Heft 21 - Gleimhaus

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Heft 21 - Gleimhaus
FÖRDERKREIS GLEIMHAUS e.V.
Domplatz 31
38820 Halberstadt
Jahrgang 2012 · Heft 21
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Familienkundliche Arbeitsgemeinschaft
im Förderkreis Gleimhaus e.V.
VORSTAND
Ehrenvorsitzender
Vorsitzender
Stellvertretende Vorsitzende
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Wolfgang Koch
Udo Mammen
Kerstin Langer
Dr. Ingeburg Stoyan
Rosemarie Schaumberg
Marita Spiller
Jürgen Jüling
Dr. Ute Pott
Direktorin des Gleimhauses
Zurzeit beträgt der jährliche Beitrag
26,– € für persönliche Mitglieder
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Der Förderkreis Gleimhaus e. V. ist unter der Nummer VR 241 in das Vereinsregister
beim Amtsgericht Stendal eingetragen und durch Freistellungsbescheid des
Finanzamtes Halberstadt vom 26.06.2009 als gemeinnützigen Zwecken dienend
anerkannt worden. Spenden für den Förderkreis sind bei der Einkommensteuer
und der Körperschaftssteuer abzugsfähig.
ISSN 1434-6281
Die 1848 abgebrochene alte St. Johanniskirche in Bennungen,
in welcher Christian Werckmeister die Orgel gespielt hat
und Andreas Werckmeister von ihm im Orgelspiel unterrichtet wurde
(Zeichnung von Carl Gebser aus dem Jahre 1897; Archiv und Repro. H. Noack)
Neuer Familienkundlicher Abend
Familienkundliche Arbeitsgemeinschaft
im Förderkreis Gleimhaus e.V.
Inhalt
Seite
Die Beziehungen der Benneckensteiner Organistenfamilie
Werckmeister zu Halberstadt
(Lutz Wille)........................................................................................... 5
Gedicht: Macht-Rausch (Christian Morgenstern).............................. 18
Abseits – wer ist’s? (Bernd Wolff)...................................................... 19
Walter Krienitz: Die Vorfahren, die Kinder, die Zeit
(Renate Chotjewitz-Häfner †)............................................................ 25
Kurzer medizinischer Nachtrag zu Walter Krienitz............................ 49
Gedicht: Landschaftskalender (Christel Trausch).............................. 50
Halberstädter Familiengeschichten mit astronomischen Zutaten
(Reinhard E. Schielicke)..................................................................... 51
Neue Gedichte (Christel Trausch)...................................................... 69
Start eines neuen Familienunternehmens (Helga Scholz)................. 71
Die bauliche Entwicklung in Halberstadt in den Jahren nach
der Zerstörung der historischen Bausubstanz am 8. April 1945
bis zum Wiederaufbau des Stadtzentrums im Vorfeld
der Jahrtausendwende (1. Teil) (Simone Bliemeister)........................ 83
Einige Gedanken zum Niederdeutschen (Eva Brandt)...................... 95
Nachrufe: Martin Bluhm (Udo Mammen),
Rolf Hillmer (Horst Hoffmann)............................................................ 99
Neuer Familienkundlicher Abend 2011........................................... 104
Förderkreis Gleimhaus e.V., Domplatz 31, 38820 Halberstadt
Arbeitsgemeinschaft „Neuer Familienkundlicher Abend“
Redaktion: Udo Mammen, Ines Wieczorek
Gesamtherstellung: Halberstädter Druckhaus GmbH, Halberstadt
Telefon: 03941 6956-0
3
Anschriften der Autoren
Simone Bliemeister, Domplatz 36, 38820 Halberstadt
Eva Brandt, Clara-Zetkin-Str. 47, 39387 Oschersleben/Bode
Otto Häfner, Almrotherstraße 16, 30519 Hannover
Horst Hoffmann, Schillerstraße 3, 29525 Uelzen
Udo Mammen, Straße der Opfer des Faschismus 28, 38820 Halberstadt
Dr.-Ing. Reinhard E. Schielicke, p. A. Astrophysikalisches Institut
und Universitäts-Sternwarte Jena, Schillergäßchen 2, 07749 Jena
PD Dr. med. habil. Steffen Rickes, Gleimstraße 5, 38820 Halberstadt
Helga Scholz, Spiegelsbergenweg 30, 38820 Halberstadt
Christel Trausch, Reihe 33, 38828 Wegeleben
Prof. Dr. Lutz Wille, Griethweg 21, 69198 Schriesheim
Bernd Wolff, Kreuzstraße 16, 38889 Blankenburg
4
Die Beziehungen der Benneckensteiner
Organistenfamilie Werckmeister zu Halberstadt
Von Lutz Wille
Drei Generationen des Geschlechts der Werckmeister, das in der
2. Hälfte des 17. Jahrhunderts im Harz und in seinen Vorlanden über
mehrere Generationen eine Reihe von Organisten gestellt hat, lassen
sich in Halberstadt nachweisen.
Ausweislich der Eintragung in die Matrikel der Academia Julia in
Helmstedt war Halberstadt der Heimatort des Stammvaters der Familie, von Victor (1) Werckmeister: „37. Victor Werckmeister, Halberstadensis, Febr. 20, 1600.“ 1 Noch einmal erscheint sein Name in
den Listen des Konvikts 1606/1607, einer sozialen Einrichtung, welche
minderbemittelten Studenten eine verbilligte Speisung morgens und
abends auf vier Jahre gewährte.2 Demnach hat sich Werckmeister zu
Studienzwecken in Helmstedt zwischen 1600 und 1607 aufgehalten.
Die 1576 von Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel
gegründete Universität war damals maßgeblich für den norddeut-
1: Der Universitätsbereich in Helmstedt. Die Gebäude waren bereits fertig gestellt,
als Victor (1) Werckmeister dort von 1600–1607 studierte (Merian, Topographia …
Hertzogthümer Braunschweig und Lüneburg 1654; Repro L. Wille).
5
schen Raum und entwickelte sich rasch zur drittgrößten Hochschule
nach Wittenberg und Leipzig (Abb. 1). Werckmeister dürfte das etwa
zweijährige propädeutische Grundstudium universale an der Philosophischen Fakultät absolviert haben, welches die Voraussetzung für
ein Studium der Theologie bildete.3 Letzteres hat er wohl nicht aufgenommen, denn in den Universitätsakten ist weder der Erwerb des
Magistergrades noch eine Promotion nachweisbar. Er studierte dort
in der Glanzzeit des sog. Helmstedter Späthumanismus. Nach seiner
Studienzeit finden wir ihn als Kantor in Elbingerode. 4 Dort lernte er seine Frau kennen, Margaretha Löwen, die Tochter des Bürgermeisters.5
1626 wählte ihn die Gemeinde von Benneckenstein zu ihrem Pastor.
Seine Unterschrift findet sich in den sog. Subskriptenbüchern, die eine
Verpflichtung der berufenen Kirchen-, Schul- und anderer Landesbedienteste auf das „Corpus doctrinae Julium“ enthalten: „Huic corpore
Julio Ego Victor Werckmeister designatus Pastor in Benekenstein sincere et fideli manu subscribo 25. Novemb. Ao 1626“.6 Dabei handelt
es sich um den gedruckten Text der Kirchenordnung von Herzog Julius
aus dem Jahre 1569 mit den Bekenntnisschriften.
Mitten im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) hat Werckmeister sein
Pastorenamt für Benneckenstein und den Hüttenort Sorge angetreten.
Im Ort lebten zu jener Zeit etwa 600-800 Einwohner.7 Die Lebensgrundlagen bildeten damals Bergbau und Hüttenwesen, Köhlerei, Waldarbeit,
Fuhrgewerbe, Schmiedehandwerk und Holzverarbeitung; nebenberuflich wurden etwas Landwirtschaft und Viehzucht betrieben. Im siebenten Kriegjahre hatte sich das wechselvolle Kriegsgeschehen nach Mitteldeutschland verlagert, weil die kaiserlichen Streitkräfte versuchten,
das Bistum Halberstadt und das Erzbistum Magdeburg von den Protestanten zurückzugewinnen. Tilly fiel im Juli 1625 in das Fürstentum
Wolfenbüttel ein; Wallenstein schlug im Oktober 1625 sein Hauptquartier in Halberstadt auf. Sein Kriegvolk kampierte im Bruch zwischen
Cattenstedt und Wienrode bei Blankenburg, plünderte und brandschatzte Stadt und Land. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wie Raub,
Mord, Vergewaltigungen und Verwüstungen provozierten Widerstand
und führten zur Entwicklung der Harzschützenbewegung. Die Harzschützen führten guerillaartige Aktionen gegen durchziehende Soldaten
beider Kriegsparteien aus. Es traf Benneckenstein hart, als am 11. Juli
1627 der Wallensteinsche Obristleutnant Freiherr David Peckherr von
der Ehr von Halberstadt aus im Rahmen einer Strafaktion gegen die
Harzschützen befahl, „ daß dorf und doch nur die etlich wenig heuser,
darinnen sy geweßen und herauß nicht zu bringen waren, in prand zu
6
steckhen“8 Für die Menschen war es eine schreckliche, hoffnungslose,
Existenz bedrohend Zeit, die nach der Zerstörung Benneckensteins zu
einer Verrohung der Menschen und zu einer Verwilderung der Sitten
führte, wie Werckmeister an die Kanzlei in Sondershausen berichtete.:
„und ist zu beklagen, daß sie so wenigk nach Gottes Word fragen; und
daß bißweilen in solcher großen gemeinde nicht 4 oder 6 hauswirhte in
die kirchen kommen;…auch keine obrigkeit noch pfarherr achten, sondern verkleinern, schmehen und schenden, wie es ihnen gefellt; auch
woll mit dreuworten sich vernehmen lassen, wenn man sie mahnen oder
anherrschen läst, und also kein vermahnen oder strafen hilft“9
Werckmeister wirkte in Benneckenstein bis zu seinem 90. Lebensjahr, 1660; die von ihm erbaute alte Pfarre steht heute noch (Abb. 2).
Dann beriefen Konsistorium und Kanzlei von Schwarzburg-Rudolstadt
Andreas Rubenus, bis dahin Pastor in Jechta, zu seinem Nachfolger.
Der greise Pastor konnte sich zur Ruhe setzen. Anfang August 1666
verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Am 9. August wurde
Werckmeister in Benneckenstein zu Grabe getragen. Er starb im Alter
2: Die alte Pfarre in Benneckenstein, erbaut von Victor Werckmeister im Jahre 1656
(Foto L. Wille).
7
3: Stammtafel von Victor (1) Werckmeister, 1. Folgegeneration (erarbeitet von L. Wille)
von 96 Jahren und wurde damit – errechnet – 1570 in Halberstadt geboren.10 Dort hat er sehr wahrscheinlich seine schulische Ausbildung
auf einer der evangelisch-lutherischen Schulen erhalten; ob dies auf
dem renommierten Martineum geschah, welches 1545 gegründet wurde, muss wegen fehlender Listen der Alumni offen bleiben.
Victor Werckmeister und seine Frau Margaretha hatten drei Söhne
(Abb. 3):
• Joachim, Gerichtsschöppe, Brauer und Ackermann in Benneckenstein,
• Christian
• Victor (2)
Joachim ist der Vater von Andreas Werckmeister (1645-1706), dem
bedeutenden Musiktheoretiker, Organisten und Orgelfachmann des
17. Jahrhunderts. Die geistige und musikalische Entwicklung des jungen Andreas, der in Benneckenstein geboren wurde, haben wesentlich
seine Onkel Christian, Organist in Bennungen, und Victor (2), Kantor in
Quedlinburg geprägt.
8
Christian Werckmeister ist vermutlich der Zweitälteste der Söhne.
Sein Geburtsjahr ist nirgends verzeichnet, doch lässt es sich auf Grund
der Lebensdaten seiner Frau und der Geburt seines ersten Kindes mit
etwa 1630 errechnen. Er wurde demnach in Benneckenstein geboren.
Sicherlich besuchte er dort die Knabenschule. Über eine Gymnasialzeit ist nichts bekannt; sie könnte in Nordhausen erfolgt sein.
Wie sein Bruder Victor (2) erhielt er eine akademische Ausbildung an
der Universität Helmstedt. Ihre gemeinsame Immatrikulation erfolgte
am 2. September 1648, wenige Wochen vor dem Friedensschluss von
Osnabrück: „Victor Werckmeister, Christianus Werckmeister, Benneckensteinenses“.11 Über die Dauer der Studienzeit ergeben sich aus
den Universitätsakten keine Anhaltspunkte. Nach dem Niedergang
während des Dreißigjährigen Krieges und einer Unterbrechung des
Lehrbetriebes zwischen 1626 und 1628, befand sich die Academie Julia zu dieser Zeit in ihrer zweiten Glanzperiode. Christian Werckmeister
dürfte hier zumindest ein zweijähriges Grundstudium an der Philosophischen Fakultät bis Ende 1650 belegt haben. Drei Jahre später, am
1. Januar 1654, begegnet er uns mit dem Einsetzen der Kirchenbücher
in Bennungen/Goldene Aue als bestallter Organist und Knabenschullehrer (Abb. siehe Titelbild).12
Auch hier waren 1661, 13 Jahre nach Ende des Dreißigjährigen Krieges,
die verheerenden Folgen noch nicht beseitigt, wie aus einem Schreiben
von Pfarrer, Schultheiß und der Kirchenvorsteher an den Grafen Johann Martin zu Stolberg hervorgeht: „welcher gestalt unser kirchthurm
zu Bennungen bey dem langwierigen und verderblichen vergangenen
kriegeswesen gantz baufällig und wandelbar worden, also gar, daß wir
in stündlicher gefahr und beysorge stehen müssen, daß er sambt den
dreyen glocken überm haupte fallen und werklich große schäden und
unglück verursachen möchte, … etliche viertzig wüste städten allhier
noch unerbaut liegen, und unsere gemeinde dahero in groß abnehmen
gerathen, auch in der Beyrischen einquartierung etliche zwantzig häuser abgebrannt und noch nicht erbauet.“13
Werckmeister heiratete Magdalena Schennert, vermutlich in den letzten
Monaten des Jahres 1655. Am 29. September 1655 (Festo Michaelis)
wird sie im Kirchenbuch von Bennungen unter den confitentes (Abendmahlsteilnehmern) noch als „seine Braut“ aufgeführt,14 am 29. Januar
1656 erscheint sie bereits als „des Organisten Weib, Magdalena“ und
übernimmt die Patenschaft für das Kind Andreas Koch.15 Es findet sich
kein Eintrag über die Trauung; sie fand offenbar auswärts statt. Auch
ist in dieser Zeit der Familienname seiner Frau in Bennungen unbe-
9
kannt. Einiges weist auf ihre Herkunft aus Benneckenstein hin, wo in
jener Zeit der Name „Schönnert“ und „Schönert“ vorkommt.
Im Jahr 1661 hält er um das neu geschaffene Organistenamt in Benneckenstein an und wird nach Vorspiel von der Gemeinde zum Organisten
gewählt.16 In die Familie werden sieben Mädchen und ein Junge geboren; fünf der Mädchen sterben bereits in frühen Kindesalter. Christian
Werckmeister wird am 19. April 1705 in Benneckenstein beerdigt.17
Sein Neffe Andreas Werckmeister, Sohn des Joachim Werckmeisters
(s.o.), weilte von 1658 bis 1660 bei ihm, besuchte in Bennungen die
Schule und erhielt von seinem akademisch gebildeten Onkel vermutlich nicht nur musikalische Unterweisungen und Anleitungen zum Orgelspiel, bevor er am 15. August 1660 auf das Gymnasium in Nordhausen wechselte.18 Zu dieser Zeit gab es in Benneckenstein noch keine
Orgel. Andreas Werckmeister ist mehrmals im Kirchenbuch von Bennungen zwischen März 1658 und November 1659 unter den communicantes (Abendmahlsteilnehmern) zusammen mit seinem Onkel und
seiner Tante aufgeführt.19
Nur 2 Jahre besuchte Andreas Werckmeister das Gymnasium in Nordhausen. „Nachdem es ihm aber daselbst am freyen Hospitio gemangelt, und seines seeligen Vaters Bruder Hr. Victor Werckmeister, damaliger wohlverordneter Cantor zu Quedlinburg, ihn gerne bey sich
gesehen, als hat er sich in das Quedlinburgische Gymnasium begeben,
da Er denn auch mit einen freyen Hospitatio versehen worden“.20 Damit
gewann sein Onkel, Victor (2) Werckmeister einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung seines Neffen. Für weitere zwei Jahre setzte
Andreas Werckmeister seine Gymnasialausbildung in Quedlinburg fort.
Zu einem anschließenden Universitätsstudium ist es nicht gekommen.
Es liegt nahe zu vermuten, dass ihn sein Onkel gedrängt hat, 1664 eine
Berufung als Organist an die St. Antonius-Kirche in Hasselfelde anzunehmen. Dort lernte Andreas Werckmeister seine erste Frau Catharina,
die Tochter des Bürgermeisters Reckleben, kennen. Seine beiden Söhne, Johann Andreas und Johann Bartholomäus wurden dort geboren
(Abb. 5). 1674 ging er als Stadtschreiber und Organist an der St. Jakobi-Kirche nach Elbingerode. Als sich im Jahre 1675 die Äbtissin Anna
Sophia I. Pfalzgräfin bei Rhein entschloss, den Organistendienst für die
Stiftskirche St Servatii von dem der Marktkirche St. Benedikti zu trennen, setze sich Victor Werckmeister erneut für seinen Neffen ein und
empfahl ihn für dieses Amt. Im November 1675 reiste Andreas Werckmeister zur Organistenprobe nach Quedlinburg, die er im Beisein der
Äbtissin und hoher Konsistorialbeamter vor dem Organisten Johann
10
Caspar Trost, Martinikirche zu Halberstadt, und dem Quedlinburger
Stadtkantor Michael Wagner ablegte.21 Später hat Werckmeister diese
Orgelprüfung als schwierig bezeichnet, doch er war erfolgreich und
erhielt am 24. November 1675 die Organisten-Vocation.22 Damit waren
nun Onkel und Neffe gleichzeitig im Dienste des Reichsstiftes und der
Jüngere (Organist) hatte den Weisungen des Älteren (Kantor) zu folgen.
Wer war dieser Victor (2) Werckmeister, der einen so entscheidenden
Einfluss auf den weiteren Lebensweg von Andreas Werckmeister gewinnen sollte? Er ist der jüngste Sohn von Victor (1) Werckmeister und
wurde am 25. Januar 1635 (errechnet) in Benneckenstein geboren.
Sicher hat er dort die Knabenschule besucht, doch dürfte sein Vater
selbst für eine gründliche Ausbildung und Vorbereitung auf eine höhere
Schule, vermutlich in Nordhausen, gesorgt haben. Erkenntnisse darüber liegen allerdings nicht vor. Zwar hat sich Victor Werckmeister am
2. September 1648 – mit 13 Jahren (!) – zusammen mit seinem älteren
Bruder Christian an der Universität Helmstedt eingeschrieben (s.o.),
und sie wurden auch ritu depositionis initiiert (Erstzulassung zum Studium), doch dürfte es sich um eine Voranmeldung gehandelt haben,
denn eine weitere Immatrikulation findet sich im Alter von 21 Jahren
unter dem Datum des 1. Mai 1656.23 Über die Studiendauer und ob er
nach einem philosophischen Grundstudium ein theologisches Hauptstudium aufgenommen hat, ist nichts bekannt.
Um 1660 wurde er als Collega nonus am Gymnasium in Quedlinburg
eingestellt.24 Dort machte Werckmeister nur langsam Karriere. Etwa
alle fünf Jahre stieg er in der Lehrerhierarchie eine Stufe höher. Als
Rektor Schmidt am 10. Juli 1665 feierlich und öffentlich in sein Amt
eingewiesen wurde, erfolgte unter anderen Berufungen auch die Einweisung von Werckmeister als Praefectus octavae.25 1676 rückte er
zum Sextus auf, 1681 wurde er zum Quintus ernannt.26 Als Gymnasiallehrer lehrte er Latein und Griechisch. Unterrichtssprache war nach
den Schulprinzipien von Melanchthon ausschließlich Latein. Es oblagen ihm der Musikunterricht, der in Klasse IV begann, und die Leitung
der Kurrende sowie des Schülerchores bei Kirchenmusiken, Hochzeiten, Beerdigungen und anderen öffentlichen Gelegenheiten.
Als „Cantor aulicus“ (Hofkantor) wird Werckmeister erstmals 1663
durch einen Eintrag als Pate im Taufregister von St. Wiperti fassbar.27
Doch hat er dieses Amt wohl schon 1662 ausgefüllt, folgt man den Angaben in der Leichenpredigt von Johann Melchior Götze auf Andreas
Werckmeister. Ab 1680 wirkte er als Stadtkantor an der Haupt- und
Marktkirche St. Benedikti. Er war für das gesamte Musikleben in Stift
11
4: Stammtafel von Andreas Werckmeister, 1. Folgegeneration (erarbeitet von L. Wille)
12
und Stadt verantwortlich und hatte auch die Festmusik zu besonderen Anlässen zu gestalten. Für diese umfangreichen Aufgaben standen
ihm sowohl die Chorschüler des Gymnasiums wie auch die Stadtpfeifer und Musikanten zur Verfügung.
Im Jahre 1664 heiratete er Catharina, die Tochter des Wernigeröder
Mützenmachers Baltzer Hermann Berendes.28 Das erste gemeinsame
Kind der Werckmeisters, Maria Catharina, wurde 1666 in Quedlinburg
geboren. Ihr folgten zwei weitere Töchter und sieben Söhne, von denen drei ein Studium aufnahmen: Johann Dietrich 1690 in Jena,29 Johann Andreas im gleichen Jahr in Leipzig.30 Der Zweitgeborene, Conrad Heinrich, studierte ab 1688 ebenfalls in Jena31 und trat 1695 die
Pfarrstelle von Wolfsberg und Breitenbach nach dem Tode des dortigen Pfarrers Johann Wilhelm Raubenius an. Er heiratete die älteste
Tochter seines Vorgängers am 15. Oktober 1695.32
Im Jahre 1669 erwarb Victor (2) Werckmeister das Bürgerrecht der
Stadt Quedlinburg. Irgendwann zwischen 1665 und 1675 kaufte er das
Anwesen Bockstr. 4, auf dem eine Braugerechtigkeit ruhte. Das Grundstück im Stadtteil der Benedikti-Gemeinde lag in unmittelbarer Nähe
zur Kirche. Hier lebte er mit seiner großen Familie. Victor (2) Werckmeister starb 1687 im 53. Lebensjahr.
Andreas Werckmeister blieb 21 Jahre im Stiftsdienst zu Quedlinburg.
Als seine Frau hier 1680 starb, heiratete er 1682 zu zweiten Male, Anna
Salome Seelmann, die Tochter des Oberpfarrers von Groß-Salze, welche
ihm vier Mädchen gebar. 1677 übernahm Andreas Werckmeister zusätzlich zum Dienst an St. Servatii das Organistenamt an St. Wiperti. Sein
Sohn Johann Andreas war mit 17 Jahren für etwa 12 Monate 1685/1686
an St. Ägidii tätig, bevor er zu weiteren Studien Quedlinburg verließ und
mit einem Stipendium der Äbtissin des reichsunmittelbaren Quedlinburger Stifts Anna Dorothea (1684 – 1704), Herzogin von Sachsen-Weimar,
an die Academia Julia nach Helmstedt ging. Danach gelang es Andreas Werckmeister 1686, seinen jüngeren Sohn Johann Bartholomäus,
16 Jahre alt, für die nun freie Organistenstelle an St. Ägidii zu empfehlen.
Dort war dieser acht Jahre tätig ist, bis er 1694 die ertragreichere Küsterstelle an der Schlosskirche St. Servatii übernahm. Schließlich wurde er
1701 zum Organisten an St. Servatii und St. Wiperti berufen.
1696 folgte Andreas Werckmeister dem Ruf auf die Organistenstelle
der Ratskirche St. Martini zu Halberstadt, zugleich führte er als Königlich-Preußischer Inspektor die Aufsicht über alle Orgeln im Fürstentum
Halberstadt. Er wohnte in der Kühlinger Straße.
Das geistige Umfeld und den Umgang mit Theologen, Kantoren, Or-
13
ganisten und Orgelbauern in Halberstadt hat Werner Hartmann beschrieben, darunter den zu Konsistorialrat Johann Melchior Götze
(1658 – 1717), Prediger am Dom, Pate von Werckmeisters jüngster
Tochter und Verfasser seiner Leichenpredigt.33 Freundschaftlich verbunden war er mit Magister Adolphus Daniel Schneider und mit Kantor
Henricus Heistermann von St. Martini sowie mit dem „Stifts- und Stadtmusicus“ Johann Georg Carl, die Gelegenheitsgedichte zu seinen musiktheoretischen Werken beisteuerten.34 Den Halberstädter Orgelbauer
Heinrich Jacob Wilcke nannte er seinen „Freund und Schwager“. Letzteres ist wohl im übertragenen Sinne, auf den Orgelbau bezogen, gemeint. Buxtehude hatte enge Kontakte zur Werckmeister, den er 1702
in Halberstadt aufsuchte, nachdem er 1683 seine beiden Orgeln in der
Marienkirche zu Lübeck, vielleicht nach Diskussionen mit Werckmeister, in eine temperierte Stimmung versetzt hatte. Auch Johann Gottfried Walther, ein Vetter von Johann Sebastian Bach, besuchte 1704
Werckmeister in Halberstadt nach einem regen Briefwechsel. Durch
ihn oder auf seiner „Pilgerreise nach Lübeck“ 1706 zu Buxtehude
könnte Bach die „Werckmeister-Stimmungen“ kennen gelernt haben,
die ihn möglicherweise zu seinen zwei Zyklen Präludien und Fugen
durch alle Tonarten, sein „Wohltemperiertes Klavier“, angeregt haben.
Die Halberstädter Zeit findet Andreas Werckmeister auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Bedeutende musiktheoretische Werke wurden
hier überarbeitet oder konzipiert und überwiegend von seinem Quedlinburger Verleger veröffentlich:
• Nucleus musicus, hrsg. vor 1697
• Hypomnemata musica, Quedlinburg 1697
• Erweiterte und verbesserte Orgel-Probe…, Quedlinburg 1698
• Die nothwendigsten Anmerckungen…[zum] Generalbaß, Aschersleben 1698
• Cribrum musicum…, Quedlinburg/Leipzig 1700
• Harmonologia musica…, Franckfurth/Leipzig 1702
• Organum gruningense redivivum…, Quedlinburg/Aschersleben 1704
• Musicalische Paradoxal-Discourse…, Quedlinburg 1707 (postum)
In Halberstadt hatte Andreas Werckmeister eine für die damalige Zeit
große Orgel mit 39 Registern des Halberstädter Orgelbauers David
Beck zur Verfügung, die zwischen 1570 und 1585 eingebaut worden war.35 Ihr eindrucksvoller Renaissance-Prospekt, vor dem Andreas Werckmeister am Spieltisch gesessen hat, kann heute noch in
der Stadtkirche St. Trinitatis zu Derenburg besichtigt werden. Beck
ist auch der Erbauer der berühmten Orgel in Schloss Gröningen
14
(1592 – 96), die Andreas Werckmeister 1705 auf Veranlassung des
Preußenkönigs Friedrich I. begutachtete.
Seinen ältesten Sohn Johann Andreas Werckmeister finden wir ab
1704 ebenfalls in Halberstadt als Organisten an der Johanniskirche,
wo er die von dem Halberstädter Orgelbauer Elias Winnigstedt 1605
erbaute große Orgel mit 38 Registern auf 3 Manualen spielte. Ihr Prospekt ist noch vorhanden. Nach dem Tode seines Vaters übernahm
er 1706 das Organistenamt an der Martinikirche. Dort ist er bis 1738
nachweisbar, danach verliert sich seine Spur in Halberstadt. Sein erstgeborener Sohn Johann Christian (*02.08.1725) wurde Pastor in Treplin; diese Linie setzt sich bis heute fort.
Mitglieder der Familie Werckmeister haben ausgehend von Benneckenstein in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts in einem eng begrenzten territorialen Raum gewirkt.: Benneckenstein, Bennungen,
Elbingerode, Hasselfelde, Halberstadt, Quedlinburg, Wolfsberg. Sie
hatten Stellen als Pfarrer, Kantoren, Organisten und Schöppen inne.
Ihre bedeutendsten Vertreter sind während ihrer Schaffenszeit zu den
Wurzeln ihrer Familie, nach Halberstadt, zurückgekehrt. Die Stadt Benneckenstein hat ihrem großen Sohn Andreas Werckmeister 1995 ein
Denkmal an historischem Ort, auf dem alten Kirchengelände, gesetzt.
5: Das Denkmal für den Musiktheoretiker, Organisten und Orgelfachmann Andreas
Werckmeister in seinem Heimatort Benneckenstein (Foto Ronald Langer).
15
Quellen- und Literaturverzeichnis
1Zimmermann, Paul (Bearb., 1926): Album Academiae Helmstadiensis. S. 147. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Georg Werckmeister, Gelnhausen.
2 Ebd., Fußnote zu Nr. 37.
3Mager, Inge (2003): Die Pfarrerausbildung für die evangelischen Landeskirchen an der welfischen
Universität Helmstedt. In: Harz-Forschungen, Bd. 15, S. 59-76.
4Verein für Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen e.V.
(Hrsg.): Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 9 (2009), S. 343.
5Götze, Johann Melchior (1707): Der Weit-berühmte Musicus und Organista wurde bey trauriger
Leich-Bestellung des weyland Edlen und Kunst-Hoch-erfahrenen Herrn Andreas Werckmeisters
… in einer Stand-Rede dargestellt. Archiv des Gleimhauses, Halberstadt, Nr. C9153.
6 Corp. doctrinae Julium. Landeskirchliches Archiv Wolfenbüttel V 376, Bl. 58.
7Dieser Schätzung liegen das Honsteinsche Erbzinsregister von 1580 und die Einwohnerverzeichnisse von 1724 und 1731 zugrunde.
8Boblenz, Frank (2003): Bericht des Oberst David Peckherr vom 14./24. Juli 1627 über eine Aktion
gegen die Harzschützen und die dabei erfolgte Einäscherung von Benneckenstein. 45. Benneckensteiner Heimatheft, S. 79-86.
9Schreiben von Victor Werckmeister an die Schwarzburgische Kanzlei in Sondershausen vom
3. November 1628, 22. Juni 1629 und vom 1. April 1633. ThStA Rudolstadt, Geheimes Staatsarchiv (Restbestand) Nr. A VII 3c Nr. 6.
10 Kirchenbuch 1a Benneckenstein, S. 132.
11 Album studiosorum, Bd. 2 (1647-1737) StAW, 37 Alt Nr. 2573, S. 29.
12Leopold, Just Ludwig Günther (1817): Kirchen-, Pfarr- und Schul-Chronik der GemeinschaftsAemter Heringen und Kelbra; der Grafschaft Hohnstein, der Stadt Nordhausen und der Grafschaften Stolberg-Rosla und Stolberg-Stolberg seit der Reformation. S. 80-81.
13 LHASA, MD, H Stolberg-Roßla, Akten VI, Nr. 12, S. 19.
14 Kirchenbuch Bennungen Nr. 1 (ab 1654), S. 52.
15 Ebd., S. 62.
16 ThStA Rudolstadt, Geheimes Archiv (Restbestand) Nr. A VII 3d Nr. 11, S. 11-14.
17 Kirchenbuch Benneckenstein 1a, S. 345, Nr.3.
18 Götze., Leichenpredigt (wie Anm. 5).
19 Kirchenbuch Bennungen Nr. 1 (ab 1654), S. 121, 131, 139, 153, 162.
20 Götze, Leichenpredigt (wie Anm. 5).
21 Werckmeister, Andreas (1702): Harmonologia musica, S. 70.
22 LHASA, Magdeburg, Rep A 12, Quedlinburg, Nr. 224.
23 Hillebrand, Werner (Bearb.; 1981): Die Matrikel der Universität Helmstedt, 1636-1685. S. 115, Nr. 81.
24 Moser, Dietz-Rüdiger (1994): 1000 Jahre Musik in Quedlinburg, S. 45.
25 Monumentum Roesero-Schmidio-Weisianum sive Oratio, qua Dominus Iacobus Nicolaus Roeserus…
ThULB Jena, 2 Bud. Var. 382 (254-258).
26Kettner, Ernst Friedrich (1710): Kirchen- und Reformations-Historie, Des Kaeyserl. Freyen Weltlichen Stiffts Quedlinburg…, S. 242-248.
27 St. Wiperti, Taufregister, 1663/38 (02.09.).
28 Kirchenbücher der St. Sylvestri-Gemeinde Wernigerode: St. Sylvestri – Copulirte 1664.
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29 Jauering, Reinhold (1963): Die Matrikel der Universität Jena. Bd. II 1652-1723, S. 880.
30 Erler, Georg (1909): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig. Bd. II 1634-1709, S. 492.
31 Jauering/Reinhold, Matrikel Leipzig (wie Anm. 29) S. 881.
32 Kirchenbuch Wolfsberg, Trauungen, S. 8 Nr. 1.
33Hartmann, Werner: Halberstadt um 1700 – ein Zeitbild. In: Thom, Eitelfriedrich (Hrsg., 1986),
Bericht über das Werckmeister-Kolloqium aus Anlaß des 340. Geburtstages von Andreas Werckmeister am 30. November 1985. Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Musik des
18. Jahrhunderts, S. 16-22.
34 Herrmann, Ursula (1950): Andreas Werckmeister. Dissertation. Halle/Saale
35 Ablitzer, Jean-Charles (Hrsg.; o. J.): Organum Gruningense Revidivum (Broschüre).
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Macht-Rausch
Von Christian Morgenstern
Dich zu spielen, gewaltige Orgel –:
Blind,
mit tastenden Händen
über den Herzen der Welt!
Mit jedem Griff
Unnennbares lockend,
Stürmen und Säuseln
abgrundentfesselnd, –
eine Fuge
aus Seufzern,
Gelächtern,
Flüchen,
Wehklagen,
Wollüsten,
Jauchzern ...
So zu sitzen!
Blind
vor brausendem Tönemeer –
unter meiner Hand,
des Mächtigen,
auf und nieder rauschendem Tönemeer...
Und ein Lauschen
auf allen Sternen ...
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Abseits – wer ist’s?
Von Bernd Wolff
Goethe und der Harz. Es ist in zuzeiten manches darüber gesagt, manches spekuliert worden. Man ergeht sich in Auslegungen, ob er nun
drei- oder fünfmal das Gebirge heimsuchte. Ich sage, es waren sechs-,
vielleicht siebenmal, aber das ist bedeutungslos: Seit er es zuerst aus
der Ferne erblickte, war er ihm verfallen, sein Leben lang. Immer wieder blätterte er, wie in einem Album, in den Zeichnungen des Georg
Melchior Kraus, die auf der dritten Harzreise entstanden, immer wieder
nahm er die Gesteine im Gartenpavillon in die Hand, die er in dieser
Gegend gesammelt hatte. Der „Faust“, auch und gerade der zweite
Teil, ist durchdrungen von Harzbezügen wie die Granitwände des Bodetals von Quarzbändern – es gäbe keine „Klassische Walpurgisnacht“
ohne die vorhergehende in der „Gegend von Schierke und Elend.“ In
der Schweiz fielen ihm Analogien zu den Harzbergen auf – „etwas zu
leiden sind wir bereit, und wenn es möglich ist im Dezember auf den
Brocken zu kommen, so müssen auch Anfangs November uns diese
Pforten der Schröcknisse auch noch durchlassen“ (zum Weg von Savoyen ins Wallis); „An den Wänden sintert ein Tropfstein, doch ist sie
(Höhle bei Balme) an den wenigsten Orten feucht, und bilden sich lange
nicht die reichen, wunderbaren Figuren, wie in der Baumannshöhle“ – ,
in Sizilien besuchte er die Familie des Guiseppe Balsamo, der sich Cagliostro nannte und der mit der Marquise de Branconi aus Langenstein
vertraut war; ja, man spekulierte, dass jener – und vielleicht auch sie –
in die berüchtigte Halsbandaffäre verwickelt gewesen sei, die letztlich
zu einem Auslöser der französischen Revolution wurde... Die „Farbenlehre“ speist sich auch aus Beobachtungen der „tausendfarbigen
Morgen“, der „farbigen Schatten“.
Freilich, der Harz ist dergestalt Teil des Goetheschen Wesens geworden, wie es Thüringen, Böhmen oder Italien auch waren, weder kopflastig dominant noch ablösbar, durch eine Art Stoffwechselvorgang
zum selbstverständlichen Bestandteil seiner selbst mutiert.
Sieben Mal! spricht da nicht lokales Geltenwollen mit?, dieses „hic
fuit“, das ihm dergestalt aufgedrängt worden ist, dass in Quedlinburg,
Mühlhausen und wo auch immer mit dem Slogan geworben wird: Hier
war Goethe nicht!
1776 erblickte er das Gebirge zum erstenmal, Mitglied der Weimarisch-herzoglichen Suite, die von einem übereifrigen Forsteleven auf
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einer Erzlagerstätte des Kyffhäusers vorübergehend festgenommen
wurde. Dann folgten die drei Reisen, die jeweils mit dem Besuch des
Brockens ihren topographischen Höhepunkt fanden – 1777, 1783,
1784. Das nächste war – und da lag bereits die Erfahrung der ersten
Italienreise dazwischen – 1789 ein mehrwöchiger Aufenthalt im Gefolge der Herzogin Luise, die das unter Weimarscher Führung stehende
Kürassierregiment in Aschersleben besuchte, eine Reise, über die wir
fast nichts wissen und die ihn doch zumindest in den Ballenstedter
Raum geführt haben muss, ins Eine-, ins Selketal. 1792 brach man von
Aschersleben auf, glorreich, und kehrte wie begossene Pudel zurück.
Über seinen dreiundvierzigsten Geburtstag, den er unter mieslichen
Umständen in der Champagne verbrachte, schreibt er: „Nun wußte jeder von dem Marsche selbst gar manches zu erzählen, wie man den
Harz links lassend, an Goslar vorbey, nach Nordheim und Göttingen
gekommen“, während des Ereignisses erinnert er sich beim Besuche
Plessings in Duisburg an die friedlich harmlose Zeit in Wernigerode –
ohne diese ausführliche Darstellung wüssten wir über die Begegnung
nichts! – , am Ende seiner Erinnerungen schließt er wehmütig: „Die
Gegend um Aschersleben, der nahe Harz, von dort aus so leicht zu
bereisen, erschien für mich verloren, auch bin ich niemals wieder tief
hineingedrungen.“ Diese Sätze entstanden 1822, drei Jahrzehnte nach
der Schlacht bei Valmy, und zweifellos erinnerte er sich da auch des
letzten Besuches 1805, in Gesellschaft seines Sohnes und des Altphilologen Professor Wolf aus Halle, der ihn zumindest ins Bodetal bis an
den Bodekessel heranführe, allerdings nicht, wie gern vorausgesetzt
wird, auf die Roßtrappe. Die Klippe interessierte ihn als Felsformation,
aus dem Tale weit besser zu erforschen als von Klopstocks „heiligem
Mal“, das ihm, damit seinen Begleitern, nicht bedeutsam erschien.
Goethe arbeitete im Harz kein touristisches Programm ab – er war aus
triftigen Gründen lieber abseits. Damit dichter dran.
Die Orte, die er anlässlich seiner Reisen aufsuchte, zusammenzuzählen, wäre ein müßiges Unterfangen, gewiss rechnet Quedlinburg
dazu, was man immer in Abrede stellte, doch es ist nun mal zwischen
Aschersleben, Gernrode und Halberstadt nicht zu umgehen, obwohl
er mit seinen Vorbehalten gegenüber diesem Gemeinwesen, vor allem einem betrügerischen Bürger, nicht hinterm Berg hielt, wie in den
Xenien nachzulesen. Wichtiger als das Auflisten der Schlafstätten ist,
was er mit wachen Sinnen erfuhr, was ihn an diesem kleinen, in zahlreiche Herrschaften zerschlachteten Gebirgskörper interessierte. Solche
Interessen sind zuerst die eines Forschungsreisenden. Die Geologie
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faszinierte ihn, zugleich die Nutzung der Schätze der Tiefe, das Bergwesen, die Höhlen, die Morphologie der Gesteine – derartig vielfältige
Erscheinungen auf so engem Raum nahmen ihm den Atem. Schon die
Herausforderungen des Reisens an sich erwiesen sich als reizvoll, das
Messen der Kräfte, das Lösen von Schreibblockaden, das Zeichnen,
das Bezwingen des Unbekannten. Bekanntes kam hinzu: der Besuch
bei Trebra in Zellerfeld, den er beim Wiedererschließen des Ilmenauer
Bergbaus kennen und schätzen gelernt hatte, das bereits erwähnte
Treffen mit Briefschreiber Plessing, die spannungsvolle Nähe zu Gleim,
der wiederholte Besuch bei der Branconi.
Die spätere „schöne Fee von Langenstein“ war ihm als erstes im Scherenschnitt begegnet, den er in physiognomischer Manier mit dem der
Charlotte von Stein verglich und zu horoskopischen Ergebnissen gelangte, von Angesicht lernte er sie 1789 in Lausanne kennen, im Jahr
darauf besuchte sie ihn – auf dem Wege von Langenstein über Frankfurt in die Schweiz – in Weimar; ihr Abschiedsbrief, spätabends auf
dem Kickelhahn erhalten, inspirierte das Gedicht „Über allen Gipfeln
ist Ruh“. Seinen von der Welfenschwester Anna Amalia befohlenen Besuch in Halberstadt 1783 verband er mit einem vorherigen Aufenthalt in
Langenstein; im Jahr darauf beendete er dort seine Gebirgsbereisung
mit Georg Melchior Kraus. Dessen letzte Harzzeichnung zeigt den von
Westen her in den Ort Einreitenden in nahezu italienisch anmutender
Landschaft vor der Altenburg – der Zuweg ist heute zur Fahrschlucht
vertieft und zugewachsen von Loden und lange nicht mehr so sabinerisch wie einst, doch lassen sich Anhaltspunkte wahrnehmen. Offenbar beeindruckte ihn die vormalige Geliebte des Herzogs von Braunschweig außerordentlich, doch war er sich der Gefahren einer Liaison
von Anfang an bewusst, in Lausanne vermerkte er: „Unverletzt die
Flügel streicht kein Vogel vorbey.“ In Langenstein begegnet er ihrem
treuen Hofmeister Matthaei, desgleichen ihrem jüngsten Sohn Karl Anton Ferdinand, einem natürlichen Nachkommen des Braunschweigers,
dem Grafen Forstenburg. Am 19. September 1792, vor Valmy, kam es
zu einer gleichsam schicksalhaften mysteriösen Begegnung.
„Ein sonderbarer Anblick erinnerte mich an andere Zeiten. In dem ersten Gliede der Eskadron schwankte die Standarte in den Händen eines schönen Knaben hin und wider; er hielt sie fest, ward aber vom
aufgeregten Pferde widerwärtig geschaukelt, sein anmuthiges Gesicht
brachte mir, seltsam genug aber natürlich, in diesem schauerlichen Augenblick, die noch anmuthigere Mutter vor die Augen, und ich mußte
an die ihr zur Seite verbrachten friedlichen Momente gedenken.“
21
Graf von Forstenburg fand zwei Jahre später bei Kaiserslautern den Tod,
als er einem gefangenen Franzosen Pardon gab, der ihn alsdann von
hinten her in die Nieren schoss – Gleim widmete ihm ein mehr schmerzlich bewegtes als künstlerisch überzeugendes Nachrufgedicht.
„Klag‘ IHN, Menschheit! Menschlich dachte
Forstenburg der junge Held:
Klag‘ IHN, Menschheit! Menschheit machte
Blutig IHM das Siegesfeld!
Lebe! sprach er; ach! das Leben,
Das er einem Mörder gab,
Das hat IHM den Tod gegeben,
Das! ein allzufrühes Grab.“
In Frankfurt, Goethes Geburtstagstadt, wurde der siebenund­
zwan­
zigjährige Gefallene bestattet. Zu Gleim hatte Goethe ein gespanntes
Verhältnis. Zwar lässt sich nicht vollends ausschließen, dass die erste
Reise in den Harz, um „Bleiben oder gehen?“, ihn auch zu dem hilfreichen Nestor hätte führen können, doch das ist Spekulation, unterwegs
verspürte er selbst „die tausend Quellen neben dem Durstenden in der
Wüste“, spürte er eignes Vermögen „wie ein kaltes Bad, das einen aus
einer bürgerlichen wollüstigen Abspannung, wieder zu einem neuen
kräftigen Leben zusammen zieht.“ Er bedurfte fremder Hilfe nicht.
Es gab eine Begegnung zuvor in Weimar, bei der der übermütige junge
Dichter den Älteren hinters Licht zu führen versuchte, ihn mit einer Glucke verglich, man kam trotz Wielands warmherziger Fürsprache nicht
so recht miteinander aus – zu unterschiedlich waren die Charaktere
und die Auffassung von Literatur. 1783, als Goethe auf Veranlassung
Herzogin Mutter Anna Amalias in Halberstadt weilte, brüskierte er den
Dichtervater durch Desinteresse. Gleim beklagte sich bitter gegenüber dem gemeinsamen Freund Fritz Jacobi: „Zwar ist er hier gewesen, zweimal vierundzwanzig Stunden bei dem Herrn von Berg, ganze
Tage bei der Frau von Branconi zu Langenstein, nicht weit von mir, eine
Stunde bei mir im Kloster hinter dem Dom – aber nicht in jenen Lauben,
in welchen bei meinem lieben Fritz Jacobi Lessing noch zu guter Letzt
gesessen hat. Der arme Mann! Er ist Geheimer Rat und nicht mehr, was
er gewesen ist, deswegen fragt er nicht nach diesen Lauben.“
Schlimmer hätte er den Halberstädter nicht beleidigen können, als
dass er eine Einladung in sein Gärtchen ausschlug. So sah er auch
22
den Freundschaftstempel erst nach Gleims Tod, 1805 geführt von
Neffen Körte. Dies Ereignis würdigt er ausführlich in seinen Tag- und
Jahresheften. Alle Querelen, aller Xenienstreit mit dem aufgebrachten
„Alten Peleus“ scheinen vergessen; Goethe würdigt Gleims Dichtung
als „Ausdruck eines gemütlichen Menschenverstandes innerhalb einer
wohlgesinnten Beschränkung“, ihn selbst „als Freund von jedermann,
hülfreich dem Darbenden, armer Jugend aber besonders förderlich.
Ihm, als gutem Haushalter, scheint Wohltätigkeit die einzige Liebhaberei gewesen zu sein, auf die er seinen Überschuß verwendet.“ Goethe begrüßt die sterbende „Gleminde“, Nichte Sophie Dorothea, und
schließt: „Zuletzt, um unsere Wallfahrt ernst und würdig abzuschließen,
traten wir in den Garten um das Grab des edlen Greises, dem nach
vieljährigen Leiden und Schmerzen, Tätigkeit und Erdulden, umgeben
von Denkmalen vergangener Freunde, an der ihm gemütlichen Stelle
gegönnt war auszuruhen.“ Ein versöhnlicher Schluss? Gleim hätte gewiss lieber gesehen, wenn ihm derart zu Lebzeiten die Hand gereicht
worden wäre; Goethe hängt, trotz anfänglichen Bemühungen, auch
nicht als Bildnis in seinem Freundschaftstempel, auch da ist er abseits.
Der Harz hat Goethe zu bedeutenden Dichtungen geführt: Die Winterreise gipfelt in der Ode „Harzreise im Winter“, die zweite Reise zum
Brocken hinterlässt das große Bekenntnisgedicht „Das Göttliche“, die
dritten Verse zu den „Geheimnissen“ und Lyrik der „Wilhelm Meister“ –
Dichtung, das „Mignonlied“, das „Harfnerlied“.
Wie in Granit gemeißelt stehen die Verse innerhalb der „Harzreise“:
„Aber abseits, wer ist’s?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen –
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.“
Warnung und Wagnis zugleich. Wer sich auf so etwas einlässt, muss
seinen Weg allein gehen. Auch, wenn er im Alter die herzerschütternde
Klage der „Elegie“ nicht zurückhalten kann:
„Ist denn die Welt nicht übrig? Felsenwände
Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?
Die Ernte, reift sie nicht?“
Ob und welchergestalt die Ernte reift, hängt von jedem ab, von jedem
Leser aufs Neue. Bei mir führte sie dazu, dass ich seine Begegnung
nacherleben wollte und – über drei Jahrzehnte hinweg – die RomanTrilogie seiner Brockenfahrt zu Papier brachte: „Winterströme“, „Im
23
Labyrinth der Täler“, „Die Würde der Steine“ und, als Predella zum
Triptychon, das vorläufige Romanmanuskript „Klippenwandrer – Heines Harzreise“ über die Begegnung Heine-Goethe vierzig Jahr danach.
Dass ich die Orte aufsuchte und aufsuche, die Kraus gezeichnet hat
und mir ein vergleichendes Bild von der heutigen Gestalt mache. Dass
ich sieben Epigramme auf granitnen Tafeln dem Brockenwandrer auf
dem „Brockenstieg“ im Nationalpark Harz zum Innehalten und Meditieren anbiete. Abseits vom großen Tross. Ganz eingeschlossen in die
Welt.
Georg Melchior Kraus: Alte Burg bey Langenstein (Klassische Stiftung Weimar)
24
Am 8. Oktober 2008 sprach Renate Chotjewitz-Häfner in einer Veranstaltung des Neuen Familienkundlichen Abends über „100 Jahre Familiengeschichte Krienitz“.
Plötzlich und unerwartet, am 24. November 2008, starb Renate Chotjewitz-Häfner, sodass die vorgesehene Veröffentlichung der Autorin in unserer Schriftenreihe nicht mehr erfolgen konnte.
Ihr Bruder, Otto Häfner, griff auf einen Vortrag zurück, den seine Schwester am 14. November 2007
in der Rotunde der Halberstadtwerke aus Anlass der Namensgebung des „Dr.-Walter-Krienitz-Parks“
gehalten hatte. Diesen Text stellt uns Herr Häfner freundlicher Weise zur Verfügung. Er hat ihn behutsam redigiert, auch wurden einige handschriftliche Ergänzungen der Verfasserin übernommen.
Walter Krienitz : Die Vorfahren, die Kinder, die Zeit
Von Renate Chotjewitz-Häfner †
Vier Generationen Krienitz in Halberstadt
Vier Generationen Krienitz lebten in den 100 Jahren zwischen 1843
und 1943 in Halberstadt. Welche Spuren haben sie hinterlassen?
Die erste Generation verkörpern der legendenumwobene Carl Julius
(auch Julius Carl) Krienitz (1815 Sylbitz – 1897 Halberstadt) und seine
Ehefrau Johanna Eleonore Conrad (1816 Naumburg – 1862 Halberstadt), die Großeltern von Walter Krienitz, dem Arzt.
Zur zweiten Generation gehören Walter Krienitz’ Eltern, Christian Julius Rudolph Krienitz (1843 – 1923 Halberstadt) mit seiner Frau Margarete Juliane Friederike Schnabel (1854 – 1917 Halberstadt); zur dritten Generation Carl David Walter Krienitz (1876 – 1943 Halberstadt)
mit seinen Geschwistern und seiner Ehefrau Marianne geb. Finger
(1878 Zörbig – 1943 Halberstadt),es sind unsere Großeltern; die vierte
Generation deren Kinder Eleonore (1909 Halberstadt – 1990 Göttingen), Rudolf (1911 Halberstadt – 1937 Göttingen) und Gertrud Krienitz
(1914 Halberstadt – 1994 Berlin). Die nächste Generation wären dann
wir, Otto, Renate und Cornelia Häfner, als Kinder von Eleonore (Lore)
Krienitz, verheiratete Häfner.
Die Krienitz-Vorfahren waren seit dem 17. Jahrhundert in Halle und
im Saalkreis ansässig, besaßen dort etliche Häuser und Grundstücke,
sodass sie zu den wohlhabenden Stadtbürgern zählten.
Die erste Generation
Der erste in Halberstadt lebende Krienitz kommt 1815 auf dem kleinen Gut Sylbitz im Saalkreis (Landkreis im Bezirk Halle) zur Welt, als
jüngster Sohn von neun Kindern (die vier Töchter bleiben ohne Nachfahren). Er besucht wie seine vier Brüder die Waisenhaus-Realschule
25
in Halle, lebt derweil beim Hallenser Großvater in Pflege und Pension,
geht später auf die dortige Lateinschule, studiert oder lernt in Berlin,
wo alle Krie­nitze auch ihre Militärzeit in der Garde du Corps Potsdam
abdienen.
Carl Julius geht mit 22 Jahren im Jahr 1837 als Zimmerer-Geselle auf
Wanderschaft; er macht eine Art Studienreise. Das Tagebuch seiner
abenteuerlichen „Reise von Halle an der Saale nach Neapel und zurück/ im Jahre 1837/38 mit seinem Verwandten W. Otto“ liegt in unserer Familienkiste.
Warum er nach Halberstadt kam, wissen wir nicht. Bevor er hier auftaucht, ist er in Berlin beim Bau der Oper beschäftigt. Laut Reisepass,
ausgestellt am 28. August 1842 in Halle, reist Carl Julius nun „des Vergnügens halber nach Leipzig, Dresden, Magdeburg, Berlin und Naumburg, und fährt zurück nach der Trauung dort mit seiner Frau Eleonore
Conrad“ – um am 5.Mai 1843 „zusammen mit seiner Ehefrau Eleonore
geb. Conrad nach Halberstadt“ zu gehen.
In Halberstadt lässt er sich als Meister nieder, gründet ein Geschäft,
und erwirbt dazu das Anwesen Gröperstaße 21, ein großen altes
1: Reisepass von Carl Julius Krienitz (1842)
26
2: Das Haus Gröper­
straße 21, wo Walter Krienitz
aufwächst; die Zimmerwerkstatt ist im Hof
3: Die städtische Baukommission etwa 1865
27
4: Breiter Weg 58: Foto vom 3. Juni 1934, links im ersten Stock Walter und Marianne
Krienitz
Fachwerkhaus – laut Inschrift 1700 erbaut – mit einer Achtfensterfront
zur Straße, hinten im Hof die Zimmerei, anschließend ein großes Gelände mit Garten unten an der Holtemme. Dort lebt er (er überlebt seine
Frau um 35 Jahre) mit seinem Sohn Rudolph, dessen Frau Margarete
und seinen Enkeln bis zu seinem Tod 1897. Hier, im Haus des Großvaters, wächst Walter Krienitz auf. Bis zum Brand des Zimmerhofes 1895
bewohnt die Familie den ersten und zweiten Stock; danach wird das
Anwesen verkauft.
Was wissen wir über Carl Julius? Bereits im Jahr nach seiner Ankunft
– er ist jetzt 28 – unterzeichnet er zusammen mit anderen Stadtverordneten die neue Verfassung der Stadt, das Statut der Stadt Halberstadt
vom 29. August 1844. Im Jahr 1848, als sich wie in Berlin nach der
Pariser Februarrevolution auch in Halberstadt eine bewaffnete Bürgerwehr bildet, um die Ordnung aufrecht und das Militär – die Kürassiere! –
in Schach zu halten, ist er zum Hauptmann aufgestiegen.
Vom 3. April 1849 datiert ein Schreiben der Königlichen Regierung,
„Abtheilung des Innern Magdeburg an Herrn Hauptmann Krienitz der
freiwilligen Bürgerwehr“ wegen mangelnder Disziplin der 3. Bürgerwehrcompagnie „bei den Excessen des Pöbels“ und droht mit Auf28
lösung derselben. Das Schreiben wird vor der versammelten Mannschaft auf dem Buchardianger verlesen. Zu dieser Zeit ist ein großer
Teil der Bevölkerung Halberstadts verarmt; infolge des Wechsels vom
Manufakturwesen zur industriellen Produktion kommt es in der Stadt
öfter zu Unruhen. Von Carl Julius Krienitz gibt es noch Briefe an seine
Söhne aus den Kriegen von 1866 und 1870.
Auf dem Foto sind die Mitglieder der Städtischen Baukommission zu
sehen. Zu ihr gehören Carl Julius Krienitz, Zimmermeister, mit dem Notizblock; der mit dem Messband ist der Bau- und Maurermeister David
Andreas Schnabel (1819 – 1885), sein Schwager. Der Mann mit dem
seidenen Zylinder ist der Bezirksschornsteinfeger. Im Jahr 1865 beschließen die Halberstädter Stadtverordneten einen langfristigen Bebauungsplan. Es kommen goldene Zeiten für unsere Vorfahren und
das Baugewerbe.
David Schnabel ist ein viel beschäftigter Mann, der im Kreis Halberstadt einige Bahnhöfe aus rotem Ziegelstein im romanischen Stil errichten wird, in der Stadt in den 1860er Jahren auch einige besonders
schöne Villen. Er arbeitet vermutlich mit Carl Julius Krienitz zusammen.
Baumeister Schnabel lebt mit seiner Familie, zu der drei Töchter gehören, im Haus Breiter Weg 58.
Die zweite Generation
Eleonore und Carl Julius Krienitz haben vier Kinder: Rudolph, geboren
1843, dann Karl (1845 – 1936), ebenfalls Baumeister, er heiratet in die
Holzgroßhandlung Reinicke, Emil, der im Alter von acht Jahren stirbt,
und Agnes (1855 – 1943), verh. Ohrtmann, Fabrikbesitzer („Knochenkohlenfabrik“ lt. Anzeige aus dem „Halberstädter Intelligenzblatt“ vom
18. Mai 1858).
Von Rudolph Krienitz besitzen wir drei Zeugnisse: das Abgangszeugnis des Königlichen Domgymnasiums vom 23. Dec.1854, ein Zeugnis
über die bestandene Gesellenprüfung von der Kreis-Prüfungskommission des Zimmerhandwerks von 1860 (er war außer bei seinem Vater
auch in Berlin in die Lehre gegangen) und das Zeugnis der Reife von
der Königlichen Prüfungskommission, mit gut bestanden, vom 2. August 1862. Anschließend absolvierte er eine Einjährigenzeit in Berlin.
Als der 28-jährige Rudolph Krienitz als Souslieutenant lorbeerumkränzt mit dem Halberstädter „Infanterieregiment Nr. 27 Prinz Louis
Ferdinand“ aus dem Frankreichfeldzug 70/71 zurückkommt und durch
29
den Breiten Weg zieht, überreicht ihm als Ehrenjungfrau Margarete
Schnabel einen Lorbeerzweig. (Eigentlich hätte die Älteste den Lorbeerkranz überreichen sollen, aber die wollte nicht, schreibt Tante Else
Schambach). Daraus wird eine Ehe. Wir halten fest: Margarete Schnabel (1854 – 1917), die Tochter von Maurermeister Schnabel, Breiter
Weg 58, heiratet in die Gröperstraße 21. Ihr Ehemann Rudolph Krienitz
kommt offenbar ganz nach dem Vater. Er ist mit gut 33 Jahren ehrenamtlicher Stadtverordneter und lange Zeit Mitglied der städtischen
Baukommission. Walter Krienitz’ Vater wird als temperamentvoller,
leicht aufbrausender Mann geschildert.
„Sie haben sich für das Gemeinwohl betätigt”, sagte meine Mutter.
Wie sein Vater war Rudolph immer ehrenamtlich Hauptmann der städtischen Feuerwehr.
„Deshalb standen diese riesigen Wein- oder Bierhumpen und Krüge
bei uns rum, halbmeterhohe Ehrengaben, für ˛30 Mittelbrände und
10 Großbrände‘“ (Lore Häfner). Tragisch, dass 1895 seine Werkstatt in
der Gröperstraße abbrannte.
Im 19. Jahrhundert wächst die Stadt, ihre Einwohnerzahl verdreifacht
sich nahezu. Die Bauunternehmen Schnabel, Krienitz (anfangs beide
Brüder zusammen mit ihrem Vater) und Hensel, Schnabels Schwiegersohn, bauen fleißig mit ihren Leuten in und außerhalb Halberstadts. Im
Jahr 1868 führen sie (laut Brief von Rudolph an Karl in Berlin) Bauarbeiten „nach den großen Stürmen“ durch; daneben arbeiten vier Mann
beim Aufbau der Domtürme mit; sie bauen auch am Bahnhof Heudeber und haben 23 Buden stehen. Nach dem deutsch-französischen
Krieg, in der „Gründerzeit“, boomt die Branche.
Rudolphs Bruder Karl bringt aus Berlin den neuesten Baustil in rotem
Backstein und Sandstein mit. Zusammen mit dem Holzgroßhändler
und Zimmermeister Reinecke sowie Herrn Reichenbach, dem Juden
Reichenbach, sagte meine Mutter, erbaut der Krienitzclan neben Villen
und Geschäftshäusern auch die spätere Poliklinik, und schräg gegenüber ein Reichsbahngebäude (Auskunft Hanns Sylvester Doelle, 1976).
Über die Brüder heißt es: „Karl konnte das Geld scheffeln, Rudolph
konnte es ausgeben“ (Ursel Merkelbach und Lotte Goerke,1976), während Senior Carl Julius sich früh zur Ruhe setzt.
Um 1890 dehnt die Stadt sich über die alten Stadtmauern hinaus
nach Süden aus. Zimmermeister Rudolph Krienitz und sein Schwa-
30
ger Carl Hensel (Maurer und Architekt) erbauen (vermutlich als
Kapitalanlage) den Lindenweg,
der Teil des alten Stadtwalls ist,
dessen Gärten an die alte Stadtmauer grenzen ,roter Backstein,
gelb abgesetzt, mit gewaltigen
Giebeln. Die Linden waren 1779
von Johann Wilhelm Ludwig
Gleim gepflanzt worden. Gegenüber ein alter Friedhof. Die
Häuser Nummer 27 bis 30 gehören dem Krienitz’schen Familienverband. Hier lebt die zweite
und dritte Krienitz-Generation,
wächst die vierte auf.
Im Lindenweg 29 leben nach dem
Brand des Zimmerhofes (1895) 5: Lindenweg (1945 völlig zerstört)
Rudolph und Margarete Krienitz
geb. Schnabel (Walter Krienitz
erbte das Anwesen); Nummer 28 gehört den Hensels und war vermietet an Menko Max und seine Mutter Mathilde („Hirsch-Kupfer, die
wohl solventesten Mieter Halberstadts“); Lindenweg 27 wohnt Agnes
Orthmann geb. Krienitz, als Mieter Getreidehändler Goldschmidt,
dann zwei Arzthäuser (25 und 26), die der Familie Lenz gehören (Sanitätsrat Dr. med. Wilhelm Lenz, Facharzt für Säuglings- und Kinderkrankheiten).
„Vor Lenz wohnte der Chirurg Professor Kehr in dem Haus. Ein Wagner-Enthusiast, der im Jahre 1910 die komplette Wagnerbesetzung
samt Fanfarenbläsern von Bayreuth nach Halberstadt in das 1906 errichtete Stadttheater holte; er ging mit Walter Krienitz ins Domgymnasium. Ein privater Mäzen, dem die Halberstädter Bürger folgten, auch
meine vollkommen unmusikalischen Eltern spendeten. Es gab herrliche
gedruckte Einladungen in gotischer Schrift auf Bütten, mit Steindrucken, Abbildungen zu diesen Wagnerfestspielen, und Hauskonzerte in
dem Hause Lindenweg, wo dann später auch Siegfried Wagner spielte,
mit kleinen Abendessen verbunden, also Gesellschaft und Musik in der
Bürgerschaft. (Ich habe diese Einladungen noch gesehen.) Kehr, der
Chirurg, baute sich hinten in seinem Garten das Bratwurstglöckchen
31
a la „Meistersinger“, auf dem Häuschen stand ein Storch, das Wahrzeichen des Chirurgen, und später des Kinderarztes Lenz, der bis April
1945 da wohnte. (Er erwarb das Haus vermutlich nach Kehr.) Zu diesen
privaten Einladungen kamen zum Beispiel meine Eltern, ein bisschen
Landadel, insgesamt vielleicht zwanzig bis dreißig Personen.“ (Lore
Häfner,1970). Der Lindenweg und die Heinrich-Julius-Straße werden
bei den Bombenangriffen am 8. April 1945, wenige Tage vor der Besetzung der Stadt durch amerikanische Truppen, vollständig zerstört, wie
auch das Schnabelsche Haus auf dem Breiten Weg.
Die dritte Generation
Walter Krienitz kommt als erstes Kind seiner Eltern am 6. November
1876 in der Gröperstraße 21 zur Welt, gefolgt 1878 von Paul und Katharina (1881), und wird in der gegenüber liegenden Moritzkirche getauft.
Was ist über seine Kindheit überliefert? Er spielt im Zimmerhof und auf der
Straße, auch mit den jüdischen Nachbarskindern, hat immer Gesellschaft,
denn im Parterre betreibt Professor Nathusius mit seiner Frau
eine Schüler-Pension.
Walter besucht das Domgymnasium, wo er mit zehn oder
elf Jahren wegen einer Schar­
lacherkrankung mit Lähmung
um ein Jahr zurückgestellt wird.
Er erhält zum Trost und Zeitvertreib eine Fotoausrüstung mit
Glasplatten geschenkt, mit der
er wunderschöne Fotos macht,
gern mit Selbstauslöser, und
selber entwickelt. Außerdem beschäftigt ihn seine Münzsammlung. Oft sucht er als Schüler
auf Äckern in der Umgebung
nach Münzen. Er sammelt auch
Briefmarken. 1896 macht er am
Domgymnasium sein Abitur.
32
6: Walter, Paul, Katharina Krienitz, die Jungen
mit Stulpenstiefelchen
„Die Domtürme, wo die Firma 1868 vier Mann am Bau hatte, sind im
19. Jh. erhöht und durch neue ersetzt worden. Walter (geboren 1876)
ist als Schüler oft auf den Türmen gewesen, während sein Vater dort
baute; er hatte Dokumente, Münzen, seinen Namenszug usw. in einer Kassette mit eingemauert.“ (Die neuen Türme wurden 1896 eingeweiht. Sie sind das einzige am Dom, was im Zweiten Weltkrieg verschont blieb.)
7: Gruppenbild: dritte Generation. Von rechts nach links: Katharina (Käte) Krienitz, Elsbeth Schambach (1873-1957), Künstlerin, war in Paris stets in violett gekleidet, die Einzige bürgerliche Stadtverordnete, Carl Hensel (genannt Kalle, Freund von Walter), Adele
Schambach, Lisbeth Hensel (arbeitet später in der Klinik Heinrich-Julius-Straße als Assistentin), Georg Schambach (genannt Kork, Freund von Walter und Paul), Paul Krienitz
sitzt auf dem Tischchen, Margarete Schambach (heiratet den Rechtsanwalt Eduard Deesen), Hedwig (Hete) Schambach (geb. 1881), die den Kinderarzt Wilhelm Lenz ehelichen
sollte, Walter Krienitz, Kurt Hensel.
Das Gruppenbild der dritten Generation zeigt die Kinder (Enkel von
David Andreas Schnabel) der drei Schnabel-Töchter: Marie (Baumeister Hensel), Margarete (Baumeister Krienitz) und Adele, also die Kinder
(die jüngsten fehlen) der Familien Krienitz, Hensel und Schambach. Die
meisten habe ich noch kennen gelernt.
33
8: (ca. 1894), die Walter von seiner Mutter und seiner Schwester gemacht hat
Das Bild seiner Schwester bei den Schulaufgaben mit seiner Mutter
Margarete hat Walter aufgenommen; er fotografierte mit Glasplatten von
Schleusner. Margarete war eine gottesfürchtige Frau. Käthe hatte helle,
ganz krause Haare, und wurde deshalb der „Kronleuchter“ genannt, war
ein unwahrscheinlich fröhliches Mädchen, eine fröhliche Frau bis ins Alter.
Walter Krienitz soll oder will die Familientradition fortführen, studiert
deshalb im Sommersemester 1896 in Hannover das Fach Hochbau.
Dabei besucht er seinen ein Jahr älteren „Intimus“ Georg Schambach,
genannt Kork, der gerade in Göttingen mit dem Medizinstudium begonnen hat. Mit Kork überzeugt Walter sich in der Anatomie, dass er
Blut sehen könne. Daraufhin meldet er seiner Mutter, er wolle jetzt Medizin studieren. Kork hingegen – wird aus unerfindlichen Gründen nach
Guatemala abgeschoben. Da baut er Kaffee an, lebt mit einer Mestizin
zusammen, mit der er Nachkommen zeugte.
Während des Studiums spielt die „Aktiven-Inaktivenzeit“ eine große
Rolle. Aktiv war man in den ersten vier Semestern. W. K. ist ein begeisterter Korpsbruder; Würzburger Nassauer, mit allen Konsequenzen
(schlagende Verbindung, sog. „buntes Corps“).
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Im Wintersemester 1896/97 studiert Walter in Würzburg u.a. bei Kölliken und Conrad Röntgen, der 1895 gerade die Röntgenstrahlen entdeckt hat; 1898/99 in Berlin, während er das erste Halbjahr Dienstpflicht ableistet. Walter absolviert dort als einer der ersten zusätzlich
9: Titelbatt der Dissertation
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die neue Facharzt-Ausbildung zum Internisten („Die Ausbildung gab es
erst ab 1900“, sagte meine Mutter, „ein Fach, das von jüdischen Ärzten ergriffen und ausgebaut wurde.“) Man sagte damals „Spezialarzt“.
W. K. macht 1899 in Halle sein Physikum, danach das zweite Halbjahr Militärdienst; erhält 1902 die Approbation, promoviert am 12. März
1903 mittags 12 Uhr mit „Ein Fall von Adenom der Lunge“ an der Universität Halle a. S.
Nach einer kurzen Zeit als Assistent bei einem Corpsbruder in Kissingen kommt er in seine Vaterstadt zurück und er öffnet 1903 eine Praxis
auf dem Breiten Weg. Als erste Patienten setzen sich sein Vater mit
seinem Schwager Hensel in die Sprechstunde; zu der Zeit wohnte er
weiter bei den Eltern. Sein geliebter Bruder Paul wird aus Halberstadt
abgeschoben wegen eines unerwünschten Verhältnisses innerhalb der
Verwandtschaft. Kommentar Lore Häfner: „Darüber wurde nie gesprochen. Das haben die Väter unter sich geregelt.“
Nun wird es Zeit für eine standesgemäße Familiengründung! Das
Brautpaar kennt sich seit Zeiten durch die Familientreffen der Sylbitzer
Krienitz-Nachfahren. Marianne Fingers (1878 Zörbig – 1943 Halberstadt) Großvater war Louis Krienitz aus Sylbitz, ein Bruder unseres Carl
10: Atelierphotographie: Walter Krienitz und seine Ehefrau Marianne geb. Finger (1906)
als Brautpaar
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Julius. Walter Krienitz habe über einen Vetter angefragt, ob „Janne“
noch frei sei (den betreffenden Brief hat meine Mutter diskret vernichtet). Sie bringt eine sagenhafte Mitgift in die Ehe ein, über deren Höhe
man nicht spricht. Am 16. November 1906 findet in der St. Ulrichskirche
in Halle die Trauung statt, gefeiert wird in dem schönen „Hotel Stadt
Hamburg“. Es ist „eine Vernunftehe mit Neigung“. Die Hochzeitsreise
führt nach Berlin. „Vom Temperament her waren sie polare Gegensätze. Er ,Sanguiniker‘, äußerst lebensfroh, Lieder schmetternd, großzügig, Marianne sparsam bis zum Geiz, eine kühle, ernste und eher strenge Frau. Sie wurde ,Schwärzchen‘ genannt, hat ganz schwarze Haare,
dunkle Augen und einen brünetten Teint.“ Beide wandern gern, reisen
zum Beispiel gemeinsam in die Schweiz, in die Berge.
Nach der Hochzeit beziehen Walter und Marianne das Anwesen Lindenweg/Ecke Heinrich-Julius-Straße, wo 1906 die Privatheilanstalt für
„Magen-Darm- und Stoffwechselkrankheiten“ eröffnet wird. Ihre Kinder – die vierte Generation – kommen im Lindenweg zur Welt: unsere
Mutter Eleonore im Jahr 1909, Rudolf 1911 und als dritte Gertrud
1914. Meine Mutter Eleonore Auguste Margarete trug die Namen ihrer
Urgroßmutter Eleonore Conrad und ihrer Großmutter Auguste (Finger
geb. Krienitz) und Margarete (Krienitz geborene Schnabel). Im gleichen
Jahr wird in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift Walter
Krienitz’ Bericht „Über das Auftreten von Spirochäten verschiedener
Form im Mageninhalt bei Carcinoma ventriculi“ veröffentlicht.
Das Eckhaus, das Walters Vater gehört, ist für den Lebensstil der Halberstädter Kürassiere gebaut, mit Pferd und Wagen, hinten Stall und
Remise, vorn die große Toreinfahrt. Da passten die riesengroßen Röntgenapparate durch und die Pferdewagen. Die Klinik liegt im zweiten
Stock, mit sechs Einzelzimmern für Privatpatienten (keine Kassenpatienten!) und dem Schwesternzimmer. Im ersten Stock sind die Privaträume und unten im Parterre die Ordination mit Röntgen, Wartezimmer,
Sprechzimmer, Laboratorium, dann das Höhensonnen-Zimmer, sowie
ein Zimmer, in dem, nachdem der Großvater dort 1923 gestorben war,
ab 1924 ein Assistent wohnt, und Räume zum Fotoentwickeln. Unterm
Dach wohnen stets drei bis vier der „Mädchen“, zwei für die Klinik,
zwei für das Ganze verantwortlich, vor allem für die Praxis unten, und
eine Köchin, Fräulein Grete und Fräulein Lisbeth; in manchen Jahren
war der Personalmangel groß. Am Anbau im Hof konstruierte Großvater Rudolph einen handbetriebenen Aufzug, der zum Röntgenzimmer,
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11: Privatheilanstalt für Magen-Darm- und Stoffwechselkrankheiten
von Dr. med. Walter Krienitz
in der ersten Etage in die Küche, in der zweiten Etage in die Klinikküche führt, mit einem Holzkasten dran, in den die Dienstmädchen unten
von der Waschküche aus die Kiepen mit feuchter Wäsche setzen können, sie leierten sich von oben aus die Wäsche hoch.
Innen im Haus führt ein kleiner Speisen-Aufzug vom Parterre bis in den
zweiten Stock, in den die Tabletts mit dem fertigen Essen gestellt werden, und der sämige Röntgenbrei, Eubarit, vor jeder Röntgen-Aufnahme nach unten geschickt wird. Später 1920 oder 1922, wird in dem zur
Waschküche umgebauten früheren Pferdestall ein Schwein gefüttert,
das für die Familie und das viele Personal gehalten wird. Dann kommt
der Hausschlachter aus der Gröperstraße, schlachtet das Schwein in
der Waschküche.
Marianne Krienitz hat die Hausmacht, angefangen beim Einkauf. Sie
kann sehr gut wirtschaften, kam ja aus einem Gutshaushalt. „Die letzte
gemeinsame Aufgabe abends war die Besprechung des Speiseplans.
Auf dem großen Block zogen die Kinder die Linien vor, und dann die
fünf bis sechs Mahlzeiten; Diät, das diktierte mein Vater jeden Abend
für jeden Einzelnen, Milch mit Spur Kakao, Kartoffelbrei mit Spur Butter. Die drei reizenden Kinder werden angewiesen, ausgesuchte Patienten zu unterhalten“, werden auch beschenkt.
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12: Marianne Krienitz, geb. Finger,
mit ihren drei Kindern
13: Dr. Walter Krienitz am Schreibtisch
Die Klinik wird durch Empfehlungen bekannt, die Patienten kommen
zwischen Hannover und Magdeburg „hin zu Krienitz.“ Er ist bekannt für
seine gute Diagnose und hat viel Spaß im Umgang mit seinen Patienten; ab 1918 muß er auch solche von Betriebskassen nehmen. Walter
pflegte zu sagen, er verdiene sein Geld mit der geräucherten Leberund Blutwurst: „Herr Doktor, ich habe so’n Jrummeln im Laabe un s’on
Druck vorn Majen.“ Meine Mutter berichtet: „Von einem Ehepaar aus
Madai, das regelmäßig in die Klinik kam, oder junge Mädchen, die aufgemuntert werden sollten, dann war die Tochter von diesem großen
Seifenfabrikanten „Luns, denn alle tuns“ Monate in der Klinik, eine von
den Gusteds vom Lande. Während der Inflation nutzte das europäische Ausland seine stabilen Valuta aus: es gab Herrn Papadoupolus,
den Griechen, einen Holländer, einen schwedischen Patienten in der
Klinik in Halberstadt. Dazu 1923 die fürstliche Familie Stolberg-Wernigerode. Da lag der Erbprinz wochenlang, auch die Prinzessin Juliane,
während die Reichsmark so schnell verfiel, dass jeden Tag ein reitender Bote von Wernigerode nach Halberstadt das Geld brachte.
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Auf einem Scherenschnitt vom November 1923 sind die drei KrienitzKinder im Profil zu sehen. Die Widmung lautet: In herzl. Dankbarkeit
Juliane Prinz zu Stolberg-Wernigerode.
Zum Dank werden die Kinder mit Lisbeth Hensel zu Besuch auf das
Schloß eingeladen, in Wernigerode am Bahnhof mit Pferd und Wagen,
Kutscher hintendrauf auf dem Bock, abgeholt.
Die Kinder, der Krieg, Krankheit
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde auch der Arzt Dr. Walter Krie­
nitz eingezogen. Es gibt eine Anekdote, bei der ihm jedes Mal die Tränen vor Lachen runterkullern: wie der Stabsarzt der Landwehr Krienitz sich nach Erhalt des Gestellungsbefehls bei der Kaserne am Tor A
Eingang 7 einfinden soll, und er am falschen Tor steht, und als er den
richtigen Eingang findet, ist sein Regiment weg. Da wird er dem Regiment extra auf einer Lokomotive nachgefahren. „Regimentschef war
der riesengroße Prinz Eitel Friedrich, der hat mit ihnen im Unterstand
gelegen. Die Offiziere haben zusammen auf Stroh geschlafen. Und als
sie morgens aufwachen, hat mein Vater sich getraut ihm zu sagen:
„Königliche Hoheit schnarchen wie Karl der Dicke.“
Walter liebt solche Scherze. 1915 schreibt er aus Charleville an seine
Neffen Gerhard und Kurt Deesen im Thierschweg: „Heute habe ich den
Kaiser hier gesehen und gegrüßt. Er fragte mich, ob ihr auch beide ein
schönes Zeugnis hattet. Ich habe ihm gesagt, ja Majestät, ihr Vati war
auf der Schule auch immer sehr artig! Da hat er sich mächtig gefreut!
Hurra! Euer Onkel Walter.“ Aber am liebsten verfasst er gereimte Postkartentexte. Politisch standen die zweite und dritte Generation Krienitz den Nationalliberalen nahe, der späteren Stresemann-Partei. Auch
Walter Krienitz, dem 1912 von S.M. zum Stabsarzt Ernannten, steckte, wie auf der Urkunde steht, das Loyalitätsverhältnis, die Treue zum
(preußischen Königs- und deutschen) Kaiserhaus in den Knochen. In
allen Kinderzimmern hing bis in unsere Zeit der gerahmte Spruch: „Du
deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr“, mit dem das von Robert
Reineck (1805 – 1852) geschriebene Gedicht „Deutscher Rat“ endet.
1915/16 liegt das Regiment in Galizien (oder Mazedonien). (Die Kriegstagebücher hat unsere Mutter 1960 verbrannt.) Im Herbst 1916 wird
W.K. „im Osten“ verwundet, ich glaube, er hat eine Schussverletzung
am Bein; sein Vater will ihn holen, doch Walter kommt mit dem Lazarettzug.
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Zurück in der Heimat, hat er mehrere Lazarette zu versorgen, außerdem die Malariastation des Standorts Halberstadt, dazu noch die eigene Praxis. Während der Kriegszeit arbeitet auch Marianne mit im
Lazarett. Er hat die Schwestern und Sanitätsgefreite zur Hand. Einer
namens Kunze hat ihn später massiert, und das Kindermädchen geheiratet.
Am 18. Oktober 1916 fällt sein geliebter Bruder Paul bei Le Sars an der
Somme; so steht es auf seinem Halberstädter Grabstein. Ihr Verhältnis
soll außerordentlich eng gewesen sein. „Ich glaube er nannte ihn Polle“
(Lore Häfner). Die Brüder unterschrieben in Briefen mit „die Brüderrotte, Krie I und Krie II“. Den Schmerz über seinen Tod hat Walter nie
verwunden. – Im November 1917 stirbt seine Mutter Margarete. Nach
ihrem Tod zieht Großvater Rudolph in die Heinrich-Julius-Straße.
Als dann 1918 das Heer entlassen wird, werden Reihenuntersuchungen
fällig, jeder Soldat braucht ein Gesundheitszeugnis. Walter ist überlastet, arbeitet bis zur Erschöpfung. 1919 grassiert die so genannte Spanische Grippe in Europa, bei der er sich eine Kopfgrippe holt und nicht
auskuriert. Er erkrankt an Encephalitis lethargica. Anfang der 20er Jahre
muss Walter Krienitz akzeptieren, dass kein Kraut gegen die Krankheit
gewachsen ist, und das bedeutet, er
wird in wenigen Jahren seinen geliebten Beruf aufgeben müssen. Da
ist er Mitte vierzig, im besten Alter.
Als lebenslustigen fröhlichen Menschen hat meine Mutter ihren Vater
geschildert. Das habe ihm später, als
er krank war, geholfen.
14: Exlibris von Dr. Walter Krienitz
W. K. praktiziert in der Klinik bis
1926, zuletzt unterstützt von einem
Assistenzarzt. Im Jahr davor (1925)
– die Klinik war (auf ihren Sohn konnten sie ja nicht warten) an Dr. Mühling
verpachtet worden, erwerben unsere Großeltern für 65.000 Mark das
1923 erbaute Haus Bukostraße 3
(das sie erst 1928 beziehen) von
den Vorbesitzern, den Halberstadts.
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15: Haus Krienitz in der Bukostraße 3
Durch Lenzens, die befreundet sind mit der jüdischen Familie Halberstadt aus dem Hause Hirsch-Kupfer, erfahren sie, dass die Halberstadts nach Berlin übersiedeln wollen und die für damalige Verhältnisse sensationell gebauten vier Häuser der Bukostraße frei werden.
(Zur Vorgeschichte der kleinen Straße kann man sich informieren in
Sabine Klamroths Buch „Erst wenn der Mond bei Seckbachs steht“,
Halle 2006)
Jeden Sonntag wird mit dem Pferdewagen in den Harz gefahren, ob
ins Trecktal, zum Forsthaus Büchenberg, oder in die Umgebung von
Blankenburg und Wernigerode. Oft müssen mehrere Wagen mit Verwandten und Freunden der Kinder fahren.
Die bessere Gesellschaft
Marianne Krienitz hat ihren „Vaterländischen Frauenverein“, oder ihren
Deutsch-Evangelischen Frauenbund, mit Basar und anderen Wohltätigkeitspflichten, wo sie mit Vergnügen dabei war, ist auch in verschiedenen „Kränzchen“, daneben hat sie, abgesehen von Familie und
Klinik, auch Einladungen für 20 und mehr Personen zu arrangieren;
das gehört zu ihren gesellschaftlichen Pflichten. Für die Männer spielt
eine große Rolle die Freimaurerloge „Zu den drei Hämmern“ auf dem
Paulsplan, in der Rudolph wie Walter Krienitz und viele aus der Ver-
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16: Sommerurlaub in Grömitz
17: Einladung zum Familientag 1926
18: Walter Krienitz lesend im Liegestuhl in der Wein-Rosen-Pergola
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wandtschaft waren, dazu Kollegen, Juristen und andere Herren aus
gutbürgerlichen Kreisen Mitglied sind.
Die gesellschaftlichen Gruppen und Klassen Halberstadts halten strikt
auf Abstand. Ganz oben das Militär, mit der Gesellschaft um das „Kasino“, wo jedoch auch meine Mutter als Bürgerstochter tanzte, dann
gibt es dem Lindenweg gegenüber den „Domclub“ für Juristen, Ärzte, Landadel, mit Festlichkeiten, Bällen, Kostümfesten; Kaufleute und
Handwerksmeister trafen sich in der „Harmonie“, die Sozis im „Odeon.“ Die Industriellen zählen nicht, schließlich hatte der alte Kommerzienrat Heine noch mit dem Bauchladen Würstchen verkauft. Er gilt als
„Emporgekommener“.
Die Erziehung der Jugend ist streng bis hin zur Kleiderordnung. Anno
1924 darf Lore Krienitz nicht zusammen mit ihren Klassengefährtinnen
in die Tanzstunde, weil das lauter Mädchen aus Geschäftshaushalten
waren, z. B. Töchter eines Juweliers, eines großen Konfektionsgeschäfts, eines sehr schönen Pelzladens, einer großen Kurzwarenhandlung – das wünschen ihre Eltern nicht. Die waren viel feiner angezogen,
die trugen Crepe de chine und Leder – während sie, Lore K., besticktes
Leinen tragen muss, denn Geld zeige man nicht, Geld hatte man.
Bis Mitte/Ende der 30er Jahre machten sie Reisen, häufig an die Ostsee, z. B. nach Grömitz. „Man fuhr nicht wie heute um ans Ziel zu
kommen, sondern man war unterwegs“ (Lore Häfner).
Eines von Walters Steckenpferden ist die Ahnenforschung, die seinerzeit Mode war. In Halle traf man sich 1926 wieder einmal zum Familientag. Auf dem Umschlag der „Krinitz, loxia curvirostra, Kreuzschnabel“,
innen das „Bundeslied“ (Melodie: Es braust ein Ruf wie Donnerhall)
„Was Krienitz heißt und Krienitz war/Versammelt ist in großer Schar...“,
samt Bierlied, Bibelwort und Goethezitat; wir besitzen noch die Tischkarte mit Speisenfolge.
Seit er nicht mehr arbeiten kann, liest Walter Krienitz viel. Zwei medizinische Wochenschriften, wissenschaftliche Werke zur Prähistorie,
Schliemann, Heimatgeschichte. Er war Mitglied der Deutschen Orientgesellschaft, war im Harzverein für Geschichte und Altertumskunde.
Walters Bücherschrank ist gut gefüllt. Er liest Zeitgeschichte, auch Regimentsgeschichten, oder Weltreisen, das interessiert ihn, Sven Hedin,
Fechtner, bis zu Thomas Mann. Der Buchhändler Schröder auf dem
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19: Der 90. Geburtstag von Karl Krienitz (1935). Neben dem Jubilar sein Neffe Walter
Breiten Weg schickt ihm regelmäßig neue Bücher zur Auswahl ins Haus.
Den Haushalt in der Bukostraße dirigiert wie gehabt Oma Marianne.
Für Opa Walter wird ein Pfleger angestellt, Herr Biethahn, der am
Paulsplan wohnt, dazu eine Krankenschwester und ein Masseur.
Der Patient nutzt die Turngeräte hinten im Garten. Seine Tochter Lore
kann ihn am besten verstehen, sie dolmetscht bei Unterhaltungen,
wenn sie in den Semesterferien zuhause ist. Der „Schofför“ fährt sie
noch oft in den Harz. Dort kann Walter noch immer ein paar Schritte
laufen, wenn’s bergab geht. Bis zum Schluss dreht meine Mutter mit
ihrem Vater eine Runde im Garten. Bis zum Schluss haben sie ein geselliges, gastliches Haus, jeden Tag kommt Besuch, einmal die Woche
ist „Ärztekränzchen“, jeden Abend flößt man Walter sein Glas Wein ein.
Das letzte mir bekannte Foto zeigt W.K. im Kreise der Verwandtschaft,
die sich am 21.Juni 1935 zum 90. Geburtstag von Karl Krienitz vor
dessen Villa in der Hindenburgstraße 15 (jetzt Magdeburger Straße 15)
versammelt hat.
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Im November 1934 heiraten unsere Eltern. Im Frühjahr 1935 ein gereimter Brief in seiner charakteristischen winzigen, nun zittrigen Handschrift an Schwiegersohn Otto. Walter bestellt Pfälzer Wein: „Schickt
im ganzen ½ hundert, doch damit’s Euch nicht verwundert, so von
80 bis 1.20, solche Sorte wird nicht ranzig!“
Mein Bruder wird 1935 in Pirmasens in der Pfalz geboren, wir Schwestern in der Klinik von Dr. Froriep im Lindenweg. Bei meiner Geburt am
1. Mai (1937) schneit es, und um 6 Uhr früh hört meine Mutter die Deutsche Arbeitsfront im Marschschritt mit ihren Stiefeln singend durch die
Straßen ziehen.
Im November 1937 stirbt ihr Bruder, der hoffnungsvolle cand. med.
Rudolf Krienitz in Göttingen an einer Lungenentzündung. Die habe er
sich in Rohn’s Gasthaus bei einer durchtanzten Nacht geholt, sagt sie.
Nachdem unsere Mutter 1941 an Polio erkrankt ist, sind wir Kinder
häufig zu Gast bei Oma Marianne; nun wird noch eine Kinderschwester angeheuert. Woran erinnere ich mich? An die Vorschrift von Opa,
jeden Bissen 6o mal, wenn nicht öfter, zu kauen. Dann, dass vor dem
Essen die Teller in der Grude, einer Einrichtung der jüdischen Vorbesitzer, vorgewärmt werden. Dass unten im Flur ein großer Gong ist, der
zum Essen ruft. Dass die dunkelrot tapezierten Wände im Parterre, als
wir im Herbst 1943 aus Berlin nach Halberstadt ziehen, sich in helle
verwandeln. Dass Opa Walter mir als besonderen Leckerbissen seine Brotrinde zuschiebt, die „Reiterchen“ heißt, wobei er mir zublinzelt,
dass Klavier gespielt und dazu gesungen wird.
Im April 1943 fällt unser Vater in Russland; im November geht es in Halberstadt mit Opa Walter zu Ende. Er stirbt am 14. November im Schlaf;
Oma Marianne strauchelt an diesem Morgen auf dem Treppenabsatz
und erleidet eine Gehirnblutung, nach der sie nicht mehr erwacht.
Seit Juni 1945, wir teilen den Eingang samt Toilette, Diele und Küche
mit unseren sowjetischen Freunden und leben zu viert in einem Zimmer, der Rest ist beschlagnahmt, wird besonders für unsere Mutter
das Leben zum Albtraum. Im Juni 1949 fahren wir in Begleitung von
Muttis Freundin Christa Johannsen (1914 – 1981), der Schriftstellerin,
mit dem Zug die paar Stationen nach Heudeber-Danstedt, mit Rucksäcken und Taschen bepackt, und laufen in der Nacht durch den Wald
über die Zonengrenze nach Vienenburg. Damit endet die Geschichte
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20: Gräber der Familie Krienitz auf dem Halberstädter Friedhof
21: Eleonore Häfner mit ihren drei Kindern Otto, Renate und Cornelia
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der Krienitze in Halberstadt. Im Jahr 1960 fährt meine Mutter mit mir
nach Halberstadt, um die Schränke und Schubladen auszuräumen. Ein
paar Tage lang wird der größte Teil des Familienarchivs hinten im Garten verbrannt, den Rest nehmen wir nach Ulm mit.
1961 wird das Haus Bukostraße 3, in dem bis zu der Zeit Verwandte
wohnen, von Eleonore Häfner, wohnhaft in Ulm, die ihre Schwester
Gertrud vertritt, zum Kaufpreis von 35.000 Mark der DDR an das Ehepaar Reich aus Halberstadt verkauft.
Zum 14.November 2007 in Halberstadt
Renate Chotjewitz Häfner
(copyright)
Alle Fotos: privat
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Kurzer medizinischer Nachtrag zu Walter Krienitz
Von Steffen Rickes
Im Jahr 2005 wurden die beiden australischen Forscher Marshall und
Warren für die Entdeckung des Magenbakteriums Helicobacter pylori
mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Es bedurfte nur eines einfachen
Lichtmikroskops, um diese bahnbrechende Beschreibung zu machen,
die ein scheinbar unumstößliches Dogma, das des sterilen Magens,
ablöste. Zweifelsohne kann der sich aus dieser Entdeckung gewonnene Nutzen für Millionen von Menschen kaum abgeschätzt werden.
So kann heute z. B. die Geschwürkrankheit des Magens durch eine
einfache Antibiotikatherapie in vielen Fällen geheilt werden.
Wie steinig der Weg der Entdeckung der Magenbakterien war, verdeutlicht die Tatsache, dass bereits lange vor der Beschreibung von Marshall und Warren auf die Existenz von Bakterien im Magen hingewiesen wurde. Eine der Erstbeschreibungen von Bakterien im Magen geht
auf den Halberstädter Arzt Dr. Walter Krienitz zurück. Er veröffentlichte
1906 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift eine Arbeit, in
der er über spiralförmige Bakterien im Mageninhalt eines Patienten mit
Magenkarzinom berichtete (1). Für eine Deutung seiner Beobachtung
war die Zeit damals noch nicht „reif”. Die wissenschaftliche Leistung
von Walter Krienitz wurde vom „Walter-Krienitz-Verein zur Förderung
der Medizin“ herausgearbeitet (2) und gewürdigt (siehe auch www.
krienitzverein.de).
Literatur
1. Krienitz W. Ueber das Auftreten von Spirochäten verschiedener Form im Mageninhalt bei Carcinoma ventriculi. Dtsch Med Wochenschr 1906; 32: 872.
2. Rickes S, Schultze U, Mönkemüller K, Malfertheiner P. Walter Krienitz – Sein Leben und seine
intuitive Beschreibung von Bakterien im Magen. Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1341-1343.
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Landschaftskalender
Von Christel Trausch
Schafft das Land in meine Stube
so ein buntes Stück Papier,
und ich sitze auf dem Sofa,
öffne nicht des Hauses Tür.
Bin in Kornfeld, auf der Wiese,
zwischen Birken, in dem Feld.
Fast kann ich die Gräser riechen.
Baum sich vor die Augen stellt.
Und ich lerne zu beachten
Licht, das in das Flüsschen taucht.
Gegenwart in ihrem Hasten
dringend das Betrachten braucht.
30.6.2011
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Halberstädter Familiengeschichten
mit astronomischen Zutaten
Von Reinhard E. Schielicke
»Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«
formulierte Schiller das Thema seiner Antrittsvorlesung an der Jenaer Universität im Jahr 1789. Welche Antworten gibt es auf die Frage
»Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Familiengeschichte?«
Zunächst, mag die Antwort lauten, weil man seine Wurzeln sucht, wohl
auch, um Erzählungen und Berichte der unmittelbaren Vorfahren besser einschätzen zu können. Und schließlich, weil die Beschäftigung
Spaß macht und Befriedigung mit sich bringt. Besonders interessant
ist die Beschäftigung aber, wenn man die »Universalgeschichte« mit
greifbarer Sozial- und Heimatgeschichte untersetzen kann.
Hier sollen stadt- und alltagsgeschichtliche Aspekte einer verzweigten
Familie im Vordergrund stehen, für die Halberstadt zwar nur für fünf
Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts den Lebensmittelpunkt bedeutete, die aber durch den geschichtsträchtigen und bildungsanregenden Charakter ihres Wohnsitzes eine prägende Bedeutung erhielt.
So mögen die Ausführungen wohl auch eine Ergänzung des Neuen
Familienkundlichen Abends vom Januar dieses Jahres bieten, an dem
Werner Hartmann über »Halberstadt und die Halberstädter unterm Hakenkreuz 1933 bis 1945« berichtet hatte.
Die Ausführungen wird ein kleiner Exkurs über die Sternwarte bei Halberstadt und Halberstädter Beziehungen zur Astronomie abschließen.
Die Wurzeln der Familie Schielicke – die heutige Schreibweise wurde
erst vor etwa 150 Jahren durch kalligrafische Künste von Kirchenbuchführern und Standesbeamten aus der Form Schilik geprägt – führen
in den Fläming. Indizien sprechen dafür, dass sie sich gemeinsam mit
anderen Flamen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts dort angesiedelt haben. Der Urgroßvater Ernst Wilhelm hatte 14 Geschwister,
von denen viele im Kindesalter starben. Großvater Gustav Hermann
Reinhard hatte eine Schwester und drei Brüder, er »erlernte die Musik«,
wie er in seinem Lebenslauf schrieb, und war zwölf Jahre als »Hoboist«
Militärmusiker in Thorn an der Weichsel – heute Toruń – verpflichtet.
Danach stand er als kaiserlicher Zollbeamter zunächst in Thorn, dann
in Danzig – heute Gdańsk – und später in Tangermünde im Dienst. Dort
51
beendete sein ältester Sohn Ernst Erich Oskar im Jahre 1915 die achtstufige Knaben-Bürgerschule. Seine Lehrer hatten den Eltern eine Lehrerausbildung empfohlen, der Vater berief einen Familienrat ein, und
man beschloss, die beiden Städte mit Lehrerseminaren in der Nähe
– Magdeburg und Halberstadt – zu besuchen und danach die Ortswahl
zu treffen. Die Entscheidung fiel auf Halberstadt.
1: »4.3.1915. Ihr lie­
ben Alle. Die bes­ten
Grüße aus Halberstadt (neues Heim)
sendet Euer Vater.
Sonst geht’s mir
gut. Im Quartier bin
ich bei Eckards. Sie
lassen grüßen.«1
Am 1. April bezog die Familie eine Wohnung im Gartenweg 1, Ernst
Schielicke besuchte von 1915 bis 1918 zunächst die Präparandenanstalt in der Wilhelmstraße 18 – heute Straße der Opfer des Faschismus
– und dann das Lehrerseminar an der Plantage, der heutigen Polizeidienststelle.
2: Klasse II des
Hal­­berstädter Lehrerseminars 1918,
am linken Tisch
rechts sitzend Ernst
Schielicke
52
Im Jahre 1920 riet der Direktor der Anstalt, Dr. Meißner, nach Abschluss
der II. (vorletzten) Klasse den Eltern, auf die weitere Ausbildung ihres
Sohnes wegen schlechter Berufsaussichten zu verzichten. So trat Ernst
Schielicke am 1. September die Lehre bei der Commerz- und PrivatBank in Halberstadt an; er wurde in zweieinhalb Jahren zum Bankbuchhalter ausgebildet. Danach war er noch bis zum 30. April 1924 in
dem Geldinstitut angestellt, bis die Bank »durch die Zeitverhältnisse zu
einer Verringerung der Angestelltenschaft genötigt« war. Bis dahin hat
er die Inflation nach dem ersten Weltkrieg und ihre Auswirkungen mit
der Währungsreform vom 15. November 1923 unmittelbar erlebt. Danach begann bis zum Februar 1934 eine Zeit von Wechseln zwischen
Arbeitslosigkeit und verschiedenen Anstellungen, insgesamt war er
3¼ Jahre erwerbslos. Während seiner Tätigkeit an der Halberstädter
Reichsbankstelle entstand 1926 eine Fotografie der Mitarbeiter um
Reichsbankdirektor Lachenwitz.
3: Die Mitarbeiter
der
Reichsbankstelle Halberstadt
im Jahre 1926.
Vorn dritter von
rechts Bankdirektor Lachenwitz, in
der zweiten Reihe
zweiter von rechts
Ernst Schielicke
Einige Jahre war Ernst Schielicke auch als Vormund des jungen Erich
Puhlmann tätig, der sich in den 1940er und 50er Jahren deutschlandweit einen Namen als Boxer machen sollte.
Das Familienarchiv enthält eine Postkarte, die Bruder Walther Bade
– den Elmar Krautkrämer in diesen Heften gewürdigt hat2 – dem Großmeister des Jungdeutschen Ordens Herrn Schielicke am 13. Juli 1927
geschickt hat.
Der Jungdeutsche Orden war 1920 von Artur Mahraun (1890–1950), einem Offizier des 1. Weltkrieges, gegründet worden. Er wollte die Front-
53
kameradschaft des ersten Weltkrieges zur Überwindung der Standesund Klassengegensätze in das zivile Leben übertragen3. Der »Jungdo«,
so die Kurzform, war eine nationale – nicht nationalistische – Vereinigung zur Überwindung der Folgen der Bedingungen des Versailler
Friedensvertrages in Deutschland. Man suchte bewusst Kontakte zu
Frankreich und England, wodurch Konflikte mit nationalistischen Verbänden heraufbeschworen wurden.
»Schwestern-« bzw. »Bruderschaften« bildeten die Ortsgruppen, ihnen stand ein Großmeister vor, mehrere solcher Ortsgruppen bildeten
eine »Ballei« mit einem Komtur an der Spitze, die Balleien waren in
Großballeien zusammengefasst, denen ein Großkomtur vorstand. Der
Hochmeister – Mahraun selbst – stand dem Orden vor. Die Mitgliederzahl ist ungewiss, 37 000 werden genannt, aber ein »Liederbuch des
Jungdeutschen Ordens« erreichte bis 1925 schon eine Auflage von
210 Tausend, weitere Auflagen folgten. 1933 löste sich der Jungdo auf,
um der Liquidation bzw. der Gleichschaltung zu entgehen; im gleichen
Jahr wurde er verboten. Mahraun wurde im Sommer 1933 verhaftet
und schwer misshandelt, schließlich aber wieder entlassen.
4: Reichsschwesterntag des Jungdeutschen Ordens in der »Harmonie«, dem größten
Saal Halberstadts, am 8. und 9. Oktober 1932. Vorn links an der Bühne stehend Hildegard Krause.
54
Das Halberstädter Ordensleben entwickelte sich recht rege, woraus
für Ernst Schielicke ein weitreichender Freundes- und Bekanntenkreis
erwuchs. Zur Schwesternschaft zählte Hildegard Krause, die sich mit
ihren Eltern 1920, aus Breslau kommend, in Halberstadt angesiedelt
hatte. Beide lernten sich kennen und lieben und heirateten am 2. Oktober 1935, gefeiert wurde im Domclub am Lindenweg.
Hildegard Krause war nach dem Abschluss der neunstufigen Mädchenmittelschule und der Handelsfachschule u. a. in der Klostergutsverwaltung St. Burchard, in der Halberstädter Geschäftsstelle des
Nordharzer Automobil-Club e.V. (A.D.A.C.) und schließlich für mehrere Jahre im Büro des Oberbürgermeisters Dr. Mertens beschäftigt. In
jener Zeit führte ihr Arbeitsweg über die Treppen der Ratslaube am
Rathaus.
5: Hildegard Krause besuchte vom
23. bis 27. April
1928 einen Gaskochkursus
im
Halberstädter Gaswerk
6: Die Schneiderwerkstatt der Firma Heinrich May
K. G., Inhaber Kurt
Heinzel, um 1930.
55
Ihre Mutter war Putzmacherin und über Jahrzehnte – bis 1950 – in der
Werkstatt der Firma Heinrich May K.G. tätig, gegenüber der Domtreppe am Gleimhaus am Hohen Weg gelegen.
Der Vater Ernst Schielickes, Reinhard Schielicke sen., war von 1915
bis 1939 als Zollbeamter im Halberstädter Zollamt tätig.
7: »Vater im
Dienst« – so seine
eigenhändige Bildunterschrift – als
Zollsekretär, Januar
1939.
Ernst Schielicke konnte im Februar 1934 eine Stelle an der Halberstädter Reichsbank antreten. Die Familie bezog eine Wohnung in der
Hohenzollernstraße 67 – von 1918 bis 1933 und nach 1945 als Friedenstraße bekannt.
Am 1. März 1943 wurde Ernst Schielicke zum Militärdienst bei der
Sanitäts-Ersatz-Abteilung Bückeburg eingezogen. Der Einsatz als Gefreiter erfolgte bei Nettuno, Grottaferrata und Castel Gandolfo (45 km
südlich von Rom) bis zur Landung der amerikanischen Truppen im Januar 1944 und dann in Südfrankreich, in Aix-en-Provence und Grasse
– in einer Feldpostkarte an seine Frau heißt es: »Hierhin möchte ich mit
Dir!«.
Im Lazarett in Sigmaringen kam er in französische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 14. November 1945 entlassen wurde. Er wurde
aber verpflichtet, die Behandlung entlassener Kriegsgefangener im Lazarett Sigmaringen fortzusetzen. Er wohnte im Kloster Gorheim, wo er
ein sehr freundschaftliches Verhältnis zum Abt Pater Florentinus aufgebaut hat. Er schrieb seiner Frau nach Halberstadt, ob eine Übersiedlung dorthin nicht zu überlegen sei. Im Hinblick auf den Familiensitz
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8: Die Mitarbeiter der Reichsbankstelle Halberstadt am 20. März 1936 zum Abschied
von Bankdirektor Lachenwitz im Domklub, dritter sitzend von links: Ernst Schielicke.
Halberstadt mit etwa 25 Mitgliedern wurde das aber nicht weiter erwogen. Am 6. September 1947 kam er nach Halberstadt zurück.
Im Zuge des üblichen Entnazifizierungsverfahrens erhielt Ernst Schielicke am 7. Mai 1946 von seinem ehemaligen Reichsbankkollegen
W. Ehlers das folgende Schreiben:
9: Sehr geehrter Herr Schielicke!
Ihr an die Direktion der Reichsbankstelle –
stimmt nicht mehr: Reichsbank, Deutsche
Bank, Commerzbank, Bk. F. Landwirtschaft
und Vogler am 9. Aug. 1945 geschlossen –
wurde mir zur Beantwortung übergeben,
da die Stadtbank, die sich in den Räumen
der Reichsbank aufhält, grundsätzlich keine derartigen Briefe mehr beantwortet. …
Ich kann lediglich an Eidesstatt bezeugen,
daß Ihr Name sowie von Kummer, Schorse
Schmidt und Frau Reichsbankdirektor unter dem besagten gegen Hitler gerichteten
Artikel sich befand.
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Wegen dieser zuletzt zitierten Aussage hatte sich der Verfasser an
das Stadtarchiv Halberstadt gewandt, leider ohne Erfolg. So kam
aber schließlich die Einladung zum Familienkundlichen Abend zustande.
Am Nachmittag, dem 7. April 1945, einem Sonnabend, wurde ein im
Halberstädter Hauptbahnhof stehender langer Munitionszug von Bomben getroffen. Über viele Stunden hinweg waren die gewaltigen Detonationen der einzelnen Waggons in der Stadt zu vernehmen, über dem
Bahnhof stand eine schwarze Qualmwolke, die man von dem der Wohnung in der Hohenzollernstraße nahegelegenen Friedrich-Platz aus gut
sehen konnte.
Am Sonntag, dem 8. April 1945, hatte es gegen 10 Uhr wieder einmal Alarm gegeben. Mutter Hildegard, Sohn Reinhard und Großmutter
Gertrud suchten in einem Luftschutzkeller in der nicht weit gelegenen
Villa der Eigentümerin der Halberstädter Harzbrauerei, Elisabeth Reich,
Unterschlupf. Langanhaltende Reihen von Detonationen erschütterten
das Haus, eine Bombe war in ein etwas tiefer gelegenes Haus direkt
gegenüber eingeschlagen. Das Haus Hohenzollernstraße 67 wurde
von mehreren Bomben getroffen. Der zum Hof hin liegende Trakt war
völlig zerstört, auch die Hauswand zur Straße hin existierte nicht mehr.
Man konnte von der Straße aus in Speise- und Herrenzimmer hineinsehen. Das Treppenhaus war von einer Brandbombe getroffen worden,
es war abzusehen, dass es durch die zäh die Stufen hinabfließenden
Phosphorverbindungen nach kurzer Zeit ausbrennen und zusammenbrechen würde. Unmittelbar nach dem Angriff strebte die Familie –
wohl einer Verabredung für den schlimmsten Fall folgend – zum Blankenburger Kopf, der westlichsten Erhebung der Spiegelsberge. Von
hier aus konnte man über die brennende Stadt sehen, die Türme der
Martinikirche stürzten ein, und die Innenstadt war verwüstet.
Der Verfasser ist 1940 in der elterlichen Wohnung geboren worden, der
nahegelegene Bismarckplatz – in der Kindersprache als »Bismaxpax«
weiterlebend – war gern aufgesuchte Spazier- und Spielstätte.
Er besuchte von 1946 an die Marx-Engels-Schule in der Thälmannstraße (früher Roonstraße, heute Johann-Sebastian-Bach-Straße).
Klassenlehrer Thöry unterrichtete von der ersten bis zur vierten Klasse.
Zum Schreibenlernen benutzte man Griffel und Schiefertafeln, die es
aber nur als schwarz angestrichene Pappe gab. So waren die vom
Dach des durch zwölf Volltreffer beschädigten Doms gefallenen echten
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Schieferplatten gerade recht, auch wenn sie nicht rechteckig waren.
Die Unterrichtsverhältnisse in den ersten Jahren waren katastrophal,
zumal in den Wintermonaten. Unterrichtet wurde in größeren Räumen anderer Schulen oder öffentlicher Gebäude, oft saßen bis zu 100
Schüler in einer Klasse. Die Verhältnisse besserten sich erst in den
Jahren 1949 und 1950.
10: Klasse 4b der Marx-Engels-Schule mit dem Klassenlehrer Thöry, 1950.
Der Verfasser erster von links in der zweiten Reihe.
In der 5. und 6. Klasse war Frau Donnhauser Klassenlehrerin. Es kamen Physik, Biologie, Erdkunde, Geschichte und Russisch, in der
7. Klasse Chemie zu den Fächern hinzu. Zum Klassenverband gehörten damals über 30 Schüler.
Es war im Jahre 1950, als für vier hoffnungsvolle Knaben mit der
5. Klasse neue Schulfächer, darunter eben auch der Russischunterricht, begannen. Vorausschauende Eltern überlegten, wie sie ihren
Kindern daneben auch Unterricht in englischer Sprache angedeihen
lassen könnten, an den damals an den Grundschulen der DDR nicht zu
denken war. Sie fanden in der Kustodenwitwe Lotte Frischmeyer eine
kundige und engagierte Lehrerin, der sie ihre Sprösslinge anvertrauten.
So fanden sie sich denn regelmäßig im Gleimhaus zusammen, in dem
Frau Frischmeyer als gute Seele des Hauses wohnte, und übten unregelmäßige englische Verben, die ing-Form und das Gerundium.
59
11: Klasse 8b in der Aula der Marx-Engels-Schule Halberstadt, 1954. Ganz rechts Klassenlehrer Hoppe, der Verfasser dritter von rechts in der mittleren Reihe.
Geöffnet wurde nach kräftigem Zug an
einem Klingelgriff links von der Haustür, der über eine sinnreiche Mechanik eine Glocke im Innern des Hauses
ertönen ließ. Vom Flur aus führten
Stufen zu den beiden links gelegenen
Räumen, zwischen denen die »Karschin« stand. Normalerweise fand der
Unterricht im vorderen Zimmer statt,
das mit einem großen rechteckigen
Tisch ausgestattet war und mit einer
Schultafel auf einer Staffelei. Als besonders erstrebenswert galt der Platz
am vorderen Fenster abseits vom
Tisch, vor dem ein hölzernes Schülerpult mit Klappsitz stand.
An kalten Tagen unterrichtete Frau
Frischmeyer im Zimmer dahinter, wohl
ihrem Wohnzimmer. Dort servierte sie
auch einmal zur Weihnachtszeit einen
»christmas pudding«, den sie nach
60
12: Studienrat am Martineum und
Pfarrer
Walther
»Spatz«
Bade
(1888–1959) konfirmierte den Jahrgang an der Johanniskirche. Karikatur um 1952 aus der Hand von Frau
Gebhard, geborene Hohnke, Tochter
des Lehrerehepaares Dr. Hohnke von
der Käthe-Kollwitz-Oberschule.
dem aufwendigen Rezept selbst hergestellt hatte und den sie aus der
Küche brachte, die auf der rechten Seite des Flures gelegen war.
Wurde es aber im Sommer richtig warm, dann zog man in den ersten Stock in den Freundschaftstempel, an den großen ovalen Tisch im
vorderen Raum, dessen grüner Filzbezug mit mehreren großen Tintenflecken (die Zeit der Kugelschreiber sollte gerade erst anbrechen) von
gehabten Schüler- und Lehrerfreuden zeugte. Unter den Augen gleimscher Freundesbildnisse saßen die Schüler auf den hohen Rohrstühlen; der »Pegasus« – Gleims Dichterross – durfte aber nicht benutzt
werden. Natürlich blieben Betrachtungen zu den Abgebildeten nicht
aus, zumal man nach 1954 als »Oberschüler« (9. bis 12. Klasse) mehr
und mehr Verständnis für die literarischen und historischen Hintergründe entwickelte.
13: Klasse 9b: Ausflug
zur Hoppelnase bei
Halberstadt im Winter
1954/55.
Von links: Lehrer Donn­
hauser, Ingeborg Wehr­
stedt, Hella Krebs, Klaus
Herudek, Jürgen Posselt
(beide sitzend), Heidrun
Brandt, Ortrud Uhlentrud, Reinhard Schie­licke,
Wolfgang
Gott­schalk;
oben: Herbert Petzold,
Anneliese Rüssel, Peter
Klaus, nn, Werner Hake.
An ganz heißen Tagen saß man auch einige Male im kleinen Garten,
der mit Sträuchern und Bäumen dicht bewachsen sehr schattig im Gedächtnis geblieben ist.
Der Autor hat Frau Frischmeyer als mütterliche aber auch strenge
Persönlichkeit in Erinnerung – was eine gute Lehrerin ausmacht –, die
neben der Vermittlung von Sprachkenntnissen auch für die Lebenshaltung prägende Eindrücke hinterließ. In jenen 1950er Jahren, als auch in
der DDR noch Rütlischwur, Ringparabel und Kants kategorischer Im-
61
perativ durch die Lehrer als persönlichkeitsbildend vermittelt wurden,
traf auch Portias Rede aus Shakespeares »Kaufmann von Venedig« auf
offene Ohren und Herzen:
»The quality of mercy is not strain‘d,
it droppeth as the gentle rain from heaven
upon the place beneath: it is twice blest,
it blesseth him that gives and him that takes … «
Immerhin konnte man schließlich Shakespeare mit Gewinn im Original
lesen; so wurde vereinbart, von 1956 an in den beiden Jahren bis zum
Schulabschluss bei Frau Frischmeyer noch Grundkenntnisse in Französisch zu erwerben. Irgendwann im Frühjahr 1958 verebbten dann die
Bemühungen im Gleimhaus, als die Vorbereitungen zum Abitur immer
mehr Zeit erforderten.
14: Der Schulchor der Käthe-Kollwitz-Oberschule unter der Leitung von Dr. Berner im
Volkstheater Halberstadt am 20. Oktober 1957. Oberste Reihe: Herbert Petzold, Reinhard Schielicke, Joachim Dorst, Schäfer, Neumann, Wolfgang Roselt, Felsche. Reihe
vorn: Schirmer, Himpel, Pape, Sommer, Gläser, Stolte, Heise, Ingeborg Wehrstedt; letzte:
Annelise Rüssel. Aus der Hand von Frau OStR Ingeborg Tautz, Solingen.
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Klassenlehrer war während der Oberschulzeit Helmut Schulze, Fachlehrer für Mathematik und Physik, der sein Studium an der Universität
Halle 1953 beendet hatte. Bis zum April 1955 war Elmar Donnhauser Deutschlehrer, dann ging er nach Göttingen. Nachfolger wurden
Herr Weyrich und später Dr. Wille, der wenige Wochen vor dem Abitur
nach Bad Harzburg zog. Fräulein Tautz hat die Klasse in Biologie unterrichtet. Nach der Einführungsstunde in die Menschenrassen in der
12. Klasse ist sie noch am gleichen Abend nach Solingen verzogen
und war dort noch viele Jahre lang als Oberstudienrätin tätig, sie ist am
9. September 2011 97-jährig verstorben.
Nach bestandenem Abitur folgte Reinhard Schielicke dem Vorbild seines durchaus liberal eingestellten Vaters, er wurde gemeinsam mit seinen Klassenkameraden Joachim Dorst und Wolfgang Roselt am 1. Juli
1958 in die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) aufgenommen, auch – wenigstens vom Verfasser – mit dem Ziel, nie zum
Eintritt in »die« Partei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
(SED), aufgefordert werden zu können.
Angeregt von den naturkundlichen Kenntnissen und der Begeisterungsfähigkeit seines Vaters beschäftigte sich der Autor seit Mitte der
1950er Jahre intensiv mit der Astronomie. Aus Holz und Pappe entstand ein funktionsfähiges Modell des Zeiss-Projektionsplanetariums,
das während einer Schul-Leistungsschau – die »Messe der Meister
von Morgen« war noch nicht erfunden – dem Lehrerkollegium vorgeführt worden ist. Klassenlehrer Helmut Schulze empfahl, nach Jena zu
gehen, um Astronomie professionell betreiben zu können. Und so ist
der Verfasser bis heute Mitarbeiter am Astrophysikalischen Institut und
der Universitäts-Sternwarte Jena.
Seit etwa 30 Jahren rückte die Beschäftigung mit der Geschichte der
Astronomie immer mehr in den Vordergrund und nach Halberstadt führende Spuren – wenn es deren auch nur wenige gab – bleiben erfreuliche Ergebnisse.
Die am weitesten zurückreichenden Bezüge betreffen Lesesteine, die
als Linsen wirken und die man als Vorläufer optischer Elemente von
Lupen, Mikroskopen und Fernrohren ansehen kann. Mit der schon
den Assyrern vor 3000 Jahren bekannten Technik wurden im Mittelalter Quarzkristalle geschliffen und in Reliquiare eingesetzt, so wie zu
Beginn des 13. Jahrhunderts auch in den Sockel des Stephanus-Reliquiars des Halberstädter Domschatzes4, das im Zuge der Kreuzzüge
in Konstantinopel erbeutet und mit vielen anderen nach Mitteleuropa
gebracht worden ist5.
63
Vor Jahren gab es die Anfrage eines Göttinger Kollegen nach einer
Sternwarte in Halberstadt um 1850, von der es gar keine Publikationen gäbe. Sofort war dem Ortskundigen die kleine Ausflugsgaststätte
»Sternwarte« vor den Klusbergen im Sinn, aber Astronomisches ließ
sich erst nach einer Anfrage bei Dr. Reimar Lacher und Werner Hartmann finden: der Betreiber der Sternwarte war Karl Ludolf Menzzer,
1816 in Halle an der Saale geboren und 1893 in Rostock verstorben.
Menzzer ist 1841 in Jena zum Dr. phil. promoviert worden. Von 1843
an bis zur Pensionierung war er an der Halberstädter Höheren Bürgerschule tätig, seit 1856 als Oberlehrer, von 1880 an bis 1883 als Gymnasialprofessor.
Unter den Astronomiehistorikern ist er kein Unbekannter: Er übersetzte das epochemachende Werk »De revolutionibus orbium coelestium«
von Nicolaus Copernicus ins Deutsche für die Thorner Gesamtausgabe von 1879, und er war Ehrenmitglied des Copernicus-Vereins.
15: Jean Bernard Léon Foucault bei der Vorführung des
Pendelversuchs 1851
Menzzer war als Gymnasiallehrer begeistert von der Möglichkeit, die Wirkung der Erddrehung um ihre Achse durch den Foucaultschen Pendelversuch unmittelbar veranschaulichen zu können und führte ihn im Februar 1853 im Halberstädter Dom vor; für seine Untersuchungen brauchte
er eine genau regulierte Uhr, dazu richtete er die Sternwarte ein6.
Franz Kössler schreibt: »Um seine wissenschaftlichen Ansichten experimentell bestätigt zu sehen, baute Menzzer in den 1850er Jahren eine
Sternwarte auf einem kleinen kahlen Hügel in der Nähe der Stadt, den
er – man behauptete für einen einzigen Silbergroschen – käuflich er-
64
worben hatte. Um den Mauer- und Dacheinschnitt für den Meridian zu
erhalten, beobachtete er, durch einen der Witterung entsprechenden
Trank gehörig gestärkt, eine ganze Nacht hindurch die Position von a
Ursae minoris [des Polarsterns]. – Menzzer meinte, die Schwingungsdauer eines Pendels im Erdinnern sei kürzer als an der Erdoberfläche.
Zum Beobachten dieser Zeit gehört eine Uhr mit genau ermitteltem
Gange und dazu wiederum Sternbeobachtung. Den Pendelversuch
wollte M. im tiefsten Schachte des Andreasberger Bergwerks anstellen. Er erhielt auch die Erlaubnis und reiste mit einem Freunde hin. Es
wurde oben und unten am Schachte gependelt. Besonders das letztere war mit Schwierigkeiten verbunden. Um nämlich Erschütterungen
zu vermeiden, waren für die Dauer des Versuches die Maschinen abgestellt, auch diejenigen, die das Wasser fort schafften. So standen
schließlich beide Beobachter bis an den Leib im Wasser, während sie
eifrig Pendelschwingungen aufzeichneten.– «
16: Wilhelm Steuerwaldt: Die
Sternwarte bei Halberstadt.
Städtisches Museum Halberstadt
Eine ganze Reihe von alten Postkarten zeigen die Menzzersche Sternwarte, auf dem Hügel über dem Eingang zur Langen Höhle gelegen. Heute ist das Gelände wegen Einsturzgefahr nicht zugänglich. Bekannt sind
auch mehrere Gemälde von Wilhelm Steuerwaldt, die die Landschaft um
die Sternwarte zeigen. Der Maler lebte von 1815 bis 1871. Er wurde in
Quedlinburg geboren, sein Vater war Zeichenlehrer. Nach einer Lehre
beim Halberstädter Maler Carl Hasenpflug von 1830 bis 1833 bezog er
die Kunstakademie Düsseldorf. Von 1836 an wirkte er als Maler in seiner
Geburtsstadt, in der er von 1839 bis 1867 das Klopstockhaus besaß.
65
Im Jahre 1853 heiratete Helene Charlotte Menzzer – ein mögliches
Verwandtschaftsverhältnis zwischen Helene Charlotte und Karl Ludolff
Menzzer ist (noch) nicht nachgewiesen – den Gründer der Freireligiösen Gemeinde in Halberstadt, Adolf Timotheus Wislicenus (1806–
1883). Beider Sohn Walter Wislicenus (1859–1905) wurde Astronom,
von 1880 an tätig an der Sternwarte Straßburg9. Er gründete den »Astronomischen Jahresbericht«, dessen erster Band die astronomische
Literatur des Jahres 1899 referierte.
17: Walter Friedrich Wislicenus (1859–1905)
Nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wirkte Carl Wilhelm Alexander von Wahl (1760–1846) als Preußischer Hauptmann und Kanonikus des Moritzstiftes Halberstadt. Er lebte von 1803 an in Halberstadt
am Moritzplan, betätigte sich als qualifizierter Liebhaber der Astronomie und hinterließ deutliche Spuren in der astronomischen Literatur
der Goethezeit8. Er beschäftigte sich mit der Bestimmung der Polhöhe seiner Wohnorte, mit der Berechnung von Kometenbahnen sowie
der Beobachtung und Auswertung von Sternbedeckungen durch den
Mond. In der Halberstädter Literarischen Gesellschaft trug er am 6. Juli
1806 über die Änderung der Schiefe der Ekliptik vor.
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18: Über die Änderung der
Schiefe der Ekliptik. vorgelesen
in der literarischen Gesellschaft
[in Halberstadt] den 6. Juli 1808
Bei einem Besuch von Wahls
auf der Seeberg-Sternwarte
bei Gotha, damals eines der
astronomischen Zentren Europas, widmete ihm Franz Xaver von Zach um 1800 seine
»Tabulae motuum solis …«.
Und endlich schließt sich der Bogen zum Gleimhaus wieder: Canonicus Gleim ist (neben Rektor Fischer aus Halberstadt und der Bibliothek
der dortigen literarischen Gesellschaft) als Subscribent der »Selenotopografischen Fragmente« – einer großen Mondkarte – von Johann
Hieronymus Schroeter aus Lilienthal bei Bremen im Jahre 1791 verzeichnet. Zwei Jahre später wirkte Gleim als Gastgeber Franz Xaver
von Zachs, des Astronomen am Hofe Herzog Ernst II. von SachsenGotha und Altenburg, der in Begleitung des regierenden Grafen von
Stolberg-Wernigerode am 2. und 6. Juni 1793 zu astrogeodätischen
Messungen in Halberstadt Station machte: Dabei hatte Urania (von
Zach) die Unterstützung von Apollo (Gleim), denn – mit von Zachs Worten – »der Brennen [Brennaburg oder Brandenburg, wohl auf Gleims
Grenadierlieder zielend] Lieblings-Dichter Herr Canonicus Gleim nahm
sogar Anteil an meinen astronomischen Beobachtungen, und wohnte
einigen derselben bey; unvergesslich werden mir die, bei diesem verehrungswürdigsten Greis verlebte angenehme Stunden, und die mir
bezeigte Freundschaft bleiben«9.
Weder Zach noch Gleim konnten ahnen, dass Zach drei Jahre nach
Gleims Tod wie zuvor Gleim Kanonikus des Stifts Walbeck sein würde.
67
19: Franz Xaver von Zach (1754–1832).
Stiftung Schloss Friedenstein Gotha10
20: Johann Wilhelm Ludwig Gleim
(1719–1803). Gleimhaus Halberstadt11
Anmerkungen und Quellen:
1: Alle Bilder – soweit nicht anders angegeben – aus der Sammlung des Verfassers
2: Krautkrämer, Elmar: Studienrat und Pfarrer Walther Bade, Genannt „Spatz“. Neuer Familienkundlicher Abend 10 (2001), 3–22
3: Lohmüller, Wolfgang: Der Jungdeutsche Orden. Neue Politik – Beiträge zur politischen Neuordnung 48 (2004), 1–6
4: Willach, Rolf: Der lange Weg zur Erfindung des Fernrohrs. In: Hamel, J., Keil, I. (Hrsg.): Der Meister
und die Fernrohre. Acta Historica Astronomiae 33 (2007), 34–126
5: Flemming, J., Lehmann, E., Schubert, E.: Dom und Domschatz zu Halberstadt. Berlin 1976, S. 247
6: Kössler, Franz: Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus SchulJahresberichten und Schulprogrammen 1825–1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen. Band:
Maack–Mylius. Preprint. Universitätsbibliothek Gießen, Gießener Elektronische Bibliothek 2008,
S. 173
7: Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft 41 (1906), 12–21
8: Brosche, Peter: »Der Hauptmann und Kanonikus« C. W. A. von Wahl (1760–1846). In: Dick, W.R.,
Hamel, J.: Beiträge zur Astronomiegeschichte 8 (2006), 91–107
9: Brosche, Peter: Der Astronom der Herzogin. Leben und Werk von Franz Xaver von Zach (1754–
1832). Acta Historica Astronomiae 12 (2001), S. 79–80
10: Piere Nicolas Legrand: Franz Xavar von Zach; Inv.-Nr. Sg 122
11: Georg Friedrich Adolph Schöne: J. W. L. Gleim; Inv.-Nr. A/N 32
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Neue Gedichte von Christel Trausch
Die beiden Bäume
standen schon zur Elternzeit
und wissen
um Gewitterfrühling,
der unverhofft
das junge Herz
durchblitzt.
Nur schnell
die Namen eingeritzt
für alle Ewigkeit.
Die Bank ist längst
mit neuem Holz versehn,
der Weg verbreitert
und mit Kies bestreut.
„Erinnre dich“
umkreist den Rasen.
Ein altes Glück
muss langsam gehn.
Doch wie die beiden Bäume
sind wir immer noch zu zweit.
4.9.2011
69
Lebensgemeinschaft
Du bist kein Kid,
sondern das Kind.
Ich bin keine Seniorin,
sondern alte Frau.
Meine Hand ist groß,
damit sie deine birgt.
Du suchst meine Brille.
Ich finde deine Kommafehler.
Wir sind eine
Lebensgemeinschaft.
28.8.2011
Arche
Noah ist längst da
mit der jüdischen Familie.
Hochzeitsfeier
wie in Kanaan,
Wein für Luther
und den Papst,
Gebetsteppiche
werden ausgerollt,
Buddha lächelt,
Nichtgläubige singen.
Laotse sinnt
durch den Regenbogen.
Sintflut fällt aus
und Krieg.
28.8.2011
70
Start eines neuen Familienunternehmens
Von Helga Scholz
Wer ein aufmerksamer Bürger unserer Stadt ist, dem fielen sicher in
den vergangenen Monaten und Jahren häufig die Kräne und schweren
Transporter auf, die mit dem Namen Kran Schäfer gekennzeichnet
sind. Oftmals fragte man sich, wer ist dieser Geschäftsmann, was für
eine Firma verbirgt sich hinter dem Logo. Auch in Zeitungsberichten
tauchte der Name, in Verbindung mit dem Baugeschehen und sozialem Engagement, immer wieder auf. Anlass genug, um den Fragen
nachzugehen und Antworten zu suchen.
Martin Schäfer, geboren am 15.11.56 in Halberstadt, Walter-RathenauStraße 8. Diese Häuser waren kurz nach dem Krieg errichtete Neubauten
mit gutem Wohnkomfort. Nach der Scheidung der Eltern erhielt die Mutter
das Sorgerecht für ihre Söhne Uwe, sechs, und Martin vier Jahre alt. Martin, der katholisch getauft worden war, verfolgte wach und aufmerksam
die DDR-Fernsehsendungen, insbesondere die Kinderreihe von „Professor Flimmrich“. Er bildete sich bald eine eigene Meinung und verweigerte
1: Pionierblasorchester der Marx-Engels-Schule, 2. Reihe, 2 v. l. Martin Schäfer
71
sich der Erstkommunion. Eingeschult wurde er in die Marx-Engels-Oberschule. Viel Zeit investierte Martin in das Pionier-Blasorchester der Schule,
in dem er das Spielen von Waldhorn, Althorn und Trompete erlernte. Sieben aktive Jahre widmete er sich dem Orchester. Noch heute verbindet
ihn eine herzliche Freundschaft mit dem Leiter des heutigen Jugendblasorchesters, Thilo Eulenberg. Dieser setzte die Tradition des Schulorchesters fort. Stolz ist Martin Schäfer bis jetzt über Auftritte des Musikkörpers,
der viele große Ereignisse in der DDR mitgestaltete.
Als Jugendlicher trat er in die FDJ ein und war auch in diesem Rahmen sehr aktiv. Seine schulischen Leistungen zeigten am Ende der
9. Klasse einen Notendurchschnittswert von 1,6. Also lag der Besuch
der Erweiterten Oberschule (EOS) nahe. Martin entwickelte jedoch
bald eigene Zukunftsvorstellungen. Abitur war nicht zwingend wichtig.
Die wirtschaftliche Lage der DDR in den 1970er Jahren war gut, der
Staat genoss internationale Anerkennung, und Martin war stolz auf
sein Land. Erfolgreich beendete er 1973 die 10. Klasse.
So ganz genau wusste er noch immer nicht, welchen Beruf er ergreifen sollte. Da brachte ein Freund ihn auf eine faszinierende Idee. Die
Vision, zur See zu fahren, ließ ihn nicht mehr los. Zum Glück hatte
seine Familie keinen Westkontakt, das hieß damals keinerlei verwandtschaftliche Bindungen in die BRD oder ins kapitalistische Ausland.
Also stand einer Bewerbung zum Vollmatrosen in der DDR-Handelsschifffahrt nichts im Wege. Die Freude und Erwartung wuchs, als seine
Bewerbung angenommen wurde.
Die Lehrzeit begann mit theoretischen Unterweisungen. Dann, nach
fünf Monaten intensiver Büffelei und aktiver Ausbildung auf dem Motorschiff „Georg Büchner“, das als Schulschiff und Wohnheim genutzt
wurde, konnte er auf das MS „Nienburg“ wechseln. Auf der „Georg
Büchner“ erhielt Martin eine umfassende seemännische Grundausbildung während einer Fahrt nach Kuba. Die Unterbringung auf dem
Schulschiff war spartanisch. Es diente früher als Truppentransporter.
In der Kabine gab es zwei Kojen auf engstem Raum. Die Ausbilder
legten großen Wert auf Disziplin, Ordnung und Sauberkeit. So gab es
für die angehenden Matrosen regelmäßig Wäscheappelle. Zur Vorschrift gehörte der Nachweis von zwei sauberen Garnituren, es galt
täglich einwandfrei gekleidet zu sein und die Kabine vorbildlich in Ordnung zu halten. Nach sechs Stunden Schlaf begann die sechsstündige
Arbeit. Nach dem Ruf „Backen und Banken!“ des Offiziers ging man
zum Essen in die Messe, wobei beim Eintritt kontrolliert wurde, ob das
Besteck, die Fingernägel und das Geschirrtuch peinlich sauber waren.
72
2: Motorschiff Georg Büchner
Für Martin und die anderen jungen Männer bedeutete der Drill, das
streng kontrollierte Leben auf engem Raum, einen tiefen Einschnitt in
sein Leben, das er vorher in relativer Freiheit verbracht hatte. Trotzdem
gefiel ihm die Ausbildung. Er begriff sehr schnell, dass Ordnung und
Disziplin sehr wichtig für Arbeitsabläufe und Freizeit auf dem Schiff
waren. Der Bootsmann gab die Pausen an, gegenüber den Offizieren
und dem Kapitän herrschte Gehorsam. Es gab eine Rangordnung, die
strikt eingehalten wurde.
An eine harte Bewährungsprobe erinnert sich Martin noch heute ganz
genau. In einem kubanischen Hafen musste eine Seenotsituation simuliert werden. Nicht nur, dass die Rettungsboote schwer und recht
unbeweglich waren, die angehenden Matrosen mussten in ihrer Tropenbekleidung die Boote gegen heftigen Wind zum Schiff zurückrudern. Am Ende waren alle völlig erschöpft, und die Handflächen bestanden aus schmerzendem, rohem Fleisch.
Eine weitere Fahrt auf der „Nienburg“ führte nach Asien. Dabei machte
er neue Erfahrungen, als das Schiff kurz vor der Einfahrt in den Hafen
von Singapur auf ein Riff auflief. Die aufregenden Bergungsarbeiten ge-
73
schahen bei Taifunwarnung, die löste schon Ängste beim angehenden
Vollmatrosen aus. Nach der Bergung musste das havarierte Schiff in
die Werft und Martin setzte seine Ausbildung auf dem MS „Karl-MarxStadt“ fort. Das Leben und die eindrucksvollen Erlebnisse auf dem Schiff
ließen ihn sein Ziel erkennen. Martin strebte den Beruf des nautischen
Offiziers an. Dazu musste er Mitglied in der SED werden. Zur Erreichung
seines Berufswunsches war das nur ein „kleines Übel“. Wohl erkannte
er Missstände im sozialistischen Alltag, doch die gute Führungstätigkeit
der Verantwortlichen auf dem Schiff empfand er als vorbildlich. Die im
Rahmen der Parteiarbeit auf dem Schiff gefassten Beschlüsse setzten
er und seine Genossen um. Sie waren überzeugt vom Sinn und der
Notwendigkeit der Aufgaben. Oft ergriffen die jungen Männer selbst die
Initiative, um Aufgaben zu lösen. Martin erinnert sich, wie er und die
anderen den Pool des Schiffes und eine Barkasse instand setzten.
Martin fasste den Entschluss, ein Studium aufzunehmen, das unterstützte und befürwortete der Kapitän. Doch noch vor Studienbeginn
galt es, den Armeedienst abzuleisten.
Nach der langen, eineinhalb Jahre dauernden Reise erfolgte seine Ablösung. Die recht ungewöhnliche Heimfahrt von Antwerpen mit dem
Zug über Hamburg verursachte ihm keine Fluchtgedanken. Die DDR
zu verlassen, stand bei ihm nie zur Diskussion. Für ihn bedeutete die
DDR Heimat und soziale Sicherheit. Solche Entscheidungen reiften bei
Begegnungen mit dem offensichtlichen Elend der Menschen in vielen
Ländern. Seine Perspektive: Er wollte in der DDR ein Kapitänspatent
erwerben und auf große Fahrt gehen. Mit diesem Ziel vor Augen begann Martin seinen sechswöchigen Urlaub vor Antritt der Armeezeit.
Aber wie das oft im menschlichen Leben ist, Lebensziele und Erwartungen können durch einen kleinen Zufall zerbrechen, aber dann zeigen sich neue Möglichkeiten. So auch bei den Planungen Martins. Im
Privatleben brauchte er neue Oberbekleidung. Also machte er sich auf
den Weg. Ein braungebrannter, schwarzhaariger, fescher junger Mann
in Lederjacke und Jeansschlaghosen betrat das Modehaus „Peters“.
Auf ihn zu kam eine hübsche blonde Verkäuferin und – es funkte sofort
zwischen den beiden. Die Beziehung wurde gleich auf eine harte Probe
gestellt. Martin musste seine 18-monatige Armeezeit ableisten. Weit
weg von Halberstadt, in Prora auf Rügen, diente er im Mot. Schützen
Regiment 27 „Ernst Moritz Arndt“.
Hunderte Briefe wurden geschrieben, sie festigten trotz der Entfernung
die beiderseitige Zuneigung. Aus Liebe zu seiner Silvia verwarf er seinen ursprünglichen Studienwunsch.
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Viele Pläne wurden geschmiedet. Die neue Berufsorientierung musste auf dem Wissen und den erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten
aufbauen. So entstanden Kontakte zur Deutschen Reichsbahn. Sie und
die Deutsche Seereederei basierten auf einer gemeinsamen Betriebsund Berufszugehörigkeit. Nach Ende der Armeezeit begann Martin in
der Starkstrommeisterei der DDR Halberstadt seine Ausbildung zum
Elektromonteur. Doch er wollte studieren. Einem Jahr praktischer Arbeit
folgte schließlich ein Fernstudium an der Ingenieurschule in Dresden.
Nach anstrengendem, Kräfte zehrendem fünfjährigem Studium erhielt
Martin 1984 den Nachweis als Elektro-Ingenieur für elektrische Anlagen und Maschinen. Solch ein Fernstudium absolvierte nur derjenige
erfolgreich, der seine ganze Kraft daran setzte, denn tagsüber stand
der Studierende im normalen Arbeitsprozess und kümmerte sich um
seine Familie. Wie schwierig das Studium war, zeigte sich am Ende.
Von 50 Teilnehmern erreichten nur 20 das angestrebte Ziel.
Einige Zeit lebte das junge Paar in der Wohnung von Martins Mutter.
Da die junge Familie mit Sohn Stefan 1980 Zuwachs bekommen hatte, war die Enge des Zusammenlebens eine Belastung für alle. Also
gingen die beiden zur KWV (Kommunalen Wohnungsverwaltung) und
stellten einen Antrag auf eine eigene Wohnung. Solch eine Zuweisung
war möglich, aber nur an verheiratete Paare. Sie entschlossen sich,
umgehend zu heiraten. Bald nach der Eheschließung erhielten sie eine
bescheidene Bleibe im heutigen „Rosenschlößchen“. An die Hochzeit
erinnert sich Martin mit gemischten Gefühlen. Sie fand in ganz kleinem
Rahmen statt, und es gab keine privaten Fotos. Diese heute noch als
bedauerlich empfundene Panne verursachte der Opa. Der knipste den
ganzen Tag – nur um später feststellen zu müssen, dass er keinen Film
in die Kamera eingelegt hatte. So zeigen heute nur die offiziellen Bilder
vom Berufsfotografen das Paar. Da die zugewiesenen Räume direkt an
der Straße zu ebener Erde lagen, bekamen sie ständig ungebetenen
Besuch von Hunden, Katzen und Vögeln. Nachts donnerten angeheiterte Jugendliche, nach dem Besuch der nahe gelegenen Gaststätte
„Muhme“, mit Fäusten an die Fensterläden. Um in Ruhe studieren zu
können, wich Martin in eine Dachkammer im Haus aus.
War es Zufall? Nach Jahren, diese Wohnung war längst aufgegeben,
betreibt Silvia Schäfer heute in den umgestalteten Räumen ihren Weinhandel.
Neben dem Studium begeisterte Martin die praktische Arbeit mit der
Technik. Er verschaffte sich umfassendes Wissen und konnte als Arbeitssicherheitsinspektor tätig werden. Bald wechselte er ins BW
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(Bahnbetriebswerk) in Halberstadt als Technologe für Triebfahrzeuginstandhaltung, wurde dann
Haupttechnologe. Als Abteilungsleiter war er verantwortlich für den
großen Bereich der technischen
Anlagen, Drehscheiben und später auch für Tankanlagen (Wassertürme), Gleisbrems- und Umschlagtechnik. Rückblickend ist
sich Martin heute sicher, damals
viel bewegt zu haben, er pflegte
auch guten Kontakt zu den rund
fünfzig Kollegen.
Als es nach der Wende 1990 zu
vielen Veränderungen, auch Zerstörungen, im Bahnwesen kam,
3: Martin Schäfer
war er doppelt glücklich, als der
Wasserturm am Halberstädter
Hauptbahnhof durch private Hand vor dem Abriss bewahrt blieb und
heute die Besucher als ein eindrucksvolles technisches Denkmal begrüßt.
Beruflich brachte die Wende auch für Martin einschneidende Veränderungen. Als Abteilungsleiter wurde er von zwei älteren Kollegen buchstäblich ausgebootet. Ihr Argument: „Bist ja noch jung!“
Neue Ideen zur beruflichen Weiterentwicklung, unterstützt durch zusätzliche Qualifizierungen, konnten nur kurzfristig realisiert werden.
Nach den Startvorbereitungen für eine neue Karriere in der eigenen
Garage, in der er wenigstens einen Telefonanschluss hatte, stellte sich
bald heraus, dass es so nicht ging, weshalb er in die Sternstraße zog.
Die inzwischen angeschaffte Technik stand vorerst bei Scholz-Baubetriebe in der Siedlungsstraße. Die Standortwahl Halberstadt wurde nie
bezweifelt und erwies sich im Nachhinein als kluger Entschluss.
Im Rahmen der Konrad-Adenauer-Stiftung besuchte er Existenzgründerseminare. Das erste Mal entwickelte er Unternehmenskonzepte. Es
war eine Zeit spannender Neuorientierung. Die stille Hoffnung, in die
Selbstständigkeit gehen zu können, war Ansporn für weitere Denkmodelle. Am 1. Juli 1990, mit der Wirtschafts- und Währungsunion, wuchs
die Chance, etwas Neues zu schaffen. Martin hatte, als die Gewerbegebiete am Stadtrand entstanden, eine Vision. Er besaß umfassendes
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Wissen über Bau- und Elektrotechnik, Hebezeuge und Krananlagen.
Und er war sicher – hier im neuen Gewerbegebiet „werdet ihr mal
Krane stehen sehen.“ Und er behielt Recht.
Der Hersteller von Turmdrehkranen „Peine Hebe- und Transportsys­
teme“ hatte Kontakte in den Osten hergestellt und sah eine Chance
für den Markt in Halberstadt. In Peine gab es einen riesigen Park von
Kranen, die auf Anmietung oder Verleih warteten. Martin bewarb sich
nun um eine Industrievertretung, er hatte Erfolg, wurde Stützpunkthändler und verfügte in kurzer Zeit über einen Mietpark für Turmdrehkrane. Ab 1992 übernahm er die professionelle Kranvermietung und
schuf im nördlichen Harzvorland einen der größten mobilen Kranparks.
Infolge der starken Bautätigkeit in der Region bestanden gute Geschäftschancen für den Aufbau des neuen Unternehmens. 1993 begab
er sich im Gewerbegebiet „In den langen Stücken“ auf Standortsuche
und – wurde fündig. Martin Schäfer gehörte zu den ersten Ansiedlern.
Er erwarb 3 500 Quadratmeter Baufläche. Unterstützt wurde sein Vorhaben durch die geförderte Vergabe zinsgünstiger Kredite. Auf 1000
Quadratmetern entstand eine zweckmäßige, große Halle. Neben seiner Frau arbeitete eine Reihe von Mitarbeitern im Unternehmen, sie
fuhren, warteten, pflegten und betreuten die Technik.
Doch schon 1996 zeigten sich dunkle Wolken am vormals sonnigen
Wirtschaftshimmel. Die Bundesregierung stoppte die Sonderförderung
Ost. Die Bauwirtschaft erlitt bis ins Jahr 2000 einen Rückgang von
20 Prozent gegenüber den Vorjahren. Plötzlich waren Turmdrehkrane
nicht mehr gefragt.
In der „Halberstädter Volksstimme“ startete 1994 ein Quiz mit der Fragestellung: Wie viele Turmdrehkrane stehen in der Stadt? Die Beteiligung der Halberstädter war groß. Am 6. August 1994 erfolgte die Bekanntgabe der Lösung. Es waren 46 Krane. Heute sind es kaum mehr
als ein bis zwei.
Der umfangreiche Kranpark stellte sich nun als überflüssig heraus.
Das Geschäft fiel Martin buchstäblich auf die Füße. Das Geschäftsfeld
musste schnellstens verändert, reduziert werden, denn es bestand keine Notwendigkeit für den Erhalt des großen Kranparks.
1999 veräußerte der bisherige Hersteller von „Peine Hebe-und Transportfahrzeuge“ den gesamten Bestand an Turmdrehkranen. Die Ära für
den Peiner Betrieb ging zu Ende. Was sollte nun geschehen? Da kam
Martin ein Zufall zu Hilfe. Ein befreundeter Spediteur aus Blankenburg
bot ihm an, dessen Lkw-Fuhrpark zu übernehmen. Dieser bestand aus
zwölf Aufliegern. Das Segment passte in Martins geschäftlichen Rah-
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men. Denn Eckart Grapentin hatte seinen Wagenpark für den Nah- und
Fernverkehr, für Schwerlast- und Schüttguttransporte sowie für Überseecontainertransporte ausgelegt.
Martin sah in dem Angebot eine neue Chance, aber auch neue Herausforderungen. Am 1. Juli 2001 versuchte er noch einmal, neu zu
beginnen. Doch schnell wurde ihm klar, mit einem Fuhrpark allein ist es
nicht getan. Lkw sind die eine Seite, genau so wichtig ist der Zugang
zum gewerblichen Güterkraftverkehr. Das regelt eine Zugangsverordnung, die besagt, dass die betreffende Person für diesen die fachliche
Eignung nachweisen muss. Das hieß nichts anderes, als dass Martin
erneut einen Lehrgang besuchen musste, die Prüfung sollte bei der
IHK in Magdeburg stattfinden. Doch neben theoretischen Kenntnissen wurde erforderlich, den Beweis über verfügbares eigenes Kapital vorzulegen und für die eigene Person Unbedenklichkeitszeugnisse
aus den unterschiedlichsten Bereichen zu beantragen. Außenstehende können sich kaum vorstellen, was für einen Kraftakt das darstellte.
Unter anderem galt es in recht kurzer Zeit, ein polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen, sich Bescheinigungen für die eigene Unbedenklichkeit vom Gewerbezentralregister, der Stadtkämmerei, dem Finanzamt, der Berufsgenossenschaft und allen großen Kassen zu besorgen.
Die Straßen-Verkehrsbehörde genehmigte schließlich die Teilnahme
am gewerblichen Güterkraftverkehr. Den Schlusspunkt bildete schließlich die Prüfung bei der IHK. Das Lernen hatte sich gelohnt! Am 1. Juli
2001 erhielt Martin Schäfer sein Testat, das ihm den guten Abschluss
der Prüfung bestätigte. Von den sechzehn Prüflingen waren viele nicht
so erfolgreich wie er.
Ein neuer Abschnitt im Berufsleben begann. Die Spedition war gut aufgestellt. Er hatte Kontakte zur Befa (Betonfabrik) und Bauwirtschaft geknüpft. Die Umsätze stiegen. Jedoch traten neue Probleme auf. Der
Vorbesitzer hatte einen Reparaturstau hinterlassen, so dass viel Geld in
Reparaturen und Erneuerungen investiert werden musste, denn die Maschinen hatten jetzt mehr zu leisten. Bis 2005 wuchs die Zahl der Lkw
von 12 auf 27. Wichtig war die Erkenntnis, nicht nur als Dienstleister
für das Bauwesen aufzutreten sondern auch für andere Wirtschaftsbereiche. Ihm gelang es, seinen Autokranbereich durch Gewinne aus
der Spedition zu subventionieren und ihn so zu retten. Langsam kamen
Wohnbau, Industrie und gewerblicher Bau wieder ins Laufen. Aber der
Mensch soll sich wohl nicht auf Dauer seiner Erfolge freuen.
Am 1. Mai 2005 erfolgte die EU-Osterweiterung. Ein Nackenschlag für
den Mittelstand. Es setzte ein Preisverfall für Frachtraum von bis zu
78
30 Prozent ein. Auch Martin machte als Geschäftsmann deutlich finanzielle Verluste. Deshalb reduzierte er den Fuhrpark. Die nächste finanzielle Extrabelastung ergab sich, als in der Politik Maut und
die Einführung digitaler Tachographen für Lkw beschlossen wurden. Wer seine Konzession behalten
wollte, hatte die strengen Regeln einzuhalten. Die
4: Logo der Firma
neue Technik macht es möglich, Lenkzeiten und Ruhepausen bis zu einem Jahr später zu kontrollieren.
2008 musste eine weitere Hürde genommen werden – die völlig unerwartete Explosion der Spritpreise. In vielen Unternehmungen fraßen
die Spritpreise die Gewinne auf. Auch Martin musste 139 000 Euro
mehr für Tankfüllungen, bei gleicher Kilometerzahl, bezahlen als im
Vorjahr. Trotz guter Einnahmen verzeichnete sein Geschäft keinen Gewinn. 2009 erwies sich wieder als Krisenjahr. Durch Veränderungen im
Fuhrpark hoffte Martin, seinen Betrieb zu retten. Als infolge der Krise die Preise für Gebrauchsfahrzeuge fielen, erwarb er sechs weitere
Fahrzeuge. Trotzdem musste der Fuhrpark erneut verkleinert werden.
Letztendlich blieben von 25 Fahrzeugen noch 17. Der Fehlbetrag durch
die Umsatzeinbuße war aus eigener Kraft nicht aufzubringen. 2010 gewährte die Bürgschaftsbank einen Kredit, der dem Betrieb über die
Runden half. Es ging nun wieder aufwärts im Geschäft.
2011 nahm Martin erneut eine moderate Erweiterung des Geschäftsbereiches vor. Ein neuer Autokran wurde gekauft und der Lkw-Fuhrpark
auf 22 Fahrzeuge erweitert, also auf den Stand von 2007 gebracht.
Nun hofft Martin Schäfer, dass sich die wirtschaftliche Situation stabilisiert.
Neben den Sorgen, die schlaflose Nächte brachten, gab es aber immer
wieder Ereignisse, die im Nachhinein zum Schmunzeln waren.
So sorgte Martin seit 2001 jahrelang dafür, dass die Plätze in der Stadt
mit Weihnachtsbäumen geschmückt werden konnten. An die erste
abenteuerlich verlaufende Fahrt erinnert er sich, verschmitzt lächelnd.
Der Stalachef, Meinhardt Kothe, war mit dabei. Mit einer Dauerausnahmegenehmigung für die breite Ladung auf den fünf LKW ging es
in die Nähe von Blankenburg. Die stattlichen Fichten wurden geschlagen und verladen. Das Problem: Die Bäume waren total vereist und
die Zweige ließen sich nicht auf drei Meter Breite zusammenbiegen,
außerdem betrug die Stammlänge weit mehr als die erlaubten zehn
Meter. Sie schliffen während der Fahrt regelrecht die Straße glatt und
drehten Verkehrszeichen. Am Pfeifenkrug wurde die Fahrt durch die
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Polizei erst einmal beendet. Für sie bestand die Tatsache einer unerlaubten Großraumfahrt. Beim Nachmessen stellten sie fest, dass die
Äste 5.80 m breit am Ende der Fahrzeuge herausragten. Die Anweisung: Keinen Meter weiter! Mit Zurrgurten schließlich versuchten die
Männer, die Zweige auf drei Meter Breite zusammenzudrücken. Es
gelang nicht. Nach einem Telefonat rückten zwei Streifenwagen mit
Blaulicht an. Es war ein farbenfrohes Bild, was sich Autofahrern bot.
Blaulicht vor und hinter dem Konvoi, dazu die orangefarbenen Leuchten auf den Lkw. Am nächsten Tag standen die Fichten pünktlich auf
ihren Plätzen in der Stadt. Die Gegenwart sieht so aus, „dass Kran und
Lkw gesittet über die Bühne gehen“, weil nur Spenden-Bäume aus
Vorgärten transportiert werden müssen.
In Halberstadt ist Martin fest verwurzelt. 1985/86 begann er trotz akuter Baustoff-Versorgungsmängel seine Vorstellungen vom Eigenheim
zu verwirklichen. Seit der Fertigstellung des Hauses in der Sargstedter
Siedlung lebt er dort mit seiner Familie. In die gleiche Zeit fällt die Abschlussprüfung seines Studiums, das Berufsleben musste weitergehen und sein Sohn Andreas wurde geboren. Diese Mehrbelastungen
blieben nicht ohne Folgen für seine Gesundheit. Aber trotz Lähmungserscheinungen, er gab nicht auf.
Das hübsche Haus in der Siedlung wurde zum Ruhepunkt. Dennoch
das Rosenschlösschen mit der ersten eigenen Wohnung liebten er und
Silvia sehr. So war es nicht verwunderlich, dass Martin mit dem Gedanken spielte, das unter Denkmalschutz stehende Fachwerkgebäude
zu erwerben. In dem Gebäude hatte im 19. Jahrhundert rund dreißig
Jahre lang der Maler Carl Hasenpflug gelebt. Eine Tafel neben der Ladentür erinnert heute an den Künstler.
Immer wieder sagte Martin zu seiner Frau: „Du wirst es erleben, irgendwann kaufe ich dieses Haus.“ Und das tat er. Nach den aufwändigen
Sanierungsarbeiten, Querelen mit der Stadt und dem Denkmalschutz,
bezogen Mieter die Wohnungen, und Silvia richtete im Untergeschoss
eine Weinhandlung ein. Andere Vorstellungen wie eine Töpferei oder
einen Naturkostladen ließ man fallen. Um solch einen Weinhandel zu
betreiben, sind gründliche Kenntnisse notwendig. Also begann ein
langjähriger Lernprozess. Hilfreich erwies sich der enge Kontakt zum
DWI – Deutsches Wein Institut in Mainz. Dort erwarben die beiden
in Seminaren Sachkenntnisse über Wein, dessen Anbaugebiete, Vermarktung, Geschäftsstrategien und vieles mehr. Der Urlaub wurde für
praktische Erfahrungen durch Reisen in Weinanbaugebiete genutzt.
Martin hält sich fit durch Laufen. Diesen Anstrengungen unterwirft er
80
sich heute noch täglich vor Arbeitsbeginn. Er scheute sich nicht, mehrmals an der „längsten Weinprobe der Welt“ teilzunehmen. Sie ist ein
Marathonlauf mit kostümierten Sportlern. Der Lauf führt durch die Medocregion in Frankreich.
In die Freude kurz vor der Geschäftseröffnung fiel ein Wermutstropfen,
denn gerade hatte sich eine kleine Weinhandlung am Johannesbrunnen etabliert. Doch diese hatte nicht lange Bestand. Seit dem 20. März
1998 ist Silvia Schäfer Besitzerin des Spezialgeschäftes und wird liebevoll von ihrem Mann „Prinzessin vom Rosenschlösschen“ genannt.
Rückblickend auf die vergangenen Jahrzehnte, fällt Martins nicht nachlassendes Engagement für die Stadt auf. Viele Ereignisse im Stadtgeschehen wurden von ihm mitgetragen und sind in unserer schnelllebigen Zeit schon fast vergessen. Als in den Wochen vor und nach dem
Glockenguss der Domina auf dem Domplatz unserer Stadt ein Interview mit ihm geführt wurde, meinte er „als Halberstädter sich daran
zu beteiligen, ist nicht nur etwas Besonderes, sondern auch eine Verpflichtung“. Diese Bereitschaft, sich immer wieder für Belange seiner
Stadt einzusetzen, wird an unzähligen Beispielen deutlich. Hier eine
kleine Auswahl:
1991: Hilfe bei Aktion des MDR-Fernsehens „Jetzt oder nie“ – Aufbau
der Wehrstedter Kirche.
August 1998: Fialen werden aufs neue Rathaus gesetzt.
September 1999: Der Glockenguss auf dem Domplatz, mit Dr. Volker Lind-Statiker, Schäfer Krantechnik liefert das Equipment und
Dr. Harald Hausmann ist der „spiritus rector“.
Oktober 1999: Aufzug der Domina in den Südturm des Domes. Martin
löst technische Probleme für den Aufzug der Glocke.
Oktober 1999: Setzen der drehbaren Natursteinblöcke an der Landeszentralbank.
Hilfe bei Hochwasserkatastrophe durch Füllen von Sandsäcken und
deren Transport.
Mit Kran Glocken von Martinikirche herunter geholt und nach Restaurierung wieder hinaufgezogen.
Unterstützung bei Bergung der verunglückten Touristen-Straßenbahn.
Umsetzung der Kehrbüste im Museumshof.
Kran für Rundblicke beim Siedlungsfest der Sargstedter Bürger.
Auch als Mitglied des Clubs der Rotarier leistet Martin soziale Arbeit. Mitglied ist er seit 1996 und war in der Zeit von 2008/09 Präsident von Rotary.
Dem Engagement der Rotarier verdankt die Stadt das Stadtmodell hinter dem Rathaus. Mit 33 000 Euro eine wahrhaft großartige Spende, die
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zudem noch blinden und sehschwachen Menschen Vorstellungen vom
Aussehen Halberstadts vor der Zerstörung am 8. April 1945 vermittelt.
In seine Amtszeit fiel die Gründung des Jugendklubs mit Migrantenhintergrund in der Kühlinger Straße. Martin setzt sich immer wieder
für die Förderung von Jugendlichen ein, denen er zu der Überzeugung
verhelfen möchte, dass sich Lernen stets lohnt. Die Sympathie für das
Blasorchester, dem er die Treue hält, zeigt sich in der finanziellen Unterstützung.
Sicher müssen in Zukunft immer wieder unternehmerische Klippen
umschifft werden. Aber flexibel, umsichtig und abwägend, wie er bisher
5: Martin Schäfer 2011
sein Unternehmen führte, wird man in Halberstadt den Namen Schäfer
Krantechnik auch in Zukunft auf Großgeräten für Bau und Transport
lesen können. Für die Stadt wäre es gut, würde das Unternehmen von
der nächsten Generation, den Schäfer Söhnen, erfolgreich weitergeführt.
82
Die bauliche Entwicklung in Halberstadt in den
Jahren nach der Zerstörung der historischen
Bausubstanz am 8. April 1945 bis zum Wieder­
aufbau des Stadtzentrums im Vorfeld
der Jahrtausendwende (1. Teil)
Von Simone Bliemeister
Mit dem Ende des Krieges und der bedingungslosen Kapitulation
Deutschlands am 8. Mai 1945 übernahmen die vier Siegermächte die
Regierungsgewalt, die durch den alliierten Kontrollrat repräsentiert
wurde. Das Gebiet der Stadt Halberstadt wurde laut dem Abkommen der Konferenz in Jalta bereits im Februar 1945 dem sowjetischen
Kontrollrat unterstellt. Am 9. Juni 1945 bildete sich in Berlin die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). Sie hatte die
Kontrolle über die Verwaltung und bestimmte die politische, soziale,
ökonomische und kulturelle Entwicklung in dem besetzten Gebiet.
Der Beginn des Wiederaufbaus in Halberstadt
Am 7. Mai 1945 gab die Antifaschistische Volksfront in Halberstadt
erste Grundsätze und Richtlinien zum Wiederaufbau der Stadt heraus.
Darin spielten vor allem politische Probleme eine Rolle, die Problematik des Wiederaufbaus. Die für viele Menschen primäre Bedeutung der
Unterkunft und Lebensmittelversorgung fand keinerlei Erwähnung.
Neben dem wirtschaftlichen Aufbau stand die Wiederherstellung von
Wohnraum für viele Menschen auf oberster Prioritätsstufe.
Erste Planungen und Ideen zum Wiederaufbau fanden sich in den Akten aus der zweiten Hälfte des Jahres 1945. Als Hauptaufgabe wurde
der Wohnungsbau definiert. Richtlinien zur Instandsetzung von vorhandenem Wohnraum wurden herausgegeben. Bereits erschlossenes
Gelände ohne Bebauung sollte genutzt werden. Hinsichtlich der weiteren Bebauung nach der Enttrümmerung erhielt der Bereich des Breiten Weges eine Favorisierung. Die Perspektiven der Bebauungsarten
wurden grob umrissen. „Auch hier sind wir uns klar, daß nur eine gewisse Typisierung von Bauelementen einen entsprechenden Baufortschritt ermöglicht.“ 1
Am 29. Dezember 1945 erließ die Landesverwaltung eine Verordnung
zum Wiederaufbau.
83
„Die Stadtgemeinde Halberstadt erhält das uneingeschränkte Recht,
jedes total zerstörte Grundstück innerhalb des Stadtkreises als Eigentum in Anspruch zu nehmen.“ 2
Die hiermit legalisierte Enteignung ebnete den Weg für einen schnellen
Wiederaufbau des Zentrums, der trotz dieser radikalen Maßnahme in
den kommenden Jahrzehnten nicht genutzt werden sollte. Das wohl
größte Problem war der stete Materialmangel.
Eine Beteiligung der Bevölkerung am Wiederaufbau erfolgte durch die
so genannten Sonntagsaufräumarbeiten.
Die Wiederherstellung von Wohnraum erfolgte letztlich in den meisten
Fällen in Form der Eigeninitiative. Bis Anfang Juni 1945 konnten so
700 Wohnungen bereitgestellt werden. Man versuchte den Behelfsbau zu verbieten, da dies einen doppelten Verlust von Material und
Arbeitskraft darstellte. Doch für den ersten Friedenswinter wurden
Notbauten zugelassen. Bauten auf den Schadensstellen, Ausbau von
Dachgeschossen oder auch die Erweiterung und Winterfestmachung
von Wohnlauben erhielten eine Legalisierung.
Doch vor einem geregeltem Wiederaufbau stand die Problematik der
Enttrümmerung.
Das Gesetz über die Abräumung von Grundstücken, die einen Kriegsschaden erlitten hatten, vom 13. Februar 1947, schuf die rechtliche
Grundlage für die Enttrümmerung und klärte die Eigentumsproblematik. Es sollte keine Grundstücksenteignungen geben, doch alle
geborgenen Baumaterialien gingen in Gemeindeeigentum über, wenn
der Grundstückseigentümer nicht in der Lage war, sein Grundstück
selbst zu enttrümmern. Durch die Zerstörung Halberstadts fielen
ca. 1 300 000 m3 Trümmermasse an. An drei Stellen der Stadt schuf
man Schutthalden, die den nicht mehr zu verwendenden Trümmerschutt aufnahmen.
Eine Verbindung schufen die Verantwortlichen durch die Feldbahn, wobei der Fischmarkt als Verschiebebahnhof diente. Aus den Trümmern
stellten die zuständigen Stellen Tausende von geputzten und zum Teil
ungeputzten Mauersteinen für Bauinteressenten zur Verfügung. Unbrauchbare Ziegelsteinbrocken wurden an zwei Stellen in der Stadt
verarbeitet, auf dem ehemaligen Hof der Feuerwehr und zwischen
Lichtwerstraße und Paulsstraße in Brecheranlagen zu Ziegelsplitt. Dieser erhielt seine neue Bestimmung in Fertigbauteilen wie Betondachziegeln oder Betongroßformatsteinen.
Schon im Herbst gab es einen ersten Wiederaufbauplan. Jedoch mussten die Behörden die Umsetzung immer in Abhängigkeit von der Be-
84
schaffung von Baumaterialien und Arbeitskräften sehen. 1947 legten
sie Bausperrgebiete zur Vermeidung einer Zerstreuung des Wiederaufbaus auf alle Stadtgebiete und zur Verhinderung unnötiger Bereitstellung technischer Infrastruktur fest. Eine Bauwirtschaftsverordnung
wurde geschaffen. Diese beschränkte den freien Verkauf von Baumaterialien auf monatlich 20 % des Bestandes der Firmen. Die restlichen
80 % durften nur auf Anweisung der Bauwirtschaftsstelle herausgegeben werden. Alle Maßnahmen bedurften eines Baufreigabescheines.
Bauten der Besatzungsmacht hatten höchste Dringlichkeitsstufe, es
folgten Wohnhäuser nach Beschädigungsgrad, Kleineigenheime und
Einfamilienhäuser nach Größe. An letzter Stelle standen kulturelle Bauten, Sportanlagen und ähnliches.
„Da in seiner Struktur noch weitgehend erhalten, wurde das Gebiet
zwischen Walter-Rathenau-Straße, Spiegelstraße, Friedensstraße und
Friedrich-Ebert-Straße für die Bebauung freigestellt. Dazu gehörte
auch die Thomas Münzer Straße. Schon zu dieser Zeit wurde der Ostteil der Altstadt erstmalig zum Sanierungsgebiet erklärt.“ 3
Am 6. September 1950 erfolgte die Bekanntgabe des Aufbaugesetzes.
Die Grundlage hierfür bildeten der Fünfjahrplan 1951 bis 1955 und die
„16 Grundsätze des Städtebaus“. Der Schwerpunkt lag im Auf- und
Ausbau wichtiger Industriezentren und im Aufbau von 53 ausgewählten Aufbaustädten. Diese wurden nach Dringlichkeit in vier Kategorien
eingeteilt. Halberstadt stand auf der vorletzten Dringlichkeitsstufe.
Zu diesem Zeitpunkt bot Halberstadt, besonders im Stadtzentrum, immer
noch ein Bild der Zerstörung. Der Bereich östlich und südöstlich des Domes
war noch weitgehend unbebaut, die enttrümmerten Flächen lagen brach.
1: Perspektivplanung Stadtzentrum Halberstadt, 1952, Städtisches Museum.
85
Das Nationale Aufbauwerk
Mit dem Nationalen Aufbauwerk, ab November 1951, und mit dem
Beginn in Halberstadt 1952 unter dem Motto „Halberstadt zieht auf
Friedenswacht“, sollte die Baubereitschaft der Bevölkerung neu angekurbelt werden. Das Nationale Aufbauwerk der DDR war eine in den
fünfziger Jahren gestartete „Masseninitiative“ zur freiwilligen, gemeinnützigen und unentgeltlichen Arbeit.
Das Zentralkomitee der SED beschloss im November 1951, ab dem
2. Januar 1952 ein Nationales Aufbauwerk zu begründen. Den Beginn
stellte der Aufbau der Berliner Stalinallee dar.
Diejenigen, die sich an einem Projekt beteiligten, leisteten so genannte
Aufbaustunden. Die geleisteten Stunden wurden mit Klebemarken in
einer „Einsatzkarte“ dokumentiert. Für die Anzahl der geleisteten Stunden erhielten die Mitwirkenden eine Anstecknadel und eine Urkunde.
Jedes Jahr wurde unter einem bestimmten Thema das Nationale Aufbauwerk regional beworben und in einer Broschüre alle Leistungen
zum Wohle der Volkswirtschaft aufgeführt. Das Nationale Aufbauwerk
schlief in den 60er Jahren nach und nach ein, abgelöst durch die
„Mach-mit-Bewegung – Schöner unsere Städte und Gemeinden“ und
die Volkswirtschaftliche Masseninitiative.
Eines der größten Projekte des Nationalem Aufbauwerkes in Halberstadt war in den Jahren 1954/55 der Aufbau der Gaststätte „Haus des
Friedens“ mit Mitteln des Nationales Aufbauwerks und Spenden aus
Westdeutschland sowie der Aufbau der Martinikirchtürme.
Weiterhin begann mit dem NAW die Lückenschließung im südlich des
Zentrums gelegenen Baugebiet. Teile der Friedensstraße, der ThomasMünzer-Straße und auch der Johann-Sebastian-Bach-Straße konnten
wieder aufgebaut werden. Diese Bauten prägte noch die Ziegelbauweise, zum Teil gab es schon vorgefertigte Elemente für Decken und
Dächer.
1953 erfolgte die Gründung der Arbeiterwohnungsgenossenschaft, die
gerade in diesem Bereich zwischen 1958 und 1960 zahlreiche Wohnungen erbaute. Die Mitglieder der Genossenschaft hatten die Möglichkeit des Erwerbs von finanziellen Anteilen und konnten eigene Arbeitsleitungen bei der Wiederherstellung von Wohnraum einbringen.
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Typisierung von Bauelementen –
Favorisierung des Wohnungsbaus
Durch die Kreisgebietsreform 1952 erhielt Halberstadt den Status einer
Kreisstadt im Bezirk Magdeburg. In diesem Zusammenhang erfolgte
die Auflösung der Landesplanung der Länder. Die zukünftige Leitung
des Wiederaufbaus lag nun in den Händen der örtlichen Staatsgewalt.
Noch 1955 gab es für die 53 Aufbaustädte nur 10 bestätigte Generalbebauungspläne. Halberstadt gehörte nicht zu diesen 10 Städten. Es
existierten verschiedene Teilplanungen, hier vor Ort gab es immer wieder neue Ideen für die Bebauung des Breiten Weges. Bereits Mitte der
50er Jahre des 20. Jahrhunderts war klar, dass der Bedarf an unbedingt
notwendigem Wohnraum mit herkömmlichen Bauweisen nicht gedeckt
werden konnte. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland
entstanden seit Kriegsende bis 1956 3,5 Mio. Wohnungen, in der DDR
waren es 700.000. Der Schwerpunkt lag in den ersten Jahren, so auch
in Halberstadt, auf der Wiederherstellung von Wohnraum und nicht im
Neubau. Anfang April 1955 fand die erste Baukonferenz der DDR unter dem Motto „Besser, schneller und billiger bauen“ statt. Typenprojekte wurden ausgearbeitet, es erfolgte die Anweisung an die Städte,
Bebauungs- und Aufbaupläne zu erstellen. 1955 entwickelten die örtlichen Organe erstmals einen Flächennutzungsplan für Halberstadt.
Die Konzentration auf die Großserienfertigung mit genormten Blöcken
und Platten zur schnellstmöglichen Versorgung der Bevölkerung mit
dringend benötigtem Wohnraum führte zu einer permanenten Verlagerung des Baugeschehens außerhalb der Zentren.
Stadtumbau in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts
Besonders mit Beginn der 60er Jahre haben zahlreiche Neuorientierungen der allgemeinen Leitbilder der sozialistischen Planung ihren
Abschluss in den Leitlinien der Deutschen Bauakademie gefunden.
1965 wurden sie als „Grundsätze der Planung und Gestaltung der
Städte der DDR“ veröffentlicht. Die „kompakte Stadt“ rückte in den
Vordergrund – die Einbeziehung des Wohnungsbaus in den Zentren
galt als neues Ziel.
Das Hauptmerkmal war, das das durch industrielle Bauweise gestaltete
Wohnviertel zu drei oder vier Seiten offen war, die Versorgungseinrichtungen eine zentrale Platzfunktion erhielten und durch die Anordnung der
Wohnblöcke ein Innenhof entstand, der häufig eine Begrünung erfuhr.
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Einer der Schwerpunkte des Wohnungsbauprogramms
von
1961 in Halberstadt
lag im Bereich des Lindenweges. Die erfolgte
ausschließlich in Großblockbauweise, deren
Anordnung frei geplant
werden konnte, da ursprüngliche Straßenzüge nicht mehr vorhanden waren. Rudolf
Wohlmann, Stadtbaudirektor erklärte 1961:
„Es entsteht ein ideales Wohngebiet, das
von einer Ringstraße
erschlossen wird. Kein
Durchgangsverkehr
2: Breiter Weg. Planung Wiederaufbau, „Kollektiv“ des
wird diese Einwohner
Entwurfsbüros für Hochbau Halberstadt unter Leitung
stören. Sämtliche Häuvon Rudolf Wohlmann, 1959
ser stehen im Grünen.“ 4
Städtisches Museum Halberstadt
Die Realisierung erfolgte jedoch auf Grund von Unstimmigkeiten bei der Anlage des
Grüngürtels bis in den Jahren 1963 und 1967.
Die Bebauung der sich anschließenden Kühlinger Straße konnte wegen fehlender finanzieller und materieller Mittel erst in den 80er Jahren
des 20. Jahrhunderts durchgeführt werden. Somit waren bis 1965 von
den 1945 zerstörten 8 000 Wohnungen nur 4 600 wiederaufgebaut.
Der Wohnungsbau stand auch weiterhin im Mittelpunkt und stellte für
die Bürger eine notwendige Lebensgrundlage dar, die es zu schaffen
galt. Wartezeiten von mehreren Jahren auf den Erhalt einer Wohnung
gehörten zum alltäglichen Leben.
Oft erhielten die Einwohner marode und unsanierte Wohnungen, gekennzeichnet durch fehlende sanitäre Einrichtungen und teilweise unbeheizbare Räumlichkeiten. Gerade aus diesem Grund sah der Plan
der Stadt Halberstadt 1965 neben dem Bau von 60 Wohnungen auch
umfangreiche Werterhaltungsmaßnahmen im Altstadtbereich vor, natürlich begrenzt auf volkseigene Grundstücke. Seither waren die Erhal-
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3: Planung Bebauung Komplex Lindenweg, „Kollektiv“ des Entwurfsbüros für Hochbau
Halberstadt unter Leitung von Rudolf Wohlmann, 1960
Städtisches Museum Halberstadt
4: Planung Wiederaufbau Kühlingerstraße, „Kollektiv“ des Entwurfsbüros für Hochbau
Halberstadt unter Leitung von Rudolf Wohlmann, 1961
Städtisches Museum Halberstadt
89
tung, Sanierung und die Frage des Abrisses ständiges Thema in der
gesamten Städtebauplanung.
„1967 gab es in Halberstadt 3 815 Gebäude mit 14 785 Wohnungen.
Dem standen ca. 18 000 Haushalte gegenüber. 17,2 % des Wohnraumbestandes war gut erhalten, 62,2 % wies geringe Schäden auf, 14,7 %
hatte schwere Schäden und 5,9 % war praktisch unbrauchbar.“ 5
Die stets herrschende Materialknappheit bedingte eine zentrale Lenkung des Wohnungsbaus. Bis 1970 wurden der Stadt Halberstadt
604 Neubauwohnungen zugesprochen. Ein großer Teil sollte im Rahmen von Baulückenschließungen erfolgen, so in der Otto-NuschkeStraße, der Klusstraße oder der Eitzstraße. Die dortigen Wohnblöcke
konnten bis 1970 fertig gestellt werden und stellten letztmalig eine Anwendung der Blockbauweise in der Stadt dar.
Am 1. Juli 1969 begann die Plattenbauweise in Halberstadt mit der
Montage des Typs „P Halle“ in der Beckerstraße. Der Wohnkomplex
„Hermann Matern“, mit 582 Wohneinheiten, wurde ebenfalls in Plattenbauweise des Typs „P Halle“ realisiert. Insbesondere entlang der
Richard-Wagner-Straße zeigte sich der Unterschied zwischen den
kurzen Blöcken der Blockbauweise und den lang gestreckten Blöcken
der Plattenbauweise mit Flachdach. 1973 konnte der „Hermann-Matern-Ring“ fertig gestellt werden.
Im Jahre 1971 proklamierte die SED Führung ein neues Ziel. Auf dem
VIII. Parteitag formuliert, sollte eine Reduzierung der Zentrumsbebauung zugunsten des Wohnungsbaus erfolgen, obwohl in Halberstadt die
Situation in keiner Hinsicht das Zentrum favorisiert hatte. Die Förderung des Eigenheimbaus, bisher mehr ein Randthema, da das private
Eigentum nicht als Ziel der entwickelten sozialistischen Gesellschaft
galt, trat in den Vordergrund. Damit bestand keine Chance für eine
schnelle Wiedererrichtung des Halberstädter Stadtzentrums, obwohl
auch in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Planungsentwürfe existierten.
Die Bebauungskonzeption rund um das Halberstädter Stadtzentrum
sah für 1968 Folgendes vor:
- Kühlingerstraße in überwiegend 5- und 8-geschossiger Bauweise
- Schwanebecker Straße als Gruppe 10-geschossiger Punkthäuser
- Heineplatz mit konzentrierten 13- bis 17-geschossigen Blöcken
- Walter-Rathenau-Straße ein 13-geschossiges Hochhaus als Verbindung zum zentralen Platz
90
- P
aulsplan vorzugsweise 5-geschossige Bebauung mit 10-geschossigen Punkthäusern 6
Grundlage bildete der „WBS 70“, eine Großplattenbauweise für vierbis elfgeschossige Häuser und auch für Gemeinschaftseinrichtungen.
Die Besonderheit lag in der Vereinheitlichung der Bauelemente. So
konnten beliebige Teile zu verschiedenen Bauten kombiniert werden.
In der Praxis beschränkte sich diese Möglichkeit durch die immer vorherrschende Materialknappheit.
Ein nahe am Zentrum gelegenes Wohngebiet aus dieser Bauplanung
von 1968 sollte mit 464 Wohneinheiten mit angegliederter Schule, einer Kaufhalle, einer Sporthalle und einer Schwimmhalle entstehen.
Geplant waren Punkthochhäuser mit zehn Stockwerken, die übrigen
Wohnhäuser sollten fünf Stockwerke erhalten, errichtet unter dem Namen Clara-Zetkin-Ring.
Ein Problem gab es durch die noch vorhandene Ruine der Paulskirche, da sich auf diesem Areal das neue Wohngebiet erstrecken sollte.
5: Bauinformationstafel in der Richard-Wagner-Straße zur Bebauung des WilhelmPieck-Ring, 1975 Städtisches Museum Halberstadt
91
Trotz massiver Proteste erfolgte die Sprengung. Zudem mussten dort
ansässige Betriebe umgesiedelt werden und 92 Ersatzwohnungen bereitgestellt werden.
Der Großteil der Betriebe finanzierte die Umverlegung aus eigenen
Mitteln. Die meist privaten Grundstücke wurden von staatlicher Seite
erworben. Die Quellen vermerken hierzu: „Bei der Wertschätzung von
Baulichkeiten durch den Dipl. Ing. Becker, welcher die offiziellen Wertermittlungen seitens der Stadt durchführte, sind die Besitzer erst dann
über den Wert zu unterrichten, wenn eine Bestätigung von der Abteilung Finanzen vorliegt. Werden bei der Überprüfung durch die Abteilung Finanzen Unstimmigkeiten festgestellt, dann wird Herr Becker
von dieser Stelle beauftragt, seine Taxurkunde dementsprechend zu
ändern.“ 7 Der Verkauf realisierte sich als Enteignung gegen Entschädigung. Hinzu kam, dass alle auf den Grundstücken liegenden Lasten
von den Grundstückseigentümern selbst getilgt werden mussten.
Bei mehrfachen Änderungen der Bauplanung ersetzte man die zehngeschossigen Blöcke durch eine fünfetagig gestaffelte Bebauung entlang
der Schuhstraße. Der Hauptgrund der Umplanung war keine Frage des
ästhetischen Empfindens, vielmehr konnte notwendiges Baumaterial,
die vorgefertigten Normteile für die „Hochhäuser“, nicht geliefert werden. Zudem standen die Planer vor der Problematik des starken Geländeabfalls innerhalb der zu bebauenden Fläche in Richtung Norden
in diesem Stadtbereich.
Auf dem zu beräumenden Areal war eines der wichtigsten Machtinstrumente des Staates der DDR auf lokaler Ebene untergebracht,
eine Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Da kein geeignetes anderes Gebäude gefunden werden konnte, erfolgte eine Umplanung des gesamten Baugebietes. Die Verlegung der Schulen und
des Sportplatzes waren das Ergebnis. Aus Kostengründen musste die
Schwimmhalle entfallen. Ab 1974 begann die Realisierung, der „ClaraZetkin-Ring“ entstand.
Den 1972 geplanten Komplex „Wilhelm Pieck“, in unmittelbarer Nähe
des Bahnhofs, verwirklichte die Stadt noch in der Plattenbauweise des
Typs „P Halle“. 2 089 Wohnungen entstanden.
Vorerst sollte diese Bebauung die letzte ihrer Art auf der so genannten
„Grünen Wiese“ darstellen. Es hatte sich gezeigt, dass sich speziell die
Versorgung der Menschen in diesen künstlich geschaffenen Ballungsgebieten problematisch gestaltete. Einrichtungen, wie zum Beispiel
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Kaufhallen, entstanden grundsätzlich viel später, auch die Arbeitswegverlängerungen waren für die dort Wohnenden nicht unkompliziert. Private Transportmittel gehörten, bei einer Wartezeit von 10 bis 15 Jahren auf einen PKW, nicht zur Grundausstattung eines Haushaltes. Von
1971 bis 1980 erhielt Halberstadt 4 387 neue Wohnungen.
Stadtentwicklung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts
In den letzten Jahren des Bestehens der DDR konzentrierte sich das
Baugeschehen, wie im Generalbebauungsplan von 1978 festgelegt,
auf die Bereiche der Altstadt und den Wohnungsbau im Zentrum.
1982 erfolgte der Ministerratsbeschluss über neue Grundsätze für die
sozialistische Entwicklung von Städtebau und Architektur in der DDR.
Sie galten als Nachfolger der 16 Grundsätze von 1950, an denen sich
die Städtebaupolitik jedoch kaum noch orientierte. Im Grundsatz 3
heißt es: „Das innerstädtische Bauen und die Rekonstruktion haben
Vorrang vor anderen Bauvorhaben.“
Im Bereich zwischen Lindenweg und der Nordseite Kühlinger Straße
gab es zu dieser Zeit noch keine Lückenschließung. Obwohl bereits
1975 Festlegungen für die Bebauung der Karl-Marx-Straße (ab 1991
wieder Kühlinger Straße) und Friedrich-Engels-Straße (Heinrich-Julius
Straße), wie diese nun umbenannt hießen, existierten. Vom 18. bis 21.
Mai 1976 fand hierzu eine Klausurtagung statt. Erarbeitet wurden zwei
Varianten. Dieser Bereich sollte eine Bebauung mit Blöcken aus der
Serie „WBS 70“ in 5- bis 6-geschossiger Bauweise, Ladenzonen im
Erdgeschoss, entweder unter oder vorgelagert, erhalten. Ebenfalls diskutiert wurde eine vorgelagerte zweigeschossige Ladenzone mit begehbarer Fläche über den Erdgeschossgeschäften. Zusätzlich plante
man im Bereich der Friedrich-Engels-Straße an „ausgewählten Stellen
eine siebengeschossige Bebauung aus Elementen des elfgeschossigen „WBS 70“, zur „Auflockerung“.“8 Die zweite Variante favorisierte eine durchgezogene 5- bis 6-geschossige Bebauung mit dem Typ
„P Halle“. Die Ladenzone wurde im Erdgeschoss unter- oder vorgelagert. Dieser Planungsentwurf erhielt den Zuschlag.
1984 begann mit dem ersten Spatenstich die innerstädtische Bebauung im Bereich der Karl-Marx-Straße.
Mitte der 80er Jahre hielt in der OdF-Straße der Bau der neuesten
sozialistischen Errungenschaft – Platz sparende „Punkthäuser“ – ihren
93
Einzug. Diese bildeten nun im Bereich der Spiegelstraße und auch an
der Kreuzung Schwanebecker Straße den Eingang zum Zentrum.
Zwischen 1982 und 1985 entstand außerhalb der Stadt noch ein weiteres Wohnviertel, um den immer noch herrschenden Mangel an Wohnraum zu mindern, der Wohnkomplex Nord, „Ernst-Thälmann-Ring“.
Bereits im Generalbebauungsplan von 1978 ausgewiesen, mussten
die Planungen zur Baudurchführung 1980 gestoppt werden. Die neuen Grundsätze für die sozialistische Entwicklung von Städtebau und
Architektur in der DDR verlangten eine innerstädtische Bebauung. Die
Bebauung wurde jedoch forciert und begann 1982 mit der Begründung
der Schaffung von Ersatzwohnraum für den Abriss der Altstadt. Noch
1992, kurz bevor bereits der Rückbau erfolgte, waren die Außenanlagen in diesem Wohngebiet nicht fertig gestellt.
Die Neugestaltung des inneren Zentrums blieb nach wie vor ungeklärt.
Für den Zeitraum der 90er Jahre war eine Bebauung dieses Bereiches
nicht mehr vorgesehen.
Quellen:
1 Bauakte Stadtbauamt Nummer 304, 1945 – 1947, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.
2 Bauakte Stadtbauamt Nummer 305, 1945 – 1947, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.
3 Monika Rycken: Der Wiederaufbau von Halberstadt: Planung und Realisierung des Aufbaus in
einer Mittelstadt der ehemaligen DDR – Köln, 1992.
4 ebenda.
5 ebenda.
6 Akte 534, Bebauungskonzeption Stadtzentrum vom 07.02.1969, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.
7 Akte 1293, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.
8 Bürgermeisterakte Nummer 826, Bebauung Zentrum 1974-1976, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.
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In Heft 20 „Neuer Familienkundlicher Abend“ schrieb Pastor Dr. Heinrich Kröger aus
Soltau über Fritz Reuter (1810 – 1874).
Wer sich der Mühe unterzog und „Dat kannst‘ mi glööven“ von Anfang bis zum Ende
durchlas, hat sicherlich gestaunt, was man den Menschen, die eigentlich nur Hochdeutsch sprechen, in Plattdeutsch vermitteln kann.
Seit Jahren bemüht sich die Autorin des folgenden Beitrages, Lesern und Zuhörern zu
beweisen, dass auch Ostfälisch, das hier in unserer Gegend gesprochen wurde und
wird, ein Stück unserer Kultur und wert ist, erhalten zu werden.
Einige Gedanken zum Niederdeutschen
Von Eva Brandt
Wei het in Sassen-Anhalt 179 Museen; wei het in unsen Lanne de
„Straße der Romanik“; wei wieset hen op de schön’n ooln Gardens
un Parks in unsen Lanne, un wei freut uns, dat Quellenborch (Quedlinburg) in de Welterbe-Liste steiht.
Wei seuket in Archive un oole Körchenbäuker Nam’ns un Tahln ruut,
dee uns wat öwwer unse Ahnen vertellt, weil we wetten willt, wo wei
herkomet, wer de Namens un dit oder dat Gen wiederejeben hat.
Wei freut uns, wenn we mit’n Male festestellt, dat einder von unse Vorfahrn sogar in’n Brockhuus steiht, weil hei en klauken Minschen ewest
is un wat ruutfinne, wat vorher nich dawest is. En Stücke von unse
Jeschichte un von unse Kultur steiht vor uns.
Un wer wett, wie all düsse Lüü vor unse Tiet esprooken het?
Ook de Sprache is en Stücke Kultur, um dee man sick kümmern mot!
Ehr sick dat Hochdütsche as de „einheitliche Schriftsprache“ dorchsette, het de Minschen in öhre Mundart esprooken. Mit Mundart fänge
alles an, man kann sejjen, so vor 1500 Jahr.
De meisten Lüü wett, dat Nedderdütsch de Hanse-Sprache ‘west is
von Nischninowgorod bet Brügge un von Lübeck bet Bergen. Wer nich
nedderdütsch spreeke, konne nich handeln, in wecken Lanne ook ümmer hei wohne.
Nedderdütsch – wei sejjet datau ook Plattdütsch – het de Lüü in ganz
Norddütschland esprooken bet run in de Oltmark. (Altmark) [Oltmark]
Wo wei lebet, het de Minschen ook Nedderdütsch esprooken. De Germanisten sejjet tau unsen Platt „Ostfälisch“. Dat nedderdütsche Wort
„plat“ meint: klar, dütlich, so, dat et jedermann versteiht.
Man wett, dat Otto de Groote nedderdütsch, romanisch un latinsch
spreeken konne. Hei sall et ewest sien, dee taun ersten Male ne Urkunne nich in Latinsch schriewen laate. Hei wolle, dat alle Lüü in sien’n
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Lanne öhne verstaht, nich bloot de Klerus. De Schriewers mossten darumme in Nedderdütsch schrieben, also in Platt. Eine soone Urkunne
hänge in de Uutstellung öwwer Otto den Grooten in Madeborch 2001.
Kaiser Otto is tau jeern in Madeborch un Quellenborch ewest. Darumme kann man denken, dat hei dat Nedderdütsch esprooken hat, uut
dat unse Ostfälisch ruutewussen is! (Ob dat so is, wett ick nich.)
„Westfalen“ kennt alle Lüü, awer „Ostfalen“ meistens nich.
Wie Karl de Groote (siet 800 n. Ch.) rejiere, jaw et en „Gau Ostfalen“
(Astvale) in’n Lanne von de Sassen. Düssen Gau jiwwt et all lange nich
mehr. De Name hat sick bloot bie de Germanisten eholn. „Ostfalen“
meint forr dee dat Land von Lüneborch bet an de Grenze nach Hessen
bie Hannoversch-Münden un von de Weser bie Hameln bet an de Elbe
bie Madeborch. In’n Oberharze jiwwt et en Stücke Land, da sünd de
Minschen von Thüringen un vielleicht ook von Sassen ekom’n, wollten
arbein in’n Bergbuu un het öhre Spache middebrocht. Da spreeket se
noch hüte nich dat ostfälische Platt.
Hier in’n Gleimhuuse liet ne Bibel von 1522, eschrem’n in Nedderdütsch. Also preddije dunne de Paster noch in Platt! Hochdütsch sette
sick erst ganz langsam dorch. Man richte sick na dat Dütsch, in dat Luther de Bibel öwwersett harre. Wer wat sien wolle, mosste von düsse
Tiet an Hochdütsch spreeken un schrieb’n lehrn. De Paster, de Kanter,
de Afftheiker, de Affkate warn de ersten, dee dat konn’n un daaten.
Platt esprocken hat bloot noch de Lüü „von neddern Stanne“.
Dat sick unse plattdütsche Sprache neben Hochdütsch öwwer lange Tiet eholn hat, wiese dat Dreepen von oole Frünne un Verwandte
1989, wie de Muure efalln is. De ölderen Minschen in Neddersassen
sprooken wie dee uut Sassen-Anhalt. In de groote Freude öwwer dat
Dreepen un bien Vertelln öwwer de lanke Tiet, dee se sick nich seihn
konn’n, het se ofte plattdütsch esprooken un het sick ganz schwinne
verstahn un ook desammedaan.
Nun jiwwt et en Arbeitskreis „Ostfälisches Platt“, dee en Blaat ruut jiwwt, de „Ostfalenpost“. Et jiwwt en Ostfälisches Institut in Helmstidde.
(Helmstedt) Dat grünne de DEUREGIO 1994. Et jiwwt Ostfalendreepen,
un forr alle, dee in ostfälischen Platt schriewet, en Schriewerkring (Autorenwerkstatt)
En Wettbewerb werd alle Jahr wedder uuteschrem’n. De besten Jeschichten werd edrucket un in en Bauk efaat. Bien Lesen in düsse Bäuker kann man festestelln, dat ne Sprache lebet un dadorch öwwerall
un ümmer en bettchen anders werd mit de Tiet, sogar von ein’n Dorpe
taun andern. Sprache schliepet sick emd hier un da en betten anders
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awwe. Strien mot man nich, wat richtich oder falsch is. Et is emd anders. De Tauetreckten het wat middebrocht uut öhrn Dorpe. Dat sette
sick ofte dorch. Datau kummet, dat de Technik wat ruutefunn’n hat,
wat et freuher nich jaw.
En Biespeel: Mähen = meihn. Dreschen = döschen. De groote Maschine is also en „Meihdöscher“
Awer wat is mit Radio, Telefon, Staubsauger, Fernseher? Manicheinder find’t en Wort daforr. „Quasselstrippe“ forr Telefon geiht nich, denn
so sejjt man tau ne Fruu, dee nich stille sien kann. „Huulbessen“ forr
Staubsauger? „Kiekschapp“ forr Fernseher? Man kann de nien Wöre
nich ‘inplatten‘. Se flütt meistens in Hochdütsch in de oole Sprache rin,
so wie in’n neggenteihnten Jahrhunnert Französisch. Man öwwernehme dunne de fremm’n Wöre so wie man se höre. Wie de Iesenbahne
bie uns anfänge mit Fäuhern, (ab 1872) sejje man Biljett, Kupee, Kondukter, Perron, nich Fahrkarte, Abteil, Schaffner, Bahnsteig.
Oole Plattspreeker sejjet dat hüte noch. Se sejjet ook: „Biljettautomat.“
Weil na’n Krieje de Minschen uut Böhmen, Ost- un Westpreußen in de
nie’e Heimat Hochdütsch spreeken mossten – se härre süss keinder
verstahn – , un weil ook de Einheimischen mehr Hochdütsch spreeken
mossten – die nie’en Nahbers härrn se süss ook nich verstahn – spreeke balle keinder mehr plattdütsch. Dat ward bloot noch in de Familich
esprooken, vor alln mit de öldere Jeneration. Dadorch jung veel von
unse oole Sprache verlorn.
Dat sall nich sau wiedergahn. Darumme jiwwt et siet 1. Jannewar 1999
de „Europäische Charta für die Regional- un Minderheitensprachen.“
Unse Plattdütsch hört datau. Man dört Platt spreeken wo man will, ook
vor Jerichte un in’n Amte. Wer dat nich versteiht, mot sick en Dolmetscher haln, denn noch jiwwt et Lüü, dee sick in Hochdütsch nich gaut
uutdrücken könnt – dee spreeket nu einfach öhrn Diallekt, egal wo.
Veele Minschen sünd dat nich mehr, awer et jiwwt noch oole Lüü, dee
in en Krankenhuuse sünd oder in en Heim. De denket veel an de ooln
Tieten un willt jeern öhre Sprache spreeken. Se is en Stücke Dehuuse
un ook en bettchen von öhre Jugendtiet. Dat dört se nu. De Dokter
mösste sick – so steiht et in de Charta – drop instelln.
De Europäische Charta ward vor alln opestellt, weil man dat Oole festeholn will. In Kindergaardens sall dat losgahn mit Plattspreeken, in
Radio un Fernsehn sall Platt de hörn un de seihn sien.
Awer: Wer se nich sprickt, kann ne Sprache nich lehrn. Hörn alleene
recket nich uut. Veele Lüü sünd et nich mehr, dee alle Daa Plattdütsch
spreeket. Dee sallt de Sprache wieder jeb’n. Ne Menge Minschen
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könnt Platt noch verstahn un wett, dat de Sprache tau unse oole Kultur tauhört, un se willt wat dröwwer wetten. Darumme spreeket Lüü uut
den Ostfahlen-Schriewerkring unse Plattdütsch op CD’s un schriewet
Jeschichten op in Platt. Dee werd awwedrucket in Bäuker un in unse
Bläder. De Wöre in giene Jeschichten schriwwt jeder so, wie de Leser
düsse Wöre uutspreeken sall. Dadorch schriwwt de eine so, de andere
datselbe Wort anders.
Et jiwwt nämlich kein’n Duden forr Platt, et jiwwt bloot Henwiese, dat
en Schriewer sick so dichte wie et geiht an dat Hochdütsche holn sall.
Enz Leser, dee dat Platt nich uut’n ff kennt, sall ne Hilpe krien.
Ick will en Biespeel jewen: „fäuhern“ für „fahren“ wörre de Form, dee
Hilpe jiwwt. Deu man „feuern“ schrieben. Liet dat tau dichte bie hochdütsch „Feuer“. Platt is dat „Füer“, un heizen, also dat Verb tau „Feuer“, wörre „feuern“. Dat hett awer in Platt „inbeuten“. „Fäuhern“ bedütt
„fahren“. Also mösste dat H un dat A in düssen Worte sien.
Ofte sejjet mick Lüü, dat se sick erst inlesen mossten, wenn se sick
wat Plattdütsches vorenohm’n het.
Laut lesen hilpet. So süht man dat Wort un hört et ook. Dabie bliwwt
wat hängen, un ganz balle kann man schwinder lesen, weil de Oon dat
Wort all mal eseihn het, de Grips et all kennt, un de Minsch kann de Jeschichte schwinder begriepen. Dümmer wird man op kein’n Fall, wenn
man sick mit Plattdütsch befaat. De dütschen Baukstaben mosste man
ja ook lehrn, ehr man de ooln Breiwe oder Testamente lesen konne.
Versteiht man Plattdütsch, wett man ook noch, wat oole Wöre bedütt,
dee de Vorfahrn opeschrem’n het un dee man hüte nich mehr kennt.
Wilhelm Schrader, en Schaulmester uut Emmerstidde, sette sick veel
forr unse Plattdütsch in un sejje ümmer:
„Anfängen un nich naalaaten.“
Dat sejje ick nu ook, un ick wünsche mick, dat so manichein der anfänget, sick mit unse olle Sprache befaat – un denn nich naalett!
Literaturhinweise
Ausstellung Otto der Große / Magdeburg und Europa
im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, 2001
Sachsen-Anhalt, Journal für Natur und Heimatfreunde 2/2005 S. 8-11
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Nachruf
Martin Bluhm
Von Udo Mammen
Als wir am 30. Januar 2011 von dem schweren
Zugunglück von Hordorf hörten, bei dem es zehn
Tote gab, fragten wir uns bang: Wird jemand darunter sein, den wir kennen?
Bald hatten wir Gewissheit: Einer der tödlich
Verunglückten ist Martin Bluhm, den wir durch
seine Teilnahme an vielen Veranstaltungen des
Gleimhauses kannten.
Was wissen wir von ihm?
Martin Bluhm wurde am 22. November
1936 in Magdeburg als Sohn eines Malers und Tischlers geboren. Bald nach Kriegsbeginn wurde der Vater eingezogen, und aus
Sorge wegen der Bombenangriffe auf deutsche Städte wurden
der kleine Martin und sein jüngerer Bruder Horst nach dem etwa
50 km entfernten kleinen Dorf Zerben gebracht, wo beide bei einer Tante Aufnahme erfuhren und zusammen mit einigen Cousins aufwuchsen.
Als der Krieg zu Ende war, kehrten die beiden Jungen zu ihrer Mutter in
das zerstörte Magdeburg zurück. Nach einer Lehre als Speditionskaufmann verließ der neunzehnjährige Martin 1955 gemeinsam mit einem
Freund die Stadt, ging, wie man damals sagte „in den Westen“, in den
Raum Stuttgart, wo er später seine Frau Marianne kennen lernte, die er
im April 1968 heiratete. Die Anfänge im Westen waren recht schwierig.
Jeder Pfennig musste mehrmals umgedreht werden. Martin Bluhm war
verantwortlich im Lagerwesen tätig. Eine zeitlang arbeitete er in Düsseldorf, wo ihm jedoch die Mentalität der Menschen nicht zusagte, weshalb er sich nach Stuttgart zurückversetzen ließ und bei der Firma AEGTelefunken solange beschäftigt war, bis der Betrieb in Konkurs ging.
Mit knapp 50 Jahren musste er sich nach kurzer Arbeitslosigkeit neu
orientieren. Ein Umzug in den Nordschwarzwald war die Folge. Bis zu
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seinem Ruhestand war er in der Firma Arburg (Kunststoffspritzguß) tätig.
Den Kontakt zu seinen Verwandten und Freunden im Osten Deutschlands hat er all die Jahre immer gepflegt. Diese Beziehungen und
auch seine angegriffene Gesundheit, bedingt durch das raue Klima im
Schwarzwald, führten dazu, dass er sich einen lang gehegten Traum
erfüllte: Mit seiner Frau kehrte er, nachdem er Ruheständler geworden
war, 2001 in seine alte Heimat zurück. Magdeburg allerdings erschien
beiden wegen der Größe der Stadt nicht das Richtige zu sein. Sie entschieden sich für Halberstadt wegen der kulturellen Vielfalt, die hier zu
finden ist: das Theater, die Musik, die Museen, das kirchliche Leben,
ein Kreis von Menschen, mit denen man sich schnell wegen der gemeinsamen Interessen verbunden fühlte.
Wir sahen ihn bei vielen Veranstaltungen im Gleimhaus, besonders
gerne kam er mit seiner Frau zu den Vorträgen des Neuen Familienkundlichen Abends. Und meist fanden wir ihn schon lange vor Beginn
im Lesesaal des Gleimhause sitzen, um dort in der neusten ZEIT zu
lesen. Wissbegierig wollte er das entdecken, was er noch nicht kannte,
so erlebten wir ihn nachfragend bei den Exkursionen. Dem Neuen aufgeschlossen, kommunizierte er auch im Internet und unternahm manche Reise mit seiner Frau zu Verwandten, aber auch zu besonderen
Ereignissen, wie z. B. zur „Grünen Woche“ in Berlin. Da sich seine Frau
nicht so sehr für sportliche Veranstaltungen interessierte, besuchte er
die mit Freunden oder auch mit Verwandten. So auch am 29. Januar
2011, an dem ein Wasserballspiel in Magdeburg stattfand. Am Abend
fuhr er mit dem Zug nach Halberstadt zurück und sagte seiner Frau, er
habe einen guten Platz ganz vorne gefunden und werde gegen halb elf
zurück zu Hause sein.
Als er um halb zwölf immer noch nicht daheim war, wurde Marianne
Bluhm unruhig. Sie rief bei der Bahn an, wo man ihr von einem Unfall
berichtete, ohne dass man Genaueres sagen konnte. In der Nacht zwischen 4 und 5 Uhr kam dann die Polizei mit der Notfallseelsorgerin Ina
Schnee und brachte die furchtbare und unfassbare Nachricht.
Als ich von dem schrecklichen Unglück hörte, dachte ich an das, was
Schiller die barmherzigen Brüder im „Wilhelm Tell“ sagen lässt: „Rasch
tritt der Tod den Menschen an. Es ist ihm keine Frist gegeben. Es stürzt
ihn mitten in der Bahn. Es reißt ihn fort vom vollen Leben…“
Frau Marianne Bluhm sagte mir: „Ich werde mich nicht vergraben. Ich
werde an vielem weiter teilnehmen, denn das Leben geht weiter.“
Wir, die wir Martin Bluhm ein wenig kennen gelernt haben, werden ihn
nicht vergessen.
100
Rolf Hillmer
Von Horst Hoffmann
Als Rolf Hillmer von Hamburgs Erstem Bürgermeister Ortwin Runde am 7. Oktober 1999 im
Hamburger Rathaus die „Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes“ verliehen bekam, war
das eine Anerkennung für sein vielfältiges ehrenamtliches Engagement, ist er doch von 1969 bis
1975 für die CDU Abgeordneter im Segeberger
Kreistag und von 1970 bis 1973 als Vertreter der neugegründeten Stadt
Norderstedt im Deutschen Städtebund gewesen, war außerdem viele
Jahre ehrenamtlicher Richter beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg
und Schiedsmann in Norderstedt, daneben von 1971 bis 1983 Kirchenvorsteher und Synodaler des Kirchenkreises Hamburg-Niendorf und
schließlich bis Ende der 1990er Jahre noch als Sprecher des dortigen
Seniorenrates aktiv. Die genauen Daten haben Harald Richert und Ulf
Bollmann zu anderen Anlässen ausführlich zusammengestellt (FGN/ZNF
1993, H. 2, S. 325–326; ZNF 2003, H. 2, S. 35; 1998, H. 1, S. 12). Rolf
Hillmer war immer bereit, seine Kraft in den Dienst der Allgemeinheit zu
stellen und Verantwortung zu übernehmen, wenn er gefragt wurde, auch
und vor allem bei den Familienforschern: Mit der Mitgliedsnummer 3111
trat er 1948 der „Zentralstelle für Niedersächsische Familienkunde“ bei,
die ab 1963 als „Genealogischen Gesellschaft“ weitergeführt wurde, und
gehörte von 1959 bis 1998 dem Vereinsvorstand an, die letzten 15 Jahre
als Vorsitzender. Mit seinem Ausscheiden aus diesem Amt wurde er zum
Ehrenvorsitzenden ernannt. Schon 1994 hatte ihm die Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände mit der Gatterer-Medaille in Silber, ihrer
höchsten Auszeichnung, gedankt. 1981 war er als Mitglied in die Familienkundliche Kommission für Niedersachsen und Bremen berufen worden
und war ihr 2. Vorsitzender von 1990 bis zu ihrer Auflösung 1996. Auch
für die Kärrnerarbeit war er sich nie zu schade, hat von 1985 bis 1995
die Schriftleitung der Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde (ZNF)
übernommen, Bibliotheksdienst gemacht und in all den Jahren wohl
mehrere tausend Anfragen von Familienforschern schriftlich beantwortet.
Geboren wurde Rolf Eberhard Hillmer am 14. April 1923 in Hamburg
als ältestes von vier Kindern des späteren stellvertretenden Direktors
der Sparcasse von 1984, Walter Hillmer, und dessen Ehefrau Ruth,
geb. Glage. Bis zur Versetzung in die Oberstufe 1940 besuchte er die
101
Gelehrtenschule des Hamburger Johanneums, anschließend absolvierte er ein Praktikum als Bildberichterstatter, bevor er von 1941 bis
1945 an der Ostfront kämpfte und dort schwer verwundet wurde.
Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft holte er die abgebrochene Berufsausbildung nach, schloss eine Maurerlehre ab,
machte die Meisterprüfung und erlangte durch Abendschulunterricht
die Fachschulreife. Sein Hochbauingenieurstudium an der Technischen
Abendfachschule der Bauschule der Freien und Hansestadt Hamburg
schloss er im Wintersemester 1951/52 erfolgreich ab. Ab 1967 Ingenieur (grad.), wurde ihm 1982 der akademische Grad des Dipl.-Ing.
verliehen. Von 1963 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1983 arbeitete er als Abteilungsleiter bei einer überregionalen Wohnungsbaugesellschaft und war deren freier Mitarbeiter noch bis Ende 1990.
Als leidenschaftlicher Familienforscher beschäftigte er sich schon früh
mit der Genealogie seiner Familie, die sich väterlicherseits bis auf Hans
Lütgen Hylmer, 1558 Hauswirt in Räber bei Suderburg, zurückführen
lässt. So wurde die Heimat- und Familiengeschichte im Landkreis Uelzen neben der der Adels- und Bürgerfamilien in Ostpommern zu seinem
bevorzugten Forschungsschwerpunkt. Rolf Hillmer war ein akribischer
Forscher, der im Zweifelsfall jedes einzelne Datum nachwies, dabei aber
nie die größeren Zusammenhänge aus dem Blick verlor. Das führte folgerichtig zu zahlreichen Publikationen, eine 1996 veröffentlichte Bibliographie (= Uelzener Bibliographien 3) zählt mehr als 100 Titel aus seiner
Feder, darunter wohl seine Hauptwerke, die „Geschichte der Gemeinde
Suderburg“ 1986 und die „Geschichte der Gemeinde Eimke“ 1993. Später sind weitere Aufsätze und kleine Broschüren hinzugekommen. Ich
erinnere mich gerne an die Zusammenarbeit mit ihm bei seiner Eimker
Chronik, die ich als Redakteur begleiten durfte, an die Aktivitäten in der
Familienkundlichen Kommission sowie vor allem an die Jahre 1994/95,
als bei gemeinsamen Sitzungen der Umbruch für die Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde entstand, die bis 2000 in C. Beckers Buchdruckerei in Uelzen hergestellt wurde. Der Tod seiner Frau Anna Maria
2005 erschütterte Rolf Hillmer mehr, als er sich eingestehen mochte,
eine Demenzerkrankung zwang ihn im Spätsommer des vergangenen
Jahres, sich in die Obhut einer Norderstedter Pflegeeinrichtung zu begeben. Nun ist er, der sich bleibende Verdienste um die Familienkunde in
Norddeutschland erworben hat, wenige Wochen vor Vollendung seines
88. Lebensjahres, am 24. Februar 2011 nach kurzem Krankenlager im
Hamburger Heidberg-Krankenhaus verstorben. Eine Urnenbeisetzung
hat in aller Stille stattgefunden.
102
Exlibris Gerhard Vilmar, Kassel
Sammlung Udo Mammen
103
Neuer Familienkundlicher Abend 2011
12.1.2011Werner Hartmann: Halberstadt und die Halberstädter
unterm Hakenkreuz 1933 – 1945
09.2.2011Festveranstaltung zum 300. Geburtstag von Ernst
Ludwig Christoph Freiherr von Spiegel zum Diesenberg,
Kooperationsveranstaltung mit dem Städtischen Museum
09.03.2011 Bernd Wolff: Goethe-Orte im Harz. Die Würde der Steine
13.04.2011Dr. Reinhard E. Schielicke: Halberstädter Familiengeschichten mit astronomischen Zutaten
11.05.2011 Prof. Dr. Lutz Wille: Andreas Werckmeister.
Genealogische, musikalische und zeitgeschichtliche
Aspekte
08.06.2011Arno Baxmann: Exkursion zur Konradsburg und nach
Ermsleben
14.09.2011Das merkwürdige Leben der Jenny von Gustedt. Szenisches Spiel und Musik mit dem Ensemble Theatrum
Hohenerxleben
12.10.2011Prof. Dr. Rainer O. Neugebauer:
Arno Schmidt. Leben und Werk
09.11.2011 Christof Hallegger: Warum ist der Domplatz schön?
14.12.2011 Hanns H. F. Schmidt: Musikalisch-Literarisches
Programm
104
Förderkreis Gleimhaus e.V.
Domplatz 31
38820 Halberstadt
Jahrgang 2012 · Heft 21
Telefon 03941 / 6871-0
Telefax 03941 / 6871-40
Internet: www.gleimhaus.de
E-Mail: [email protected]
Familienkundliche Arbeitsgemeinschaft
im Förderkreis Gleimhaus e.V.
VORSTAND
Ehrenvorsitzender
Vorsitzender
Stellvertretende Vorsitzende
Schatzmeisterin
Schriftführerin
weitere Vorstandsmitglieder
Direktorin des Gleimhauses
Wolfgang Koch
Udo Mammen
Kerstin Langer
Dr. Ingeburg Stoyan
Rosemarie Schaumberg
Marita Spiller
Jürgen Jüling
Dr. Ute Pott
Zurzeit beträgt der jährliche Beitrag
26,– € für persönliche Mitglieder
130,– € für korporative Mitglieder
Bankverbindungen:Harzsparkasse
Konto-Nr. 360129137 (BLZ 81052000)
Vereinigte Volksbank e. G.
Konto-Nr. 6251420 (BLZ 27893215)
Der Förderkreis Gleimhaus e. V. ist unter der Nummer VR 241 in das Vereinsregister
beim Amtsgericht Stendal eingetragen und durch Freistellungsbescheid des
Finanzamtes Halberstadt vom 26.06.2009 als gemeinnützigen Zwecken dienend
anerkannt worden. Spenden für den Förderkreis sind bei der Einkommensteuer
und der Körperschaftssteuer abzugsfähig.
ISSN 1434-6281
Die 1848 abgebrochene alte St. Johanniskirche in Bennungen,
in welcher Christian Werckmeister die Orgel gespielt hat
und Andreas Werckmeister von ihm im Orgelspiel unterrichtet wurde
(Zeichnung von Carl Gebser aus dem Jahre 1897; Archiv und Repro. H. Noack)