Arbeitsblatt für die 1
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Arbeitsblatt für die 1
VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03) 13. Sitzung, S. 1 Die großen Romane Thomas Manns. Auseinandersetzung mit den epischen Hauptwerken 13. Vorlesung, 23.01.2003 Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, wir haben uns am vergangenen Donnerstag in der Vorlesung zum Roman Lotte in Weimar mit Thomas Manns Goethe-Bild auseinandergesetzt und dabei erarbeitet, dass für ihn der Dichter ein Repräsentant seiner Zeit und Gesellschaft ist, in dem sich zum einen die Widersprüche der Zeit spiegeln und der zum anderen diese Widersprüche in idealtypischer Weise in sich selbst zur Versöhnung bringt. Als „Dichterfürst“ ist der Dichter einerseits eine herausgehobene, über der Masse der Einfältigen stehende Leitfigur, die Bewunderung, ja Formen der Unterwerfung und Anbetung auf sich zieht; in ihrem Bann bringen andere Menschen ihr Leben zum Opfer des priesterlichen Fürsten, der aus diesen „Menschopfern“ das Lebensblut der eigenen Schaffenskraft zieht. Andererseits ist es der Dichterfürst seinerseits, der sich selbst zum Opfer bringt, der sein Leben und Lieben in den Dienst der Menschheit stellt, indem er sich ganz und gar verzehrt für sein Werk, das sich alles Private und Persönliche des Dichters einverleibt: im dichterischen Werk kann sich die Synthese und Versöhnung der Widersprüche ereignen; damit wird es zum Modell des Humanen schlechthin. Dieser Grundgedanke durchzieht Thomas Manns gesamtes dichterisches Werk, ihn umkreist und gestaltet er immer wieder neu, und einige Werke wie der frühe Roman Königliche Hoheit (1909) oder der letzte große Roman Der Erwählte (1951) tragen dieses Motiv des aristokratischen Herausgehobenseins bereits im Titel. Falls Sie sich erinnern, dass wir uns heute mit Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull beschäftigen wollen, werden Sie sich vielleicht fragen, was diese Einleitung über die Figur des Dichters als fürstlicher Repräsentant zu tun haben mag mit einen Roman, dessen Titelheld ganz offenbar ein Verbrecher, ein Hochstapler, nämlich ist. In einer Lesung aus dem Jahr 1950 skizziert Thomas Mann selbst den Helden seines Romans als einen Grenzgänger zwischen der bürgerlichen und der aristokratischen Welt, denen er – wie auch der Dichter – beiden nicht ganz zugehört und an denen beiden er doch Anteil hat [Lesung TM von CD]: Das Buch, von dem dieses Kapitel eine Episode ist, begann ich schon vor mehr als vierzig Jahren, unterbrach mich damals darin um anderer Aufgaben willen und veröffentlichte vorläufig das Fragment unter dem Titel >Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull<. Erst kürzlich habe ich mich darangemacht, ihm eine Fortsetzung zu geben und es vielleicht, wenn Zeit und Kräfte reichen, zu vollenden. Die Erzählung, in Memoirenform vorgetragen, gehört zum Typ und zur Tradition des Abenteurerromans, dessen deutsches Urbild der ›Simplicius Simplicissimus‹ ist. Sie spielt gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, und ihr Held, dieser Felix Krull, ist ein junger Mann von etwas zweifelhafter Herkunft, Sohn eines bankrotten rheinischen Schaumweinfabrikanten, der durch Selbstmord endet. Der junge, von der Natur sehr freundlich ausgestattet, sehr hübsch, sehr gewinnend, ist eine Art von Künstlernatur, ein Träumer, Phantast und bürgerlicher Nichtsnutz, der das Illusionäre von Welt und Leben tief empfindet und von Anfang an darauf aus ist, sich selbst zur Illusion, zu einem Lebensreiz zu machen. Verliebt in die Welt, ohne ihr auf bürgerliche Weise dienen zu können, trachtet er danach, sie wiederum verliebt zu machen in sich selbst, was ihm kraft seiner Gaben auch wohl gelingt. Er ist ein Mensch, der, so begünstigt seine Individualität von Natur wegen ist, sich doch niemals in dieser Individualität genügt, sondern schauspielerisch ins andere hinüberstrebt, - besonders in die Sphäre der Vornehmheit; denn von Natur fühlt er sich als bevorteilt und vornehm, ist es aber nicht seinem gesellschaftlichen Range nach und korrigiert diesen ungerechten Zufall durch eine seiner Anmut sehr leichtfallende Täuschung, durch Illusion. Sein eigentliches Anliegen, sein tiefstes Ungenügen an der eigenen Individualität geht aber weiter. Es ist ein Verlangen aus sich heraus, ins Ganze, eine Welt-Sehnsucht, die, auf ihre kürzeste Formel gebracht, als Pan-Erotik anzusprechen wäre. Mit ihr hat die Begegnung, von der dies Kapitel hier handelt, etwas zu tun. Das äußere Leben des Felix verläuft bis zu dieser Episode, kurz zusammengefaßt, wie folgt. Nach dem Tode seines Vaters in der rheinischen Provinzstadt eröffnet seine Mutter in Frankfurt am Main eine kleine Fremdenpension, und der junge, der nie mit einer Schule fertig geworden ist, treibt sich schauend, gierig die Bilder der Welt in sich aufnehmend, auch auf eine oder die andere Weise ein bißchen Geld verdienend in der großen Stadt herum. Vom Militärdienst, als die Stunde kommt, simuliert er sich auf geniale Weise frei (denn Krankheit vorzutäuschen ist er sogar besonders begabt) und kann nun also, zirka neunzehnjährig, in Paris eine Stellung antreten, die ihm sein Pate, ein schrulliger Maler, durch seine Verbindungen in einem großen Hotel verschafft hat. Auf der Reise, bei der ›Douane‹, entwendet er einer Dame ein Juwelenkästchen und hat, als Liftboy, dann mit eben dieser Dame ein noch weiter einträgliches VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03) 13. Sitzung, S. 2 Liebesverhältnis. Sie ist Elsässerin, sehr reich verheiratet, dabei Dichterin, die in ihm eine Verkörperung des Hermes, des gewandten Gottes der Diebe sieht. So macht er die Bekanntschaft seines mythischen Urbildes. Vom Lift wird er nach einiger Zeit als Kellner in den Speisesaal versetzt und lernt dort einen jungen Luxemburger Aristokraten kennen, einen Marquis de Venosta, der häufig das Restaurant besucht, entweder allein oder mit seiner Geliebten, einer reizenden kleinen Chanteuse namens Zaza. Der junge Marquis, reicher Leute Sohn, der in Paris ein bißchen die Malerei betreibt, hat es sich in den Kopf gesetzt, das Persönchen zu heiraten, wovon seine Eltern Wind bekommen haben und, entsetzt über die beabsichtigte Mesalliance, ihn davon abzuhalten suchen. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, ihn aus Paris zu entfernen und ihn von Zaza loszumachen, schreiben sie ihm eine einjährige Weltreise vor, in die er, da ihm sonst Enterbung droht, willigt. Er ist aber verzweifelt und sucht nach einem Ausweg, der es ihm ermöglicht, heimlich bei seiner Geliebten zu bleiben. So kommt es zu einer Verabredung zwischen ihm und Felix, von dem er wie alle Welt sehr angetan ist, daß dieser, statt seiner, unter seinem Namen, als Marquis de Venosta, ausgerüstet mit seinen Kreditbriefen, die Reise machen soll, während Louis selbst sich mit seiner Zaza in einer Pariser Vorstadt verborgen hält. (Thomas Mann: Rede und Antwort. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Frankfurt a. M.: Fischer 1984, S. 310 ff.) In Felix Krull also greift Thomas Mann das Thema der Repräsentanz mit den Mitteln der ironischen Brechung auf; er spiegelt es in einer Figur, die nicht in einem Werk-erschaffenden Sinn produktiv ist, die aber dennoch genau darin produktiv ist, dass sie das eigene Leben als imaginäre Existenz produziert: Krull schafft sich als Kunstfigur, er ist der Dichter seiner eigenen Existenz, Autor und Held seines eigenen Lebens, das Realität und Fiktion, Dichtung und Wahrheit, zugleich ist – und dies alles noch im Rahmen der vom Autor Thomas Mann geschaffenen Fiktion des Romans. Der Roman ist als Parodie einer großen, bildungsbürgerlichen Autobiographie konzipiert und zitiert deren Gattungsmerkmale spielerisch: schon der Titel-Bestandteil Bekenntnisse spielt auf die Confessiones des Augustinus und die Confessions Jean-Jacques Rousseaus an, die beide als Urformen der autobiographischen Gattung gelten. Im Unterschied zu diesen Vorbildern jedoch stellt sich die fiktive Autobiographie Krulls nicht als grüblerische, gewissens-erforschende und schonungslose Selbstoffenbarung des Subjekts mit sich dar, das sich der Welt als Exempel einer „wahrhaften Existenz“ anbietet. Krulls ‚Autobiographie’ ist die eines Schelmen, der sich auch noch nach seiner Entlarvung und Inhaftierung – Krull schreibt seine Memoiren in der Gefängniszelle, in der er „gesund [...], wenn auch müde, sehr müde“ (GW VII, 265) einsitzt und auf sein Leben zurückblickt – mit Freude und Stolz seiner zweifelhaften Erfolge erinnert. Damit bietet er der Welt nicht das Modell der grüblerischen Gewissenserforschung an, sondern hält ihr den Schelmenspiegel vor mit dem Motto aller Kunst: dass nämlich die Welt betrogen werden will. Wie Felix Krull sich seine imaginäre Welt konstruiert und damit die beengenden Vorgaben der Natur korrigiert, um zu der ihm zustehenden höheren Existenz zu gelangen, erzählt Thomas Mann in der berühmten Episode des Romans, in der sich Felix Krull um den Militärdienst drückt. Dort eingespannt zu werden in die Dienstpflichten eines Rekruten, in die Erniedrigungen und Mühsale des gemeinen Soldatentums – dies entspricht so ganz und gar nicht dem Freiheits- und Weltstreben des hübschen Jungen, obgleich er sich bewusst ist, dass ihn eine schmucke Uniform ganz allerliebst kleiden würde. In der Szene, die Ihnen nun Thomas Mann gleich selbst vorlesen wird, kommt dies gut zur Geltung. Es handelt sich um ein wahres Kabinettstück der humoristischen Literatur – die berühmte „Musterungsszene“ aus Felix Krull. Es ist ein Abschnitt, der zugleich das zentrale Motiv des gesamten Roman-Fragments gestaltet: das Motiv der künstlerischen Verstellung, in der erst der wahre Charakter eine Menschen oder Ereignisses zur Erscheinung kommt – und damit ist Felix durchaus das ironische Abbild eines Schriftstellers, der ja auch eine fiktionale Welt erfindet, um die Wahrheit über die Welt erzählen zu können. Der junge Held des Romans sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, sich mit der derben Pflicht zum Wehrdienst auseinander zu setzen. Doch da er, wie er selber sagt, „aus feinerem Holze geschnitzt“ ist als die sogenannte Masse, hält er es für angemessen, diesem Dienst zu entkommen, noch ehe er beginnt. Der Termin der Musterung wird Felix genannt. Er wappnet sich mit einigen medizinischen Handbüchern und bereitet sich sorgfältig auf das große Ereignis vor. Die Strategie, die er anzuwenden gedenkt, um schließlich als untauglich ausgemustert zu werden, besteht darin, dass er sich als überaus dienstwillig darstellt und es darauf anlegt, den musternden Arzt so auf die Fährte einer Diagnose zu setzen, dass dieser vor lauter eitlem Stolz auf seine medizinischen Fähigkeiten sich nicht als Opfer einer Manipulation erkennt. Als Verständnishilfe will ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Epilepsie, auf die Felix Krull hinsteuert, in der medizinischen Lehrmeinung seiner Zeit als Folge elterlichen Alkoholismus’ gedeutet wird und dass die epileptischen Anfälle zumeist mit hoher Erregung, Krämpfen und Helligkeitswahrnehmungen („Aura“) einhergehen. VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03) 13. Sitzung, S. 3 Nach lagem Warten wird Felix, splitternackt, vor die Musterungskommission gerufen, nicht ohne dass er zuvor noch einige selbstgefällige Reflexionen darüber angestellt hätte, dass es gerade die Nacktheit sei, die den Menschen in seiner höheren Wahrheit zeige – nämlich ihn, den hübschen Felix als wahrhaftig aristokratischen Jüngling, der sowohl den derben Handwerksburschen („geringes Fleisch“) als auch den jungen Abstammungs-Adligen weit überlegen sei. Hören Sie in einer gekürzten Fassung sein Gespräch mit dem Musterungsarzt in einer Lesung von Thomas Man selbst (Felix Krull, 2. Buch, 5. Kapitel): Lesung aus der CD („Treten Sie näher heran ...“ bis „... und wandte sich dann zu den Herren am Kommissionstisch“) mit Kürzungen.