WALDE+GRAF Joe Brainard Ich erinnere mich

Transcription

WALDE+GRAF Joe Brainard Ich erinnere mich
Joe Brainard
Ich erinnere mich
WALDE+GRAF
Joe
Brainard
aus dem
Amerikanischen
von Uta Goridis
Ich
erinnere
mich
Die amerikanische Originalausgabe des
vorliegenden Buchs erschien 1975 unter
dem Titel I REMEMBER bei Full Court Press,
New York. Auf folgende drei Publikationen
wurde bei der Auswahl zurückgegriffen:
I REMEMBER (1970), I REMEMBER MORE (1972)
sowie MORE I REMEMBER MORE (1973).
Alle Titel erschienen seinerzeit bei
Angel Hair Books – T.p. verso.
Copyrightangaben zur amerikanischen
Originalausgabe:
I REMEMBER
© 1975 by Joe Brainard
© 2011 by The Estate of Joe Brainard
Foreword © 2011 by Paul Auster
All rights reserved
First published by Full Court Press,
New York
Copyright für die deutschsprachige
Ausgabe:
© 2011 by WALDE+GRAF Verlag AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten.
Weiterverwendung und Vervielfältigung
nur mit ausdrücklicher Genehmigung
des Verlages gestattet.
Übersetzung: Uta Goridis, D-Berlin
Gestaltung und Illustrationen: Bon Bon Büro,
Umschlaggestaltung: Bon Bon Büro, D-Berlin,
unter Verwendung einer Arbeit von
Joe Brainard
Druck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG,
D-Altusried/ Krugzell
ISBN 978-3-03774-040-8
WALDE+GRAF
Paul Auster über
Ich erinnere mich von Joe Brainard
Ich kann mich nicht erinnern, wie oft ich I Remember gelesen habe. Entdeckt hatte ich das Buch 1975, kurz nach
seinem Erscheinen, und in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten bin ich immer wieder darauf zurückgekommen,
insgesamt vielleicht acht Mal. Der Text ist nicht lang (nur
138 Seiten in der Originalausgabe), umso erstaunlicher ist
es, dass ich jedes Mal, wenn ich Joe Brainards kleines Meisterwerk aufschlage, das merkwürdige Gefühl habe, es zum
ersten Mal in der Hand zu halten. Abgesehen von ein paar
unvergesslichen Passagen sind mir dann beinahe alle auf
den Seiten von I Remember festgehaltenen Erinnerungen
wieder entfallen. Es gibt einfach zu viele Details, und zu
viel Leben steckt in Brainards ständig sich verschiebender,
wirbelnder Collage von Erinnerungen, um im Gedächtnis
einer Person über längere Zeit Platz zu finden, und deshalb
erinnere ich mich zwar an viele Einträge, wenn ich auf sie
stoße, an viele aber auch nicht. Das Buch bleibt neu und
fremd und immer überraschend – I Remember ist zwar
ein schmales Bändchen, aber unerschöpflich. Es ist eines
dieser seltenen Bücher, die einen ein Leben lang bereichern.
Brainard, ein äußerst produktiver, bildender Künstler
und bis dato Gelegenheitsschriftsteller, stieß im Sommer
1969 auf das ebenso einfache wie geniale Kompositionsschema von I Remember. Er war erst siebenundzwanzig,
aber hochbegabt und trotz seiner jungen Jahre ein vollendeter
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Künstler, eine Art frühreifer „boy artist“, der schon als
Student in Tulsa, Oklahoma, seine Arbeiten ausgestellt und
viele Preise gewonnen hatte. Noch vor seinem zwanzigsten
Geburtstag war er in Manhattans Lower East Side gelandet,
und 1969 gehörte er bereits zu den Veteranen der New Yorker
Kunstszene, bekannt durch mehrere Einzelausstellungen
und zahlreiche Gruppenausstellungen sowie durch die
Cover, die er für Dutzende kleinerer Literaturzeitschriften
und Lyrikbände gestaltet hatte. Dazu kamen Bühnenmalereien für Theaterstücke von LeRoi Jones und Frank
O’Hara und die (meist äußerst komischen) Comicstrips in
Zusammenarbeit mit einer langen Liste von befreundeten
Poeten. Collagen, große und kleine Assemblagen, Zeichnungen und Ölbilder – sein Werk war vielfältig, und er
produzierte unablässig – und obendrein fand er auch noch
Zeit zu schreiben. Vor seinem überraschenden Durchbruch
1969 hatte Brainard Gedichte, Tagebücher und kurze Prosastücke in mehreren, von der New York School herausgegebenen Literaturmagazinen und Fanzines veröffentlicht
und auch schon seinen eigenen Stil entwickelt – charmant,
augenzwinkernd, unprätentiös, transparent und häufig die
Grammatik missachtend. Diese Eigenschaften zeichnen
auch I Remember aus, nur dass er hier beinahe zufällig
auf ein Ordnungsprinzip gestoßen war, das seiner Prosa
eine ganz andere Dimension verlieh.
Mit seiner ihm eigenen Leichtigkeit und Klarsicht beschreibt Brainard in einem, im selben Sommer verfassten
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Brief an die Lyrikerin Anne Waldmann die Hochstimmung,
in die ihn sein neues Projekt versetzte: „Ich bin völlig überwältigt von diesem Stück Prosa, an dem ich gerade schreibe.
Ich fühle mich wie Gott, der die Bibel schreibt. Es ist, als
würde ich nicht selbst schreiben, aber es würde wegen mir
geschrieben. Und ich habe das Gefühl, dass es jeden genauso betrifft wie mich. Das gefällt mir. Ich meine, ich
kann mich in jeden hineinversetzen. Kein schlechtes Gefühl. Es wird nicht anhalten. Aber ich genieße es, solange
ich kann.“
I Remember … das Prinzip erscheint so offensichtlich,
so selbstverständlich, so grundlegend und auch so uralt –
wie eine Zauberformel, die seit der Erfindung der Schrift
bekannt ist. Man schreibe die Worte: Ich erinnere mich,
gehe einen Moment in sich, damit der Geist sich öffnen
kann, und schon wird man sich zwangsläufig erinnern,
und zwar so deutlich und detailliert, dass man erstaunt ist.
Inzwischen wird diese Methode in allen Kursen für kreatives Schreiben angewendet, bei Kindern, Studenten oder
Senioren, und immer mit dem Ergebnis, dass längst vergessene Einzelheiten einer gelebten Erfahrung an die Oberfläche kommen. Siri Hustvedt schreibt in ihrem vor kurzem
erschienenen Buch Die zitternde Frau oder Eine Geschichte meiner Nerven: „Joe Brainard entdeckte eine Gedächtnismaschine.“
Aber wenn man diese Maschine entdeckt hat, wie benutzt man sie dann? Wie bändigt man die Erinnerungen,
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die durch einen hindurch in das Kunstwerk strömen, wie
macht man ein Buch daraus, das auch andere und nicht
nur einen selbst anspricht? Seit 1975 haben viele ihre eigene
Version von I Remember geschrieben, aber keiner hat es
auch nur annähernd geschafft, den Geist von Brainards
Original zu kopieren; über das rein Private und Persönliche
so hinauszugehen, dass es ein Stück über jeden wird – wie
alle großen Romane jeden von uns spiegeln. Es scheint mir,
dass Brainards Geheimnis das Zusammenspiel verschiedener Kräfte ist, die gleichzeitig durch das ganze Buch
hindurch wirken: die hypnotische Macht der Beschwörungsformel; die Ökonomie der Prosa; der Mut des Autors,
private Dinge (meist sexueller Natur) zu enthüllen, die die
meisten von uns schamhaft verschweigen würden; das Auge
des Malers für Details; die Gabe des Geschichtenerzählens;
das Widerstreben, über andere zu urteilen; die innere
Wachsamkeit, der Mangel an Selbstmitleid, die Modulation
des Tons, der mal geradeheraus, mal poetisch ist. Und getragen wird dies alles von dieser äußerst komplexen (und
äußerst ansprechenden) musikalischen Struktur des Buchs
in seiner Gesamtheit.
Mit Musik meine ich Kontrapunkt, Fuge und Wiederholung, das Verweben unterschiedlicher Stimmen in
diesen knapp tausendfünfhundert Einträgen des Buches.
Ein Thema wird für kurze Zeit aufgenommen, fallengelassen und dann wieder aufgegriffen, vergleichbar mit
einem Horn, das für ein paar Augenblicke in einem
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Orchesterstück ertönt, um von einer Violine abgelöst zu
werden, die wiederum einem Cello weicht, bis das Horn,
beinahe schon vergessen, plötzlich wieder zurückkehrt.
I Remember ist ein Musikstück für mehrere Instrumente
und unter den verschiedenen Saiten- und Holzblasinstrumenten, die Brainard in seiner mäandernden, stets wechselnden Komposition einsetzt, befinden sich:
Familie (mehr als siebzig Einträge), zum Beispiel: „Ich
erinnere mich an meinen Vater im Ballettröckchen. Als
Ballerina in einem Varieté-Spektakel in der Kirche.“ … „Ich
erinnere mich, dass mir Vater zu förmlich vorkam, und
Daddy sowieso nicht zur Diskussion stand, während Dad
zu gewollt-locker klang. Da es aber das geringste von drei
Übeln zu sein schien, entschied ich mich für gewollt-locker.“
… „Ich erinnere mich an das einzige Mal, dass ich meine
Mutter weinen sah. Ich aß einen Aprikosenkuchen.“
Essen (ungefähr hundert Einträge), erwähnt werden ge-
zuckertes Butterbrot, Salz auf Wassermelonen, Kaubonbons
in Kinos und immer wieder Eiscreme, beispielsweise „Ich
erinnere mich, wie gut ein Glas Wasser nach einer Portion
Eis schmecken kann.“
Kleidung (ungefähr neunzig Einträge), erwähnt werden
rosarote Hemden, Pillbox-Hüte und mit Fischen bedruckte,
breite Krawatten. (Brainards allererster Berufswunsch war
Modedesigner.)
Filme, Filmstars, Fernsehen und Popmusik
(mehr als hundert Einträge), genannt werden Perry Como,
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Liberace, Hopalong Cassidy, Dinah Shore, Tab Hunter,
Marilyn Monroe (mehrere Male) Montgomery Clift, Elvis
Presley, Judy Garland, Jane Russel, Lana Turner, der Lone
Ranger und viele andere. „Ich erinnere mich, dass Betty
Grables Beine für eine Million Dollar versichert waren.“ …
„Ich erinnere mich an Gerüchte darüber, was Marlon Brando alles für seine erste Rolle machen musste.“ … „Ich erinnere mich an Gina Lollobrigidas extrem schmale Taille
in Trapez.“
Schule und Kirche (ungefähr hundert Einträge), zum
Beispiel: „Ich erinnere mich, wie wichtig es für mich in der
High School war, gut auszusehen und beliebt zu sein.“ …
„Ich erinnere mich an einen Geschichtslehrer, der uns damit
drohte, er würde aus dem Fenster (im zweiten Stock) springen, wenn wir nicht sofort ruhig wären.“ … „Ich erinnere
mich, wie die Uhr von drei auf halb vier vorrückte.“ …
„Ich erinnere mich, dass ich zwei Jahre lang im Spanischunterricht mogelte, indem ich die Übersetzungen der Wörter vorab ganz schwach mit Bleistift eintrug.“
Der Körper (mehr als hundert Einträge), sie reichen von
intimen persönlichen Bekenntnissen: „Ich erinnere mich,
dass ich mir einmal meinen Schwanz und meine Eier ganz
genau anschaute und absolut abstoßend fand“ bis zur Beobachtung anderer: „Ich erinnere mich an einen großen
stämmigen Jungen namens Teddy, und wie haarig die Beine
seiner Mutter waren. (Lange schwarze Haare, die von Nylons
platt gedrückt wurden.)“
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Träume, Tagträumereien, Phantasien (mehr als
siebzig Einträge), häufig sexueller Art: „Ich erinnere mich
an Wichsphantasien, in denen ich es mit einem Fremden
im Wald trieb“, aber ebenso häufig auch nicht: „Ich erinnere
mich, dass ich mir vorstellte, ich wäre ein Sänger und würde
ganz allein auf einer leeren Bühne ohne irgendwelche Requisiten stehen, außer einem Scheinwerfer, der auf mich
gerichtet war. Ich würde mein Lied herausschmettern und
meine Zuhörer zu Tränen der Liebe und Zuneigung
rühren.“
Feiertage (fünfzig Einträge), sie kreisen um Weihnachten,
Thanksgiving, Ostern, Halloween und den Vierten Juli:
„Ich erinnere mich, wie trist der Weihnachtstag ist, nachdem man die Geschenke ausgepackt hat.“
Gegenstände und Produkte (mehr als 130 Einträge),
darunter Lampen aus Treibholz, Perlen zum Auffädeln, mit
Bohnensäckchen beschwerte Aschenbecher, Plastiktoilettensitze mit Perlmuttschimmer, mit Edelsteinen besetzte
Flaschenöffner, Ace-Kämme, Rollschuhschlüssel, Aspergum, verbeulte Tischtennisbälle und Miniaturbibeln. „Ich
erinnere mich an die ersten Tintenkulis. Sie rutschten auf
dem Papier und bildeten kleine Tintenklümpchen, die sich
an der Spitze sammelten.“
Sex (mehr als fünfzig Einträge), beschrieben werden erste
heterosexuelle Fummeleien auf der High School: „Ich erinnere mich, wie mir zum ersten Mal einer runtergeholt
wurde (ich bin nie von selbst darauf gekommen). Ich hatte
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keine Ahnung, was sie da anstellte und lag wie ein Zombie
einfach nur da, ohne mich zu rühren“ – später dann homosexuelle Erfahrungen und flüchtige Kontakte mit der
homosexuellen Szene: „Ich erinnere mich, dass ich mir
Vorwürfe machte, nicht die Jungs abzuschleppen, die ich
wahrscheinlich hätte abschleppen können, weil ich Angst
vor einer Abfuhr hatte“ – und auch allgemeinere (oft sehr
anrührende) Bemerkungen: „Ich erinnere mich an frühe
sexuelle Erfahrungen und weiche Knie. Ich bin mir sicher,
dass Sex jetzt viel besser ist, aber weiche Knie vermisse ich
schon.“
Witze und Alltagssprache (mehr als vierzig Einträge),
darunter auch makabre Witze, Mary-Ann-Witze: „Ich
erinnere mich an ‚Mammi, Mammi, ich mag meinen kleinen Bruder nicht.‘ ‚Sei still, Mary Ann, du isst, was auf den
Tisch kommt.‘“ Vertreter-Witze und Redewendungen wie
„to coin a phrase“, „See you later alligator“, „Weil ich’s dir
sage, darum“ und „Ich erinnere mich an den flapsigen
Kommentar ‚oopsy daisy‘, wenn ein Baby umfällt.“
Freunde und Bekannte (mehr als neunzig Einträge),
häufig in der Form von kleinen Geschichten und gewöhnlich auch länger als andere Teile des Buchs. Ein Beispiel:
„Ich erinnere mich an die Bridge-Lehrerin meiner Eltern.
Sie war ziemlich beleibt, ein richtiger Kerl (Kurzhaarschnitt) und Kettenraucherin. Wie sie stolz verkündete,
brauchte sie keine Streichhölzer mit sich herumzuschleppen,
da sie sich jede neue Zigarette an der alten anzündete. Sie
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lebte in einem kleinen Haus hinter einem Restaurant und
ist uralt geworden.“ Ein weiteres Beispiel: „Ich erinnere
mich an Anne Kepler. Sie spielte Flöte. Ich erinnere mich
an ihre geraden Schultern. Ich erinnere mich an ihre großen
Augen. An ihre leicht römische Nase. Und ihre vollen Lippen. Ich erinnere mich an ein Ölbild, das ich von ihr beim
Flöten gemalt habe. Vor ein paar Jahren kam sie bei einem
Feuer in einem Brooklyner Kinderheim um, wo sie ein
Flötenkonzert gegeben hatte. Die Kinder wurden alle gerettet. Sie hatte etwas von weißem Marmor an sich.“
Autobiographische Fragmente (zwanzig Einträge),
ein von Brainard weniger konsequent verfolgtes und erforschtes Thema, aber von fundamentaler Wichtigkeit für
das Verständnis seines Werks, seines Lebens. Er berichtet
über seine Ankunft in New York, sein Stottern, seine Befangenheit, seine erste Begegnung mit dem Lyriker Frank
O’Hara, seine Armut, seine völlige Mittellosigkeit während
seiner ersten Zeit in Boston: „Ich erinnere mich, wie ich
aus den Aschern vor dem Bostoner Kunstmuseum Kippen
herausfischte“, über das unglückliche, kurze Zwischenspiel
als Stipendiat am Dayton Art Institute: „Ich erinnere mich
an die Kunstmesse in Dayton, Ohio“, und er schildert ausführlich, wie er sich mustern ließ und einen Ablehnungsbescheid bekam, nachdem er sich als Homosexueller zu
erkennen gegeben hatte (obwohl er damals noch jungfräulich gewesen ist). Vor Augen steht uns ein von Selbstzweifeln
geplagter Künstler, auf die wahrscheinlich auch sein
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Entschluss zurückzuführen ist, in den letzten fünfzehn
Jahren seines Lebens nicht mehr auszustellen, wie aus diesem lakonischen, aber umso eindringlicheren Eintrag zu
ersehen ist: „Ich erinnere mich, dass ich mich für einen
großen Künstler hielt.“
Erkenntnisse und Geständnisse (vierzig Einträge),
die meisten beschäftigen sich mit Brainards Innenleben
und Charakter und handeln von seiner extremen Schüchternheit: „Ich erinnere mich, dass ich nie vor anderen Leuten weinte.“ … „Ich erinnere mich, dass ich es mir peinlich
war, mich in der Öffentlichkeit zu schnäuzen“, seiner Befangenheit bei gesellschaftlichen Anlässen („Ich erinnere
mich an Partys, an denen man wirklich alles versucht hat,
um eine Unterhaltung am Leben zu erhalten – sich dann
aber immer noch wie angewachsen gegenüberstand.“), und
hier und da tauchen Beispiele von überwältigender emotionaler Klarheit auf: „Ich erinnere mich, dass das Leben
damals schon so schwer war wie heute“, was vielleicht der
wichtigste Satz im Buch ist, der Grund, weshalb sich die
tausendfünfhundert Fragmente von I Remember zu einem
so beständigen und ganzheitlichen Stück zusammenfügen.
Grübeleien (mehr als dreißig Einträge), verfolgt werden
die flüchtigen Gedanken, die einem so durch den Kopf
schießen, die Irrungen und Wirrungen eines Jugendlichen,
der die Welt zu ergründen versucht, die kuriosen Fragen,
die sich jeder irgendwann einmal stellt: „Ich erinnere mich,
dass ich nicht verstand, warum die Leute auf der anderen
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Seite der Erdkugel nicht herunterfielen.“ … „Ich erinnere
mich, dass ich mich fragte, ob Mädchen auch furzen.“ …
„Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, wie es Schildkröten
machen.“ … „Ich erinnere mich, dass ich einmal dachte,
nach dem Pinkeln zu spülen sei eigentlich eine Wasserverschwendung. Und ich erinnere mich, dass ich mir überlegte,
die Pisse müsse ja zu etwas gut sein, jemand müsste nur
draufkommen, zu was, er könnte ein Vermögen machen.“
Aus diesen verschiedenen Themen ist I Remember Faden für Faden gewoben. Zu seinen großen Vorzügen zählt,
dass das Buch die sinnlichen Eindrücke in den Mittelpunkt
stellt (was ist es für ein Gefühl, wenn man sich im Friseurladen die Haare schneiden lässt, wenn „man sich richtig
schnell dreht und dreht, bis man sich nicht mehr aufrecht
halten kann“, wenn man das Wasser in seinem Bauch gurgeln hört und denkt, man hätte einen Tumor), dass es die
alltäglichen und banalen Details eines amerikanischen
Panoramas der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre
liebevoll auflistet und das Bild eines Individuums vermittelt – das des bescheidenen, zurückhaltenden jungen Joe
Brainards. Und das alles ist so genau und frei von jeder
Hemmung beschrieben, dass der Leser unweigerlich sein
eigenes Leben darin wiedererkennt. Die Erinnerungen
stürmen auf einen ein, unbarmherzig und ohne Unterlass,
eine nach der andern, ohne sich von chronologischen oder
geographischen Strukturen einengen zu lassen. Eben war
es noch New York, gleich darauf ist es Tulsa oder Boston;
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auf eine Erinnerung, die zwanzig Jahre zurückliegt, folgt
eine von der letzten Woche, und je mehr wir uns hineinlesen, desto stärker wird der Nachhall der einzelnen Stimmen. Wie Brainard bemerkte, als er I Remember verfasste:
Es ist wahrhaftig ein Buch, das jedem gehört.
Aufschlussreich ist auch, was in Brainards Buch nicht
erwähnt wird, all diese Dinge, die die meisten von uns
wahrscheinlich erwähnt hätten, wären wir aufgefordert
worden, uns hinzusetzen und unsere eigene Version von
I Remember zu schreiben. Keine Erinnerung an Konflikte
mit Geschwistern, keine an Gemeinheiten oder physische
Gewalt, keine Wutausbrüche, kein Bedürfnis, eine Rechnung zu begleichen, keine Bitterkeit. Abgesehen von kurzen
Hinweisen auf die Ermordung Kennedys, „Korea“ (in Anführungszeichen) und dem „I Like Ike“ Slogan der Präsidentschaftskampagne Eisenhowers, gibt es auch keine
Erinnerungen an politische, öffentliche oder nationale
Ereignisse. Mondrian, Picasso und van Gogh werden alle
erwähnt, aber kein Wort über Brainards eigene Entwicklung als bildender Künstler, und abgesehen von seiner
kurzen Bemerkung, dass er in Boston sämtliche Romane
Dostojewskis gelesen habe, keine Erinnerungen an das
Werk anderer Schriftsteller, obwohl Brainard ein leidenschaftlicher Leser von Romanen war. Keine Klagen, keine
Wut und kaum Tränen. Nur ein Eintrag („Ich erinnere
mich, dass ich völlig hysterisch und verzweifelt in einer
stockdunklen Nacht meine Brille von der Staten Island
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Fähre ins Meer schleuderte“), lässt seelische Qualen oder
einen Aufruhr der Gefühle erahnen. Brainards Buch wurde
zu einem Zeitpunkt geschrieben, als die sogenannte Bekenntnislyrik die amerikanische Literaturszene beherrschte.
Sylvia Plath, Anne Sexton und John Berryman (alles Suizide) waren en vogue, und persönliche Ergüsse waren eine
gängige, ja gepriesene Form des poetischen Diskurses. Brainard bekennt, aber er schwadroniert nicht, und er hat kein
Interesse daran, seine eigene Lebensgeschichte zu mythologisieren. Er verführt uns mit seiner Sanftmut, seinem
Verzicht auf jeden Pomp, seinem unerschütterlichen Interesse für alles, was die Welt ihm zu bieten hat. Er fängt
klein an und endet klein, aber die kumulative Kraft so vieler
kleiner, wundervoll wiedergegebener Beobachtungen macht
aus seinem Buch ein Werk, das, wie ich glaube, seinen festen
Platz in der amerikanischen Literatur einnehmen wird.
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Joe Brainard
Ich erinnere mich
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einen Brief
mit dem Vermerk „Nach fünf Tagen an Absender
zurücksenden“ bekam. Ich glaubte, ich müsste den
Brief nach den fünf Tagen, die ich ihn behalten durfte, wieder an den Absender zurückschicken.
Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war, wenn ich
die Schubladen meiner Eltern auf der Suche nach
Parisern (Marke Peacock) durchwühlte.
Ich erinnere mich, dass Kinderlähmung einmal die
schlimmste Sache der Welt war.
Ich erinnere mich an rosafarbene Anzughemden.
Und an Cowboykrawatten.
Ich erinnere mich, dass mir ein Kind erzählte, dass
die sauren, kleeblattähnlichen Blätter, die wir häufig
aßen (die mit den gelben kleinen Blüten), deshalb
so sauer schmecken, weil Hunde darauf pinkelten.
Und ich erinnere mich, dass das mich nicht davon
abgehalten hat, sie weiterhin zu essen.
Ich erinnere mich an meine erste, bewusst angefertigte Zeichnung. Es war eine Braut mit einer riesigen
Schleppe.
Ich erinnere mich an meine erste Zigarette. Es war
eine Kent. Auf einem Hügel. In Tulsa, Oklahoma. Mit
Ron Padgett.
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Ich erinnere mich an meine ersten Erektionen. Ich
dachte, ich hätte irgendeine schreckliche Krankheit.
Ich erinnere mich an das einzige Mal, dass ich meine
Mutter weinen sah. Ich aß einen Aprikosenkuchen.
Ich erinnere mich, dass ich mir dreimal Süd Pazifik
(den Film) angeschaut habe und dass ich jedes Mal
dabei heulen musste.
Ich erinnere mich, wie gut ein Glas Wasser nach einer Portion Eis schmecken kann.
Ich erinnere mich an die Ehrennadel, die ich überreicht bekam, weil ich fünf Jahre lang an keinem
einzigen Vormittag in der Sonntagsschule (der Methodisten) gefehlt hatte.
Ich erinnere mich daran, dass ich als Marilyn Monroe
verkleidet zu einer Komm-als-dein-Star-Party ging.
Ich erinnere mich an eines der ersten Dinge, an die
ich mich erinnern kann: einen Eisschrank (etwas
anderes als ein Kühlschrank).
Ich erinnere mich an weiße Margarine in einem
Plastikbeutel. Und an ein kleines Päckchen orangefarbenes Pulver. Das Pulver schüttete man in den
Margarine-Beutel. Dann knetete man das Ganze so
lange kräftig durch, bis die Margarine gelb wurde.
Ich erinnere mich, wie fürchterlich ich gestottert habe.
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Ich erinnere mich, wie wichtig es für mich in der High
School war, gut auszusehen und beliebt zu sein.
Ich erinnere mich, dass man in der High School als
schwul galt, wenn man donnerstags Grün und Gelb
trug.
Ich erinnere mich, dass ich mir in der High School
eine Socke in den Slip stopfte.
Ich erinnere mich, dass ich Pfarrer werden wollte.
Ich erinnere mich nicht, wann ich es nicht mehr werden wollte.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich ferngesehen habe. Lucille Ball nahm Ballettunterricht.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem John Kennedy
erschossen wurde.
Ich erinnere mich, dass ich mir zu meinem fünften
Geburtstag nur ein einschultriges schwarzes Abendkleid wünschte. Und bekam. Ich trug es zu meiner
Geburtstagsparty.
Ich erinnere mich, dass in einem Traum, den ich
kürzlich hatte, John Ashbery sagte, die Bilder meiner
Mondrian-Periode seien besser als die Mondrians.
Ich erinnere mich, dass ich oft den Traum hatte, fliegen zu können (ohne Flugzeug).
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Ich erinnere mich an viele Träume, in denen ich Gold
und Juwelen gefunden habe.
Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen. Ich passte nach der Schule auf ihn auf, wenn seine Mutter
arbeiten war. Ich erinnere mich, dass es mir einen
Riesenspaß bereitete, ihn zu bestrafen, wenn er böse
gewesen war.
Ich erinnere mich, dass ich häufig von einer schönen
roten und gelben und schwarzen Schlange in leuchtend grünem Gras träumte.
Ich erinnere mich an das St. Louis meiner Kindheit.
Ich erinnere mich an den Tattooladen neben der Bushaltestelle und an die beiden großen Löwen vor dem
Kunstmuseum.
Ich erinnere mich an den Geschichtslehrer, der uns
damit drohte, er würde aus dem Fenster (im zweiten
Stock) springen, wenn wir nicht sofort ruhig wären.
Ich erinnere mich an meine erste sexuelle Erfahrung
in einer U-Bahn. Ein junger Kerl (ich traute mich
nicht, ihn anzuschauen) hatte einen Ständer und rieb
sich an meinem Arm. Ich wurde richtig geil, und als
meine Haltestelle kam, stürzte ich raus und lief nach
Hause, wo ich versuchte, mit meinem Schwanz als
Pinsel ein Ölbild zu malen.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich total betrunken war. Ich bemalte mir Hände und Gesicht
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mit grüner Ostereierfarbe und verbrachte die Nacht
in der Badewanne von Pat Padgett. Sie hieß damals
noch Pat Mitchell.
Ich erinnere mich noch an eine andere frühe sexuelle Erfahrung. Im Kinosaal des Museums für moderne Kunst. An den Film selbst erinnere ich mich
nicht mehr. Zuerst presste sich ein Knie gegen das
meine. Dann kroch eine Hand von meinem Knie
zwischen meine Beine. Wanderte in meine Hose und
dann in meine Unterhose. Es war sehr aufregend,
aber ich traute mich nicht, ihn anzuschauen. Er ging,
bevor der Film zu Ende war, und ich dachte, er würde draußen bei der Ausstellung mit den Lithographien auf mich warten, aber ich stand dort herum,
und niemand interessierte sich für mich.
Ich erinnere mich, dass ich in der East Sixth Street,
in einem ehemaligen Ladenlokal wohnte. Nebenan
war eine Firma, wo Fleisch verpackt wurde. Ein
enorm dicker Typ, der dort arbeitete und wie ich in
den Diner um die Ecke essen ging, ist mir nach Hause gefolgt und hat mich gefragt, ob er reinkommen
und sich meine Bilder anschauen könne. Kaum war
er drin, hatte er auch schon den Reißverschluss seiner
blutbefleckten, weißen Hose aufgerissen und einen
Riesenschwanz rausgezogen. Ich sollte ihn anfassen,
was ich auch tat. So widerwärtig das auch war, so
aufregend fand ich es, außerdem wollte ich seine Gefühle nicht verletzen. Aber ich sagte dann doch, ich
müsse noch mal raus, und er fragte: „Wir sehen uns
doch wieder ?“ und ich sagte, nein, aber er ließ nicht
locker, bis ich schließlich ja sagte. Er war wirklich
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sehr fett und hässlich und abstoßend, und als unser
Treffen stattfinden sollte, bin ich aus dem Haus gegangen und habe einen Spaziergang gemacht. Aber
natürlich war er der Erste, dem ich über den Weg
lief, er sah richtig sauber und adrett aus. Es tat mir
leid, ihm sagen zu müssen, ich hätte es mir anders
überlegt. Er bot mir Geld an, aber ich blieb bei meinem Nein.
Ich erinnere mich an die Bridge-Lehrerin meiner
Eltern. Sie war ziemlich beleibt, ein richtiger Kerl
(Kurzhaarschnitt) und Kettenraucherin. Wie sie stolz
verkündete, brauchte sie keine Streichhölzer mit sich
herumzuschleppen, da sie sich jede neue Zigarette
an der alten anzündete. Sie lebte in einem kleinen
Haus hinter einem Restaurant und ist uralt geworden.
Ich erinnere mich an Doktorspiele in der Garderobe.
Ich erinnere mich, dass ich in großen, schwarzen
Lettern ICH HASSE TED BERRIGAN auf meine
weißgetünchte Wand malte.
Ich erinnere mich, dass ich völlig hysterisch und verzweifelt in einer stockdunklen Nacht meine Brille
von der Staten Island Fähre ins Meer schleuderte.
Ich erinnere mich, dass ich mir das Gesicht zerkratzte, weil ich wollte, dass die Leute mich fragten, wie
das passiert sei. Ich wollte dann sagen, meine Katze
sei’s gewesen, aber natürlich hätte jeder gewusst, dass
es keine Katze gewesen sein konnte.
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