Wir sind Helden, ganz verschiedene Helden

Transcription

Wir sind Helden, ganz verschiedene Helden
Universiteit Gent
Academiejaar 2008-2009
„Wir sind Helden,
ganz verschiedene Helden“
Eine intratextuelle und intertextuelle Analyse
von Thomas Brussigs Helden wie wir,
Philip Roths Portnoy’s Complaint und Günter Grass‘
Blechtrommel
Promotor: Prof. Dr. Jaak De Vos
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits
door
Maaike Van Liefde
2
3
Dankeswort
Ich könnte in diesem Vorwort wie ‚meine‘ drei Helden, Klaus Uhltzscht, Alexander
Portnoy und Oskar Matzerath vorgehen, und meine Geschichte ab ovo erzählen. So
habe ich die Sicherheit, jedem gedankt zu haben, der mit dafür gesorgt hat, dass ich hier
angelangt bin. Es ist jedoch nicht meine Absicht, wie meine Helden 323, 274,
geschweige denn 779 Seiten zu füllen; deswegen werde ich zum Beispiel nicht erzählen,
wie meine Oma mir als fünfjährigem Kind ein Exemplar des Buches De Witte van
Zichem von Ernest Claes schenkte (statt die von mir erwünschte Barbiepuppe), sodass
ich mich schon für Literatur und schelmische Figuren interessieren musste. Das würde
mich wirklich zu weit führen, auch wenn ich ihr dafür eigentlich sehr dankbar bin.
Wer hier schon und vor allem erwähnt werden muss, ist Prof. Dr. Jaak De Vos.
In seinen begeisterten Vorlesungen entstand meine Liebe zur deutschen Literatur. Beim
Schreiben meiner Magisterarbeit stand er immer mit Rat und Tat zur Seite, und seine
motivierende Hilfe schien ohne Ende. Auch dem Fachbereich deutsche Literatur möchte
ich bedanken: Nirgendwo sonst auf dem ‚Blandijnberg‘ fühlt man sich als Student so zu
Hause.
Ich bin meiner Mutter, die mir die Liebe für die deutsche Sprache genetisch
weitergegeben hat, sehr dankbar, dass sie mir die Chance zu einer universitären Studie
geboten hat: Nicht nur ihre materielle Unterstützung, aber vor allem die moralische war
für mich sehr wichtig. Nach ihrem Vorbild werde ich immer versuchen, mein Bestes zu
geben.
Obschon ich von meiner Großmutter damals keine Barbiepuppe bekam, eroberte
ich später trotzdem einen persönlichen Ken. Auch er ist ein großes Dankeschön wert,
weil er mich immer dazu angeregt hat, einen Schritt weiter zu denken. Sein liebevolles
und reines Dasein macht ihn zum wichtigsten ‚Pfeiler‘ meines Lebens.
Und last but not least möchte ich auch meinen Mädchen, und im Besonderen
Tine Hendrickx und Linde Lapauw einen Kuss zuwerfen. Für die liebevollste
Freundschaft, für die interessantesten Diskussionen, für die hirnlosesten, absurdesten
und zugleich schönsten Plauderstunden. Ohne sie wäre es nicht halb so toll gewesen.
Dann sind Stunden wie Sekunden – Merci mes amies, es war wunderschön.
Maaike Van Liefde, 21. Mai 2009
4
5
Inhalt
Dankeswort
3
0. 7
Zur Einleitung
0.1. Die intratextuelle Komponente: Humor und Ideologiekritik als Pfeiler der
Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir
8 0.2. Die intertextuelle Komponente: Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel 9
1. 2. Eine Einstimmung: Freudsche Überlegungen
15
1.1. Part One: der Ödipuskomplex
16 1.2. Part Two: der Humor
26
Der Humor als erster Pfeiler der Analyse
2.1. Ironie, Naivität und Schelmengehalt
33
35 2.1.1. Die ironische Naivität von Klaus Uhltzscht
36 2.1.2. Oskar, Alexander und Klaus als Schelme?
40 2.1.2.1. Der Schelm als halb-Außenseiter
43 2.1.2.2. Die Form der Pseudo-Autobiographie
52 2.1.2.3. Der einseitige Blickwinkel
54 2.1.2.4. Die reflexive Kritik des Protagonisten an seinem Leben
56 2.1.2.5. Die Hervorhebung des Materiellen
60 2.1.2.6. Der kriminelle Biotop
63 2.1.2.7. Die zweidimensionale Reise durch ein Zeitpanorama
64 2.1.2.8. Der episodische Aufbau
66 2.1.2.9. Klaus, Alexander, Oskar: reine Schelme oder ‚nur‘ schelmisch?
70
2.2. Die ‚Körpergroteske‘
2.2.1. Die und das Groteske in Helden wie wir: eine Neudefinierung
71 72 6
2.2.2. Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel als
Körpergrotesken
2.2.2.1. Die groteske Sexualität von Klaus und Alex
76 2.2.2.2. Der groteske Körper von Klaus und Oskar
85
2.3. Der (nicht-)markierte Sarkasmus
3. 92 2.3.1. Die sarkastische Autorinstanz in Helden wie wir
2.3.2. Die sarkastischen Protagonisten in Portnoy’s Complaint und der
93 Blechtrommel
95
Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der Analyse
98
3.1. Die pervertierte Ideologie in der Schlusslinie
101 3.1.1. In Helden wie wir: „Sozialismus braucht Perversion!“
101 3.1.2. In Portnoy’s Complaint: Perversion in zwei Richtungen
103 3.1.3. In der Blechtrommel: die perverse Wirklichkeit
105
3.2. Die Menschen in der Schusslinie
3.2.1. Die Kritik an der Elterngeneration
107 108 3.2.1.1. In Helden wie wir: ‚Stasi-Ratten‘ und Trümmerfrauen
3.2.1.2. In Portnoy’s Complaint: Ressentiment und Hypokrisie der Juden 112 3.2.1.3. In der Blechtrommel: Jan und Alfred als Vertreter des Krieges
3.2.2. 4. 75 Die Kritik an ‚dem Volk‘
108 117
119 3.2.2.1. In Helden wie wir: Wir sind das Volk, oder?
119 3.2.2.2. In Portnoy’s Complaint: die Sage der leidenden Juden
121 3.2.2.3. In der Blechtrommel: das Kleinbürgertum als NS-Nährboden
123
Schlussfolgerungen und Ausblick
Bibliografie
126
130 Primärliteratur
130 Sekundärliteratur
130 7
0. Zur Einleitung
Ein „Paukenschlag in gedrückter Stille“1, „eine Kabarettnummer“2, „ein grotesker
Mythos […], reich an subversiver Ironie und satirischen Ausfällen“3: Mit diesen
begeisterten Lobesworten – unter anderen – wird Helden wie wir von Thomas Brussig
1995 durch Literaturkritiker im Innen- und Außenland empfangen. Das Werk bekommt
schon bald nach der Veröffentlichung das Epitheton „heißersehnter Wenderoman“ und
der Schriftsteller Brussig wird den Status eines DDR-Experten bescheinigt. Die DDR
sei „sein“ Thema, weil sie „sich gut erzählen lässt“4, und die Mauer sei sein Leitmotiv,
„das DDR-Phänomen schlechthin!“5. Nachdem auch Wolf Biermann, Sänger, Dichter
und DDR-Kritiker pur sang, in Der Spiegel Lobesworte aufzeichnen lässt – „Verehrte
Damen und Herren, das Werk Helden wie wir handelt vom Wichsen. Ich empfehle es
Ihnen - das Buch -, es ist ein herzerfrischendes Gelächter“6 – erlebt die
Schriftstellerkarriere von Brussig einen weiteren Boom. Seine Popularität steigert sich,
sowohl bei den Lesern als auch bei den Literaturwissenschaftlern. Trotz der relativ
kurzen Rezeptionsgeschichte ist, teils wegen dieser Popularität über Helden wie wir also
schon Vieles geschrieben worden.
Die Art und Weise, wie Brussig in seinen Werken das Leben in und nach der
DDR analysiert und darstellt, ist immer von Humor durchdrungen, auch wenn der Autor
immer andere Akzente setzt. Das ziemlich ernsthafte Wasserfarben (1991) und das stark
zur ‚Ostalgie‘ neigende Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) stehen im großen
Kontrast zum bissigen Humor in Helden wie wir, aber immer übt Brussig durch diesen
Humor auch Kritik am DDR-System, in dem er und seine Protagonisten aufgewachsen
sind. Durch diese Verschiedenheit der Arten von Humor, die immer zu Diensten der
Ideologiekritik stehen, ist im Werk Brussigs eine reiche intratextuelle Kaleidoskopie
1
Frauke Meyer-Gosau: “Ost-West-Schmerz. Beobachtungen zu einer sich wandelnden Gemütslage”. In:
KLG. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: Edition Text + Kritik 2000, S. 8.
2
Iris Radisch: “Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West”.
In: KLG, S. 19.
3
Heide Hollmer: “The next generation. Thomas Brussig erzählt Erich Honeckers DDR”. In: KLG, S. 111.
4
Jörg Magenau: “Kindheitsmuster. Thomas Brussig oder Die ewige Jugend der DDR”. In: Aufgerissen:
zur Literatur der 90er. Hg. von Thomas Kraft. München: Piper 2000, S. 41.
5
Hollmer: “The next generation”. In: KLG, S. 119.
6
Wolf Biermann: “Wenig Wahrheiten und viel Witz”. In: Der Spiegel 5/1996, 29.1.
<http://www.thomasbrussig.de/Rezensionen/Buecher/Wenig%20Wahrheiten%20und%20viel%20Witz.ht
m>
8
vorzufinden. In dieser Arbeit werden einerseits diese zwei Pfeiler – Humor und
Ideologiekritik – in Helden wie wir an zentraler Stelle stehen, andererseits die vielen
intertextuellen Bezüge, die Helden wie wir zu anderen Romanen aufweist, insbesondere
Portnoy’s Complaint von Philip Roth (1969) und Die Blechtrommel von Günter Grass
(1959), Gegenstand einer eingehenden Untersuchung sein. Die intratextuelle
Wechselwirkung zwischen Humor und Ideologiekritik in Helden wie wir wird dabei
zugleich der intertextuellen Analyse zum Rahmen dienen: Es wird sich herausstellen,
dass diese Wechselwirkung auch in den zwei anderen Werken wirksam ist. Zunächst
möchte ich aber die zwei Komponenten – intratextuell und intertextuell – näher
erläutern.
0.1. Die intratextuelle Komponente: Humor und Ideologiekritik als Pfeiler der
Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir
Die erste Absicht vorliegender Arbeit ist aufzuzeigen, dass die komplexe
Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir von zwei Pfeilern getragen wird,
einerseits dem Humor, andererseits der Ideologiekritik. Ich widme diesen zwei
Komplexen in meiner Arbeit zwei unterschiedliche Kapitel, obwohl wir sie eigentlich
nicht separat betrachten können: Der Humor bekommt seine spezifische Wirkung, weil
er oft auch Kritik enthält, und die Ideologiekritik wirkt gerade durch die verschiedenen
Ausdrucksformen des Humors. In meiner Arbeit werde ich diese komplexe
Wechselwirkung denn auch ständig berücksichtigen.
In der Analyse des Humor-Pfeilers werde ich mich mit drei spezifischen
Humorformen beschäftigen, die meines Erachtens sowohl humoristisch als auch
ideologiekritisch – wenn auch in wechselndem Grad, und auf unterschiedlichen Ebenen
– die wirksamsten Effekte erreichen: Ironie, Groteske und Sarkasmus. Der ‚Humor in
Helden wie wir‘ ist schon in manchen Sekundärwerken behandelt worden, wie die
wenigen Zitate am Anfang dieser Einführung illustrieren, aber manchmal geschah das
eher registrierend, ohne Methodologie oder deutliche Bestimmung der verwendeten
Terminologie. Ich möchte unter unter methodologischer Betreuung durch einige
einschlägige Literaturlexika die Ironie, die Groteske und den Sarkasmus untersuchen
9
und deren gängige Definition ständig an der jeweiligen Realisierung in Helden wie wir
prüfen.
Danach wird der zweite Pfeiler von Brussigs Vergangenheitsbewältigung, die
Ideologiekritik, ausführlich analysiert. Ich möchte dabei untersuchen, wie die
Ideologiekritik in Helden wie wir zum Ausdruck kommt: Sie greift sichtbar einerseits
die DDR-Ideologie an sich an, aber auch Menschen, die diese Ideologie vertreten.
Durch Analyse verschiedener ausgeprägter Textstellen möchte ich versuchen, die
Ideologiekritik, in ihrer ständigen Interferenz mit Humor, klar zu stellen.
0.2. Die intertextuelle Komponente: Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel
Die zweite Absicht dieser Magisterarbeit liegt darin, den literarischen, intertextuellen
Horizont, in den Brussigs Vergangenheitsbewältigung eingebettet ist, im Rahmen der
zwei Pfeiler Humor und Ideologiekritik zu überprüfen. In Helden wie wir ist nämlich
auch eine reichhaltige intertextuelle Konstellation wirksam.
Schon am Anfang der Rezeptionsgeschichte von Helden wie wir wurde klar,
dass Klaus Uhltzscht als Romanfigur kein aufgeschlagenes Buch war, an und für sich
schon, weil er sich selbst mit so vielen Epitheta beschreibt. Er präsentiert sich selbst
nicht nur als zukünftiger Literatur- und Friedensnobelpreisträger7, als Titelbild der
auflagenstärksten Illustrierten [HWW: 13-14], als „der zukünftige Straßenname“
[HWW: 63] und „Missing link der jüngsten deutschen Geschichte“ [HWW: 323],
wodurch er eine seiner „hervorstechenden Eigenschaften“, seinen „Größenwahn“
[HWW: 6] deutlich hervorbringt, sondern auch als „Klautz am Bein“ [HWW: 25], „der
letzte Flachschwimmer“ [HWW: 40], verlachter „Totensonntagsfick“ [HWW: 46], „ein
sagenhafter
Sachenverlierer“
[HWW:
48]
und
„Frauenschänder
und
Treppenbekleckerer“ [HWW: 194]. Diese radikal gespaltene Selbstcharakterisierung
verrät schon die komplexe Mehrschichtigkeit des Phänomens ‚Klaus Uhltzscht‘.
Nicht nur erfindet Klaus sich selber durch diese farbige Charakterisierung immer
neu, er ordnet sich auch in bestehende literarische Traditionen ein, indem er sich als
Nachfolger verschiedener weltberühmter (Roman)Figuren bekannt gibt. Seine
7
Thomas Brussig: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 200513, S. 5. Auf Helden
wie wir wird weiter im Text folgendermaßen verwiesen: [HWW: xx].
10
erwünschte Schriftstellerkarriere sollte sich in Erfolg und Größe an jener von Heinrich
Mann und Charles Dickens messen können [HWW: 7]: Folglich gibt sich Klaus‘
Lebensgeschichte genauso wichtig wie die Geschichte Europas – für die Mann übrigens
oft einen sarkastischen Blick übrig hat, den man auch in Helden wie wir erkennen kann
– und ähnelt sie dem turbulenten Leben David Copperfields. Auch in seiner Karriere bei
der Stasi soll er legendär werden: Tagsüber der unauffällige Stasi-Agent, dessen
Wichtigkeit für die DDR und dessen Macht als Retter des Sozialismus sich aber rasch
herausstellen wird – nach dem Vorbild von Seeräuber-Jenny aus Brechts
Dreigroschenoper [HWW: 110], die für die Öffentlichkeit nur ein Arbeitstier in einer
Kneipe ist, jedoch eine mächtige Frau wird, die über Leben und Tod der Stadtmenschen
entscheidet. Obwohl in Helden wie wir diese drei Vorbilder oder ‚Helden‘ also
wortwörtlich als direkte Inspiration genannt werden – bei denen der intertextuelle
Bezug eher verschleiert aufscheint –, habe ich trotzdem dafür gewählt, in dieser
Analyse Klaus Uhltzscht zwei andere Romanfiguren entgegenzustellen.
Wie unter anderen Heide Hollmer8 und Tanja Nause9 erwähnen, gibt es
zwischen Helden wie wir und noch vielen anderen literarischen Werken komplexe
intertextuelle Bezüge: unter anderen zu Sigmund Freud (später in dieser Arbeit
ausführlich zu behandeln), zu den Werken von Christa Wolf (Der geteilte Himmel,
1973, aber auch Was bleibt, 1979, und „Sprache der Wende“, ihrer Rede am
Alexanderplatz in Berlin am 4. November 1989) und zu der psychoanalytischen Studie
Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (1990), von Hans-Joachim Maaz. Klaus
wurde als Nachkomme von ‚älteren‘ Figuren wie Gargantua und Pantagruel (François
Rabelais, 1532-1534) und Simplicissimus (Der abentheuerliche Simplicissimus teutsch
von Christoffel von Grimmelshausen, 1668) bezeichnet, aber stehe auch in der Tradition
von ‚modernen literarischen Helden‘ wie Edgar Wibeau (Die neuen Leiden des jungen
W. von Ulrich Plenzdorf, 1973) und T.S. Garp (The World According to Garp von John
Irving, 1978).
8
Hollmer: “The next generation”, S. 113.
Nause: Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie der
Nachwendeliteratur. Leipzig: Universitätsverlag 2002, S. 140.
9
11
Die zwei – meines Erachtens wichtigsten – „Prätexte“10, die ich hier aber
behandeln möchte, sind Die Blechtrommel von Günter Grass (1959) und Portnoy’s
Complaint von Philip Roth (1969). Obwohl es alles andere als der Hauptgrund ist,
weswegen ich gerade diese zwei Werke in der intertextuellen Analyse betrachte,
gestand Brussig selber den intertextuellen Bezug zu diesen Werken, wie Holger Briel
aufzeichnet:
Bei einer Lesung am 30.10.1998 in Guildford nannte Brussig sein Buch eine
Geschichte voller „Größenwahn und kruder Sexualität“. Als Modelle für seinen
Text nennt er Grass‘ Oskar Matzerath und Philip Roths Portnoy’s Complaint.11
Auch Brad Prager erwähnt den intertextuellen Bezug zu diesen zwei Prätexten. Mit
Portnoy’s Complaint (und anderen amerikanischen Werken) vergleicht er Helden wie
wir „as regards its sexually explicit features“12. Den Vergleich zu der Blechtrommel
ergibt sich aus einer ‚zweiten, deutschen Tradition‘, die Werke über die deutsche
Geschichte umfasst. Genau wie Günter Grass, verknüpft auch Brussig in Helden wie wir
die deutsche Geschichte mit der Sexualität seiner Protagonisten:
[T]he war deformed private life in the way GDR repression and the Berlin Wall
did in the case of Brussig. For both authors, sexuality becomes a means to monitor
the multiple forms of freedom and constraint that directly and indirectly followed
from periods of dictatorship.13
Meiner Meinung nach sind Alexander Portnoy und Oskar Matzerath die
interessantesten literarischen Vorläufer von Klaus, weil sie dem Leser helfen können,
die psychischen Beweggründe von Klaus Uhltzscht und die Gestaltung der Figur besser
zu verstehen; außerdem lassen sich so die verwendeten rhetorischen Mittel und
literarischen Traditionen, die in Helden wie wir zum Ausdruck kommen, in einen
breiteren Rahmen einordnen. Einerseits weisen Oskar Matzerath und Alexander Portnoy
in sich Elemente auf, die wir auch bei Klaus Uhltzscht vorfinden, wie eine gestörte
Sexualität und ein doppeldeutiges Verhältnis zu der Mutter- und Vatergenerationen.
10
Zu diesem und anderen Begriffen über Intertextualität: Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hgg.):
Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985
(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 35), S. 11-20.
11
Holger Briel: “Humor im Angesicht der Absurdität. Gesellschaftskritik in Thomas Brussigs Helden wie
wir und Ingo Schulzes Simple Storys”. In: Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur
1989-1999. Hg. von Gerhard Fischer und David Roberts. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 264.
12
Brad Prager: “The erection of the Berlin Wall: Thomas Brussig’s Helden wie wir and the end of East
Germany”. In: The Modern Language Review 4 (Oktober 2004), S. 983.
13
Prager: “The erection of the Berlin Wall”, S. 985.
12
Thematisch liegen diese zwei Werken also sehr in der Nähe von Helden wie wir.
Sowohl in Portnoy’s Complaint als auch in der Blechtrommel werden sehr oft
ideologiekritische Positionen eingenommen, in der Blechtrommel sogar direkt
gegenüber Deutschland und seiner Geschichte. Die Ideologiekritik in Portnoy’s
Complaint scheint mit der in Helden wie wir weniger vergleichbar, weil im
erstgenannten Werk vor allem die Diskrepanz zwischen dem jüdischen Schuldkomplex
und dem jüdischen Erhabenheitsgefühl kritisiert wird, aber damit ist eine scharfe
Beanstandung der Mutter- und Vatergeneration verbunden, die auch in Helden wie wir
eine strukturelle Rolle spielt.
Andererseits bemerken wir auf formaler Ebene Parallelen, die zu deutlich sind,
als dass wir daran vorbeigehen können, vor allem in Portnoy’s Complaint. Abgesehen
von der Tatsache, dass Thomas Brussig selber das Buch als eine der wichtigsten
(thematischen) Inspirationsquellen für sein Schreiben erwähnt – beim Lesen von
„Portnoys Beschwerden […]“ habe er gemerkt, „wie wirksam es sein kann, über
Sexualität zu schreiben, wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt“14 – fällt auf, wie
Roth und Brussig aus demselben Arsenal von formalen Erzählstrategien schöpfen. Die
als Dialog mit einer therapeutischen Instanz inszenierte monologische Erzählweise, der
provokativ-hyperbolische Erzählstil, das Schlagzeilen-Reden, die biographische
Annäherungsweise der Lebensgeschichte der beiden Protagonisten: Dies alles sind
Elemente, welche die Ansicht berechtigen, Thomas Brussig habe seine Schreibfertigkeit
dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth abgesehen. Das schlussfolgert jedenfalls
Mirjam Gebauer in ihrem Vergleich zwischen den beiden Werken:
Die Parallelen sind so beschaffen, dass es kein allzu großes Wagnis sein dürfte,
die These zu vertreten, Brussig hätte seine grundlegende Erzählhaltung bei Roth
gefunden und diese für seinen Erzählkontext entsprechend modifiziert.15
Sie nuanciert aber, indem sie sagt, dass diese These „das scheinbar so Neuartige der
Helden nicht schmälern“ müsse, es aber wohl „verlagern“16 könne. Von reinem ‚CopyPaste‘ oder Plagiat könne bei Brussig also keineswegs die Rede sein. Eine weitere
14
Barbara Felsmann: “Wer saß unten im System? Icke! Thomas Brussig über DDR-Nostalgie, Sex,
sozialistische Perversion und seinen Roman Helden wie wir“. In: Wochenpost 39 (21. September 1995),
S. 40-41. <http://www.thomasbrussig.de/Interviews/inte2.htm>
15
Mirjam Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”. In: Orbis Litterarum 57
(2002), S. 223.
16
Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 223.
13
Nuancierung ist trotzdem erwünscht: Gebauer hat gewiss darin Recht, dass Helden wie
wir erzählstilistisch ‚Schnee von gestern‘ sei, durch die Modifizierung jedoch etwas
Neues, etwas Frisches bekomme, aber sie scheint Helden wie wir hier als einzigen
Prüfstein der Erzählhaltung Thomas Brussigs zu betrachten. Jedoch würde sich aus
einer Analyse der anderen Werke Brussigs herausstellen, dass sich die von Gebauer
erwähnte „grundlegende Erzählhaltung“ nicht überall durchsetzt und der Erzählstil von
Thomas Brussig auf mehr als ein reines Transponieren bestehender und erfolgreicher
literarischer Traditionen gründet. Am Ende ihrer Auseinandersetzung verweist Gebauer
auf ein anderes Interview17, in dem Thomas Brussig über seine Inspirationsquelle für
Am kürzeren Ende der Sonnenallee spricht, wohl nicht zufällig wieder eine
amerikanische, nämlich Radio Days von Woody Allen. Zuvor erwähnt sie, dass die
Analyse der intertextuellen Bezüge vor allem auf produktionsästhetischer und weniger
auf rezeptionsästhetischer Ebene interessant sei, aber meines Erachtens dürfen wir die
produktionsästhetische Tragweite der intertextuellen Bezüge auch nicht überschätzen.
Die aemulatio bleibt immerhin wichtiger als die imitatio. Auch zwischen der
Blechtrommel und Helden wie wir kann man formale Parallelen aufstellen, sei es
weniger im Bereich der Erzählhaltung, vielmehr in der Anwendung des Grotesken.
Während Oskar Matzerath sich entscheidet, durch einen absichtlichen Treppensturz im
Wachstum zurückzubleiben, sehen wir, dass Klaus Uhltzscht –der „spätgeborene Bruder
von Oskar Matzerath“18 – nichts lieber will, als zu wachsen, und letztendlich durch
seinen Treppensturz am Alexanderplatz auch dieses übertriebene Wachstum erlangt.
Im Folgenden werde ich Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die
Blechtrommel eingehend und in ständiger Beziehung zueinander analysieren; dabei
werden mir die zwei „Pfeiler“ (Humor und Ideologiekritik) als strukturierende
Prinzipien der Analyse dienen. Ich werde immer Helden wie wir zum Ausgangspunkt
nehmen: Eine Vorbedingung für eine eingehende und ergiebige intertextuelle Analyse
17
Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 237. Zitiert nach Volker Hage:
„Jubelfeiern wird's geben“. In: Der Spiegel 36 (6. September 1999), S. 255-256.
18
Tilman Krause: “Kleine Trompete, zur großen Tuba aufgeblasen. Götz Schubert als darstellerischer
Tausendsassa in ‚Helden wie wir‘ an den Kammerspielen“. In: Der Tagesspiegel 29.4. (1996), S. 20.
14
ist, dass man zuerst den „Hypertext“19 einmal an sich betrachtet. Dabei werde ich
versuchen, die schon vorhandene Forschung kritisch anzugehen und ergänzend meine
eigenen Befunde zu Brussigs Vergangenheitsbewältigung darzustellen. Auch werde ich
untersuchen, wie Humor und Ideologiekritik in Portnoy’s Complaint und der
Blechtrommel wirksam sind und zur Figurengestalt von Alexander Portnoy und Oskar
Matzerath beitragen. In dieser Hinsicht ist meine Analyse vor allem rezeptionsästhetisch
orientiert, und werden produktionsästhetische Fragen weniger in den Mittelpunkt
gerückt. Ich möchte Klaus seinen literarischen Vorfahren Oskar und Alexander
begegnen lassen, sie in verschiedenen Aspekten miteinander vergleichen, Parallelen und
Unterschiede feststellen, um so eine eingehende und nuancierte Charakterisierung
dieser drei ‚Helden‘ darzubieten. Die Frage, warum Thomas Brussig die intertextuellen
Bezüge zu Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel markiert20 oder nicht in Helden
wie wir hat einfließen lassen, interessiert mich dabei weniger. Zunächst aber möchte ich
als ‚Einstimmung‘ einen spezifischen intertextuellen Bezug zwischen Helden wie wir,
Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel näher analysieren: die Theorien von
Sigmund Freud.
19
Vgl. zu diesem Begriff Broich, Pfister (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische
Fallstudien, S. 17.
20
Broich, Pfister (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, S. 33.
15
1. Eine Einstimmung: Freudsche Überlegungen
Bevor ich zur Analyse des Humors und der Ideologiekritik übergehe möchte ich
zunächst einen anderen intertextuellen Bezug in den drei Romanen näher betrachten: die
Theorien des Psychoanalytikers Sigmund Freud, insbesondere seine Befunde über den
Ödipuskomplex einerseits, und über Humor andererseits. In Helden wie wir und
Portnoy’s Complaint sind die intertextuellen Bezüge zu den Theorien von Sigmund
Freud markiert: Sowohl Klaus Uhltzscht, als auch Alexander Portnoy sind mit Freud
vertraut und erwähnen ihn und seine Theorien mehrmals. Als Klaus am Ende seiner
vorläufigen Lebensgeschichte in den Westen kommt, wird er unmittelbar von einem
Westberliner Fotografen in die Pornoindustrie eingeführt. Ein neuer Höhepunkt in
seinem Streben, der Perverseste aller Perversen zu werden, ergibt sich: Dasjenige, was
Klaus (mit dem „ist der aber klein“-Penis [HWW: 190]) vor der Wende in aller
Heimlichkeit beschäftigte, nämlich die Mission von „Perversionen für alle!“ [HWW:
247], kommt jetzt in Griffnähe. Diese Perversionsforschung, die Klaus 2005
veröffentlichen will, soll die letztendliche Hommage an Sigmund Freud werden, dessen
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie dann ihren hundertsten Jahrestag haben. In Freud
findet Klaus einigermaßen einen anachronistischen ‚partner in crime‘, weil der in dieser
Sexualtheorie die Perversionen, von Freud ‚Deviationen‘ genannt, ausführlich
beschreibt. Auch in Portnoy’s Complaint wird Freud häufig erwähnt: Schon im Prolog
des Buches, der eine Definition des Titels aus der Internationalen Zeitschrift für
Psychoanalyse gibt, wird an den Vater der Psychoanalyse erinnert, aber es gibt auch
sonst im Buch eine Menge explizite Verweise. Alexander kennt sich mit den Konzepten
Freuds offensichtlich sehr gut aus: „But then all the unconscious can do anyway, so
Freud tells us, is want. And want! And WANT! Oh Freud, do I know!“21 Er masturbiert
sogar mit einem Band aus Freuds „Collected Papers“ [PC: 185] in der Hand: Er zitiert
aus dem Essay „Über Die Allgemeinste Erniedrigung Des Liebeslebens“, nimmt dabei
die Arbeit von Dr. Spielvogel vorweg und unterzieht sich selber und sein Liebesleben
einer Psychoanalyse anhand der Theorie der „currents of feeling“ [PC: 185].
Im Vorliegenden möchte ich aber eine andere Theorie von Freud erforschen, die
in Portnoy’s Complaint Alexander selber intertextuell markiert, die aber auch in Helden
21
Philip Roth: Portnoy’s Complaint. London: Vintage 2005, S. 103. Auf Portnoy’s Complaint wird
weiter im Text folgendermaßen verwiesen: [PC: xx].
16
wie wir und der Blechtrommel – weniger oder nicht-markiert – vorzufinden ist. Die drei
Protagonisten kämpfen nämlich alle mit einem Ödipuskomplex und stellen, in
Alexanders Worten, eine „culmination of the Oedipal drama“ [PC: 266] dar. Dass in
dieser Analyse von Humor noch keine Rede sein kann, wäre an Alexander Portnoys
Worten zu verstehen „Oedipus Rex is a famous tragedy, schmuck, not another joke! […]
Oedipus Rex is the most horrendous and serious play in the history of literature – it is
not a gag!” [PC: 266-267] Den Freudschen Überlegungen, ‚Part One‘ folgt in ‚Part
Two‘ eine Überleitung zum nächsten Pfeiler der intertextuellen Analyse, dem Humor.
Dabei werden mir zwei Texte über Humor methodologisch zum Bezugspunkt dienen,
nämlich Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) und – in geringerem
Maße – Der Humor (1927). In dieser überleitenden Analyse wird auf Helden wie wir
fokussiert, auch weil die Intertextualität mit den zwei Vergleichsromanen nach meinem
Empfinden auf dieser Ebene kaum oder gar nicht wirksam ist. Für Die Blechtrommel
würde die Untersuchung nach den vier Tendenzen des Witzes, wie Freud sie in Der
Witz und seine Beziehung zum Unbewussten beschrieben hat, nicht aufschlussreich sein.
Für Portnoy’s Complaint wäre eine solche Analyse schon nützlich, würde aber die
intertextuelle und strukturelle Trias Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die
Blechtrommel durchbrechen.
1.1. Part One: der Ödipuskomplex
Um uns über die Ödipuskomplexe, an denen Klaus, Alexander und Oskar leiden,
Einblick zu verschaffen, ist es wichtig, dass wir zuerst genau dem nachgehen, was
Freud mit diesem Begriff meint. Er redet von einem ödipalen Begehren, wenn das Kind
im Unterbewussten ein sexuelles Begehren nach der Mutter aufweist. Gegenüber dem
Vater fühlt das Kind eine unbewusste Rivalität, die im günstigsten Fall letztendlich
verschwindet und durch Identifizierung und Anerkennung ersetzt wird22. Diese
Konstellation finden wir in jedem der drei Romane vor: Klaus rechnet im zweiten
Kapitel des Buches, ‚Der letzte Flachschwimmer‘, mit einer Art von Ödipuskomplex
22
Über den Ödipuskomplex hat Freud sich in vielen seiner Vorlesungen ausführlich geäußert: Sigmund
Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge. Studienausgabe Conditio
humana: Band I. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt: S.
Fischer 1969, S. 324-332, S. 558-560.
17
ab, indem er die problematische und oft doppeldeutige Beziehung zu seiner ‚perfekten‘
Mutter und dem ‚Stinkstiefel‘, der sein Vater ist, schildert. Alexander umschreibt seine
Mutter schon im ersten Satz des Buches als „The Most Unforgettable Character I’ve
Met“, betont ihre Vollkommenheit – „It was my mother who could accomplish
anything“ [PC: 11] – und stellt seinen Vater entsprechend als Schwächling dar. Und
auch in der Blechtrommel zeigt Oskar nur Liebe für Agnes Matzerath (und später für
seine Stiefmutter Maria Truczinski), während ihn seine zwei Väter kalt lassen.
Wenn wir diese psychoanalytische Theorie auf die Kindheit von Klaus
anwenden, zeigen sich einige interessante Parallelen und Kontraste. Lucie Uhltzscht ist
die Göttin des kleinen Klaus, die Inkarnation von „Zuverlässigkeit! […] Kompetenz!
[…] Engagement! […] Unbestechlichkeit!“ [HWW: 25]. Obschon wir bei Klaus kein
sexuelles Begehren nach seiner Mutter spüren können, stellen wir doch fest, dass
Mutterfiguren wie Jutta Müller, die „Alterspräsidentin [s]einer sexuellen Phantasien“
[HWW: 285] eine rein sexuelle Lust erregen23.Trotzdem ist er durch seine Kritik an
seiner Mutter ein ‚undankbarer Sohn‘, aber anfangs ist es für ihn doch sehr schwierig,
sich negativ über seine Mutter zu äußern: „Gibt es keine Möglichkeit, über sie zu
sprechen, ohne sofort ein Loblied anzustimmen?“ fragt Klaus verzweifelt [HWW: 26].
Als Lösung seines Gewissenskonflikts listet er drei positive oder sogar schwärmende
Erinnerungen an seine Mutter auf, damit er danach ruhig Gift und Galle spucken kann –
Es scheint, als ob er dadurch einen symbolischen Muttermord (statt des von Freud
erwähnten Vatermordes) verübt, denn weiter in der Geschichte gibt es von dieser
Vergötterung keine Spur mehr. Klaus ist in seiner Kindheit also ein richtiges
Muttersöhnchen. Die Trennung von seiner Mutter als Klaus ins Ferienlager fährt, lässt
er als das schrecklichste Ereignis seines Lebens aufzeichnen [HWW: 48].
Von Liebe oder sogar einer neutralen Beziehung zum Vater ist dagegen kaum
die Rede. Freud redet in seiner Theorie des Ödipuskomplexes von einer Rivalität, die
der Sohn mit dem Vater austrägt. Die Gefühle zwischen Klaus und seinem Vater
können wir schwerlich als rivalisierend kennzeichnen, vielmehr spricht daraus eine
gegenseitige Enttäuschung:
23
Dass später auch Minister Mielke zum Objekt der Wichsphantasien von Klaus wird, möchte ich jetzt
übergehen und in der Analyse der vier Tendenzen des Witzes näher betrachten.
18
Er sagte nicht mal meinen Namen! Niemals habe ich aus seinem Munde meinen
Namen gehört! [HWW: 10]
Über den Namen-Komplex, der aus diesem Zitat hervorgeht, äußert Klaus sich übrigens
öfters in seiner Erzählung. Er habe einen „so verunglückte[n], [einen] so eindeutig
missratene[n] Name[n]“ [HWW: 42], dass wir ihn wohl als die primäre Ursache – als
ein „Menetekel“ [HWW: 43] – seines Minderwertigkeitsgefühls bezeichnen können. Er
analysiert seinen Namen wie folgt: „ Klaus steht für meine leidenschaftliche Artigkeit
[…] und Uhltzscht für mein Abstrampeln, dass ich jede, aber auch jede Anstrengung auf
mich nahm, um meine Mutter nicht zu enttäuschen.“ [HWW: 43] Der Hass gegen
seinen ‚widerwärtigen‘ Nachnamen wird hier einerseits mit der Zuneigung für seine
Mutter verknüpft, und andererseits mit dem Hass gegen seinen Vater, der für diesen
Namen ‚der Schuldige‘ ist. Die Gegensätzlichkeit zwischen Klaus‘ liebevoller
Beziehung zu seiner Mutter und seiner unterkühlten Beziehung zu seinem Vater wird
dadurch aufs Neue bestätigt.
Oh, was wollte er von mir? Sagen Sie es mir? Gibt es denn keinen Menschen, der
mir verraten kann, wie ich hätte sein sollen, was ich hätte tun können, damit so
was wie Atmosphäre zwischen mir und diesem demoralisierenden Vater
aufkommt! […] Der Gedanke, dass er mich um irgendwas beneiden könnte, kam
mir nie. [HWW: 40]
Klaus weist im letzten Satz auf eine väterliche Missgunst hin, die aber nicht spezifiziert
wird. Deutlich ist, dass Eberhard Uhltzscht seinen Sohn nicht leiden kann, seine Gründe
dafür
sind
weniger
klar.
Vielleicht
beneidet
er
seinen
Sohn
wegen
der
Sonderbehandlung, die er ständig von der Mutter bekommt, oder wie Klaus selbst ahnt,
liebt er seinen Sohn, aber „kann er sich nur nicht so richtig zeigen“ [HWW: 37].
Seinerseits zeigt Klaus die Identifizierung mit seinem Vater – die nach Freud entsteht,
nachdem der Ödipuskomplex gelöst wurde – schon früh in seiner Kindheit auf, wie er
auch seinem Interviewer erzählt: „Mr. Kitzelstein, wenn ich je zu einem Menschen
aufblickte, dann zu ihm.“ [HWW: 37] Die Identifizierung erreicht ihren Höhepunkt im
Augenblick, in dem Klaus genauso wie sein Vater bei der Stasi arbeiten geht. Zugleich
fällt diese Entscheidung zusammen mit dem einzigen Moment, da Vater Uhltzscht für
seinen Sohn Interesse zeigt: „Von da an war ich ein Mensch ohne Selbstwertgefühl –
bis mein Vater eines Tages die Zeitung herunterklappte und sagte: Sag mal, du fängst
doch auch bei uns an.““ [HWW: 92]
19
Klaus‘ Haltung gegenüber seinem Vater hat sich im Moment des Erzählens
jedoch durchgreifend geändert: Klaus hat sich irgendwann nicht länger Mühe gegeben –
die sowieso vergeblich war –, den Erwartungen seines Vaters zu entsprechen, und
bewundert ihn, „das Monster“, „die Scheiße in Menschengestalt“ [HWW: 267] nicht
mehr. Er nimmt sich seinen Vater nicht länger zum Vorbild und fragt sich sogar
explizit, was er tun kann, um nicht wie er zu enden. Nach seinem Tod nimmt Klaus
Rache wegen der lebenslangen Demütigung:
Ich schlug die Decke zurück und sah mir das an, was er immer vor mir versteckte:
seine Eier. […] Ich konnte für zwanzig Sekunden seine Eier quetschen. Er hat
meine zwanzig Jahre gequetscht, so wie sie aussehen. Es gibt Dinge, die ich getan
habe und heute am liebsten ungeschehen machen würde. Das nicht. [HWW: 268]
Diesen
Vorgang
können
wir
einigermaßen
auch
mit
Freuds
Theorie
der
Kastrationsangst24 verknüpfen. Die Kastrationsangst ist nach Freud die Ursache der
Lösung des Ödipuskonflikts: Das Kind gibt die sexuelle Begierde nach seiner Mutter
auf, verdrängt sie, weil es Angst hat, dass der Vater ihn zur Strafe für diese Gefühle
kastrieren könnte. Der junge Klaus fühlt sich jedoch nicht von einer Kastration bedroht,
bei ihm sehen wir eher das Gegenteil, indem er sich über seinen wachsenden Penis
Sorgen macht: „Und wenn ich mal ein Mann bin – sehe ich eines Tages ebenfalls aus
wie ein Afrikaner? Mein niedliches kleines Zipfelchen wächst nicht brav mit und wird
ein etwas größeres Zipfelchen?“ [HWW: 55] Später in seinem Leben, als er nach einem
Treppensturz den ‚Riesenschwanz‘ bekommt, mit dem er die Berliner Mauer zum
Einsturz bringt, wird sich zeigen, dass er damals das Schlimmste noch gar nicht geahnt
hatte. Die dargestellte Rache von Klaus an seinem Vater ist eine umgekehrte Art von
Kastration, weil jetzt sich der Sohn an seinem Vater ‚vergreift‘: Es ist ein postumer,
symbolischer Vatermord. Eberhard Uhltzscht wird durch diese Handlung von seinem
Sohn entmachtet. Die Tatsache, dass Klaus erst nach dem Tod des Vaters es wagt, seine
Rache auszuüben, ist kennzeichnend für seine Feigheit, aber die Rache bildet trotzdem
einen Wendepunkt in seinem Leben. Der Tod des Vaters ist unmittelbar mit dem
Anfang von Klaus‘ allmählicher Revolte gegen die DDR, ihre Stasi und ihre Ideologie
verknüpft. Er erzählt über den Tod seines Vaters an zwei Stellen im Buch, die
unmittelbar vor und nach der Erzählung seiner Konfrontation mit der „echten Stasi“
24
Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge, S. 522 und S. 559.
20
kommen25. Diese Konfrontation, die Klaus zum persönlichen Blutspender von Erich
Honecker macht, ist eine der letzten Gelegenheiten, bei denen Klaus sich – eben
unbewusst – in den Dienst der Stasi stellt. Im siebten Kapitel, ‚Der geheilte Pimmel‘,
erzählt er den Ablauf seiner Revolte, die in dem von ihm verursachten Umschmeißen
der Berliner Mauer kulminiert. Der symbolische Vatermord ist also ein Vorbote des
Mordes an der DDR. Diese Beziehung zwischen der Vatergeneration und der DDR und
Stasi wird später in dieser Arbeit ausführlicher erläutert.
Sophie Portnoy, geborene Ginsky, ist für den kleinen Alexander dieselbe Göttin,
die Lucie für Klaus ist: Auch Alex dichtet seiner Mutter die Qualitäten einer
Superheldin an. Sie schafft die schönsten Marmorkuchen, trotzt mit ihrem „jello […]
with sliced peaches hanging in it“ [PC: 11] den Gravitationsgesetzen; Alexander glaubt
sogar, sie habe Transformationskräfte, könne außerdem fliegen und sei daher überall,
wo auch Alex ist. Obwohl sie nicht als Hygieneinspektorin tätig ist, wie Lucie
Uhltzscht, könnte sie für diesen Job sofort eingestellt werden, denn auch ihre „energy!“
und „thoroughness!“ sind maßlos:
For mistakes she checked my sums; for holes, my socks; for dirt, my nails, my
nick, every seam and crease of my body. She even dredges the furthest recesses of
my ears by pouring cold peroxide into my head. […] A medical procedure like
this (crackpot as though it may be) takes time, of course; it takes effort, to be sure
– but where health and cleanliness are concerned, germs and bodily secretions,
she will not spare herself and sacrifice others. [PC: 12]
Genauso wie bei Klaus ist Alexanders Verhältnis zu seiner Mutter im Moment des
Erzählens nicht mehr das liebevolle, das es einst gewesen ist: Die beiden Mütter sind
nur noch kontrollierende, sich in alles einmischende Besserwisserinnen, die ihren
Söhnen ständig Schuldkomplexe aufhalsen. Wie Klaus fängt auch Alex erst mit einem
Muttermord, einer ausführlichen Darstellung der Qualitäten seiner Mutter an, damit er
sie später ohne allzu viel Schuldgefühle kritisieren kann – obwohl er diesen Vorgang
nicht expliziert. Es ist bedeutend, dass das sexuelle Leben der zwei Protagonisten Alex
und Klaus – und, wie wir sehen werden, auch dasjenige von Oskar – mit dem Begehren
einer Mutterfigur anfängt. Mag schon – wie sich herausgestellt hat – Klaus gegen seine
eigene Mutter kein sexuelles Begehren aufweisen (aber schon gegen Mutterfiguren), so
finden wir in Portnoy’s Complaint die erotische Komponente zwischen Alex und seiner
25
Klaus‘ Überlegungen der echten und unechten Stasi finden Sie auf S. 256-258 und S. 266-267.
21
Mutter schon vor. Alexanders erste Bekanntschaft mit sexueller Erregung erfolgt, als er
seine Mutter beim Anziehen beobachtet:
… I am so small I hardly know what sex I am, or so you would imagine. […] She
sits on the edge of the bed in her padded bra and her girdle, rolling on her
stockings and chattering away. Who is Mommy’s good little boy? […] Ah, it
might be cunt I’m sniffing. Maybe it is! Oh, I want to growl with pleasure. Four
years old, and yet I sense in my blood – uh-huh, again with the blood – how rich
with passion is the moment, how dense with possibility. [PC: 44-45]
Sophie trägt in großem Maße selbst zu den ödipalen Gefühlen ihres Sohnes bei:
Während der Kindheit verherrlicht – „Albert Einstein the Second!“ [PC: 4] – und
bemuttert – „Who is Mommy’s good little boy?” [PC: 45] – sie ihn, was er sich wohl
gefallen lässt. Später aber, nachdem Alex schon längst erwachsen ist, nennt sie ihn zu
seiner Empörung noch immer ihren Liebhaber – „Her lover she calls me, while her
husband is listening on the other extension!“ [PC: 97]. Der Ödipuskomplex löst sich in
Portnoy’s Complaint also eigentlich nie auf: Auch Alexander selber muss feststellen,
wie ein ödipales Begehren noch immer sein erwachsenes Sexualleben prägt. Er erlebt
die ‚Kulmination des Ödipuskomplexes‘ ganz bewusst, indem er sich Hals über Kopf in
Naomi verliebt, die mit ihren roten Haaren und Sommersprossen das Abbild seiner
Mutter, ein „mother-substitute“ [PC:266] ist26.
Auch Jack Portnoy fügt sich unbewusst perfekt in die ödipale Konstellation ein.
Während Alex’ Kindheit ist er eine abwesende Figur, an der Alex bewusst eine Rivalität
aufweist. Jack Portnoy sei nur „a man who lives with us at night and on Sunday
afternoons“, ein Mann, den Alex gerne loswerden möchte, sodass er seine Mutter mit
niemandem teilen muss: „This man, my father, is off somewhere making money, as best
he is able. These two are gone, and who knows, maybe I’ll be lucky, maybe they’ll
never come back…” [PC: 45] Diese Rivalität verschwindet tatsächlich, aber weder die
von Freud ebenfalls beschriebene Anerkennung, noch die Identifikation tritt in
Portnoy’s Complaint an ihre Stelle – abgesehen von dem Moment, in dem Alex
26
Dass Alexander gerade bei Naomi impotent wird, möchte ich erst in der Analyse der Ideologiekritik
behandeln, weil ich diese Impotenz eher als Folge der unterschiedlichen Ideologie betrachte, als dass sie
mit dem Ödipuskomplex zusammenhängt. Ich möchte jetzt jedoch schon die Parallelen zu Klaus und
Oskar vorwegnehmen: Klaus erlebt bei Yvonne eine Impotenz, Oskar bei Schwester Dorothea. Auch
diese letztere ist das Abbild der Mutter des Protagonisten (Agnes war vor der Geburt Oskars als
Krankenschwester tätig), bei Yvonne gibt es aber keine Übereinstimmungen mit Lucie Uhltzscht. Auch
diese Impotenz wird in der Analyse der Ideologiekritik eingehender betrachtet. Bei Oskar sehe ich keine
Verbindung mit einer ideologiekritischen Komponente, eher ein Abschwören der Gefühle der Liebe oder
Emotionen im Allgemeinen.
22
beschreibt, wie er mit seinem Vater ins türkische Bad geht. Die Bewunderung und
Anerkennung, die Alex seinem Vater hier bezeugt, ist eine sexuelle, im Gegensatz zur
Klaus‘ Bewunderung für seinen Vater, die alles andere als eine sexuell geprägte ist,
denn „[s]ein Vater zeigte sich niemals nackt!“ [HWW: 54]. Klaus spricht fast mit
Abscheu über die „Pimmel wie die Wilden in Afrika“ [HWW: 55-56], und wenn er sich
von der üblichen Penisgröße – übrigens auch in einem Schwimmbad [HWW: 55] –
bewusst wird, spielt sein Vater dabei keine Rolle. Alexander dagegen betrachtet die
Intimteile seines Vaters als phallisches Symbol von Kraft und Selbstständigkeit, und
kann nicht warten, bis sein „fingertip of a prick“ [PC: 50] genauso groß ist wie die
‚schlong‘ seines Vaters: „Schlong: the word somehow catches exactly the brutishness,
the meatishness, that I admire so“ [PC: 50]. Jack Portnoy löst die Erwartungen seines
Sohnes aber nicht ein, und darin spielt Sophie Portnoy‘s Dominanz eine wichtige Rolle:
I want like he does to shift the tides of the toilet bowl! “Jack,” my mother calls to
him, “would you close that door, please? Some example you’re setting for you
know who.” But if only that had been so, Mother! If only you-know-who could
have found some inspiration in what’s-his-name’s coarseness! [PC: 50]
Schon früh sieht Alexander ein, dass sein Vater eigentlich eine schwache Figur, ein
Pantoffelheld, ein „schmegeggy” [PC: 97] ist (was so viel wie ‚Idiot’ bedeutet), der
nicht einmal ein Schlagholz richtig anfassen kann. Auch er wird durch eine ScheißeMetaphorik – die in Helden wie wir wohl als intertextueller Bezug zu Portnoy’s
Complaint erscheint – charakterisiert: „He stands there, a blank, a thing, a body full of
shit and no more.“ [PC: 116] Die Rollenerwartung wird bei den Portnoys öfters völlig
zerstört: So ist es Sophie, die ihrem Sohn lehrt, „to piss standing up […] like a big man“
[PC: 132]. Alexander ist sich dieser Rollenumkehrung ganz bewusst und beschwert sich
darüber, dass er in seinem Vater nie ein richtiges Vorbild gehabt hat: „Christ, in the face
of my defiance – if my father had only been my mother! and my mother my father! But
what a mix-up of the sexes in our house!“ [PC: 41] Während Klaus in der Kindheit für
seinen Vater eine gewisse Bewunderung fühlt, die sich später in Hass verwandelt,
erfährt Alexander keine wirkliche Hass, sondern Mitleid. Dieser Unterschied hat meines
Erachtens damit zu tun, dass Eberhard Uhltzscht sich nichts aus seinem Sohn macht,
während Jack Portnoy seinen Sohn wirklich liebt: „Among his other misfortunes, I was
his wife’s favorite. To make life harder, he loved me himself.“ [PC: 5] Alexander laviert
23
zwischen zwei einander entgegengesetzten Emotionen (Liebe und Hass) und kann sich
nicht dazu bringen, eine Wahl zu machen.
But what he had to offer I didn’t want – and what I wanted he didn’t have to offer.
Yet how unusual is that? Why must it continue to cause such pain? At this late
date! Doctor, what should I rid myself of, tell me, the hatred… or the love? [PC:
27]
Um diese Wahl zu treffen, wäre es einfacher, wenn Jack einen ‚Stinkstiefel‘, oder
zumindest eine Figur mit auch nur einem Schimmer von Autorität gewesen wäre, wie
Eberhard Uhltzscht. In Helden wie wir fürchtet Klaus die bösen Worte und Zorn seines
Vaters, in Portnoy’s Complaint soll Alexander sich verbeißen, nicht selber gegen seinen
schwachen Vater in Wut zu geraten. Er spielt somit auf einen Vatermord an, der nicht
so sehr aus einem Streit um die Mutter hervorgeht, sondern aus religiösen Gründen:
[…] – for as time went on, the enemy was more and more his own beloved son.
Indeed, during that extended period of rage that goes by the name of my
adolescence, what terrified me most about my father was not the violence I
expected him momentarily to unleash upon me, but the violence I wished every
night at the dinner table to commit upon his ignorant, barbaric carcass. [PC: 41]
Alexander verübt einen symbolischen Vatermord, indem er der Religion seines Vaters
abschwört: Jack Portnoy erfährt Alex‘ Ungläubigkeit als einen Anschlag auf sein
eigenes Leben, „as though he has just taken a hand grenade in his stomach.“ [PC: 63]
Wie Alex‘ Liebe für Naomi illustriert, wird in Portnoy’s Complaint der
Ödipuskomplex eigentlich nie gelöst, aber Alex versucht trotzdem, sich aus dieser
Konstellation zu befreien. Wir können das Mitleid, das er für seinen Vater fühlt,
einigermaßen mit der Kastrationsangst27 verknüpfen, die Freud als Lösung des
Ödipuskomplexes betrachtet. Die Angst, dass Jack Portnoy Alex zur Strafe für die
Liebesgefühle zu seiner Mutter kastrieren könnte, kommt im folgenden Zitat zum
27
Alexanders Kastrationsangst nimmt eine ganz andere Wendung, als ihm seine erste sexuelle Erfahrung
(mit Bubbles Girardi) bevorsteht [PC: 167]. Er gerät in Panik und bildet sich ein absurdes
Katastrophenszenario ein, in dem sein Penis vor den Augen seiner Eltern abgestorben herunterfällt, weil
er von Bubbles (oder Smolka) mit Syphilis infiziert wurde. Es scheint, als ob er sich seine Strafe vorstellt:
Erstens, weil er gegen die hygienischen Prinzipien, die er von seiner Mutter mitbekommen hat, verstoßen
wird; zweitens, weil er ein unverlässliches Kondom gebrauchen wird; und, last but not least, drittens,
weil er mit einem nicht-jüdischen Mädchen sexuellen Verkehr haben wird. Dass er sich gerade nach
dieser Beschreibung mit Religionskritik auseinandersetzt, spricht dafür, dass Klaus‘ Kastrationsangst hier
eher durch die Angst vor seiner jüdischen Religion (statt vom Vater) eingegeben wird. In der Analyse der
Ideologiekritik werde ich mich mit dieser Interpretation weiter befassen.
24
Ausdruck, wird aber gleich mit dem bedauernswerten Bild des unfähigen Vaters
gekontert:
[…] Mommy still hitches up the stockings in front of her little boy. Now,
however, he takes it upon himself to look the other way when the flag goes
fluttering up the pole – and out of concern not just for his own mental health.
That’s the truth, I look away not for me but for the sake of that poor man, my
father! Yet what preference does Father really have? If there in the living room
their grown-up little boy were to tumble all at once onto the rug with his Mommy,
what would Daddy do? Pour a bucket of boiling water on the raging maddened
couple? Would he draw his knife – or would he go off to the other room and
watch television until they were finished? [PC: 46]
Von einer richtigen Angst vor seinem Vater ist aber nie die Rede. Es ist Alex’ Mutter,
die ihre Messer hervorzieht [PC: 16] und alles daran setzt, damit Alex ihr lieber und
artiger kleiner Junge bleibt: „Who else was so lucky as to have the threat of castration
so straight-forwardly put by his momma?“ [PC: 257]
Die Blechtrommel zeigt im Bereich des Ödipuskomplexes zwei Konstellationen,
weil Oskar mit zwei Mutterfiguren und sogar auch zwei Vaterfiguren abzurechnen hat.
Die erste ödipale Konstellation ist diejenige zwischen Agnes (sie ist die einzige, die
Oskar versteht und der er anfänglich seine Liebe zeigt), den zwei Vaterfiguren Jan
Bronski und Alfred Matzerath, und Oskar selbst. Im Gegensatz zu Alexander und in
Übereinstimmung mit Klaus zeigt Oskar sein sexuelles Begehren nach seiner Mutter nie
explizite, aber es ist schon implizite anwesend: Oskar möchte nichts lieber, als in die
Geborgenheit von Agnes‘ Gebärmutter zurückkehren. Diese Sehnsucht wird Oskar nie
loswerden: So stellt auch Neuhaus fest, dass für Oskar „im Liebesakt immer die
Rückkehr in den Mutterleib gemeint ist“28. Später, nachdem seine Mutter schon längst
verstorben ist, symbolisiert er diese Sehnsucht, indem er in der Geborgenheit von
Schwester Dorotheas Kleiderschrank masturbiert. Oskars sexueller Hang zu
Krankenschwestern29 (nicht nur Schwester Dorothea, sondern auch Schwester Inge und
Schwester ‚Erni oder Berni‘ fordern Oskars Zuneigung und sogar Erregung heraus)
stammt übrigens aus dem unbewussten Begehren nach seiner Mutter.
28
Volker Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. München: Oldenbourg 1982
(Interpretationen für Schule und Studium), S. 91.
29
Die früheren professionellen Tätigkeiten von Agnes Matzerath und Lucie Uhltzscht weisen auch einen
intertextuellen Bezug auf: Oskars Mutter Agnes war früher Krankenschwester, Lucie unterbricht eine
ähnliche Karriere als Fachärztin. Dieser Bezug ist übrigens auch in The World According To Garp (John
Irving) vorzufinden: Die Mutter von T.S. Garp – der in Helden wie wir beim Namen erwähnt wird
[HWW: 155] und mit dem Klaus schon oft verglichen wurde – ist auch als Krankenschwester tätig.
25
Gegenüber seinen zwei mutmaßlichen Vätern empfindet Oskar nicht wirklich
eine Rivalität, aber doch keineswegs so etwas wie Liebe: Er akzeptiert ihr Dasein
einfach, ohne weder Sympathie, noch Abneigung30 [DB: 374] zu zeigen. Nachdem
Agnes aber gestorben ist, ist Oskar jedoch auf ihre zwei Liebhaber neidisch. Wie
Meister Bebra es treffend analysiert: „Aus purer Eifersucht grollen Sie Ihrer toten
Mama. Weil sie nicht Ihretwegen, vielmehr der angestrengten Liebhaber wegen ins
Grab ging, fühlen Sie sich zurückgesetzt.“ [DB: 219] Außerdem trägt sie das Kind eines
dieser zwei Männer, und bietet so einem Anderen die Geborgenheit, nach der Oskar
sich so sehnt. Implizite wäre sogar eine Feindschaft vorzufinden:
Dass er ausgerechnet sein drittes Lebensjahr wählt, um „sein Wachstum
einzustellen“, kann nur – das dritte Lebensjahr ist nach den Psychologen gerade
die Zeit, in der sich der Ödipuskomplex bildet – dahin gedeutet werden, dass er
hier das Opfer seiner ihm unbewussten, seine normale Entwicklung in Frage
stellenden Feindschaft gegen den Vater wird.31
Dass Oskar erst weiterwächst, nachdem seine zwei mutmaßlichen Väter gestorben sind,
spricht auch für diese Feindschaft-These.
Die zweite ödipale Konstellation ist explizite mit Oskars sexuellem Begehren
nach einer Mutterfigur und Hass gegenüber seinem Vater (d.h. Alfred Matzerath)
verbunden. Jetzt nimmt Maria die Mutterrolle ein: Nicht nur ihr Name deutet auf ihre
Ur-Mütterlichkeit hin (zudem identifiziert Oskar sich mit dem Sohn Jesus: „Eineiig!
Der hätte mein Zwillingsbruder sein können.“ [DB:180]), sie ist auch diejenige, die
Oskar aufs Neue eine Blechtrommel schenkt, wie einst seine Mutter. Sie wäre fast als
eine Art Inkarnation von Agnes zu betrachten: Die (sexuell geprägte) Liebe von Oskar –
der außer seiner Mutter sonst noch niemanden geliebt hat – für Maria erwacht am
Strand von Brosen, wo der Sterbensprozess seiner biologischen Mutter seinen Anfang
fand. Oskars ‚zweiter Ödipuskomplex‘ wird aber erst richtig manifest, als er Vater
Matzerath mit Maria auf der Chaiselongue ertappt und das Liebespaar angreift. Er
richtet seine Wut vor allem auf Matzerath und schlägt „ihm die Trommel ins Kreuz“
[DB: 373]. Bei Oskar bleibt der Vatermord nicht rein symbolisch wie bei Klaus und
Alex. Er verübt ihn tatsächlich, und sogar zweimal: Er ermordet Jan und Alfred. Erst
30
Günter Grass: Die Blechtrommel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 200717, S. 374. Auf Die
Blechtrommel wird weiter im Text folgendermaßen verwiesen: [DB: xx].
31
Robert Leroy: Die Blechtrommel von Günter Grass: Eine Interpretation. Paris: Belles Lettres 1973, S.
62.
26
beim zweiten Erzählen stellt sich der wahre Tatbestand heraus (ein Zeichen für die
Unzuverlässigkeit des Erzählers Oskar), inklusive seines Anspruchs, der Tod der Väter
sei seine Verantwortlichkeit. Sowohl bei Jan, als auch bei Alfred zeigt Oskar sich sehr
rachsüchtig. So machen Oskars „anklagende Gesten“ [DB: 318] Jan zum Schuldigen,
sodass er von der Heimwehr erschossen wird; und öffnet er „die Nadel des
Parteiabzeichens“ [DB: 531], sodass Alfred erstickt. Fast stolz berichtet Oskar über
seinen Status als Mörder: „Meine Trommel, nein, ich selbst, der Trommler Oskar,
brachte zuerst meine arme Mama, dann den Jan Bronski, meinen Onkel und Vater, ins
Grab“ [DB: 320]. Auch beim Begräbnis seines zweiten mutmaßlichen Vaters „gestand
Oskar sich ein, daß er Matzerath vorsätzlich getötet hatte [...]; auch weil er es satt hatte,
sein Leben lang einen Vater mit sich herumschleppen zu müssen.“ [DB: 531] Oskar
erreicht mit diesen Vatermorden aber nicht, was Ödipus in der Legende Oedipus Rex
erreicht, nämlich zum Liebhaber seiner Mutter zu werden. Auch nachdem Alfred
gestorben ist, kehrt Maria nicht bei Oskar zurück.
1.2. Part Two: der Humor
Nicht nur die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie bringen Helden wie wir und
Thomas Brussig in Verbindung mit Sigmund Freud, wie schon Elizabeth Nijdam in
ihrer Diplomarbeit32 beobachtet hat. Auch Freuds Der Witz und seine Beziehung zum
Unbewussten, genau wie die Drei Abhandlungen 1905 veröffentlicht und laut James
Strachey, der die psychoanalytischen Werke Freuds ins Englische übersetzte, sogar
gleichzeitig geschrieben33, kann man mit den Arten von Humor, die Brussig in Helden
wie wir benutzt, in Beziehung bringen. Freud bietet uns in Der Witz und seine
Beziehung zum Unbewussten eine ausführliche und komische Analyse des Witzes, in
der er unter anderem die Technik des Witzes, den Lustmechanismus, den wir bei dem
Witz vorfinden, die Motive und die Beziehung des Witzes zum Traum erörtert. Im Teil
zu den Witztechniken schießt er den einen Wortwitz nach dem anderen ab, bei denen
einige Witze aus Helden wie wir nicht schlecht anstehen würden:
32
Elizabeth Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks: Thomas Brussig’s Postalgie. University of Victoria
2007.
<http://dspace.library.uvic.ca:8080/dspace/bitstream/1828/182/7/Stasi%20Sex%20and%20Soundtracks.p
df>
33
Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 21.
27
„Warum heißt der Zapfenstreich Zapfenstreich?“ fragte Raymund vom Bett über
mir […]. „Der Zapfenstreich heißt Zapfenstreich, weil ich mir jetzt den Zapfen
streich.“ [HWW: 115]
[während Klaus den Vergleich macht zwischen dem Öffnen einer Sektflasche und
wichsen, mvl] Da fällt mir ein: Wie meine Eltern mit Sektflaschen hantieren. […]
Der Korken knallt nie. Und wenn trotz aller Behutsamkeit sich doch mal etwas
Schaum nachzuschießen erlaubt, dann geht er ins Geschirrtuch. Wie nennt man
das? Safer Sekt? [HWW: 125]
Viele der Witze, die Freud sammelte, sind übrigens gekonnte Proben des bekannten
Judenwitzes, in denen die Selbstkritik der Juden nie weit zu suchen ist. Obwohl ich
weder Portnoy’s Complaint noch Die Blechtrommel in Hinblick auf die Humor-Theorie
von Freud erforschen möchte, weil uns das zu weit führen würde, meine ich trotzdem,
dass eine ähnliche Analyse von Portnoy’s Complaint sehr aufschlussreich wäre. Öfters
wird nämlich auf diesen Judenwitz angespielt, und Roth tischt seinen Lesern sogar
einmal einen richtigen Judenwitz auf:
Milty, the G.I., telephones from Japan. “Momma,” he says, “it’s Milton, I have
good news! I found a wonderful Japanese girl and we were married today. As
soon as I get my discharge I want to bring her home, Momma, for you to meet
each other.” “So,” says the mother, “bring her, of course.” “Oh, wonderful,
Momma,” says Milty, “wonderful – only I was wondering, in your little
apartment, where will me and Ming Toy sleep?” “Where?” says the mother.
“Why, in the bed? Where else should you sleep with your bride?” “But then
where will you sleep, if we sleep in the bed? Momma, are you sure there’s room?”
“Milty darling, please,” says the mother, “everything is fine, don’t you worry,
there’ll be all the room you want: as soon as I hang up, I’m killing myself.” [PC:
189]
Nicht auf die Techniken des Witzes möchte ich hier fokussieren, sondern vor
allem auf die sogenannten Tendenzen des Witzes34, weil deutlich ist, dass Thomas
Brussig mit seinem Humor nicht nur die Absicht hat, seine Leser zu unterhalten oder sie
in eine angenehme Gemütslage zu bringen: Der Humor in Helden wie wir ist ein Mittel,
das Brussig ermöglicht, mit der DDR abzurechnen. Bei Freud lesen wir: „Nur derjenige
Witz, welcher eine Tendenz hat, läuft Gefahr, auf Personen zu stoßen, die ihn nicht
anhören wollen“35, was genau die Absicht von Brussig ist. Am tendenziösen Witz sind
nach Freud drei Instanzen oder Personen beteiligt: Eine, die den Witz macht, eine
zweite, die das Objekt der Aggression des Witzes ist und eine ‚unbeteiligte‘ dritte, die
34
Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor. Frankfurt am Main:
Fischer Taschenbuch Verlag 20068, S. 104.
35
Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor, S. 104.
28
sich den Witz anhört und „an der sich die Absicht des Witzes, Lust zu erzeugen,
erfüllt“36. Diese drei Instanzen hat auch Nijdam unterschieden, aber ihre kurze Analyse
braucht, meiner Meinung nach, noch eine weitere Differenzierung und Spezifizierung.
Nijdam betrachtet „the narrator“37 in Helden wie wir als die erste Instanz (das wäre also
Klaus Uhltzscht), während sie in den vorangehenden Absätzen immer Brussig als die
‚intendierende‘ und daher erste Instanz erwähnt. Meiner Ansicht nach ist letztere
Betrachtung die richtige: Klaus Uhltzscht ist nicht der Urheber der Witze, wie zum
Beispiel bei der Verwechslung von „Mikrofiches“ und „Mikrofischen“: Er macht diese
Witze nicht bewusst. Den Grund dafür lege ich bei seiner großen Naivität. Diese
Naivität, die ich in Bezug auf Klaus ausführlich besprechen werde, charakterisiert Freud
nicht als Witz, deshalb auch nicht als tendenziös:
Das Naive wird wie das Komische im allgemeinen gefunden, nicht wie der Witz
gemacht, und zwar kann das Naive überhaupt nicht gemacht werden, während
beim rein Komischen auch ein Komischmachen, ein Hervorrufen der Komik in
Betracht kommt. Das Naive muss sich ohne unser Dazutun ergeben […].38
Die erste Instanz ist diejenige, von der die Tendenz des Witzes ausgeht, und im Buch ist
nur Thomas Brussig dafür verantwortlich. Die dritte Instanz, der der Witz erzählt wird,
aber selbst nicht daran beteiligt ist, sind in diesem Fall die Leser des Buches. Mit der
Identifizierung der zweiten Instanz, des Objekts des Witzes, hat Nijdam unerläuterte
Schwierigkeiten: „It is in the presence of the third person [at whose expense the joke is
told] that things become more complicated.“39 Meiner Meinung nach lässt sich diese
zweite Instanz klar ausmachen: Helden wie wir verspottet das DDR-Regime, die Stasi,
die Mitläufer und die Ideologie des Sozialismus. Brussig war übrigens mit seiner Kritik
noch nicht fertig, denn er hatte 1995, bei der Veröffentlichung seines Buches schon ein
Auge auf eine neue ‚zweite Instanz‘ für das Freudsche Dreieck des tendenziösen Witzes
geworfen: „Ich will antreten, Kritiker der Bundesrepublik zu werden, jetzt, nachdem ich
ein Buch vorgelegt habe, das ganz vehement das System der DDR kritisiert hat.“40
Wie schon erwähnt, gibt es laut Freud vier Gattungen des tendenziösen Witzes:
die entblößende oder obszöne, die aggressive oder feindselige, die zynische oder
36
Freud: Der Witz. Der Humor, S. 114.
Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 24.
38
Freud: Der Witz. Der Humor, S. 194.
39
Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 24.
40
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 52.
37
29
kritische und die skeptische Tendenz. In Helden wie wir ist die erste Gattung die
nächstliegende: Die ganze Lebensgeschichte von Klaus ist eine Aneinanderreihung von
Entblößungen, sowohl auf einer buchstäblichen, eher oberflächlichen Ebene, als auch
auf einer bildlichen, tieferen Ebene. Die buchstäbliche Ebene enthält die vielen
Obszönitäten, über die Klaus im Laufe der sieben Kapitel erzählt. Die Szene im
Schlafzimmer im militärischen Ausbildungslager der Stasi, wo René im Auftrag von
Raymund beschreibt, wie er seine Frau „am liebsten nehmen [würde]“ [HWW: 120]
und die Szene der Mielke-Onanie [HWW: 195] sind Beispiele dieser buchstäblichen
Entblößungen. Die wichtigste buchstäbliche Entblößung findet sich jedoch schon am
Anfang seines Gesprächs mit dem Journalisten Kitzelstein, und bildet später auch das
Ende des Interviews (und des Buches): Er charakterisiert eins der wichtigsten Ereignisse
des zwanzigsten Jahrhunderts als die Folge der Entblößung seines ‚Pinsels‘. Diese
Obszönitäten können wir als eine Art von Zoten charakterisieren, die Freud wie folgt
umschrieben hat:
Die Zote ist wie eine Entblößung der sexuell differenten Person, an die sie
gerichtet ist. Durch das Aussprechen der obszönen Worte zwingt sie die
angegriffene Person zur Vorstellung des betreffenden Körperteiles oder der
Verrichtung und zeigt ihr, dass der Angreifer selbst sich solches vorstellt.41
Wie Freud es hier darstellt, hat der Angreifer eine Macht über die angegriffene Person,
die gezwungen wird, sich selbst gegen ihren Willen bloßzustellen. Hier situiert sich,
meiner Meinung nach, dann die tiefere Ebene der Entblößung in Helden wie wir: Der
Angreifer Thomas Brussig zwingt die angegriffene Instanz, die DDR im Allgemeinen
und ihr Volk im Besonderen, ‚die Hose herunterzulassen‘, er macht sie lächerlich. Die
Mielke-Onanie stellt in diesem Sinne auch eine tiefere Entblößung dar: Klaus macht in
seiner Naivität Minister Mielke zum Angegriffenen, zwar indirekt, indem er (in der
Form eines fiktiven Briefes) seine Onanie in den Dienst der sozialistischen Ideale stellt:
„mein Abspritzen war gesetzmäßig – floggfloggflogg – und unterstreicht die Gültigkeit
unserer Lehre – floggfloggflogg –, der Marxismus ist allmächtig – floggfloggflogg –
weil er wahr ist […] meine Onanie war der pure Patriotismus“ [HWW: 197-198]. Die
41
Freud: Der Witz. Der Humor, S. 112.
30
Sprache, die Klaus hier benutzt, ist der sozialistischen Ideologie eigen und wird durch
die ‚Wichsonomatopöie‘ noch mehr lächerlich gemacht, wie auch Nijdam beobachtet42.
Die zweite Tendenz, die feindselige, kann in gewissem Maße mit dem obszönen
Witz in Beziehung gebracht werden, wie auch Nijdam macht, aber man muss trotzdem
die Nuancen beibehalten: nach Freud diene der obszöne Witz, zur Entblößung und der
feindselige zur Aggression, Satire und Abwehr43. Die obszöne Tendenz in Helden wie
wir enthält bestimmt auch eine Feindseligkeit, aber wir können diese Beobachtung nicht
unbedingt umdrehen: Nicht alle feindseligen Witze enthalten zugleich eine Obszönität.
Die feindselige Tendenz tritt meiner Meinung nach am Deutlichsten hervor bei der
Darstellung der Vater- und Muttergeneration, in der die DDR und ihr gesellschaftliches
System einigermaßen personifiziert werden. Im Licht der Ideologiekritik erläutere ich
diesen Punkt später in meiner Arbeit; trotzdem möchte ich hier schon ein Beispiel
geben: Im siebten Kapitel ist die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf von Brussigs
Feindseligkeit die angegriffene Instanz: Schon mit dem Titel dieses Kapitels verspottet
er diese literarische Autorität, und macht sie und ihr Oeuvre lächerlich, indem er sich
den Titel Der geteilte Himmel aneignet und in ‚Der geheilte Pimmel‘ verändert. Über
seine Leseerfahrungen beim Buch von Wolf berichtet Klaus Uhltzscht in einer
höhnischen Tonart: „Christa Wolf hat einen Roman geschrieben. Er ist irgendwie
gewidmet.“ [HWW: 296] Ihr Werk ist ihm zu kompliziert, geziert und gekünstelt, beim
Lesen fragt er sich „Wasn das? […] Wer schreibt so was?“ [HWW: 297]. Klaus
verlacht sie durch den Vergleich mit einem übereifrigen Schulmädchen, das zu tüchtig
versucht, ihr Bestes zu tun: „Aber den schönsten Aufsatz hat wieder unsere Christa
geschrieben.“ [HWW: 297] Auch über andere Bücher von Wolf macht Klaus sich
lustig, und letztendlich gestaltet er sie zur ‚Pornotexterin‘ um, indem er ein Zitat aus
Nachdenken über Christa T. (1968) in seiner Karriere als Pornodarsteller verwendet:
[…] ich musste doch den Nachweis erbringen, dass sie die Autorin für jede, aber
auch wirklich für jede Gelegenheit ist. Näheres können Sie in Erfahrung bringen,
wenn Sie sich mal die Zeit nehmen, im hinteren Winkel Ihrer Videothek zu
stöbern. [HWW: 310-311]
Die feindselige Tendenz ist hier deutlich gegen Christa Wolf gerichtet.
42
43
Nijdam: Stasi, Sex and Soundtracks, S. 23.
Freud: Der Witz. Der Humor, S. 111.
31
Drittens finden wir bei Freud die zynische Tendenz vor, die – wie die zwei
schon erwähnten – einen kritischen, blasphemischen Angriff beinhaltet, der jetzt aber
spezifisch gerichtet ist gegen
[…] Institutionen […], Personen, insoferne sie Träger derselben sind, Satzungen
der Moral oder der Religion, Lebensanschauungen, die ein solches Ansehen
genießen, dass der Einspruch gegen sie nicht anders als in der Maske eines
Witzes, und zwar eines durch seine Fassade gedeckten Witzes auftreten kann.44
Durch einen Witz beißende Kritik verhüllen, ist genau dasjenige, was Thomas Brussig
macht: Statt einen scharfkritischen, meinungsbildenden Zeitungsartikel zu schreiben,
oder sogar eine Autobiographie, in der er unverblümt seine Kritik am kommunistischen
System äußern kann, übt er seine Kritik über eine fiktionale Geschichte, die wir als
einen 323 Seiten langen Witz auffassen können. Manchmal gibt es auch zynische
Passagen, die nicht von einem Witz ‚verschleiert‘ werden: Sie zeigen eine Verbitterung,
einen resignierten Unglauben an das angeblich Positive. Meistens gibt es diesen
Zynismus bei den Beschreibungen der Mutter- und Vatergeneration; diesen
Gesichtspunkt werde ich im Teil der Ideologiekritik eingehender erläutern.
Viertens benennt Freud auch die skeptische Tendenz, die auf die Sicherheit
unserer Erkenntnis, auf das Wissen an sich gezielt ist45. Diese Tendenz wirkt oft mit
und mittels der Technik des Widersinnes, der in Helden wie wir in der Figur des StasiOberleutnants Martin Eulert am besten realisiert wird, über den Klaus sagt: „Da, wo der
ist, kann nicht die echte Stasi sein.“ [HWW: 156] Die Auseinandersetzung mit ‚Eules‘
persönlicher Philosophie der „Negation der Negation“ [HWW: 156-158] führt zu einer
der absurdesten und zugleich komischsten Szenen des Buches, und betont nochmal die
himmelschreiende Inkompetenz und die Sinnlosigkeit desjenigen, was man bei der Stasi
macht. Die Annahme einer ‚echten‘ und einer ‚falschen‘ Stasi wirkt übrigens auch
skeptisch, da Klaus wirklich nicht glauben kann, dass die Stasi drei Typen wie
Wunderlich, Grabs und Eule einstellen würde, und sich verliert in allerhand blühenden
Fantasien von demjenigen, was die echte Stasi dann mit ihm vorhat, denn Klaus zeigt
sich deutlich schon von Kindheit an (mit seinem „Fassadenprotokoll“ [HWW: 79]) als
der prototypische Stasi-Agent. Mit dieser falschen Stasi wird die echte Institution der
Staatssicherheit wiederum aufs Korn genommen, verspottet und verhöhnt.
44
45
Freud: Der Witz. Der Humor, S. 123.
Freud: Der Witz. Der Humor, S. 130.
32
Freud definiert die Gründe für das Machen eines Witzes aus einem
Lustmechanismus heran. Ich werde diesen Mechanismus hier nicht behandeln, denn das
würde zu weit führen, aber Freud hat ihn selbst sehr knapp umschrieben, wie wir auf
dem Umschlag von Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten lesen können:
„Wenn ich den anderen durch die Mitteilung meines Witzes zum Lachen bringe,
bediene ich mich seiner eigentlich, um mein eigenes Lachen zu erwecken.“ Wenn man
annehmen darf, dass Lachen auch eine heilende Wirkung hat, wird dieses Lustprinzip
auch für Thomas Brussig nützlich gewesen sein, denn bei der Veröffentlichung des
Buches Am kürzeren Ende der Sonnenallee, das sich – zwar auf eine viel mildere Art
und Weise als Helden wie wir – auch mit dem Leben in der DDR beschäftigt, sagte er:
„Meine Wunden, die die DDR geschlagen hat, sind verheilt.“46
46
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 52.
33
2. Der Humor als erster Pfeiler der Analyse
‚Wer heute lacht, kann morgen weinen‘ – diese Redewendung enthält viel Wahres, aber
man kann sie auch ganz einfach umdrehen: Mit einem Lachen kann man den Schmerz
über unangenehme Ereignisse relativieren oder sogar einen Augenblick vergessen. Der
Humor wird, abgesehen vom Alltagsleben, auch in der Literatur öfters als ein Mittel
verwendet, traumatische Ereignisse zu bewältigen. Diese tröstende und relativierende
Wirkung war schon in der ursprünglichen Bedeutung von ‚Humor‘, in der antiken und
mittelalterlichen Physiologie, enthalten47: Das Wort beziehe sich auf die vier
Körperflüssigkeiten, die die Emotionen und den physischen Zustand des Menschen
bestimmten. Diese Körperflüssigkeiten hätten genau dieselbe Wirkung wie jetzt auch
die rhetorische Technik Humor in der Literatur: Humor bringe den Leser in eine
angenehme Gemütslage. In Helden wie wir stimmt diese primitive Auffassung des
Begriffs nicht ganz, weil Brussig so viele verschiedene Arten von Humor benutzt, die
bestimmt nicht immer für eine angenehme Gemütslage sorgen. Eine bekannte deutsche
Redewendung umschreibt angemessener den Humor in Helden wie wir: ‚Humor ist,
wenn man trotzdem lacht‘. Brussig zeigt uns die Tragik seiner Hauptfigur und des
Systems, in dem er aufwächst, auf eine komische Art und Weise.
Ironie, Satire, Sarkasmus und andere Äußerungen von Humor bewirken nicht
nur die Relativierung eines tragischen Erlebnisses, sondern erlauben auch, dass man
sich von diesem Erlebnis distanzieren kann. Julia Kormann beschreibt es in ihrer
Analyse der Nachwendeliteratur wie folgt:
[…] sich distanzieren bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, die Augen vor
Vergangenheit und Gegenwart zu verschließen, sondern jenen Abstand
einzunehmen, aus dem heraus Konturen erkennbar werden, wenn der zu
betrachtende Gegenstand zu nah vor Augen steht.48
Weiter zitiert sie auch Joachim Pfeiffer, der die satirischen und ironischen Stileffekte
der Nachwendeliteratur charakterisiert „als den Versuch, die mangelnde Tiefenschärfe
durch eine perspektivische Vertiefung des Erzählgegenstandes zu kompensieren“49. In
47
Hendrik van Gorp, Rita Ghesquiere und Dirk Delabastita: Lexicon van literaire termen. Zevende,
herziene druk. Groningen: Martinus Nijhoff 1998, S. 208.
48
Julia Kormann: “Satire und Ironie in der Literatur nach 1989”. In: Mentalitätswandel in der deutschen
Literatur zur Einheit (1990-2000). Hg. von Volker Wehdeking. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000, S.
169.
49
Kormann: “Satire und Ironie in der Literatur nach 1989”, S. 169.
34
Helden
wie
wir
gibt
es
daneben
auch
die
typische
Erzählsituation
des
Zeitungsinterviews, die Distanz herbeiführt: Klaus erzählt seine Geschichte einem
Journalisten, er erzählt sein Leben buchstäblich ‚von sich ab‘, wie in einem
therapeutischen Gespräch, und lässt es auf sieben Tonbändern speichern. Der Journalist,
Mr. Kitzelstein, gehört überdies noch zur ‚dark side‘ des Westens, was eine räumliche
und vor allem eine ideologische Distanzierung impliziert.
Jeder Art von Humor, die in Helden wie wir eine spezifische Wirkung hat, werde
ich in dieser Arbeit einen eigenen Abschnitt widmen. Ironie beziehungsweise Groteske
und Sarkasmus sind die Formen von Humor, die in Helden wie wir die bedeutendsten
Effekte erreichen, daher werden diese Formen auch eingehend analysiert. Sie operieren
jedoch alle drei auf unterschiedlichen Ebenen, wie ich ausführlich darlegen werde.
Erstens werde ich in der Analyse der Ironie auf die ironische Naivität von Klaus
Uhltzscht fokussieren. In Zusammenhang mit dieser Ironie untersuche ich auch seinen
Schelmengehalt, wobei ich die intertextuelle Komponente in Betracht nehme und eine
eingehende und detaillierte Figurenanalyse der drei Protagonisten Klaus Uhltzscht,
Alexander Portnoy und Oskar Matzerath durchführen werde. Ich nehme bei dieser
Analyse den Schelmengehalt der Protagonisten als Leitfaden und interpretiere die
Figuren nach den Kategorien im Aufsatz von Claudio Guillén, „Toward a definition of
the picaresque“50. Es wird sich herausstellen, dass diese Schelme, wie sie in vielen
Sekundärtexten – auf einen Nenner gebracht – umschrieben werden, trotzdem einen
unterschiedlichen ‚Schelmengehalt‘ aufweisen. Zweitens untersuche ich die Groteske
(als Gattungsbegriff) und das Groteske (in einzelnen Elementen) in Helden wie wir, und
werde eine Neudefinierung vorstellen unter dem Begriff ‚Körpergroteske‘. Anhand
dieser Definierung werde ich auch Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel als
Grotesken analysieren. Drittens behandle ich auch den Sarkasmus und dessen
unterschiedlichen Erscheinungsformen in den drei Romanen, als Überleitung zum
Kapitel der Ideologiekritik.
50
Claudio Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”. In: Literature as System. Essays toward the
Theory of Literary History. Hg. von Claudio Guillén. Princeton: Princeton University Press 1971, S. 71106.
35
2.1. Ironie, Naivität und Schelmengehalt
Ich verknüpfe die erste Humorform, die Ironie, mit zwei auf den ersten Blick nicht so
nahe liegenden Begriffen, nämlich der Naivität und dem Schelmengehalt. Wie ich zu
diesem scheinbar heterogenen Themenkomplex angelangt bin, ist einstweilen
schrittweise und logisch zu verfolgen. Die Ironie als Stilfigur hat eine klare Absicht und
lässt sich also als vorsätzlich charakterisieren, während die Naivität eher unbeabsichtigt
und ungekünstelt wirkt. Sie scheinen in dieser Hinsicht einander also entgegengesetzt
zu sein, dennoch, wenn wir die Etymologie der Wörter beobachten, finden wir doch
einige Anhaltspunkte für die Verknüpfung von Ironie und Naivität vor. Ironie stammt
vom griechischen Wort ‚eironeia‘, was Verstellung, Verhehlung, und genauer,
geheuchelte Unkenntnis51 bedeutet. Diesen Begriff der Unkenntnis finden wir auch in
der Definition der Naivität vor, aber hier ist sie nicht geheuchelt: Die Unkenntnis zeugt
von Einfältigkeit und Arglosigkeit, Eigenschaften, die wir auch bei Klaus Uhltzscht
vorfinden. Die Verbindung zwischen Ironie und Naivität ist hinsichtlich der Figur Klaus
Uhltzscht also logisch, weil sie die größten Effekte auf der Ebene dessen
Charakterisierung erreicht.
Die Verbindung zwischen Naivität und Schelmengehalt geht nicht aus der
Etymologie oder Definition der Komplexe hervor, sondern hat eine theoretische,
literaturwissenschaftliche Grundlage: Tanja Nauses Dissertationsarbeit Inszenierung
von Naivität. Nause definiert die Nachwendeliteratur „statt mit dem abgedroschenen
Terminus ‚Schelmenroman‘ – treffender mit dem Begriff der ‚inszenierten Naivität‘“52,
mit dem sie, wie ich später erläutern werde, eine wertvolle Theorie vorgeschlagen hat.
Trotzdem möchte ich der Frage nachgehen, ob den Terminus Schelm wirklich so
‚abgedroschen‘ ist, als Nause behauptet. Dieser Analyse möchte ich eine intertextuelle
Komponente hinzufügen, und erforschen, in wie weit wir auch Alexander Portnoy und
Oskar Matzerath als Schelm einordnen können. Es wird sich eine Skala verschiedener
51
Für die Erklärung der literarischen Termini habe ich mich auf die Definitionen in den zwei folgenden
Lexika gegründet: Metzler Literatur Lexikon: Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. von Günther und
Irmgard Schweikle. Stuttgart: Metzler 1984.
Hendrik van Gorp, Rita Ghesquiere und Dirk Delabastita: Lexicon van literaire termen. Zevende,
herziene druk. Groningen: Martinus Nijhoff 1998.
52
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 28.
36
Schelmengehalte aufzeigen, je nachdem, wie die Protagonisten verschiedene Kriterien
des Pikaresken nach Claudio Guillén53 erfüllen.
Bevor wir allerdings der Schelmengehalt von Klaus, Alexander und Oskar unter
die Lupe nehmen, möchte ich zuerst anhand der Definitionen im Metzler- und van
Gorp-Lexikon die Ironie in Helden wie wir untersuchen. Meine Absicht ist, in diesem
Abschnitt darzustellen, dass die Naivität ausgeht von und wirksam ist auf der Ebene von
Klaus Uhltzscht, während die Ironie zwar ebenfalls auf dieser Ebene wirksam ist,
jedoch außerdem auch von einer zweiten Ebene, der der Autorinstanz, ausgeht.
2.1.1. Die ironische Naivität von Klaus Uhltzscht
Eine erste, sehr allgemeine Auslegung der Ironie finden wir bei van Gorp et al.: Ironie
sei eine Stilfigur, die mit dem Kontrast zwischen demjenigen, was gesagt, gezeigt oder
suggeriert wird und der eigentlichen Bedeutung der Äußerung oder Situation wirkt.54 Es
gibt sozusagen eine Diskrepanz zwischen einer expliziten Äußerungsebene und einer
impliziten Bedeutungsebene, wobei auf der ersten Ebene vor allem mit Übertreibung,
Untertreibung und Umkehrung der zweiten Ebene gearbeitet wird. Schon das erste
Kapitel von Helden wie wir bietet uns eine Häufung von Hyperbeln, bezogen auf die
Figur von Klaus, und eine Umkehrung eines der wichtigsten historisch-politischen
Ereignisse des 20. Jahrhunderts, das Teil des Kollektivgedächtnisses geworden ist: der
Pressekonferenz des SED-Regierungssprechers Gunther Schabowski am 9. November,
auf der er Erlaubnis zur freien Ausreise in den Westen suggerierte, und mit den
unzusammenhängenden Worten „das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort,
unverzüglich“55 die ersten Risse in der Mauer machte, wird von Klaus Uhltzscht als
„ein Märchen“ [HWW: 6] abgetan. Er umschreibt sich selbst unverschämt als
„Beendiger der Geschichte, auf der Titelseite der New York Times“ –
selbstverständlich, denn wo sonst wird man so jemanden präsentieren – „Doch nur auf
der Titelseite? Woanders geht’s gar nicht!“ [HWW: 8].
53
Claudio Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 71-106.
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 223.
55
Spiegel Online: Panorama – Zeitgeschichte. Spezial: 15 Jahre Mauerfall, 09.11.2004.
<http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1518,326124,00.html>
54
37
Zwei spezifische Arten von Ironie, die sowohl im Metzler Lexikon als auch bei
van Gorp et al. behandelt werden, finden ihre Realisierung in Helden wie wir. Eine erste
Art ist die sokratische Ironie, die wir als rhetorisches Stilmittel auffassen können. Die
Strategie dieser Ironie, die von Sokrates in seinen Reden oft verwendet wurde, wird in
van Gorp treffend umschrieben: „een slechts in schijn onwetende ontmaskert door een
schijnbaar naïef-onschuldige vraagstelling, de absurditeiten, waanwijsheden en
pretenties van een zelfverzekerde“56. Sonderbar ist, dass der ‚scheinbar Unwissende‘
und der ‚eingebildete Selbstsichere‘ ein und dieselbe Person sind, beziehungsweise
Klaus Uhltzscht als erzählendes Ich und Klaus Uhltzscht als erzähltes Ich. Der
erzählende Klaus umschreibt sich selbst als der ‚Schlechtstinformierteste’ und sein
erzähltes Ich zeigt mehrmals Unwissenheit auf, deren glänzendste Beispiele
zweifelsohne die Fehldeutung von Mikrofiche/Mikrofische und die Verwechslung von
Christa Wolf mit Jutta Müller sind. Wir bezeichnen ‚den Erzähler Klaus‘ als ‚scheinbar
unwissend‘: Er ist nicht mehr ganz unwissend, denn fast ständig kritisiert er das System,
in dem er aufgewachsen und gebildet worden ist. Diese Kritik, die an bestimmten
Stellen sehr ausgeprägt aus der Erzählung über das ‚frühere Ich‘ tritt, greift dieses Ich
an, und erstreckt sich oft auch auf Vater und Mutter (Stellvertreter ihrer Generationen),
und auf die Absurdität und Unmenschlichkeit der Stasi. So auch bei der Entlassung des
Physiklehrers Herr Küfer:
Herr Küfer bekam in den großen Ferien ein Disziplinarbeit und wurde entlassen.
Niemand protestierte dagegen – soweit ich das als schlechtstinformiertester
Mensch beurteilen kann. Ich protestierte auch nicht, und wenn er mich zehnmal
auf die Titelseite gebracht hätte: Ich hielt es für normal. Warum auch nicht! Ich
war dreizehn und dachte, wenn Lehrer und Eltern, wen die Älteren, Erfahrenen
und Informierten nicht protestieren, dann werden die wohl wissen, was sie tun.
Aber dass niemand etwas sagte! Das hatte etwas Unheimliches – als ob ein
Erpresser im Spiel war. Vermutlich steckte die Stasi dahinter. [HWW: 74]
Klaus, der also einst unwissend war, aber bei seiner Erzählung jetzt ausscheinen lässt, er
sei völlig zur Einsicht gekommen, übt hier Kritik an den bedenklichen Praktiken der
Stasi: Er stellt sich als scheinbar unwissend dar. Jedoch ist ‚scheinbar‘ hier auf eine
doppelte Art und Weise zu analysieren: Gerade durch die Art und Weise, wie er erzählt,
scheint es nur, als ob er jetzt alles sehr luzid sehen kann, aber tatsächlich ist sein
56
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 223: “Ein nur scheinbar Unwissender demaskiert durch
eine dem Anschein nach naiv-unschuldige Fragestellung die Absurditäten, Überheblichkeiten und
Ansprüche eines Selbstsicheren [meine Übersetzung, mvl]“.
38
Beurteilungsvermögen oft noch nicht ganz klar. Wir müssen daher damit rechnen, dass
der erzählende Klaus noch immer Spüren seines Größenwahns aufzeigt, die einer
einleuchtenden und eindeutigen Perzeption im Wege stehen, und dass er also noch
immer einen Teil seines erzählten, unwissenden Ich in sich trägt. Deswegen müssen wir
diese sokratische Ironie nicht nur Klaus zuschreiben, sondern auch der Autorinstanz, die
sich hinter dieser Fassade, die die fiktive Chronik ist, versteckt, wie auch Tanja Nause
bemerkt:
[Die Autobiographie] ermöglicht dem Autor Brussig, seinem Helden die
Gelegenheit zur ständigen Selbstinszenierung zu geben. Uhltzschts
kommentierende Einschübe sind teilweise jedoch auch stark moralisch geprägt.
Brussig [hat sich] für diese Form der erzählerischen Metakommentare entschieden
[…], hinter denen sich deutlich und unmaskiert nichts anderes als die
Autorenmeinung verbirgt, […].57
Das Metzler Lexikon deutet darauf hin, dass die sokratische Ironie zugleich als eine
„grundsätzlich menschliche Haltung“58 verstanden werden kann, die von einem
distanziert-kritischen Verhalten bestimmt wird: Wie ich schon am Anfang des Kapitels
erwähnte, erlaubt Humor im Allgemeinen und die ironische Darstellungsweise im
Besonderen eine Distanzierung, wodurch die Sicht auf den betreffenden Gegenstand
klarer wird und die Kritik demzufolge auch nuancierter.
In van Gorp et al. wird eine zweite Art von Ironie beschrieben, die jedoch nicht
so sehr verbal ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines Zusammentreffens
verschiedener Umstände. Sie wird daher als ‚situationelle’ oder ‚dramatische’ Ironie
gekennzeichnet: Diese Ironie „berust op de discrepantie tussen de beperkte informatie
van een personage en het weten van de andere personages of van het publiek.”59 Die
maßlose Unwissenheit von Klaus wirkt für den Leser humoristisch, weil er dadurch sehr
oft dumme Bemerkungen macht, wie bei seiner ersten Sexualaufklärung, bei der ihm
erzählt wird, das der Samen, aus dem ein Kind wachsen soll, erst beim Vater ist: „Ich
konnte mir jahrelang keinen runterholen, aus Angst vor den Schreien der gemordeten
Kinder…“ [HWW: 64]. Diese situationelle Ironie hängt in großem Maße zusammen mit
der Naivität, die der Protagonist aufweist, und die auch Nause weitgehend erforscht hat.
57
Tanja Nause: Inszenierung von Naivität, S. 141.
Metzler Literatur Lexikon, S. 213.
59
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 223: Diese Ironie „gründet sich auf die Diskrepanz
zwischen der beschränkten Information einer Figur und dem Wissen der anderen Figuren oder des
Publikums [meine Übersetzung, mvl].“
58
39
Ein wichtiger Begriff hinsichtlich dieser ironischen Naivität ist das Wort ‚Blödeln‘, ein
Terminus von Dieter Wellershof, den Nause in ihrer Arbeit übernommen hat.
Wellershof beschreibt „den Blödelnden nun als einen „mangelhaft sozialisierte[n],
infantil gebliebene[n] Mensch[en]““60: Diese Umschreibung trifft auf Klaus Uhltzscht
durchaus gut zu. Die Diskrepanz zwischen seiner eigenen Kenntnis und der des
Publikums ist groß, denn er „scheint nicht in der Lage zu sein, seine angebliche
‚Zurückgebliebenheit‘ wahrzunehmen“61.
Wir haben jetzt die Ironie in mehreren Erscheinungsformen in Helden wie wir
unter die Lupe genommen. Diese Ironie ist nicht mit nur einer der vielen Definitionen,
die wir in den Lexika vorfinden, einfach zu analysieren, sondern ist vielschichtig und
bezieht ihre Wirkung aus der Naivität, die bei der Hauptfigur ‚inszeniert‘ wird. Die
Naivität macht die Ironie auf der Ebene des Erzählers kenntlich, aber, wie gesagt,
ebenfalls auf der Ebene der Autorinstanz. In Helden wie wir steht die Ironie zu Diensten
der Satire: Das Missverhältnis zwischen Darstellung und Realität wirkt einerseits
komisch, aber will vor allem Kritik üben und belehren – Diese Auffassung können wir
mit der vorhin erläuterten sokratischen Ironie verknüpfen. Satire ist meines Erachtens
auf zwei Ebenen wirksam: innerhalb der Textrealität (Mikro-Ebene) und außerhalb der
Textrealität (Makro-Ebene). Auf der Mikro-Ebene situieren sich vor allem die primären
Effekte der Ironie und der Naivität: Der Spott, der unter anderem entsteht bei der
Verwechslung von Jutta Müller und Christa Wolf, bei der Annahme einer ‚unechten‘
und einen ‚echten‘ Stasi und bei den zahllosen ‚oberflächlichen‘ Wortverschiebungen
wie Aschloch/Arschloch und Mikrofische/Mikrofiche. Auf der Makro-Ebene spüren wir
vielmehr die Autorinstanz und operiert Helden wie wir als Ganzes: Brussig schiebt eine
ganz absurde Geschichte vor die tatsächliche DDR-Wirklichkeit, ‚wie sie eigentlich
gewesen‘ – um es mit den Worten des deutschen Historikers Leopold von Ranke62 zu
sagen –, wie die Ereignisse im Kollektivgedächtnis gespeichert sind. Dadurch macht
Brussig das historische Ereignis lächerlich und übt er seine scharfe Kritik an der DDRIdeologie.
60
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 143.
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 143.
62
Marc Boone: Historici en hun métier. Een inleiding tot de historische kritiek, Gent: Academia Press
2005, S. 177.
61
40
2.1.2. Oskar, Alexander und Klaus als Schelme?
So vieldeutig Klaus Uhltzscht sich selbst in Helden wie wir charakterisiert, so eindeutig
wurde er in der Rezeption des Romans bezeichnet: Er sei ein „Simplicissimus or Forrest
Gump“63, und Helden wie wir ein „Schelmenroman“64, ein „Narrenspiegel“65, „a
Picaresque Tale“66. Die Charakterisierung von Klaus Uhltzscht als Schelm und Helden
wie wir als satirischem Schelmenroman geschah damals natürlich eher spontan, ist
mittlerweile aber schon weitgehend und gestützt auf theoretische Grundlagen erforscht
worden. Unter anderen Nause ist in Inszenierung von Naivität der Frage nachgegangen,
ob Klaus nun wirklich ein Pikaro sei. Sie spricht von einer ‚scheinbaren Wiederkehr der
Schelme‘ in der Nachwendeliteratur, und versucht nachzuweisen, dass die Einordnung
verschiedener Nachwendegeschichten in die Gattung des Schelmenromans nicht
stimmt. Dazu benutzt sie die Merkmale der Gattung des pikaresken Romans, wie sie
Claudio Guillén67 vorgeschlagen hat. Nause unterlässt in ihrer Arbeit aber, alle acht
Merkmale des pikaresken Romans spezifisch auf Helden wie wir anzuwenden und lehnt
daher die Ansicht, Helden wie wir sei als Schelmenliteratur einzustufen, vielleicht zu
schnell ab. Ihre Behauptung, Klaus Uhltzscht sei keinen Schelm, stimmt nach meinem
Empfinden nicht: Im ersten Aspekt dieser Analyse möchte ich daher die acht
Guillénschen Merkmale auf Klaus Uhltzscht anwenden, um diese These zu bekräftigen.
Wie aber aus dem vorigen Abschnitt hervorgegangen ist, möchte ich die neuen
Ansichten von Nause sicherlich nicht radikal ablehnen. Die zwei von ihr
entgegengesetzten Begriffe, d.h. ‚Schelmenroman‘ und ‚(inszenierte) Naivität‘,
schließen m. E. einander jedoch nicht aus, denn die Naivität ist in der Sekundärliteratur
– auch wenn Guillén sie in seiner „Definition“ nicht erwähnt – als „eine
63
Brad Prager: “The erection of the Berlin Wall, S. 983.
U.a. bei Frank Auffenberg: “Erich, Maria und Josef in Personalunion. Über Thomas Brussig.“ In:
Kritische Ausgabe. Signale aus dem Kulturbetrieb, 1/2001 (Juni), S. 33, und bei Volker Wehdeking:
„Mentalitätswandel im deutschen Roman zur Einheit“. In: Mentalitätswandel im deutschen Roman zur
Einheit (1990-2000), S. 35.
65
Sabine Brandt: „Bleiche Mutter DDR. Thomas Brussig kuriert den Sozialismus aus einem Punkt“. In:
FAZ 235 (10. Oktober 1995), S. L2.
<http://www.thomasbrussig.de/Rezensionen/Buecher/Bleiche%20Mutter%20DDR.htm>
66
Carl Weber: “A Picaresque Tale. East Germany’s Last Act”. In: PAJ: A Journal of Performance and
Art 65 (2000), S 142.
67
Claudio Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 71-106. Zitiert in Nause: Inszenierung
von Naivität, S. 26.
64
41
Haupteigenschaft des pikarischen Helden“68 beschrieben worden. Ihre Beobachtungen
bieten dennoch eine schöne und durchgearbeitete Alternative beziehungsweise
Erweiterung der traditionellen Definition. Die Effekte der Naivität von Klaus Uhltzscht
sind schon einige Male erwähnt worden: Die Unwissenheit, vor allem beim erzählten
Ich, bewirkt, dass humoristische und ironische Effekte entstehen, weil der Leser in
diesen Albernheiten den Spott des erzählenden Klaus über den erzählten Klaus und über
die Ideologie, in deren Dienst er gestellt war, deutlich wahrnehmen kann. Hier trifft die
Terminologie von Nause zu: Die Naivität des erzählten Klaus wird von dem
erzählenden Klaus inszeniert. Wie ich auch schon bemerkt habe, wird die Erzählung
über Klaus‘ Erlebnisse oft von ernsthafteren Kommentaren unterbrochen, in denen wir
einen verbitterten Klaus und sogar den scharfkritischen Autor Thomas Brussig
entdecken. Nause kennzeichnet diese Passagen als „Aufbrüche der inszeniert
regressiven Erzählstrategie“69:
An solchen Stellen zeigt sich unverblümt die Meinung des Autors, und deutlicher
als hier kann die Kritik von Seiten Brussigs am Prozess der Wende und an der
Situation nach 1989 nicht sein.70
Weil diese Passagen kaum noch mit ironischen Stileffekten zu begründen, vielmehr als
sarkastisch und sogar zynisch zu verstehen sind, behandle ich sie weiter in meiner
Arbeit, genauer: in der Analyse des ernsthaften Sarkasmus.
Der zweite Aspekt ist ein intertextueller und hängt mit dem Vergleich zwischen
Klaus Uhltzscht einerseits und Oskar Matzerath und Alexander Portnoy andererseits
zusammen. Wenn diese zwei Figuren immer als Vorbilder und fast Prototypen für Klaus
betrachtet werden, bedeutet das dann, dass auch sie als ‚Schelme‘ einzuordnen seien?
Was Oskar Matzerath betrifft, könnte diese Ahnung schon stimmen: In der
Sekundärliteratur wird er immer wieder als Schelm umschrieben. Der erste Satz des
Klappentextes von Hans Mayer bei der dtv-Ausgabe der Blechtrommel lautet „Ein
Schelmenroman, freilich“, unter anderen Willy Schumann nennt ihn einen ‚jüngeren
Picaro‘71 und Manfred Kremer72 erwähnt verschiedene gleichlautende Stimmen.
68
Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“. In: The German Quarterly
46/3 (1973), S. 388
69
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 167.
70
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 168.
71
Willy Schumann: „Wiederkehr der Schelme“. In: PMLA 81/7 (1966), S. 473.
72
Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 382.
42
Trotzdem ist Oskar nicht naiv, was Schumann als einer der wichtigsten Qualitäten eines
Schelmes betrachtet. Deswegen möchte ich auch seinen Schelmengehalt an der
Definition von Guillén prüfen.
Daneben ist im Vorliegenden noch zu erforschen, ob auch Alexander Portnoy
anhand der Guillén-Merkmale als Schelm eingeordnet werden kann oder nicht. Im
Gegensatz zu Klaus Uhltzscht und Oskar Matzerath wurde er in der Sekundärliteratur
bisher noch nicht eindeutig als Schelm gedeutet. Ob die Charakterisierung als solches
aufschlussreich ist, ist im Vorliegenden zu untersuchen. Jetzt schon möchte ich
vorwegnehmen, dass die typische Naivität, die wir bei Klaus Uhltzscht vorfinden und
die Tanja Nause als ‚Ersatzbegriff‘ für die Charakterisierung als Schelm benutzt,
genauso wie bei Oskar Matzerath nicht zur Alexander Portnoys Figurengestaltung
gehört – zumindest nicht zur Gestaltung des erwachsenen Alexander73. Abgesehen von
der inszenierten Naivität in einigen Szenen, die die Kindheit und Adoleszenz
Alexanders beleuchten (z.B. in der Eröffnungsszene, in der Portnoy beschreibt, wie er
während der Kindheit seiner Mutter die Eigenschaften einer Superheldin andichtete, und
beim Besuch der Familie seiner Freundin ‚Pumpkin‘, wo seine kommunikativen
Fertigkeiten sich plötzlich auf „Thank you“ beschränken [PC: 220] – was übrigens auch
Klaus passiert bei Yvonne, bei der er nur noch „Darf ich?“ sagen kann [HWW: 215]) –
ist in Portnoy’s Complaint nicht von einem ‚dumm-naiven‘ Protagonisten die Rede.
Während Klaus bei seinen Versuchen, die Vollkommenheit zu erreichen, gewöhnlich
scheitert – bis zum Ende seiner Sprechproben betont er seine ‚Großtaten‘ als Versager,
er wird von seiner Umgebung, vor allem von seinem Vater, öfters als lebendiger
Misserfolg bezeichnet, und seine Blitzkarriere und Unabkömmlichkeit bei der Stasi ist
bloß eine eingebildete – ist Alexander Portnoy viel erfolgreicher, und wird, vor allem
von seinen Eltern, dafür überschwänglich gelobt. Er ist sich seiner (professionellen)
Erfolge – die übrigens reell sind, nicht eingebildet, wie meistens bei Klaus Uhltzscht –
auch sehr bewusst:
In fact, it is exactly as it always has been: they can’t get over what a success and a
genius I am, my name in the paper, an associate now of the glamorous new
73
Die (vom Protagonisten vorsätzlich) inszenierte Naivität in der Blechtrommel, die verhindert, dass
Oskar, wie Klaus schon, als ‚dumm‘ charakterisiert wird, werde ich später behandeln. Oskar Matzerath ist
aber keineswegs als naiv zu betrachten, wie Klaus schon (siehe dazu auch Kremer: „Günter Grass, Die
Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 388).
43
Mayor, on the side of Truth and Justice, enemy of slumlords and bigots and rats
[…]. [PC: 108]
Weil die Schelmenanalyse bei Klaus Uhltzscht, wie sich aus der Sekundärliteratur
herausgestellt hat, nicht so einfach zu einem eindeutigen Schluss zu bringen ist, und die
Parallelen zwischen Uhltzscht und Portnoy zahlreich sind, wäre zu erwarten, dass auch
die Analyse des Schelmengehalts beim letztgenannten Protagonisten zu differenzierten
Schlussfolgerungen führen wird.
Vorerst möchte ich die acht Merkmale aus der pikarischen Definition Guilléns
erläutern, um sie danach gleich auf Klaus, Oskar und Alexander anzuwenden. Mit
diesen acht Merkmalen sind gemeint: der Außenseiter-Protagonist, die Form der
Pseudo-Biographie, der mit dem vorigen Merkmal zusammenhängende einseitige
Blickwinkel, die reflexive Kritik, die der Protagonist an seinem Leben übt, die
Hervorhebung des Materiellen, der kriminelle Biotop, die Darstellung eines ganzen
‚Zeitpanoramas‘ und die Bewegungen der Hauptfigur dadurch, und schließlich der
episodische Aufbau. Wie er selber eingesteht, hat Guillén nie die Absicht gehabt, mit
seiner Studie eine endgültige Definition des Pikaresken darzustellen – „To be sure, a
full definition of the term „picaresque“ cannot be attempted here“74 –, aber wenn man
jedem dieser Merkmale konsequent rechnet und sie überprüft, kann man meiner
Meinung nach eine richtige Analyse des jeweiligen ‚Kandidat-Schelms‘ durchführen.
2.1.2.1.
Der Schelm als halb-Außenseiter
Das erste Merkmal eines Schelms hat nicht sosehr mit dem Wesen der Figur an sich zu
tun, sondern mit seiner psychosozialen Situation oder mit Situationen, in die der Schelm
durch seine soziale Verfassung gerät. Die Geschichte des Schelms hängt laut Guillén
unverbrüchlich mit „the myth of the orphan“75 zusammen: Das Entbehren einer Vateroder Mutterfigur zwingt den Schelm dazu, ganz alleine den Eintritt in die
Erwachsenenwelt zu machen, für die er eigentlich noch lange nicht fertig oder geeignet
ist. Dieser ‚Mythos des Waisen‘ ist stricto sensu nicht auf den drei Protagonisten
anwendbar, allerdings nicht auf Klaus und Alexander, auf Oskar Matzerath dagegen
gewissermaßen schon – Der präsentiert sich selbst sogar als der Verursacher seiner
Waisenschaft. Trotzdem sehen wir in den drei Romanen, wie die Figuren um eine
74
75
Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 71.
Guillén: o.c., S. 79.
44
Befreiung, eine wortwörtliche Ent-Bevormundung kämpfen. Die Protagonisten haben
alle eine Familie, in der sie sozialisiert worden sind, aber diese Sozialisierung oder
‚Moralisierung‘ wie die Familie sie beabsichtigte, ist bei ihnen nicht gelungen: Klaus,
Oskar und Alexander „[have] not been adapted to ruling conventions“ – allerdings nicht
denjenigen, die in der jeweiligen Familie herrschten – „or shaped into a social or moral
person“76 – allerdings nicht die Person, welche die Familie aus ihnen machen wollte.
Bei der moralischen Erziehung und Sozialisierung ist, gelinde ausgedruckt, Einiges
schief gegangen: „The family, in this sense, has not fulfilled its primary functions“77.
Wie die Protagonisten sich von der Sozialisierung durch ihre Eltern distanzieren und
eine eigene Sozialisierung wählen, und gerade trotz, oder besser: ‚dank‘ der
Sozialisierung der Eltern eine andere Person, als dass beabsichtigt war, werden, ist in
der Analyse der Ideologiekritik weiter zu erforschen. Im Augenblick ist es interessanter,
die Folgen dieser Nicht- oder eher Fehl-Erziehung zu betrachten: Durch das Entbehren
einer Erziehung lebt der Pikaro in einem Zustand der fundamentalen Einsamkeit.
Dadurch wird ihm ein Außenseiter-Status zugeschrieben, sei es nur teilweise: Er
befindet sich immer auf der Grenze zwischen Abneigung von und Zuneigung zu der
Gesellschaft um ihn herum. Er lebt unter denen, die die Gesellschaft bilden, nicht aber
mit ihnen: „He can, in short, neither join nor actually reject his fellow men.”78 Bei
Klaus, Alexander und Oskar ist von einem Entbehren einer Erziehung nicht wirklich die
Rede, indem die Erziehung schon da ist, sie aber in einem bestimmten Moment und mit
wechselndem Erfolg dafür wählen, sich gegen ihre Erziehung und Sozialisierung
abzusetzen. Trotzdem beschreibt Guillén meines Erachtens mit diesem Satz die
spezifische conditio humana von Klaus, Oskar und Alexander. Dennoch sollten wir hier
vielleicht eine Nuance anbringen: Die drei Protagonisten sind halb-Außenseiter, weil sie
nicht sosehr ihren Mitmenschen ihre Ab- oder Zuneigung nicht zeigen können, sondern
weil sie das in erster Linie nicht wollen.
Klaus stellt schon von seiner Kindheit an solche hohen Ansprüche an seine
Kandidat-Spielkameraden („nur wer von Kompass, Atlas und Lexikon die Mehrzahl
weiß, kann mit mir Frisbee spielen“ [HWW: 61]), sodass er letztendlich gar keine hat
76
Guillén: o.c., S. 79.
Guillén: o.c., S. 79.
78
Guillén: o.c., S. 80.
77
45
und sich damit ganz einfach abfindet. Als er, vom Frisbee-Werfen mit sich selber
erschöpft, die Unannehmlichkeiten seiner Superiorität erfährt, und trotz seines
arroganten Benehmens, mit den Kindern mitspielen darf, lehnt er diese Chance zur
Freundschaft zum zweiten Mal ab. Er wird von seinen Eltern sogar in diesem
Größenwahn bestätigt und unterstützt, was er ihnen allerdings später verübelt. Trotzdem
verschwindet sein Größenwahn auch später nicht, indem er glaubt, er sei einer der
wichtigsten Steine im Stasi-Mosaik. Er stellt sich auch weiter fast immer über die
Gesellschaft: „Es reichte, dass er (wer auch immer das sein möchte – Minister Mielke?)
und ich wissen, dass ich etwas Besonderes bin […]. Ich fühlte mich so aufgehoben.“
[HWW: 169] Klaus verweigert sich noch stets, sich mit seiner Umgebung zu
identifizieren: Die anderen sind seiner Meinung nach ihm immer untergeordnet, sowohl
seine Kollegen beim „Postzeitungsvertrieb, Abteilung Allgemeine Abrechnung“ als
auch im Militärlager Freienbrink:
Was hatte ich mit den Leuten in meinem Zelt gemeinsam? Nichts! Ich hatte eine
Legende, ich hatte meinen ersten konspirativen Auftrag, ich saß schon mit der
Stasi an einem Konferenztisch, vom bedeutsamen Tuscheln bei der Musterung
mal ganz zu schweigen – ich war was viel Wichtigeres, Bedeutendes, Besseres…
[HWW: 118]
Paradoxerweise hat dieser Größenwahn auch ein Pendant – oder seine Wurzel, indem
seine Megalomanie eine Überkompensierung ist – in einem Minderwertigkeitsgefühl:
Ich hatte den widerwärtigsten Namen, ich war der schlechtstinformierteste
Mensch, ich war Toilettenverstopfer, Sachenverlierer, Totensonntagsfick und
letzter Flachschwimmer. Ich konnte mir nicht mal einen runterholen. Und als
Antityp brachte ich es sogar auf die Titelseite. [HWW: 92-93]
Im letzten Satz steckt aber immerhin eine Art Stolz auf diesen Antiheld-Status: Klaus ist
anders als die anderen, er ist dasjenige, was die anderen nicht sind oder sein können, er
ist nicht nur irgendwelcher Typ, wie die anderen, er ist ihr ‚Anti‘, und bedauert das
manchmal, aber ist zugleich ungeheuer stolz darauf. Im Militärlager Freienbrink tritt
der Minderwertigkeitskomplex sehr stark und sogar wortwörtlich hervor, übrigens
gerade nachdem Klaus seinem Überlegenheitsgefühl Ausdruck gegeben hat:
Nein, Mr. Kitzelstein, um ehrlich zu sein, ich war total neidisch auf Raymund,
vom ersten Tag an. […] Ich war umgeben von Menschen mit Ypsilons und
Accent aigus, und was mir zu meinen Unterlegenheitsgefühlen noch fehlte, war,
dass Kai den Längsten hatte, wie sich beim Gemeinschaftsduschen herausstellte.
Ich wichste nie und hatte den Kleinsten, […]. [HWW: 118-119]
46
Raymund ist der, der Klaus, dank seiner Eltern – „Das sind meine Eltern! Die haben
mich – fragen Sie mich nicht, wie! – gemacht!“ [HWW: 126] – nie geworden ist, aber
gerne sein möchte. In diesem letzten Satz steckt die ganze Frustration von Klaus
darüber, dass er sich nie richtig von den Erwartungen und Sozialisierung seiner Eltern
lösen konnte, aber von seinen gescheiterten Versuchen einen ständig anwesenden
Schuldkomplex zurückbehalten hat. Die ständige Kontrolle – sei es Lucie Uhltzscht,
oder Eberhard, oder die Stasi – haben aus Klaus denjenigen gemacht, der er ist. Obwohl
Klaus sich selbst als ein Fremdkörper in seinem eigenen Biotop charakterisiert, wie ein
Schelm, müssen wir doch eine Nuancierung anbringen, die eher für Nauses Theorie der
ironischen Naivität spricht. Klaus versucht zwar ständig, sich selbst als Außenseiter
darzustellen, aber in ‚politischer‘ Hinsicht ist er in seiner kindlichen Naivität kein
Außenseiter, was ihm Trost spendet:
Beim Ausdauerlauf war ich immer letzter, wenn ich überhaupt durchhielt, ich war
der letzte Flachschwimmer und beim Fußball meistens in der
Verlierermannschaft, und oft tröstete mich dann ein Blick auf die vier Weltkarten:
Da gehörte ich nämlich zu den Führenden, zur roten Welt. [HWW: 95]
In einem unbeachteten und ehrlichen Moment gibt er auch Folgendes zu: „Ich war nicht
nur das Kind meiner Eltern, ich war auch Schüler meiner Lehrer und Leser meiner
Bibliotheken. Ich war einer von uns.“ [HWW: 107] Klaus empfindet eine Abneigung
gegen seine Umgebung (oder zumindest gegen einen Teil davon), will sich von ihr
absetzen und sich abseits der Gesellschaft stellen, aber möchte zugleich doch so gerne
zu ihr gehören. Sein Außenseiter-Status ist ein selbst gewählter und neigt zur
Radikalität, ist aber zugleich nicht völlig weitergeführt und enthält dadurch eine
Halbheit-Komponente. In dieser Hinsicht trifft die Aussage Guilléns, der Schelm „can
neither join, nor reject [meine Hervorhebung, mvl]“ die Gesellschaft und Umgebung, in
der er lebt, auf Klaus Uhltzscht doch zu: Er ist ein halb-Außenseiter.
Bei Alexander Portnoy und Oskar Matzerath sieht die Situation differenzierter
aus. Während ersterer meines Erachtens weniger Außenseiter ist als Klaus, können wir
letzteren sogar als Prototyp eines Außenseiters bezeichnen. Alexander Portnoy ist,
allerdings in seiner Jugend, im sozialen Bereich weniger ein Einzelgänger als Klaus: Er
liebt seine Eltern und Schwester [PC: 95], er spielt in einem Softballteam, wo er als
‚central fielder‘ wortwörtlich im Mittelpunkt des Teams steht, obschon er bedauert, dass
er nicht in das „high school team“ [PC: 70] aufgenommen wurde, er hat Freunde und
47
gelegentlich auch längere Verhältnisse. Der wichtigste ‚Außen‘-Aspekt in Alexanders
Jugend erfährt er nicht in seiner individuellen Position gegenüber anderen Individuen,
wie Klaus, oder gegenüber der Gesellschaft, in der er lebt, sondern im Innen/AußenGegensatz zwischen ‚Jews‘ und ‚Goyim‘. Gerade diese Abtrennung und Superiorität der
ersten Gruppe beginnt Alexander während seiner Adoleszenz in Frage zu stellen,
wodurch er sich allmählich von der jüdischen Gemeinschaft entfremdet, oder das
zumindest versucht. Irgendwo unterwegs ist das Gefühl seiner Zugehörigkeit zu einer
Gesellschaft, zusammen mit der sicheren Geborgenheit, die diese Zugehörigkeit mit
sich bringt, verschwunden. Alex bedauert das, und sehnt sich, wenn er erwachsen ist,
nach diesem Gefühl:
[…] there are people who feel in life the ease, the self-assurance, the simple and
essential affiliation with what is going on, that I used to feel as the center fielder
for the Seabees? Why can’t I exist now as I existed for the Seabees out there in
the center field! [PC: 72]
Wie ich schon erwähnt habe, ist Alex Portnoy, der „Assistant Commissioner of Human
Opportunity for The City of New York“ und noch viel mehr [PC: 107], im
professionellen Bereich erfolgreich und nicht als Außenseiter zu betrachten. Auch in
amouröser Hinsicht ist er viel weniger naiv und unbeholfen als Klaus Uhltzscht –
obschon von einer richtigen Erfolgsstory auch hier nicht die Rede sein kann, wie ich
später erläutern werde. Im Moment des Erzählens, und wie wir auch aus dem oben
stehenden Zitat ableiten können, ist Alex trotzdem ein Außenseiter geworden, vor allem
im moralisch-sozialen und sexuellen Bereich. Er verweigert sich, sein Leben nach den
jüdischen Sitten und Gebräuchen zu gestalten, allerdings ist seine Trennung von der
Gesellschaft und ihrer Sozialisierung, wie bei Klaus, eine selbst gewählte, indem er mit
der Aussage “I would rather be a Communist in Russia than a Jew in a synagogue any
day […]” [PC: 74] gegen seinen Vater im Besonderen und gegen die jüdische Religion
im Allgemeinen zu revoltieren beginnt. Alex‘ Monolog bei Dr. Spielvogel ist mit
Schimpftiraden gegen den ewigen jüdischen Schuldkomplex und die jüdische
Superiorität einerseits und seine Eltern andererseits gespickt – ersetzen wir die
jüdischen Elemente durch ostdeutsche, und Alex‘ Eltern durch Lucie und Eberhard
Uhltzscht, dann bekommen wir eine ähnliche Außenseitersituation (im Moment des
Erzählens allerdings, denn Klaus revoltiert erst viel später als Alex gegen das
ideologische System, in dem er aufgewachsen ist). Während Klaus aber oft durch seine
48
Naivität und die ständige Wechselwirkung zwischen einem Überlegenheitsgefühl und
einem Minderwertigkeitskomplex zum Außenseiter entartet, gibt es bei Alex keine Spur
von einem ähnlichen Minderwertigkeitskomplex, wohl im Gegenteil: Das beweisen die
gelegentlichen Lobreden an sich selbst [PC: 16, 202, 232 unter anderen]. Trotzdem
gelingt es auch Alex nicht ganz, sich von seinen Eltern und seine Religion zu trennen:
„Fighting off my family, still!“ [PC: 228] klagt er dem Doktor Spielvogel, und als er
letztendlich seiner nicht-jüdischen und kaum gebildeten Freundin ‚The Monkey‘
loswerden will, flieht er, von allen Orten auf der Welt, ausgerechnet nach Israel, „A
jewish country!“ [PC: 256], wo er überdies mit einem seiner Mutter ähnlich sehenden
jüdischen Mädchen Sex haben will [PC: 259]. Auch die Szene aus Alex‘ Jugend, in der
seine Schwester Hanna ihm versichert, er sei „a Jewish boy, more than [he] know[s]“
[PC: 76], gerade nachdem er nochmals „the saga of the suffering Jews“ kritisiert hat,
und die darauffolgende Diskussion über den Holocaust signalisieren, dass die Trennung
von der Religion nicht ganz gelungen ist, und wahrscheinlich auch nie gelingen wird:
“[…] for she sheds her tears for six million, or so I think, while I shed mine only for
myself. Or so I think. [meine Hervorhebung, mvl]” [PC: 78]. Alexander wird das
Bewusstsein und die Folgen seines jüdisch-Sein nicht loswerden, weil seine ganze Welt
und sein Denken durch die jüdische Religion geprägt sind, wie auch David Tenenbaum
feststellt:
The young Portnoy feels that his hope of impressing young shikses skating on a
frozen pond is severely limited by his undeniable ethnicity. “I can lie about my
name, I can lie about my school, but how am I going to lie about this fucking
nose” (PC 76)? In this respect, Alex’s condemnation of Jewish culture is
hypocritical insofar as these insecurities represent the same fear of cultural bias
that he vows his immunity to.79
In dieser Hinsicht und also vom Moment des Erzählens ausgehend, möchte ich
argumentieren, dass Alexander Portnoy weniger Außenseiter ist als Klaus, im
Gegensatz zur These von Mirjam Gebauer:
Der Akademiker Portnoy, der gerade zum ‚stellvertretenden Vorsitzenden der
New-Yorker Städtischen Kommission für Soziale Gerechtigkeit‘ ernannt wurde,
(PB, 110) kann sich sozusagen mit der einen Hälfte seiner Persönlichkeit von dem
Milieu seiner Herkunft lösen. […] Klaus Uhltzscht dagegen wird als seinem
79
David Tenenbaum: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”. In: Shofar – An
Interdisciplinary Journal of Jewish Studies Vol. 24/4 (2006), S. 36.
49
Milieu vollständig verhaftet gezeigt. Nur so kann auch gestaltet werden, daß er als
ahnungsloser Simplicius in die Dienste der Staatssicherheit gerät.80
Gebauer hat Recht in der Ansicht, dass Klaus Uhltzscht, oder zumindest sein ErzählerIch, im DDR-System „verhaftet“ ist, aber letztendlich befreit er sich doch aus dieser
Verhaftung, was am Deutlichsten aus der Wiederholung und Variation vom
vielbedeutenden „Ich war einer von uns“ hervorgeht: „Ich war einer von ihnen.“
[HWW: 315]. Durch die Betonung der Vergangenheitsform und den Perspektivwechsel
von ‚uns‘ zu ‚ihnen‘ entfernt Klaus sich selbst wirklich aus dieser Gesellschaft, was
nicht von Alexander Portnoy gesagt werden kann. Der legt seine Probleme dem
Psychiater Dr. Spielvogel vor – der übrigens unmissverständlich einen jüdischen Namen
hat – und fleht ihn fast um Genesung an, die sich im Buch jedoch nicht vollzieht.
Gebauer behauptet auch, dass Portnoy sich mit seiner erfolgreichen professionellen
Karriere von seinem Milieu distanziert, aber auch das scheint mir eine falsche
Schlussfolgerung: In der Tatsache, dass Portnoy ‚gebildet und kultiviert‘ ist, liegt
keineswegs eine Trennung von der jüdischen Religion oder von seinen Eltern
beschlossen. Klaus aber präsentiert sich selbst als Befreier aus ‚seinem‘ ideologischen
System, indem er die Mauer umschmeißt, und sich in der symbolischen Gestalt des
Journalisten Mr. Kitzelstein zum Westen, dem Erzfeind des kommunistischen DDRSystems, wendet. Eine kleine Nuance wäre doch erforderlich: Natürlich ist es für Klaus
einfacher, seinen ideologischen Außenseiter-Status im Moment des Erzählens zu
wahren, weil das ideologische System dann nicht mehr da ist, während etwas Ähnliches
in Portnoy’s Complaint, etwa die Vernichtung der Religion des Judentums, nicht der
Fall sein kann. Auch Alexander Portnoy will nicht länger zur Gesellschaft, in der er
sozialisiert worden ist, gehören, kann ihr aber doch nicht radikal den Rücken zukehren,
was ihm in dieser Hinsicht auch einen gewissen Schelmengehalt verleiht. Alexanders
Zugeständnis „Because I love those men! I want to grow up to be one of those men!“
[PC: 245] ist in dieser Hinsicht das Äquivalent von Klaus‘ Aussage „Ich war einer von
uns“ [HWW: 107].
Und damit kommen wir zum dritten Protagonisten dieser Analyse, der meines
Erachtens in Guilléns Reihe der Urbilder des halb-Außenseiters aufgenommen werden
kann. Erstens, und wie schon gesagt, trifft der Mythos des Waisen, der bei Klaus und
80
Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 229.
50
Alexander nicht vorzufinden ist, bei Oskar Matzerath schon einigermaßen zu, obschon
auch hier Guilléns ‚Idealtyp‘ des Schelms modifiziert worden ist. Auch bei Oskar ist
anfänglich nämlich nicht die Rede von der Abwesenheit einer Familie: Der nicht immer
zuverlässige
Erzähler
Oskar
fängt
seine
Lebensgeschichte
sogar
mit
einer
umfangreichen Familienchronik an (und geht damit ein Stück weiter in die Geschichte
zurück als Klaus, der die Geschichte erst mit seiner eigenen Geburt anfangen lässt), er
schleppt ein Fotoalbum mit Familienfotos – einem „Familiengrab“ [DB: 56] – als
„Schatz“ [DB: 56] mit sich herum, und die ersten Jahre seines Lebens bringt er im
Geschäft seiner kleinbürgerlichen Familie durch. Trotzdem ist der ‚Geschmack der
Einsamkeit‘81, der Protagonist als „insular, isolated being“82 schon vom ersten Beginn
an deutlich anwesend: Oskar sieht, „einsam und unverstanden“ [DB: 54], gleich nach
seiner Geburt ein, dass „Mama und jener Vater Matzerath nicht das Organ [hatten],
meine Einwände und Entschlüsse zu verstehen und gegebenenfalls zu respektieren.“
[DB: 54] Seine emotionale und soziale Einsamkeit werden, obwohl Oskar tatsächlich
soziale Kontakte hat, gelegentlich betont: Bei der Beerdigung seiner Mutter weint Oskar
nicht, „da all die anderen, […] weinten“ [DB: 207], und genauso wie bei Klaus und
Alexander wählt er in einem bestimmten Moment selber, seine Familie und ihre
Sozialisierung abzulehnen. Aber während Klaus und Alexander in dieser Ablehnung
nicht völlig reüssieren, ist Oskar schon erfolgreich und von den drei Protagonisten ist er
gewiss derjenige, der sich am meisten ‚freigekämpft‘ hat. Klaus und Alexander verüben
nur ‚wörtlich‘ und symbolisch einen Mutter- und Vatermord, Oskar ist wirklich schuld
am Tod seiner Mutter und seiner ‚mutmaßlichen‘ Väter. Außerdem erhärtet er seinen
Wunsch, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, dadurch, dass er sich weigert, zu tun
wie jeder Mensch, nämlich zu wachsen. Dadurch währt er ihr gegenüber eine vertikale
Distanz, lebt er wortwörtlich ‚unter‘ ihr, und nicht mit ihr, sodass er sie als halbAußenseiter aus Froschperspektive, wie auch Manfred Kremer bemerkt83, betrachten
kann. Nie gehört Oskar wirklich zu einer Gruppe: Seit seiner Geburt, also vom ersten
Beginn an, gewinnt Oskar einen ‚halb‘-Status, indem er ethnisch halb-polnisch
mütterlicherseits, halb-reichsdeutsch väterlicherseits (?) ist. An seinem ersten Schultag
81
Guillén: o.c., S. 79.
Guillén: o.c., S. 79.
83
Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 385.
82
51
beschließt er, dass dieser Tag zugleich auch sein letzter Schultag ist [DB: 104], er wird
das Objekt der Schikanen der ‚Gören‘ seines Mietshauses [DB: 123] und später setzen
die Stäuber ihm nach [DB: 477], denen er nachher als ‚Jesus‘ zum Chef wird, aber nicht
als ihresgleichen. Auf dem Prozess der Stäuberbande [DB: 502] ist Oskar nämlich der
einzige, der einer Strafe entgeht, der nicht ‚springt‘ [DB: 506]: Auf diese Weise macht
er sich selbst zum Opfer und verrät seine Bande. Genauso wie Klaus kommt Oskar also
schon in Kontakt mit verschiedenen Gruppen, aber nie kann er sich ihnen anpassen. Wie
gesagt, ist Klaus oft Außenseiter dank seiner (vom Autor inszenierten) Naivität, wie
auch Tanja Nause betont. Bei Alexander Portnoy ist diese Naivität nicht vorzufinden,
bei Oskar Matzerath gibt es schon ‚eine‘ Naivität, aber gar nicht dieselbe wie die von
Klaus Uhltzscht. In der Blechtrommel ist die Naivität eine vom Protagonisten selber
inszenierte: Dadurch, dass Oskar für die Außenwelt immer ein ‚Dreikäsehoch‘ bleiben
wird, es aber allenfalls nicht ist, wird ihm eine Naivität unterstellt, die er gerne ausnutzt.
Oskar ist aber nicht der einzige auf der Welt, der dafür gewählt hat, klein zu bleiben,
das macht ihm jedenfalls sein Artgenosse Meister Bebra bei der ersten Begegnung
deutlich: „Da ich immer noch schwieg, nahm er neuen Anlauf: „Unterbrach an meinem
zehnten Geburtstag das Wachstum. Etwas spät, aber immerhin!““ [DB: 143]. Oskar
erkennt diesen Liliputaner, Haupt einer reisenden Zirkusgesellschaft, sogar als seinen
Meister an, und flieht, während der Krieg vollauf wütet, mit dem Fronttheater Bebras
nach Frankreich, wo er unter seinesgleichen ist [DB: 431]: Einen größeren Kontrast
zum kleinbürgerlichen deutsch-polnischen Herkunftsmilieu Oskars könnte es kaum
geben. Oskar ist also Außenseiter in seinem eigenen Herkunftsmilieu durch seine
‚Größe‘ und seine Tätigkeit als Artist, gehört aber zugleich zu einer Gruppe von
Außenseitern, in der er seinen Außenseiterstatus aufs Neue verliert. Erst nachdem Vater
Matzerath gestorben und Oskar wirklich ‚Vollwaise‘ geworden ist [DB: 529], womit er
also die Bedingung Guilléns des Schelms als Waise erfüllt, wird Oskar meines
Erachtens ein richtiger halb-Außenseiter wie Guillén ihn gemeint hatte: Er entschließt
sich letztendlich doch zum Wachstum, wodurch er sich selbst zwar von seinen früheren
Artgenossen distanziert, aber noch immer nicht zur Welt der ‚großen Menschen‘ gehört:
[…] uralt ließ mich sein Blick werden, bevor er [Bruno] mich mit meinem Meter
und den einundzwanzig Zentimetern endlich allein ließ. So groß ist Oskar also!
Für einen Zwerg, Gnom, Liliputaner fast zu groß. Wie hoch trug meine Roswitha,
52
die Raguna, den Scheitel? Welche Höhe wußte sich Meister Bebra […] zu
bewahren? Selbst auf Kitty und Felix könnte ich heute hinabschauen. [DB: 537]
Auch
der
Moment
des
Erzählens
wird
von
Oskars
halb-Außenseiterstatus
gekennzeichnet: Er lebt in „einer Heil- und Pflegeanstalt“ [DB: 9], ist also nicht mehr
Teil der Gesellschaft, beobachtet sie aber aus dem Abseits und zugleich auch noch
immer von unten. Überdies hat auch er selbst für jene Außenseiterposition gewählt,
genauso wie Klaus und Alexander, und genauso wie Oskar einst selbst dafür wählte,
nicht mehr zu wachsen. Als am Ende der Geschichte die Entlassung aus der Heil- und
Pflegeanstalt unausweichlich scheint, droht die Angst, in der Gestalt der schwarzen
Köchin, mehr als je: Oskar fühlt nichts dafür, seine komfortable Abseitsposition und
seinen halb-Außenseiterstatus aufzugeben, macht sich aber schon Gedanken über die
alternative Existenz, die er in Zukunft führen wird: Die Möglichkeit, die am
prominentesten zuvortritt, wird von Oskar aufs Neue einen halb-Außenseiter machen.
Wie ein Messias wird er „Jünger sammeln“ [DB: 777], man wird ihm schon folgen,
aber ihn nie verstehen können. Ein neues Leben als ewiger halb-Außenseiter ergibt sich.
2.1.2.2.
Die Form der Pseudo-Autobiographie
Das zweite Merkmal eines Schelms finden wir auf der Erzählebene vor: „the picaresque
novel is a pseudoautobiography“84. Die Ich-Erzählperspektive sorgt dafür, dass die
Geschichte dem Leser auch auf eine subjektive, oft gefärbte und deswegen auch nicht
immer zuverlässige Art und Weise vermittelt wird. Wie die Welt in einem
Schelmenroman gerade präsentiert wird, soll aber erst im nächsten Abschnitt erörtert
werden. Jetzt ist der Frage nachzugehen, ob wir diesen pseudo-autobiographischen
Erzählstil auch in den drei vorliegenden Romanen vorfinden. Guillén erkennt dieser
Erzählweise eine entscheidende Ambivalenz zu, die mit dem vorigen Merkmal des
halb-Außenseiters zusammenhängt: Der Schelm ist manchmal der homo interior, der
von seinen Mitmenschen entfremdet ist, aber auch oft der homo exterior, der sich der
Gesellschaft und den Menschen darin anpasst. Die Ambivalenz der Erzählweise liegt
darin beschlossen, dass der Leser nicht immer deutlich unterscheiden kann, wer gerade
erzählt, und sie wird konkretisiert durch die ironische Sprache einerseits, die ich später
84
Guillén: o.c., S. 81.
53
in der Humoranalyse noch untersuchen werde, und durch die Wechselwirkung zwischen
der Selbstverschleierung und Selbstentschleierung des Schelmes andererseits.
Die Pseudo-Autobiographie ist in den drei Romanen tatsächlich der zugrunde
liegende Erzählstil: Sowohl Klaus, Alexander als auch Oskar erzählen aus der IchPerspektive, obwohl der letzte oft in der dritten Person über sich selbst erzählt und oft
auch die zwei Perspektiven in einem Satz miteinander kombiniert: „Ich darf an den
Großen und Kleinen Zapfenstreich erinnern, auch auf Oskars bisherige Versuche
hinweisen; all das ist nichts gegen die Trommelorgie, die der Nachtfalter anläßlich
meiner Geburt auf zwei simplen Sechzig-Watt-Glühbirnen veranstaltete. [meine
Hervorhebung, mvl]“ [DB: 53] Diese arbiträre Abwechslung steigert die Verwirrung
des Lesers und lässt sich auch aus dem Prinzip der Selbstverschleierung erklären: Mehr
als bei Klaus und Alexander ist es Oskars Absicht, ein nicht eindeutiges Bild seines
Charakters darzustellen, die Verzerrung zwischen dem homo interior und homo exterior
zu betonen. Klaus und Alexander dagegen konstruieren nicht absichtlich den Zwiespalt,
durch den ihr Leben tatsächlich geprägt ist, wie ich später noch erläutern werde. Sie
haben allerdings Schwierigkeiten, den inneren und äußeren Menschen miteinander in
Übereinstimmung zu bringen; ihr ständiges Reden ist etwa ein Versuch, diese
Übereinstimmung einigermaßen zu bewirken. Oskar Matzerath dagegen strebt nicht
nach einer solchen Übereinstimmung. Das entspricht meines Erachtens auch den
verschiedenen Erzählzielen der drei Protagonisten: Während Oskar Matzerath selbst
wohlüberlegt und sorgfältig-selektiv seine Geschichte niederschreibt – was in einem
bestimmten Moment sogar als etwas sehr ‚Gefährliches‘ [DB: 11] bezeichnet wird,
wodurch der Verdacht eines unverlässlichen Erzählers gesteigert wird –, sieht das
mündliches Erzählen Klaus‘ und Alexanders ganz anders aus. Sie erzählen nämlich in
erster Linie ihre Geschichte einer anderen Instanz (Mr. Kitzelstein bzw. Dr. Spielvogel),
die sich in den beiden Fällen allerdings nicht einschaltet – oder die Chance dazu nicht
bekommt. Alexander Portnoy erzählt seine Geschichte ganz bewusst mit einem
bestimmten Ziel: Er sucht Hilfe beim Psychiater Dr. Spielvogel, fleht ihn an „Bless me
with manhood! Make me brave! Make me strong! Make me whole!“ [PC: 37], er will
auf der Couch seinem Missvergnügen und seinen Frustrationen Ausdruck geben und so
seine zahlreichen Probleme loswerden. Das primäre Erzählziel Klaus‘ ist ein anderes:
Er will seine bisher nicht erkannte Hauptrolle in der Weltgeschichte endlich offenbar
54
machen, und erzählt deswegen Mr. Kitzelstein seine Version des Mauerfalls. Trotzdem
wird auch dieses Erzählen zu einer therapeutischen Session, in der Klaus mit seiner
Vergangenheit, seinen Eltern und manchmal sogar mit seiner Naivität abzurechnen
versucht: Klaus erzählt nicht nur diejenigen Ereignisse, die direkt veranlasst haben, dass
gerade er den definitiven Fall der Mauer bewirkte, sondern fängt seine Geschichte
wortwörtlich ab ovo an, weil das alles „noch einen Sinn“ [HWW: 18] bekommt. Er
verweist sogar selber auf die therapeutische Wirkung des Gesprächs (oder besser
gesagt, des Monologs): „Wären Sie mein Seelenklempner, könnten wir uns stolz auf die
Schultern klopfen“ [HWW: 52]. Klaus hat ursprünglich also andere Absichten als
Alexander, aber letztendlich werden die Sprechproben auch für Klaus ein
therapeutisches Medium, mit dem eine gewisse ‚Genesung‘ von seinen Frustrationen
zustande kommen soll. Er geht nicht nur an sein eigenes Schicksal heran, berührt aber
auch fast moralisierend die Rolle der Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist, indem er
sagt, er wisse, „dass wir Ostdeutschen uns und der Welt noch eine Debatte schuldig
sind“ [HWW: 312]. Klaus, und seiner Meinung nach auch die anderen Menschen der
DDR, sind mit sich selbst und ihrer Vergangenheit noch nicht ins Reine gekommen, und
deswegen erzählt er seine Geschichte als Vergangenheitsbewältigung. Er stellt sich
dabei „die entsprechenden Fragen“, weil er „zum Kern [s]einer Erbärmlichkeit“
vorstoßen will [HWW: 312]. Im Hinblick auf der Selbstentschleierung und
Selbstverschleierung, die in der Blechtrommel wie gesagt ganz bewusst vorgeführt wird,
müssen wir für Helden wie wir und Portnoy’s Complaint eine andere Schlussfolgerung
ziehen: Alexander und Klaus verschleiern sich in ihrem Erzählen nicht, wie Oskar
Matzerath es macht, sie sind vor allem damit beschäftigt, sich selbst zu entschleiern,
gerade weil sie vorher verschleiert waren und diesen Schleier im Moment des Erzählens
abwerfen wollen.
2.1.2.3.
Der einseitige Blickwinkel
Claudio Guillén befasst sich mit diesem dritten Merkmal des Schelms nur sehr kurz,
weil es in großem Maße mit dem vorigen zusammenhängt: Durch die einseitige IchPerspektive und den Prozess der Selbstverschleierung und Selbstentschleierung,
bekommen wir die Geschichte nur aus einem, einseitigen, Blickwinkel präsentiert. Der
Schelmenroman bietet keine Synthese, keinen Gesamteindruck des menschlichen
55
Lebens
dar.
Natürlich
ist
es
klar,
dass
eine
solche
Totalität
in
einem
(pseudo)autobiographischen Roman sehr schwer zu erlangen ist, aber meines Erachtens
ist es interessant, der Frage nachzugehen, ob in den Romanen nicht einmal eine mehr
objektivierende Stimme hervortritt, die den Gesichtskreis des Romans erweitern kann.
Meiner Meinung nach ist das in Helden wie wir schon der Fall: Gerade durch die
Konfrontation zwischen dem erzählenden, etwas klügeren aber noch immer an
Größenwahn leidenden Klaus und dem erzählten, beklommenen und naiven Klaus, und
die daraus folgende Selbstentschleierung und Infragestellung der früheren Naivität,
sowie durch die unüberhörbare Einmischung der Autorinstanz, die in diesen
entschleiernden Passagen oft hervortritt, wird das dargestellte Bild von der DDR
komplexer und reicher facettiert. Es ist ja klar, dass Helden wie wir in der Tat scharfe
Kritik übt am kommunistischen DDR-System und an der individuellen Unfreiheit, die
dieses System zustande brachte, aber auch die Ostalgie, die Brussig selber weitgehend
in Am kürzeren Ende der Sonnenallee etaliert, kommt manchmal zum Ausdruck, sei es
auch in ‚alternativen‘ Umschreibungen – der Sozialismus als warmhaltender Grog, als
ein „Lagerfeuergefühl“ [HWW: 288] – und vor allem aus der Perspektive der
Elterngeneration wird suggeriert, wie der Sozialismus einst ein System der
Geborgenheit gewesen sei, in der für die Menschen eine vielversprechende Zukunft
möglich würde. Auch aus dem Skizzieren der typischen ostdeutschen Atmosphäre85
spricht ein gewisses Heimweh, obschon tatsächlich von einer „falschen Idylle“, wie
auch Magenau86 feststellt, nicht die Rede ist. Man bekommt also öfters ein
mehrdeutiges Bild der DDR und der Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind,
gerade weil der Blickwinkel des Erzählers in bestimmten Momenten schwankt und eine
mildere Kritik an den Beteiligten übt.
Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel verhalten sich zu diesem Merkmal
aufs Neue anders als Helden wie wir. In der Blechtrommel bekommen wir allerdings
eine umfassendere Synthese des menschlichen Lebens, gerade weil Oskar sich durch
mehrere Milieus bewegt (wie später noch zu erläuter sein wird), aber seine Stimme ist
weniger eindeutig und ehrlich als diejenige von Klaus und Alexander. In diesem
85
So werden z.B. die DDR-Ikone Katarina Witt, Dagmar Frederic, den Wartburg, Egon Olsen, den
‚Goldbroiler‘, die Tageszeitung Neues Deutschland aufgeführt, alles Sachen, die diejenigen, die die DDR
nicht am eigenen Leibe erfahren haben, visuell vor allem aus Filme wie Good Bye Lenin! (2003) kennen.
86
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 42.
56
Bereich ist Oskar also ein größerer Schelm als die anderen zwei: Sein Blickwinkel ist
absichtlich
partiell
und
voreingenommen.
Auch
bei
Alexander
ist
diese
Partialwiedergabe anwesend, und dadurch, dass er alles aus einem jüdischen
Blickwinkel betrachtet, den er loszuwerden versucht, aber nicht loswerden kann, wird
‚das Andere‘ oft als ‚das Schlechte‘ vorgestellt. Bei Klaus ist die Situation im Moment
des Erzählens schon anders, weil es die DDR nicht mehr gibt, während Alexander noch
immer ‚verhaftet‘ ist. Jedoch sehen wir bei den beiden Protagonisten, wie ihnen ein
einseitiger Blickwinkel aufgedrängt wird. Alex‘ Haltung gegenüber der christlichen
Religion ist zum Beispiel vergleichbar mit Klaus‘ entsprechender Haltung gegenüber
dem Westen, denn anfänglich werden diese Feindbilder kritisiert, aber letztendlich
machen Alex und Klaus doch Annäherungsversuche, in denen die Frauen als pars pro
toto für die jeweiligen Instanzen einstehen: Alex macht nicht anders, als „chasing […],
sniffing […], lapping […], shtupping […], thinking about [shikse cunt]“ [PC: 101],
während Klaus eine Faszination für Westfrauen [HWW: 172] aufgreift. Trotzdem sind
sie im Moment des Erzählens nicht einer blinden Adoration für eine der beiden
Instanzen verfallen und wahren so ein ‚Gleichgewicht‘: Alexander sagt, er, „despise[s]
[the Jews] for their narrow-mindedness, their self-righteousness […] – but when it
comes to tawdriness and cheapness, to beliefs that would shame even a gorilla, you
simply cannot top the goyim” [PC: 168]. Klaus allerdings fasst es nuancierter in Worte:
“Nicht daß ich die Bundesrepublik für etwas Entsetzliches halte, aber so perfekt, daß
einem dazu nicht Besseres einfallen könnte, ist sie auch nicht.“ [HWW: 322] Von einem
rein einseitigen Blickwinkel ist in Helden wie wir also am wenigsten die Rede.
2.1.2.4.
Die reflexive Kritik des Protagonisten an seinem Leben
Das vierte Merkmal eines Pikaros beinhaltet laut Guillén seine Möglichkeit, um
reflexive, philosophische und moralische Kritik an seinem Leben und der Gesellschaft
(vor allem in religiöser und moralischer Hinsicht) zu üben. Die Reflexivität ist durch die
autobiographische Form der Romane schon anwesend, und wie sich aus den vorigen
Abschnitten schon herausgestellt hat, üben die drei Protagonisten ständig Kritik,
schonen sie die Menschen um sich herum gar nicht und stellen die Dinge ihres Lebens
öfters in Frage. Sie überdenken, analysieren und überprüfen sogar manchmal, wie „an
57
„ongoing“ philosopher“87, die gängigen Normen und Werte ihrer Gesellschaft, gerade
indem sie für diese Normen gelinde gesagt nicht immer Respekt zeigen. Nicht nur durch
ihre explizite Kritik trifft dieses Merkmal also auf die drei Protagonisten zu, sondern
auch durch ihr Benehmen an sich. Im Folgenden werde ich diese explizite und implizite
Kritik nur kurz behandeln, weil die in den Romanen gelieferte Ideologiekritik
Forschungsgegenstand des zweiten Teils dieser Magisterarbeit ist.
Die explizite Kritik, die Klaus, Alexander und Oskar an verschiedenen Instanzen
üben, kennt verschiedene ‚Härtegrade‘, nicht nur, wenn wir sie miteinander vergleichen,
sondern auch, wenn wir die einzelnen Romane an sich betrachten. In Helden wie wir
finden wir vor allem moralische Kritik vor, denn im strengsten Sinne liefert Klaus
keineswegs Kritik an einer Religion, es sei denn, dass wir Religion sehr weit als
‚Ideologie‘ auffassen können. Klaus richtet die explizite Kritik anfänglich vor allem auf
seine Eltern gerichtet, während die DDR-Kritik vorerst ziemlich implizit bleibt. Mit
Eberhard Uhltzscht, dem „größte[n] Kotzbrocken“ [HWW: 11], rechnet Klaus ziemlich
schnell und grob ab (obwohl er später mit den Worten „Wenn er mir doch egal gewesen
wäre – aber das war er nicht“ [HWW: 37] ausführlicher auf diese Beziehung
zurückkommt), aber mit seiner Mutter wird er nicht so leicht fertig. Dieses Verhältnis
wird reflektierend und eingehend betrachtet, sodass Guilléns Aussage über den Schelm
als „experimenter and doubter where every value or norm is concerned“88 hier wirklich
zutrifft. Klaus will seine Mutter kritisieren, obwohl das nicht mit dem Idealbild eines
liebhabenden und dankbaren Sohnes übereinstimmt, aber durch diesen inneren
Zwiespalt ist er erst zur Kritik imstande, nachdem er sie in den Himmel gehoben hat.
Wenn die Kritik seine Mutter betrifft, scheint es fast so, als ob er dabei ständig seine
eigene Kritik kritisiert. Die DDR-Kritik bleibt vorerst implizit, weil die Naivität, die
Klaus am Anfang noch durchhält, eine eingehende und objektive Einsicht in die
politischen Verhältnisse der Welt verhindert. Eine erste implizite DDR-Kritik stellt sich
ein, nachdem Klaus den Physiklehrer Herr Küfer kurz erwähnt, der wegen Erweckung
pazifistischer Illusionen entlassen wurde; auf den wirklichen Grund der Entlassung geht
Klaus aber erst später ein und macht dabei die Stasi, das „Ministerium des Bösen“
[HWW: 79] zu seinem heimlichen Feind. Die explizite DDR-Kritik erfolgt erst,
87
88
Guillén: o.c., S. 82.
Guillén: o.c., S. 82.
58
nachdem Klaus die Naivität seiner Kindheit hinter sich gelassen hat, nach einer
vielbedeutenden Darstellung seiner vier politischen Weltbilder [HWW: 93] und der
Pionierlegenden von Ernst Thälmann [HWW: 96] oder von „Eisleben und der roten
Fahne“ [HWW:99], die die Kinder in der DDR mitbekamen. Gerade durch diese sehr
detaillierte Inszenierung seiner frühen Erinnerungen ist er imstande, wirklich aus seiner
Jugend heraus zu treten, die Naivität zur Seite zu schieben und in wohl durchdachten
Worten seine Abneigung gegen das DDR-System kundzugeben: „Oh, Mr. Kitzelstein,
so leicht läßt sich das heute alles durchschauen, aber damals […]“ [HWW:100]. Weiter
wechseln implizite und explizite Kritik an der DDR einander ab, was meines Erachtens
darin kulminiert, dass Klaus gegen die Schriftstellerin Christa Wolf vom Leder zieht:
Klaus ärgert sich explizit über die ‚Schönschreiberei‘ und Verschlossenheit ihres Werks
– „Aber den schönsten Aufsatz hat wieder unsere Christa geschrieben“ [HWW: 297] –
und später übt er auch implizite Kritik, wenn der deutsch-deutsche Literaturstreit in
Betracht kommt (der aber nie wirklich erklärt wird): Klaus findet in Wolfs Werken
keine Aufforderungen zur Vernichtung der Mauer. Wenn wir das implizit mit dem
Literaturstreit in Zusammenhang bringen, wird deutlich, dass Klaus (hier dürfen wir
aber mal schon den Autor Thomas Brussig mit erwähnen) hier auch die Rolle der DDRSchriftsteller, die das System mit ihren Büchern unterstützten und so eine
‚Gesinnungsästhetik‘ vertraten, durch die Mangel dreht.
Auch Alexander Portnoy übt ständig Kritik, obwohl er damit viel weniger Mühe
zu haben scheint als Klaus: Alex‘ Kritik ist durchaus expliziter als diejenige von Klaus.
Hier trifft das Guillénsche Kriterium, der Schelm übt Kritik im moralischen und
religiösen Bereich, im strengsten Sinne ganz gut zu: Die zwei Instanzen, die Alex
ständig verbal unter Beschuss nimmt, sind tatsächlich seine moralisierenden Eltern
einerseits und die jüdische Religion andererseits. Alexander ist, wie schon erwähnt,
nicht sosehr mit der Naivität, wie Klaus sie innehat, belastet, aber auch bei ihm sehen
wir, wie implizit (meistens durch eine ironische Sprache) Kritik geübt wird: Indem er
erzählt, wie seine Mutter sich mit den Worten „maybe I’m too good“ [PC: 13] ihren
Freundinnen überordnet und zugleich mit ihren (un)bewussten Handlungen die Putzfrau
herabwürdigt, bringt er schon eine implizite Kritik hervor. Sogar die Religion wird hier
implizit schon kritisiert, indem auf die ‚Unreinheit der schvartze‘ angespielt wird.
Später fängt Alex wirklich an, sein Gift zu verspritzen, und schont in seiner Kritik keine
59
einzige heilige Kuh mehr. Gerade durch seine Heftigkeit verschwinden die objektive
Reflexivität und die ‚philosophische‘ Qualität, die dem Schelm unterstellt werden:
Alexander Portnoy übt meines Erachtens öfter expliziter und dadurch weniger nuanciert
Kritik als Klaus, und dadurch sammelt er keine „broad conclusions“89 – wohl im
Gegenteil: Alex hat seine Konklusionen schon längst gezogen und scheint sich nicht zu
einer etwas objektiveren und differenzierteren Blick bewegen zu lassen.
Wie Oskar Matzerath dann seine Kritik äußert, lehnt sich meines Erachtens aufs
engste an den philosophischen und reflexiv-kritischen Blickwinkel an, den Guillén
erwähnt. Oskar stellt die Welt und ihre Normen am extremsten und von Beginn an in
Frage, indem er sich sehr bewusst der Norm des Wachsens verweigert. Oskar ist auch
imstande, mehr als Klaus und Alexander, ‚breitere Schlussfolgerungen‘ zu ziehen, weil
er weniger als die anderen zwei in einem bestimmten Milieu verhaftet bleibt und über
einen größeren Zeitabschnitt erzählt. Daneben gibt es in der Blechtrommel, der
Definition von Guillén entsprechend, religiöse und moralische Kritik. Trotzdem müssen
wir meines Erachtens auch hier den Unterschied zwischen impliziter und expliziter
Kritik beibehalten: Wo Klaus und Alexander sehr oft explizit Gift und Galle speien, ist
Oskar enthaltsamer und raffinierter, und seine Kritik impliziter. Helden wie wir und
Portnoy’s Complaint enthalten mehr Kritik, die explizit aus dem Munde der
Protagonisten kommt – „So kannte ich sie, so brav und häschenhaft und auf Verlierer
programmiert“ [HWW: 315] und „The idiocy of the Jews all year long, and then the
idiocy of the goyim on these holidays!“ [PC: 144] sind nur zwei Beispiele –, während
Oskar seine Kritik nicht so schroff, sondern vorwiegend implizit übt. Meines Erachtens
ist diese weitgehende ‚Implizität‘, auch weil Claudio Guillén zwischen implizit und
explizit geübter Kritik keinen Unterschied macht, aber nicht problematisch: Man könnte
sagen, dass Oskar nicht die Qualität eines reflexiven Philosophen hat, weil er seine
Kritik nicht explizit übt. Trotzdem stellt er die Welt gerade durch die Implizität mehr in
Frage als Klaus und Alexander, für die ihre Kritik eine ausgemachte Sache ist. Indem er
seine Kritik verschleiert, wird Oskar ein richtiger Satiriker – oder wird Günter Grass
Satiriker, wie Manfred Kremer90 behauptet – und macht er sogar sein Publikum zum
89
90
Guillén: o.c., S. 82.
Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 383.
60
„constant discoverer and rediscoverer […] where every value or norm is concerned“91.
Wir finden diese implizite Kritik auf allen möglichen Ebenen vor: Er kritisiert
Religionen, die moralischen Sitten des ‚petit bourgeois‘-Milieus, die politischen Lagen,
Deutschland an sich, und so weiter. Weil ich die Kritik an den Elterngenerationen und
ihrer Moral einerseits und an der jeweiligen politischen Lage andererseits für die
Analyse der Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der intertextuellen Analyse reservieren
möchte, werde ich hier nur kurz die Religionskritik streifen. Wie auch bei den anderen
Kritiken ist die Religionskritik, die Oskar Matzerath übt, vorwiegend implizit: Während
er festhält, er sei „schwärzester Katholik“ [DB: 394], und deswegen keine
protestantische Kirche betreten will, begeht er später doch ein Sakrileg, indem er Jesus
seinen Willen aufzwingen will – „Ich werde ihn noch zum Trommeln bringen. Wenn
nicht heute, dann morgen!“ [DB: 425] – und sich selbst mit Jesus identifiziert, in der
Eigenschaft eines Bandenführers von Halbstarken, deren wichtigste Tätigkeit das
Ausräumen von Kirchen ist. Die Ehrfurcht, die Oskar als sehr strenger katholischer
Gläubiger, der er zu sein behauptet, haben sollte, sehen wir in diesem Benehmen
allerdings nicht. In dieser expliziten Dekonstruktion ist daher implizite Kritik an der
katholischen Religion, und Religion im Allgemeinen, vorzufinden.
2.1.2.5.
Die Hervorhebung des Materiellen
Guillén erwähnt als fünftes Merkmal die Betonung der materiellen Aspekte des
menschlichen Lebens: In einem Schelmenroman wird niederträchtigen, gemeinen
Sachen, Hunger und Geld ausgiebig Aufmerksamkeit geschenkt. Es gibt keine „relicta
circunstantia“92: Jedes Thema, jede Person oder Sache verdient es, mit den nötigen
Details behandelt zu werden. Tanja Nause bemerkt in dieser Hervorhebung des
Materiellen eine Benachteiligung des Ideellen93, aber meines Erachtens schließen diese
beiden Sachen einander nicht aus, wenn wir die Qualität des Schelms als reflexiven
Kritikers auch berücksichtigen. Die Orientierung auf das Materielle hin ist meines
Erachtens in den drei Romanen deutlich anwesend, nicht im Geringsten durch die starke
Betonung der Körperlichkeit und Sexualität, oft auf eine direkte, detailreiche und
obszöne Art und Weise.
91
Guillén: o.c., S. 82.
Guillén: o.c., S. 83.
93
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 26.
92
61
In Helden wie wir manifestiert sich diese Hervorhebung, indem ständig die
kommunistische Ideologie mit Sex und Perversion verknüpft wird. Der wesentliche
Kern der Ideologie wird durch diese perverse Konnotation verdrängt und lächerlich
gemacht. Wie Klaus seine Perversionen in den Dienst der DDR stellt, werde ich weiter
in dieser Arbeit erörtern. Weil diese Obszönitäten vor allem zur Gestaltung von Helden
wie wir als Groteske, oder zumindest als Roman mit grotesken Elementen, beitragen,
und ich diesen Aspekt im Abschnitt der „Körpergroteske“ schon einzeln behandeln
werde, wird dieses Merkmal hier für Helden wie wir nicht weiter ausgeführt.
Die Hervorhebung des Materiellen verdient aber hinsichtlich der zwei anderen
Romane noch etwas Aufmerksamkeit. Wenn das Materielle sich in Helden wie wir vor
allem vom Sexuellen und von grotesken Elementen her definieren lässt, so hat das hat
seine Wurzeln in den zwei anderen Romanen: Auch Portnoy’s Complaint ist stark von
Perversionen und Obszönitäten geprägt. Sex mit Objekten gehört nicht nur zum Alltag
Klaus‘, aber auch zu dem von Alexander, wie ich später erläutern werde. Daneben
sehen wir auch das Klischee der jüdischen Geldgier in der Figur von Jack Portnoy
wiederkehren. Der hart arbeitende Versicherungsvertreter möchte erleben, dass sein
Sohn vor allem finanziell erfolgreich wird: „„Don’t be dumb like your father,“ he would
say, joking with the little boy on his lap, „don’t marry beautiful, don’t marry love –
marry rich.”” [PC: 5-6] Auch Alexanders Mutter träumt heimlich von einem finanziell
komfortableren Leben, wenn sie ihrem Sohn mehrmals über ihren „dark-haired beau“
erzählt, „the biggest manufacturer of mustard in New York“: „And I could have married
him instead of your father“ [PC: 32]. Eine ähnliche Hervorhebung des finanziellen
Materialismus gibt es in Helden wie wir nicht (durch den Antikapitalismus der DDR zu
erklären?), obwohl Lucie Uhltzscht doch in die Nähe kommt, wenn sie fast obsessiv
über die Wichtigkeit des Krankenscheins herumquengelt und dabei schon an die Rente
denkt, während Klaus auch erst in seiner Ausbildung ist [HWW: 204-205].
In der Blechtrommel wird, neben dem Sexuellen auch der finanzielle
Materialismus betont. Man könnte argumentieren, es sei nicht sosehr Oskar, der
materialistisch eingestellt ist, sondern vorwiegend die Menschen um ihn herum. Oskar
verdient in seiner Trommelkarriere zum Beispiel gutes Geld – seine Karriere ist „ein
Geschäft“ [DB: 735], mit dem er „das pure, klingende Gold der Nachkriegszeit“ [DB:
727] verdient –, aber gibt sich jedoch nicht wirklich materialistisch und bleibt z.B. im
62
Zeidlerschen Haus wohnen. Auch sagt er anfänglich, er glaube nicht an die Geschichten
über seinen Großvater, der nach seiner Flucht in die Vereinigten Staaten angeblich ein
erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, und skizziert dabei ein einsames Bild des
„in einem Wolkenkratzer hinter riesigem Schreibtisch sitzend[en], Ringe mit glühenden
Steinen an allen Fingern tragend[en]“ Mannes [DB: 38]. Am Ende seiner Darlegung
überlegt er es sich jedoch anders und scheint ihm eine solche Existenz gar nicht so
unangenehm. Er umschreibt es sogar als einen alten Traum: „Ich suche meinen
Großvater, den Millionär und ehemaligen Brandstifter Joe Colchic, vormals Joseph
Koljaiczek. Mit dreißig sollte man seßhaft werden!“ [DB: 774] Auch ist öfters zu
vermerken, dass für Oskar nicht sosehr materielle, konkrete Sachen wichtig sind,
sondern dass in seiner Erinnerung vor allem noch die Gerüche lebendig bleiben: Sein
Treppensturz ist unverbrüchlich mit dem Geruch von Himbeersirup verbunden [DB:
74], Geborgenheit riecht nach „gelblich zerfließende[r], leicht ranzige[r] Butter“ [DB:
216] und nach dem Kleiderschrank der Schwester Dorothea [DB: 649], von seinem
ersten Schultag erinnert er sich vor allem den Geruch [DB: 93], und die Frauen in
seinem Leben sind alle mit einem bestimmten Geruch, sei es nun Vanille, Moos und
Pfifferlingen, Zimmet und Muskat oder Essig, verbunden. Gerade durch seine
detaillierten olfaktorischen Umschreibungen materialisiert Oskar etwas NichtGreifbares, was doch auf eine materialistische Einstellung des Protagonisten hindeutet:
so entsteht laut Holthusen ein „gesteigerte[r] Sinn für die Wirklichkeit“94. Oskar wächst
daneben in einem kleinbürgerlichen Milieu auf, das er bis in die kleinsten Details
beschreibt: Die Interieure sind voll verstaut, die Mahlzeiten üppig, einen Anstrich von
Kultur gibt es im Bild Beethovens, in Platten Mahlers und Opernbesuchen. Seine Mama
hatte „einen wachen Sinn fürs Schöne, Kleidsame und Teure“ [DB: 47], Geldgewinn ist
für diese kleinen Gewerbetreibenden sehr wichtig (Schwindeln mit der Waage gehört
dazu), und auch Alfred Matzerath dichtet seinem Sohn schon bei der Geburt finanziellerfolgreiche Ambitionen als Geschäftsleiter zu, genauso wie Jack Portnoy. Schließlich
finden wir auch Hunger und Gier in der Blechtrommel vor, in der Figur des
Obergefreiten Lankes: Als Oskar für sie beide einen Kabeljau zubereitet, will er sich
94
Hans Egon Holthusen: „Günter Grass als politischer Autor“, Der Monat, 18 (1966), Heft 216, S. 66-81.
Zitiert in Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 386.
63
dabei obsessiv des besten Stucks des Fischs versichern [DB: 716]. Habgier, Wollust,
Materialismus und Üppigkeit sind deutlich wichtige Elemente in der Blechtrommel.
2.1.2.6.
Der kriminelle Biotop
Guillén erwähnt den kriminellen Biotop, in dem der Pikaro lebt, als sechstes Merkmal.
Obschon der Pikaro verschiedene menschliche Konditionen, in denen schurkische
Eigenschaften, Betrügereien und Täuschungsversuche Legion sind, auf eine kritische
und satirische Art und Weise observiert, übernimmt er als halb-Außenseiter selber auch
manche dieser Eigenschaften. Er wird selbst Mitglied der Demimonde, der Welt der
scheinbar Anständigen, die es aber mit Moral und Sitten nicht so genau nehmen.
Zu sagen, Klaus sei ein Schurke und Betrüger, wäre übertrieben, aber wir
können in Klaus‘ Welt trotzdem einige Ähnlichkeiten mit der Halbwelt vorfinden.
Dafür sind vor allem die bedenklichen und unsauberen Tätigkeiten der Stasi
verantwortlich, an denen Klaus sich beteiligt. So wird er „zum Einbrecher“ [HWW:
224], Kidnapper des Kindes einer unwilligen Mitarbeiterin, und letztendlich stellt er
sich sogar mit Nazis „auf eine Stufe“ [HWW: 279]. Klaus macht und umschreibt sich
selbst auch ständig als ein Verbrecher, indem er sich in seiner reichen Phantasie oft
Schlagzeilen
wie
„SCHRAUBENSCHLÜSSEL-BESTIE:
LEBENSLÄNGLICH!“
[HWW: 225] oder „STASI-SCHERGE VERGING SICH AN DISSIDENTENTOCHTER“ [HWW: 236] ausdenkt. Auch in seiner Kindheit glaubt Klaus öfters, er sei
in einer kriminellen Umgebung angelangt: Seine Erfahrungen mit den ‚Dieben‘ im
Ferienlager sind nur ein Beispiel davon. Als er einmal bei einem Wettkampf Weitpissen
mitmacht, glaubt Klaus, dass er jetzt auch ein richtiger Krimineller sei: „[…] es war
falsch, es war schlecht, ich wurde Komplize der Halbwelt!“ [HWW: 52] Interessant ist,
zu sehen, dass Klaus in seiner Kindheit in einen Kampf gegen das Ministerium des
Bösen zieht, zu der er später selbst gehören wird; das spricht für die ‚Umwandlung‘, die
Guillén in seiner Aufsatz beschreibt. Noch interessanter ist, zu bemerken, mit welchen
Figuren er sich dabei identifiziert: Klaus wird in seiner Phantasie „legitimer Nachfahre
Zorros“ [HWW: 79] und des Plan-Entwicklers Egon Olsen, der sympathischen Robin
Hood-Figur aus einer in Ostdeutschland sehr bekannten dänischen Filmreihe, Die
Olsenbande. Nicht zufällig sind sie zwei schelmische (Anti)Helden.
64
Auf Alexander Portnoy trifft dieses Merkmal meines Erachtens nicht zu: Er lebt
in einer Welt, in der die Moral wichtig ist und keine Betrügereien vorzufinden sind.
Wenn es in Portnoy’s Complaint schon Mitglieder einer Halbwelt gibt, ist es Alexander
Portnoy selbst, dazu von seiner Freundin ‚The Monkey‘ angeregt, und nur im sexuellen
Bereich. Sie wahren tatsächlich für die Außenwelt ein Bild der reinen Moralität, aber
hinter den Schlafzimmerwänden (die als ‚Grenzen‘ eigentlich sehr relativ sind, denn sie
beschränken ihre Obszönitäten nicht aufs Schlafzimmer) ist ein ganz anderes, fast
pervertiertes Bild zu sehen. Trotzdem erfährt Alex eine Abneigung gegen The Monkey,
und macht sich Sorgen wegen seiner Würde: „Ah, but there is (let us bow our heads),
there is „my dignity“ to consider, my good name. What people will think. What I will
think. Doctor, this girl once did it for money.“ [PC: 199] Obwohl Alexander es im
sexuellen Bereich auch ‚faustdick hinter den Ohren‘ hat, wird er jedoch nicht zum
Kriminellen, wie Guillén ihn gemeint hat und wie man ihn in klassischen
Schelmenromanen vorfinden kann.
Oskar Matzerath dagegen hat schon eine kriminelle Vergangenheit, als
Bandenführer und Anstifter zu den Verbrechen der Stäuber. Dabei scheint es, als ob er
seinen Status eines Verbrechers genießt und ihn sogar aufsucht, auch wenn er eigentlich
nicht schuldig ist: So macht er sich selbst zum Verantwortlichen des Todes seiner
Mutter und seiner zwei Väter, lässt sich wegen seiner angeblichen Schuld am Mord der
Schwester Dorothea verhaften und sitzt scheinbar mit Vergnügen eine Strafe aus für ein
Verbrechen, das er gar nicht verübt hat. Auch diese Schuldsuche bestätigt meines
Erachtens Guilléns Schlussfolgerung, dass in der Blechtrommel ein „process of selfrighteous „dehumanization““95 vorgefunden werden kann.
2.1.2.7.
Die zweidimensionale Reise durch ein Zeitpanorama
Im Schelmenroman wird – als siebtes Merkmal – oft ein Zeitpanorama verschiedener
sozialen Klassen, Berufe und Nationen geschildert, durch das der Protagonist eine Reise
unternimmt, und zwar auf zwei Ebenen: er bewege sich horizontal „durch den
geographischen
Raum“
und
vertikal
„durch
die
verschiedensten
Gesellschaftsschichten“96. Guillén sieht dadurch ein Narrativ des Abenteuers entstehen,
95
96
Guillén: o.c., S. 84.
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 26.
65
oft mit kosmopolitischen Dimensionen. Ob auch ‚unsere‘ drei Protagonisten eine solche
zweidimensionale Reise machen, wäre erst noch zu überprüfen.
In Helden wie wir sind die zwei Bewegungen durch das Zeitpanorama meines
Erachtens deutlich anwesend. Obschon die horizontale Bewegung keine wirklich
richtigen kosmopolitischen Züge annimmt, sehen wir doch, wie Klaus sich letztendlich
in eine ganz andere Welt begibt. Er sei sogar Anstifter der endgültigen Fluchtwelle, die
dafür sorgt, dass alle anderen Ostdeutschen endlich aufs Neue die Möglichkeit
bekommen, sich horizontal, d.h. in diesem Fall vor allem in westliche Richtung durch
den Raum zu bewegen. Klaus begibt sich nicht ‚nur‘ topografisch nach West-Berlin,
denn in diesem Umzug wird auch seine Zuneigung zu einem ganz anderen
gesellschaftlichen System impliziert. Die Tatsache, dass er einem Vertreter des
kapitalistischen Westens, dem Journalisten des NY Times Oscar Kitzelstein seine
Geschichte erzählt, trägt zur ‚Internationalität‘ seines Abenteuers bei. Aber aufs Neue
sehen wir hier gewissermaßen eine ‚Halbwertigkeit‘, ein Festhalten an der Heimat,
indem der Journalist zu Klaus kommt, und nicht Klaus die vertikale Reise nach
Amerika macht. Die horizontale Bewegung ist meines Erachtens deutlicher anwesend,
und erklärt auch einigermaßen die Abwechslung zwischen dem Minderwertigkeits- und
dem Überlegenheitsgefühl, die Klaus so gerne zur Schau trägt. Er macht eine Reise von
den untersten Schichten der Stasi (nach ihm der ‚unechten‘ Stasi) bis zur höchsten Stufe
der Hierarchie, derjenigen des Mikado spielenden Generalsekretärs Erich Honecker.
Dieses Abenteuer denkt er sich schon längst in aller Stille aus, es war nur eine Zeitfrage,
bevor man ihn entdecken wurde: „Ich war mir über meine historische Mission im
klaren, und alles, was mir geschah, paßte ins Bild.“ [HWW: 255]
Die Bewegungen, die Alexander Portnoy durch den so genannten Zeitraum
macht, gehen horizontal weiter als die von Klaus (cf. seine Europareise), aber vertikal
sehen wir keine derart eingreifenden Bewegungen: Alexander kommt aus einem Milieu,
in dem Karriere machen erforderlich ist, und das macht er denn auch vom ersten Beginn
an (als Klassenbester, vorbildlicher Sohn, …). Er bekleidet ja eine wichtige Funktion
bei der Stadt New York und ist tatsächlich zu einer höheren Stufe der gesellschaftlichen
Leiter
aufgestiegen, aber seine professionellen Erfolge sind einfach die logischen
Folgen seiner Streber-Persönlichkeit. Wenn er übrigens beschreibt, wie ein Arbeitstag
bei ihm aussieht – das Anhören der Beschwerden und Vorwürfe einer fast hysterischen
66
puerto-ricanischen Familie [PC: 207] –, scheint er doch nicht so ein hohes Tier zu sein.
Seine Bewegungen durch den geographischen Raum sind dagegen schon eingreifend
und bestimmend für seine ‚Emanzipation‘: Durch seine Europareise will er den Eltern
deutlich machen, er sei ihnen nicht mehr für jedes einzelne Detail seines Lebens
Rechenschaft schuldig. Genauso wie bei Klaus ist diese geographische Bewegung
zugleich eine Distanzierung von einem ideologischen System. Alex‘ Versuch ist aber
weniger erfolgreich: Statt einer gelungenen Flucht sehen wir eine Rückkehr zur Wiege
des Judentums, Israel, wo er näher denn je zu den Wurzeln der Religion kommt, deren
engstirnige Prinzipien er so verabscheut.
Aufs Neue ist Oskar der Protagonist, der am ehesten unter dieses Merkmal
einzuordnen ist. Obwohl er sein vertikales Wachstum buchstäblich unterbricht,
verhindert das ihn nicht, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter nach oben zu kommen.
Der ‚gesellschaftliche‘ Aspekt dieser Leiter verdient jedoch eine Nuancierung, denn es
ist nicht in der Gesellschaft seiner Herkunft, d.h. im kleinbürgerlichen Milieu, dass
Oskar Karriere macht. Seine größten Erfolge kennt er nämlich während seiner
Künstlerexistenz als „Oskar der Trommler“ [DB: 732]. Auch in dieser Eigenschaft
macht Oskar seine horizontalen Ortwechsel durch das Zeitpanorama: Er bekommt
vorerst die Chance, mit dem reisenden Fronttheater Bebras Europa (und vor allem
Frankreich) kennenzulernen, und später macht er verschiedene Tourneen durch
Deutschland. Am Ende kommt sogar Amerika in Frage, nachdem die Entlassung aus
der Pflegeanstalt droht.
2.1.2.8.
Der episodische Aufbau
Als achtes und letztes Merkmal erwähnt Guillén den episodischen Aufbau der
Schelmenromane, wobei der Pikaro scheinbar – und dieses Wort wird von Guillén
betont – für die inhaltliche und formale Einheit bürgt. Er weist aber darauf hin, dass seit
La vida de Lazarillo de Tormes (1554 von Lope de Vega geschrieben) schon viele
andere narrative Strukturen in den pikaresken Roman eingeführt wurden, und setzt vor
allem die Anwesenheit zurückkehrender Motive und zirkulärer Handlungsstränge
voraus. Er vergleicht die narrative Struktur des Schelmenromans mit einer
Musikpartitur: Wie es in einem Musikstück Crescendo und Diminuendo gibt, verläuft
auch das Pikareske nach einer Wellenstruktur.
67
Helden wie wir ist in sieben Kapitel gegliedert, in denen Klaus in groben Zügen
immer eine Periode seines Lebens behandelt, oft mit Vorschau auf dasjenige, was noch
kommen wird, und mit kurzem Rückblick auf Vorgänge, über die er schon erzählt hat.
Abgesehen von diesen kleinen Vorausdeutungen und Rückblenden erzählt Klaus seine
Geschichte aber durchaus chronologisch: Wir können die sieben Tonbänder
einigermaßen als Episoden in Klaus‘ Leben auffassen. Im zeitlichen Abstand zwischen
dem allerersten Satz des ersten Bandes und dem allerletzten Satz des siebten Bands liegt
das Leben von Klaus und alles, was in Helden wie wir erzählt wird, beschlossen. Im
ersten Band kommen drei chronologische Einschnitte zusammen: Klaus als
Neugeborener, Klaus als Neunjähriger und Klaus als Erwachsener nach der Wende. Der
erwachsene Klaus erscheint auf den folgenden Bändern noch mehrmals auf die
Bildfläche, indem er bestimmte Sachen aus der Vergangenheit kommentiert oder, wie
gesagt, in seinem Diskurs Vorausdeutungen einbaut; sonst aber folgen die sechs
nächsten Bänder der Chronologie seines Lebens: Kindheit (‚Das 2. Band: Der letzte
Flachschwimmer‘),
Teenagerjahre
(‚Das
3.
Band:
Blutbild
am
Rande
des
Nierenversagens‘), Abiturzeit (‚Das 4. Band: Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll‘),
Ausbildung und Berufstätigkeit bei der Stasi (‚Das 5. Band: wbl. Pers. Str. hns. trat
8:34‘), die Zeit, in der Klaus mit seinen Perversionen anfängt und das Leben Honeckers
rettet, in den unruhigen Monaten vor der Wende (‚Das 6. Band: Trompeter, Trompeter‘)
und schließlich der letzte Monat vor der Wende, ab dem 7. Oktober, bis zur Nacht des
9. November (‚Der 7. Band: Der geheilte Pimmel‘). Wir sehen anhand der Titel der
sieben Bänder auch einigermaßen eine thematische Konzentrierung in jedem Band, und
vor allem hinsichtlich der schon erwähnten Abwechslung zwischen ‚positiven‘ und
‚negativen‘ Perioden im Leben des Protagonisten. Die ersten Bänder, und vor allem der
zweite
und
dritte,
haben
Klaus‘
Minderwertigkeitsgefühle
bzw.
seinen
Außenseiterstatus zum Subjekt, und markieren also eher die ‚Diminuendo‘-Episoden
seines Lebens. Welchen Umschwung und Crescendo bringt aber der Titel des vierten
Bandes herbei: Mit der Erwähnung von Drugs und Rock ’n’ Roll, aber vor allem von
Sex, beginnt Klaus‘ glückliches Leben erst. Auch der sechste Band hat einen sexuell
konnotierten Titel: Beim Durchführen seiner perversen Experimente glaubt Klaus, sich
für die Menschheit und vor allem für den Sozialismus sehr nützlich zu machen. Die
Stasi-Episode steht zwischen diesen beiden vorwiegend sexuell geprägten Kapiteln, als
68
eine Art Katalysator: Im vierten Band lernt Klaus Sex kennen, und glaubt, dass er
zugleich auch die Liebe kennengelernt hat – „Was? Keine Liebe? War es der pure 6?“
[HWW: 129] –, im fünften Band lernt er die Stasi kennen, gibt es eine erste
Aufflackerung der Perversion (in der Form der Mielke-Onanie), die aber gleich durch
die Begegnung mit wahrer Liebe (in der Gestalt von Yvonne) gekontert wird. Klaus
versagt aber in der wahren Liebe, und das alles fügt sich im sechsten Band zusammen,
in dem er Perversion (Sex) und Sozialismus (Stasi) miteinander kombiniert. Im siebten
Band sehen wir dann die Kulmination seiner Perversion, indem er jetzt, „geheilt“,
seinen Pimmel in den Dienst der Vernichtung des Systems stellt, das ihn immer
wörtlich und bildlich klein gehalten hat.
Portnoy’s Complaint hat den deutlichen episodischen Aufbau nicht. Es gibt
sechs Kapitel, die aber chronologisch durcheinander laufen und auch thematisch nicht
wirklich konsistent sind, obschon man das beim Betrachten der Titel erwarten könnte.
Im ersten Kapitel ‚The most unforgettable Character I’ve ever met‘ [PC: 3] beschreibt
Alexander Portnoy seine (Beziehung zu seinen) Eltern, im zweiten Kapitel dreht es
tatsächlich
um
‚Whacking
off‘
[PC:
17],
indem
Alex
seinen
obsessiven
Masturbationsdrang introduziert, aber schon schnell erweitert der Fokus sich auch auf
andere Subjekte, und dann vor allem aufs Neue auf sein Eltern-Problem. Im nächsten
Teil, ‚The Jewish Blues‘ [PC: 37], fängt er nicht gleich mit Verwünschungen seiner
Religion an, sondern erzählt erstens etwas über seinen Pimmel, um dann nahtlos
wiederum zur Beziehung mit seinen Eltern überzuleiten. Diese Darstellung endet mit
den Worten „Shame and shame and shame and shame“ [PC: 50], mit denen Alex dann
wirklich über seinen jüdischen Blues zu erzählen anfängt. Im vierten Teil erzählt Alex
dann, wie ‚Cunt Crazy‘ [PC: 78] er ist, aber dieser Teil enthält viel mehr als nur seine
Perversionen. Wirklich alle Frustrationen – seine sexuellen Obsessionen, seine
Religion, seine Eltern – finden in diesem sehr großen, unstrukturierten und
fragmentarischen Teil des Buchs ihren Ausdruck. Manches spricht dafür, dass Alex hier
einfach verschiedene Episoden seines Lebens nebeneinander stellt und nur er als roter
Faden in diesem chaotischen Wortschwall zu betrachten ist. In dieser Hinsicht trifft die
Definition Guilléns, der Schelm sei der einzige Faktor der formalen Einheit, doch zu,
aber indem Alex viele dieser ‚Episoden‘ nur teilweise angreift, oft schnell abbricht und
irgendwo anders out of the blue wiederum einsetzt, garantiert er nicht sosehr die
69
Einheit, sondern zerstört sie. Auch im fünften Kapitel, ‚The Most Prevalent Form Of
Degradation In Erotic Life‘ [PC: 184], gibt es keine chronologische oder thematische
Einheit. Nur am Ende von Alex‘ Geschichte, im Kapitel ‚In Exile‘ [PC: 241], ist eine
gewisse Einheit, oder jedenfalls eine relative thematische und chronologische Ruhe
festzustellen. Nach einigen kurzen Rückblenden, die Alexanders Jugend als „nice little
Jewish boy“ [PC: 247] darstellen, lesen wir eine chronologische und konsistente
Erzählung über seine freiwillige ‚Verbannung‘ nach Israel. Von einem episodischen
Aufbau ist meiner Meinung nach in Portnoy’s Complaint also nicht die Rede; eine
bessere Umschreibung dieses narrativen Aufbaus wäre ‚fragmentarisch‘.
Aufs Neue ist es Die Blechtrommel, in der wir die Merkmale Guilléns am besten
vertreten sehen. Wie ich schon vorher erläutert habe, fängt Oskar seine Geschichte, wie
Klaus (abgesehen von den Interventionen auf der Ebene des Moments des Erzählens),
ab ovo an, und zwar auf eine extreme Art und Weise, indem er sogar die Geschichte
seiner Großeltern in seiner Lebensdarstellung mit berücksichtigt. Er endet auch mit dem
Endpunkt seiner bisherigen Geschichte, d.h. mit den unsicheren Perspektiven, die das
Alter von dreißig Jahren für Oskar offenbar mit sich bringt. Sein Leben zwischen diesen
zwei Zeitpunkten wird chronologisch und episodisch beschrieben: Figuren kommen und
gehen, bekannte Orte werden mit neuen Bestimmungen abgewechselt, die politische
und gesellschaftliche Lage ändert sich, Berufe und andere Tätigkeiten werden
angefangen und eingestellt, aber Oskar bleibt die Konstante der Geschichte. Auch
Manfred Kremer erwähnt in seiner Analyse der Blechtrommel als pikaresken Romans
den reihenden Erzählstil:
Durch die normalerweise zu beobachtende Wanderbewegung des pikarischen
Helden kommt es zu einer losen Fügung des Romans, der eine Fülle von Episoden
enthalten kann, die scheinbar allein durch die Person des Helden miteinander
verbunden sind. Diesem Schema folgt auch die Blechtrommel, indem sie, auch
ohne daß der Held große Räume durchmißt, Episoden aneinander reiht und durch
Oskar den Leser mit immer neuen Verhältnissen und Vorgängen bekannt macht.97
Anders aber als in meiner Analyse, unterscheidet Kremer die zweidimensionale Reise
durch ein Zeitpanorama nicht als Merkmal der Blechtrommel, was er meines Erachtens
hier nicht ausreichend motiviert. Aus der vorhergehenden Analyse dieses Merkmals hat
97
Kremer: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“, S. 387.
70
es
sich
herausgestellt,
dass
Die
Blechtrommel
tatsächlich
eine
solche
„Wanderbewegung des pikarischen Helden“ aufweist.
2.1.2.9.
Klaus, Alexander, Oskar: reine Schelme oder ‚nur‘ schelmisch?
Im Vorangehenden habe ich versucht, die drei Protagonisten Klaus Uhltzscht,
Alexander Portnoy und Oskar Matzerath an Claudio Guilléns acht Merkmalen eines
pikaresken Helden zu prüfen. Wenn wir die Merkmale im strengsten Sinne und ohne
Konzessionen an deren ‚Buchstaben‘ betrachten, wird deutlich, dass keine der Romane
den gleichen Schelmengrad erreichen, wie Guillén ihn in den Urvorbildern des 16. und
17. Jahrhunderts, Lazarillo de Tormes und Guzmán de Alfarache (1599, von Mateo
Alemán), erkannt hat. Reine Schelme sind Klaus, Alex und Oskar also nicht. Wie
Guillén aber ganz am Anfang seines Aufsatzes meint, verkörpert kein einziges Werk
„the picaresque genre [completely]“98. Vielmehr habe ich die Merkmale nach dem
‚Geist‘ aufgefasst und bin dementsprechend der Frage nachgegangen, ob man mit Recht
sagen darf, Klaus, Alexander und Oskar seien schelmisch, und wenn ja, in welchem
Maße. Ausgehend vom Befund, es findet sich eine Fluktuation um die Merkmale
herum, ein kreatives Umgehen mit der literarischen Tradition des Pikaresken, lautet das
Urteil: Die drei Protagonisten zeigen einen unterschiedlichen Grad an Schelmengehalt
auf. Anhand der Merkmale Guilléns ist Oskar der Protagonist mit dem größten
Schelmengehalt, denn alle Merkmale treffen auf ihn zu; Klaus Uhltzscht gewinnt
sprichwörtliches Silber und Alexander Portnoy ist am wenigsten ein richtiger Schelm.
Alle drei sind halb-Außenseiter, ‚who cannot join, neither reject‘ die Gesellschaft, in der
sie leben, alle drei erzählen sie ihre Geschichte in der Form einer PseudoAutobiographie, üben ständige Kritik an ihrer Umgebung und heben materielle Sachen
hervor. Oskar und Alexander erzählen ihre Geschichte dabei aus einem einseitigen
Blickwinkel, während wir in Helden wie wir öfters einen nuancierteren, relativierenden
Blick vorfinden. Nur in diesem Aspekt weichen Klaus und Helden wie wir von den
Guillénschen Merkmalen ab. Daher würde ich die Bezeichnung von Helden wie wir als
Schelmenroman sicherlich nicht radikal ablehnen (was Nause schon macht), weil meine
Analyse aufzeigt, dass in der neueren deutschen Literatur auf eine kreative und ganz
persönliche Art und Weise mit traditionellen Gattungstechniken vorgegangen wird. Für
98
Guillén: o.c., S. 72.
71
Portnoy’s Complaint und Alexander hat sich ein niedrigerer Schelmengehalt ergeben:
Alexander begibt sich nie wirklich in eine Halbwelt, macht auch nicht dieselben
eingreifenden horizontalen, aber vor allem vertikalen Bewegungen durch das
Zeitpanorama wie Klaus und Oskar, und schließlich ist seine Geschichte nicht als
episodisch, sondern eher als fragmentarisch zu betrachten. Obschon fünf der acht
Merkmale auf Alexander zutreffen, würde ich eine Bezeichnung als Schelm oder sogar
schelmisch doch ablehnen: Er ist noch zu sehr von der Gesellschaft abhängig, hat nicht
wirklich den Mut, sich von den Erwartungen seiner jüdischen Eltern, von seinem
erreichten Status und seiner Imago als ‚liebem jüdischem Jungen‘ zu trennen. Im
konsequenten Weiterführen seines Außenseiter-Status, laut Guillén doch das
entscheidende Merkmal, ist Alex also weiniger erfolgreich als Klaus und Oskar. Auch
ergibt sich seine Kritik größtenteils aus seinen eigenen Frustrationen, aus seinem
eigenen Egoismus, statt aus der Unzufriedenheit mit einer (obschon auch individuell
erfahrenen) kollektiven Repression, wie es viel mehr bei Klaus und Oskar der Fall ist.
Alexander Portnoy zeigt also zwar einige schelmische Merkmale auf, aber das führt
nicht dazu, dass wir ihn als Schelm, oder sogar als vorwiegend schelmisch
charakterisieren können. Klaus und Oskar dagegen, verdienen es nach der eingehenden
Analyse als ‚modifizierte‘ Schelme bezeichnet zu werden: Die Guillénsche Definition
eines Schelms trifft ‚nach dem Geist‘ auf sie gut zu. Mit gutem Grund werden Helden
wie wir und vor allem Die Blechtrommel denn auch als moderne deutsche pikarische
Romane perzipiert. Auf die verschiedenen Modifikationen der Merkmale, die während
der Analyse zur Sprache gekommen sind, deutete Guillén schon hin: „A genre has
stable features, but it also changes, as a precise influence on the work in progress, with
the writer, the nation, and the period.“99 Gerade diese Modifikationsprozesse sind auch
in den zwei genannten pikaresken Werken, Helden wie wir und der Blechtrommel, zu
unterscheiden.
2.2. Die ‚Körpergroteske‘
Für Helden wie wir eignet sich meines Erachtens ‚Groteske‘ am ehesten als HumorKategorie, zumindest auf der Ebene der Geschichte, während die Ironie, die im vorigen
99
Guillén: “Toward a Definition of the Picaresque”, S. 73.
72
Abschnitt ausführlich erläutert wurde, ihre größten Effekte auf der Ebene der
Figurendarstellung, vor allem der von Klaus Uhltzscht, erreicht. Im ersten Teil dieser
Analyse stelle ich zwei Fragen: Welche grotesken Elemente sind in Helden wie wir
wirksam? Auf welche Art und Weise können wir die Geschichte in die ‚Groteske‘ als
Gattung einordnen? Der Titel des nächsten Abschnitts weist schon auf diese doppelte
Vorgehensweise hin; aufs Neue werden mir die van Gorp und Metzler Literaturlexika
behilflich sein. Die intertextuelle Komponente findet sich im zweiten Teil der GroteskeAnalyse, in dem ich meine Befunde aus dem ersten Teil auf Portnoy’s Complaint und
Die Blechtrommel anwenden möchte.
2.2.1. Die und das Groteske in Helden wie wir: eine Neudefinierung
Wenn wir uns die Etymologie des Wortes ‚grotesk‘ anschauen, lernen wir, dass es aus
dem italienischen ‚grottesco‘ stammt, was ‚wunderlich, verzerrt‘ bedeutet100. Schon
daraus wird deutlich, dass wir die verzerrte Erzählung des Mauerfalls in Helden wie wir
als ‚grotesk‘ kennzeichnen dürfen: Sie macht eine Karikatur aus demjenigen, was
wirklich geschehen ist, und weil die dargestellte Verzerrung der Realität und der
‚normale‘ Erwartungshorizont dermaßen aufeinanderprallen, erscheint die Geschichte
des Mauerfalls als lächerlich. „Scheinbar Unvereinbares“101 wird miteinander
verbunden: Der Mauerfall ist nicht länger das Ergebnis einer Revolte des ostdeutschen
Volkes, sondern eines ‚riesengroßen Pimmels‘. Den Riesen-Aspekt finden wir übrigens
auch im Werk jenes Autors vor, bei dem zum ersten Mal in der Literaturgeschichte das
Groteske eine Hauptrolle spielte, nämlich bei François Rabelais und seinen Erzählungen
von den Riesen Gargantua und Pantagruel: Auch bei Klaus Uhltzscht sehen wir eine
deutliche Vergrößerung ins Riesenhafte, diesmal jedoch eines ganz bestimmten
Körperteils.
Van
Gorp
et
al.
erwähnen
die
Befunde,
die
der
russische
Literaturwissenschaftler Michail Bachtin im Bereich des Grotesken gemacht hat. Nach
ihm ist der groteske Körper nicht „gesloten, afgerond en afgescheiden“, wie bei der
klassischen Körperauffassung, sondern wird er von „buitenmaats naar voren springende
100
101
Metzler Literatur Lexikon, S. 178.
Metzler Literatur Lexikon, S. 178.
73
lichaamsdelen (neus, penis, borsten, achterste), openingen (mond, vagina)“102
gekennzeichnet. Klaus‘ Penis ist erst ganz klein, ein ‚Zipfelchen‘ (wir bemerken das
ironische Stilmittel der Untertreibung), aber erfährt nach dem Treppensturz ein
außerordentliches Wachstum, wird eine ‚Aberration der menschlichen Harmonie‘103.
Daneben zeigen Klaus‘ Beschäftigungen mit seinen Perversionen, vor allem den
Lippensimulatoren „Fellatiomat I“ [HWW: 250] und „Fellatiomat 2005“ [HWW: 252],
seine weitgehende Obsession mit (weiblichen) Körperöffnungen auf: Das Groteske
wirkt hier fast obszön. Bachtin spricht auch über eine ‚Grenzüberschreitung‘: Klaus
überschreitet alle Grenzen der guten Sitten und seine Handlungen und Gedanken sind
oft wider jeglichen Anstand. Die Grenzüberschreitung wird eben am Ende der
Geschichte durch den Mauerfall ganz konkret und eminent gemacht, indem Klaus sich
selbst darstellt als Anheizer und Urheber der Mauereröffnung. Schließlich enthält das
Groteske nach Bachtin sowohl eine Vernichtung als auch eine Regeneration, die er
illustriert mit dem Bild einer uralten schwangeren Frau. Diese Komplementarität findet
sich in Helden wie wir gewissermaßen auch, auf der Ebene der Erzählhandlung, aber ist
deswegen noch nicht direkt als grotesk zu bezeichnen: Klaus Uhltzscht übt ständig
Kritik an der DDR und der Stasi und macht ihre Ideologie dem Erdboden gleich, aber
genau indem er seine Geschichte erzählt, erweckt er sie zugleich wieder zum Leben.
Wenn die grotesken Elemente, die ich nun – ziemlich arbiträr – behandelt habe,
ein ganzes Werk beherrschen, können wir es dann auch als eine Groteske im Sinne einer
Gattung bezeichnen? In der Sekundärliteratur hat Helden wie wir schon oft das
Epitheton einer Groteske bekommen, vor allem bei Hollmer104, Magenau105,
Wehdeking106 und Walter Schmitz107. Das Buch ist meines Erachtens jedoch vor allem
in der ‚Darstellungsweise‘ vom Grotesken geprägt, und weniger im Bereich des
102
van Gorp: Lexicon van literaire termen, S. 193: Der groteske Körper ist nicht “abgeschlossen,
abgerundet und abgesondert […] sondern wird von exzessiv nach vorne springenden Körperteilen (Nase,
Penis, Brüsten, Hintern) und Körperöffnungen (Mund, Vagina) [meine Übersetzung, mvl]“
gekennzeichnet.
103
van Gorp: Lexicon van literaire termen, S. 193.
104
Hollmer: “The next generation”, S. 114.
105
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 42.
106
Wehdeking: “Die literarische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Staatssicherheit, Zensur
und Schriftstellerrolle”, S. 51.
107
Walter Schmitz: „Ost-West-Passagen in der Erzählprosa Wolfgang Hilbigs“, in: Mentalitätswandel in
der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000), S. 129
74
‚behandelten Gegenstands‘108, obwohl es tatsächlich einige Effekte einer Groteske
aufweist. Im Metzler Lexikon sieht man die Groteske vor allem auftauchen in „Epochen,
in denen das überkommene Bild einer heilen Welt angesichts der veränderten
Wirklichkeit seine Verbindlichkeit verloren hat, in denen die Welt unfassbar, der
Vernunft unzugänglich und von unversöhnlichen Widersprüchen beherrscht scheint.“109
Mit der Wende wurde – auf der Makro-Ebene der Weltgeschichte – die politische und
historische Weltkarte neugezeichnet (und entsteht sogar ein ‚fünftes wörtliches
Weltbild‘
für
Klaus),
aber
die
Veränderungen
auf
der
Mikro-Ebene
der
Lebensgeschichte eines Menschen, bei den unmittelbar Beteiligten, den DDR-Bürgern,
waren wenn möglich noch umwälzender – Wenn man sich den Film Good Bye Lenin!
(2003) von Wolfgang Becker anschaut, bekommt man einen – allerdings ziemlich
romantisierten und von Ostalgie geprägten – Eindruck von Ausmaß und Auswirkungen
des Mauerfalls. Auch Klaus wird bei der Wende von doppelten Gefühlen bedrängt, weil
er einerseits die DDR einfach nicht mehr leiden kann, andererseits auch Angst vor dem
Neuen hat:
Deutschland war mein Wort gegen die Angst vor dem, was ich angerichtet hatte,
gegen die Angst vor den Folgen und davor, dass es aus war mit den geregelten
Rechten und Pflichten. Dass nach der Befreiung die Freiheit kommt, war mir nicht
in dieser Deutlichkeit bewusst. [HWW: 322]
Der Humor, spezifischer die Groteske, ist ein Mittel, um mit diesen unruhigen Zeiten
und Gefühlen fertig zu werden.
Wenn man ‚das Groteske in Helden wie wir‘ erforscht, macht man meines
Erachtens eine richtigere Analyse, als wenn man ‚die Groteske Helden wie wir‘
untersuchen möchte. Wenn schon Helden wie wir als eine Groteske charakterisiert
werden soll, dann würde ich den etwas genaueren Begriff ‚Körpergroteske‘
vorschlagen. Das Leben von Klaus ist von grotesken Abweichungen und körperlichen
Disharmonien geprägt, die sogar zum Höhepunkt der Geschichte führen. Genau diese
Verzerrung bildet den wichtigsten Anlass, die Geschichte als grotesk zu bezeichnen.
Die gesellschaftskritischen Effekte sind eher Elemente einer parodierenden Satire (eines
an sich ernsthaften Ereignisses), als dass sie aus einer reinen Groteske hervorgehen (in
der das Unrealistische und das schon absurd Unnatürliche den behandelten Gegenstand
108
109
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193.
Metzler Literatur Lexikon, S. 178.
75
bilden). Trotzdem enthält die komisch-verzerrte Karikatur, die Brussig aus der DDRZeit macht, eine Kritik an einer Realität, die an sich eigentlich schon grotesk war, durch
die
„Diskrepanz
zwischen
erlebter
Alltagswirklichkeit
und
staatlicher
Realitätskonstruktion“110. Wenn wir auf ein Detail eingehen, können wir festhalten, dass
diese grotesk-absurde Diskrepanz in Helden wie wir in Major Wunderlich verkörpert
wird, dessen Namen schon ein Indiz des ‚grottesco‘, des Verzerrten und
Karikaturistischen der Wirkung ‚seiner‘ Staatssicherheit ist.
2.2.2. Helden wie wir, Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel als
Körpergrotesken
Es wurde in der separaten Behandlung der Groteske (als Gattungsbegriff) und des
Grotesken (in einzelnen Elementen) in Helden wie wir schon deutlich, dass der Roman
zwar von grotesken Elementen geprägt ist, aber nicht als Groteske an sich
charakterisiert
werden
kann.
Ich
habe
stattdessen
den
genaueren
Begriff
‚Körpergroteske‘ vorgeschlagen, weil dieser Name sich am ehesten eignet zur
Umschreibung der spezifischen Sonderform: Die körperlichen Verzerrungen einerseits
und sexuellen Aberrationen andererseits sind für die Figurengestaltung Klaus‘ und
zugleich für den Verlauf der Geschichte von großer Bedeutung. Sein kleiner Pimmel
bereitet
ihm
ein
fortwährendes
Minderwertigkeitsgefühl,
mit
seinen
Perversionsexperimenten versucht er, den Sozialismus zu retten und seinem Leben
einen Sinn zu geben, und letztendlich hat er dann doch ‚den Größten‘ – die Kulmination
seiner bisherigen Lebensgeschichte. In vorliegender intertextueller Analyse möchte ich
den die Körpergroteske weiter funktionalisieren im ständigen Bezug auf die zwei
Prätexte, die jeweils eine der zwei Teilbedeutungen der Körpergroteske aus Helden wie
wir erfüllen: Portnoy’s Complaint ist von Alexanders sexuellen Aberrationen geprägt,
Die Blechtrommel wirkt vielmehr mit grotesken körperlichen Verzerrungen. Im ersten
Teil der Groteske-Analyse wird also die groteske Sexualität von Klaus und Alexander
(und womöglich auch von Oskar) im Brennpunkt des Interesses stehen, danach werden
die Parallelen zwischen Klaus‘ und Oskars groteskem Körper in den Vordergrund
gerückt. Wie schon erwähnt wurde, war es vor allem Michail Bachtin, der hinsichtlich
110
Kormann: „Satire und Ironie in der Literatur nach 1989“, S. 167.
76
der Definition des grotesken Körpers einige wichtige Befunde gemacht hat, die auch für
diese Analyse ihre Nützlichkeit beweisen werden. Bei der Analyse der grotesken
Sexualität von Klaus und Alex ist erstens auf die karikierende Wirkung des Grotesken
und zweitens die Obsession mit bestimmten Körperteilen und Körperöffnungen zu
fokussieren. Die Analyse des grotesken Körpers von Klaus und Oskar soll sich vor
allem mit den Merkmalen der Aberration der menschlichen Harmonie und der grotesken
Ambivalenz zwischen Vernichtung und Regeneration auseinandersetzen. Natürlich gibt
es Überscheidungen in dieser vielleicht allzu strengen Strukturierung: So bemerken wir
auch groteske Elemente in der Körperdarstellung von Alexander, und wird auch Oskar
oft sexuell verhaltensauffällig. Auch auf diese Überschneidungen möchte ich, sei es
häufig nur kurz, eingehen.
2.2.2.1.
Die groteske Sexualität von Klaus und Alex
Wie Bachtin sagt, ist der groteske Körper ohne Grenzen, nicht ‚abgeschlossen,
abgerundet und abgesondert‘111, was einigermaßen auf die groteske Geschichte
übertragen werden kann: Das Groteske enthält, laut Bachtin, immer eine
Grenzüberschreitung. Die Sexualakte von Klaus und Alex überschreiten mehrmals die
Schwelle des normalen sexuellen Appetits. Auch das Metzler Lexikon spricht in diesem
Bereich die ‚ins Maßlos übersteigernde‘ Wirkung des Grotesken an, wodurch Gestalten
und Gegenständen humoristisch-karikierende Züge verleiht werden112. Wie im vorigen
Kapitel schon kurz angedeutet wurde, ist Klaus‘ und Alex‘ obsessive Beschäftigung mit
der Sexualität einer der wichtigsten Gründe, weshalb sie als halb-Außenseiter, als
Karikaturen charakterisiert werden. Bei Klaus sind es anfänglich vielmehr die
Abwesenheit von sexueller Kenntnis und Erfahrung, und sogar der Ekel vor
Vorstellungen über Sex – „Was? Vater-Pisser-reinstecken-Muschi-Mutter? Unmöglich!
So eine Sauerei würden meine Eltern niemals tun!“ [HWW: 63] –, die ihn von seinen
Altersgenossen trennen und ihn zum Außenseiter machen. Erst später schlägt die
Ignoranz in eine gegenpolige Obsessivität um, wodurch ein Zwiespalt entsteht zwischen
dem homo exterior Klaus (dem unerwartet talentvollen Stasi-Agenten, dem
komplexbeladenen Sohn, dem unauffälligen Freund und Kollegen) und dem homo
111
112
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193.
Metzler Literatur Lexikon, S. 178.
77
interior (dem „perverseste[n] Perverse[n]“ [HWW: 248]). Schon durch diesen
übertriebenen 180 Grad-Umschwung wird der erwachsene Klaus eine groteske
Karikatur seiner selbst, nie geht er in seinem sexuellen Leben den goldenen Mittelweg.
Bei Alex ist von einer ähnlichen sexuellen Ignoranz oder Abneigung gar nicht
die Rede. Sein sexuelles Leben fängt mit einer fast musterhaften ödipalen Szene [PC:
44-45] an, die in den „Freudschen Überlegungen“ dieser Arbeit eingehend behandelt
wurde: Statt Abneigung erfährt Alex dabei – als Vierjähriger – nur Genuss und
Begierde. Auch in der Adoleszenz erfährt Alex keine einzige Hemmung, er erzählt auch
dann skrupellos über seine übermäßige Onanie: „Then came adolescence – half my
waking life spent locked behind the bathroom door, firing my wad down the toilet bowl
[…]“ [PC: 18]. Das ganze Kapitel ‚Whacking off‘ ist von seinen zahllosen
Masturbationserfahrungen geprägt, und auch hier kommen das Karikaturistische und die
Grenzüberschreitung ins Spiel: Auch Alexander ist, sogar noch mehr als Klaus, ein
Mann von sexuellen Extremen. Gebauer bemerkt diese Extremität ebenfalls, und deutet
zugleich auf die Gegenpoligkeit zwischen den Protagonisten hin:
Es wird sichtbar, wie hier die sexuelle Thematik modifiziert wird: Aus dem
Sexaholic Alexander wird ein vergleichsweise verklemmterer Klaus. Vereinfacht
konnte man formulieren: Was Alexander obsessiv tut, darüber denkt Klaus
obsessiv nach.113
Gebauer schenkt der Gegenpoligkeit, die in Klaus und Alex‘ geteilter sexueller
Extremität steckt, keine weitere Aufmerksamkeit, obwohl sie doch eine nähere Analyse
verdient: Meines Erachtens wird gerade durch diese Gegenpoligkeit das Groteske als
Humorform in Helden wie wir gemessen an Portnoy’s Complaint gesteigert. Klaus
versucht heftig, sich gegen seine sexuellen Triebe und Gefühle zu wehren, Alexander
dagegen gibt ihnen meistens nach: Bei Klaus entstehen dadurch grotesk-lächerliche
Situationen, Alexanders totale Hemmungslosigkeit mündet vielmehr in grotesk-obszöne
Szenen. Beide haben während ihrer Pubertät mit Spontanerektionen abzurechnen, aber
gehen auf eine ganz andere und eigene Art und Weise damit um, sodass sie beide auf
einer Skala die Extrempunkte darstellen. Während Klaus seinen „Pubertätsständer“
[HWW: 68] zu verstecken oder verhindern versucht – was er selbst allgemein unter dem
Nenner „Kaltwasser-Methoden“ [HWW: 72] unterbringt –, wählt Alex für das zweite
113
Gebauer: „Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten“, S. 227.
78
„sichere Mittel gegen den Ständer“ [HWW: 72], wie Klaus es nennt, nämlich die
Masturbation:
Ich steckte mich einen Rubikwürfel in die Tasche, um die Identifizierung des
Ständers zu erschweren. Ich blieb in Theaterpausen sitzen. Ich wurde Mitglied in
einem Schachverein, […] weil ich während der Partien nicht aufzustehen
brauchte. Ich hörte auf zu trinken, […] [HWW: 69]
In the middle of a class I would raise a hand to be excused, rush down the corridor
to the lavatory, and with ten or fifteen savage strokes, beat off standing up into a
urinal. [PC: 18]
Sie haben jedoch beide einen dritten ‚Abwehrmechanismus‘ entwickelt – sodass sie
keine dieser zwei Methoden wählen müssen –, der an sich grotesk ist. Das Groteske
kombiniert nämlich laut Bachtin Vernichtung mit Regeneration, aber in der dritten
Methode von Klaus und Alex bemerken wir eher, wie Regeneration mit Vernichtung
gekontert wird. Indem sie beide über übertriebene Unfälle, körperliche Verletzungen
und
blutrünstige
Szenen
phantasieren,
lassen
sie
ihre
‚Unbequemlichkeit‘
verschwinden. Brussig potenziert das Groteske (einerseits die Vorstellung selbst,
andererseits den grotesken Stil, von dem die Vorstellung geprägt ist) noch stärker als
Roth, indem er mit mehr Großbuchstaben suggeriert, wie Klaus sich alles noch
detaillierter, blutiger und nachdrücklicher vorstellt:
In the classroom I sometimes set myself consciously to thinking about DEATH
and HOSPITALS and HORRIBLE AUTOMOBILE ACCIDENTS in the hope
that such grave thoughts will cause my “boner” to recede before the bell rings and
I have to stand. [PC: 178]
Anfangs rief ich mir im Bedarfsfall die Kyklopensage in Erinnerung, aber als sie
allmählich ihren Schrecken verlor, konstruierte ich eigene Horrorgeschichten, die
immer als Balken-Schlagzeile im Stil der westlichen Gazetten eingeleitet wurden:
UNFALL IM STAHLWERK – ARBEITER IN HOCHOFEN GEFALLEN!
SÄGEWERK-TRAGÖDIE:
SCHLAFENDER
ARBEITER
ZU
KANTHÖLZERN ZERSÄGT! UNFALL AUF DEM RANGIERBAHNHOF –
ZWISCHEN DEN PUFFERN ZERQUETSCHT, UNTER DEN WAGEN
GEDREITELT! [HWW: 71]
Wenn wir ihr sexuelles Leben als Erwachsene betrachten, sehen wir, wie Klaus‘
Gehemmtheit sich einigermaßen auflöst: „Was deinem Schwanz wohltut, darfst du
nicht. In diesem Zweispalt war ich zu Hause – bis ich die Perversion entdeckte.“
[HWW: 246-247] Er zügelt seine Triebe nicht länger und stellt, wie gesagt, sein Leben
in den Dienst der Perversionen. Die Gegenpoligkeit zwischen Klaus und Alexander, die
79
in den sexuellen Hemmungen von Klaus ihren Ursprung fand, verschwindet so
gewissermaßen, aber noch immer erlebt Klaus sein sexuelles Leben nicht auf dieselbe
Art und Weise wie der womanizer Alexander: Klaus‘ Hemmungen gegenüber Sexualität
im Allgemeinen haben sich verwandelt in Hemmungen gegenüber Frauen, wodurch ein
neuer Gegensatz zu Alexander entsteht, allerdings auf einer anderen Ebene. Wie
Alexander sich seine Eroberungen, sei es nun ganz unerwartet, mit den Worten „[I
want] [t]o eat your pussy, baby, how’s that?“ [PC: 158] angelt, dazu wird der leicht
kontaktgestörte Klaus nie imstande sein, obwohl er mit „Na, warum denn so allein?“
[HWW: 188] schon in die Nähe kommt. Längere Beziehungen mit Frauen einzugehen,
scheint ihm nahezu unmöglich, und wenn es ihm dann doch gelingt – drei Mal, genau
gezählt – scheitern sie recht schnell und entstehen ganz lächerliche, verzerrte,
schlichtweg karikaturistische Situationen. Erstens resultiert Klaus‘ Entjungferung in
Gonorrhöe; zweitens ist seine sexuelle Erfahrung mit der Wurstfrau eher als
katastrophale Nicht-Erfahrung oder Vergewaltigungsversuch einzustufen. Als er sich
dabei mit Minister Mielke als Hauptfigur in seiner sexuellen Fantasie masturbiert und
sich beide Hände bricht, liegt Slapstick ganz nahe. Drittens denkt er in Yvonnes
Zimmer ‚vorspielsweise‘ an die politischen Folgen seines Verhältnisses mit ihr. Er
karikiert übrigens auch die Liebe zum rein körperlichen Begehren, indem er bei den
zwei ersten Frauen glaubt, er habe die Liebe gefunden, während es nur um die
Befriedigung seiner sexuellen Triebe geht:
Ich lebte immer im Glauben, daß man vor, während und nach dem Vögeln Ich
liebe dich sagen muß. Vor und während war vorbei. Was tun? „Ich liebe dich“,
sagte ich probeweise. „Nun beruhige dich mal wieder“, sagte sie. Was? Keine
Liebe? War es der pure 6? [HWW: 129]
[…] also Romantik ist ja in Ordnung, aber ums Ficken kommt sie nicht herum
(und ich auch nicht). Ich geriet in Panik. „Außerdem haben wir heute Vollmond!
Das … ist… auch… wissenschaftlich nachgewiesen!“ Was ist los mit mir, dachte
ich entsetzt. Sinnlose Sätze herumzuschreien! Das ist mir noch nie passiert! Ist es
Liebe? [HWW: 191]
Als er dann Yvonne begegnet, mit der die echte Liebe zum ersten Mal in Reichweite
kommt, gerät seine karikierte, verzerrte Liebesauffassung mit seinen neuen, echten
Liebesgefühlen in Konflikt; er belebt ein Moment der Mannesschwäche und flieht:
[…] sie flüsterte: „Tu mir weh!“ Oje, das war zuviel für mich, verstehen Sie mal,
ich hatte mich zwar im Geiste damit abgefunden, einen Engel zu ficken, aber daß
80
ich ihr weh tun sollte, wo ich ihr doch theoretisch meine Liebe beweisen müßte –
nein, das war wirklich zu viel für mich. [HWW: 237]
Bei Alex ist nie von Liebe die Rede: Er hat Sex aus „lust“ [PC: 102], nicht aus
Liebe, und er formuliert sogar explizite seine verzerrte Auffassung von Liebe, nicht
selten auch typografisch markiert, indem „love“ im Buch mehrmals zwischen
Anführungszeichen steht114:
How can I give up what I have never even had, for a girl, who delicious and
provocative as once she may have been, will inevitably grow as familiar to me as
a loaf of bread? For love? What love? […] Isn’t it something more like weakness?
Isn’t it rather convenience and apathy and guilt? Isn’t it rather fear and exhaustion
and inertia, gutlessness plain and simple, far far more than that “love” that the
marriage counselors and the songwriters and the psychotherapists are forever
dreaming about? Please, let us not bullshit one another about “love” and its
duration. [PC: 104-105]
Sogar nachdem Alexander letztendlich, bei der Begegnung mit Naomi, doch glaubt (und
sagt), er habe die Liebe gefunden, wird sie gleich mit sexueller Lust gleichgesetzt. Er
fühlt die Liebe gar nicht, er muss sie noch heraufbeschwören: „And again told this girl I
hardly knew, and didn’t even like, how deeply in love with her I was. “Love” – oh, it
makes me shudder! – “loooove,” as though I could summon forth the feeling with the
word.” [PC: 263] Danach folgt übrigens eine Szene, die in Helden wie wir ein Echo
findet: Genauso wie Alex bei Naomi – die nahezu die Religion inkorporiert, gegen die
er ständig und vehement revoltiert – eine zeitweilige Impotenz erlebt, bekommt auch
Klaus „ihn nicht hoch“ [HWW: 245] bei Yvonne, die für ein Land schwärmt, das in der
‚blauen Hälfte‘ der Welt liegt, Jeans trägt und laut Klaus aller Wahrscheinlichkeit nach
eine Dissidenten-Tochter ist. Diese Szenen verdienen in der ideologiekritischen Analyse
eine weitere und eingehende Interpretation.
Während Klaus vor allem die Liebe an sich karikiert, stellt Alexander auch die
Frauen, mit denen er sexuelle Beziehungen hat, als Karikaturen dar, z.B. indem er sich
für jede einen Spitznamen ausdenkt: Rita
Girardi wird „Bubbles“ genannt, Kay
Campbell „The Pumpkin“, Sarah Abbott Maulsby „The Pilgrim“, Mary Jane Reed
„The Monkey“ und Naomi „The Jewish Pumpkin“ oder „The Heroine“. Diese
Spitznamen dienen der Herabwürdigung und betonen Alex‘ Superiorität gegenüber
seinen Freundinnen. Obwohl Klaus es nicht so konsequent macht wie Alex, bezeichnet
114
Das steht im Gegensatz zu Klaus, bei dem die Liebe eher implizite karikiert wurde.
81
auch er einmal eine Frau mit einem solchen Namen: die Wurstfrau, denn „sie war klein
und dicklich, als wäre sie aus verschiedenen Wurstsorten gefertigt“ [HWW: 188]. Und
Marina einen Spitznamen geben, scheint ihm gar nicht nötig zu sein: Ihr eigener Name
enthält schon eine Herabwürdigung, denn „zumindest ihr Name hätte jedem Kind einer
siebenköpfigen Arbeiterfamilie zur Ehre gereicht.“ [HWW: 124]
Abgesehen von dieser Karikierung der Frauen sind Alexanders sexuelle
Verhältnisse, anders als bei Klaus, an sich nicht so sehr grotesk im Sinne der
lächerlichen und karikierenden Verzerrung, sondern eher im Sinne der obszönen,
grenzüberschreitenden Verzerrung. Wie er Sarah Abbott Maulsby einmal fast dazu
verpflichtet, „to go down on [him]“ [PC: 238], aber sie dabei nicht macht, was er
eigentlich beabsichtigt hatte, wirkt das nicht länger als unanständige Zote, sondern als
schockierende und anstößige Obszönität. Diese Obszönitäten finden nicht zufällig ihre
Fortsetzung in den verschiedenen Szenen, in denen The Monkey eine Hauptrolle spielt:
so z.B. in ihren eigenen abstrusen Sexualfantasien [PC: 213-214], in der VoyeurismusSzene, der sie ihren Spitznamen zu verdanken hat [PC: 159] und nicht zuletzt in der
Beschreibung der unappetitlichen Gewohnheiten ihres Exmannes [PC: 156]. Aber auch
Alex trägt seinen Teil zum obszönen Grotesken bei: Seine Fantasie über Thereal
McCoy [PC: 131] mutet recht pornographisch an, und während in Helden wie wir die
Höhepunkte aus Klaus‘ tatsächlicher Pornokarriere sehr selten, und nur implizite oder
summarisch erwähnt werden, schildert Alexander seine pornographischen Ambitionen
ausführlich und detailreich. The Monkey ist die leibhaftige „star of all those
pornographic films“ [PC: 158], die Alexander bisher in seiner Fantasie gedreht hat.
The Monkey was by then the one with her back on the bed, and I the one with my
ass to the chandelier (and the cameras, I fleetingly thought) – and in the middle,
feeding her tits into my Monkey’s mouth, was our whore. Into whose hole, into
what sort of hole, I deposited my final load is entirely a matter for conjecture. It
could be that in the end I wound up fucking some dank, odoriferous combination
of sopping Italian pubic hair, greasy American buttock, and absolutely rank
bedsheet. [PC: 138]
Brussig steigert meines Erachtens das Groteske zuungunsten des Obszönen von
Portnoy’s Complaint, indem er nicht die Pornographie an sich expliziert, sondern in
diesem Bezug nur den grotesken Umschwung von Klaus beschreibt. Zum ersten
Merkmal des Grotesken – der grenzüberschreitenden Verzerrung – ist also zwischen
Klaus und Alexander eine Übereinstimmung und eine Gegenpoligkeit zu bemerken:
82
Beide entarten durch ihre Obsessivität zu einer Karikatur und stellen die Liebe, den
Sexualakt und die Frauen als völlig verzerrte Gegenstände, als Karikaturen dar; bei
Klaus aber wirkt die groteske Verzerrung eher lächerlich, bei Alexander obszön.
Als zweites Merkmal dient Bachtins Feststellung, der groteske Körper sei von
übertrieben nach außen springenden Körperteilen und – in dieser Analyse vor allem
wichtig – Körperöffnungen gekennzeichnet. Es ist nicht vermessen zu behaupten, das
Leben von Klaus und Alexander sei ohnehin von einem nach außen springenden
Körperteil ersten Ranges geprägt: Beide sind sie am Glücklichsten, wenn ihr Penis
außer Hause, oder genauer, außer Hose gehen darf, um andere Orte aufzusuchen, sei es
nun die frische Luft oder die Geborgenheit einer Öffnung – nicht notwendigerweise die
eines Körpers. So umschreiben Klaus und Alex ihre Lebensmission auch wirklich aus
diesem Blickwinkel:
Seitdem mein Schwanz in einer drin war, wollte er nie mehr woanders sein! Er
hatte seine wahre Bestimmung gefunden, nämlich in Mösen einzufahren und darin
zur Freude aller Beteiligten herumzufuhrwerken. [HWW: 60]
How much longer do I go on sticking this thing into the holes that come available
to it – first this hole, then when I tire of this hole, that hole over there… and so on.
When will it end? Only why should it end! [PC: 102-103]
Der ‚übertriebene‘ Aspekt der nach außen springenden Körperteile bezieht sich vorerst
vor allem auf die Frequenz, mit der Klaus und Alex ihren Penis zum Einsatz bringen,
und nicht so sehr auf die übertriebene Größe – natürlich ändert sich das für Klaus nach
der Treppensturz-Operation. Klaus hat anfänglich, genauso wie Alexander, alles andere
als einen übertrieben großen Penis, was in Portnoy’s Complaint eine Szene ergibt, die
wir in Helden wie wir reproduziert finden:
“Here!” I finally cry. “Is that it?” “Well,” I answer, turning colors, “it gets bigger
when it gets harder…” [PC: 178]
„Ist der aber klein“, sagte sie und lachte. Peinlich, peinlich. „Mußt was mit
machen“, schnaufte ich lüstern. „Dann wird er größer.“ Sie sah ihn an und lachte.
[HWW: 190]
Wie schon erwähnt, genügt vor allem Alex erfolgreich seiner Obsession mit weiblichen
Körperöffnungen: ‚Bubbles‘, ‚The Pumpkin‘, ‚The Pilgrim‘ und ‚The Monkey‘, alle
stehen sie auf der Liste von Alex‘ sexuellen Eroberungen. Eigentlich verdienen Klaus‘
‚sexuelle Erfahrungen mit Frauen‘ es nicht, mit einer Mehrzahl versehen zu werden,
denn nur Marina hat Klaus „interpenetriert“ [HWW: 236] – zumindest vor der Wende,
83
denn für Klaus‘ Nachwendekarriere als Pornodarsteller sind keine statistischen Belege
vorhanden. Klaus‘ wichtigste sexuelle Großtaten sind die Perversionen, bei denen nicht
Frauen, sondern Dinge, oder Öffnungen ohne weiteres, buchstäblich die Objekte seiner
Affekte sind – aber auch Alexander ist in dieser Hinsicht kein unbeschriebenes Blatt. Er
vergewaltigt nicht nur Objekte, er objektiviert auch seine Freundinnen, indem er ihnen
einen ‚entmenschlichenden‘ Spitznamen gibt (mit Ausnahme von ‚The Pilgrim‘ Sally),
der immer vom bestimmten Artikel ‚the‘ vorangegangen wird. So wird nochmals
deutlich, dass diese Namen keine süßen, Liebe ausdrückenden Kosenamen sind,
sondern wirklich ätzende Spitznamen, welche die nach Alex ärgerlichen, hässlichen und
schäbigen Seiten der Frauen betonen. ‚Pumpkin‘ wäre Ausdruck einer Liebkosung, ‚The
Pumpkin‘ ist das keineswegs.
Sex mit Objekten kommt in unterschiedlichen Lebensfasen der Protagonisten
vor: Alex ist Klaus darin weit voraus und treibt schon in seiner Adoleszenz
Perversionen (um seine eigenen Triebe zu befriedigen), während Klaus erst viel später,
anfangs seiner zwanziger mit seinen Perversionen anfängt (aus Pflichtbewusstsein eines
Stasi-Agenten mit Leib und Seele!). Alexander fängt seine Objekt-orientierten
Sexualakte ziemlich unschuldig, mit dem BH seiner Schwester Hanna, an, geht schon
etwas weiter mit dem leeren Einwickelpapier eines Schokoriegels und kulminiert erst
mit Objekten aus dem Bereich der Lebensmittelindustrie:
“Oh shove it in me, Big Boy,“ cried the apple that I banged silly on that picnic.
“Big Boy, Big Boy, oh give me all you’ve got,” begged the empty milk bottle that
I kept hidden in our storage bin in the basement, to drive wild with my vaselined
upright. “Come, Big Boy, come,” screamed the maddened peace of liver that, in
my own insanity, I bought one afternoon at a butcher shop and, believe it or not,
violated behind a billboard on the way to a bar mitzvah lesson. [PC: 18-19]
Von einer gesunden Faszination ist hier nicht länger die Rede, er ist in wahrer BachtinAuffassung der Groteske völlig auf diese Öffnungen fixiert. Später gesteht er ein, er
habe diesen Perversionen noch etwas nachzutragen, sogar ‚das Schlimmste, was er je
getan hat‘: Zweimal sogar trieb er es mit einer Leber, und das erste Mal wurde sie
nachher noch von seiner Familie gegessen – „I fucked my own family’s dinner“ [PC:
134]. Und als Alexander seine Eltern einmal davor warnt, es gäbe noch perversere
Menschen als die Homosexuellen, von denen in Cosmopolitan die Rede ist ( „Momma!
Poppa! There is worse even than that – there are people who fuck chickens!” [PC:
84
126]), könnte man angesichts seines eigenen von Perversionen geprägten Lebenslaufes
erwarten, er sei selber Urheber dieser Perversion. Es ist aber Thomas Brussig, der auf
diese Warnung eine intertextuell markierte Antwort gibt, als Klaus mit einem
„Hühnerficker“ [HWW: 239] konfrontiert und schließlich selber zum Hühnerficker
wird, indem er sich im Auftrag des Majors Wunderlich „in den Gegner hineinversetzen“
will. Im Gegensatz zu Alexander fühlt Klaus sich über seine geschmacklose Untat
gleich schuldig, denn entrüstet übt er Selbstjustiz: „Ich trieb’s mit Tieren! Mit toten
Tieren! Toten Jungtieren! Die keinen Kopf hatten! Also mit verstümmelten! toten!
Jung!tieren! […] Was habe ich getan!“ [HWW: 240] Dennoch hindern seine
anfänglichen
Schuldgefühle
und
die
dazugehörenden
eingebildeten
Verhaftungsszenarien ihn nicht, die Perversionen zu den wichtigsten Tätigkeiten seiner
Freizeit, und daraus sogar ein „Forschungsprojekt zur Rettung des Sozialismus“
[HWW: 249] zu machen. Jede Woche vergewaltigt er einen neuen Goldbroiler115, und
auch Gummitiere, in Form der Fellatiomat I und Fellatiomat 2005 – der Name alleine
ist schon grotesk– und sogar Kaulquappen lässt er nicht aus. Klaus befasst sich in seiner
‚Kartei neuen Typus‘ auch mit der Frage, ob „sexuell mißbrauchte Lebensmittel eßbar
[sind]“ [HWW: 250], die im Buch selbst ausdrücklich ohne Antwort bleibt, aber m.E.
eine Zurückverweisung auf Portnoy’s Complaint impliziert.
Aus dieser Analyse ist hervorgegangen, dass die Sexualität von Klaus und Alex
als grotesk zu bezeichnen ist. Trotzdem bemerken wir auch hier Unterschiede: Das
Groteske kommt meiner Meinung nach auf unterschiedlichen Ebenen zum Ausdruck.
Bei der Analyse des Merkmals der Obsession mit (körperlichen) Öffnungen ist
festzustellen, dass Klaus sich mit seinen Perversionen der Obszönität von Alexander
schon annähert, aber ihr keinesfalls gleichkommt. Es ist dabei wichtig zu bemerken,
dass Klaus‘ Perversionen in erster Linie nicht der Erfüllung seiner eigenen Sexualtriebe
dienen sollen, sondern dass er sie ganz ernsthaft als Rettungsversuch des Sozialismus
betrachtet. Auch seine erste Begegnung mit Sex erfolgt nicht aus Eigennutz, sondern
scheint eine rein pragmatische Wahl zu sein: „Über die Stasi dürfte ich nichts
ausforschen, um meine Eltern nicht ins Gefängnis zu bringen – also befasste ich mich
115
Zu ‘Goldbroiler’ im Duden Deutsches Universalwörterbuch. 5., überarbeitete Auflage. Hg. von der
Dudenredaktion. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag 2003, S. 666: „(regional) goldbraun
gegrilltes Hähnchen.“
85
mit Sex.“ [HWW: 80] Alexander Portnoy’s Obsession mit sachlichen und menschlichen
Öffnungen dagegen stammt in erster Linie schon aus seiner eigenen Libido – nur
implizite ist auch bei ihm eine ideologische Komponente zu entdecken, die ich später in
der ideologiekritischen Analyse dieser Arbeit behandle.
Auch bei der Analyse des ersten Bachtinschen Merkmals des Grotesken, d.h. der
karikierende Verzerrung und Grenzüberschreitung, ist deutlich geworden, dass
Portnoy’s Complaint eher mit einer Grenzüberschreitung in Richtung des Obszönen,
und weniger in Richtung einer lächerlichen Karikatur wirkt, als das bei Helden wie wir
der Fall ist. Daher möchte ich schließen, die Körpergroteske, bezogen auf die verzerrte
Sexualität, sei bei Alexander Portnoy am plausibelsten mit den Adjektiven obszön und
pornographisch zu bezeichnen, während Klaus Uhltzschts groteske Sexualität vielmehr
als eine lächerliche Karikatur wirkt. Mirjam Gebauer macht denselben Unterschied:
Die Schilderungen der Körperlichkeit von Klaus können m.E. nicht als
pornographisch bezeichnet werden. Das pornographische Element wird vielmehr
durch die Aspekte des Grotesken verdrängt […].116
Die Körpergroteske mit anderen Worten verzerrt in Helden wie wir ins Lächerliche, in
Portnoy’s Complaint ins Obszöne. Dass dieser Unterschied dennoch keinen Einfluss
ausübt auf die ideologiekritische Komponente des Grotesken, die in der Sexualität der
Protagonisten steckt, möchte ich weiter in der Analyse der Ideologiekritik belegen.
2.2.2.2.
Der groteske Körper von Klaus und Oskar
Zur Analyse des grotesken Körpers der Protagonisten möchte ich nochmals das
Merkmal der „buitenmaats naar voren springende lichaamsdelen (neus, penis, borsten,
achterste), openingen (mond, vagina)“117 anführen, aber diesmal, im Gegensatz zur
Analyse der grotesken Sexualität von Klaus und Alex, in der die Öffnungen in den
Mittelpunkt gerückt wurden, vor allem die exzessiven Körperteile hervorheben. In
dieser Hinsicht sind nicht nur die Körper von Klaus und Oskar grotesk, sondern können
wir auch Alexander in Betracht ziehen: Seine für Juden klischeehaft große Nase – „That
ain’t a nose, it’s a hose!“ [PC: 150] – ist nämlich ein wichtiger Teil seiner (jüdischen)
Identität und vor allem eine Quelle seiner körperlichen Frustrationen. Alexander glaubt
sogar, seine groteske Nase stehe im Dienste der Ideologie, gegen die er ständig
116
117
Gebauer: „Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”, S. 230.
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193.
86
revoltiert, und brandmarke ihn, sodass ‚shikse‘ Mädchen abgeschreckt werden und nur
jüdische Mädchen ihn als möglichen Liebespartner in Betracht ziehen, „as though my
own nose bone has taken it upon itself to act as my parents‘ agent!“ [PC: 150] Die
Größe der Nase enthält m.E. jedoch keinen Grund, Alexanders Körper an sich als
grotesk zu bezeichnen, weil dieses Merkmal eher zum jüdischen Klischee als zur
Körpergroteske
beiträgt,
und
deswegen
keine
eingreifende
‚Aberration
der
menschlichen Harmonie‘118 impliziert, die bei Klaus und Oskar schon, und viel
ausgeprägter, vorzufinden ist. Ich werde im Folgenden auf die verschiedenen grotesken
Elemente ausführlicher eingehen, möchte aber hier schon auf einige Elemente
hinweisen, um den Unterschied zu Alexander Portnoys Körperlichkeit deutlich zu
machen: Klaus bekommt letztendlich einen außerordentlich großen Penis, Oskar
durchbricht die menschliche Harmonie durch seine Entscheidung, nicht mehr zu
wachsen. Das ‚klassische Körperschema‘ wird in Helden wie wir und der Blechtrommel
viel ausgesprochener als in Portnoy’s Complaint durchbrochen.
Auf den ersten Blick manifestiert sich das Groteske im Körper von Klaus und
Oskar als zwei entgegengesetzte Ambitionen: Während Klaus nichts lieber will, als dass
ein bestimmter Körperteil wachse, und er letztendlich auch einen ‚Riesenschwanz‘
bekommt, bleibt Oskar vorsätzlich im Wachstum zurück. Klaus‘ körperliche Aberration
situiert sich also im Übermaß, im Riesenhaften, Oskars Aberration wird vom Untermaß,
vom Gnomenhaften gekennzeichnet. Oskars Körpergroteske sollte aber nuanciert
werden, denn nicht nur Kleinheit prägt seine körperliche Abweichung, die Verstörung
der menschlichen Harmonie. Oskar hat nämlich nicht den normal proportionierten
Körper eines Dreijährigen: In Gegensatz zu Klaus, der „die kleinste Trompete“ [HWW:
101] hat, entspricht die Penisgröße des sonst liliputanischen Oskar seinem tatsächlichen
Alter; darauf spielt er schon ziemlich früh in der Geschichte an: „Dabei, und hier muß
auch Oskar Entwicklung zugeben, wuchs etwas – und nicht immer zu meinem Besten –
und gewann schließlich messianische Größe“ [DB: 71]. Die implizite, fast tabuisierte
Umschreibung des ‚Etwas‘, und die Anspielung auf die Größe des Geschlechtsteils im
vorhergehenden Satz – „größere Schuhe und Hosen“ [DB: 71] – lassen vermuten, dass
118
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193.
87
Oskar hier nicht nur auf sein Trommeln119 hindeutet. Konkret heißt es weiter im Roman,
Oskar habe für seine niedrige Größe jedoch „ein Geschlechtsteil […] welches sich
notfalls mit jedem anderen, sogenannten normalen männlichen Attribut hätte messen
können“ [DB: 612]. Die Körpergroteske steigert sich, als Oskar sich doch zum
Weiterwachsen entschließt, und dabei eine zusätzliche körperliche Verunstaltung in
Form eines Buckels entsteht [DB: 561].
Laut Bachtin enthält das Groteske, wie gesagt, sowohl eine Vernichtung als auch
eine Regeneration. In dieser Hinsicht ist es interessant zu beobachten, wie der groteske
Körper der Protagonisten entsteht. Bei Klaus und Oskar ergibt der sich nämlich als
Folge eines Sturzes, eines Unfalls, und impliziert somit schon eine Art Vernichtung. Die
darauf folgende Regeneration, die wir bei den beiden Protagonisten vorfinden, verdient
auch weitere Analyse, weil sie auf verschiedene Weise realisiert wird. Klaus‘
unabsichtlicher Treppensturz am Alexanderplatz, kombiniert mit der unsanften
Begegnung mit einem Besenstiel, hat eine eingreifende Vernichtung zur Folge: Klaus
Genitalien sind nicht länger als solche zu erkennen, seine ‚Eier‘ werden von den Ärzten
bildhaft zum „[…]Salat“ [HWW: 290] reduziert und von ihm selbst als „Gemenge“
[HWW: 292] bezeichnet. Die Vernichtung bringt aber auch eine Regeneration mit sich,
in dem im Duden120 verzeichneten biologisch-medizinischen Sinne des Wortes: Das
verletzte, fast abgestorbene Gewebe erlebt eine natürliche, sogar spektakuläre
Wiederherstellung.
Fast
als
Wiedergutmachung
für
die
„Kette
der
Erniedrigungen“[HWW: 294], die Klaus bisher durchstehen musste, wird er jetzt mit
einem phallischen „Gemächte“ [HWW: 302] statt mit dem ehemaligen „Zipfelchen“
[HWW: 55] ausgestattet.
Die Regeneration bei Oskar situiert sich auf einer anderen Ebene, die auch im
Duden beschrieben wird. Oskar orchestriert seinen Treppensturz [DB: 73] so haargenau,
dass seine Blechtrommel und er selbst möglichst wenig Schaden nehmen, immerhin
doch genug zerstört wird, damit die Szene so glaubwürdig wie möglich aussieht: Oskar
zieht einige Flaschen Himbeersirup mit sich, er selbst erleidet Verletzungen, die ihm
„vier Wochen Krankenhausaufenthalt“ [DB: 74] einbringen. Danach heißt es, er bliebe
119
Siehe zu dieser Interpretation Volker Neuhaus: Günter Grass. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage.
Stuttgart: Metzler 1992, S. 33.
120
Duden Deutsches Universalwörterbuch, S. 1290.
88
„zwar sonst beieinander, nur wachsen wollte er nicht mehr.“ [DB: 75] Die Konsequenz
des Sturzes ist, wie Oskar es angesichts der Erwachsenen allerdings ausscheinen lässt,
die Vernichtung des Wachstums, und enthält auf den ersten Blick und für die
Öffentlichkeit alles andere als eine Regeneration. Für Oskar aber ist die wichtigste
Konsequenz des Sturzes gar nicht diese Vernichtung: Er hat den Sturz von Anfang an
als Regeneration beabsichtigt, nicht im Sinne des biologischen Bereichs, sondern in
einer
bildungssprachlichen
Bedeutung.
Regeneration
bedeutet
nämlich
auch
„Erneuerung, erneute Belebung“121 von (geistigen, moralischen) Werten. Dadurch, dass
Oskar sich dazu entschließt, nicht mehr zu wachsen, erneuert er den gängigen, normalen
Lauf eines Menschenlebens, schafft er sich zugleich neue Regeln, nach denen er sein
eigenes Leben führen wird. Er verweigert, sich nach den Werten, Gebräuchen und
Sitten des Kleinbürgertums zu benehmen: „[…] da beschloß ich, auf keinen Fall
Politiker und schon gar nicht Kolonialwarenhändler zu werden, vielmehr einen Punkt zu
machen, so zu verbleiben“ [DB: 71]. Mit der Verweigerung des Wachsens unter der
Tarnung des Treppensturzes ‚re-generiert‘ er das Leben, das seine Eltern ihm
vorgezeichnet haben, und inszeniert seine eigene Neugeburt, seine persönliche
Regeneration. Er lehnt es damit auch von vornherein ab, seine Verantwortlichkeit, die
zum Leben eines Erwachsenen gehört, aufzunehmen, besorgt sich also eine Art Alibi
für dasjenige, was eigentlich weitgehende Eigensucht ist. Krimmer hat in diesem
Bereich Grass‘ „Jungbürgerrede: Über Erwachsene und Verwachsene“ zitiert: „Es ist
die kindliche Ohnmachtsbezeugung, die infantile Geste, mit der Erwachsene ständig
Schuld und Verantwortung außerhalb ihres eigenen Bereiches vermuten und
mystifizieren.“122 Die Regeneration ist also eine andere als die in Helden wie wir, aber
in den beiden Werken geht die Regeneration mit der Entstehung eines grotesken
Körpers einher.
Während Oskars Treppensturz das Wachstum einstellt und Ursache seiner
körperlichen Kleinheit ist, bildet Klaus‘ Treppensturz dazu das Gegenteil, indem er
gerade ein außerordentliches Wachstum erfährt – dieser Kontrast wurde schon
besprochen. Magenau bemerkt noch eine zweite ‚gegensätzliche Parallele‘, denn „[d]er
121
Duden Deutsches Universalwörterbuch, S. 1290.
Günter Grass: Essays II, S. 22, zitiert in Elisabeth Krimmer: ““Ein Volk von Opfern?” Germans as
Victims in Günter Grass’s Die Blechtrommel and Im Krebsgang”. In: Seminar. A Journal of Germanic
Studies Volume 44, Number 2 (Mai 2008), S. 278.
122
89
Treppensturz, der in Helden wie wir am Ende steht“, steht in der Blechtrommel „am
Beginn“123. Damit hat er natürlich Recht, nur vergisst er, die anderen Stürze der zwei
Protagonisten zu betrachten. Meiner Meinung nach verdient auch Oskars Sturz bei der
Beerdigung seines Vaters Aufmerksamkeit, denn der spielt für die Gestaltung des
grotesken Körpers ebenfalls eine wichtige Rolle (weil hier aber keine Treppe im Spiel
ist, dürfen wir Magenau für diese Unachtsamkeit mildernde Umstände zubilligen).
Auch Klaus‘ erster Treppensturz, nach seiner Mielke-Onanie im Appartementhaus der
Wurstfrau (dessen Folgen allerdings nicht so gravierend sind als diejenigen seines
zweiten Sturzes) sollte näher betrachtet werden, weil Klaus durch diesen Fall immerhin
in eine grotesk-lächerliche Situation gerät. Die Vernichtungskomponente ist auch bei
diesem Sturz sehr deutlich anwesend, eine Regeneration lässt sich jedoch schwieriger
ausmachen, obwohl wir das von Bachtin erwähnte Bild der uralten schwangeren Frau
meiner Meinung nach einigermaßen mit dem Bild eines Neunzehnjährigen vergleichen
können, dem seine Mutter, als wäre er ein kleines Kind, den Hintern wischt und die
Intimteile pudert. Der normale Erwartungshorizont wird von dieser grotesken
Verzerrung ebenso sehr durchbrochen, wodurch ein recht lächerliches Bild entsteht.
Oskars zweiter Sturz vollzieht sich auf dem Friedhof, beim Begräbnis seines
mutmaßlichen Vaters Alfred Matzerath, und wird in einem ersten Bericht dieses
Ereignisses vom unverlässlichen Erzähler Oskar ausgelassen, danach aber doch
ausführlich behandelt. Die Verbindung von Tod und Leben, von Vernichtung und
Regeneration ist auch in dieser ‚Sturzszene‘ wesentlich: In der ersten Fassung erzählt
Oskar, wie er sich dazu entschließt, seine Blechtrommel, das Symbol seiner
Lebensfreude und zugleich auch die Inkorporierung seiner Sehnsucht nach der
Geborgenheit seiner „embryonale[n] Kopflage“ [DB: 55] in der Gebärmutter seiner
Mama, auch einen Tod sterben zu lassen, indem er sie ins Grab seines Vaters wirft.
Gleich fängt seine Nase an zu bluten, und Schugger Leo gerät fast außer sich vor
Freude: Von ihm erfahren wir, dass Oskar wächst [DB: 535]. Wenn Oskar diese Szene
später wieder aufgreift, erfahren wir, dass er durch den Impakt eines Steines, den sein
Sohn Kürtchen an den Hinterkopf seines Vaters wirft, ins Grab stürzt, seiner
Blechtrommel nach. Doch besteht er darauf, er habe sich schon vor diesem Sturz zum
Wachstum entschlossen – genauso wie er damals auch schon vor seinem Treppensturz
123
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 45.
90
die Entscheidung genommen hatte, nicht mehr zu wachsen. Trotzdem werden auch hier
die Vernichtung des Sturzes und die Regeneration, diesmal schon eine biologische,
miteinander verbunden: Oskar wächst erst nach dem Tod seines Vaters und der (sei es
nur zeitweiligen) Vergrabung seiner Trommel weiter. Dabei gewinnt Oskar 27
Zentimeter an Länge [DB: 537], und anschließend wird den von Bachtin erwähnten,
sich ausstülpenden Körperteilen besondere Aufmerksamkeit geschenkt: „Selbst seine
Ohren, die Nase und das Geschlechtsorgan sollen, wie ich hier höre, unter den
Schienenstößen des Güterwagens Wachstum bezeugt haben.“ [DB: 556]
Der groteske, verzerrte Körper von Oskar hindert ihn übrigens nicht daran, auch
ein – oft groteskes – sexuelles Leben zu führen, das sich einigermaßen an dem von
Klaus und Alexander, messen lassen kann. Weil Oskars Sexualität jedoch viel weniger
Parallelen zu der von Klaus und Alex aufweist, werde ich sie hier separat und nur kurz
betrachten. Dadurch, dass Oskar wie ein Kind aussieht, und die Erwachsenen ihm
deswegen immer eine Art Unschuld, eine Harmlosigkeit zumuten, sieht und versteht er
öfters mehr von den Sachen, mit denen die Erwachsenen sich beschäftigen – ganz
anders als bei Klaus, für den Sex und reine Körperlichkeit zu Hause Tabuthemen sind.
So wird Oskar Zeuge der orgastischen Erlebnisse seiner eigenen Mutter und seiner
‚Lehrerin‘ Gretchen Scheffler, die beim Lesen der Geschichte Rasputins ihr eigenes
Lustgefühl durch Masturbation befriedigen. Oskar identifiziert sich übrigens nicht
selten mit dem Gesundbeter der russischen Zarenfamilie – dem übrigens auch ein
grotesker
Körper
zugedichtet
wurde,
selbstverständlich
ohne
Anspruch
der
Wissenschaftlichkeit und wahrscheinlich eher als Teil der Legendenbildung. In einem
Sankt Petersburger Museum124 befindet sich Rasputins angeblicher Penis mit dem
grotesken Ausmaß von 30 Zentimetern. Rasputins Auftreten in der Orgie-Szene mag
vorausdeuten auf Oskars eigene spätere sexuelle Erfahrungen: Auch er wird später
keine Mühe damit haben, „gratis und bis in alle Ewigkeit [Orgasmen] aus[zu]teilen“
[DB: 114]. Nachdem er schon mehrmals seine Mutter und Jan Bronski bei ihren
sexuellen Aktivitäten beobachtete, wird Oskar erst während des zweiten Weltkriegs (im
zweiten Buch der Blechtrommel) selber sexuell tätig. Seine erste Liebe ist Maria, die
spätere Ehefrau seines Vaters Matzerath: Bei einem Ausflug an den Brösener Strand
124
Bildmaterial und weitere Darlegung findet man auf der Heimseite des Erotika Museums Sankt
Petersburg. 4. Mai 2009 <http://www.prostata.ru>.
91
werden Oskars sexuelle Gefühle zum ersten Mal erweckt. Auch Oskars Geschlechtsteil
wird, genauso wie dasjenige von Klaus („die kleinste Trompete“ [HWW: 101]), zu
einem Musikinstrument metaphorisiert:
[…] eine halb komisch, halb schmerzhaft beginnende Versteifung meines
Gießkännchens unter dem Badeanzug [ließ] mich Trommel und beide
Trommelstöcke um des einen, mir neu gewachsenen Stockes willen vergessen.
[DB: 349]
Danach ergibt sich eine Szene, in der Maria sich Oskars Beschäftigungen an ihrem
„behaarten Dreieck“ gefallen lässt, und noch später werden, aufs Neue am Strand, ein
Verführungstanz und ein darauf folgender Sexualakt (mithilfe von Brausepulver, Oskars
Speichel und Marias Hand) metaphorisch dargestellt. Zu einem richtigen Sexualakt
kommt es, nachdem zuerst eine andere Körperöffnung, Marias Bauchnabel, mit
Brausepulver gefüllt wurde: Nicht nur erteilt Oskar dabei Orgasmen, wie Rasputin, den
er vorhin beschrieben hatte, sondern erfährt auch selbst die Erfüllung seiner Lüste:
Und da die [Pfifferlinge] tiefer versteckt unterm Moos wuchsen, versagte meine
Zunge, und ich ließ mir einen elften Finger wachsen, da die zehn Finger
gleichfalls versagten. Und so kam Oskar zu einem dritten Trommelstock – alt
genug war er dafür. Und ich trommelte nicht Blech, sondern Moos. [DB: 363]
Erst wirklich grotesk wird Oskars Sexualität im Sexualverkehr mit Lina Greff, der
Witwe des homosexuellen Gemüsehändlers Greff, weil er jetzt, nachdem er von Maria
hart abgewiesen wird, nicht mehr aus Liebe, sondern aus Frustration, Ressentiment und
Befriedigungsdrang seiner Triebe mit ihr ins Bett geht – genauso wie wir das auch bei
Klaus und Alexander vorfinden. Oskar bezeichnet dieses sexuelle ‚Verhältnis‘, wenn
überhaupt davon die Rede sein kann, ganz sachlich und ohne jegliches Gefühl als das
Praktizieren seiner „letzten Übungen“ [DB: 405], die ihm „einige sensible
Handfertigkeiten“ [DB: 425] beibrachten. Auch Lina Greffs Körper mutet grotesk an:
Ihr übler Gestank deutet auf die von Bachtin erwähnte ‚Desintegration‘125 hin.
Oskars Beziehung zu Roswitha Raguna ist meines Erachtens doppelt
aufzufassen: Einerseits ist sie grotesk, indem die körperliche Aberration hier gehäuft,
verdoppelt wird. Andererseits und in Vergleich zu Oskars anderen sexuellen
Beziehungen, ist sie nicht grotesk, weil im Bild des Zusammenseins dieser zwei
Gnomen die menschliche Harmonie und die Komponente der körperlichen
125
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 193.
92
Geschlossenheit vertreten ist: „Ich suchte ihre Angst ab, sie suchte meinen Mut ab.
Schließlich wurde ich etwas ängstlich, sie aber bekam Mut.“ [DB: 430] Eine ähnliche
Harmonie findet Oskar in keinem seiner anderen sexuellen Verhältnisse, denn auch
seine letzte ‚Liebe‘ für Schwester Dorothea, die eher als Oskars Fetisch für
Krankenschwester im Allgemeinen zu beschreiben wäre, erscheint in einer grotesken
Form: Erstens befriedigt Oskar seine Triebe, indem er in ihrem Kleiderschrank
masturbiert, später verübt er in der Gestalt Satans (Symbol für Vernichtung und Tod
symbolisiert) an der Krankenschwester (Symbol für Regeneration und Leben) einen
Vergewaltigungsversuch, den sie anfänglich mit Einstimmung erwidert: „Komm Satan,
o komm doch!“ [DB:680] Genauso wie Klaus und Alexander in einem entscheidenden
Moment (bei ihrer großen Liebe Yvonne bzw. Naomi) von Impotenz betroffen werden,
erlebt Oskar bei Schwester Dorothea, die er „heiß und innig liebe“ [DB: 681], „eine
beschämende Pleite“: „Es gelang mir nicht, den Anker zu werfen.“ [DB: 680] Im
Gegensatz zu Klaus und Alexander möchte ich diese Impotenz nicht mit einer
ideologischen Komponente verbinden126, sondern mit seiner ‚Emotionslosigkeit‘, sein
Unvermögen, Liebe (oder Emotionen schlechthin) zu fühlen: „Now Oskar's emotional
detachment manifests itself as physical impotency.“127 Verzerrt ist die Sexualität von
Oskar also allerdings, wird aber nicht als obszön oder lächerlich dargestellt, wie das bei
Alexander und Klaus schon der Fall ist.
2.3. Der (nicht-)markierte Sarkasmus
Die letzte Form von Humor, die ich behandeln möchte, hängt schon eng mit demjenigen
zusammen, was ich im nächsten Kapitel, ‚Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der
intertextuellen Analyse‘, ausführen werde. Die Analyse des Sarkasmus in Helden wie
wir, Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel wird deswegen einerseits eine
Einleitung zur Ideologiekritik bilden, verläuft andererseits noch immer über dieselbe
Methodologie, mit der Ironie und Schelmengehalt und Körpergroteske analysiert
wurden, das heißt mithilfe des van Gorp und Metzler Literaturlexikons. Während ich
die Ironie und die Körpergroteske vor allem auf der Ebene der Geschichte und
126
Siehe für diese Interpretation das Kapitel ‚Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der Analyse‘.
Susan M. Johnson: “Sexual Metaphors and Sex as a Metaphor in Grass' Blechtrommel”. In: Modern
Language Studies, Vol. 22, No. 2 (1992), S. 86.
127
93
Figurengestaltung situiert habe, möchte ich den Sarkasmus, eine viel ernsthaftere
Humorform als die zwei vorigen, auf der Ebene der Autorinstanz ansiedeln. Mehr als
die anderen Humorformen dient er der Ideologiekritik der Autorinstanz – zumindest in
Helden wie wir. Für Portnoy’s Complaint und Die Blechtrommel ist eine andere
Schlussfolgerung zu erwarten: Sarkasmus ist sicher auch in diesen zwei Romanen
vorzufinden,
aber
nach
meiner
Einschätzung
in
einer
unterschiedlichen
Erscheinungsform und auf einer anderen Wirkungsebene als in Helden wie wir. Bevor
ich diesen Unterschied erläutere, ist es aber wichtig, eine Begriffsbestimmung von
Sarkasmus vorzunehmen, und die spezifische Erscheinungsform in Helden wie wir zu
betrachten. Danach wird in einer ‚intertextuellen‘ Analyse deutlich gemacht werden,
wie der Sarkasmus in den zwei Prätexten auf eine andere Art und Weise in die
Erzählstrategie eingebettet wird. Die intertextuelle Komponente deute ich mit
Anführungszeichen an, weil es sich durch diesen Unterschied herausstellen wird, dass
intertextuelle Bezüge im Bereich des Sarkasmus weniger wirksam sind, als im Bereich
der Ironie, des Pikaresken und der Körpergroteske.
2.3.1. Die sarkastische Autorinstanz in Helden wie wir
Van Gorp et al. umschreiben Sarkasmus als eine Form beißenden Spotts, bitterer und
auch härter als Ironie, der der Sarkasmus verwandt ist: Sarkasmus bedient sich nämlich
oft des Stilmittels der Ironie, erzeugt aber viel aggressivere Äußerungen als rein
ironische. Den Unterschied zwischen den beiden Begriffen umschreiben van Gorp et al.
folgendermaßen: “Terwijl het effect van ironie altijd gelegen is in een ambigue
formulering (discrepantie tussen impliciete, bedoelde betekenis en expliciete
verwoording), kan sarcasme ook direct zijn [meine Hervorhebung, mvl]”128. Aus der
Analyse der Ironie in den drei Werken ist hervorgegangen, dass die Naivität – ein
wichtiges Merkmal eines Schelms – vor allem bei Klaus Uhltzscht, dagegen viel
weniger oder gar nicht bei Alexander Portnoy und Oskar Matzerath vorgefunden
werden kann. Es gibt aber in Helden wie wir auch Textstellen, an denen die Naivität von
Klaus völlig verschwindet und eine andere, direktere Stimme hervorzutreten scheint.
128
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 394: „Während der Effekt von Ironie immer in einer
mehrdeutigen Formulierung liegt (Diskrepanz zwischen impliziter, beabsichtigter Bedeutung und
expliziter Formulierung), kann Sarkasmus auch direkt sein [meine Übersetzung, mvl]“.
94
Die Unmittelbarkeit mancher Passagen, in denen Brussig Ironie und Komik völlig
ausklammert, steht in großem Kontrast zum dominanten Ton der Geschichte. Dass der
naive Antiheld Klaus plötzlich so nüchtern und mit klarem Blick über die damalige (und
sogar noch heutige) Situation in Deutschland spricht, hebt sich von seinen
gewöhnlichen ‚dumm-komischen‘ Aussagen ab. Nicht die Humorformen der Ironie, der
Satire oder der Groteske sind dann wirksam, sondern der Sarkasmus. Die sarkastischen
Passagen bilden scharfkritische und tiefsinnige Zwischenspiele, die die naiv-ironische,
groteske und satirische Erzählhandlung unterbrechen. Der Sarkasmus in Helden wie wir
wird, zugleich mit der Anrede „Mr. Kitzelstein“, die dem Leser sehr oft die ernsthaften
Passagen signalisiert, als ein erzähltechnisches Mittel benutzt, um die ‚leichtere‘
humoristische Erzählung von den ernsthaften und ideologiekritischen Kommentaren
abzugrenzen. Der in diesen sarkastischen Passagen angegriffene Gegenstand ist sehr oft
das DDR-Volk. Charakterisiert wird es als dumm und verblendet vor der Wende, und
faul und feige danach, indem es mit „erbärmlichen Ausreden, „ich habe niemandem
geschadet…““ [HWW: 312] nicht eingestehen will, welche seine Rolle während der
DDR-Zeit war. Aber auch Christa Wolf, die Stasi und das politisch-gesellschaftliche
System der DDR werden ‚zerfleischt‘, wie demonstriert an Klaus‘ Vater und Mutter, die
oft auch als Stellvertreter für ihre ganze Generation eintreten. An welchen Textstellen
der Sarkasmus sonst hervortritt und wie diese Angriffe genau wirken, erläutere ich im
nächsten Kapitel der Ideologiekritik.
Im folgenden Zitat wird dieser ‚Stilbruch‘ treffend wiedergegeben; Klaus liefert
gleich zuvor noch eine Probe seines Größenwahns, indem er über seine Ambitionen als
Nobelpreisträger erzählt, aber plötzlich unterzieht er sich selber einer ernsthaften
Analyse, die zu dieser ätzenden, sarkastischen Beobachtung seiner Vergangenheit
ausartet:
Wenn es heute keiner gewesen sein will, dann hat das mit einer Scham zu tun, die
verhindert, über die Schande und über das Versagen zu sprechen. Die Grenze für
das, was Widerstand gewesen sein soll, zieht man da, wo man selbst mal
aufmuckte. Logisch, keiner will’s gewesen sein, alle waren irgendwie dagegen.
Trotzdem flog Küfer von der Schule. Trotzdem stand die Mauer. [HWW: 105]
Der Spott über das DDR-Volk wird noch beißender und verletzender gegen Ende von
Klaus‘ Geschichte:
95
So artig und gehemmt wie sie dastanden, wie sie von einem Bein aufs andere
traten und darauf hofften, sie dürften mal – kein Zweifel, sie waren wirklich das
Volk. So kannte ich sie, so brav und häschenhaft und auf Verlierer programmiert
[…]. [HWW: 315]
Tanja Nause umschreibt diesen Vorgang als „Abbrüche der inszenierten Naivität“129, in
denen eine Art von Metakommentar hervortritt, für den die Autorinstanz selber das
Wort führt. Gerade dadurch, dass Klaus sonst ein naiver Schelm ist, bekommen diese
Passagen ihre ausgeprägt sarkastische Profilierung, wird der Sarkasmus ‚markiert‘: Er
operiert auf einer Meta-Ebene, entfernt sich somit von der Figur Klaus und nähert sich
eher der Autorinstanz.
2.3.2. Die sarkastischen Protagonisten in Portnoy’s Complaint und der
Blechtrommel
Alexander Portnoy und Oskar Matzerath sind, im Gegensatz zu Klaus, nicht naiv.
Gerade dadurch, dass die sarkastischen Passagen Klaus‘ gängige Naivität so ausgeprägt
unterbrechen, bekommen sie in Helden wie wir eine klare Markierung130. In Portnoy’s
Complaint und der Blechtrommel kommen diese Unterbrechungen und die damit
zusammenhängende Markierung des Sarkasmus nicht vor: Die beiden Protagonisten
sind ständig scharfkritisch, haben den Sarkasmus als Teil ihres Diskurses inkorporiert,
sei es auf eine unterschiedliche Art und Weise. Alexander schont in seinem
‚therapeutischen‘ Gespräch mit Dr. Spielvogel niemanden und spickt seine Rede ständig
mit zerfleischendem, beißendem Spott: über seine Eltern und über seine jüdische
Religion – diese wird oft bespottet, indem Alex einen ihrer ‚achtenswerten Diener‘
verhöhnt:
Mother, Rabbi Warshaw is a fat, pompous, impatient fraud, with an absolutely
grotesque superiority complex, a character out of Dickens is what he is, someone
who if you stood next to him on the bus and didn’t know he was so revered, you
would say, “That man stinks to high heaven of cigarettes,” and that is all you
would say. […] Don’t you understand, the synagogue is how he earns his living,
and that’s all there is to it. [PC: 73]
129
Nause: Inszenierung von Naivität. S. 168.
‘Markierung’ soll hier nicht mit dem schon erwähnten intertextuellen Begriff verwechselt oder
gleichgesetzt werden; das Wort deutet in dieser Hinsicht auf die Ausgeprägtheit des Sarkasmus in Helden
wie wir.
130
96
Alex‘ sarkastische Äußerungen treffen auch die ‚shikse‘ Mädchen, die Alex‘
Anforderungen nie genügen, und die nicht-Juden im Allgemeinen:
You stupid goyim! Reeking of beer and empty of ammunition, home you head, a
dead animal (formerly alive) strapped to each fender, so that all the motorists
along the way can see how strong and manly you are […]. [PC: 81]
Oskar dagegen gerät in seiner Pseudo-Autobiographie nie in helle Wut wie Alexander:
Er hält seine Zunge viel mehr im Zaum, treibt auf eine kalte, subtilere Art und Weise
seinen Spott mit seinen Eltern, dem Dritten Reich, dem Kleinbürgertum, usw., aber
greift sie im Vergleich zu Alexander durchaus weniger direkt, weniger schroff an. Seine
Kritik wird vielmehr in seinem Trommeln und Glaszersingen symbolisiert, und in
seinen unterkühlt-ironischen Äußerungen impliziert. Manchmal kommt es jedoch zu
einer direkten sarkastischen Kritik: Zum Beispiel seine Begegnung mit Frau
Spollenhauer in der Pestalozzischule (im Kapitel ‚Der Stundenplan‘ [DB: 88]) verläuft
alles andere als widerstandslos.
Fräulein Spollenhauer trug ein eckig zugeschnittenes Kostüm, das ihr ein trocken
männliches Aussehen gab. Dieser Eindruck wurde noch durch den knappsteifen,
Halsfalten ziehenden, am Kehlkopf schließenden und, wie ich zu bemerken
glaubte, abwaschbaren Hemdkragen verstärkt. […] Als es dem Fräulein
Spollenhauer jedoch nicht gelang, meinen Trommelakt sogleich und richtig
nachzuklopfen, verfiel sie wieder ihrer alten gradlinig dummen, obendrein
schlechtbezahlten Rolle, gab sich den Ruck, den sich Lehrerinnen dann und wann
geben müsste […]. [DB: 96-97]
Auch die Schule an sich greift er an (laut Oskar stinkt die Sache, sogar infernalisch):
Haben sie einmal an den schlechtausgewaschenen, halbzerfressenen Schwämmen
und Läppchen jener abblätternd gelbumrandeten Schiefertafeln geschnuppert
[…]? […] ich […] stellte mich vor, daß ein eventuell vorhandenen Satan in seinen
Achselhöhlen derlei säuerliche Wolken züchte. [DB: 109]
Auch im Kapitel ‚Kein Wunder‘ [DB: 171] übt Oskar sarkastische Kritik, diesmal an
der Kirche (und erneut wirkt er mit der schon beschriebenen Geruchsymbolik): „Nein,
da roch ich ihn nur noch, den Katholizismus. Von Glaube konnte wohl kaum mehr die
Rede sein.“ [DB: 183] Diese Art sarkastisch-ironischer Äußerungen ist nie aus Oskars
Diskurs wegzudenken und erscheinen also auch nicht markiert, wie in Helden wie wir
schon der Fall ist. In Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel ist der Sarkasmus
durchgängig vertreten: Dadurch ereignen sich keine großen ‚Tonwechsel‘, die in Helden
wie wir zwischen den naiv-ironischen und sarkastisch-spottenden Passagen schon
97
entstehen. Deswegen möchte ich schlussfolgern, dass der Sarkasmus in Portnoy’s
Complaint und der Blechtrommel auf der Ebene der Figuren wirkt, und nicht auf der
Ebene der Autorinstanz wie in Helden wie wir.
98
3. Die Ideologiekritik als zweiter Pfeiler der Analyse
Nach der Analyse des Humors, in der auf die Humorformen Ironie, Groteske und
Sarkasmus fokussiert wurde, möchte ich jetzt dem zweiten Pfeiler der Brussigschen
Vergangenheitsbewältigung Aufmerksamkeit widmen: der Ideologiekritik. Wie wir aus
den vorigen Abschnitten gelernt haben, steht der Humor in Helden wie wir fast immer
der Kritik zu Diensten: Spott, geringschätzige Äußerungen, Verniedlichung, groteske
Übertreibungen, Verhöhnung – eine ganze Skala wird eingesetzt. In Helden wie wir
wird vor allem der Sarkasmus als inhaltlich-strukturierendes Element verwendet, um
das Volk, die Stasi, die Ideologie zu kritisieren; daher möchte ich hier mehrere
Textstellen, die als sarkastische Fremdkörper anmuten, gründlich analysieren. Neben
dem Sarkasmus werden selbstverständlich auch die anderen schon analysierten Formen
von Humor dabei wichtig sein, diesmal aber nicht primär in ihrem Auftreten, sondern in
ihrer Funktion behandelt werden: Die geübte Ideologiekritik zu ergründen, ist
Schwerpunkt dieser Analyse.
Wie in den Untersuchungen zur Freudschen Theorie, zur naiven Ironie und dem
damit zusammenhangenden Schelmengehalt, zur Körpergroteske und zum Sarkasmus,
möchte ich auch in diesem ideologischen Pfeiler die intertextuellen Bezüge zu
Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel berücksichtigen. Im Bereich der
Intertextualität ist Ideologiekritik auf den ersten Blick vielleicht ein nicht so
interessantes Thema: Dass wir in verschiedenen Werken ideologiekritische Positionen
vorfinden, sei es in verschiedenen ‚Härtegraden‘, bedeutet selbstverständlich nicht, dass
diese Werke nur dadurch intertextuelle Bezüge aufweisen. Außerdem liegen die
Ideologien, die in den drei Romanen kritisiert werden, weit auseinander. Helden wie wir
kritisiert die DDR-Ideologie, Portnoy’s Complaint die jüdische Religion und Die
Blechtrommel die ‚Ideologie‘ des Dritten Reiches. Trotzdem möchte ich eine gewisse
Intertextualität unterscheiden, bei der die angegriffenen Instanzen als Leitfaden dienen:
In den drei Romanen können wir die Ideologiekritik nämlich strukturieren und
‚kanalisieren‘, je nachdem wie die Ideologiekritik zum Ausdruck kommt, und vor
allem, gegen welche Instanzen sie gerichtet ist. Die verschiedenen Ideologien werden
auf zwei Weisen angegriffen: geradewegs und unmittelbar einerseits, auf Umwegen und
mittelbar andererseits.
99
Bei der unmittelbaren Ideologiekritik steht – logischerweise – die Ideologie
(oder das System) an sich in der Schlusslinie. Diese unmittelbare Kritik möchte ich im
ersten Teil dieser Analyse behandeln. Bei der Ideologiekritik im zweiten Teil werden
aber Menschen angegriffen, die als Vertreter des jeweiligen Systems funktionieren.
Diese Vertreter sind in den drei Romanen in zwei weiteren Kategorien unterzubringen.
Einerseits gibt es die Eltern, die als Vertreter für ihre Generation oder Ideologie
betrachtet werden können und in dieser Eigenschaft kritisiert werden. Andererseits gibt
es auch ‚das Volk‘ im Allgemeinen, das seine Ideologie vertritt: In Helden wie wir wird
das ostdeutsche Volk angegriffen, in Portnoy’s Complaint die jüdische Gemeinschaft,
und in der Blechtrommel das deutsche Kleinbürgertum.
Anhand verschiedener Textstellen, in denen diese Instanzen angegriffen werden
und die ideologiekritischen Positionen zu erkennen sind, möchte ich ein Bild der
Ideologiekritik in den drei Romanen entwerfen. Dabei wird, wie immer, Helden wie wir
der Ausgangspunkt sein. Ich beanspruche in meiner Analyse keine Vollständigkeit:
Nicht alle Textstellen aus den drei Romanen, die sich als ideologiekritisch und
sarkastisch erkennen lassen, werde ich behandeln können. Der ‚komparative‘ Aspekt,
der in den ‚Freudschen Überlegungen‘ und vor allem in der Humor-Analyse anwesend
war, wird hier auch einigermaßen in den Hintergrund gedrängt: Das Intertextuelle der
Ideologiekritik situiert sich in meiner Analyse vor allem in den angegriffenen Instanzen.
Deswegen werde ich die Romane in einzelnen Teilabschnitten unterbringen: Zuerst
wird Helden wie wir analysiert, danach Portnoy’s Complaint und drittens Die
Blechtrommel. Wenn aber in den zwei Prätexten auffällige Parallelen zu Helden wie wir
vorzufinden sind, wird ihnen selbstverständlich Aufmerksamkeit geschenkt.
Wenn in der Literatur eine Ideologie zur Diskussion gestellt wird, kann das auf
doppelte Art wirken, wie auch van Gorp et al.131 feststellen. Ein Text kann sowohl
ideologiekritisch sein, als – paradoxerweise – zugleich auch ideologiebestätigend. Wir
könnten sagen, dass Klaus in seiner Selbstdarstellung in der Episode seiner
Agententätigkeit, während deren er für DDR-Koryphäen wie Minister Mielke und vor
allem Erich Honecker schwärmte, die Ideologie bestätigt. In Portnoy’s Complaint ist die
Ideologiebestätigung schwerer vorzufinden, weil Alex seine Kritik am Judentum auf
eine schroffe, explizite Art äußert – ein großer Unterschied zu den anderen zwei
131
van Gorp et al.: Lexicon van literaire termen, S. 212.
100
Romanen: In Helden wie wir ist die Kritik semi-explizit, in der Blechtrommel ist sie vor
allem implizit. Trotzdem gibt es sicherlich auch ideologiebestätigende Elemente, z.B.
als Alex über seine Schulzeit auf der ‚Weequahic High School‘ redet: „We were Jews –
and we were superior!” [PC: 56] Auch kann die Tatsache, dass Alexander in Israel (der
Wiege des Judentums) eine radikale Vertreterin seiner Religion heiraten will, für eine
Ideologiebestätigung sprechen. Weiter in dieser Analyse werde ich die Kombination der
Ideologiekritik und Ideologiebestätigung in Portnoy’s Complaint – nach Barbara
Gottfried ein typisches Element der Werke Roths – eingehender behandeln:
“Jewishness contributes to what the Roth hero most respects and yet most loathes
in himself – that quality that makes him at one and the same time both superior
and inferior to what is defined as masculine in America.”132
Auch in der Blechtrommel können wir eine ideologiebestätigende Wirkung
unterscheiden: Oskars hellblaue Augen und künstlerische Tätigkeiten erinnern an Adolf
Hitlers Ideale (wie auch Krimmer bemerkt133), und genauso wie Klaus bei der Stasi
arbeiten geht, tritt auch Oskar den ‚alternativen Kriegsdienst‘ an, indem er in Bebras
Fronttheater tätig wird. Die Ideologiekritik ist in der Blechtrommel auch vorwiegend
implizit, wie schon in der Analyse des Sarkasmus kurz gestreift. Für Hans Magnus
Enzensberger fehlt in der Blechtrommel sogar jede Ideologiekritik:
Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine
andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen
(…). Ich kenne keine epische Darstellung des Hitlerregimes, die sich an Prägnanz
und Triftigkeit mit der vergleichen ließe, welche Grass, gleichsam nebenbei und
ohne das mindeste antifaschistische Aufheben zu machen, in der Blechtrommel
liefert (…). Seine Blindheit gegen alles Ideologische feit ihn vor einer
Versuchung, der so viele Schriftsteller erliegen, der nämlich, die Nazis zu
dämonisieren. Grass stellt sie in ihrer wahren Aura dar, die nichts Luziferisches
hat: in der Aura des Miefs.134
Es ist meine Absicht, gerade die Passagen zu behandeln, in denen der Mief am stärksten
‚riecht‘, weil in dieser trockenen Darstellung des pervertierten Regimes sicher auch
Ideologiekritik vorzufinden ist. Genauso wie in Helden wie wir und Portnoy’s
Complaint sollte nämlich vor allem die Art und Weise, wie die Erzähler ihre jeweilige
132
Barbara Gottfried, zitiert in Tenenbaum: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”, S.
36-37.
133
Krimmer: “Germans as Victims?”, S. 277.
134
Hans M. Enzensberger, zitiert in Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 61
101
Geschichte erzählen, berücksichtigt werden: Der Humor, sei es Ironie, Groteske oder
beißender Sarkasmus, vernichtet die Ideologiebestätigung und hebt die Kritik hervor.
3.1. Die pervertierte Ideologie in der Schlusslinie
3.1.1. In Helden wie wir: „Sozialismus braucht Perversion!“
Der Sozialismus wird bei Brussig oft direkt angegriffen, in sehr ernsthaften Passagen,
wie dieser, die erst fast versöhnlich klingt, sich dann aber in eine beißende Kritik
verwandelt:
Das System war nicht unmenschlich. Es war nicht so, dass es nichts mit uns zu
tun hatte. Es war menschlich, es verwickelte Menschen wie dich und mich, auf die
eine oder andere Weise. Und darüber müssen wir reden. Über dich und mich.
Über uns. Über das gegenseitige Kränken und Demütigen. Über das Abducken.
Über das menschlich Miese. […] Das System war nicht unmenschlich. Aber es
war menschenfeindlich. [HWW: 105]
Trotzdem wird ‚das System‘, der Sozialismus, auch oft indirekt verhöhnt, und zwar
durch die Verknüpfung mit dem Sexuellen und sogar mit der Perversion. Als Klaus acht
Jahre alt ist, lernt er im Ferienlager das ‚Lied vom kleinen Trompeter‘ kennen, ein
bekanntes DDR-Lied über Fritz Weineck, der sein Leben, nach der Legende, für Ernst
Thälmann135, von Klaus liebevoll ‚Teddy‘ genannt, geopfert hat. Der kleine Trompeter
ist also ein richtiger Held, eine Figur, die die Ideologie des Sozialismus verkörpert: Er
hat sich in den Dienst einer größeren Idee gestellt. In seiner Kindheit schwärmt Klaus
für diese Figur (was übrigens in der Verfilmung von Helden wie wir (1999) eine
komisch-ironische Szene ergibt), und in seiner Kinderlogik schlussfolgert er, er sei „der
wiedergeborene Kleine Trompeter“ [HWW: 101], weil er den kleinsten Schwanz, den
‚kleinsten Trompeter‘ hat. Auf diese Weise wird ein wichtiges DDR-Symbol auf eine
leicht obszöne Weise verniedlicht und lächerlich gemacht. Im sechsten Kapitel,
‚Trompeter, Trompeter‘ – der Titel lässt schon vermuten, dass neue Obszönitäten
aufwarten – können wir von einer richtigen Pervertierung der DDR reden. Klaus wird
ein „Hühnerficker“ [HWW: 239], um die Gedanken und Handlungen des Gegners
135
Vorsitzender der KPD in der Weimarer Republik. Thälmann wurde 1933 von der Gestapo verhaftet
und 1944 im KZ Buchenwald erschossen. Weitere Informationen über das Leben von Ernst Thälmann
findet man auf der Heimseite der Gedenkstätte Ernst Thälmann in Hamburg. 21. Mai 2009.
<http://www.thaelmann-gedenkstaette.de>.
102
besser zu durchschauen; sein sexueller Missbrauch eines Goldbroilers wird die erste
einer langen Reihe von Perversionen. Er fängt eine Perversionsforschung an, die er
unmittelbar mit dem Sozialismus und dessen Ideologie verbindet: „Sozialismus braucht
Perversion, Perversion braucht Sozialismus“ [HWW: 247]. Diese ‚dialektische‘ Einheit
– die Beziehung zum Marxismus leuchtet direkt ein – soll die letztendliche Rettung der
DDR bilden: Klaus behauptet, dass die zwei Gegenpole einander ständig wechselseitig
und günstig beeinflussen, und dass so die Synthese einer perfekten Sozialdemokratie zu
erreichen sei, in der nach kapitalistischem Modell „Perversionen für die Massen“
[HWW:
248]
verfügbar
werden.
Den
Zettelkasten,
in
dem
er
seine
Forschungsergebnisse unterbringt, nennt er ganz ironisch die „Kartei neuen Typus“
[HWW: 247] und schafft so einen Wortwitz, der in der Witzanalyse von Sigmund Freud
nicht schlecht anstehen würde: Die Absicht der „Partei neuen Typus“, einer Idee, die im
Leninismus-Marxismus136 entwickelt wurde, ist genau dieselbe wie die Absicht von
Klaus: eine Modellgesellschaft des Sozialismus bewirken, hier allerdings gegründet auf
die Diktatur des Proletariats und also nicht auf eine Diktatur von Perversionen. Auch
hier spüren wir die Autorinstanz, die eins der ältesten Grundprinzipien des Sozialismus
herabsetzt und als absurd kritisiert, indem sie es in die Merkmale der ‚Körpergroteske‘
einbettet und demzufolge karikiert. Auch Holger Briel erkennt die Kritik an der
Absurdität der DDR und bezeichnet den Roman als „eine fortschreitende, andauernde
Korrelation zwischen der Zunahme der sexuellen Perversionen Klaus‘ und den
Perversionen des DDR-Staates“137. Ironischerweise ist die Perversionsforschung von
Klaus als ein Rettungsmittel für den Sozialismus gemeint, nur erreicht und benutzt er
die endgültige Perversion, einen Riesenpimmel, gerade in dem Moment, in dem der
Sozialismus zusammenbricht. „Die Geschichte des Mauerfalls“ ist „die Geschichte
[s]eines Pinsels“ [HWW: 7]. Am Ende der Geschichte erwähnt Klaus übrigens auch die
Perversion des Westens, indem er, soeben über die Grenze gekommen, auf den
Vorschlag „Wenn du dir ein Paar Mark verdienen willst…“ [HWW: 320-321] eingeht
und als Pornodarsteller eingestellt wird. Während die Perversionen in der DDR Klaus‘
136
Kleines Politisches Wörterbuch. Zusammengestellt unter der Redaktion von Gerhard König et al.
Berlin: Dietz 1967.
137
Briel: “Humor im Angesicht der Absurdität“, S. 266.
103
persönliches Staatsgeheimnis waren, kann er sie nun im kapitalistischen Westen
unverhüllt in der Öffentlichkeit betreiben, und wird zudem dafür bezahlt.
3.1.2. In Portnoy’s Complaint: Perversion in zwei Richtungen
Auch in Portnoy’s Complaint sehen wir, wie Alexander auf eine direkte Art und Weise
an verschiedenen Systemen und Ideologien Kritik übt, sei es durchaus nicht so ernsthaft
wie Klaus in den sarkastischen Textstellen in Helden wie wir. Auch bleibt er, was diese
direkte Ideologiekritik anbetrifft, oft allgemein, kritisiert nicht spezifisch das Judentum,
sondern die Religion im Allgemeinen, mit marxistisch-kommunistischen Aussagen, die
fast bedeutungsleer geworden sind (auch weil Alex überhaupt nicht konsequent nach
diesen Prinzipien lebt): „Religion is the opiate of the people! And of believing that
makes me a fourteen-year-old Communist, then that’s what I am, and I’m proud of it!”
[PC: 74] und „Down with religion and human groveling! Up with socialism and the
dignity of man!“ [PC: 168] Seine Kritik am Judentum erscheint meines Erachtens vor
allem als mittelbare Kritik, d.h. als Kritik an seinen Eltern, am Rabbi Warshaw, und am
jüdischen Volk.
Trotzdem gibt es in Portnoy’s Complaint auch Kritik an Ideologien an sich, und
genauso wie in Helden wie wir bekommt sie ihre Wirkung durch die Verbindung mit
Sex und Perversion. Alex setzt das uralte Prinzip ‚koscher‘ außer Kraft, wobei
Esswaren nach strengen, sauberen jüdischen Vorschriften zubereitet werden, indem er
(sogar zwei Mal) eine Leber vergewaltigt [PC: 19 und 134] – gerade das Gericht, das
seine Eltern später einer ‚goyischen‘ Kollegin seines Vaters als die typische jüdische
kulinarische Spezialität („real jewish chopped liver“ [PC: 84]) servieren. Die Leber ist,
nachdem Alex sie pervertiert hat, alles andere als koscher. Auch verweigert Alexander,
sich den jüdischen moralischen Sitten anzupassen, d.h. ein jüdisches Mädchen zu
heiraten, die seinen Eltern Enkelkinder schenken könnte, indem er ständig sexuelle
Verhältnisse mit nicht-jüdischen Mädchen anknüpft. Diese Verhältnisse, vor allem die
mit Mary Jane, muten oft pervers an (vgl. dazu ‚Die groteske Sexualität von Klaus und
Alex‘), deswegen sind auch sie als ‚Perversion‘ zu bezeichnen. Alexander Portnoy
identifiziert sich bei der Ausführung dieser zweiten Perversion übrigens mit Figuren,
die für seine jüdische Ideologie ohne Bedeutung sind, dagegen aber im katholischen
104
Amerika eine wichtige Vorbildfunktion haben. So stellt er sich mit den Kolonisatoren
und Amerikagründern „Columbus, Captain Smith, Governor Winthrop, General
Washington“ [PC: 235] gleich, eifert diesen großen Vorgängern nach. Auch Klaus
nimmt sich ähnliche Figuren zum Vorbild, die im kapitalistischen Westen wichtig sind,
nämlich die technologischen (kapitalistischen) ‚Kolonisatoren‘ Henry Ford und Steve
Jobbs [HWW: 248]. Solche Figuren symbolisieren all das, wofür Klaus‘ und Alex‘
eigene Ideologie (das DDR-Regime bzw. die jüdische Religion) nicht steht, was schon
eine implizite Kritik an diesen Ideologien beinhaltet.
In der Perversion von Alex‘ sexuellen Verhältnissen mit nicht-jüdischen Mädchen
steckt aber auch eine Bestätigung seiner jüdischen Ideologie, wodurch die dem
Judentum entgegengesetzten Ideologie angegriffen wird: die Ideologie des katholischen,
„blond and blue-eyed“ [PC: 39] Amerika. Obwohl Alex während der Kindheit für
Amerika schwärmt – „Rooting my little Jewish heart out for our American
Democracy!“ [PC: 236] – verniedlicht er es durch eine pervers-sexuelle Metaphorik:
Well, we won, […] and now I want what’s coming to me. My G.I. bill – real
American ass! The cunt in country-‘tis-of-thee! I pledge alliance to the twat of the
United States of America […]! [PC: 236]
Er stellt Amerika fast wie eine willige Hure dar, denn “America is a shikse nestling
under your arm whispering love love love love love!” [PC: 146]. Seine Verhältnisse mit
den ‚shiksen‘ Mädchen sind durchaus respektlos, und indem er diese Mädchen ‚fickt‘,
um es mit seiner Idiomatik zu umschreiben, ‚fickt‘ und missbraucht er auch Amerika:
What I’m saying, Doctor, is that I don’t seem to stick my dick up these girls, as
much as I stick it up their backgrounds – as though through fucking I will
discover America. Conquer America – maybe that’s more like it. [PC: 235]
Auch hier wird die Kolonisatorenmetaphorik wieder eingesetzt: Er will sich Amerika
nicht unterwerfen, er möchte, dass Amerika sich ihm unterwirft. Dadurch, dass die
Ideologie des katholischen Amerika in Portnoy’s Complaint oft mit Antisemitismus
verknüpft wird („„This [swastika] surprises you? Living surrounded on four sides by
goyim […]?““ fragt Uncle Hymie zynisch [PC: 52]), können wir sagen, dass Alexanders
respektlose
sexuelle
Verhältnisse
mit
‚shiksen‘
Mädchen
gerade
eine
Ideologiebestätigung des Judentums beinhalten. Er nutzt sie aus aus Vergeltungsdrang
für den Antisemitismus, dem die Juden in Amerika ausgesetzt sind, für die
Ungleichheit, wie in diesem Zitat beschrieben:
105
[…] so don’t tell me we’re just as good as anybody else, don’t tell me we’re
Americans just like they are. No, no, these blond-haired Christians are the
legitimate residents and owners of this place, and they can pump any song they
want into the streets and no one is going to stop them either. [PC: 146]
Diese Ideologiebestätigung ist von Alexander, angesichts seiner vielen Versuche, die
Religion seiner Eltern loszuwerden, nicht explizite beabsichtigt, im Gegensatz zu Klaus,
der mit seinen Perversionen schon eine Bestätigung des Sozialismus in Gedanken hat.
Genauso wie Klaus eine Faszination für Frauen aus Westdeutschland, für „QuelleFrauen“ [HWW: 173] hat, ist Alex nur von nicht-jüdischen Frauen fasziniert. Beide
‚missbrauchen‘ diese Frauen, um ihre eigene Ideologie zu bestätigen: Klaus schaltet die
IM Katalog, die ‚Quelle-Frau‘ pur sang, bewusst in seine Perversionen ein, die den
Sozialismus retten sollten; Alex behandelt seine nicht-jüdischen Freundinnen ohne
Respekt, als Rache wegen der von den Juden erfahrenen amerikanischen
Respektlosigkeit gegen sie.
3.1.3. In der Blechtrommel: die perverse Wirklichkeit
Wie ich schon anhand des Zitats von Hans M. Enzensberger illustriert habe, ist in der
Blechtrommel die direkte Ideologiekritik weit schwerer vorzufinden als in Helden wie
wir und Portnoy’s Complaint, vor allem was explizite Kritik am Nationalsozialismus
betrifft. In dieser Hinsicht wird die Analyse der ‚mittelbaren‘ Ideologiekritik (an Alfred
Matzerath, Jan Bronski und dem Kleinbürgertum) aufschlussreicher sein. Auch
Neuhaus hat bemerkt, dass in der Blechtrommel eher Kritik an Individuen vorzufinden
ist, als an Ideologien oder ganzen Bevölkerungsgruppen an sich: Grass „dividiert […]
die ‚Kollektivschuld‘ durch die konkreten Individuen und stellt jedem seinen Anteil
zu.“138
Auch eine indirekte Kritik, bei der wie in den anderen zwei Romanen die
Ideologie mit einer sexuellen, perversen Komponente verknüpft wird, scheint auf den
ersten Blick in der Blechtrommel nicht vertreten zu sein. Trotzdem gibt es schon
Perversionen in Oskars Geschichte, aber er ist nicht wirklich deren Urheber, wie Klaus
und Alexander das schon sind. Oskar registriert und erzählt nur die Perversionen, deren
Zeuge er ist. Das Nazi-Regime – und der Krieg im Allgemeinen – sind pervertierte
138
Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 62.
106
Systeme an sich, perverser noch als das DDR-System, wie auch Brussig es in einem
Interview umschrieb: „Je kunt over de DDR geen beklemmend boek schrijven als Die
Blechtrommel, omdat het Derde Rijk een heel ander soort staatsperversie
belichaamde.“139 Das DDR-System, erklärt Brussig, wurde nach der Wende oft ein
‚pervertierter Sozialismus‘ genannt, also schien es ihm gepasst, seinen Held zum
perversen Sozialisten zu machen. Klaus‘ Perversionen seien aber kindlich, harmlos und
vor allem komisch, und wenn Brussig ‚diese Geschichte im Dritten Reich situiert hätte,
hätte das nicht funktioniert‘. Die Perversionen des Dritten Reiches seien nämlich
grundverschieden: Todestrieb, Verstümmelungslust, Zerstörung. Diese Perversionen
gäbe es in der DDR nicht: „Die DDR war schon totalitär, hat aber keine Millionen
Menschen in den Tod gejagt oder Eroberungskriege geführt [meine Übersetzung, mvl].“
Auch Klaus behandelt in Helden wie wir diesen Unterschied zwischen dem Nazismus
und dem Regime der DDR, nachdem er einen widersetzlichen U-Bahn-Fahrer laufen
lässt und sich darüber Gedanken macht, dass so eine Freilassung während der NS-Zeit
wohl nie möglich gewesen wäre:
Wieso stellte ich mich mit Nazis auf eine Stufe? In einem Parteiverfahren würde
ich antworten, daß dieser Satz in erzieherischer Absicht ausgesprochen wurde, um
den Festgenommenen durch die Erfahrung, nicht erschossen zu werden, den
grundsätzlichen Unterschied zwischen der Nazidiktatur und unserem
sozialistischen Staat zu verdeutlichen und dadurch seine Dankbarkeit und sein
Zugehörigkeitgefühl gegenüber letzterem zu stärken. [HWW: 280]
Während Klaus und Raymund den Fahrer niemals erschossen hätten, waren solche
Hinrichtungen in Nazi-Deutschland keine Ausnahme. Wenn in der Blechtrommel
perverse Situationen geschildert werden, schildert Grass, nach dem mimetischen
Vorbild seines „Lehrers Döblin“140 also durchaus die Wirklichkeit, die schon
verschiedene Perversionen enthält. Brussig verzerrt die Geschichte, macht sie zu einer
perversen Körpergroteske, während Grass eine ohnehin geschichtlich verzerrte Situation
realitätstreu darstellt. So schildert Oskar zum Beispiel das perverse Benehmen der
Nationalsozialisten während der ‚Reichskristallnacht‘:
139
Filip Huysegems: „Autoropa. Thomas Brussig, of souvenirs uit het gesplitste Duitsland”. In: De
Standaard (21.02.2002). <http://www.standaard.be/Artikel/Detail.aspx?artikelId=DSL21022002_014> :
„Man kann über die DDR kein beklemmendes Buch wie Die Blechtrommel schreiben, weil das Dritte
Reich eine völlig andere Staatsperversion verkörperte [meine Übersetzung, mvl].“
140
Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 57.
107
Ich fand sie noch beim Spiel, als ich gleichfalls durch das Schaufenster in den
Laden trat. Einige hatten sich die Hosen heruntergerissen, hatten braune Würste,
in denen noch halbverdaute Erbsen zu erkennen waren, auf Segelschiffe, geigende
Affen und meine Trommeln gedrückt. [DB: 260]
Trotzdem wird auch in der Blechtrommel der Krieg zusätzlich ‚pervertiert‘, und
zwar genauso wie in Helden wie wir und Portnoy’s Complaint, durch die Verbindung
mit einer sexuellen Komponente. Oskar vergleicht nämlich dasjenige, was er mit Frau
Greff macht - er ‚missbraucht‘ sie, als Rache wegen des Verhältnisses zwischen Maria
und Vater Matzerath – mit der Kriegführung der deutschen Armee in Russland:
Man mag mir nachsehen, dass ich den Schlammerfolgen der Heeresgruppe Mitte
meine Erfolge im unwegsamen und gleichfalls recht schlammigen Gelände der
Frau Lina Greff gegenüberstelle. Ähnlich wie sie dort, kurz vor Moskau, Panzer
und LKWs festfuhren, fuhr ich mich fest; zwar drehten sich dort noch die Rädern,
wühlten den Schlamm auf, zwar gab auch ich nicht nach – es gelang mir
wortwörtlich im Greffschen Schlamm Schaum zu schlagen –, aber von
Geländegewinn konnte weder kurz vor Moskau noch im Schlafzimmer der
Greffschen Wohnung gesprochen werden. [DB: 399]
Oskar nutzt Lina Greff aus, sie ist für ihn nur ein Studienobjekt, an dem er seine
sexuellen Fertigkeiten üben kann [DB: 401]. Durch den Vergleich bekommt auch die
Kriegsführung die Konnotation einer Vergewaltigung, einer Fingerübung in
Grausamkeit. Später, als Danzig von der russischen Armee erobert wird, vergewaltigen
die Sowjetsoldaten übrigens gerade die Witwe Greff [DB: 516], fast als eine Art
Wiedervergeltung.
3.2. Die Menschen in der Schusslinie
Wie schon erwähnt, wird nicht nur die Ideologie an sich angegriffen, sondern stehen in
den drei Werken auch Menschen in der Schusslinie, die als Vertreter ihrer jeweiligen
Ideologie, Religion oder Generation betrachtet werden können. In Helden wie wir,
Portnoy’s Complaint und der Blechtrommel erfüllen die Eltern dabei eine wichtige
Rolle, die ich im ersten Abschnitt dieser Analyse untersuchen werde: So vertritt Lucie
Uhltzscht die Generation der ‚Trümmerfrauen‘; Eberhard Uhltzscht (und auch die StasiAgenten Wunderlich, Grabs und Eule, mit denen Klaus zusammenarbeitet) vertreten die
Stasi. In Portnoy’s Complaint vertreten sowohl Sophie Ginsky als auch Jack Portnoy
das Judentum, und vor allem dessen negative Seiten: den ewigen Schuldkomplex, die
108
ständige Kontrolle, die Hypokrisie, das Ressentiment gegenüber Amerika. In der
Blechtrommel möchte ich die Mutterfiguren (Agnes und Maria) außer Betracht lassen,
weil sie meiner Meinung nach in der Ideologiekritik keine ausgeprägte Vertreter-Rolle
erfüllen, vor allem gemessen an den zwei Vätern Alfred Matzerath und Jan Bronski:
Beide sind Vertreter des Krieges. Außerdem vertritt Matzerath spezifisch den
Nationalsozialismus, die ‚erste deutsche Diktatur‘.
Im zweiten Teilabschnitt wird dann ‚das Volk‘ in den Mittelpunkt gerückt:
Klaus kritisiert oft die Feigheit des ostdeutschen Volkes; in Portnoy’s Complaint wird
die ‚Sage der leidenden Juden‘ kritisiert, sowohl von Alexander, als auch von einer
zweiten Figur, Naomi. Schließlich registriert (und kritisiert, sei es wieder implizite)
Oskar die Unleidlichkeiten des Kleinbürgertums, in dem das Hitlerregime einen
Nährboden für blinde Mitläufer findet.
3.2.1. Die Kritik an der Elterngeneration
3.2.1.1.
In Helden wie wir: ‚Stasi-Ratten‘ und Trümmerfrauen
Im Abschnitt der ‚Freudschen Überlegungen‘ habe ich mich schon ziemlich ausführlich
mit dem Mutter- und Vaterbild von Klaus beschäftigt. Jetzt aber möchte ich Lucie und
Eberhard Uhltzscht als Stellvertreter ihrer ‚Generation‘ betrachten. Im Hinblick auf
Lucie Uhltzscht werde ich den Begriff Generation ganz konkret auffassen, weil Klaus
diese
Generation
–
im
Sinne
von
Altersgruppe
–
und
vor
allem
den
Generationsunterschied öfters explizit erwähnt. Sie vertritt nämlich die etwas
mitleiderregende Generation der sogenannten ‚Trümmerfrauen‘. Im Hinblick auf
Eberhard Uhltzscht als Stellvertreter einer ‚Generation‘ liegen die Dinge allerdings
anders: Er repräsentiert in Helden wie wir keine spezifische Altersgruppe, sondern den
Berufsstand der Stasi-Agenten (wie auch Wunderlich, Eule und Grabs). Ich möchte den
Begriff ‚Generation‘ hier also ideologisch auslegen. Der Begriff ‚Vatergeneration‘ als
Äquivalent der Stasi-Generation – die im strengen Sinne des Wortes keine Generation
ist – sei deswegen in Anführungszeichen zu lesen.
Klaus‘ Vater redet nicht mit seinem Sohn, er führt ein Gespräch, als wäre es ein
Verhör, er bastelt allerhand spitzelhafte Konstruktionen zusammen, deren Bedeutung
Klaus bloß erraten kann, nicht einmal auf seinem Sterbebett denkt er daran zu zeigen,
109
welche Schmerzen er empfindet, er bleibt sein ganzes Leben verschlossen und
hartherzig. Wir können ihn – im Gegensatz zu seinen indirekten Kollegen Wunderlich
und Co. – als die Verkörperung der ‚echten‘, ‚gefährlichen‘ Stasi betrachten. Ein Hauch
von Rätselhaftigkeit hängt um ihn, bis nach seinem Tod. Klaus kritisiert diese
Rätselhaftigkeit der Stasi ganz konkret – alle wissen dort, wo sie sind, außer Klaus.
Neben der Verhöhnung der Inkompetenz der Stasi, die ich weiter noch kurz behandle,
lesen wir vor allem eine Kritik daran, dass nach der Wende keiner zugeben wollte, er sei
Stasi-Mitarbeiter oder -Agent gewesen:
„Guten Tag, Herr Schulze, ich bin der Herr Mielke vom Ministerium für
Staatssicherheit, für das Sie, wenn ich Ihre eigenhändig verfasste
Verpflichtungserklärung richtig verstanden habe, als Informeller Mitarbeiter
fungieren. Und eh ich’s vergesse, möchte ich Ihnen auch heute wieder zu Beginn
unserer Unterredung meinen Klappfix vom Ministerium für Staatssicherheit, der
mich als Mitarbeiter der Staatssicherheit ausweist, zeigen, damit Sie auch bei
ihrem fünfundzwanzigsten Zusammentreffen mit der Staatssicherheit der
Gewissheit haben können, mit einem Mitarbeiter der Staatssicherheit zu sprechen
und nicht etwa einem der Polizei, der Stadtbezirksverordnetenversammlung oder
der Staatlichen Versicherung, um nur die beliebtesten Verwechslungen zu nennen,
denen Treffen mit Staatssicherheitsleuten anheimfallen.“ Nein, so lief das nicht.
[HWW: 114]
Als Eberhard Uhltzscht stirbt, ist das für Klaus eine große Erleichterung: Er kann
endlich seinen Kampf, um die Gunst seines Vaters zu erwerben, einstellen. Den
pazifistischen Leitspruch ‚Nie wieder Krieg‘, der seit 1924 vor allem durch die
Lithografie von Käthe Kollwitz bekannt wurde, verwandelt er in „Nie wieder Vater“
[HWW: 267]: Es scheint, als ob ab jetzt nicht nur Eberhard, sondern auch Klaus ‚in
Frieden ruhen‘ könnte. Gerade nachdem Klaus über den Tod seines Vaters erzählt hat,
fährt er fort mit der Erzählung über sein Nahtoderlebnis, das er überlebt: Das Leben von
Klaus wird hier indirekt mit dem Tod seines Vaters verknüpft. Schon mehrmals habe
ich erwähnt, dass in Helden wie wir immer wieder die Inkompetenz der Stasi verlacht
wird, was vor allen Major Harald Wunderlich, Oberleutnant Martin Eulert und
Hauptmann Gerd Grabs sich zum ‛Verdienst’ anrechnen können. Insbesondere
Wunderlich bekommt eine Art Vaterrolle, er ist „eine Art Mentor oder Zen-Meister“
[HWW: 150], und der erste, der Klaus sagt, er sei tatsächlich bei der Stasi. Bald wird es
ihm aber deutlich, dass diese Männer keine großen Lichter sind. Das Bild der
allwissenden Stasi wird hier vernichtet, sie wissen im Gegenteil sehr wenig:
110
„Das war bestimmt wieder dein OV Induvidialist.“ Dann raunte er mir zu: „Das
ist ein Deckname, und OV heißt Optimaler Vorwand.“ „Oppositioneller Vorfall“,
verbesserte Grabs. „Operativer Vorgang“, sagte Wunderlich. [HWW: 162, meine
Hervorhebung, mvl]
„Also befragen wir einige Bürger des Wohngebietes“, sagte Wunderlich. „A –
Polizisten, B – Lehrer, C – Arbeitsveteranen, vertrauensvolle Genossen und
unsere IMs.“ „Interessante Mitläufer“, raunte mir Eule zu. „Inoffizielle
Mitglieder“, verbesserte Grabs. „Oder Informative Mitarbeiter?“ Er war sich nicht
sicher. [HWW: 163]
Die Inkompetenz dieser Stasi-Agenten steht übrigens im Kontrast zum Talent von
Klaus: Als Sohn seines Vaters ist er wie geschaffen für die Agententätigkeit. Klaus
macht schon als Kind genau dasjenige, was zur Hauptbeschäftigung der Stasi gehört: Er
führt Protokoll über seinen „heimlichen Feind“ [HWW: 79]. Klaus redet auch in der
typischen Stasi-Idiomatik, der „neuen Sprache“ [HWW: 180], ohne dass er sie von
jemandem gelernt hätte. Hier schildert Brussig die Tätigkeiten der Stasi als ein
Kinderspiel: Die Tatsache, dass genau der Prototyp eines Schafskopfs, Klaus Uhltzscht,
das Talent zum Denken hat wie ein Spitzen-Stasi („Jede leere Seite ist ein potentielles
Flugblatt!“ [HWW: 166]), setzt die Staatssicherheit und ihre Agenten herab. Wie auch
Tanja Nause bemerkt: „[Sie] sind natürlich absolute Spottbilder von Wächtern einer
Gesellschaft, die ihren Bürgern grundsätzlich misstraute.“141
Die Art und Weise, wie Klaus über seine Mutter und ihre Generation spricht, ist
völlig verschieden von der, wie er über die Vatergeneration denkt und redet. Während
Klaus den ‚Vätern‘ gegenüber eher einen Zorn aufweist, was sich in abfälligem Spott
und ätzender Kritik äußert, bemitleidet er die Muttergeneration, deren wichtigste
Vertreterinnen selbstverständlich Lucie Uhltzscht, aber auch Jutta Müller, Christa Wolf
und Dagmar Frederic sind.142
Mr. Kitzelstein, eigentlich wäre es zum Lachen, wenn es nicht so scheißtragisch
wäre – aber diese Mütter und Eislauftrainerinnen hängen wirklich am
Sozialismus. Sie sind aus den Trümmern der tausend Jahre gekrochen. […] Sie
hatten weiß Gott keine vorzeigbare Vergangenheit und obendrein eine freudlose
Gegenwart. Aber die Zukunft! Die muss es bringen! Und wenn sie abends am
Lagerfeuer saßen, […] [soffen alle] sich selig an einer großen Pulle, auf deren
Etikett Sozialismus stand. Das hielt warm. Und sie schwärmen noch heute vom
wahren Sozialismus – aber sie meinen damit eigentlich ihre Lagerfeuergefühle.
141
Nause: Inszenierung von Naivität, S. 156.
Auszunehmen davon ist aber Christa Wolf, der Klaus eine scharfkritische Sonderbehandlung widmet,
die schon im Abschnitt der ‚Freudschen Überlegungen‘ behandelt wurde.
142
111
Ich meine das nicht überheblich. Es wäre mich genauso gegangen. [HWW: 287288]
Man spürt im Zitat eine Tragik, eine mitleidige, aber zugleich resignierte Haltung
gegenüber der Muttergeneration, der ‚Aufbaugeneration‘. Die Lagerfeuergefühle, von
denen hier die Rede ist, bieten eine alternative Umschreibung der Ostalgie, in der man
die DDR auf ein Piedestal stellt. Die Ostalgie wird hier nicht als Heimweh nach dem
‚System des Sozialismus‘ bewertet, sondern als Heimweh nach dem Gefühl von
Zusammengehörigkeit und scheinbarer Sicherheit in einer ziemlich verschlossenen
Gesellschaft, Heimweh nach dem Sozialismus der Anfangsjahre. Dieses sentimentale
Lagerfeuergefühl, so wird impliziert, gibt es heute in der inzwischen vereinten
kapitalistischen Welt nicht mehr. Der Kontrast mit dem vorangehenden Absatz, in dem
Klaus Jutta Müller und Christa Wolf, zwei ganz unterschiedliche Ikonen der DDR,
miteinander vertauscht, kann nicht größer sein: Hier gibt es plötzlich einen
versöhnlichen und viel weniger scharfen Blick auf die Elterngeneration und ihren
Lebensbereich. Diese Frauen kamen aus den unruhigen Zeiten des Krieges, lebten in
einer Zeit, in der man voll dabei war, die Trümmer der Geschichte zu beseitigen. ‚Sie
wissen es nicht anders‘, als dass das System des Sozialismus ein Gefühl der
Geborgenheit gibt:
Und wenn die Winde des Kalten Krieges heulen, dann müssen wir enger
zusammenstehen und uns aneinanderkuscheln und auf Lenin vertrauen, der größer
ist als wir und weiter geschaut hat. [HWW: 102]
Lucie Uhltzscht lässt Klaus diesen Generationsunterschied zwischen ihm und diesen
‚Trümmerfrauen‘ am stärksten einsehen, als sie einmal die Worte äußert, die den Titel
des Buches bilden: „Wir haben uns für die Menschen aufgeopfert. Für ganz normale
Menschen. Deshalb sind wir Helden.“ [HWW: 299] Das ‚wir‘, das sie benutzt, schließt
nicht Klaus und seine Generation mit ein: er kann ‚ihrem‘ System und ‚ihrer‘ Ideologie
nicht (länger) blind vertrauen, denn er habe „nie in aller Unschuld mitgemacht, mit ihrer
naiven Begeisterung der Aufbaujahre“ [HWW: 299]. An dieser Stelle wird auch der
Begriff ‚Held‘ neudefiniert: Ein Held ist hier nicht jemand, der ohne Angst einer
gefährlichen oder schwierigen Situation die Stirn bietet, sondern einer, der sich ohne
Protest durch das System unterdrücken lässt, weil er einfach nicht klüger ist, und der
später fast als Entschuldigung für sein Unterlassen der Vergangenheitsaufarbeitung
sagt, „es kann doch nicht alles schlecht gewesen sein“ [HWW: 26]. Klaus, der
112
‚Antityp‘, richtet sich schließlich – bildlich und wörtlich – gegen diese Unfreiheit auf
und wird in diesem Sinne zum Antihelden seiner Geschichte.
3.2.1.2.
In Portnoy’s Complaint: Ressentiment und Hypokrisie der Juden
Einer der wichtigsten Gründe, weswegen Alexander Portnoy auf der Couch des
Psychiaters Spielvogel gelandet ist, ist seine Frustration über die Art und Weise, wie
seine Eltern ihn im Geiste des Judentums erzogen haben: „Oh, and the milchiks and
flaishiks besides, all those meshuggeneh rules and regulations on top of their own
private crazyness!“ [PC: 34] Alex hat den aus dieser Erziehung folgenden ewigen
jüdischen Schuldkomplex, den Jack und Sophie Portnoy verkörpern, wider Willen auch
inkorporiert: “These two are the outstanding producers and packagers of guilt in our
time!” [PC: 36] Im Gespräch mit Dr. Spielvogel versucht Alex seine Frustrationen, die
seine Eltern ständig herausfordern, loszuwerden, aber gerät dabei oft mit diesem
Schuldkomplex in Konflikt. Er schämt sich wegen seiner Erziehung, aber zugleich fühlt
er auch Scham, wenn er gegen seine Eltern und ihre Ideologie vorgeht: “Shame and
shame and shame and shame – every place I turn something else to be ashamed of.”
[PC: 50] Jack und Sophie werde ich als Stellvertreter der jüdischen Religion, oder der
jüdischen Lebensauffassung im Allgemeinen, betrachten. Indem Alex ständig gegen sie
‚wettert‘, greift er auch dasjenige an, was sie symbolisieren:
In Portnoys Beschwerden werden die Ressentiments eines jüdisch-amerikanischen
Einwanderermilieus zur Mitte des 20. Jahrhunderts kritisiert sowie eine bestimmte
jüdische Selbstauffassung überhaupt. Dabei wird die Kritik hier dem
Protagonisten direkt in den Mund gelegt […].143
Indem er gegen seine Eltern tobt und rast, attackiert er gleich immer die jüdische
Religion und die jüdische Lebensauffassung, die Ursache daran, dass seine Eltern so
sind, wie sie sind. Mit den folgenden Worten versucht er nicht nur seinen Eltern,
sondern auch dem ideologischen (jüdischen) System, in dem sie ihm erzogen haben,
den ‚Stinkefinger‘ zu zeigen:
The macabre is very funny on the stage – but not to live it, thank you! So just tell
me how, and I’ll do it! Just tell me what, and I’ll say it right to their faces! Scat,
Sophie! Fuck off, Jack! Go away from me already! [PC: 112]
143
Gebauer: „Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten“, S. 232-233.
113
Jack Portnoy möchte ich als Vertreter dieses Ressentiments und des ganzen jüdischen
Volkes (weil er sich selbst mit diesem Volk ausdrücklich identifiziert) betrachten.
Sophie Portnoy vertritt eher die jüdische Selbstauffassung, die von Alex als scheinheilig
entlarvt wird.
In den Erörterungen zum Ödipuskomplex wurde schon die schwache Rolle, in
die Jack Portnoy sich zwingen lässt, behandelt. Jack tritt als Vater fast nie autoritär auf
(wie das bei Eberhard Uhltzscht schon der Fall ist), abgesehen von einer Szene, in der
sein bluteigener Sohn, der seine Religion die kalte Schulter zeigt, ihm in der jüdischen
Seele weh tut: Als Alex verweigert, in einer anderen Hose als seinen Jeans zur
Synagoge zu gehen, sieht sein Vater darin „a mockery of [him]self, [his] family, and
[his] religion“ [PC: 60]. Es entsteht eine heftige Diskussion, in der Jack Portnoy zum
Befürworter
und
Stellvertreter
des
ganzen
Judentums
wird
–
schon
die
Nebeneinanderstellung von ‚Familie‘ und ‚Religion‘ deutet darauf hin. Er verteidigt das
jüdische Volk schon, aber betont dabei nicht wirklich seine Größe und die Kraft seines
Glaubens: Die jüdische Religion ist nicht ‚gut‘, sie ist ‚gut genug‘, geprägt von
Drangsalen und Herzeleid, genauso wie der geschlagene Jack am Ende der Diskussion
magenkrank und mit gebrochenem Herzen am Tisch sitzt:
„[…] What do you know about the history of the Jewish people, that you have the
right to call their religion, that’s been good enough for people a lot smarter than
you and a lot older than you for two thousand years – that you can call all that
suffering and heartache a lie!” [PC: 61]
Alex hat ebenso wenig Respekt vor seinem Vater wie vor dem jüdischen Volk, mit dem
Jack sich gleichstellt: „”And what about the Jewish people?” […] „Does he respect
them? Just as much as he respects me, just about as much…”” [PC: 62] Indem Alex
gegen seinen Vater revoltiert, revoltiert er zugleich gegen das ganze Judenvolk, ihre
Geschichte, ihre Religion. Die ‚Sage der leidenden Juden‘ ist fast das Äquivalent der
Lebensgeschichte von Jack Portnoy, der leidet, weil er ständig konstipiert ist – oder
konstipiert ist, weil er ständig leidet: „[H]is kishkas were gripped by the iron hand of
outrage and frustration.“ [PC: 5]
In diesem Zitat erwähnt Alex die Frustrationen, die Ressentiments seines Vaters,
die Jack auch zum Vertreter der nach Amerika immigrierten Juden zweiter Generation
machen. Diese Generation steht im Dienst amerikanischer, meistens katholischer
Firmen, für die sie zugleich eine große Missachtung fühlt, wegen der von ihr erfahrenen
114
Ausbeutung, Ungleichheit und Respektlosigkeit. Obwohl Jack Portnoy einer der
tüchtigsten Angestellten des Versicherungsunternehmens Boston and Northeastern Life,
„The Most Benevolent Financial Institution in America“ [PC: 6], ist – “[he] really
works his balls off” [PC: 75] –, wird er nicht nur von seinen potentiellen Kunden
verhöhnt [PC: 7], sondern begegnen ihm seine Chefs auch nicht mit dem nötigen
Respekt: „where they had him they kept him“ [PC: 7]. Aussicht auf eine Beförderung
wird ihm nie gegeben (nur wertlose Zertifikate und Medaillen), aber trotzdem bleibt
Jack dem Unternehmen treu. Diese Selbstentäußerung erzeugt das Ressentiment:
[…] my father made it sound to me like Roosevelt in the White House in
Washington… and all the while how he hated their guts, […] keeping him, you
see, from being a hero in the eyes of his wife and children. [PC: 8]
Das Ungerechtigkeitsgefühl, das bei Alex‘ Vater und in seiner Generation überhaupt
lebt, mündet in einen Hass gegen die katholischen „blond and blue-eyed of his
generation“ [PC: 38], die die Direktionszimmer der amerikanischen Betriebe bevölkern.
Alex kritisiert diese tatenlose, schwache Haltung seines Vaters, ist sich seiner
Überlegenheit gegenüber ihm ganz bewusst – er steigt z.B. schon in eine höhere
Position auf –, aber trotzdem hat auch Alex dieses Ungerechtigkeitsgefühl inkorporiert:
Yes, what made me so irate was precisely my belief that I was discriminated
against. My father couldn’t rise at Boston & Northeastern for the very same
reason that Sally Maulsby wouldn’t deign to go down on me. [PC: 238]
Indem er seinen blonden und blauäugigen Freundinnen ohne Respekt begegnet, rächt er
sich für das Unrecht, das seinem Vater und auch ihm zugefügt wird. Der Grund dafür,
dass er auf sexuelle Art Rache übt, hat m.E. mit seiner ersten echten sexuellen
Erfahrung zu tun, in der Sex gleich mit Rassismus verknüpft wird: Während Alex im
Wohnzimmer von Rita ‚Bubbles‘ Girardi überall seinen Samen herumkleckert,
beschimpft sie ihn zur seinen großen Empörung mit den Worten „son of a bitch kike!“
[PC: 180]:
It’s just as my parents have warned me – comes the first disagreement, no matter
how small, and the only thing a shikse knows to call you is a dirty Jew. What an
awful discovery – my parents who are always wrong… are right! [PC: 180]
Während wir meistens Alex‘ Abneigung, Mitleid und nachtragende Haltung gegenüber
seinem Vater spüren, wird hier aber deutlich, wie er selbst auch die Ideologie, die er so
verabscheut, bestätigt – wie auch Klaus Uhltzscht seinen Vater hasst und im Kindesalter
115
die Stasi zum Feind macht, aber nachher der Stasi beitritt und zum Prototyp eines
gekonnten Agenten wird.
Wie ihr Ehemann vertritt auch Alexanders Mutter Sophie ihre jüdische Religion,
genauso, aber während er vor allem die Minderwertigkeitsgefühle und das jüdische
Ressentiment vertritt, steht Sophie als Symbol für die jüdischen Überlegenheitsgefühle
und die daraus resultierende blasierte Hypokrisie. „Die ‚jüdische Super-Mama‘ wird bei
Brussig von der tüchtigen DDR-Mutti abgelöst“144: Wie Lucie Uhltzscht ist Sophie
Portnoy eine allgegenwärtige, allwissende und mächtige Kontrollinstanz im Leben ihres
Sohnes, die anfänglich noch dafür bewundert wird, später aber ein ständiger Ärger ist –
„A Jewish man with his parents alive is half the time a helpless infant!” [PC: 111] Die
beiden Mütter teilen die übertriebene Besorgtheit, mit der sie ihrem Sohn einen riesigen
Schuldkomplex aufgehalst haben. Klaus aber begegnet seiner Mutter, Stellvertreterin
der Trümmerfrauen, mit Mitleid, während Alex zur Mutter eine viel radikalere Haltung
einnimmt, in der von Mitleid nicht, von beißendem Sarkasmus umso mehr die Rede ist:
What are they, after all, these Jewish women who raised us up as children? […]
Only in America, Rabbi Golden, do these peasants, our mothers, get their hair
dyed platinum at the age of sixty, and walk up and down Collins Avenue in
Florida in pedalpushers and mink stoles – and with opinions on every subject
under the sun. It isn’t their fault they were given a gift like speech – look, if cows
could talk, they would say things just as idiotic. Yes, yes, maybe that’s the
solution then: think of them like cows, who have been given the twin miracles of
speech and mah-jongg. [PC: 98]
Der Unterschied zur Textstelle, in der Klaus über die Generation seiner Mutter spricht
[HWW: 287-288], ist groß: Während Klaus für die naive, ‚dumme‘ Haltung der Mutter,
die einfach nicht besser weiß, Verständnis zeigt, kritisiert Alex die Dummheit seiner
Mutter (und ihrer Artgenossen) indem er sie schroff mit Kühen vergleicht. Warum seine
Mutter aber so ist, wie sie ist, erklärt Alex nicht, was er schon macht bei seinem Vater
(vgl. oben). In der kritischen Haltung gegenüber den Eltern ist also ein
produktionsästhetischer Spiegel, eine Umkehrung zwischen Portnoy’s Complaint und
Helden wie wir zu spüren: Während Alex seinen Vater bemitleidet und gegen seine
Mutter (und ihre Hypokrisie) eher einen Hass hegt, ist die Situation bei Klaus
umgekehrt; er hat Mitleid mit seiner Mutter und hasst seinen Vater.
144
Gebauer: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten“, S. 226.
116
Schon im oben stehenden Zitat bemerken wir die Hypokrisie, die Alex in seiner
Mutter so verhöhnt. Das Lebensziel der Frauen, die zu dieser Muttergeneration gehören,
scheint nur darin zu bestehen, den Schein ihrer eigenen Vollkommenheit zu wahren, mit
und vor allem über Freundinnen zu klatschen und mit den professionellen und
persönlichen Erfolgen ihres Sohnes zu protzen. So beklagt Sophie sich gegen Alex oft
über ihre eigene Güte, während sie ebenso xenophob und heuchlerisch ist wie die
Frauen, über die sie redet:
„I’m the only one who’s good to her. I’m the only one who gives her a whole can
of tuna for lunch, and I’m not talking dreck, either. I’m talking Chicken of the sea,
Alex. […] Esther Wasserberg leaves twenty-five cents in nickels around the house
when Dorothy comes, and counts up afterwards to see it’s all there. Maybe I’m
too good,” she whispers to me, meanwhile running scalding water over the dish
from which the cleaning lady has just eaten her lunch, alone like a leper […]”
[PC: 13]
Alex sieht diese Hypokrisie schnell ein und verspottet sie, indem er sie bis ins Absurde
übertreibt: Die angeberische Erzählung einer der Freundinnen seiner Mutter über ihren
Sohn Seymour, „the biggest brain surgeon in the entire Western Hemisphere“ [PC: 99],
wird von ihm mit einer grotesken, lächerlichen Reihe von Hyperbeln angereichert. Auch
hier aber wirkt die Kombination des ‚Lächerlichen und Scheißtragischen‘: Als Alex die
Geschichte von Ronald Nimkin erzählt, der – anscheinend unter dem ständigen Druck,
ein guter Sohn zu sein – zusammenbricht und Selbstmord verübt, werden die
weitgehenden Folgen der kontrollierenden und anspruchsvollen Haltung der
Muttergeneration deutlich. Roth verwandelt den typischen Judenwitz hier in eine
Tragödie – wenn auch am Rande –, aus der wir vielleicht die stärkste Ideologiekritik
ableiten können. Als man sich die Frage nach dem Warum des Selbstmordes stellt,
schreit Alex es aus: „BECAUSE WE CAN’T TAKE IT ANY MORE! BECAUSE YOU
FUCKING JEWISH MOTHERS ARE JUST TOO FUCKING MUCH TO BEAR!“
[PC: 121]
Trotzdem spüren wir hier auch eine Ideologiebestätigung, denn dieselbe
Hypokrisie, die Alex so verspottet, ist auch Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Seine
doppelte Haltung gegenüber Mary Jane, oder ‚The Monkey‘, beweist das: Sie ist die
Verkörperung von Alex sexuellen Fantasien, aber intellektuell (und auch in religiöser
Hinsicht) wird sie die hohen Anforderungen von Alex und seinen Eltern nie erfüllen
können. Auch Tenenbaum kommentiert so Alex‘ von seiner Mutter geerbte Hypokrisie:
117
Alex is incapable of loving Mary Jane because her ignorance ultimately defines
his failure as a Jew. […] Alex’ attempts to educate her are motivated not by a
selfless commitment to another individual’s intellectual enlightenment but by his
humiliation at her childlike intellect.145
Alex ist von den drei Protagonisten derjenige, der am heftigsten und am schroffsten
Kritik an seinen Eltern übt, aber zugleich auch derjenige, bei dem wir am meisten eine
implizite Ideologiebestätigung bemerken. Klaus und Oskar dagegen sind beide
imstande, sich von ihren Eltern und deren Ideologie zu befreien.
3.2.1.3.
In der Blechtrommel: Jan und Alfred als Vertreter des Krieges
Als Oskar Haupt der Stäuberbande wird, hat das keineswegs mit seinen ideologischen
Standpunkten oder politischen Triebfedern zu tun, sondern nur mit seinem Eigennutz
und Opportunismus: Er möchte einfach die Stäuber beeindrucken, um wieder „ein
Gefühl von Geborgenheit“ [DB: 483] zu erfahren. Oskar selber nimmt fast nie eine
explizite (oder zumindest schroffe) ideologiekritische Haltung an, auch nicht gegen
seine Eltern. Deswegen ist es m. E. kennzeichnend, dass wir die folgenden Worten nicht
aus dem Munde von Oskar hören, sondern von Mister, dem „Zyniker und Theoretiker“
der Bande: „Wir haben überhaupt nichts mit Parteien zu tun, wir kämpfen gegen unsere
Eltern und alle übrigen Erwachsenen; ganz gleich wofür oder wogegen die sind.“ [DB:
491] Wenn Oskar auch seinen Kampf nicht explizite zeigt und seine Kritik nicht
explizite äußert, so spüren wir doch auch bei ihm einen ‚stummen‘ Protest, vor allem
gegen Alfred Matzerath und Jan Bronski. In der Analyse des Ödipuskomplexes wurde
schon die doppelte Haltung Oskars gegenüber seinen Vätern behandelt. Oskars
Verweigerung, weiter zu wachsen, nachher seine Entscheidung, das Wachstum
fortzusetzen, möchte ich nicht nur als ödipale Feindschaft zu seinen Vätern betrachten,
sondern auch als implizite Kritik am Krieg im Besonderen und am Nationalsozialismus
im Allgemeinen. Alfred Matzerath und Jan Bronski sind nämlich, wie ich im Folgenden
argumentieren werde, Vertreter der zwei entgegengesetzten Parteien im Krieg.
Nach dem Tod von Oskars Mutter löst sich die anfängliche amouröse Rivalität
zwischen Oskars zwei mutmaßlichen Vätern nicht auf, sie wird jetzt eine politische –
oder besser: der politische Aspekt stellt sich viel ausgeprägter heraus, denn die Rivalität
war eigentlich immer schon ebenfalls eine politische. Nachdem Agnes den
145
Tenenbaum: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”, S. 38.
118
reichsdeutschen Alfred heiratet, stellt Jan sich als Reaktion darauf entschieden in den
polnischen Dienst. Vor allem beim Aufstieg des Nationalsozialismus wird der politische
Aspekt aber deutlich: Als Matzerath 1934 in die Partei eintritt,
[…] gab [er] erstmals seinen Ermahnungen, die er Jan Bronski wegen der
Beamtentätigkeit auf der Polnischen Post schon immer erteilt hatte, einen etwas
strengeren, doch auch besorgteren Ton. [DB: 145]
Wie auch Neuhaus bemerkt, schildert Oskar Alfred und Jan weiter als blinde Anhänger
ihrer Ideologie:
An beiden mutmaßlichen Vätern demonstriert Oskar, wie ihre eigenen
Entscheidungen für die Nazis oder die Polen von ihnen in wachsendem Maße
nicht mehr als eigenes Tun empfunden werden, wie sie ihnen mehr und mehr
entgleiten und als unabhängig von ihnen sich vollziehendes Schicksal empfunden
werden.146
Vor allem die Art und Weise, wie Oskar seine Vatermorde verübt, ist im Hinblick auf
Oskars implizite Ideologiekritik interessant: Zweimal erweist Oskar sich als heimlicher,
echter Feind seiner Väter, gerade im Augenblick, in dem sie ihrem politischen Feind
Auge in Auge gegenüberstehen und sie versuchen, ihrem Schicksal zu entfliehen. So ist
Jan Bronski bei der Verteidigung der Polnischen Post alles andere als ein heldenhafter
polnischer Soldat: Er möchte anfänglich eigentlich lieber desertieren, ist dazu aber ein
zu großer Angsthase, was sich auch bei der Beschießung selbst herausstellt, denn „Jan
lag zusammengekauert, hielt den Kopf verborgen und zitterte“ [DB: 295]. Als die
Verteidigung geendet ist und die deutsche SS-Heimwehr Jan, Koybella, Viktor Weluhn
und Oskar entdeckt [DB: 316], nimmt Oskar Rache und schickt Jan Bronski in den Tod:
[Oskar stellte sich] zwischen schutzsuchend zwischen zwei onkelhaft gutmütig
wirkende Heimwehrmänner, imitierte klägliches Weinen und wies auf Jan, seinen
Vater, mit anklagenden Gesten, die den Armen zum bösen Mann machten, der ein
unschuldiges Kind in die Polnische Post geschleppt hatte, um es auf polnisch
unmenschliche Weise als Kugelfang zu benutzen. [DB: 318]
Auch Alfred Matzerath wird von Oskar als gedankenloser Anhänger seiner Ideologie
dargestellt, dessen Unwissenheit im entscheidenden Moment himmelschreiend ist:
Fast zaghaft wie ein Kind, das nicht weiß, ob es weiterhin an den
Weihnachtsmann glauben soll, stand Matzerath mitten im Keller, zog an seinen
Hosenträgern, äußerte erstmals Zweifel am Endsieg […]. [DB: 514]
146
Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 68.
119
Oskar jagt ihn ebenfalls in den Tod, indem er seinem Vater vor den Augen der
russischen Soldaten das NS-Parteiabzeichen mit offener Nadel gibt – „damit sie den
Orden bei ihm finden konnten“ [DB: 532] –, worauf dieser es in seiner Mundhöhle
verstecken will, aber darin erstickt und von den Soldaten erschossen wird. Der blinde
Nachfolger Matzerath war für die Partei genauso unwichtig und winzig, wie die Läuse,
die Oskar im selben Moment zerdrückt [DB: 518]. Es scheint, als ob Oskar in diesen
zwei Fällen den Richter spiele, als ob er seine Väter auf ihre Verantwortlichkeit für die
Ideologie, zu der sie sich entschlossen haben, weise, und sie strafe, weil sie ihrer
Ideologie nicht treu bleiben – oder an erster Stelle weil sie sich einst zu dieser Ideologie
entschlossen haben. Erst nachdem er seine zwei Väter losgeworden ist, und zugleich
auch der Krieg geendet ist, entschließt Oskar sich auch, wieder zu wachsen: Die
Umstände, die Menschen klein gehalten haben, sind jetzt aufgelöst. Genauso wie Oskar
am Ende eines für die deutsche Geschichte wichtigen Zeitalters, und nach dem Tod
seines Vaters, wächst, sehen wir, wie auch Klaus unter genau denselben Umständen
wachsen wird.
3.2.2. Die Kritik an ‚dem Volk‘
3.2.2.1.
In Helden wie wir: Wir sind das Volk, oder?
Wie ich schon erwähnt habe, wird in Helden wie wir öfters das ‚deutsche Volk‘
angegriffen. Schon in den ersten Minuten seines Gesprächs mit Mr. Kitzelstein
verniedlicht Klaus ‚sein‘ Volk: „Als die Mauer plötzlich nicht mehr stand, rieb sich das
Volk die Augen und musste schließlich glauben, es hätte selbst die Mauer abgerissen“
[HWW: 6]. Die Ostdeutschen erscheinen hier als dumm, unwissend und naiv, gerade
die Eigenschaften, die Klaus prototypisch seinem jüngeren Ich zuzuschreiben pflegt.
Jedoch zeigt es sich, dass das Volk nicht immer Schuld daran ist, dass es diese
weitgehende Naivität aufweist: Es wird vom System, in dem sie aufgewachsen sind und
leben, niedergehalten.
Fragen sie nie einen Ostdeutschen nach den Menschenrechtsverletzungen damals;
wir sind diese Art von Unterstellungen leid. Wenn Sie wirklich in Abgründe
schauen wollen, dann fragen Sie lieber, was Menschenrechte sind. Darüber
können wir reden wie der Blinde von den Farben – wir kennen sie vom
Hörensagen. [HWW: 103]
120
Er kritisiert die Feigheit seines Volkes, in sehr harten und sarkastischen Worten:
Wenn es heute keiner gewesen sein will, dann hat das mit einer Scham zu tun, die
verhindert, über die Schande und über das Versagen zu sprechen. […] Logisch,
keiner will’s gewesen sein, alle waren irgendwie dagegen. Trotzdem flog Küfer
von der Schule. Trotzdem stand die Mauer. [HWW: 105]
Der ‚Wir sind das Volk‘-Leitruf, mit dem man die Pseudo-Demokratie in der DDR an
den Pranger stellte, wird von Klaus einfach weggehöhnt: Sie sind nicht wirklich das
Volk, das revoltiert und protestiert gegen seine Unterdrückung, das für seine Freiheit
eintritt. Sie sind ein Volk von Versagern, „ein Bild des Jammers“:
Da standen die Tausenden ein paar Dutzend Grenzsoldaten gegenüber und trauten
sich nicht. […] So artig und gehemmt wie sie dastanden, wie sie von einem Bein
aufs andere traten und darauf hofften, sie dürften mal – kein Zweifel, sie waren
wirklich das Volk. [HWW: 315]
An dieser Stelle identifiziert sich Klaus mit dem Volk, aber es scheint, als ob er dann
plötzlich eine Peripetie erlebt und gegen die Masse Abneigung empfindet: „So kannte
ich sie, so brav und häschenhaft und auf Verlierer programmiert, und irgendwie hatte
ich Mitleid mit ihnen, denn ich war einer von ihnen. Ich war einer von ihnen.“ [HWW:
315] Wie schon kurz gestreift, kommt durch die Betonung des Präteritums diese
Abneigung noch stärker zur Geltung. Auch später distanziert Klaus sich von seinem
Volk, indem er sagt, dass er schon die Möglichkeit hat, sich „die entsprechenden Fragen
[zu] stellen“ [HWW: 312], was darauf hindeutet, dass er sich seiner eigenen
Vergangenheitsbewältigung sehr bewusst ist. Diese Art Fragen, von denen er dann
einige Beispiele gibt, muten ‚historisch‘ an, sie erinnern an die Nachkriegszeit, wie auch
die ironisch-naive Betrachtung von Klaus, in der die Konnotation ‚wir haben es nicht
gewusst‘ spürbar ist: „Aber gab es eine Wahrheit? Etwa, dass ich bei der Stasi anfange?
Moment, Mr.Kitzelstein, das muss ich mir nicht in die Schuhe schieben lassen! Von
Stasi war nie die Rede!“ [HWW: 112] Erwähnt wurde schon, wie Klaus auch richtig
moralisch wird, indem er die Schuld der Ostdeutschen sozusagen auf sich nimmt, und
sagt, sie müssten für ihre Tätigkeiten noch Rechenschaft ablegen [HWW: 312].
Am Ende der Geschichte äußert Klaus zum ersten Mal auch Tadel an
Westdeutschland und seinen Bürgern, nachdem er nämlich Angst bekommt vor
demjenigen, was er verursacht hat, vor der Freiheit, vor Deutschland. Er kritisiert die
triumphierenden Westdeutschen, aufs Neue mit einem Schimmer von Ironie: „Was ist
121
denn dran an dieser Bundesrepublik, außer dass dort die besten BMW’s der Welt gebaut
werden?“ [HWW: 322] Klaus‘ Schlussworte weisen diese Kritik noch stärker auf, weil
er darin behauptet, Deutschland habe noch einen langen Weg vor sich: „Wer meine
Geschichte nicht glaubt, wird nicht verstehen, was mit Deutschland los ist!“ [HWW:
323] Brussig deutet hier meines Erachtens darauf hin, dass das neue Deutschland, das
von seiner Vergangenheit doch einen Denkzettel bekommen hat, noch immer etwas
vom früheren Absurdistan in sich trägt. Immerhin hat Brussig gesagt, er wolle auch zum
Kritiker der BRD werden147.
3.2.2.2.
In Portnoy’s Complaint: die Sage der leidenden Juden
Auch in Portnoy’s Complaint stellt Alex das jüdische Volk an den Pranger: In der
Analyse von Jack Portnoy als Stellvertreter für das leidende jüdische Volk, habe ich
schon einigermaßen die Kritik am Volk behandelt. Trotzdem möchte ich hier auf die
‚Sage der leidenden Juden‘ nochmals zurückkommen, weil Alex sie auch direkt, ohne
seinen Vater als ‚Medium‘, kritisiert:
[…] instead of wailing for he-who has turned his back on the saga of his people,
weep for your own pathetic selves, why don’t you, sucking and sucking on that
sour grape of a religion! Jew Jew Jew Jew Jew Jew! It is coming out of my ears
already, the saga of the suffering Jews! Do me a favor, my people, and stick your
suffering heritage up your suffering ass – I happen also to be a human being! [PC:
76]
Wie wir gesehen haben, ist Alex‘ Leben weitgehend ideologisch, d.h. von der jüdischen
Religion geprägt. Seine Identität ist nicht ganz einfach diejenige eines Menschen,
sondern eines jüdischen Menschen, wie rasend er dagegen auch tobt. Er verspottet das
jüdische Volk hier aus denselben Gründen, aus denen er auch seinen Vater kritisiert: Es
wälzt sich in Selbstmitleid, benutzt die Religion fast als einen Entschuldigungsgrund,
nicht für sich selbst und seine eigenen Taten einstehen zu müssen – mit einer
sarkastischen Ironie sagt Alex darüber: „I suppose the Nazis are an excuse for
everything that happens in this house!” [PC: 77] In Alex‘ Augen sind auch sie ‚ein Bild
des Jammers‘, ein ‚Volk von Versagern‘ wie das DDR-Volk für Klaus. Übrigens ist
Alex nicht der einzige, der an seinem Volk Kritik übt: Auch Naomi, „The Heroine [PC:
258], der Alex in Israel begegnet, hat ein alles andere als mildes Urteil über das
147
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 52.
122
ausgewanderte jüdische Volk – und über Alex. Sie hat eine radikale, zionistische
Auffassung ihrer Religion, und betrachtet fast mit Abscheu die bedauernswerte Haltung,
die das ausgewanderte jüdische Volk sich selbst beigemessen hat. Ihre Diagnose über
Alex und das jüdische Volk ist vielleicht die ehrlichste im ganzen Buch, denn Alex
spricht in dieser Hinsicht mit gespaltener Zunge, weil er zugleich seine Ideologie
verneint und bestätigt. Naomi dagegen ist zu den Wurzeln ihrer Religion zurückgekehrt
– trägt dabei allerdings einige kommunistische Ideale in sich, die ihr aber nicht
verhindern, einen klaren Blick auf die ‚amerikanischen Juden‘ zu haben. Sie fällt ein
strenges, historisch geprägtes Urteil:
Those centuries and centuries of homelessness had produced just such
disagreeable men as myself – frightened, defensive, self-deprecating, unmanned
and corrupted by life in the gentile world. It was Diaspora Jews just like myself
who had gone by the millions to the gas chambers without ever raising a hand
against their persecutors, who did not know enough to defend their lives with their
blood. [PC: 265]
Ohne allzu tief auf politisch-ideologische Diskussionspunkte einzugehen,
möchte ich kurz die Haltung von Alex, bisher dem größten Kritiker des Judentums,
gegenüber Naomi, die diese Rolle von Alex übernimmt, behandeln. Alex spürt, dass
Naomi die nicht-korrumpierte, reine Fassung seines Glaubens verkörpert, und wird sich
seiner eigenen ambivalenten Haltung (einerseits Ideologieverleugnung, andererseits
Ideologiebestätigung) bewusst. Er versucht diesen inneren Zwiespalt aufzulösen, indem
er Naomi einen Heiratsantrag macht; es überrascht nicht, angesichts seines taktlosen
und obsessiven Verfahrens, dass sie diesen Antrag ablehnt. Dadurch, dass Alex aber
nicht aufhört, sie zu drängen, korrumpiert er diese von ihm ersehnte Reinheit und
infiziert sie mit seinem ‚psychoneurotischen‘ [PC: 268], aus der Diaspora
hervorgegangenen Selbsthass. Die authentische jüdische Religion siegt aber über die
korrumpierte und selbstbemitleidende: Alex erlebt ironischerweise gerade bei Naomi
und in Israel, auf der Flucht vor seinen Eltern – die genauso wie er eine korrumpierte
Form der wahren Religion vertreten – und vor seiner ‚shiksen‘ Freundin – die die
katholische, amerikanische, seiner Religion entgegengesetzte ‚Ideologie‘ vertritt – eine
Impotenz. Diese Impotenz sollten wir aber nicht mit der von Klaus vergleichen, die er
bei Yvonne erlebt – tatsächlich hat sie Sympathien für die feindliche, westliche
‚Ideologie‘, aber dies ist meines Erachtens nicht der wahre Grund seiner Impotenz, eher
123
schon Klaus‘ verzerrte Auffassungen über Intimität und Liebe. Alex‘ Impotenz in Israel
muss meines Erachtens gerade mit der nicht-Impotenz, Klaus‘ extremer Potenz im
Moment des Mauerfalls verglichen werden. Während Klaus im entscheidenden
Moment, in dem er seine DDR-Ideologie loszuwerden versucht, endlich seine Potenz,
seinen Penis „so groß wie ‘n Nudelholz“ [HWW: 320] einsetzt, und sich so vom System
befreien kann, erlebt Alex eine Niederlage und bleibt er in seiner jüdischamerikanischen Ideologie verhaftet.
3.2.2.3.
In der Blechtrommel: das Kleinbürgertum als NS-Nährboden
Schließlich finden wir auch in der Blechtrommel Kritik am Volk vor, aber wie sonst ist
diese Kritik nicht so explizite vorhanden wie in den anderen Romanen: Nie wird ‚ein
Volk‘ als solches angegriffen – es sei dann, als Oskar sich dazu entschließt, nicht der
Welt der „Erwachsenen“ [DB: 72] beizutreten. Die Erwachsenen, denen Oskar bisher
begegnet ist, sind die Kleinbürger im Labesweg, die auf äußeren Schein, materielle
Sachen und kultivierte Spießbürgerlichkeiten Wert legen. Sie machen den Eindruck,
nicht authentisch, nicht natürlich zu sein, wie Oskar schon: „[…] die Erwachsenen […]
wollten meine Trommel ins Wort fallen […] – aber die Natur sorgte für mich.“ [DB: 75,
meine Hervorhebung, mvl] Auch Jan Bronski und Alfred Matzerath sind Vertreter des
Kleinbürgertums. Als Matzerath in die Partei eintritt, scheinen seine Gründe dazu eher
im Stolz über die schöne und imponierende Uniform zu liegen [DB: 146], als in
ernsthaften ideologischen Überzeugungen. Er zeigt also eher Übereinstimmungen auf
mit der ‚falschen‘ Stasi (Wunderlich, Grabs und Eule) aus Helden wie wir, als dass er
mit Klaus‘ Vater, Vertreter der ‚echten‘ Stasi, verglichen werden könnte.
Genauso wie der Rest der Nachbarn im Labesweg ist Alfred Matzerath
opportunistischer Mitläufer eines Regimes, das im Moment die günstigsten
Zukunftsperspektiven
bietet.
Oskar
registriert,
genau
wie
Klaus
bei
der
Trümmerfrauengeneration seiner Mutter, diesen naiven Opportunismus, aber schildert
ihn von Anfang an viel weniger unschuldig. Er vergleicht seine kleinbürgerliche
Familie mit der Zarenfamilie Russlands zur Zeit der Russischen Revolution 1917:
[…] Im tiefsten Rußland wird eine Aufnahme der Zarenfamilie gemacht, Rasputin
hält den Apparat, ich bin der Zarewitsch, und hinter dem Zaun hocken
Menschewiki und Bolschewiki, beschließen, Bomben bastelnd, den Untergang
meiner selbstherrscherlichen Familie. Matzeraths korrektes, mitteleuropäisches,
124
wie man sehen wird, zukunftsträchtiges Kleinbürgertum bricht der im Foto
schlummernden Moritat die gewaltsame Spitze ab. [DB: 70]
In diesem Vergleich schildert er den Kontrast zwischen dem Reichtum und der
Üppigkeit, die die NS-Mitläufer ausnutzen, und der Gewalt und dem Tod, mit denen die
Familie nur über die Sondermeldungen im Radio [DB: 376-377] konfrontiert wird.
Auch die Nachbarn im Labesweg, die Familie Scheffler und die Familie Greff,
profitieren vom materiellen Wohlstand, der ihnen der Nationalsozialismus bietet (die
Üppigkeit der Innenausstattung ihrer Wohnungen ist widerlich und „beleidigt“ Oskar
[DB: 109]). Sie stellen sich nicht einmal die Frage, was diese Ideologie genau
beinhaltet. Diese scheinheilige Lebenshaltung wird vom Gemüsehändler Greff
verkörpert: Als Homosexueller gehört er zu jener Minderheitsgruppe, von der viele in
Konzentrationslagern ihr Ende fanden, aber trotzdem ist auch er blinder Mitläufer des
Nationalsozialismus, der sich „rechtzeitig Mitglied des NSKK148“ [DB: 381] macht und
sich danach auch in anderen Funktionen für das Regime einsetzt. Auch Neuhaus
behandelt diese Hypokrisie des Kleinbürgertums und das ‚Alibi‘, das die Kleinbürger in
der politischen Lage suchen:
Indem Grass‘ Kleinbürger in dieser Weise die politischen Konsequenzen ihres
eigenen scheinbar privaten Tuns zum Schicksal erklären, das ihnen ihr weiteres
Handeln vorschreibt, fühlen sie sich selbst aus jeglicher Verantwortung
entlassen.149
Diese Hypokrisie setzt sich übrigens auch nach dem Krieg – und entsprechend in
Helden wie wir, nach der Wende – weiter. Während man in der Kriegszeit ohne Skrupel
mit den Nationalsozialisten mitmachte, nimmt man nachher eine ‚unwissende‘ Haltung
an, will man nicht mit der eigenen Verantwortlichkeit konfrontiert werden. Überall
tauchen auf einmal Geschichten auf, die die Unschuld vieler beweisen sollten. So redet
Oskar über die so genannten Widerstandskämpfer, die er jetzt überall erscheinen sieht:
Das Wort ist reichlich in Mode gekommen. Vom Geist des Widerstandes spricht
man, von Widerstandskrisen. […] Ganz zu schweigen von jenen bibelfesten
Ehrenmännern, die während des Krieges wegen nachlässiger Verdunklung der
Schlafzimmerfenster vom Luftschutzwart eine Geldstrafe aufgebrummt bekamen
und sich jetzt Widerstandskämpfer nennen, Männer des Widerstandes. [DB: 157]
148
149
Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps, eine Nebenorganisation der NSDAP.
Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. S. 69.
125
Etwas Ähnliches sieht man nach der Wende: Auch Klaus sieht diese sogenannten
Widerstandskämpfer, die damals mit der politischen Lage nicht einverstanden waren,
jetzt überall auftauchen, und fragt sich, wo sie sich damals dann befanden. Er stellt
diese doppelte Situation, diese Scheinheiligkeit, die es auch in und nach dem zweiten
Weltkrieg in Deutschland gab, klar und deutlich dar, und kritisiert sie:
[…] „Ich habe schon damals…“ Eine völlig verzerrte Diskussion, und keiner
merkt es! Wie konnte diese Gesellschaft Jahrzehnte existieren, wenn alle
unzufrieden gewesen sein wollen? […] Alle waren dagegen, und trotzdem waren
sie integriert, haben mitgemacht, kleinmütig, verblendet oder einfach nur dumm.
Ich will das genau wissen, denn ich glaube, daß sich alle modernen Gesellschaften
in diesem Dilemma bewegen. [HWW: 312]
Mit diesem letzten Satz sehen wir die Kritik an den beiden deutschen Diktaturen, dem
Dritten Reich und der DDR, und vor allem an der Rolle des Volkes darin, hervortreten.
Oskar und Klaus werden mit ihrer Kritik zum Gewissen des deutschen Volkes, indem
sie klar und deutlich die Diagnose der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit
stellen, und damit (oft scharf) kritisch umgehen.
126
4. Schlussfolgerungen und Ausblick
Gerade bevor Klaus dem Journalisten Mr. Kitzelstein den Ausgang seiner Geschichte
haargenau erklärt, macht er eine Art Zwischenbilanz, die sich vor allem als tief
schürfende Reflexion über seine Vergangenheit, als eine in Worte gefasste
Vergangenheitsbewältigung charakterisieren lässt: „Ich kann mir die entsprechenden
Fragen stellen. Ich habe die Chance, zum Kern meiner Erbärmlichkeit vorzustoßen.“
[HWW: 312]. Nicht nur Klaus versucht mit seiner Vergangenheit fertig zu werden,
sondern auch die Autorinstanz Thomas Brussig, denn er ergreift in Helden wie wir die
Chance, zum Kern der Erbärmlichkeit des Sozialismus, der DDR-Zeit und der DDRIdeologie vorzustoßen. Er macht das, indem er ständig seine Ideologiekritik mit Humor
kombiniert. In der intratextuellen Analyse meiner Magisterarbeit habe ich versucht
nachzuweisen, dass Brussigs Vergangenheitsbewältigung durch die komplexe und
ständige Wechselwirkung zwischen verschiedenen Formen von Humor einerseits und
Ideologiekritik andererseits getragen wird. Mit der Hinzufügung einer zweiten
Komponente habe ich versucht Helden wie wir nicht nur intratextuell zu analysieren,
sondern auch eine intertextuelle Annäherungsweise an Brussigs Werk in meine Arbeit
aufzunehmen: Meiner Meinung nach prägt die Wechselwirkung zwischen den zwei
Pfeilern der Vergangenheitsbewältigung in Helden wie wir nämlich auch Portnoy’s
Complaint und Die Blechtrommel.
Als
Einstieg
zur
intratextuellen
und
intertextuellen
Analyse
dieser
Wechselwirkung, erwiesen sich die Theorien von Sigmund Freud als aufschlussreich:
Die drei Protagonisten haben ohne Ausnahme unter einem Ödipuskomplex zu leiden,
mit dem sie auf unterschiedliche Art und Weise umgehen. Die Überleitung zum ersten
Pfeiler, dem Humor, erfolgte über eine Anwendung von Freud Text Der Witz und seine
Beziehung zum Unbewussten auf Helden wie wir: Die vier Tendenzen des Witzes, die
Freud dabei unterschieden hat, sind auch in Brussigs Roman vertreten. Ebenso
aufschlussreich wäre es gewesen, auch Portnoy’s Complaint in Anbetracht der vier
Witztendenzen zu analysieren; dieser Aspekt bietet Möglichkeiten für weitere
Forschung.
In der Humor-Analyse hat sich erwiesen, dass in Helden wie wir verschiedene
humoristische Formen auf ebenso vielen Ebenen wirksam sind. Die Ironie ist vor allem
auf der Ebene der Figur von Klaus Uhltzscht wirksam, indem sie mit seiner Naivität
127
verknüpft wird. Das Groteske situiert sich auf der Ebene der Geschichte, die wir aber
nicht ohne weiteres in die Gattung Groteske einordnen können. Stattdessen habe ich den
spezifischeren Begriff der ‚Körpergroteske‘ vorgeschlagen, mit dem wir (die Gattung
von) Helden wie wir angemessener umschreiben können. Drittens ist der Sarkasmus das
Instrument, mit dem die Autorinstanz den ernsthaften ideologiekritischen Passagen im
Buch Gestalt verliehen hat. Dem Studium der intertextuellen Komponente in dieser
Humor-Analyse ließ sich entnehmen, dass auch Portnoy’s Complaint und Die
Blechtrommel Ironie (spezifischer: Merkmale eines Schelmenromans), Groteske und
Sarkasmus einsetzen. Beim Vergleich des pikarischen Gehalts der drei Protagonisten
hat sich erstens herausgestellt, dass die ironische Naivität, die für Klaus so
kennzeichnend ist, bei Oskar Matzerath und Alexander Portnoy fehlt. Wir haben anhand
von Guillèns Merkmalen eines Schelms feststellen können, dass Klaus sich dem
Prototyp eines modernen Schelms, wie wir ihn in Oskar Matzerath erkennen können,
annähert. Oskar und Klaus habe ich deswegen als moderne, modifizierte Schelme
definiert. Alexander Portnoy, das heimliche enfant terrible der jüdischen Gemeinschaft
in Newark, zeigt zwar einige schelmische Merkmale auf, ist aber kein Schelm.
Aus der Analyse der Körpergroteske ist hervorgegangen, dass auch Portnoy’s
Complaint und Die Blechtrommel sich sehr gut durch diesen modifizierten
Gattungsbegriff definieren lassen. Portnoy’s Complaint hat das Alexanders grotesker,
obszöner Sexualität zu verdanken, die wir auch bei Klaus vorfinden; Die Blechtrommel
wird eine Körpergroteske dank der grotesken, verzerrten Körperlichkeit von Oskar, mit
der auch die Körperlichkeit von Klaus vergleichbar ist. Auch der Sarkasmus hat in den
zwei Prätexten eine wirksame Funktion, aber während er in Helden wie wir auf der
Ebene der Autorinstanz anwesend ist, wirkt der Sarkasmus in Portnoy’s Complaint und
der Blechtrommel auf der Ebene der Figuren Alexander und Oskar: Der Sarkasmus ist
integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit und ihres Diskurses, während das bei Klaus
wegen seiner ausgeprägten Naivität nicht der Fall ist. „Humor unterminiert hier
Herrschaft, und macht die Auseinandersetzung mit den eigenen Moralaxiomata
erlebbar“150: Auf diese Art und Weise gestaltet Humor in den drei Romanen die
Ideologiekritik mit.
150
Briel: “Humor im Angesicht der Absurdität“, S. 271.
128
In der Analyse der Ideologiekritik sind wir der Frage nachgegangen, auf welche
Art und Weise die Kritik in erster Linie in Helden wie wir, aber auch in Portnoy’s
Complaint und der Blechtrommel sichtbar wird. Einerseits kritisieren die drei
Protagonisten die Ideologie und das System an sich: Das geschieht meines Erachtens
dadurch, dass sie die Ideologie mit einer Form von Perversion verknüpfen. In Helden
wie wir und Portnoy’s Complaint ergibt sich dieser Bezug explizite, indem Klaus und
Alex ihre Perversionen in den Dienst ihrer eigenen Ideologie stellen, oder sie als Waffe
gegen andere Ideologien einsetzen. In der Blechtrommel wird die Perversion der
Ideologie an sich registriert und kommentiert. Andererseits finden wir in den drei
Romanen auch mittelbare Kritik vor, an den Menschen in der Schusslinie stehen: die
Elterngeneration und das Volk. Darin stimmen Klaus und Oskar überein: Sie sind beide
als Deutschlands Gewissen zu betrachten, Oskar, weil er seinem Land die Rechnung der
ersten deutschen Diktatur, des Dritten Reichs präsentiert, Klaus, weil er die Bilanz der
zweiten deutschen DDR-Diktatur zieht.
Selbstverständlich arbeitet Brussig nicht nur mit den Kategorien Ironie, Groteske
und Sarkasmus, sondern auch mit Satire, Wortwitzen, und so weiter. Die von mir
vorgelegte Analyse ist also keineswegs vollständig. Außerdem spüren wir in Brussigs
Wasserfarben (1991), Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) und Wie es leuchtet
(2004) wiederum andere Humorformen, die zwar auch kritisch anmuten, aber trotzdem
wieder auf eine andere Art und Weise als in Helden wie wir. Brussigs
Vergangenheitsbewältigung können wir also als komplex und alles andere als eindeutig
betrachten. Bei der Veröffentlichung von Am kürzeren Ende der Sonnenallee sagte er:
„Jeder Mensch hat den Wunsch, mit seiner Vergangenheit Friede zu schließen.
Erinnerung hat die Funktion, Vergangenheit als schön nachzuerleben.“151 In diesem
Sinne können wir zum Beispiel Sonnenallee als eine Erinnerung, eine Versöhnung
betrachten, aber das impliziert nicht, dass keine Kritik mehr geübt wird. Helden wie wir,
das vier Jahre vor Sonnenallee veröffentlicht wurde, zeigt uns alles andere als eine
Versöhnung. In diesem Buch wendet Brussig den Humor als Holzhammermethode an,
die unmittelbar seiner Kritik dient, während der Humor in Am kürzeren Ende der
Sonnenallee vielmehr ein chirurgisches Präzisionsinstrument ist, mit dem Brussig seine
Ideologiekritik ‚zudeckt‘. Er macht in seinen drei anderen Wenderomanen quasi
151
Magenau: “Kindheitsmuster”, S. 51-52.
129
verschiedene Fotos ein und desselben Gegenstands, aber benutzt immer eine andere
Lichtstärke, einen anderen Lichtfilter, eine andere Linse. Diese Kaleidoskopie, welche
in den verschiedenen Werken die Vergangenheitsbewältigung von Brussig auszeichnet,
wäre interessanter Stoff für weitere literaturwissenschaftliche Forschung. Der Frage
nachzugehen, wie Humor und Ideologiekritik in diesen Romanen wirksam sind, kann
meines Erachtens zu aufschlussreichen Ergebnissen führen.
Ich hoffe in meiner Magisterarbeit eine detaillierte intratextuelle Analyse von
Helden wie wir dargereicht zu haben, gestützt auf die zwei Pfeiler, die zwar in jedem
Sekundärtext über Brussig zur Sprache kommen, aber deren genaue Wechselwirkung
bis her noch nicht strukturiert und theoretisch begründet erforscht wurde. Auch eine
eingehende systematische Konfrontation mit Klaus‘ wichtigsten literarischen Vorfahren
Alexander Portnoy und Oskar Matzerath hatte in der Form noch nicht stattgefunden.
Die drei Protagonisten der intertextuellen Trias haben ihre eigene Individualität, zeigen
oft Unterschiede auf, aber ebenso oft habe ich interessante Parallelen und markierte
intertextuelle Bezüge entdeckt und behandelt. Oskar Matzerath hat meines Erachtens
treffend in Worte gefasst, wie wir die Protagonisten betrachten können:
Auch ich habe mir sagen lassen, daß es sich gut und bescheiden ausnimmt, wenn
man anfangs beteuert: Es gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine
Individualisten mehr gibt, weil die Individualität verlorengegangen, weil der
Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf individuelle
Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose einsame Masse bildet. Das mag
alles so sein und seine Richtigkeit haben. Für mich, Oskar, und meinen Pfleger
Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden, ganz verschiedene
Helden, er hinter dem Guckloch, ich vor dem Guckloch; und wenn er die Tür
aufmacht, sind wir beide, bei aller Freundschaft und Einsamkeit, noch immer
keine namen- und heldenlose Masse.“ [DB: 12]
Was Oskar über sich selbst und seinen Pfleger in der Heil- und Pflegeanstalt sagt, gilt
auch für Alexander und Klaus. Alle drei sind Helden, zwar ganz verschiedene, aber in
dieser ‚Einsamkeit‘ zeigen sie trotzdem Übereinstimmungen auf, die wir zu einer
symbolischen ‚Freundschaft‘ umgestalten können. Gerade durch diese literarischen
Freundschaftsbande zwischen Klaus und seinen literarischen Vorfahren, haben wir auch
eine bessere Einsicht bekommen in die Figur, die Klaus Uhltzscht ist: ‚Sage mir, mit
wem du umgehst und ich sage dir, wer du bist‘.
130
Bibliografie
Primärliteratur
Brussig, Thomas: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Frankfurt am Main: Fischer
Taschenbuch 2001.
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 200513.
Brussig, Thomas: Wasserfarben. Berlin: Aufbau Taschenbuch 20067.
Brussig, Thomas: Wie es leuchtet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2006.
Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge.
Studienausgabe Conditio humana: Band I. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela
Richards und James Strachey. Frankfurt: S. Fischer 1969.
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor.
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 20068.
Grass, Günter: Die Blechtrommel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 200717.
Roth, Philip: Portnoy’s Complaint. London: Vintage 2005.
Sekundärliteratur
Hollmer, Heide: “The next generation. Thomas Brussig erzählt Erich Honeckers DDR”.
In: DDR-Literatur der neunziger Jahre, Text+Kritik IX/00, Sonderband. Hg. von Heinz
Ludwig Arnold. München: Edition Text+Kritik 2000, S. 107-121.
Meyer-Gosau, Frauke: “Ost-West-Schmerz. Beobachtungen zu einer sich wandelnden
Gemütslage”. In: DDR-Literatur der neunziger Jahre, Text+Kritik IX/00, Sonderband.
Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text+Kritik 2000.
131
Auffenberg, Frank: “Erich, Maria und Josef in Personalunion. Über Thomas Brussig.“
In: Kritische Ausgabe. Signale aus dem Kulturbetrieb 1/2001 (Juni), S. 32-34.
Boone, Marc: Historici en hun métier. Een inleiding tot de historische kritiek, Gent:
Academia Press 2005.
Brandt, Sabine: „Bleiche Mutter DDR. Thomas Brussig kuriert den Sozialismus aus
einem Punkt“. In: FAZ 235 (10. Oktober 1995), S. L2.
<http://www.thomasbrussig.de/Rezensionen/Buecher/Bleiche%20Mutter%20DDR
.htm>
Broich, Ulrich und Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen,
anglistische Fallstudien. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985 (Konzepte der Sprachund Literaturwissenschaft, 35).
Duden Deutsches Universalwörterbuch. 5., überarbeitete Auflage. Hg. von der
Dudenredaktion. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag 2003.
Felsmann, Barbara: “Wer saß unten im System? Icke! Thomas Brussig über DDRNostalgie, Sex, sozialistische Perversion und seinen Roman Helden wie wir“. In:
Wochenpost 39 (21. September 1995), S. 40-41.
Briel, Holger: “Humor im Angesicht der Absurdität. Gesellschaftskritik in Thomas
Brussigs Helden wie wir und Ingo Schulzes Simple Storys”. In: Schreiben nach der
Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989-1999. Hg. von Gerhard Fischer und
David Roberts. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 263-273.
Radisch, Iris: “Es gibt zwei deutsche Gegenwartsliteraturen in Ost und West!”. In:
Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989-1999. Hg. von
Gerhard Fischer und David Roberts. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 1-14.
132
Hage, Volker: “Jubelfeiern wird's geben“. In: Der Spiegel 36 (6. September 1999), S.
255-256.
Gebauer, Mirjam: “Milieuschilderungen zweier verrückter Monologisten”. In: Orbis
Litterarum 57 (2002), S. 222-240.
Guillén, Claudio: “Toward a Definition of the Picaresque”. In: Literature as System.
Essays toward the Theory of Literary History. Hg. von Claudio Guillén. Princeton:
Princeton University Press 1971, S. 71-106.
Huysegems, Filip: „Autoropa. Thomas Brussig, of souvenirs uit het gesplitste
Duitsland”. In: De Standaard (21.02.2002).
<http://www.standaard.be/Artikel/Detail.aspx?artikelId=DSL21022002_014>
Johnson, Susan M.: “Sexual Metaphors and Sex as a Metaphor in Grass' Blechtrommel”.
In: Modern Language Studies, Vol. 22, No. 2 (1992), S. 79-87.
Kleines Politisches Wörterbuch. Zusammengestellt unter der Redaktion von Gerhard
König et al. Berlin: Dietz 1967.
Magenau, Jörg: “Kindheitsmuster. Thomas Brussig oder Die ewige Jugend der DDR”.
In: Aufgerissen: zur Literatur der 90er. Hg. von Thomas Kraft. Munchen: Piper 2000,
S. 39-52.
Krause, Tilman: “Kleine Trompete, zur großen Tuba aufgeblasen. Götz Schubert als
darstellerischer Tausendsassa in ‚Helden wie wir‘ an den Kammerspielen“. In: Der
Tagesspiegel 29.4. (1996).
Kremer, Manfred: „Günter Grass, Die Blechtrommel und die pikarische Tradition“. In:
The German Quarterly 46/3 (1973), S. 381-392.
133
Krimmer, Elisabeth: ““Ein Volk von Opfern?” Germans as Victims in Günter Grass’s
Die Blechtrommel and Im Krebsgang”. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies
Volume 44, Number 2 (Mai 2008), S. 272-290.
Leroy, Robert: Die Blechtrommel von Günter Grass: Eine Interpretation. Paris: Belles
Lettres 1973.
Metzler Literatur Lexikon: Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. von Gunther und Irmgard
Schweikle. Stuttgart: Metzler 1984.
Neuhaus, Volker: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. München: R.
Oldenbourg 1982 (Interpretationen für Schule und Studium).
Neuhaus, Volker: Günter Grass. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart:
Metzler 1992.
Nause, Tanja: Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer
Erzählstrategie der Nachwendeliteratur. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002.
Prager, Brad: “The erection of the Berlin Wall: Thomas Brussig’s Helden wie wir and
the end of East Germany“. In: The Modern Language Review 4 (Oktober 2004), S. 983998.
Schumann, Willy: „Wiederkehr der Schelme“. In: Publications of the Modern
Language Association of America 81/7 (1966), S. 467-474.
Tenenbaum, David: “Race, Class, and Shame in the Fiction of Philip Roth”. In: Shofar
– An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies Vol. 24/4 (2006), S. 34-49.
van Gorp, Hendrik, Ghesquiere, Rita, Delabastita, Dirk: Lexicon van literaire termen.
Zevende, herziene druk. Groningen: Martinus Nijhoff 1998.
134
Weber, Carl: “A Picaresque Tale. East Germany’s Last Act”. In: PAJ: A Journal of
Performance and Art 65 (2000), S 142-145.
Kormann, Julia: “Satire und Ironie in der Literatur nach 1989. Texte nach der Wende
von Thomas Brussig, Thomas Rosenlöcher und Jens Sparschuh”. In: Mentalitätswandel
in der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000). Hg. von Volker Wehdeking. Berlin:
Erich Schmidt 2000, S. 165-176.
Schmitz, Walter: “Gottes Abwesenheit? Ost-West-Passagen in der Erzählprosa
Wolfgang Hilbigs in den neunziger Jahren”. In: Mentalitätswandel in der deutschen
Literatur zur Einheit (1990-2000). Hg. von Volker Wehdeking. Berlin: Erich Schmidt
2000, S. 111-132.
Wehdeking, Volker: “Mentalitätswandel im deutschen Roman zur Einheit (19902000)”. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000). Hg.
von Volker Wehdeking. Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 29-41.
Wehdeking, Volker: “Die literarische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex
Staatssicherheit, Zensur und Schriftstellerrolle”. In: Mentalitätswandel in der deutschen
Literatur zur Einheit (1990-2000). Hg. von Volker Wehdeking. Berlin: Erich Schmidt
2000, S. 43-55.