Boy, oh give me all you’ve got,” begged the empty milk bottle that I kept hidden in our storage bin in the basement, to drive wild with my vaselined upright. “Come, Big Boy, come,” screamed the maddened peace of liver that, in my own insanity, I bought one afternoon at a butcher shop and, believe it or not, violated behind a billboard on the way to a bar mitzvah lesson. [PC: 18-19] Von einer gesunden Faszination ist hier nicht länger die Rede, er ist in wahrer BachtinAuffassung der Groteske völlig auf diese Öffnungen fixiert. Später gesteht er ein, er habe diesen Perversionen noch etwas nachzutragen, sogar ‚das Schlimmste, was er je getan hat‘: Zweimal sogar trieb er es mit einer Leber, und das erste Mal wurde sie nachher noch von seiner Familie gegessen – „I fucked my own family’s dinner“ [PC: 134]. Und als Alexander seine Eltern einmal davor warnt, es gäbe noch perversere Menschen als die Homosexuellen, von denen in Cosmopolitan die Rede ist ( „Momma! Poppa! There is worse even than that – there are people who fuck chickens!” [PC: 84 126]), könnte man angesichts seines eigenen von Perversionen geprägten Lebenslaufes erwarten, er sei selber Urheber dieser Perversion. Es ist aber Thomas Brussig, der auf diese Warnung eine intertextuell markierte Antwort gibt, als Klaus mit einem „Hühnerficker“ [HWW: 239] konfrontiert und schließlich selber zum Hühnerficker wird, indem er sich im Auftrag des Majors Wunderlich „in den Gegner hineinversetzen“ will. Im Gegensatz zu Alexander fühlt Klaus sich über seine geschmacklose Untat gleich schuldig, denn entrüstet übt er Selbstjustiz: „Ich trieb’s mit Tieren! Mit toten Tieren! Toten Jungtieren! Die keinen Kopf hatten! Also mit verstümmelten! toten! Jung!tieren! […] Was habe ich getan!“ [HWW: 240] Dennoch hindern seine anfänglichen Schuldgefühle und die dazugehörenden eingebildeten Verhaftungsszenarien ihn nicht, die Perversionen zu den wichtigsten Tätigkeiten seiner Freizeit, und daraus sogar ein „Forschungsprojekt zur Rettung des Sozialismus“ [HWW: 249] zu machen. Jede Woche vergewaltigt er einen neuen Goldbroiler115, und auch Gummitiere, in Form der Fellatiomat I und Fellatiomat 2005 – der Name alleine ist schon grotesk– und sogar Kaulquappen lässt er nicht aus. Klaus befasst sich in seiner ‚Kartei neuen Typus‘ auch mit der Frage, ob „sexuell mißbrauchte Lebensmittel eßbar [sind]“ [HWW: 250], die im Buch selbst ausdrücklich ohne Antwort bleibt, aber m.E. eine Zurückverweisung auf Portnoy’s Complaint impliziert. Aus dieser Analyse ist hervorgegangen, dass die Sexualität von Klaus und Alex als grotesk zu bezeichnen ist. Trotzdem bemerken wir auch hier Unterschiede: Das Groteske kommt meiner Meinung nach auf unterschiedlichen Ebenen zum Ausdruck. Bei der Analyse des Merkmals der Obsession mit (körperlichen) Öffnungen ist festzustellen, dass Klaus sich mit seinen Perversionen der Obszönität von Alexander schon annähert, aber ihr keinesfalls gleichkommt. Es ist dabei wichtig zu bemerken, dass Klaus‘ Perversionen in erster Linie nicht der Erfüllung seiner eigenen Sexualtriebe dienen sollen, sondern dass er sie ganz ernsthaft als Rettungsversuch des Sozialismus betrachtet. Auch seine erste Begegnung mit Sex erfolgt nicht aus Eigennutz, sondern scheint eine rein pragmatische Wahl zu sein: „Über die Stasi dürfte ich nichts ausforschen, um meine Eltern nicht ins Gefängnis zu bringen – also befasste ich mich 115 Zu ‘Goldbroiler’ im Duden Deutsches Universalwörterbuch. 5., überarbeitete Auflage. Hg. von der Dudenredaktion. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag 2003, S. 666: „(regional) goldbraun gegrilltes Hähnchen.“ 85 mit Sex.“ [HWW: 80] Alexander Portnoy’s Obsession mit sachlichen und menschlichen Öffnungen dagegen stammt in erster Linie schon aus seiner eigenen Libido – nur implizite ist auch bei ihm eine ideologische Komponente zu entdecken, die ich später in der ideologiekritischen Analyse dieser Arbeit behandle. Auch bei der Analyse des ersten Bachtinschen Merkmals des Grotesken, d.h. der karikierende Verzerrung und Grenzüberschreitung, ist deutlich geworden, dass Portnoy’s Complaint eher mit einer Grenzüberschreitung in Richtung des Obszönen, und weniger in Richtung einer lächerlichen Karikatur wirkt, als das bei Helden wie wir der Fall ist. Daher möchte ich schließen, die Körpergroteske, bezogen auf die verzerrte Sexualität, sei bei Alexander Portnoy am plausibelsten mit den Adjektiven obszön und pornographisch zu bezeichnen, während Klaus Uhltzschts groteske Sexualität vielmehr als eine lächerliche Karikatur wirkt. Mirjam Gebauer macht denselben Unterschied: Die Schilderungen der Körperlichkeit von Klaus können m.E. nicht als pornographisch bezeichnet werden. Das pornographische Element wird vielmehr durch die Aspekte des Grotesken verdrängt […].116 Die Körpergroteske mit anderen Worten verzerrt in Helden wie wir ins Lächerliche, in Portnoy’s Complaint ins Obszöne. Dass dieser Unterschied dennoch keinen Einfluss ausübt auf die ideologiekritische Komponente des Grotesken, die in der Sexualität der Protagonisten steckt, möchte ich weiter in der Analyse der Ideologiekritik belegen. 2.2.2.2. Der groteske Körper von Klaus und Oskar Zur Analyse des grotesken Körpers der Protagonisten möchte ich nochmals das Merkmal der „buitenmaats naar voren springende lichaamsdelen (neus, penis, borsten, achterste), openingen (mond, vagina)“117 anführen, aber diesmal, im Gegensatz zur Analyse der grotesken Sexualität von Klaus und Alex, in der die Öffnungen in den Mittelpunkt gerückt wurden, vor allem die exzessiven Körperteile hervorheben. In dieser Hinsicht sind nicht nur die Körper von Klaus und Oskar grotesk, sondern können wir auch Alexander in Betracht ziehen: Seine für Juden klischeehaft große Nase – „That ain’t a nose, it’s a hose!“ [PC: 150] – ist nämlich ein wichtiger Teil seiner (jüdischen) Identität und vor allem eine Quelle seiner körperlichen Frustrationen. Alexander glaubt sogar, seine groteske Nase stehe im Dienste der Ideologie, gegen die er ständig 116 117 Gebauer: „Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 230. van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193. 86 revoltiert, und brandmarke ihn, sodass ‚shikse‘ Mädchen abgeschreckt werden und nur jüdische Mädchen ihn als möglichen Liebespartner in Betracht ziehen, „as though my own nose bone has taken it upon itself to act as my parents‘ agent!“ [PC: 150] Die Größe der Nase enthält m.E. jedoch keinen Grund, Alexanders Körper an sich als grotesk zu bezeichnen, weil dieses Merkmal eher zum jüdischen Klischee als zur Körpergroteske beiträgt, und deswegen keine eingreifende ‚Aberration der menschlichen Harmonie‘118 impliziert, die bei Klaus und Oskar schon, und viel ausgeprägter, vorzufinden ist. Ich werde im Folgenden auf die verschiedenen grotesken Elemente ausführlicher eingehen, möchte aber hier schon auf einige Elemente hinweisen, um den Unterschied zu Alexander Portnoys Körperlichkeit deutlich zu machen: Klaus bekommt letztendlich einen außerordentlich großen Penis, Oskar durchbricht die menschliche Harmonie durch seine Entscheidung, nicht mehr zu wachsen. Das ‚klassische Körperschema‘ wird in Helden wie wir und der Blechtrommel viel ausgesprochener als in Portnoy’s Complaint durchbrochen. Auf den ersten Blick manifestiert sich das Groteske im Körper von Klaus und Oskar als zwei entgegengesetzte Ambitionen: Während Klaus nichts lieber will, als dass ein bestimmter Körperteil wachse, und er letztendlich auch einen ‚Riesenschwanz‘ bekommt, bleibt Oskar vorsätzlich im Wachstum zurück. Klaus‘ körperliche Aberration situiert sich also im Übermaß, im Riesenhaften, Oskars Aberration wird vom Untermaß, vom Gnomenhaften gekennzeichnet. Oskars Körpergroteske sollte aber nuanciert werden, denn nicht nur Kleinheit prägt seine körperliche Abweichung, die Verstörung der menschlichen Harmonie. Oskar hat nämlich nicht den normal proportionierten Körper eines Dreijährigen: In Gegensatz zu Klaus, der „die kleinste Trompete“ [HWW: 101] hat, entspricht die Penisgröße des sonst liliputanischen Oskar seinem tatsächlichen Alter; darauf spielt er schon ziemlich früh in der Geschichte an: „Dabei, und hier muß auch Oskar Entwicklung zugeben, wuchs etwas – und nicht immer zu meinem Besten – und gewann schließlich messianische Größe“ [DB: 71]. Die implizite, fast tabuisierte Umschreibung des ‚Etwas‘, und die Anspielung auf die Größe des Geschlechtsteils im vorhergehenden Satz – „größere Schuhe und Hosen“ [DB: 71] – lassen vermuten, dass 118 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193. 87 Oskar hier nicht nur auf sein Trommeln119 hindeutet. Konkret heißt es weiter im Roman, Oskar habe für seine niedrige Größe jedoch „ein Geschlechtsteil […] welches sich notfalls mit jedem anderen, sogenannten normalen männlichen Attribut hätte messen können“ [DB: 612]. Die Körpergroteske steigert sich, als Oskar sich doch zum Weiterwachsen entschließt, und dabei eine zusätzliche körperliche Verunstaltung in Form eines Buckels entsteht [DB: 561]. Laut Bachtin enthält das Groteske, wie gesagt, sowohl eine Vernichtung als auch eine Regeneration. In dieser Hinsicht ist es interessant zu beobachten, wie der groteske Körper der Protagonisten entsteht. Bei Klaus und Oskar ergibt der sich nämlich als Folge eines Sturzes, eines Unfalls, und impliziert somit schon eine Art Vernichtung. Die darauf folgende Regeneration, die wir bei den beiden Protagonisten vorfinden, verdient auch weitere Analyse, weil sie auf verschiedene Weise realisiert wird. Klaus‘ unabsichtlicher Treppensturz am Alexanderplatz, kombiniert mit der unsanften Begegnung mit einem Besenstiel, hat eine eingreifende Vernichtung zur Folge: Klaus Genitalien sind nicht länger als solche zu erkennen, seine ‚Eier‘ werden von den Ärzten bildhaft zum „[…]Salat“ [HWW: 290] reduziert und von ihm selbst als „Gemenge“ [HWW: 292] bezeichnet. Die Vernichtung bringt aber auch eine Regeneration mit sich, in dem im Duden120 verzeichneten biologisch-medizinischen Sinne des Wortes: Das verletzte, fast abgestorbene Gewebe erlebt eine natürliche, sogar spektakuläre Wiederherstellung. Fast als Wiedergutmachung für die „Kette der Erniedrigungen“[HWW: 294], die Klaus bisher durchstehen musste, wird er jetzt mit einem phallischen „Gemächte“ [HWW: 302] statt mit dem ehemaligen „Zipfelchen“ [HWW: 55] ausgestattet. Die Regeneration bei Oskar situiert sich auf einer anderen Ebene, die auch im Duden beschrieben wird. Oskar orchestriert seinen Treppensturz [DB: 73] so haargenau, dass seine Blechtrommel und er selbst möglichst wenig Schaden nehmen, immerhin doch genug zerstört wird, damit die Szene so glaubwürdig wie möglich aussieht: Oskar zieht einige Flaschen Himbeersirup mit sich, er selbst erleidet Verletzungen, die ihm „vier Wochen Krankenhausaufenthalt“ [DB: 74] einbringen. Danach heißt es, er bliebe 119 Siehe zu dieser Interpretation Volker Neuhaus: Günter Grass. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 1992, S. 33. 120 Duden Deutsches Universalwörterbuch, S. 1290. 88 „zwar sonst beieinander, nur wachsen wollte er nicht mehr.“ [DB: 75] Die Konsequenz des Sturzes ist, wie Oskar es angesichts der Erwachsenen allerdings ausscheinen lässt, die Vernichtung des Wachstums, und enthält auf den ersten Blick und für die Öffentlichkeit alles andere als eine Regeneration. Für Oskar aber ist die wichtigste Konsequenz des Sturzes gar nicht diese Vernichtung: Er hat den Sturz von Anfang an als Regeneration beabsichtigt, nicht im Sinne des biologischen Bereichs, sondern in einer bildungssprachlichen Bedeutung. Regeneration bedeutet nämlich auch „Erneuerung, erneute Belebung“121 von (geistigen, moralischen) Werten. Dadurch, dass Oskar sich dazu entschließt, nicht mehr zu wachsen, erneuert er den gängigen, normalen Lauf eines Menschenlebens, schafft er sich zugleich neue Regeln, nach denen er sein eigenes Leben führen wird. Er verweigert, sich nach den Werten, Gebräuchen und Sitten des Kleinbürgertums zu benehmen: „[…] da beschloß ich, auf keinen Fall Politiker und schon gar nicht Kolonialwarenhändler zu werden, vielmehr einen Punkt zu machen, so zu verbleiben“ [DB: 71]. Mit der Verweigerung des Wachsens unter der Tarnung des Treppensturzes ‚re-generiert‘ er das Leben, das seine Eltern ihm vorgezeichnet haben, und inszeniert seine eigene Neugeburt, seine persönliche Regeneration. Er lehnt es damit auch von vornherein ab, seine Verantwortlichkeit, die zum Leben eines Erwachsenen gehört, aufzunehmen, besorgt sich also eine Art Alibi für dasjenige, was eigentlich weitgehende Eigensucht ist. Krimmer hat in diesem Bereich Grass‘ „Jungbürgerrede: Über Erwachsene und Verwachsene“ zitiert: „Es ist die kindliche Ohnmachtsbezeugung, die infantile Geste, mit der Erwachsene ständig Schuld und Verantwortung außerhalb ihres eigenen Bereiches vermuten und mystifizieren.“122 Die Regeneration ist also eine andere als die in Helden wie wir, aber in den beiden Werken geht die Regeneration mit der Entstehung eines grotesken Körpers einher. Während Oskars Treppensturz das Wachstum einstellt und Ursache seiner körperlichen Kleinheit ist, bildet Klaus‘ Treppensturz dazu das Gegenteil, indem er gerade ein außerordentliches Wachstum erfährt – dieser Kontrast wurde schon besprochen. Magenau bemerkt noch eine zweite ‚gegensätzliche Parallele‘, denn „[d]er 121 Duden Deutsches Universalwörterbuch, S. 1290. Günter Grass: Essays II, S. 22, zitiert in Elisabeth Krimmer: ““Ein Volk von Opfern?” Germans as Victims in Günter Grass’s Die Blechtrommel and Im Krebsgang”. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies Volume 44, Number 2 (Mai 2008), S. 278. 122 89 Treppensturz, der in Helden wie wir am Ende steht“, steht in der Blechtrommel „am Beginn“123. Damit hat er natürlich Recht, nur vergisst er, die anderen Stürze der zwei Protagonisten zu betrachten. Meiner Meinung nach verdient auch Oskars Sturz bei der Beerdigung seines Vaters Aufmerksamkeit, denn der spielt für die Gestaltung des grotesken Körpers ebenfalls eine wichtige Rolle (weil hier aber keine Treppe im Spiel ist, dürfen wir Magenau für diese Unachtsamkeit mildernde Umstände zubilligen). Auch Klaus‘ erster Treppensturz, nach seiner Mielke-Onanie im Appartementhaus der Wurstfrau (dessen Folgen allerdings nicht so gravierend sind als diejenigen seines zweiten Sturzes) sollte näher betrachtet werden, weil Klaus durch diesen Fall immerhin in eine grotesk-lächerliche Situation gerät. Die Vernichtungskomponente ist auch bei diesem Sturz sehr deutlich anwesend, eine Regeneration lässt sich jedoch schwieriger ausmachen, obwohl wir das von Bachtin erwähnte Bild der uralten schwangeren Frau meiner Meinung nach einigermaßen mit dem Bild eines Neunzehnjährigen vergleichen können, dem seine Mutter, als wäre er ein kleines Kind, den Hintern wischt und die Intimteile pudert. Der normale Erwartungshorizont wird von dieser grotesken Verzerrung ebenso sehr durchbrochen, wodurch ein recht lächerliches Bild entsteht. Oskars zweiter Sturz vollzieht sich auf dem Friedhof, beim Begräbnis seines mutmaßlichen Vaters Alfred Matzerath, und wird in einem ersten Bericht dieses Ereignisses vom unverlässlichen Erzähler Oskar ausgelassen, danach aber doch ausführlich behandelt. Die Verbindung von Tod und Leben, von Vernichtung und Regeneration ist auch in dieser ‚Sturzszene‘ wesentlich: In der ersten Fassung erzählt Oskar, wie er sich dazu entschließt, seine Blechtrommel, das Symbol seiner Lebensfreude und zugleich auch die Inkorporierung seiner Sehnsucht nach der Geborgenheit seiner „embryonale[n] Kopflage“ [DB: 55] in der Gebärmutter seiner Mama, auch einen Tod sterben zu lassen, indem er sie ins Grab seines Vaters wirft. Gleich fängt seine Nase an zu bluten, und Schugger Leo gerät fast außer sich vor Freude: Von ihm erfahren wir, dass Oskar wächst [DB: 535]. Wenn Oskar diese Szene später wieder aufgreift, erfahren wir, dass er durch den Impakt eines Steines, den sein Sohn Kürtchen an den Hinterkopf seines Vaters wirft, ins Grab stürzt, seiner Blechtrommel nach. Doch besteht er darauf, er habe sich schon vor diesem Sturz zum Wachstum entschlossen – genauso wie er damals auch schon vor seinem Treppensturz 123 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 45. 90 die Entscheidung genommen hatte, nicht mehr zu wachsen. Trotzdem werden auch hier die Vernichtung des Sturzes und die Regeneration, diesmal schon eine biologische, miteinander verbunden: Oskar wächst erst nach dem Tod seines Vaters und der (sei es nur zeitweiligen) Vergrabung seiner Trommel weiter. Dabei gewinnt Oskar 27 Zentimeter an Länge [DB: 537], und anschließend wird den von Bachtin erwähnten, sich ausstülpenden Körperteilen besondere Aufmerksamkeit geschenkt: „Selbst seine Ohren, die Nase und das Geschlechtsorgan sollen, wie ich hier höre, unter den Schienenstößen des Güterwagens Wachstum bezeugt haben.“ [DB: 556] Der groteske, verzerrte Körper von Oskar hindert ihn übrigens nicht daran, auch ein – oft groteskes – sexuelles Leben zu führen, das sich einigermaßen an dem von Klaus und Alexander, messen lassen kann. Weil Oskars Sexualität jedoch viel weniger Parallelen zu der von Klaus und Alex aufweist, werde ich sie hier separat und nur kurz betrachten. Dadurch, dass Oskar wie ein Kind aussieht, und die Erwachsenen ihm deswegen immer eine Art Unschuld, eine Harmlosigkeit zumuten, sieht und versteht er öfters mehr von den Sachen, mit denen die Erwachsenen sich beschäftigen – ganz anders als bei Klaus, für den Sex und reine Körperlichkeit zu Hause Tabuthemen sind. So wird Oskar Zeuge der orgastischen Erlebnisse seiner eigenen Mutter und seiner ‚Lehrerin‘ Gretchen Scheffler, die beim Lesen der Geschichte Rasputins ihr eigenes Lustgefühl durch Masturbation befriedigen. Oskar identifiziert sich übrigens nicht selten mit dem Gesundbeter der russischen Zarenfamilie – dem übrigens auch ein grotesker Körper zugedichtet wurde, selbstverständlich ohne Anspruch der Wissenschaftlichkeit und wahrscheinlich eher als Teil der Legendenbildung. In einem Sankt Petersburger Museum124 befindet sich Rasputins angeblicher Penis mit dem grotesken Ausmaß von 30 Zentimetern. Rasputins Auftreten in der Orgie-Szene mag vorausdeuten auf Oskars eigene spätere sexuelle Erfahrungen: Auch er wird später keine Mühe damit haben, „gratis und bis in alle Ewigkeit [Orgasmen] aus[zu]teilen“ [DB: 114]. Nachdem er schon mehrmals seine Mutter und Jan Bronski bei ihren sexuellen Aktivitäten beobachtete, wird Oskar erst während des zweiten Weltkriegs (im zweiten Buch der Blechtrommel) selber sexuell tätig. Seine erste Liebe ist Maria, die spätere Ehefrau seines Vaters Matzerath: Bei einem Ausflug an den Brösener Strand 124 Bildmaterial und weitere Darlegung findet man auf der Heimseite des Erotika Museums Sankt Petersburg. 4. Mai 2009 <http://www.prostata.ru>. 91 werden Oskars sexuelle Gefühle zum ersten Mal erweckt. Auch Oskars Geschlechtsteil wird, genauso wie dasjenige von Klaus („die kleinste Trompete“ [HWW: 101]), zu einem Musikinstrument metaphorisiert: […] eine halb komisch, halb schmerzhaft beginnende Versteifung meines Gießkännchens unter dem Badeanzug [ließ] mich Trommel und beide Trommelstöcke um des einen, mir neu gewachsenen Stockes willen vergessen. [DB: 349] Danach ergibt sich eine Szene, in der Maria sich Oskars Beschäftigungen an ihrem „behaarten Dreieck“ gefallen lässt, und noch später werden, aufs Neue am Strand, ein Verführungstanz und ein darauf folgender Sexualakt (mithilfe von Brausepulver, Oskars Speichel und Marias Hand) metaphorisch dargestellt. Zu einem richtigen Sexualakt kommt es, nachdem zuerst eine andere Körperöffnung, Marias Bauchnabel, mit Brausepulver gefüllt wurde: Nicht nur erteilt Oskar dabei Orgasmen, wie Rasputin, den er vorhin beschrieben hatte, sondern erfährt auch selbst die Erfüllung seiner Lüste: Und da die [Pfifferlinge] tiefer versteckt unterm Moos wuchsen, versagte meine Zunge, und ich ließ mir einen elften Finger wachsen, da die zehn Finger gleichfalls versagten. Und so kam Oskar zu einem dritten Trommelstock – alt genug war er dafür. Und ich trommelte nicht Blech, sondern Moos. [DB: 363] Erst wirklich grotesk wird Oskars Sexualität im Sexualverkehr mit Lina Greff, der Witwe des homosexuellen Gemüsehändlers Greff, weil er jetzt, nachdem er von Maria hart abgewiesen wird, nicht mehr aus Liebe, sondern aus Frustration, Ressentiment und Befriedigungsdrang seiner Triebe mit ihr ins Bett geht – genauso wie wir das auch bei Klaus und Alexander vorfinden. Oskar bezeichnet dieses sexuelle ‚Verhältnis‘, wenn überhaupt davon die Rede sein kann, ganz sachlich und ohne jegliches Gefühl als das Praktizieren seiner „letzten Übungen“ [DB: 405], die ihm „einige sensible Handfertigkeiten“ [DB: 425] beibrachten. Auch Lina Greffs Körper mutet grotesk an: Ihr übler Gestank deutet auf die von Bachtin erwähnte ‚Desintegration‘125 hin. Oskars Beziehung zu Roswitha Raguna ist meines Erachtens doppelt aufzufassen: Einerseits ist sie grotesk, indem die körperliche Aberration hier gehäuft, verdoppelt wird. Andererseits und in Vergleich zu Oskars anderen sexuellen Beziehungen, ist sie nicht grotesk, weil im Bild des Zusammenseins dieser zwei Gnomen die menschliche Harmonie und die Komponente der körperlichen 125 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193. 92 Geschlossenheit vertreten ist: „Ich suchte ihre Angst ab, sie suchte meinen Mut ab. Schließlich wurde ich etwas ängstlich, sie aber bekam Mut.“ [DB: 430] Eine ähnliche Harmonie findet Oskar in keinem seiner anderen sexuellen Verhältnisse, denn auch seine letzte ‚Liebe‘ für Schwester Dorothea, die eher als Oskars Fetisch für Krankenschwester im Allgemeinen zu beschreiben wäre, erscheint in einer grotesken Form: Erstens befriedigt Oskar seine Triebe, indem er in ihrem Kleiderschrank masturbiert, später verübt er in der Gestalt Satans (Symbol für Vernichtung und Tod symbolisiert) an der Krankenschwester (Symbol für Regeneration und Leben) einen Vergewaltigungsversuch, den sie anfänglich mit Einstimmung erwidert: „Komm Satan, o komm doch!“ [DB:680] Genauso wie Klaus und Alexander in einem entscheidenden Moment (bei ihrer großen Liebe Yvonne bzw. Naomi) von Impotenz betroffen werden, erlebt Oskar bei Schwester Dorothea, die er „heiß und innig liebe“ [DB: 681], „eine beschämende Pleite“: „Es gelang mir nicht, den Anker zu werfen.“ [DB: 680] Im Gegensatz zu Klaus und Alexander möchte ich diese Impotenz nicht mit einer ideologischen Komponente verbinden126, sondern mit seiner ‚Emotionslosigkeit‘, sein Unvermögen, Liebe (oder Emotionen schlechthin) zu fühlen: „Now Oskar's emotional detachment manifests itself as physical impotency.“127 Verzerrt ist die Sexualität von Oskar also allerdings, wird aber nicht als obszön oder lächerlich dargestellt, wie das bei Alexander und Klaus schon der Fall ist. 2.3. Der (nicht-)markierte Sarkasmus Die letzte Form von Humor, die ich behandeln möchte, hängt schon eng mit demjenigen zusammen, was ich im nächsten Kapitel, ‚Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der intertextuellen Analyse‘, ausführen werde. Die Analyse des Sarkasmus in Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel wird deswegen einerseits eine Einleitung zur Ideologiekritik bilden, verläuft andererseits noch immer über dieselbe Methodologie, mit der Ironie und Schelmengehalt und Körpergroteske analysiert wurden, das heißt mithilfe des van Gorp und Metzler Literaturlexikons. Während ich die Ironie und die Körpergroteske vor allem auf der Ebene der Geschichte und 126 Siehe für diese Interpretation das Kapitel ‚Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der Analyse‘. Susan M. Johnson: “Sexual Metaphors and Sex as a Metaphor in Grass' Blechtrommel”. In: Modern Language Studies, Vol. 22, No. 2 (1992), S. 86. 127 93 Figurengestaltung situiert habe, möchte ich den Sarkasmus, eine viel ernsthaftere Humorform als die zwei vorigen, auf der Ebene der Autorinstanz ansiedeln. Mehr als die anderen Humorformen dient er der Ideologiekritik der Autorinstanz – zumindest in Helden wie wir. Für Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel ist eine andere Schlussfolgerung zu erwarten: Sarkasmus ist sicher auch in diesen zwei Romanen vorzufinden, aber nach meiner Einschätzung in einer unterschiedlichen Erscheinungsform und auf einer anderen Wirkungsebene als in Helden wie wir. Bevor ich diesen Unterschied erläutere, ist es aber wichtig, eine Begriffsbestimmung von Sarkasmus vorzunehmen, und die spezifische Erscheinungsform in Helden wie wir zu betrachten. Danach wird in einer ‚intertextuellen‘ Analyse deutlich gemacht werden, wie der Sarkasmus in den zwei Prätexten auf eine andere Art und Weise in die Erzählstrategie eingebettet wird. Die intertextuelle Komponente deute ich mit Anführungszeichen an, weil es sich durch diesen Unterschied herausstellen wird, dass intertextuelle Bezüge im Bereich des Sarkasmus weniger wirksam sind, als im Bereich der Ironie, des Pikaresken und der Körpergroteske. 2.3.1. Die sarkastische Autorinstanz in Helden wie wir Van Gorp et al. umschreiben Sarkasmus als eine Form beißenden Spotts, bitterer und auch härter als Ironie, der der Sarkasmus verwandt ist: Sarkasmus bedient sich nämlich oft des Stilmittels der Ironie, erzeugt aber viel aggressivere Äußerungen als rein ironische. Den Unterschied zwischen den beiden Begriffen umschreiben van Gorp et al. folgendermaßen: “Terwijl het effect van ironie altijd gelegen is in een ambigue formulering (discrepantie tussen impliciete, bedoelde betekenis en expliciete verwoording), kan sarcasme ook direct zijn [meine Hervorhebung, mvl]”128. Aus der Analyse der Ironie in den drei Werken ist hervorgegangen, dass die Naivität – ein wichtiges Merkmal eines Schelms – vor allem bei Klaus Uhltzscht, dagegen viel weniger oder gar nicht bei Alexander Portnoy und Oskar Matzerath vorgefunden werden kann. Es gibt aber in Helden wie wir auch Textstellen, an denen die Naivität von Klaus völlig verschwindet und eine andere, direktere Stimme hervorzutreten scheint. 128 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 394: „Während der Effekt von Ironie immer in einer mehrdeutigen Formulierung liegt (Diskrepanz zwischen impliziter, beabsichtigter Bedeutung und expliziter Formulierung), kann Sarkasmus auch direkt sein [meine Übersetzung, mvl]“. 94 Die Unmittelbarkeit mancher Passagen, in denen Brussig Ironie und Komik völlig ausklammert, steht in großem Kontrast zum dominanten Ton der Geschichte. Dass der naive Antiheld Klaus plötzlich so nüchtern und mit klarem Blick über die damalige (und sogar noch heutige) Situation in Deutschland spricht, hebt sich von seinen gewöhnlichen ‚dumm-komischen‘ Aussagen ab. Nicht die Humorformen der Ironie, der Satire oder der Groteske sind dann wirksam, sondern der Sarkasmus. Die sarkastischen Passagen bilden scharfkritische und tiefsinnige Zwischenspiele, die die naiv-ironische, groteske und satirische Erzählhandlung unterbrechen. Der Sarkasmus in Helden wie wir wird, zugleich mit der Anrede „Mr. Kitzelstein“, die dem Leser sehr oft die ernsthaften Passagen signalisiert, als ein erzähltechnisches Mittel benutzt, um die ‚leichtere‘ humoristische Erzählung von den ernsthaften und ideologiekritischen Kommentaren abzugrenzen. Der in diesen sarkastischen Passagen angegriffene Gegenstand ist sehr oft das DDR-Volk. Charakterisiert wird es als dumm und verblendet vor der Wende, und faul und feige danach, indem es mit „erbärmlichen Ausreden, „ich habe niemandem geschadet…““ [HWW: 312] nicht eingestehen will, welche seine Rolle während der DDR-Zeit war. Aber auch Christa Wolf, die Stasi und das politisch-gesellschaftliche System der DDR werden ‚zerfleischt‘, wie demonstriert an Klaus‘ Vater und Mutter, die oft auch als Stellvertreter für ihre ganze Generation eintreten. An welchen Textstellen der Sarkasmus sonst hervortritt und wie diese Angriffe genau wirken, erläutere ich im nächsten Kapitel der Ideologiekritik. Im folgenden Zitat wird dieser ‚Stilbruch‘ treffend wiedergegeben; Klaus liefert gleich zuvor noch eine Probe seines Größenwahns, indem er über seine Ambitionen als Nobelpreisträger erzählt, aber plötzlich unterzieht er sich selber einer ernsthaften Analyse, die zu dieser ätzenden, sarkastischen Beobachtung seiner Vergangenheit ausartet: Wenn es heute keiner gewesen sein will, dann hat das mit einer Scham zu tun, die verhindert, über die Schande und über das Versagen zu sprechen. Die Grenze für das, was Widerstand gewesen sein soll, zieht man da, wo man selbst mal aufmuckte. Logisch, keiner will’s gewesen sein, alle waren irgendwie dagegen. Trotzdem flog Küfer von der Schule. Trotzdem stand die Mauer. [HWW: 105] Der Spott über das DDR-Volk wird noch beißender und verletzender gegen Ende von Klaus‘ Geschichte: 95 So artig und gehemmt wie sie dastanden, wie sie von einem Bein aufs andere traten und darauf hofften, sie dürften mal – kein Zweifel, sie waren wirklich das Volk. So kannte ich sie, so brav und häschenhaft und auf Verlierer programmiert […]. [HWW: 315] Tanja Nause umschreibt diesen Vorgang als „Abbrüche der inszenierten Naivität“129, in denen eine Art von Metakommentar hervortritt, für den die Autorinstanz selber das Wort führt. Gerade dadurch, dass Klaus sonst ein naiver Schelm ist, bekommen diese Passagen ihre ausgeprägt sarkastische Profilierung, wird der Sarkasmus ‚markiert‘: Er operiert auf einer Meta-Ebene, entfernt sich somit von der Figur Klaus und nähert sich eher der Autorinstanz. 2.3.2. Die sarkastischen Protagonisten in Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel Alexander Portnoy und Oskar Matzerath sind, im Gegensatz zu Klaus, nicht naiv. Gerade dadurch, dass die sarkastischen Passagen Klaus‘ gängige Naivität so ausgeprägt unterbrechen, bekommen sie in Helden wie wir eine klare Markierung130. In Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel kommen diese Unterbrechungen und die damit zusammenhängende Markierung des Sarkasmus nicht vor: Die beiden Protagonisten sind ständig scharfkritisch, haben den Sarkasmus als Teil ihres Diskurses inkorporiert, sei es auf eine unterschiedliche Art und Weise. Alexander schont in seinem ‚therapeutischen‘ Gespräch mit Dr. Spielvogel niemanden und spickt seine Rede ständig mit zerfleischendem, beißendem Spott: über seine Eltern und über seine jüdische Religion – diese wird oft bespottet, indem Alex einen ihrer ‚achtenswerten Diener‘ verhöhnt: Mother, Rabbi Warshaw is a fat, pompous, impatient fraud, with an absolutely grotesque superiority complex, a character out of Dickens is what he is, someone who if you stood next to him on the bus and didn’t know he was so revered, you would say, “That man stinks to high heaven of cigarettes,” and that is all you would say. […] Don’t you understand, the synagogue is how he earns his living, and that’s all there is to it. [PC: 73] 129 Nause: Inszenierung von Naivität. S. 168. ‘Markierung’ soll hier nicht mit dem schon erwähnten intertextuellen Begriff verwechselt oder gleichgesetzt werden; das Wort deutet in dieser Hinsicht auf die Ausgeprägtheit des Sarkasmus in Helden wie wir. 130 96 Alex‘ sarkastische Äußerungen treffen auch die ‚shikse‘ Mädchen, die Alex‘ Anforderungen nie genügen, und die nicht-Juden im Allgemeinen: You stupid goyim! Reeking of beer and empty of ammunition, home you head, a dead animal (formerly alive) strapped to each fender, so that all the motorists along the way can see how strong and manly you are […]. [PC: 81] Oskar dagegen gerät in seiner Pseudo-Autobiographie nie in helle Wut wie Alexander: Er hält seine Zunge viel mehr im Zaum, treibt auf eine kalte, subtilere Art und Weise seinen Spott mit seinen Eltern, dem Dritten Reich, dem Kleinbürgertum, usw., aber greift sie im Vergleich zu Alexander durchaus weniger direkt, weniger schroff an. Seine Kritik wird vielmehr in seinem Trommeln und Glaszersingen symbolisiert, und in seinen unterkühlt-ironischen Äußerungen impliziert. Manchmal kommt es jedoch zu einer direkten sarkastischen Kritik: Zum Beispiel seine Begegnung mit Frau Spollenhauer in der Pestalozzischule (im Kapitel ‚Der Stundenplan‘ [DB: 88]) verläuft alles andere als widerstandslos. Fräulein Spollenhauer trug ein eckig zugeschnittenes Kostüm, das ihr ein trocken männliches Aussehen gab. Dieser Eindruck wurde noch durch den knappsteifen, Halsfalten ziehenden, am Kehlkopf schließenden und, wie ich zu bemerken glaubte, abwaschbaren Hemdkragen verstärkt. […] Als es dem Fräulein Spollenhauer jedoch nicht gelang, meinen Trommelakt sogleich und richtig nachzuklopfen, verfiel sie wieder ihrer alten gradlinig dummen, obendrein schlechtbezahlten Rolle, gab sich den Ruck, den sich Lehrerinnen dann und wann geben müsste […]. [DB: 96-97] Auch die Schule an sich greift er an (laut Oskar stinkt die Sache, sogar infernalisch): Haben sie einmal an den schlechtausgewaschenen, halbzerfressenen Schwämmen und Läppchen jener abblätternd gelbumrandeten Schiefertafeln geschnuppert […]? […] ich […] stellte mich vor, daß ein eventuell vorhandenen Satan in seinen Achselhöhlen derlei säuerliche Wolken züchte. [DB: 109] Auch im Kapitel ‚Kein Wunder‘ [DB: 171] übt Oskar sarkastische Kritik, diesmal an der Kirche (und erneut wirkt er mit der schon beschriebenen Geruchsymbolik): „Nein, da roch ich ihn nur noch, den Katholizismus. Von Glaube konnte wohl kaum mehr die Rede sein.“ [DB: 183] Diese Art sarkastisch-ironischer Äußerungen ist nie aus Oskars Diskurs wegzudenken und erscheinen also auch nicht markiert, wie in Helden wie wir schon der Fall ist. In Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel ist der Sarkasmus durchgängig vertreten: Dadurch ereignen sich keine großen ‚Tonwechsel‘, die in Helden wie wir zwischen den naiv-ironischen und sarkastisch-spottenden Passagen schon 97 entstehen. Deswegen möchte ich schlussfolgern, dass der Sarkasmus in Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel auf der Ebene der Figuren wirkt, und nicht auf der Ebene der Autorinstanz wie in Helden wie wir. 98 3. Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der Analyse Nach der Analyse des Humors, in der auf die Humorformen Ironie, Groteske und Sarkasmus fokussiert wurde, möchte ich jetzt dem zweiten Pfeiler der Brussigschen Vergangenheitsbewältigung Aufmerksamkeit widmen: der Ideologiekritik. Wie wir aus den vorigen Abschnitten gelernt haben, steht der Humor in Helden wie wir fast immer der Kritik zu Diensten: Spott, geringschätzige Äußerungen, Verniedlichung, groteske Übertreibungen, Verhöhnung – eine ganze Skala wird eingesetzt. In Helden wie wir wird vor allem der Sarkasmus als inhaltlich-strukturierendes Element verwendet, um das Volk, die Stasi, die Ideologie zu kritisieren; daher möchte ich hier mehrere Textstellen, die als sarkastische Fremdkörper anmuten, gründlich analysieren. Neben dem Sarkasmus werden selbstverständlich auch die anderen schon analysierten Formen von Humor dabei wichtig sein, diesmal aber nicht primär in ihrem Auftreten, sondern in ihrer Funktion behandelt werden: Die geübte Ideologiekritik zu ergründen, ist Schwerpunkt dieser Analyse. Wie in den Untersuchungen zur Freudschen Theorie, zur naiven Ironie und dem damit zusammenhangenden Schelmengehalt, zur Körpergroteske und zum Sarkasmus, möchte ich auch in diesem ideologischen Pfeiler die intertextuellen Bezüge zu Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel berücksichtigen. Im Bereich der Intertextualität ist Ideologiekritik auf den ersten Blick vielleicht ein nicht so interessantes Thema: Dass wir in verschiedenen Werken ideologiekritische Positionen vorfinden, sei es in verschiedenen ‚Härtegraden‘, bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese Werke nur dadurch intertextuelle Bezüge aufweisen. Außerdem liegen die Ideologien, die in den drei Romanen kritisiert werden, weit auseinander. Helden wie wir kritisiert die DDR-Ideologie, Portnoy’s Complaint die jüdische Religion und Die Blechtrommel die ‚Ideologie‘ des Dritten Reiches. Trotzdem möchte ich eine gewisse Intertextualität unterscheiden, bei der die angegriffenen Instanzen als Leitfaden dienen: In den drei Romanen können wir die Ideologiekritik nämlich strukturieren und ‚kanalisieren‘, je nachdem wie die Ideologiekritik zum Ausdruck kommt, und vor allem, gegen welche Instanzen sie gerichtet ist. Die verschiedenen Ideologien werden auf zwei Weisen angegriffen: geradewegs und unmittelbar einerseits, auf Umwegen und mittelbar andererseits. 99 Bei der unmittelbaren Ideologiekritik steht – logischerweise – die Ideologie (oder das System) an sich in der Schlusslinie. Diese unmittelbare Kritik möchte ich im ersten Teil dieser Analyse behandeln. Bei der Ideologiekritik im zweiten Teil werden aber Menschen angegriffen, die als Vertreter des jeweiligen Systems funktionieren. Diese Vertreter sind in den drei Romanen in zwei weiteren Kategorien unterzubringen. Einerseits gibt es die Eltern, die als Vertreter für ihre Generation oder Ideologie betrachtet werden können und in dieser Eigenschaft kritisiert werden. Andererseits gibt es auch ‚das Volk‘ im Allgemeinen, das seine Ideologie vertritt: In Helden wie wir wird das ostdeutsche Volk angegriffen, in Portnoy’s Complaint die jüdische Gemeinschaft, und in der Blechtrommel das deutsche Kleinbürgertum. Anhand verschiedener Textstellen, in denen diese Instanzen angegriffen werden und die ideologiekritischen Positionen zu erkennen sind, möchte ich ein Bild der Ideologiekritik in den drei Romanen entwerfen. Dabei wird, wie immer, Helden wie wir der Ausgangspunkt sein. Ich beanspruche in meiner Analyse keine Vollständigkeit: Nicht alle Textstellen aus den drei Romanen, die sich als ideologiekritisch und sarkastisch erkennen lassen, werde ich behandeln können. Der ‚komparative‘ Aspekt, der in den ‚Freudschen Überlegungen‘ und vor allem in der Humor-Analyse anwesend war, wird hier auch einigermaßen in den Hintergrund gedrängt: Das Intertextuelle der Ideologiekritik situiert sich in meiner Analyse vor allem in den angegriffenen Instanzen. Deswegen werde ich die Romane in einzelnen Teilabschnitten unterbringen: Zuerst wird Helden wie wir analysiert, danach Portnoy’s Complaint und drittens Die Blechtrommel. Wenn aber in den zwei Prätexten auffällige Parallelen zu Helden wie wir vorzufinden sind, wird ihnen selbstverständlich Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn in der Literatur eine Ideologie zur Diskussion gestellt wird, kann das auf doppelte Art wirken, wie auch van Gorp et al.131 feststellen. Ein Text kann sowohl ideologiekritisch sein, als – paradoxerweise – zugleich auch ideologiebestätigend. Wir könnten sagen, dass Klaus in seiner Selbstdarstellung in der Episode seiner Agententätigkeit, während deren er für DDR-Koryphäen wie Minister Mielke und vor allem Erich Honecker schwärmte, die Ideologie bestätigt. In Portnoy’s Complaint ist die Ideologiebestätigung schwerer vorzufinden, weil Alex seine Kritik am Judentum auf eine schroffe, explizite Art äußert – ein großer Unterschied zu den anderen zwei 131 van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 212. 100 Romanen: In Helden wie wir ist die Kritik semi-explizit, in der Blechtrommel ist sie vor allem implizit. Trotzdem gibt es sicherlich auch ideologiebestätigende Elemente, z.B. als Alex über seine Schulzeit auf der ‚Weequahic High School‘ redet: „We were Jews – and we were superior!” [PC: 56] Auch kann die Tatsache, dass Alexander in Israel (der Wiege des Judentums) eine radikale Vertreterin seiner Religion heiraten will, für eine Ideologiebestätigung sprechen. Weiter in dieser Analyse werde ich die Kombination der Ideologiekritik und Ideologiebestätigung in Portnoy’s Complaint – nach Barbara Gottfried ein typisches Element der Werke Roths – eingehender behandeln: “Jewishness contributes to what the Roth hero most respects and yet most loathes in himself – that quality that makes him at one and the same time both superior and inferior to what is defined as masculine in America.”132 Auch in der Blechtrommel können wir eine ideologiebestätigende Wirkung unterscheiden: Oskars hellblaue Augen und künstlerische Tätigkeiten erinnern an Adolf Hitlers Ideale (wie auch Krimmer bemerkt133), und genauso wie Klaus bei der Stasi arbeiten geht, tritt auch Oskar den ‚alternativen Kriegsdienst‘ an, indem er in Bebras Fronttheater tätig wird. Die Ideologiekritik ist in der Blechtrommel auch vorwiegend implizit, wie schon in der Analyse des Sarkasmus kurz gestreift. Für Hans Magnus Enzensberger fehlt in der Blechtrommel sogar jede Ideologiekritik: Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen (…). Ich kenne keine epische Darstellung des Hitlerregimes, die sich an Prägnanz und Triftigkeit mit der vergleichen ließe, welche Grass, gleichsam nebenbei und ohne das mindeste antifaschistische Aufheben zu machen, in der Blechtrommel liefert (…). Seine Blindheit gegen alles Ideologische feit ihn vor einer Versuchung, der so viele Schriftsteller erliegen, der nämlich, die Nazis zu dämonisieren. Grass stellt sie in ihrer wahren Aura dar, die nichts Luziferisches hat: in der Aura des Miefs.134 Es ist meine Absicht, gerade die Passagen zu behandeln, in denen der Mief am stärksten ‚riecht‘, weil in dieser trockenen Darstellung des pervertierten Regimes sicher auch Ideologiekritik vorzufinden ist. Genauso wie in Helden wie wir und Portnoy’s Complaint sollte nämlich vor allem die Art und Weise, wie die Erzähler ihre jeweilige 132 Barbara Gottfried, zitiert in Tenenbaum: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”, S. 36-37. 133 Krimmer: “Germans as Victims?”, S. 277. 134 Hans M. Enzensberger, zitiert in Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 61 101 Geschichte erzählen, berücksichtigt werden: Der Humor, sei es Ironie, Groteske oder beißender Sarkasmus, vernichtet die Ideologiebestätigung und hebt die Kritik hervor. 3.1. Die pervertierte Ideologie in der Schlusslinie 3.1.1. In Helden wie wir: „Sozialismus braucht Perversion!“ Der Sozialismus wird bei Brussig oft direkt angegriffen, in sehr ernsthaften Passagen, wie dieser, die erst fast versöhnlich klingt, sich dann aber in eine beißende Kritik verwandelt: Das System war nicht unmenschlich. Es war nicht so, dass es nichts mit uns zu tun hatte. Es war menschlich, es verwickelte Menschen wie dich und mich, auf die eine oder andere Weise. Und darüber müssen wir reden. Über dich und mich. Über uns. Über das gegenseitige Kränken und Demütigen. Über das Abducken. Über das menschlich Miese. […] Das System war nicht unmenschlich. Aber es war menschenfeindlich. [HWW: 105] Trotzdem wird ‚das System‘, der Sozialismus, auch oft indirekt verhöhnt, und zwar durch die Verknüpfung mit dem Sexuellen und sogar mit der Perversion. Als Klaus acht Jahre alt ist, lernt er im Ferienlager das ‚Lied vom kleinen Trompeter‘ kennen, ein bekanntes DDR-Lied über Fritz Weineck, der sein Leben, nach der Legende, für Ernst Thälmann135, von Klaus liebevoll ‚Teddy‘ genannt, geopfert hat. Der kleine Trompeter ist also ein richtiger Held, eine Figur, die die Ideologie des Sozialismus verkörpert: Er hat sich in den Dienst einer größeren Idee gestellt. In seiner Kindheit schwärmt Klaus für diese Figur (was übrigens in der Verfilmung von Helden wie wir (1999) eine komisch-ironische Szene ergibt), und in seiner Kinderlogik schlussfolgert er, er sei „der wiedergeborene Kleine Trompeter“ [HWW: 101], weil er den kleinsten Schwanz, den ‚kleinsten Trompeter‘ hat. Auf diese Weise wird ein wichtiges DDR-Symbol auf eine leicht obszöne Weise verniedlicht und lächerlich gemacht. Im sechsten Kapitel, ‚Trompeter, Trompeter‘ – der Titel lässt schon vermuten, dass neue Obszönitäten aufwarten – können wir von einer richtigen Pervertierung der DDR reden. Klaus wird ein „Hühnerficker“ [HWW: 239], um die Gedanken und Handlungen des Gegners 135 Vorsitzender der KPD in der Weimarer Republik. Thälmann wurde 1933 von der Gestapo verhaftet und 1944 im KZ Buchenwald erschossen. Weitere Informationen über das Leben von Ernst Thälmann findet man auf der Heimseite der Gedenkstätte Ernst Thälmann in Hamburg. 21. Mai 2009. <http://www.thaelmann-gedenkstaette.de>. 102 besser zu durchschauen; sein sexueller Missbrauch eines Goldbroilers wird die erste einer langen Reihe von Perversionen. Er fängt eine Perversionsforschung an, die er unmittelbar mit dem Sozialismus und dessen Ideologie verbindet: „Sozialismus braucht Perversion, Perversion braucht Sozialismus“ [HWW: 247]. Diese ‚dialektische‘ Einheit – die Beziehung zum Marxismus leuchtet direkt ein – soll die letztendliche Rettung der DDR bilden: Klaus behauptet, dass die zwei Gegenpole einander ständig wechselseitig und günstig beeinflussen, und dass so die Synthese einer perfekten Sozialdemokratie zu erreichen sei, in der nach kapitalistischem Modell „Perversionen für die Massen“ [HWW: 248] verfügbar werden. Den Zettelkasten, in dem er seine Forschungsergebnisse unterbringt, nennt er ganz ironisch die „Kartei neuen Typus“ [HWW: 247] und schafft so einen Wortwitz, der in der Witzanalyse von Sigmund Freud nicht schlecht anstehen würde: Die Absicht der „Partei neuen Typus“, einer Idee, die im Leninismus-Marxismus136 entwickelt wurde, ist genau dieselbe wie die Absicht von Klaus: eine Modellgesellschaft des Sozialismus bewirken, hier allerdings gegründet auf die Diktatur des Proletariats und also nicht auf eine Diktatur von Perversionen. Auch hier spüren wir die Autorinstanz, die eins der ältesten Grundprinzipien des Sozialismus herabsetzt und als absurd kritisiert, indem sie es in die Merkmale der ‚Körpergroteske‘ einbettet und demzufolge karikiert. Auch Holger Briel erkennt die Kritik an der Absurdität der DDR und bezeichnet den Roman als „eine fortschreitende, andauernde Korrelation zwischen der Zunahme der sexuellen Perversionen Klaus‘ und den Perversionen des DDR-Staates“137. Ironischerweise ist die Perversionsforschung von Klaus als ein Rettungsmittel für den Sozialismus gemeint, nur erreicht und benutzt er die endgültige Perversion, einen Riesenpimmel, gerade in dem Moment, in dem der Sozialismus zusammenbricht. „Die Geschichte des Mauerfalls“ ist „die Geschichte [s]eines Pinsels“ [HWW: 7]. Am Ende der Geschichte erwähnt Klaus übrigens auch die Perversion des Westens, indem er, soeben über die Grenze gekommen, auf den Vorschlag „Wenn du dir ein Paar Mark verdienen willst…“ [HWW: 320-321] eingeht und als Pornodarsteller eingestellt wird. Während die Perversionen in der DDR Klaus‘ 136 Kleines Politisches Wörterbuch. Zusammengestellt unter der Redaktion von Gerhard König et al. Berlin: Dietz 1967. 137 Briel: “Humor im Angesicht der Absurdität“, S. 266. 103 persönliches Staatsgeheimnis waren, kann er sie nun im kapitalistischen Westen unverhüllt in der Öffentlichkeit betreiben, und wird zudem dafür bezahlt. 3.1.2. In Portnoy’s Complaint: Perversion in zwei Richtungen Auch in Portnoy’s Complaint sehen wir, wie Alexander auf eine direkte Art und Weise an verschiedenen Systemen und Ideologien Kritik übt, sei es durchaus nicht so ernsthaft wie Klaus in den sarkastischen Textstellen in Helden wie wir. Auch bleibt er, was diese direkte Ideologiekritik anbetrifft, oft allgemein, kritisiert nicht spezifisch das Judentum, sondern die Religion im Allgemeinen, mit marxistisch-kommunistischen Aussagen, die fast bedeutungsleer geworden sind (auch weil Alex überhaupt nicht konsequent nach diesen Prinzipien lebt): „Religion is the opiate of the people! And of believing that makes me a fourteen-year-old Communist, then that’s what I am, and I’m proud of it!” [PC: 74] und „Down with religion and human groveling! Up with socialism and the dignity of man!“ [PC: 168] Seine Kritik am Judentum erscheint meines Erachtens vor allem als mittelbare Kritik, d.h. als Kritik an seinen Eltern, am Rabbi Warshaw, und am jüdischen Volk. Trotzdem gibt es in Portnoy’s Complaint auch Kritik an Ideologien an sich, und genauso wie in Helden wie wir bekommt sie ihre Wirkung durch die Verbindung mit Sex und Perversion. Alex setzt das uralte Prinzip ‚koscher‘ außer Kraft, wobei Esswaren nach strengen, sauberen jüdischen Vorschriften zubereitet werden, indem er (sogar zwei Mal) eine Leber vergewaltigt [PC: 19 und 134] – gerade das Gericht, das seine Eltern später einer ‚goyischen‘ Kollegin seines Vaters als die typische jüdische kulinarische Spezialität („real jewish chopped liver“ [PC: 84]) servieren. Die Leber ist, nachdem Alex sie pervertiert hat, alles andere als koscher. Auch verweigert Alexander, sich den jüdischen moralischen Sitten anzupassen, d.h. ein jüdisches Mädchen zu heiraten, die seinen Eltern Enkelkinder schenken könnte, indem er ständig sexuelle Verhältnisse mit nicht-jüdischen Mädchen anknüpft. Diese Verhältnisse, vor allem die mit Mary Jane, muten oft pervers an (vgl. dazu ‚Die groteske Sexualität von Klaus und Alex‘), deswegen sind auch sie als ‚Perversion‘ zu bezeichnen. Alexander Portnoy identifiziert sich bei der Ausführung dieser zweiten Perversion übrigens mit Figuren, die für seine jüdische Ideologie ohne Bedeutung sind, dagegen aber im katholischen 104 Amerika eine wichtige Vorbildfunktion haben. So stellt er sich mit den Kolonisatoren und Amerikagründern „Columbus, Captain Smith, Governor Winthrop, General Washington“ [PC: 235] gleich, eifert diesen großen Vorgängern nach. Auch Klaus nimmt sich ähnliche Figuren zum Vorbild, die im kapitalistischen Westen wichtig sind, nämlich die technologischen (kapitalistischen) ‚Kolonisatoren‘ Henry Ford und Steve Jobbs [HWW: 248]. Solche Figuren symbolisieren all das, wofür Klaus‘ und Alex‘ eigene Ideologie (das DDR-Regime bzw. die jüdische Religion) nicht steht, was schon eine implizite Kritik an diesen Ideologien beinhaltet. In der Perversion von Alex‘ sexuellen Verhältnissen mit nicht-jüdischen Mädchen steckt aber auch eine Bestätigung seiner jüdischen Ideologie, wodurch die dem Judentum entgegengesetzten Ideologie angegriffen wird: die Ideologie des katholischen, „blond and blue-eyed“ [PC: 39] Amerika. Obwohl Alex während der Kindheit für Amerika schwärmt – „Rooting my little Jewish heart out for our American Democracy!“ [PC: 236] – verniedlicht er es durch eine pervers-sexuelle Metaphorik: Well, we won, […] and now I want what’s coming to me. My G.I. bill – real American ass! The cunt in country-‘tis-of-thee! I pledge alliance to the twat of the United States of America […]! [PC: 236] Er stellt Amerika fast wie eine willige Hure dar, denn “America is a shikse nestling under your arm whispering love love love love love!” [PC: 146]. Seine Verhältnisse mit den ‚shiksen‘ Mädchen sind durchaus respektlos, und indem er diese Mädchen ‚fickt‘, um es mit seiner Idiomatik zu umschreiben, ‚fickt‘ und missbraucht er auch Amerika: What I’m saying, Doctor, is that I don’t seem to stick my dick up these girls, as much as I stick it up their backgrounds – as though through fucking I will discover America. Conquer America – maybe that’s more like it. [PC: 235] Auch hier wird die Kolonisatorenmetaphorik wieder eingesetzt: Er will sich Amerika nicht unterwerfen, er möchte, dass Amerika sich ihm unterwirft. Dadurch, dass die Ideologie des katholischen Amerika in Portnoy’s Complaint oft mit Antisemitismus verknüpft wird („„This [swastika] surprises you? Living surrounded on four sides by goyim […]?““ fragt Uncle Hymie zynisch [PC: 52]), können wir sagen, dass Alexanders respektlose sexuelle Verhältnisse mit ‚shiksen‘ Mädchen gerade eine Ideologiebestätigung des Judentums beinhalten. Er nutzt sie aus aus Vergeltungsdrang für den Antisemitismus, dem die Juden in Amerika ausgesetzt sind, für die Ungleichheit, wie in diesem Zitat beschrieben: 105 […] so don’t tell me we’re just as good as anybody else, don’t tell me we’re Americans just like they are. No, no, these blond-haired Christians are the legitimate residents and owners of this place, and they can pump any song they want into the streets and no one is going to stop them either. [PC: 146] Diese Ideologiebestätigung ist von Alexander, angesichts seiner vielen Versuche, die Religion seiner Eltern loszuwerden, nicht explizite beabsichtigt, im Gegensatz zu Klaus, der mit seinen Perversionen schon eine Bestätigung des Sozialismus in Gedanken hat. Genauso wie Klaus eine Faszination für Frauen aus Westdeutschland, für „QuelleFrauen“ [HWW: 173] hat, ist Alex nur von nicht-jüdischen Frauen fasziniert. Beide ‚missbrauchen‘ diese Frauen, um ihre eigene Ideologie zu bestätigen: Klaus schaltet die IM Katalog, die ‚Quelle-Frau‘ pur sang, bewusst in seine Perversionen ein, die den Sozialismus retten sollten; Alex behandelt seine nicht-jüdischen Freundinnen ohne Respekt, als Rache wegen der von den Juden erfahrenen amerikanischen Respektlosigkeit gegen sie. 3.1.3. In der Blechtrommel: die perverse Wirklichkeit Wie ich schon anhand des Zitats von Hans M. Enzensberger illustriert habe, ist in der Blechtrommel die direkte Ideologiekritik weit schwerer vorzufinden als in Helden wie wir und Portnoy’s Complaint, vor allem was explizite Kritik am Nationalsozialismus betrifft. In dieser Hinsicht wird die Analyse der ‚mittelbaren‘ Ideologiekritik (an Alfred Matzerath, Jan Bronski und dem Kleinbürgertum) aufschlussreicher sein. Auch Neuhaus hat bemerkt, dass in der Blechtrommel eher Kritik an Individuen vorzufinden ist, als an Ideologien oder ganzen Bevölkerungsgruppen an sich: Grass „dividiert […] die ‚Kollektivschuld‘ durch die konkreten Individuen und stellt jedem seinen Anteil zu.“138 Auch eine indirekte Kritik, bei der wie in den anderen zwei Romanen die Ideologie mit einer sexuellen, perversen Komponente verknüpft wird, scheint auf den ersten Blick in der Blechtrommel nicht vertreten zu sein. Trotzdem gibt es schon Perversionen in Oskars Geschichte, aber er ist nicht wirklich deren Urheber, wie Klaus und Alexander das schon sind. Oskar registriert und erzählt nur die Perversionen, deren Zeuge er ist. Das Nazi-Regime – und der Krieg im Allgemeinen – sind pervertierte 138 Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 62. 106 Systeme an sich, perverser noch als das DDR-System, wie auch Brussig es in einem Interview umschrieb: „Je kunt over de DDR geen beklemmend boek schrijven als Die Blechtrommel, omdat het Derde Rijk een heel ander soort staatsperversie belichaamde.“139 Das DDR-System, erklärt Brussig, wurde nach der Wende oft ein ‚pervertierter Sozialismus‘ genannt, also schien es ihm gepasst, seinen Held zum perversen Sozialisten zu machen. Klaus‘ Perversionen seien aber kindlich, harmlos und vor allem komisch, und wenn Brussig ‚diese Geschichte im Dritten Reich situiert hätte, hätte das nicht funktioniert‘. Die Perversionen des Dritten Reiches seien nämlich grundverschieden: Todestrieb, Verstümmelungslust, Zerstörung. Diese Perversionen gäbe es in der DDR nicht: „Die DDR war schon totalitär, hat aber keine Millionen Menschen in den Tod gejagt oder Eroberungskriege geführt [meine Übersetzung, mvl].“ Auch Klaus behandelt in Helden wie wir diesen Unterschied zwischen dem Nazismus und dem Regime der DDR, nachdem er einen widersetzlichen U-Bahn-Fahrer laufen lässt und sich darüber Gedanken macht, dass so eine Freilassung während der NS-Zeit wohl nie möglich gewesen wäre: Wieso stellte ich mich mit Nazis auf eine Stufe? In einem Parteiverfahren würde ich antworten, daß dieser Satz in erzieherischer Absicht ausgesprochen wurde, um den Festgenommenen durch die Erfahrung, nicht erschossen zu werden, den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Nazidiktatur und unserem sozialistischen Staat zu verdeutlichen und dadurch seine Dankbarkeit und sein Zugehörigkeitgefühl gegenüber letzterem zu stärken. [HWW: 280] Während Klaus und Raymund den Fahrer niemals erschossen hätten, waren solche Hinrichtungen in Nazi-Deutschland keine Ausnahme. Wenn in der Blechtrommel perverse Situationen geschildert werden, schildert Grass, nach dem mimetischen Vorbild seines „Lehrers Döblin“140 also durchaus die Wirklichkeit, die schon verschiedene Perversionen enthält. Brussig verzerrt die Geschichte, macht sie zu einer perversen Körpergroteske, während Grass eine ohnehin geschichtlich verzerrte Situation realitätstreu darstellt. So schildert Oskar zum Beispiel das perverse Benehmen der Nationalsozialisten während der ‚Reichskristallnacht‘: 139 Filip Huysegems: „Autoropa. Thomas Brussig, of souvenirs uit het gesplitste Duitsland”. In: De Standaard (21.02.2002). <http://www.standaard.be/Artikel/Detail.aspx?artikelId=DSL21022002_014> : „Man kann über die DDR kein beklemmendes Buch wie Die Blechtrommel schreiben, weil das Dritte Reich eine völlig andere Staatsperversion verkörperte [meine Übersetzung, mvl].“ 140 Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 57. 107 Ich fand sie noch beim Spiel, als ich gleichfalls durch das Schaufenster in den Laden trat. Einige hatten sich die Hosen heruntergerissen, hatten braune Würste, in denen noch halbverdaute Erbsen zu erkennen waren, auf Segelschiffe, geigende Affen und meine Trommeln gedrückt. [DB: 260] Trotzdem wird auch in der Blechtrommel der Krieg zusätzlich ‚pervertiert‘, und zwar genauso wie in Helden wie wir und Portnoy’s Complaint, durch die Verbindung mit einer sexuellen Komponente. Oskar vergleicht nämlich dasjenige, was er mit Frau Greff macht - er ‚missbraucht‘ sie, als Rache wegen des Verhältnisses zwischen Maria und Vater Matzerath – mit der Kriegführung der deutschen Armee in Russland: Man mag mir nachsehen, dass ich den Schlammerfolgen der Heeresgruppe Mitte meine Erfolge im unwegsamen und gleichfalls recht schlammigen Gelände der Frau Lina Greff gegenüberstelle. Ähnlich wie sie dort, kurz vor Moskau, Panzer und LKWs festfuhren, fuhr ich mich fest; zwar drehten sich dort noch die Rädern, wühlten den Schlamm auf, zwar gab auch ich nicht nach – es gelang mir wortwörtlich im Greffschen Schlamm Schaum zu schlagen –, aber von Geländegewinn konnte weder kurz vor Moskau noch im Schlafzimmer der Greffschen Wohnung gesprochen werden. [DB: 399] Oskar nutzt Lina Greff aus, sie ist für ihn nur ein Studienobjekt, an dem er seine sexuellen Fertigkeiten üben kann [DB: 401]. Durch den Vergleich bekommt auch die Kriegsführung die Konnotation einer Vergewaltigung, einer Fingerübung in Grausamkeit. Später, als Danzig von der russischen Armee erobert wird, vergewaltigen die Sowjetsoldaten übrigens gerade die Witwe Greff [DB: 516], fast als eine Art Wiedervergeltung. 3.2. Die Menschen in der Schusslinie Wie schon erwähnt, wird nicht nur die Ideologie an sich angegriffen, sondern stehen in den drei Werken auch Menschen in der Schusslinie, die als Vertreter ihrer jeweiligen Ideologie, Religion oder Generation betrachtet werden können. In Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel erfüllen die Eltern dabei eine wichtige Rolle, die ich im ersten Abschnitt dieser Analyse untersuchen werde: So vertritt Lucie Uhltzscht die Generation der ‚Trümmerfrauen‘; Eberhard Uhltzscht (und auch die StasiAgenten Wunderlich, Grabs und Eule, mit denen Klaus zusammenarbeitet) vertreten die Stasi. In Portnoy’s Complaint vertreten sowohl Sophie Ginsky als auch Jack Portnoy das Judentum, und vor allem dessen negative Seiten: den ewigen Schuldkomplex, die 108 ständige Kontrolle, die Hypokrisie, das Ressentiment gegenüber Amerika. In der Blechtrommel möchte ich die Mutterfiguren (Agnes und Maria) außer Betracht lassen, weil sie meiner Meinung nach in der Ideologiekritik keine ausgeprägte Vertreter-Rolle erfüllen, vor allem gemessen an den zwei Vätern Alfred Matzerath und Jan Bronski: Beide sind Vertreter des Krieges. Außerdem vertritt Matzerath spezifisch den Nationalsozialismus, die ‚erste deutsche Diktatur‘. Im zweiten Teilabschnitt wird dann ‚das Volk‘ in den Mittelpunkt gerückt: Klaus kritisiert oft die Feigheit des ostdeutschen Volkes; in Portnoy’s Complaint wird die ‚Sage der leidenden Juden‘ kritisiert, sowohl von Alexander, als auch von einer zweiten Figur, Naomi. Schließlich registriert (und kritisiert, sei es wieder implizite) Oskar die Unleidlichkeiten des Kleinbürgertums, in dem das Hitlerregime einen Nährboden für blinde Mitläufer findet. 3.2.1. Die Kritik an der Elterngeneration 3.2.1.1. In Helden wie wir: ‚Stasi-Ratten‘ und Trümmerfrauen Im Abschnitt der ‚Freudschen Überlegungen‘ habe ich mich schon ziemlich ausführlich mit dem Mutter- und Vaterbild von Klaus beschäftigt. Jetzt aber möchte ich Lucie und Eberhard Uhltzscht als Stellvertreter ihrer ‚Generation‘ betrachten. Im Hinblick auf Lucie Uhltzscht werde ich den Begriff Generation ganz konkret auffassen, weil Klaus diese Generation – im Sinne von Altersgruppe – und vor allem den Generationsunterschied öfters explizit erwähnt. Sie vertritt nämlich die etwas mitleiderregende Generation der sogenannten ‚Trümmerfrauen‘. Im Hinblick auf Eberhard Uhltzscht als Stellvertreter einer ‚Generation‘ liegen die Dinge allerdings anders: Er repräsentiert in Helden wie wir keine spezifische Altersgruppe, sondern den Berufsstand der Stasi-Agenten (wie auch Wunderlich, Eule und Grabs). Ich möchte den Begriff ‚Generation‘ hier also ideologisch auslegen. Der Begriff ‚Vatergeneration‘ als Äquivalent der Stasi-Generation – die im strengen Sinne des Wortes keine Generation ist – sei deswegen in Anführungszeichen zu lesen. Klaus‘ Vater redet nicht mit seinem Sohn, er führt ein Gespräch, als wäre es ein Verhör, er bastelt allerhand spitzelhafte Konstruktionen zusammen, deren Bedeutung Klaus bloß erraten kann, nicht einmal auf seinem Sterbebett denkt er daran zu zeigen, 109 welche Schmerzen er empfindet, er bleibt sein ganzes Leben verschlossen und hartherzig. Wir können ihn – im Gegensatz zu seinen indirekten Kollegen Wunderlich und Co. – als die Verkörperung der ‚echten‘, ‚gefährlichen‘ Stasi betrachten. Ein Hauch von Rätselhaftigkeit hängt um ihn, bis nach seinem Tod. Klaus kritisiert diese Rätselhaftigkeit der Stasi ganz konkret – alle wissen dort, wo sie sind, außer Klaus. Neben der Verhöhnung der Inkompetenz der Stasi, die ich weiter noch kurz behandle, lesen wir vor allem eine Kritik daran, dass nach der Wende keiner zugeben wollte, er sei Stasi-Mitarbeiter oder -Agent gewesen: „Guten Tag, Herr Schulze, ich bin der Herr Mielke vom Ministerium für Staatssicherheit, für das Sie, wenn ich Ihre eigenhändig verfasste Verpflichtungserklärung richtig verstanden habe, als Informeller Mitarbeiter fungieren. Und eh ich’s vergesse, möchte ich Ihnen auch heute wieder zu Beginn unserer Unterredung meinen Klappfix vom Ministerium für Staatssicherheit, der mich als Mitarbeiter der Staatssicherheit ausweist, zeigen, damit Sie auch bei ihrem fünfundzwanzigsten Zusammentreffen mit der Staatssicherheit der Gewissheit haben können, mit einem Mitarbeiter der Staatssicherheit zu sprechen und nicht etwa einem der Polizei, der Stadtbezirksverordnetenversammlung oder der Staatlichen Versicherung, um nur die beliebtesten Verwechslungen zu nennen, denen Treffen mit Staatssicherheitsleuten anheimfallen.“ Nein, so lief das nicht. [HWW: 114] Als Eberhard Uhltzscht stirbt, ist das für Klaus eine große Erleichterung: Er kann endlich seinen Kampf, um die Gunst seines Vaters zu erwerben, einstellen. Den pazifistischen Leitspruch ‚Nie wieder Krieg‘, der seit 1924 vor allem durch die Lithografie von Käthe Kollwitz bekannt wurde, verwandelt er in „Nie wieder Vater“ [HWW: 267]: Es scheint, als ob ab jetzt nicht nur Eberhard, sondern auch Klaus ‚in Frieden ruhen‘ könnte. Gerade nachdem Klaus über den Tod seines Vaters erzählt hat, fährt er fort mit der Erzählung über sein Nahtoderlebnis, das er überlebt: Das Leben von Klaus wird hier indirekt mit dem Tod seines Vaters verknüpft. Schon mehrmals habe ich erwähnt, dass in Helden wie wir immer wieder die Inkompetenz der Stasi verlacht wird, was vor allen Major Harald Wunderlich, Oberleutnant Martin Eulert und Hauptmann Gerd Grabs sich zum ‛Verdienst’ anrechnen können. Insbesondere Wunderlich bekommt eine Art Vaterrolle, er ist „eine Art Mentor oder Zen-Meister“ [HWW: 150], und der erste, der Klaus sagt, er sei tatsächlich bei der Stasi. Bald wird es ihm aber deutlich, dass diese Männer keine großen Lichter sind. Das Bild der allwissenden Stasi wird hier vernichtet, sie wissen im Gegenteil sehr wenig: 110 „Das war bestimmt wieder dein OV Induvidialist.“ Dann raunte er mir zu: „Das ist ein Deckname, und OV heißt Optimaler Vorwand.“ „Oppositioneller Vorfall“, verbesserte Grabs. „Operativer Vorgang“, sagte Wunderlich. [HWW: 162, meine Hervorhebung, mvl] „Also befragen wir einige Bürger des Wohngebietes“, sagte Wunderlich. „A – Polizisten, B – Lehrer, C – Arbeitsveteranen, vertrauensvolle Genossen und unsere IMs.“ „Interessante Mitläufer“, raunte mir Eule zu. „Inoffizielle Mitglieder“, verbesserte Grabs. „Oder Informative Mitarbeiter?“ Er war sich nicht sicher. [HWW: 163] Die Inkompetenz dieser Stasi-Agenten steht übrigens im Kontrast zum Talent von Klaus: Als Sohn seines Vaters ist er wie geschaffen für die Agententätigkeit. Klaus macht schon als Kind genau dasjenige, was zur Hauptbeschäftigung der Stasi gehört: Er führt Protokoll über seinen „heimlichen Feind“ [HWW: 79]. Klaus redet auch in der typischen Stasi-Idiomatik, der „neuen Sprache“ [HWW: 180], ohne dass er sie von jemandem gelernt hätte. Hier schildert Brussig die Tätigkeiten der Stasi als ein Kinderspiel: Die Tatsache, dass genau der Prototyp eines Schafskopfs, Klaus Uhltzscht, das Talent zum Denken hat wie ein Spitzen-Stasi („Jede leere Seite ist ein potentielles Flugblatt!“ [HWW: 166]), setzt die Staatssicherheit und ihre Agenten herab. Wie auch Tanja Nause bemerkt: „[Sie] sind natürlich absolute Spottbilder von Wächtern einer Gesellschaft, die ihren Bürgern grundsätzlich misstraute.“141 Die Art und Weise, wie Klaus über seine Mutter und ihre Generation spricht, ist völlig verschieden von der, wie er über die Vatergeneration denkt und redet. Während Klaus den ‚Vätern‘ gegenüber eher einen Zorn aufweist, was sich in abfälligem Spott und ätzender Kritik äußert, bemitleidet er die Muttergeneration, deren wichtigste Vertreterinnen selbstverständlich Lucie Uhltzscht, aber auch Jutta Müller, Christa Wolf und Dagmar Frederic sind.142 Mr. Kitzelstein, eigentlich wäre es zum Lachen, wenn es nicht so scheißtragisch wäre – aber diese Mütter und Eislauftrainerinnen hängen wirklich am Sozialismus. Sie sind aus den Trümmern der tausend Jahre gekrochen. […] Sie hatten weiß Gott keine vorzeigbare Vergangenheit und obendrein eine freudlose Gegenwart. Aber die Zukunft! Die muss es bringen! Und wenn sie abends am Lagerfeuer saßen, […] [soffen alle] sich selig an einer großen Pulle, auf deren Etikett Sozialismus stand. Das hielt warm. Und sie schwärmen noch heute vom wahren Sozialismus – aber sie meinen damit eigentlich ihre Lagerfeuergefühle. 141 Nause: Inszenierung von Naivität, S. 156. Auszunehmen davon ist aber Christa Wolf, der Klaus eine scharfkritische Sonderbehandlung widmet, die schon im Abschnitt der ‚Freudschen Überlegungen‘ behandelt wurde. 142 111 Ich meine das nicht überheblich. Es wäre mich genauso gegangen. [HWW: 287288] Man spürt im Zitat eine Tragik, eine mitleidige, aber zugleich resignierte Haltung gegenüber der Muttergeneration, der ‚Aufbaugeneration‘. Die Lagerfeuergefühle, von denen hier die Rede ist, bieten eine alternative Umschreibung der Ostalgie, in der man die DDR auf ein Piedestal stellt. Die Ostalgie wird hier nicht als Heimweh nach dem ‚System des Sozialismus‘ bewertet, sondern als Heimweh nach dem Gefühl von Zusammengehörigkeit und scheinbarer Sicherheit in einer ziemlich verschlossenen Gesellschaft, Heimweh nach dem Sozialismus der Anfangsjahre. Dieses sentimentale Lagerfeuergefühl, so wird impliziert, gibt es heute in der inzwischen vereinten kapitalistischen Welt nicht mehr. Der Kontrast mit dem vorangehenden Absatz, in dem Klaus Jutta Müller und Christa Wolf, zwei ganz unterschiedliche Ikonen der DDR, miteinander vertauscht, kann nicht größer sein: Hier gibt es plötzlich einen versöhnlichen und viel weniger scharfen Blick auf die Elterngeneration und ihren Lebensbereich. Diese Frauen kamen aus den unruhigen Zeiten des Krieges, lebten in einer Zeit, in der man voll dabei war, die Trümmer der Geschichte zu beseitigen. ‚Sie wissen es nicht anders‘, als dass das System des Sozialismus ein Gefühl der Geborgenheit gibt: Und wenn die Winde des Kalten Krieges heulen, dann müssen wir enger zusammenstehen und uns aneinanderkuscheln und auf Lenin vertrauen, der größer ist als wir und weiter geschaut hat. [HWW: 102] Lucie Uhltzscht lässt Klaus diesen Generationsunterschied zwischen ihm und diesen ‚Trümmerfrauen‘ am stärksten einsehen, als sie einmal die Worte äußert, die den Titel des Buches bilden: „Wir haben uns für die Menschen aufgeopfert. Für ganz normale Menschen. Deshalb sind wir Helden.“ [HWW: 299] Das ‚wir‘, das sie benutzt, schließt nicht Klaus und seine Generation mit ein: er kann ‚ihrem‘ System und ‚ihrer‘ Ideologie nicht (länger) blind vertrauen, denn er habe „nie in aller Unschuld mitgemacht, mit ihrer naiven Begeisterung der Aufbaujahre“ [HWW: 299]. An dieser Stelle wird auch der Begriff ‚Held‘ neudefiniert: Ein Held ist hier nicht jemand, der ohne Angst einer gefährlichen oder schwierigen Situation die Stirn bietet, sondern einer, der sich ohne Protest durch das System unterdrücken lässt, weil er einfach nicht klüger ist, und der später fast als Entschuldigung für sein Unterlassen der Vergangenheitsaufarbeitung sagt, „es kann doch nicht alles schlecht gewesen sein“ [HWW: 26]. Klaus, der 112 ‚Antityp‘, richtet sich schließlich – bildlich und wörtlich – gegen diese Unfreiheit auf und wird in diesem Sinne zum Antihelden seiner Geschichte. 3.2.1.2. In Portnoy’s Complaint: Ressentiment und Hypokrisie der Juden Einer der wichtigsten Gründe, weswegen Alexander Portnoy auf der Couch des Psychiaters Spielvogel gelandet ist, ist seine Frustration über die Art und Weise, wie seine Eltern ihn im Geiste des Judentums erzogen haben: „Oh, and the milchiks and flaishiks besides, all those meshuggeneh rules and regulations on top of their own private crazyness!“ [PC: 34] Alex hat den aus dieser Erziehung folgenden ewigen jüdischen Schuldkomplex, den Jack und Sophie Portnoy verkörpern, wider Willen auch inkorporiert: “These two are the outstanding producers and packagers of guilt in our time!” [PC: 36] Im Gespräch mit Dr. Spielvogel versucht Alex seine Frustrationen, die seine Eltern ständig herausfordern, loszuwerden, aber gerät dabei oft mit diesem Schuldkomplex in Konflikt. Er schämt sich wegen seiner Erziehung, aber zugleich fühlt er auch Scham, wenn er gegen seine Eltern und ihre Ideologie vorgeht: “Shame and shame and shame and shame – every place I turn something else to be ashamed of.” [PC: 50] Jack und Sophie werde ich als Stellvertreter der jüdischen Religion, oder der jüdischen Lebensauffassung im Allgemeinen, betrachten. Indem Alex ständig gegen sie ‚wettert‘, greift er auch dasjenige an, was sie symbolisieren: In Portnoys Beschwerden werden die Ressentiments eines jüdisch-amerikanischen Einwanderermilieus zur Mitte des 20. Jahrhunderts kritisiert sowie eine bestimmte jüdische Selbstauffassung überhaupt. Dabei wird die Kritik hier dem Protagonisten direkt in den Mund gelegt […].143 Indem er gegen seine Eltern tobt und rast, attackiert er gleich immer die jüdische Religion und die jüdische Lebensauffassung, die Ursache daran, dass seine Eltern so sind, wie sie sind. Mit den folgenden Worten versucht er nicht nur seinen Eltern, sondern auch dem ideologischen (jüdischen) System, in dem sie ihm erzogen haben, den ‚Stinkefinger‘ zu zeigen: The macabre is very funny on the stage – but not to live it, thank you! So just tell me how, and I’ll do it! Just tell me what, and I’ll say it right to their faces! Scat, Sophie! Fuck off, Jack! Go away from me already! [PC: 112] 143 Gebauer: „Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten“, S. 232-233. 113 Jack Portnoy möchte ich als Vertreter dieses Ressentiments und des ganzen jüdischen Volkes (weil er sich selbst mit diesem Volk ausdrücklich identifiziert) betrachten. Sophie Portnoy vertritt eher die jüdische Selbstauffassung, die von Alex als scheinheilig entlarvt wird. In den Erörterungen zum Ödipuskomplex wurde schon die schwache Rolle, in die Jack Portnoy sich zwingen lässt, behandelt. Jack tritt als Vater fast nie autoritär auf (wie das bei Eberhard Uhltzscht schon der Fall ist), abgesehen von einer Szene, in der sein bluteigener Sohn, der seine Religion die kalte Schulter zeigt, ihm in der jüdischen Seele weh tut: Als Alex verweigert, in einer anderen Hose als seinen Jeans zur Synagoge zu gehen, sieht sein Vater darin „a mockery of [him]self, [his] family, and [his] religion“ [PC: 60]. Es entsteht eine heftige Diskussion, in der Jack Portnoy zum Befürworter und Stellvertreter des ganzen Judentums wird – schon die Nebeneinanderstellung von ‚Familie‘ und ‚Religion‘ deutet darauf hin. Er verteidigt das jüdische Volk schon, aber betont dabei nicht wirklich seine Größe und die Kraft seines Glaubens: Die jüdische Religion ist nicht ‚gut‘, sie ist ‚gut genug‘, geprägt von Drangsalen und Herzeleid, genauso wie der geschlagene Jack am Ende der Diskussion magenkrank und mit gebrochenem Herzen am Tisch sitzt: „[…] What do you know about the history of the Jewish people, that you have the right to call their religion, that’s been good enough for people a lot smarter than you and a lot older than you for two thousand years – that you can call all that suffering and heartache a lie!” [PC: 61] Alex hat ebenso wenig Respekt vor seinem Vater wie vor dem jüdischen Volk, mit dem Jack sich gleichstellt: „”And what about the Jewish people?” […] „Does he respect them? Just as much as he respects me, just about as much…”” [PC: 62] Indem Alex gegen seinen Vater revoltiert, revoltiert er zugleich gegen das ganze Judenvolk, ihre Geschichte, ihre Religion. Die ‚Sage der leidenden Juden‘ ist fast das Äquivalent der Lebensgeschichte von Jack Portnoy, der leidet, weil er ständig konstipiert ist – oder konstipiert ist, weil er ständig leidet: „[H]is kishkas were gripped by the iron hand of outrage and frustration.“ [PC: 5] In diesem Zitat erwähnt Alex die Frustrationen, die Ressentiments seines Vaters, die Jack auch zum Vertreter der nach Amerika immigrierten Juden zweiter Generation machen. Diese Generation steht im Dienst amerikanischer, meistens katholischer Firmen, für die sie zugleich eine große Missachtung fühlt, wegen der von ihr erfahrenen 114 Ausbeutung, Ungleichheit und Respektlosigkeit. Obwohl Jack Portnoy einer der tüchtigsten Angestellten des Versicherungsunternehmens Boston and Northeastern Life, „The Most Benevolent Financial Institution in America“ [PC: 6], ist – “[he] really works his balls off” [PC: 75] –, wird er nicht nur von seinen potentiellen Kunden verhöhnt [PC: 7], sondern begegnen ihm seine Chefs auch nicht mit dem nötigen Respekt: „where they had him they kept him“ [PC: 7]. Aussicht auf eine Beförderung wird ihm nie gegeben (nur wertlose Zertifikate und Medaillen), aber trotzdem bleibt Jack dem Unternehmen treu. Diese Selbstentäußerung erzeugt das Ressentiment: […] my father made it sound to me like Roosevelt in the White House in Washington… and all the while how he hated their guts, […] keeping him, you see, from being a hero in the eyes of his wife and children. [PC: 8] Das Ungerechtigkeitsgefühl, das bei Alex‘ Vater und in seiner Generation überhaupt lebt, mündet in einen Hass gegen die katholischen „blond and blue-eyed of his generation“ [PC: 38], die die Direktionszimmer der amerikanischen Betriebe bevölkern. Alex kritisiert diese tatenlose, schwache Haltung seines Vaters, ist sich seiner Überlegenheit gegenüber ihm ganz bewusst – er steigt z.B. schon in eine höhere Position auf –, aber trotzdem hat auch Alex dieses Ungerechtigkeitsgefühl inkorporiert: Yes, what made me so irate was precisely my belief that I was discriminated against. My father couldn’t rise at Boston & Northeastern for the very same reason that Sally Maulsby wouldn’t deign to go down on me. [PC: 238] Indem er seinen blonden und blauäugigen Freundinnen ohne Respekt begegnet, rächt er sich für das Unrecht, das seinem Vater und auch ihm zugefügt wird. Der Grund dafür, dass er auf sexuelle Art Rache übt, hat m.E. mit seiner ersten echten sexuellen Erfahrung zu tun, in der Sex gleich mit Rassismus verknüpft wird: Während Alex im Wohnzimmer von Rita ‚Bubbles‘ Girardi überall seinen Samen herumkleckert, beschimpft sie ihn zur seinen großen Empörung mit den Worten „son of a bitch kike!“ [PC: 180]: It’s just as my parents have warned me – comes the first disagreement, no matter how small, and the only thing a shikse knows to call you is a dirty Jew. What an awful discovery – my parents who are always wrong… are right! [PC: 180] Während wir meistens Alex‘ Abneigung, Mitleid und nachtragende Haltung gegenüber seinem Vater spüren, wird hier aber deutlich, wie er selbst auch die Ideologie, die er so verabscheut, bestätigt – wie auch Klaus Uhltzscht seinen Vater hasst und im Kindesalter 115 die Stasi zum Feind macht, aber nachher der Stasi beitritt und zum Prototyp eines gekonnten Agenten wird. Wie ihr Ehemann vertritt auch Alexanders Mutter Sophie ihre jüdische Religion, genauso, aber während er vor allem die Minderwertigkeitsgefühle und das jüdische Ressentiment vertritt, steht Sophie als Symbol für die jüdischen Überlegenheitsgefühle und die daraus resultierende blasierte Hypokrisie. „Die ‚jüdische Super-Mama‘ wird bei Brussig von der tüchtigen DDR-Mutti abgelöst“144: Wie Lucie Uhltzscht ist Sophie Portnoy eine allgegenwärtige, allwissende und mächtige Kontrollinstanz im Leben ihres Sohnes, die anfänglich noch dafür bewundert wird, später aber ein ständiger Ärger ist – „A Jewish man with his parents alive is half the time a helpless infant!” [PC: 111] Die beiden Mütter teilen die übertriebene Besorgtheit, mit der sie ihrem Sohn einen riesigen Schuldkomplex aufgehalst haben. Klaus aber begegnet seiner Mutter, Stellvertreterin der Trümmerfrauen, mit Mitleid, während Alex zur Mutter eine viel radikalere Haltung einnimmt, in der von Mitleid nicht, von beißendem Sarkasmus umso mehr die Rede ist: What are they, after all, these Jewish women who raised us up as children? […] Only in America, Rabbi Golden, do these peasants, our mothers, get their hair dyed platinum at the age of sixty, and walk up and down Collins Avenue in Florida in pedalpushers and mink stoles – and with opinions on every subject under the sun. It isn’t their fault they were given a gift like speech – look, if cows could talk, they would say things just as idiotic. Yes, yes, maybe that’s the solution then: think of them like cows, who have been given the twin miracles of speech and mah-jongg. [PC: 98] Der Unterschied zur Textstelle, in der Klaus über die Generation seiner Mutter spricht [HWW: 287-288], ist groß: Während Klaus für die naive, ‚dumme‘ Haltung der Mutter, die einfach nicht besser weiß, Verständnis zeigt, kritisiert Alex die Dummheit seiner Mutter (und ihrer Artgenossen) indem er sie schroff mit Kühen vergleicht. Warum seine Mutter aber so ist, wie sie ist, erklärt Alex nicht, was er schon macht bei seinem Vater (vgl. oben). In der kritischen Haltung gegenüber den Eltern ist also ein produktionsästhetischer Spiegel, eine Umkehrung zwischen Portnoy’s Complaint und Helden wie wir zu spüren: Während Alex seinen Vater bemitleidet und gegen seine Mutter (und ihre Hypokrisie) eher einen Hass hegt, ist die Situation bei Klaus umgekehrt; er hat Mitleid mit seiner Mutter und hasst seinen Vater. 144 Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten“, S. 226. 116 Schon im oben stehenden Zitat bemerken wir die Hypokrisie, die Alex in seiner Mutter so verhöhnt. Das Lebensziel der Frauen, die zu dieser Muttergeneration gehören, scheint nur darin zu bestehen, den Schein ihrer eigenen Vollkommenheit zu wahren, mit und vor allem über Freundinnen zu klatschen und mit den professionellen und persönlichen Erfolgen ihres Sohnes zu protzen. So beklagt Sophie sich gegen Alex oft über ihre eigene Güte, während sie ebenso xenophob und heuchlerisch ist wie die Frauen, über die sie redet: „I’m the only one who’s good to her. I’m the only one who gives her a whole can of tuna for lunch, and I’m not talking dreck, either. I’m talking Chicken of the sea, Alex. […] Esther Wasserberg leaves twenty-five cents in nickels around the house when Dorothy comes, and counts up afterwards to see it’s all there. Maybe I’m too good,” she whispers to me, meanwhile running scalding water over the dish from which the cleaning lady has just eaten her lunch, alone like a leper […]” [PC: 13] Alex sieht diese Hypokrisie schnell ein und verspottet sie, indem er sie bis ins Absurde übertreibt: Die angeberische Erzählung einer der Freundinnen seiner Mutter über ihren Sohn Seymour, „the biggest brain surgeon in the entire Western Hemisphere“ [PC: 99], wird von ihm mit einer grotesken, lächerlichen Reihe von Hyperbeln angereichert. Auch hier aber wirkt die Kombination des ‚Lächerlichen und Scheißtragischen‘: Als Alex die Geschichte von Ronald Nimkin erzählt, der – anscheinend unter dem ständigen Druck, ein guter Sohn zu sein – zusammenbricht und Selbstmord verübt, werden die weitgehenden Folgen der kontrollierenden und anspruchsvollen Haltung der Muttergeneration deutlich. Roth verwandelt den typischen Judenwitz hier in eine Tragödie – wenn auch am Rande –, aus der wir vielleicht die stärkste Ideologiekritik ableiten können. Als man sich die Frage nach dem Warum des Selbstmordes stellt, schreit Alex es aus: „BECAUSE WE CAN’T TAKE IT ANY MORE! BECAUSE YOU FUCKING JEWISH MOTHERS ARE JUST TOO FUCKING MUCH TO BEAR!“ [PC: 121] Trotzdem spüren wir hier auch eine Ideologiebestätigung, denn dieselbe Hypokrisie, die Alex so verspottet, ist auch Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Seine doppelte Haltung gegenüber Mary Jane, oder ‚The Monkey‘, beweist das: Sie ist die Verkörperung von Alex sexuellen Fantasien, aber intellektuell (und auch in religiöser Hinsicht) wird sie die hohen Anforderungen von Alex und seinen Eltern nie erfüllen können. Auch Tenenbaum kommentiert so Alex‘ von seiner Mutter geerbte Hypokrisie: 117 Alex is incapable of loving Mary Jane because her ignorance ultimately defines his failure as a Jew. […] Alex’ attempts to educate her are motivated not by a selfless commitment to another individual’s intellectual enlightenment but by his humiliation at her childlike intellect.145 Alex ist von den drei Protagonisten derjenige, der am heftigsten und am schroffsten Kritik an seinen Eltern übt, aber zugleich auch derjenige, bei dem wir am meisten eine implizite Ideologiebestätigung bemerken. Klaus und Oskar dagegen sind beide imstande, sich von ihren Eltern und deren Ideologie zu befreien. 3.2.1.3. In der Blechtrommel: Jan und Alfred als Vertreter des Krieges Als Oskar Haupt der Stäuberbande wird, hat das keineswegs mit seinen ideologischen Standpunkten oder politischen Triebfedern zu tun, sondern nur mit seinem Eigennutz und Opportunismus: Er möchte einfach die Stäuber beeindrucken, um wieder „ein Gefühl von Geborgenheit“ [DB: 483] zu erfahren. Oskar selber nimmt fast nie eine explizite (oder zumindest schroffe) ideologiekritische Haltung an, auch nicht gegen seine Eltern. Deswegen ist es m. E. kennzeichnend, dass wir die folgenden Worten nicht aus dem Munde von Oskar hören, sondern von Mister, dem „Zyniker und Theoretiker“ der Bande: „Wir haben überhaupt nichts mit Parteien zu tun, wir kämpfen gegen unsere Eltern und alle übrigen Erwachsenen; ganz gleich wofür oder wogegen die sind.“ [DB: 491] Wenn Oskar auch seinen Kampf nicht explizite zeigt und seine Kritik nicht explizite äußert, so spüren wir doch auch bei ihm einen ‚stummen‘ Protest, vor allem gegen Alfred Matzerath und Jan Bronski. In der Analyse des Ödipuskomplexes wurde schon die doppelte Haltung Oskars gegenüber seinen Vätern behandelt. Oskars Verweigerung, weiter zu wachsen, nachher seine Entscheidung, das Wachstum fortzusetzen, möchte ich nicht nur als ödipale Feindschaft zu seinen Vätern betrachten, sondern auch als implizite Kritik am Krieg im Besonderen und am Nationalsozialismus im Allgemeinen. Alfred Matzerath und Jan Bronski sind nämlich, wie ich im Folgenden argumentieren werde, Vertreter der zwei entgegengesetzten Parteien im Krieg. Nach dem Tod von Oskars Mutter löst sich die anfängliche amouröse Rivalität zwischen Oskars zwei mutmaßlichen Vätern nicht auf, sie wird jetzt eine politische – oder besser: der politische Aspekt stellt sich viel ausgeprägter heraus, denn die Rivalität war eigentlich immer schon ebenfalls eine politische. Nachdem Agnes den 145 Tenenbaum: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”, S. 38. 118 reichsdeutschen Alfred heiratet, stellt Jan sich als Reaktion darauf entschieden in den polnischen Dienst. Vor allem beim Aufstieg des Nationalsozialismus wird der politische Aspekt aber deutlich: Als Matzerath 1934 in die Partei eintritt, […] gab [er] erstmals seinen Ermahnungen, die er Jan Bronski wegen der Beamtentätigkeit auf der Polnischen Post schon immer erteilt hatte, einen etwas strengeren, doch auch besorgteren Ton. [DB: 145] Wie auch Neuhaus bemerkt, schildert Oskar Alfred und Jan weiter als blinde Anhänger ihrer Ideologie: An beiden mutmaßlichen Vätern demonstriert Oskar, wie ihre eigenen Entscheidungen für die Nazis oder die Polen von ihnen in wachsendem Maße nicht mehr als eigenes Tun empfunden werden, wie sie ihnen mehr und mehr entgleiten und als unabhängig von ihnen sich vollziehendes Schicksal empfunden werden.146 Vor allem die Art und Weise, wie Oskar seine Vatermorde verübt, ist im Hinblick auf Oskars implizite Ideologiekritik interessant: Zweimal erweist Oskar sich als heimlicher, echter Feind seiner Väter, gerade im Augenblick, in dem sie ihrem politischen Feind Auge in Auge gegenüberstehen und sie versuchen, ihrem Schicksal zu entfliehen. So ist Jan Bronski bei der Verteidigung der Polnischen Post alles andere als ein heldenhafter polnischer Soldat: Er möchte anfänglich eigentlich lieber desertieren, ist dazu aber ein zu großer Angsthase, was sich auch bei der Beschießung selbst herausstellt, denn „Jan lag zusammengekauert, hielt den Kopf verborgen und zitterte“ [DB: 295]. Als die Verteidigung geendet ist und die deutsche SS-Heimwehr Jan, Koybella, Viktor Weluhn und Oskar entdeckt [DB: 316], nimmt Oskar Rache und schickt Jan Bronski in den Tod: [Oskar stellte sich] zwischen schutzsuchend zwischen zwei onkelhaft gutmütig wirkende Heimwehrmänner, imitierte klägliches Weinen und wies auf Jan, seinen Vater, mit anklagenden Gesten, die den Armen zum bösen Mann machten, der ein unschuldiges Kind in die Polnische Post geschleppt hatte, um es auf polnisch unmenschliche Weise als Kugelfang zu benutzen. [DB: 318] Auch Alfred Matzerath wird von Oskar als gedankenloser Anhänger seiner Ideologie dargestellt, dessen Unwissenheit im entscheidenden Moment himmelschreiend ist: Fast zaghaft wie ein Kind, das nicht weiß, ob es weiterhin an den Weihnachtsmann glauben soll, stand Matzerath mitten im Keller, zog an seinen Hosenträgern, äußerte erstmals Zweifel am Endsieg […]. [DB: 514] 146 Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 68. 119 Oskar jagt ihn ebenfalls in den Tod, indem er seinem Vater vor den Augen der russischen Soldaten das NS-Parteiabzeichen mit offener Nadel gibt – „damit sie den Orden bei ihm finden konnten“ [DB: 532] –, worauf dieser es in seiner Mundhöhle verstecken will, aber darin erstickt und von den Soldaten erschossen wird. Der blinde Nachfolger Matzerath war für die Partei genauso unwichtig und winzig, wie die Läuse, die Oskar im selben Moment zerdrückt [DB: 518]. Es scheint, als ob Oskar in diesen zwei Fällen den Richter spiele, als ob er seine Väter auf ihre Verantwortlichkeit für die Ideologie, zu der sie sich entschlossen haben, weise, und sie strafe, weil sie ihrer Ideologie nicht treu bleiben – oder an erster Stelle weil sie sich einst zu dieser Ideologie entschlossen haben. Erst nachdem er seine zwei Väter losgeworden ist, und zugleich auch der Krieg geendet ist, entschließt Oskar sich auch, wieder zu wachsen: Die Umstände, die Menschen klein gehalten haben, sind jetzt aufgelöst. Genauso wie Oskar am Ende eines für die deutsche Geschichte wichtigen Zeitalters, und nach dem Tod seines Vaters, wächst, sehen wir, wie auch Klaus unter genau denselben Umständen wachsen wird. 3.2.2. Die Kritik an ‚dem Volk‘ 3.2.2.1. In Helden wie wir: Wir sind das Volk, oder? Wie ich schon erwähnt habe, wird in Helden wie wir öfters das ‚deutsche Volk‘ angegriffen. Schon in den ersten Minuten seines Gesprächs mit Mr. Kitzelstein verniedlicht Klaus ‚sein‘ Volk: „Als die Mauer plötzlich nicht mehr stand, rieb sich das Volk die Augen und musste schließlich glauben, es hätte selbst die Mauer abgerissen“ [HWW: 6]. Die Ostdeutschen erscheinen hier als dumm, unwissend und naiv, gerade die Eigenschaften, die Klaus prototypisch seinem jüngeren Ich zuzuschreiben pflegt. Jedoch zeigt es sich, dass das Volk nicht immer Schuld daran ist, dass es diese weitgehende Naivität aufweist: Es wird vom System, in dem sie aufgewachsen sind und leben, niedergehalten. Fragen sie nie einen Ostdeutschen nach den Menschenrechtsverletzungen damals; wir sind diese Art von Unterstellungen leid. Wenn Sie wirklich in Abgründe schauen wollen, dann fragen Sie lieber, was Menschenrechte sind. Darüber können wir reden wie der Blinde von den Farben – wir kennen sie vom Hörensagen. [HWW: 103] 120 Er kritisiert die Feigheit seines Volkes, in sehr harten und sarkastischen Worten: Wenn es heute keiner gewesen sein will, dann hat das mit einer Scham zu tun, die verhindert, über die Schande und über das Versagen zu sprechen. […] Logisch, keiner will’s gewesen sein, alle waren irgendwie dagegen. Trotzdem flog Küfer von der Schule. Trotzdem stand die Mauer. [HWW: 105] Der ‚Wir sind das Volk‘-Leitruf, mit dem man die Pseudo-Demokratie in der DDR an den Pranger stellte, wird von Klaus einfach weggehöhnt: Sie sind nicht wirklich das Volk, das revoltiert und protestiert gegen seine Unterdrückung, das für seine Freiheit eintritt. Sie sind ein Volk von Versagern, „ein Bild des Jammers“: Da standen die Tausenden ein paar Dutzend Grenzsoldaten gegenüber und trauten sich nicht. […] So artig und gehemmt wie sie dastanden, wie sie von einem Bein aufs andere traten und darauf hofften, sie dürften mal – kein Zweifel, sie waren wirklich das Volk. [HWW: 315] An dieser Stelle identifiziert sich Klaus mit dem Volk, aber es scheint, als ob er dann plötzlich eine Peripetie erlebt und gegen die Masse Abneigung empfindet: „So kannte ich sie, so brav und häschenhaft und auf Verlierer programmiert, und irgendwie hatte ich Mitleid mit ihnen, denn ich war einer von ihnen. Ich war einer von ihnen.“ [HWW: 315] Wie schon kurz gestreift, kommt durch die Betonung des Präteritums diese Abneigung noch stärker zur Geltung. Auch später distanziert Klaus sich von seinem Volk, indem er sagt, dass er schon die Möglichkeit hat, sich „die entsprechenden Fragen [zu] stellen“ [HWW: 312], was darauf hindeutet, dass er sich seiner eigenen Vergangenheitsbewältigung sehr bewusst ist. Diese Art Fragen, von denen er dann einige Beispiele gibt, muten ‚historisch‘ an, sie erinnern an die Nachkriegszeit, wie auch die ironisch-naive Betrachtung von Klaus, in der die Konnotation ‚wir haben es nicht gewusst‘ spürbar ist: „Aber gab es eine Wahrheit? Etwa, dass ich bei der Stasi anfange? Moment, Mr.Kitzelstein, das muss ich mir nicht in die Schuhe schieben lassen! Von Stasi war nie die Rede!“ [HWW: 112] Erwähnt wurde schon, wie Klaus auch richtig moralisch wird, indem er die Schuld der Ostdeutschen sozusagen auf sich nimmt, und sagt, sie müssten für ihre Tätigkeiten noch Rechenschaft ablegen [HWW: 312]. Am Ende der Geschichte äußert Klaus zum ersten Mal auch Tadel an Westdeutschland und seinen Bürgern, nachdem er nämlich Angst bekommt vor demjenigen, was er verursacht hat, vor der Freiheit, vor Deutschland. Er kritisiert die triumphierenden Westdeutschen, aufs Neue mit einem Schimmer von Ironie: „Was ist 121 denn dran an dieser Bundesrepublik, außer dass dort die besten BMW’s der Welt gebaut werden?“ [HWW: 322] Klaus‘ Schlussworte weisen diese Kritik noch stärker auf, weil er darin behauptet, Deutschland habe noch einen langen Weg vor sich: „Wer meine Geschichte nicht glaubt, wird nicht verstehen, was mit Deutschland los ist!“ [HWW: 323] Brussig deutet hier meines Erachtens darauf hin, dass das neue Deutschland, das von seiner Vergangenheit doch einen Denkzettel bekommen hat, noch immer etwas vom früheren Absurdistan in sich trägt. Immerhin hat Brussig gesagt, er wolle auch zum Kritiker der BRD werden147. 3.2.2.2. In Portnoy’s Complaint: die Sage der leidenden Juden Auch in Portnoy’s Complaint stellt Alex das jüdische Volk an den Pranger: In der Analyse von Jack Portnoy als Stellvertreter für das leidende jüdische Volk, habe ich schon einigermaßen die Kritik am Volk behandelt. Trotzdem möchte ich hier auf die ‚Sage der leidenden Juden‘ nochmals zurückkommen, weil Alex sie auch direkt, ohne seinen Vater als ‚Medium‘, kritisiert: […] instead of wailing for he-who has turned his back on the saga of his people, weep for your own pathetic selves, why don’t you, sucking and sucking on that sour grape of a religion! Jew Jew Jew Jew Jew Jew! It is coming out of my ears already, the saga of the suffering Jews! Do me a favor, my people, and stick your suffering heritage up your suffering ass – I happen also to be a human being! [PC: 76] Wie wir gesehen haben, ist Alex‘ Leben weitgehend ideologisch, d.h. von der jüdischen Religion geprägt. Seine Identität ist nicht ganz einfach diejenige eines Menschen, sondern eines jüdischen Menschen, wie rasend er dagegen auch tobt. Er verspottet das jüdische Volk hier aus denselben Gründen, aus denen er auch seinen Vater kritisiert: Es wälzt sich in Selbstmitleid, benutzt die Religion fast als einen Entschuldigungsgrund, nicht für sich selbst und seine eigenen Taten einstehen zu müssen – mit einer sarkastischen Ironie sagt Alex darüber: „I suppose the Nazis are an excuse for everything that happens in this house!” [PC: 77] In Alex‘ Augen sind auch sie ‚ein Bild des Jammers‘, ein ‚Volk von Versagern‘ wie das DDR-Volk für Klaus. Übrigens ist Alex nicht der einzige, der an seinem Volk Kritik übt: Auch Naomi, „The Heroine [PC: 258], der Alex in Israel begegnet, hat ein alles andere als mildes Urteil über das 147 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 52. 122 ausgewanderte jüdische Volk – und über Alex. Sie hat eine radikale, zionistische Auffassung ihrer Religion, und betrachtet fast mit Abscheu die bedauernswerte Haltung, die das ausgewanderte jüdische Volk sich selbst beigemessen hat. Ihre Diagnose über Alex und das jüdische Volk ist vielleicht die ehrlichste im ganzen Buch, denn Alex spricht in dieser Hinsicht mit gespaltener Zunge, weil er zugleich seine Ideologie verneint und bestätigt. Naomi dagegen ist zu den Wurzeln ihrer Religion zurückgekehrt – trägt dabei allerdings einige kommunistische Ideale in sich, die ihr aber nicht verhindern, einen klaren Blick auf die ‚amerikanischen Juden‘ zu haben. Sie fällt ein strenges, historisch geprägtes Urteil: Those centuries and centuries of homelessness had produced just such disagreeable men as myself – frightened, defensive, self-deprecating, unmanned and corrupted by life in the gentile world. It was Diaspora Jews just like myself who had gone by the millions to the gas chambers without ever raising a hand against their persecutors, who did not know enough to defend their lives with their blood. [PC: 265] Ohne allzu tief auf politisch-ideologische Diskussionspunkte einzugehen, möchte ich kurz die Haltung von Alex, bisher dem größten Kritiker des Judentums, gegenüber Naomi, die diese Rolle von Alex übernimmt, behandeln. Alex spürt, dass Naomi die nicht-korrumpierte, reine Fassung seines Glaubens verkörpert, und wird sich seiner eigenen ambivalenten Haltung (einerseits Ideologieverleugnung, andererseits Ideologiebestätigung) bewusst. Er versucht diesen inneren Zwiespalt aufzulösen, indem er Naomi einen Heiratsantrag macht; es überrascht nicht, angesichts seines taktlosen und obsessiven Verfahrens, dass sie diesen Antrag ablehnt. Dadurch, dass Alex aber nicht aufhört, sie zu drängen, korrumpiert er diese von ihm ersehnte Reinheit und infiziert sie mit seinem ‚psychoneurotischen‘ [PC: 268], aus der Diaspora hervorgegangenen Selbsthass. Die authentische jüdische Religion siegt aber über die korrumpierte und selbstbemitleidende: Alex erlebt ironischerweise gerade bei Naomi und in Israel, auf der Flucht vor seinen Eltern – die genauso wie er eine korrumpierte Form der wahren Religion vertreten – und vor seiner ‚shiksen‘ Freundin – die die katholische, amerikanische, seiner Religion entgegengesetzte ‚Ideologie‘ vertritt – eine Impotenz. Diese Impotenz sollten wir aber nicht mit der von Klaus vergleichen, die er bei Yvonne erlebt – tatsächlich hat sie Sympathien für die feindliche, westliche ‚Ideologie‘, aber dies ist meines Erachtens nicht der wahre Grund seiner Impotenz, eher 123 schon Klaus‘ verzerrte Auffassungen über Intimität und Liebe. Alex‘ Impotenz in Israel muss meines Erachtens gerade mit der nicht-Impotenz, Klaus‘ extremer Potenz im Moment des Mauerfalls verglichen werden. Während Klaus im entscheidenden Moment, in dem er seine DDR-Ideologie loszuwerden versucht, endlich seine Potenz, seinen Penis „so groß wie ‘n Nudelholz“ [HWW: 320] einsetzt, und sich so vom System befreien kann, erlebt Alex eine Niederlage und bleibt er in seiner jüdischamerikanischen Ideologie verhaftet. 3.2.2.3. In der Blechtrommel: das Kleinbürgertum als NS-Nährboden Schließlich finden wir auch in der Blechtrommel Kritik am Volk vor, aber wie sonst ist diese Kritik nicht so explizite vorhanden wie in den anderen Romanen: Nie wird ‚ein Volk‘ als solches angegriffen – es sei dann, als Oskar sich dazu entschließt, nicht der Welt der „Erwachsenen“ [DB: 72] beizutreten. Die Erwachsenen, denen Oskar bisher begegnet ist, sind die Kleinbürger im Labesweg, die auf äußeren Schein, materielle Sachen und kultivierte Spießbürgerlichkeiten Wert legen. Sie machen den Eindruck, nicht authentisch, nicht natürlich zu sein, wie Oskar schon: „[…] die Erwachsenen […] wollten meine Trommel ins Wort fallen […] – aber die Natur sorgte für mich.“ [DB: 75, meine Hervorhebung, mvl] Auch Jan Bronski und Alfred Matzerath sind Vertreter des Kleinbürgertums. Als Matzerath in die Partei eintritt, scheinen seine Gründe dazu eher im Stolz über die schöne und imponierende Uniform zu liegen [DB: 146], als in ernsthaften ideologischen Überzeugungen. Er zeigt also eher Übereinstimmungen auf mit der ‚falschen‘ Stasi (Wunderlich, Grabs und Eule) aus Helden wie wir, als dass er mit Klaus‘ Vater, Vertreter der ‚echten‘ Stasi, verglichen werden könnte. Genauso wie der Rest der Nachbarn im Labesweg ist Alfred Matzerath opportunistischer Mitläufer eines Regimes, das im Moment die günstigsten Zukunftsperspektiven bietet. Oskar registriert, genau wie Klaus bei der Trümmerfrauengeneration seiner Mutter, diesen naiven Opportunismus, aber schildert ihn von Anfang an viel weniger unschuldig. Er vergleicht seine kleinbürgerliche Familie mit der Zarenfamilie Russlands zur Zeit der Russischen Revolution 1917: […] Im tiefsten Rußland wird eine Aufnahme der Zarenfamilie gemacht, Rasputin hält den Apparat, ich bin der Zarewitsch, und hinter dem Zaun hocken Menschewiki und Bolschewiki, beschließen, Bomben bastelnd, den Untergang meiner selbstherrscherlichen Familie. Matzeraths korrektes, mitteleuropäisches, 124 wie man sehen wird, zukunftsträchtiges Kleinbürgertum bricht der im Foto schlummernden Moritat die gewaltsame Spitze ab. [DB: 70] In diesem Vergleich schildert er den Kontrast zwischen dem Reichtum und der Üppigkeit, die die NS-Mitläufer ausnutzen, und der Gewalt und dem Tod, mit denen die Familie nur über die Sondermeldungen im Radio [DB: 376-377] konfrontiert wird. Auch die Nachbarn im Labesweg, die Familie Scheffler und die Familie Greff, profitieren vom materiellen Wohlstand, der ihnen der Nationalsozialismus bietet (die Üppigkeit der Innenausstattung ihrer Wohnungen ist widerlich und „beleidigt“ Oskar [DB: 109]). Sie stellen sich nicht einmal die Frage, was diese Ideologie genau beinhaltet. Diese scheinheilige Lebenshaltung wird vom Gemüsehändler Greff verkörpert: Als Homosexueller gehört er zu jener Minderheitsgruppe, von der viele in Konzentrationslagern ihr Ende fanden, aber trotzdem ist auch er blinder Mitläufer des Nationalsozialismus, der sich „rechtzeitig Mitglied des NSKK148“ [DB: 381] macht und sich danach auch in anderen Funktionen für das Regime einsetzt. Auch Neuhaus behandelt diese Hypokrisie des Kleinbürgertums und das ‚Alibi‘, das die Kleinbürger in der politischen Lage suchen: Indem Grass‘ Kleinbürger in dieser Weise die politischen Konsequenzen ihres eigenen scheinbar privaten Tuns zum Schicksal erklären, das ihnen ihr weiteres Handeln vorschreibt, fühlen sie sich selbst aus jeglicher Verantwortung entlassen.149 Diese Hypokrisie setzt sich übrigens auch nach dem Krieg – und entsprechend in Helden wie wir, nach der Wende – weiter. Während man in der Kriegszeit ohne Skrupel mit den Nationalsozialisten mitmachte, nimmt man nachher eine ‚unwissende‘ Haltung an, will man nicht mit der eigenen Verantwortlichkeit konfrontiert werden. Überall tauchen auf einmal Geschichten auf, die die Unschuld vieler beweisen sollten. So redet Oskar über die so genannten Widerstandskämpfer, die er jetzt überall erscheinen sieht: Das Wort ist reichlich in Mode gekommen. Vom Geist des Widerstandes spricht man, von Widerstandskrisen. […] Ganz zu schweigen von jenen bibelfesten Ehrenmännern, die während des Krieges wegen nachlässiger Verdunklung der Schlafzimmerfenster vom Luftschutzwart eine Geldstrafe aufgebrummt bekamen und sich jetzt Widerstandskämpfer nennen, Männer des Widerstandes. [DB: 157] 148 149 Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps, eine Nebenorganisation der NSDAP. Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 69. 125 Etwas Ähnliches sieht man nach der Wende: Auch Klaus sieht diese sogenannten Widerstandskämpfer, die damals mit der politischen Lage nicht einverstanden waren, jetzt überall auftauchen, und fragt sich, wo sie sich damals dann befanden. Er stellt diese doppelte Situation, diese Scheinheiligkeit, die es auch in und nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland gab, klar und deutlich dar, und kritisiert sie: […] „Ich habe schon damals…“ Eine völlig verzerrte Diskussion, und keiner merkt es! Wie konnte diese Gesellschaft Jahrzehnte existieren, wenn alle unzufrieden gewesen sein wollen? […] Alle waren dagegen, und trotzdem waren sie integriert, haben mitgemacht, kleinmütig, verblendet oder einfach nur dumm. Ich will das genau wissen, denn ich glaube, daß sich alle modernen Gesellschaften in diesem Dilemma bewegen. [HWW: 312] Mit diesem letzten Satz sehen wir die Kritik an den beiden deutschen Diktaturen, dem Dritten Reich und der DDR, und vor allem an der Rolle des Volkes darin, hervortreten. Oskar und Klaus werden mit ihrer Kritik zum Gewissen des deutschen Volkes, indem sie klar und deutlich die Diagnose der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit stellen, und damit (oft scharf) kritisch umgehen. 126 4. Schlussfolgerungen und Ausblick Gerade bevor Klaus dem Journalisten Mr. Kitzelstein den Ausgang seiner Geschichte haargenau erklärt, macht er eine Art Zwischenbilanz, die sich vor allem als tief schürfende Reflexion über seine Vergangenheit, als eine in Worte gefasste Vergangenheitsbewältigung charakterisieren lässt: „Ich kann mir die entsprechenden Fragen stellen. Ich habe die Chance, zum Kern meiner Erbärmlichkeit vorzustoßen.“ [HWW: 312]. Nicht nur Klaus versucht mit seiner Vergangenheit fertig zu werden, sondern auch die Autorinstanz Thomas Brussig, denn er ergreift in Helden wie wir die Chance, zum Kern der Erbärmlichkeit des Sozialismus, der DDR-Zeit und der DDRIdeologie vorzustoßen. Er macht das, indem er ständig seine Ideologiekritik mit Humor kombiniert. In der intratextuellen Analyse meiner Magisterarbeit habe ich versucht nachzuweisen, dass Brussigs Vergangenheitsbewältigung durch die komplexe und ständige Wechselwirkung zwischen verschiedenen Formen von Humor einerseits und Ideologiekritik andererseits getragen wird. Mit der Hinzufügung einer zweiten Komponente habe ich versucht Helden wie wir nicht nur intratextuell zu analysieren, sondern auch eine intertextuelle Annäherungsweise an Brussigs Werk in meine Arbeit aufzunehmen: Meiner Meinung nach prägt die Wechselwirkung zwischen den zwei Pfeilern der Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir nämlich auch Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel. Als Einstieg zur intratextuellen und intertextuellen Analyse dieser Wechselwirkung, erwiesen sich die Theorien von Sigmund Freud als aufschlussreich: Die drei Protagonisten haben ohne Ausnahme unter einem Ödipuskomplex zu leiden, mit dem sie auf unterschiedliche Art und Weise umgehen. Die Überleitung zum ersten Pfeiler, dem Humor, erfolgte über eine Anwendung von Freud Text Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten auf Helden wie wir: Die vier Tendenzen des Witzes, die Freud dabei unterschieden hat, sind auch in Brussigs Roman vertreten. Ebenso aufschlussreich wäre es gewesen, auch Portnoy’s Complaint in Anbetracht der vier Witztendenzen zu analysieren; dieser Aspekt bietet Möglichkeiten für weitere Forschung. In der Humor-Analyse hat sich erwiesen, dass in Helden wie wir verschiedene humoristische Formen auf ebenso vielen Ebenen wirksam sind. Die Ironie ist vor allem auf der Ebene der Figur von Klaus Uhltzscht wirksam, indem sie mit seiner Naivität 127 verknüpft wird. Das Groteske situiert sich auf der Ebene der Geschichte, die wir aber nicht ohne weiteres in die Gattung Groteske einordnen können. Stattdessen habe ich den spezifischeren Begriff der ‚Körpergroteske‘ vorgeschlagen, mit dem wir (die Gattung von) Helden wie wir angemessener umschreiben können. Drittens ist der Sarkasmus das Instrument, mit dem die Autorinstanz den ernsthaften ideologiekritischen Passagen im Buch Gestalt verliehen hat. Dem Studium der intertextuellen Komponente in dieser Humor-Analyse ließ sich entnehmen, dass auch Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel Ironie (spezifischer: Merkmale eines Schelmenromans), Groteske und Sarkasmus einsetzen. Beim Vergleich des pikarischen Gehalts der drei Protagonisten hat sich erstens herausgestellt, dass die ironische Naivität, die für Klaus so kennzeichnend ist, bei Oskar Matzerath und Alexander Portnoy fehlt. Wir haben anhand von Guillèns Merkmalen eines Schelms feststellen können, dass Klaus sich dem Prototyp eines modernen Schelms, wie wir ihn in Oskar Matzerath erkennen können, annähert. Oskar und Klaus habe ich deswegen als moderne, modifizierte Schelme definiert. Alexander Portnoy, das heimliche enfant terrible der jüdischen Gemeinschaft in Newark, zeigt zwar einige schelmische Merkmale auf, ist aber kein Schelm. Aus der Analyse der Körpergroteske ist hervorgegangen, dass auch Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel sich sehr gut durch diesen modifizierten Gattungsbegriff definieren lassen. Portnoy’s Complaint hat das Alexanders grotesker, obszöner Sexualität zu verdanken, die wir auch bei Klaus vorfinden; Die Blechtrommel wird eine Körpergroteske dank der grotesken, verzerrten Körperlichkeit von Oskar, mit der auch die Körperlichkeit von Klaus vergleichbar ist. Auch der Sarkasmus hat in den zwei Prätexten eine wirksame Funktion, aber während er in Helden wie wir auf der Ebene der Autorinstanz anwesend ist, wirkt der Sarkasmus in Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel auf der Ebene der Figuren Alexander und Oskar: Der Sarkasmus ist integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit und ihres Diskurses, während das bei Klaus wegen seiner ausgeprägten Naivität nicht der Fall ist. „Humor unterminiert hier Herrschaft, und macht die Auseinandersetzung mit den eigenen Moralaxiomata erlebbar“150: Auf diese Art und Weise gestaltet Humor in den drei Romanen die Ideologiekritik mit. 150 Briel: “Humor im Angesicht der Absurdität“, S. 271. 128 In der Analyse der Ideologiekritik sind wir der Frage nachgegangen, auf welche Art und Weise die Kritik in erster Linie in Helden wie wir, aber auch in Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel sichtbar wird. Einerseits kritisieren die drei Protagonisten die Ideologie und das System an sich: Das geschieht meines Erachtens dadurch, dass sie die Ideologie mit einer Form von Perversion verknüpfen. In Helden wie wir und Portnoy’s Complaint ergibt sich dieser Bezug explizite, indem Klaus und Alex ihre Perversionen in den Dienst ihrer eigenen Ideologie stellen, oder sie als Waffe gegen andere Ideologien einsetzen. In der Blechtrommel wird die Perversion der Ideologie an sich registriert und kommentiert. Andererseits finden wir in den drei Romanen auch mittelbare Kritik vor, an den Menschen in der Schusslinie stehen: die Elterngeneration und das Volk. Darin stimmen Klaus und Oskar überein: Sie sind beide als Deutschlands Gewissen zu betrachten, Oskar, weil er seinem Land die Rechnung der ersten deutschen Diktatur, des Dritten Reichs präsentiert, Klaus, weil er die Bilanz der zweiten deutschen DDR-Diktatur zieht. Selbstverständlich arbeitet Brussig nicht nur mit den Kategorien Ironie, Groteske und Sarkasmus, sondern auch mit Satire, Wortwitzen, und so weiter. Die von mir vorgelegte Analyse ist also keineswegs vollständig. Außerdem spüren wir in Brussigs Wasserfarben (1991), Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) und Wie es leuchtet (2004) wiederum andere Humorformen, die zwar auch kritisch anmuten, aber trotzdem wieder auf eine andere Art und Weise als in Helden wie wir. Brussigs Vergangenheitsbewältigung können wir also als komplex und alles andere als eindeutig betrachten. Bei der Veröffentlichung von Am kürzeren Ende der Sonnenallee sagte er: „Jeder Mensch hat den Wunsch, mit seiner Vergangenheit Friede zu schließen. Erinnerung hat die Funktion, Vergangenheit als schön nachzuerleben.“151 In diesem Sinne können wir zum Beispiel Sonnenallee als eine Erinnerung, eine Versöhnung betrachten, aber das impliziert nicht, dass keine Kritik mehr geübt wird. Helden wie wir, das vier Jahre vor Sonnenallee veröffentlicht wurde, zeigt uns alles andere als eine Versöhnung. In diesem Buch wendet Brussig den Humor als Holzhammermethode an, die unmittelbar seiner Kritik dient, während der Humor in Am kürzeren Ende der Sonnenallee vielmehr ein chirurgisches Präzisionsinstrument ist, mit dem Brussig seine Ideologiekritik ‚zudeckt‘. Er macht in seinen drei anderen Wenderomanen quasi 151 Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 51-52. 129 verschiedene Fotos ein und desselben Gegenstands, aber benutzt immer eine andere Lichtstärke, einen anderen Lichtfilter, eine andere Linse. Diese Kaleidoskopie, welche in den verschiedenen Werken die Vergangenheitsbewältigung von Brussig auszeichnet, wäre interessanter Stoff für weitere literaturwissenschaftliche Forschung. Der Frage nachzugehen, wie Humor und Ideologiekritik in diesen Romanen wirksam sind, kann meines Erachtens zu aufschlussreichen Ergebnissen führen. Ich hoffe in meiner Magisterarbeit eine detaillierte intratextuelle Analyse von Helden wie wir dargereicht zu haben, gestützt auf die zwei Pfeiler, die zwar in jedem Sekundärtext über Brussig zur Sprache kommen, aber deren genaue Wechselwirkung bis her noch nicht strukturiert und theoretisch begründet erforscht wurde. Auch eine eingehende systematische Konfrontation mit Klaus‘ wichtigsten literarischen Vorfahren Alexander Portnoy und Oskar Matzerath hatte in der Form noch nicht stattgefunden. Die drei Protagonisten der intertextuellen Trias haben ihre eigene Individualität, zeigen oft Unterschiede auf, aber ebenso oft habe ich interessante Parallelen und markierte intertextuelle Bezüge entdeckt und behandelt. Oskar Matzerath hat meines Erachtens treffend in Worte gefasst, wie wir die Protagonisten betrachten können: Auch ich habe mir sagen lassen, daß es sich gut und bescheiden ausnimmt, wenn man anfangs beteuert: Es gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine Individualisten mehr gibt, weil die Individualität verlorengegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf individuelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose einsame Masse bildet. Das mag alles so sein und seine Richtigkeit haben. Für mich, Oskar, und meinen Pfleger Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden, ganz verschiedene Helden, er hinter dem Guckloch, ich vor dem Guckloch; und wenn er die Tür aufmacht, sind wir beide, bei aller Freundschaft und Einsamkeit, noch immer keine namen- und heldenlose Masse.“ [DB: 12] Was Oskar über sich selbst und seinen Pfleger in der Heil- und Pflegeanstalt sagt, gilt auch für Alexander und Klaus. Alle drei sind Helden, zwar ganz verschiedene, aber in dieser ‚Einsamkeit‘ zeigen sie trotzdem Übereinstimmungen auf, die wir zu einer symbolischen ‚Freundschaft‘ umgestalten können. Gerade durch diese literarischen Freundschaftsbande zwischen Klaus und seinen literarischen Vorfahren, haben wir auch eine bessere Einsicht bekommen in die Figur, die Klaus Uhltzscht ist: ‚Sage mir, mit wem du umgehst und ich sage dir, wer du bist‘. 130 Bibliografie Primärliteratur Brussig, Thomas: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2001. Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 200513. Brussig, Thomas: Wasserfarben. Berlin: Aufbau Taschenbuch 20067. Brussig, Thomas: Wie es leuchtet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2006. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge. Studienausgabe Conditio humana: Band I. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt: S. 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