Das Ende der Selbstverständlichkeit - Goethe
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Das Ende der Selbstverständlichkeit - Goethe
J oh a nn W o l fg a ng G o ethe - U ni ve rs it ät Fr an kf urt am M ai n Fach be r e ich Ges ellsc h aft swi sse n sch af ten In stitu t fü r Ver gle ic h e n de Po liti kwi ssen sc haf t u nd In terna ti onale Be zieh un gen Abschlussarbeit zur Erlangung des Grades Magistra Artium v or ge le gt v o n Elvi ra Rosert un d Sonja Sc hirmbeck 30 . A ug ust 20 0 6 Das Ende der Selbstverständlichkeit Zur Erosion internationaler Normen: Folterverbot und nukleares Tabu Erstgutachterin: Prof. Dr. Tanja Brühl Zweitgutachter: Prof. Dr. Gunther Hellman n El v ir a R o sert el vi r ose @x sm a il .c om S on j a S ch ir m bec k so n j a.sc h ir mbe ck @t - on l i ne.d e Danksagun g Viele kluge Köpfe haben uns bei unserer Abschlussarbeit zur Seite gestanden. Insbesondere danken wir Tanja Brühl als Erstgutachterin und Gunther Hellmann als Zweitgutachter dieser Arbeit, die uns dazu ermutigt haben, gemeinsam ein Projekt dieser Größe anzupacken – eine bessere fachliche und menschliche Betreuung hätten wir uns nicht wünschen können. Beide haben uns auch während unseres Studiums vielfach gefördert und dadurch nachhaltig geprägt. Darüber hinaus danken wir Gert Krell für die Heranführung an die Internationalen Beziehungen und an die Außenpolitik der USA sowie für sein Engagement an unserem Fachbereich. Wichtige inhaltliche Kommentare und Unterstützung auch über diese Arbeit hinaus verdanken wir Harald Müller und Jürgen Neyer. Die TeilnehmerInnen der Kolloquien und der DVPW-Nachwuchstagung 2006 haben uns mit kritischen Anmerkungen und Tipps weitergeholfen; insbesondere unserer Kommentatorin Antje Wiener und Benjamin Herborth sei für wichtige theoretische und methodische Hinweise gedankt. Jochen Hils hat uns mit seiner Kenntnis der US-amerikanischen Medienlandschaft ebenso die Arbeit erleichtert, wie Stefan Nitz mit seiner Kompetenz und Kulanz im Hinblick auf die relevante Literatur. Für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts danken wir Juliane Hölzinger, Diana Rosert, Eduard Rosert und Jutta Seidenfaden. Elvira Rosert und Sonja Schirmbeck Frankfurt am Main, August 2006 A uf b a u Aufbau 1. Ganz kurze Einleitung ................................................................ 1 2. Theoretischer Hintergr und: Normen in den Internationalen Beziehungen ............................................................................ 4 3. Fragestellung und Herangehensweise ......................................... 41 4. Hintergrund: Innenpolitische Konstellation in den USA .................... 60 5. Ausgangslage: T abuentstehung und Internalisierung ...................... 82 6. Erosion zweier internationaler Tabus ......................................... 149 7. Conclusio: Theore tisierungsansätze unserer Ergebnisse ............... 284 8. Ganz kurzer Ausblick ............................................................. 293 –I– I nh al t Inhalt Abkürzungsverzeichnis .........................................................................................................V 1. Ganz kurze Einleitung ................................................................. 1 2. Theoretischer Hintergr und: Normen in den Internationalen Beziehungen ............................................................................ 4 2.1 Behaviorismus und Sozialkonstruktivismus: von normal zu normativ ................................5 2.2 Fallen Normen vom Himmel? Ursachen und Quellen ihrer Entstehung...........................10 2.3 Wie Normen wirken: zwei Handlungslogiken ...............................................................12 2.3.1 Rationalismus: Kostenvorteile durch Normbefolgung............................................13 2.3.2 Konstruktivismus: Normen als Identitätsbestandteile und angemessenes Verhalten..15 Identitäten.......................................................................................................................... 16 Logic of appropriateness.................................................................................................... 18 2.4 Mechanismen und Modelle der Diffusion von Normen .................................................20 2.4.1 Das Spiralmodell: Erfolgsbedingungen der staatlichen Menschenrechtssozialisation....................................................................................................24 2.4.2 Norm-Life-Cycle: internationale Normunternehmer und Normkaskaden ..................27 2.4.3 Normen am Ziel: Internalisierung........................................................................30 2.5 Tabus – inspired by fear and not done, not said, not thought.......................................31 2.6 Theoretische Schwächen: Problematische Modelle, Ausblenden von agency und Fortschrittsbias..........................................................................................................36 3. Fragestellung und Herangehensweise .......................................... 41 3.1 Fragestellung ............................................................................................................41 3.2 Herangehensweise: back to the (constructivist) roots...................................................44 3.2.1 No more models: Der Fall als Gesamtkunstwerk .................................................44 Zwei Logiken, zwei Fragestellungen .................................................................................... 44 Der tiefere Sinn von Fallstudien und das Problem der Vorannahmen.................................... 48 Akteurszentriertheit und ein kleines Akteur-Struktur-Problem ................................................ 49 Diskursanalyse „light”: Method follows function .................................................................... 50 3.2.2 Konkrete Umsetzung: Was wird wie untersucht? ................................................54 Begründung der Fallauswahl .............................................................................................. 54 Eingrenzung zu untersuchender Akteure und Primärquellen................................................. 55 –I– I nh al t 4. Hintergrund: Innenpolitische Konstellation in den USA ..................... 60 4.1 Stellung und Zusammenspiel staatlicher politischer Institutionen ....................................60 4.2 4.1.1 Präsident .......................................................................................................60 4.1.2 Kongress ......................................................................................................62 4.1.3 Administration.................................................................................................64 4.1.4 Stellung des Supreme Court vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Rechtssystems ...............................................................................................67 4.1.5 Die großen Parteien ........................................................................................69 Stellung und Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher Akteure ...........................................70 4.2.1 Interessengruppen und Think Tanks..................................................................71 4.2.2 Öffentlichkeit ..................................................................................................75 4.2.3 Medien..........................................................................................................76 4.3 Politische Kultur.........................................................................................................79 5. Ausgangslage: T abuentstehung und Internalisierung ....................... 82 5.1 Das internationale Folterverbot....................................................................................82 5.1.1 Worin besteht das Foltertabu?..........................................................................82 5.1.2 Wie ist das Foltertabu entstanden, internalisiert und durchgesetzt worden? ............87 Frühe Normverfechter: Von der Renaissance zum ersten Folterverbot.................................. 87 Rückblick: Kosten-Nutzen-Abwägungen antiker und mittelalterlicher Rhetoren...................... 88 Moralische und naturrechtliche Argumentation der Frühaufklärung ....................................... 89 Preußens Beweis der praktischen Umsetzbarkeit des Folterverbots ..................................... 92 Norm entrepreneurs der Aufklärung: Die Internalisierung des Folterverbots ........................... 94 Drei Wurzeln des Folterverbots in den Vereinigten Staaten................................................... 96 Scham und Ekel: Emotionalisierung und Tabuisierung der Folterdiskussion ........................ 100 Tabuisierte non-compliance: Die universellen Folterverbote des 20. Jahrhunderts .............. 103 Rechtliche Situation in den USA: Öffentliche Vorbildfunktion und geheime non-compliance ....... 109 5.1.3 5.2 Wie wirkt das Foltertabu?...............................................................................112 Das nukleare Tabu................................................................................................. 115 5.2.1 Inhuman, abscheulich und anders: das Fundament des nuklearen Tabus............116 Nuklearwaffen als Totem – heilig und verdammt ................................................................ 117 Andere Wahrnehmungen schaffen andere Fakten oder warum sich der Mythos immer bewahrheitet.................................................................................................................... 120 Die Basis der Undenkbarkeit: apokalyptische Angst und absolute Amoralität ...................... 122 Der Rechtsstatus – beinahe völkerrechtswidrig ................................................................. 125 Zusammenfassung: Sieben Gesichtszüge der Unberührbaren .......................................... 126 – II – I nh al t 5.2.2 Locking nukes in Pandora’s box: Entstehungsprozess des nuklearen Tabus ........127 Beginnende Stigmatisierung wenige Jahre nach Hiroshima ............................................... 129 Die US-Präsidenten und die Kraft des Tabus: nicht durchgehend konstitutiv ...................... 131 Herausforderung durch das Ende des Kalten Krieges? ..................................................... 134 5.2.3 Tabu unter dem security umbrella der Abschreckung? Zum Verhältnis der Handlungslogiken .........................................................................................139 5.2.4 Zusammenfassung und Erosionskriterien .........................................................143 5.3 Zwischenfazit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier globaler Tabus................ 145 6. Erosion zweier internationaler Tabus .......................................... 149 6.1 Erosion des Folterverbots ....................................................................................... 149 6.1.1 Zeitraum und Ablauf der Debatte ....................................................................149 Vor dem 11. September 2001: Letzte Schritte bei der Internalisierung des Folterverbots.... 150 Nach dem 11. September 2001: „Time to think about torture” ......................................... 152 6.1.2 Akteurspositionen für und gegen eine Legalisierung von Folter ............................155 Winter 2001: Vom Stammtisch in die Medienlandschaft ................................................... 156 Ausweitung der Debattenteilnehmer 2002 und 2003: „There are ways to make them talk”157 Höhepunkt der Debatte: Herbst 2003 bis 2004 ............................................................... 165 Mai 2004: Der Abu Ghraib-Skandal ................................................................................. 165 Sommer 2004: Die Veröffentlichung der Regierungsmemoranden .................................... 169 Herbst 2004 bis Herbst 2005: Intellektuelle Auseinandersetzung vor schweigender Öffentlichkeit......... 177 6.1.3 Argumentationsweisen im Streit um das Foltertabu............................................182 Neue Bedrohung, neue Regeln: Folter als Notwendigkeit im Zeitalter des Terrorismus ........ 183 „Should the ticking bomb terrorist be tortured?” Enge Kosten-Nutzen-Rechnungen der NormgegnerInnen und Gegenmoral der BefürworterInnen ................................................. 188 „What’s Wrong With Torturing a Qaeda Higher-Up?” Erweiterte Kosten-NutzenArgumentation der FoltergegnerInnen ............................................................................... 191 „Does the Bush administration have a moral compass?” Moralische Argumentation der FoltergegnerInnen ............................................................................................................ 195 Die Entmoralisierung von Folter: Eine neue juristische Balance und ein neues Menschenbild198 Das Absolute abwägen: The constitution is not a suicide pact .......................................... 198 „Geneva for demagogues”: Einblicke in die Rechts(lücken)argumentation der Regierungsmemoranden.................................................................................................. 200 Der „folterbare” Terrorist als neues Menschenbild .............................................................. 205 Euphemisms all the way down: Ent-Totemisierungspraxis und das Vernehmen von „high value targets”................................................................................................................... 208 Frontalangriffe: Das Foltertabu als irrationale Konstruktion, die Folterdiskussion als irrationale Antwort ........................................................................................................................... 213 6.1.4 6.2 Empiriefazit: Erosion ja, aber wie?....................................................................214 Erosion des nuklearen Tabus.................................................................................. 219 6.2.1 Zeitraum und Ablauf der Debatte ....................................................................219 Materialübersicht.............................................................................................................. 219 Abolitionismus, Abrüstung und Angst vor Proliferation: Diskussion der 1990er Jahre .......... 221 – III – I nh al t Schwelende Erosionstendenzen bis 2002 ....................................................................... 228 6.2.2 Wichtige Stationen des Erosionsprozesses und seine ProtagonistInnen ...............230 Brisante Inhalte der Nuclear Posture Review ..................................................................... 231 Stimmen unmittelbar nach der Veröffentlichung ................................................................. 233 Budgetentscheidungen in Senat und Repräsentantenhaus als „Debatten-trigger”............... 236 6.2.3 Diskursive Schwächung des nuklearen Tabus ..................................................240 Führen der Debatte – aus unterschiedlichen Gründen begrüßt .......................................... 240 Face it – die Welt hat sich verändert! ................................................................................ 242 Sicherheitsstrategische Schlussfolgerungen...................................................................... 246 „Policy Changes? What Policy Changes?” ........................................................................ 254 „Wir entwickeln nicht, wir forschen nur und wir bauen nicht, wir entwickeln nur”.................. 259 Greatest brains of the world: Die Rolle der Wissenschaft ................................................... 261 Moralische Relativitäten .................................................................................................... 264 6.2.4 Empiriefazit: Erfolgreiche Herausforderung des nuklearen Tabus und seine naive Verteidigung.................................................................................................268 Unbeabsichtigte Debatte – wer verschuldete die Erosion? ................................................ 271 Neue Rationalität, neue Angemessenheit: fortschrittliche Technik und zweitschlagsunfähige Feinde............................................................................................................................. 273 Das Tabu zerstört sich selbst ........................................................................................... 274 6.3 Zwischenfazit: Empirische Ergebnisse zweier diskursiver Tabubrüche......................... 276 6.3.1 Datenmenge und Diskursverläufe....................................................................276 6.3.2 Uneinheitliche Akteursgruppen........................................................................277 6.3.3 Argumentation..............................................................................................279 6.3.4 Argumentative Auseinandersetzung als Einfallstor ..............................................283 7. Conclusio: Theore tisierungsansätze unserer Ergebnisse ................ 284 7.1 Komplexer Internalisierungsprozess und norm challengers ........................................ 284 7.2 Agency-structure-Verhältnis und dessen sprachliche Vermittlung ............................... 287 7.3 Tabuspezifische Charakteristika............................................................................... 289 7.4 Zusammenfassung: mehrfache Fragilität der Tabus .................................................. 292 8. Ganz kurzer Ausblick .............................................................. 293 Literatur ......................................................................................... I Erosion des Folterverbots: Dokumente (Kapitel 6.1)............................................................. XIV Erosion des nuklearen Tabus: Dokumente (Kapitel 6.2) .......................................................XXII – IV – Ab k ür zu n ge n Abkürzungsverzeichnis AI AB M AI P A C A MR K AT C A BI S A BS P C AT CEA CEDAW Am nest y I nter n at i on a l Ant i Ba l l ist ic M iss i le Ame r ic an Is rae l Pu b li c Af fa i rs C o mm ittee Ame r ik a ni sc he Men sc hen rec hts k o nve nt i o n A lie n T o rt C la i ms Act Br iti sh I nter n ati o n a l St ud ie s A ss oc i ati o n Br utt os oz i a lpr o d ukt C o mm ittee a ga i nst T o rtu re C o un c il of Ec o n om ic A dv is o rs C o n vent i o n O n El i mi n at i on Of A ll F orm s Of D is cr im i nat i o n A g a in st W om en CIA C TB T CWMD Ce ntr a l I nte l l ige nce A gen cy C o mp rehe n si ve T est B a n Tr eat y Nat i o na l Str ate gy t o C om b at We ap o ns of M as s De str uct i on Dee p ly b ur ie d ta r gets De pa rtme nt of Def en se De pa rtme nt of Stat e Defe n se Sc ie nce B o ard De utsc he Vere i ni g un g f ür P ol it i kw i sse nsc h aft Eu r op ä isc he Me nsc he nre cht sk o n vent i o n Exec ut ive Of fi ce of the Pre s ide nt Ea rth Pe netr at in g We a p on s Feder a l B ure a u of In vest i g ati o n Fis ca l Ye ar Ge nfe r K o nve nt i on en G ra nd O l d P arty H i gh ly C o erc i ve I nte rr o gat i o n H ar d a n d Deep ly Bu r ied Ta rg ets H um a n R ig hts W at ch He ss isc he St iftu n g fü r Fr ie de ns- u nd K onf l i ktf o rsc hu n g Inte rn at i o na l At om ic En er gy Age nc y Inte rn at i o na le Bez ie hu n gen Inte rc o nt ine nt al B al l ist ic M is s ile s Inte rn at i o na le r Ger ic hts h of Inte rn at i o na le s K o mite e v o m R ote n K reu z Inte rn at i o na le Pa kt übe r b ür ger l ic he un d p o l it i sche Recht e Ir is h Re p ub l ic an Ar my J oi nt C h iefs of St aff Ko m itee f ür Sta at ss ic her he it L os An ge les T ime s M utu a l A ss ure d Dest ru cti o n M i lit är i sc h- in d ustr ie l ler K om p lex D BT DOD DOS D SB DV P W E MR K E OP EP W FBI FY GC GOP HCI H D BT HRW H SF K IA E A IB I CB M IGH IK RK IP BP R IR A JCS K GB LA T MAD M IK –V– Ab k ür zu n ge n NA T O NGO NI H NI PP NM D NPR NPT NS C NS S NY T O AS OECD O MB OSD PDD PFI A B N ort h At l ant ic Tre aty Or g a ni zat i o n Ni cht reg ie ru n gs o rg a ni s ati o n Nat i o na l In st itute of He a lt h Nat i o na l In st itute f o r P ub l ic P ol ic y Nat i o na l M is si le Def en se Nuc le ar P ost ure Re vi ew N on -P r ol ife r ati o n T re aty Nat i o na l Sec ur ity C o u nc il Nat i o na l Sec ur ity Str ate gy New Y or k T i mes Or g an i sat i o n A mer i k an is che r St a ate n Or g an iz at i o n f or Ec o n om ic C o - Ope rat i o n a n d De ve l op me nt Off ice of M a na ge ment a nd Bu d get Off ice of t he Sec reta ry of Def en se Pres i de nti a l D irect i o n D irect i ve Pres i de nti a l F ore i g n I nte l li ge nce Ad v is o ry B o ar d PI PA The Pr o gr am o n Inte rn at i on a l P o l ic y Att it ude s PO W PR RM A RN EP ST AR T UN USD U ST WMD WP WSJ ZIB Pr is o ner s of W ar Pu bl i c Re lat i o ns Rev o l uti o n in M i l ita ry Aff ai rs Ro b ust N uc le ar E art h Pe netr at or Str ate gi c A rm s Re du cti o n T a lk s Vere int e N ati o ne n U S- D o l l ar U S A T od ay W ea p on s of Ma ss De str uct i on W a sh i ngt o n P o st W a l l St reet J o u rn a l Zeit sch r ift f ür Inte rn at i on a le B ez ieh u ng en – VI – Ei nl e i t un g 1. Ganz kurze Einleitung Brechen Gebäude zusammen, ist die danach klaffende Lücke kaum zu übersehen und auch der Vorgang selbst ist direkt beobachtbar. Die Erosion internationaler Normen ist hingegen nicht leicht zu erkennen: Die Veränderung oder das Verschwinden immaterieller sozialer Konstrukte macht sich im Alltag nur indirekt und unter Umständen erst nach einiger Zeit bemerkbar. Auch in der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) wurde die Möglichkeit einer Schwächung internalisierter Normen bisher nicht zur Kenntnis genommen. Vielmehr legt die einschlägige Literatur nahe, dass internationale Normen nach einem (allerdings nicht immer gradlinig verlaufenden) Prozess ihrer Stärkung schließlich von Akteuren internalisiert, d.h. automatisch befolgt werden, ohne, dass der jeweilige Akteur die Angemessenheit dieses strukturähnlich wirkenden Verhaltensstandards jemals anzweifeln würde. Das Ausblenden der Möglichkeit einer Umkehrung dieses Prozesses, also eines erneuten Infragestellens der Gültigkeit einer bereits internalisierten Norm von Seiten des Akteurs, lässt sich zum Einen als einem unter NormtheoretikerInnen1 weit verbreiteten Fortschrittsglauben geschuldet auffassen – denn ein Großteil der (sozialkonstruktivistischen) Normtheorie2 geht von einer stetig zunehmenden „Zivilisierung“ der internationalen Beziehungen durch das Aufkommen und Erstarken als positiv angesehener Normen aus. Zum Anderen ist diese theorieinhärente Lücke auf eine generelle Unterbewertung von agency im Gegensatz zum Verständnis von Normen als primär Akteurshandeln beeinflussendem Faktor zurückzuführen – was für eine Theorierichtung, die sich gerade der Untersuchung komplexer Wechselwirkungen von Akteur und Struktur verschrieben hat, zunächst seltsam anmuten mag. Ziel der vorliegenden Magistraarbeit ist es, diese Schwächen der normtheoretischen Ansätze aufzuzeigen und anhand zweier Fallstudien zunächst darauf hinzuweisen, dass Normerosionen möglich sind – der breit geteilte Forschrittsglaube unter NormtheoretikerInnen und die im Konzept einer Internalisierung von Normen angelegte agency-Blindheit also unangemessen sind. Zu diesem Zweck bedienen wir uns zweier vom bisherigen mainstream der Normtheorie vernachlässigter Konzepte, nämlich erstens dem des Tabus in den IB, wie es bisher vor allem Eric Herring, Nina Tannenwald und Christopher 1 2 Wir haben uns bemüht, möglichst durchgängig geschlechtsneutrale Begriffe für Personengruppen zu verwenden, bzw. sowohl deren männliche, wie auch deren weibliche Form anzugeben. In einigen Kontexten erschien uns dies jedoch nicht korrekt, in anderen nicht möglich. So wird u.a. nur von „Terroristen“ die Rede sein, da die für uns relevanten islamistischen Gruppen keine Frauen ausbilden oder von „Bürgern“ für Epochen, in denen „Bürgerinnen“ noch keinerlei politischen Einfluss besaßen. Da im Hintergrundkapitel zum politischen System der USA besonders viele Amtsgruppen und deren Funktionen beschrieben werden, haben wir uns aus Gründen der Lesbarkeit entschieden, hier vollständig auf die weiblichen Bezeichnungen zu verzichten. Die von uns aus Vereinfachungsgründen gewählte Bezeichnung „Normtheorie“ soll nicht zu dem irrtümlichen Schluss verleiten, es handele sich hierbei tatsächlich um eine Normtheorie im Sinne eines einheitlichen und in sich geschlossenen Theoriegebildes – im Gegenteil meinen wir hiermit (ähnlich wie etwa bei der liberalen Friedenstheorie) die Vielfalt der theoretischen Ansätze, die sich dem Charakter, der Entstehung und Wirkung von internationalen Normen gewidmet haben bzw. nach wie vor widmen. –1– Ei nl e i t un g Daase diskutiert haben und zweitens dem der Wirkung von Sprechhandeln von Akteuren zur Konstruktion und Reproduktion von Normen, wie es etwa Fierke und Zehfuß einklagen und welches wir um die diskursive Schwächung von internalisierten Normen bzw. Tabus ergänzen möchten. Da das öffentliche und ernsthafte Infragestellen der Gültigkeit eines Tabus (durch einen Akteur) bereits dessen Schwächung bedeutet, der Akt des Anzweifelns mit der Normerosion also in eins fällt, lassen sich auf diese Weise Prozesse von Normschwächungen besonders gut und auch intersubjektiv vermittelbar nachvollziehen. Vor dem Hintergrund der vier eben genannten Elemente der Normtheorie (Fortschrittsglaube, agency-Blindheit, Tabus und Sprechhandeln) und unserer Vorannahme – dass Erosionen internationaler Normen möglich sind – stellen wir uns also die Frage, wie es möglich ist, dass bereits internalisierte Normen von Seiten des Akteurs wieder in Frage gestellt und auf diese Weise geschwächte Tabus erodieren können. Zwei Normen, deren Gültigkeit in heftigen Debatten in Frage gestellt wird und die sich deshalb als Fallstudien zur Beantwortung unserer Fragestellung besonders gut eignen, sind das nukleare Tabu und das internationale Folterverbot. Gerade die Entwicklungen in den vergangenen Monaten – von Drohungen Chiracs, „Schurkenstaaten“ nötigenfalls mit Nuklearwaffen angreifen zu wollen bis zur Aufregung über geheime Gefangenenflüge der CIA quer durch Europa – zeigen, dass die Diskussionsprozesse über diese beiden Tabus noch lange nicht abgeschlossen sind und auch kaum absehbar ist, wie sie letztendlich enden werden. Da für unsere Analyse nur der Beginn dieser Normschwächungsprozesse sowie das Stattfinden der Erosion der beiden Tabus generell relevant ist, stellt dies für uns jedoch kein Problem dar. Beide untersuchten Erosionsprozesse nahmen ihren Ausgang in den Vereinigten Staaten, weshalb wir uns entschlossen haben, die Positionen und das Zusammenspiel der innenpolitischen Akteursgruppen dieses Landes und ihrer für bzw. gegen die Schwächung der untersuchten Tabus gerichteten Argumentationen in den Blick zu nehmen. Die aus den Fallstudien und deren Vergleich gewonnen Erkenntnisse führen wir schließlich vor dem Hintergrund der zuvor diskutierten Theorie internationaler Normen zusammen, so dass sich für die vorliegende Arbeit folgender Aufbau ergibt: Auf diese gemeinsam verfasste Einleitung (1.) folgt eine Einführung in die Normtheorie von Elvira Rosert, an deren Schluss die für uns besonders relevanten theoretischen Schwächen stehen (2.) und eine Herleitung der Fragestellung sowie der Herangehensweise von Sonja Schirmbeck (3.). Mit einem Hintergrundkapitel über das politische System der USA der gleichen Autorin (4.) beginnt die Darstellung der Fallstudien. Diese untergliedert sich in jeweils ein Unterkapitel zur Entstehung des Folterverbots (5.1) und des nuklearen Tabus (5.2), deren wichtigste Aspekte in einem ersten Zwischenfazit (5.3.) gemeinsam diskutiert werden sowie in zwei weitere Unterkapitel zur Erosion des Folterverbots (6.1) und des nuklearen Tabus (6.2), die mit einem zweiten Zwischenfazit (6.3) abgeschlossen werden. Beide Zwischenfazits wurden gemeinsam verfasst, für die Fallstudie zum nuklearen Tabu zeichnet Elvira Rosert, für die zum Folterverbot Sonja Schirmbeck verantwortlich. Die Schlüsse aus –2– Ei nl e i t un g den beiden Fallstudien werden in einer Konklusion (7.) theoretisch eingebettet, bevor die Arbeit mit einem kurzen Ausblick (8.) schließt. Beide Abschlusskapitel gehen auf beide Autorinnen zurück. Erst im letzten Kapitel nehmen wir mit der Frage nach einer wünschenswerten Weiterentwicklung der beiden untersuchten Debatten explizit eine normative Perspektive ein, die wir aus den vorangegangenen Kapiteln möglichst herauszuhalten versucht haben – auch, wenn dies im Hinblick auf das gewählte Thema nicht immer einfach erschien. –3– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B 2. Theoretischer Hintergrund: Normen in den Internationalen Beziehungen „…norms are standards for evaluating or ranking people as good or bad, better or worse.” 3 „they are self-enforcing behavioral regularities.” 4 „Norms are collective expectations about proper behavior for a given identity.” 5 Was den Charakter internationaler Normen ausmacht, wie und warum sie entstehen, sich durchsetzen sowie durchgesetzt und letztendlich von einzelnen Akteuren internalisiert werden, wird in der Politikwissenschaft und speziell in der Disziplin der Internationalen Beziehungen breit diskutiert. Die Eingangszitate deuten es an: Uneinigkeiten bestehen bereits in der Konzeption von dem, was Normen sind und sie setzen sich fort in unterschiedlichen Vorstellungen von dem, was Normen tun, d.h. welche Folgen ihre Existenz haben kann und wie sie ihre Wirkung entfalten. Das Aufkommen dieser an die Regimetheorie anschließenden Diskussionen ist zwar im Zusammenhang mit der konstruktivistischen Wende Anfang der 1990er Jahre und dem Fokus auf die wechselseitige Bedingtheit von Strukturen und Akteuren zu sehen, doch konkurrieren diese Modelle, trotz einiger Vermittlungsversuche, bis heute mit rationalistischen, stark akteurszentrierten Ansätzen. Ziel des folgenden Kapitels ist es, anhand der Auseinandersetzung mit konkurrierenden theoretischen Zugängen einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Diskussion über internationale Normen zu geben, anschließend die Schwächen und blinden Flecken der Theorie herauszuarbeiten und an ihnen die Relevanz der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellung zu demonstrieren. Neben unterschiedlichen Normdefinitionen werden unter Berücksichtigung der (wechselseitigen) Beziehungen von Interessen, Identitäten, Kosten-Nutzen-Kalkülen und Handlungen Ansätze und Modelle zur Entstehung, Wirkung sowie Durchsetzung von Normen skizziert, die zum Einen den Ausgangspunkt unserer Analyse darstellen. Zum Anderen stellen sie jedoch auch den erforderlichen Rahmen für die Durchführung unserer Fallstudien bereit, indem dieses Kapitel sowohl die Grundlagen für die Beschreibung und Entstehung der von uns untersuchten internalisierten Normen legen als auch eine Folie zur Interpretation der rekonstruierten Erosionsprozesse bieten soll. 3 4 5 Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 2. Epstein, Joshua 2001: Learning to Be Thoughtless: Social Norms and Individual Computation, in: Computational Economics 18:1, S. 9-24, hier S. 9. Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 54. –4– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B 2.1 Behaviorismus normativ und Sozialkonstruktivismus: von normal zu Die zunehmende Verwendung des Begriffes „Normen“ in den Internationalen Beziehungen (aber auch in den anderen Sozialwissenschaften sowie in der Alltagssprache) ging/geht einher mit einer Zunahme der diesem Begriff zugeschriebenen, häufig nicht explizierten, Bedeutungen und trägt dem Umstand, dass der Begriff zur Bezeichnung unterschiedlicher Sachverhalte herangezogen wird, nur unzureichend Rechnung.6 Zur Begriffsunschärfe führt auch der Gebrauch von vermeintlichen Synonymen für die gleichen Phänomene. Ferner wird existierenden Definitionsversuchen zum Vorwurf gemacht, sie erfassten Normen häufig „by what they do – their consequences for social life – rather than by what they are “.7 Tatsächlich scheint es nicht einfach zu sein, das Wesen von Normen unabhängig von ihren Auswirkungen auf das Handeln zu bestimmen und diejenigen Charakteristika zu identifizieren, die eine Norm beispielsweise von einer Regel, einem Wert oder einer Konvention unterscheiden – bei diesen Schwierigkeiten handelt es sich jedoch auch um einen Hinweis auf die enge Verflochtenheit der Begrifflichkeiten. Grundlegend lassen sich zwei Arten von Normdefinitionen unterscheiden:8 Beiden gemeinsam ist die explizite Verknüpfung von Normen und Verhalten, wobei in kognitivistischen Ansätzen Erwartungshaltungen, d.h. unter Normen verhaltensbezogene Verhaltensstandards verstanden Einstellungen werden, während und sich behavioristische Ansätze auf das tatsächliche Verhalten beziehen und Normen daher als bestimmte Verhaltensweisen konzipieren. So koppelt z. B. Axelrod seine Definition von Normen als dem üblichen, häufig an den Tag gelegten Verhalten an die mögliche und die tatsächlich erfolgende Sanktionierung von Normverstößen: „A norm exists in a given social setting to the extent that individuals usually act in a certain way and are often punished when seen not to be acting in this way. (…) According to this definition, the extent to which a given type of action is a norm depends on how often the action is taken and just how often someone is punished for not taking it.”9 Mit ihrem Plädoyer, den Begriff Normen für normales, übliches, gewöhnliches Verhalten von Staaten zu verwenden („normal state practices“), schließt sich auch Thomson der behavioristischen Definition an, ohne jedoch Sanktionsmöglichkeiten miteinzubeziehen.10 6 7 8 9 10 Thomson, Janice E. 1994: Norms in International Relations: A Conceptual Analysis, in: International Journal of Group Tensions 23:1, S. 67-83, hier S. 67. Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 100. Im Folgenden werden in erster Linie in den Internationalen Beziehungen gebräuchliche Definitionen dargestellt – Konzepte aus anderen Disziplinen kommen nur insofern zur Sprache als sie für das Verständnis notwendig sind. Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S. 1095-1111, hier S. 1097. Die für die Entstehung und Aufrechterhaltung der normalen Praxis verantwortlichen Faktoren (z. B. normative Überzeugungen, Kosten-Nutzen-Kalküle, Gewohnheiten) seien für diese Definition unerheblich –5– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Neben diesem rationalistischen, auf die Normalität von Normen als „self-enforcing behavioral regularities“11 abzielenden Verständnis, existieren zahlreiche Ansätze, die ihre Normativität als zentrales Element hervorheben. So spricht Bull zwar noch von „rules“ als den „general imperative principles which require or authorize prescribed classes of persons or groups to behave in prescribed ways (…) [and, ER] which spell out the kind of behavior that is orderly“, 12 bringt damit jedoch bereits den Kern der später von Katzenstein et al. entwickelten und inzwischen als Standard anerkannten sozialkonstruktivistischen Definition von Normen als Verhaltenserwartungen zum Ausdruck: „Norms are collective expectations about proper behavior for a given identity “.13 Mehrere Aspekte sind bei diesen Auffassungen zentral: Erstens haben Normen imperativen Charakter, können also in „Du sollst-“ oder „Es wird erwartet, dass du“-Sätze übersetzt werden und sie eignen sich, zweitens, als Verhaltensmaßstab, indem sie definieren, welches Verhalten als „orderly “ bzw. „proper“ einzuordnen ist.14 Drittens gelten sie für bestimmte Akteure bzw. Gruppen, die sich durch eine gemeinsame Identität auszeichnen, sie sind folglich ihrem Wesen nach kollektiv und intersubjektiv, was auch durch ein ergänzendes Verständnis von Normen als Interpretation und Bewertung von Handlungen ermöglichenden „collectively shared understandings of reality ”15 unterstrichen wird. Die normativen Erwartungshaltungen werden in Gebots- und 11 12 13 14 15 und stellen ein „ separate analytic issue“ dar. Thomson, Janice E. 1994: Norms in International Relations: A Conceptual Analysis, in: International Journal of Group Tensions 23:1, S. 67-83, hier S. 79ff. Epstein, Joshua 2001: Learning to be Thoughtless: Social Norms and Individual Computation, in: Computational Economics 18:1, S. 9-24, hier S. 9. Wenn man, wie u. a. Epstein Normen als Verhaltensregelmäßigkeiten begreift, erübrigt sich auch die Unterscheidung zwischen Normen und Konventionen, weshalb der Autor beide Begriffe synonym verwenden kann. Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke, S. 53f. Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 54. Die Vorstellung von Normen als Verhaltensmaßstäben ist bereits in der Regimetheorie enthalten, so nehmen Axelrod und Keohane auf Krasners Bezeichnung von „ standards of behavior defined in terms or rights and obligations“ als Normen Bezug, wenn sie Regimen die Fähigkeit, „to provide standards against which actions can be measured “ zusprechen. Krasner, Stephen 1983: International Regimes, Ithaca/London, S. 2 und Axelrod, Robert/Keohane, Robert O. 1986: Achieving Cooperation under Anarchy: Strategies and Institutions, in: Oye, Kenneth A. (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton, S. 226-254, hier S. 237. Elgström, Ole 1998: Norm negotiations. The construction of new norms regarding gender and development in EU foreign aid policy, in: Journal of European Public Policy 7:3, S. 457-76, hier S. 459. Elemente dieser Definition finden sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen bei zahlreichen AutorInnen, z. B. hebt auch Finnemore den konsensualen Charakter von Normen hervor: „they exist only as convergent expectations or intersubjective understandings“. Nach Payne stellen Normen „a community’s shared understandings and intentions“ dar. Die Rolle von Normen hinsichtlich der Interpretation von Verhalten hebt Alderson hervor, indem er sie als „constellations of shared interpretive schemas and templates for action“ auffasst. S. Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York, S. 153-185, hier S. 160, Payne, Rodger A. 2001: Persuasion, Frames and Norm Construction, in: European Journal of International Relations 7:1, S. 37-61, hier S. 37 und Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, hier S. 422. –6– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Verbotssystemen, die ein Spektrum an erforderlichen und erlaubten Handlungen eröffnen,16 umgesetzt und entfalten über diese ihre verhaltensregulierende Wirkung. Kann man bei den bisher dargelegten Charakteristika von Normen noch vom sozialkonstruktivistischen common sense sprechen, fangen bei darüber hinausgehenden Begriffsbestimmungen bereits die Differenzen an. Verschiedene Auffassungen finden sich zum Einen hinsichtlich des moralischen Gehaltes von Normen, sofern dieser thematisiert wird: So erachtet Elster Handlungsanweisungen „Do X“ oder „Don’t do X“ bereits als (einfache) soziale Normen, ohne dass diese darüber Aufschluss geben, ob sie aus moralischen oder anderen Gründen zu befolgen sind. Dass Moral für ihn nicht zum Kernbestandteil einer Norm gehört, wird auch in seinem Hinweis auf die Notwendigkeit, zwischen sozialen und moralischen Normen zu unterscheiden, deutlich.17 Diese Ansicht wird mit der Begründung, Verhaltensstandards könnten auch funktionaler und damit nicht-ethischer Natur sein, auch von Klotz18 sowie einer Reihe anderer AutorInnen geteilt, die moralische Normen als einen Normtypus unter anderen benennen.19 Demgegenüber stehen Ansätze, die die Vernachlässigung moralischer und ethischer Gesichtspunkte unter Verweis darauf kritisieren, dass Normen in erster Linie normativ sind (wobei normativ hier nicht einfach „oughtness“ sondern moralisch richtig bedeutet)20 sowie den moralischen Charakter kollektiver 16 17 18 19 20 Siehe hierzu: Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 101. Elster spricht in diesem Zusammenhang von „obligations and interdictions, from which permissions can be derived “. Kowert und Legro verwenden zunächst die Bezeichnung „ social prescriptions (…) [which, ER] regulate behavior “, um im Folgenden darauf hinzuweisen, dass diese „for the proper enactment of (…) identities “ notwendig sind. Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 452f. Um diese Unterscheidung zu begründen, greift er auf die von ihm als zentral erachteten Eigenschaften von sozialen Normen als Selbstzweck und nicht als Instrument zur Zielerreichung („nonconsequentialist“ und „not outcome-oriented “) zurück, die er kontrastierend zur rationalistischen, ergebnisorientierten Handlungslogik und damit zur Bindung von Normen (als Mittel) an bestimmte Ziele („If you want to achieve Y, do X “) herausstellt. Da moralische Normen jedoch dazu dienen, moralische Ziele zu erreichen und somit auch konsequentialistisch sind, sind sie von sozialen Normen zu trennen. Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 98ff. Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 14. Zur Verdeutlichung ihres Arguments lassen sich folgende Beispiele anführen: Obwohl eine Norm existiert, die besagt, dass man sein Gegenüber ausreden lassen sollte, würden Unterbrechungen und Zwischenrufe zwar sehr wohl als Normverstöße registriert, jedoch nicht als unmoralisch bewertet werden. Wohingegen die absichtliche Tötung von ZivilistInnen, um z. B. die Ratifikation eines Vertrages zu erzwingen, eindeutig gegen moralische Grundsätze verstoßen würde. So z. B. Bull: „These rules may have the status of law, of morality, of custom or etiquette, or simply operating procedures or ‚rules of the game’“. Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke, S. 53f. S. auch Hoffmann, der moralische Verhaltensstandards neben normativen und institutionellen nennt. Hoffmann, Matthew J.: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm Life Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 3, online unter <http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005. Bei Cancian schwingt der moralische Aspekt zumindest mit, wenn sie Normen bzw. die Einhaltung derselben als ein Mittel beschreibt, um Menschen als gut oder böse, besser oder schlechter einstufen zu können. Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 2. Wir teilen diese Auffassung nicht und sehen die moralische Komponente bei dem Begriff „normativ“ nicht als zwingend notwendig an, sondern verstehen darunter zunächst etwas, das sein soll und erwünscht wird, ungeachtet der für die Gesolltheit/Erwünschtheit angeführten Begründung. –7– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Erwartungen und die auf eventuelle Verstöße folgende moralische Entrüstung explizit festschreibende Normdefinitionen.21 Die Rolle von Sanktionsmöglichkeiten wird in sozialkonstruktivistischen – wie in behavioristischen Definitionen – ebenfalls unterschiedlich eingeschätzt: Werden sie einerseits notwendigerweise als „ essential component[s]“22 von Normen erachtet, bedürfen legitime Regeln nach Bull keinerlei Sanktionsmechanismen, weil die in ihnen enthaltenen Wertvorstellungen geteilt werden23 und laut Katzenstein sind mit Normen häufig, jedoch nicht immer, sanktionierende Elemente verbunden.24 Ferner werden interne und externe Sanktionen unterschieden, wobei letztere sowohl materielle (z. B. Gewaltanwendung oder Embargos), formelle (rechtliche) als auch soziale negative Folgen (wie (internationale) öffentliche Entrüstung, Einstellung diplomatischer Kontakte, Statusverlust) und erstere die Empfindungen des Akteurs selbst (beispielsweise Schuldgefühle und Scham), aber auch die seitens innerstaatlicher Akteure geübte Kritik umfassen können.25 Welcher Stellenwert Sanktionen beigemessen wird, ist nicht zuletzt vom jeweiligen Normtypus abhängig – sie sind wichtiger im Fall von bisher beschriebenen regulativen Normen, also Handlungsanleitungen für Akteure mit einer bestimmten Identität, als bei konstitutiven, d.h. eben dieser Identität zugrunde liegenden Normen. Während (materielle oder soziale) Belohnungs- und Bestrafungssysteme die Wahl einer bestimmten Handlungsalternative unattraktiv erscheinen lassen können, sind sie „in struggles to define the mutual understandings (assumptions such as state sovereignty, private property, and 21 22 23 24 25 Siehe hierzu: Goertz, Gary/Diehl, Paul F. 1992: Toward a Theory of International Norms: Some Conceptual and Measurement Issues, in: Journal of Conflict Resolution, S. 634-664, Kübler, Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics & Organization 17:2, S. 449-476, Nadelmann, Ethan 1990: Global Prohibition Regimes: The Evolution of Norms in International Society, in: International Organization 44:4, S. 479-526. Goertz, Gary/Diehl, Paul F. 1992: Toward a Theory of International Norms: Some Conceptual and Measurement Issues, in: Journal of Conflict Resolution, S. 634-664, S. 638, auch laut Cancian muss eine Definition von Normen auf Sanktionen Bezug nehmen. Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 7. Wenn Regeln nicht hinreichend „ legitimiert“ sind, erkennt Bull durchaus die Notwendigkeit von Sanktionen an, damit sie wirken. Da er die Charakteristika von Regeln an ihre Effektivität bindet, d.h. die Frage beantwortet, wie Regeln sein müssen, damit sie effektiv sind, bleibt offen, ob ineffektive Regeln noch als Regeln gelten können. Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke, S. 56f. Katzenstein, Peter 1996: Cultural Norms and National Security, Ithaca/London, S. 21. Zu unterschiedlichen Sanktionstypen siehe u. a. Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, S. 418 ff., Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S. 1095-1111, S. 1097, Axelrod, Robert/Keohane, Robert O. 1986: Achieving Cooperation under Anarchy: Strategies and Institutions, in: Oye, Kenneth A. (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton, S. 226-254, S. 237, Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 100f., Goertz, Gary/Diehl, Paul F. 1992: Toward a Theory of International Norms: Some Conceptual and Measurement Issues, in: Journal of Conflict Resolution, S. 634-664, S. 638, Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 70f., Kübler, Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics & Organization 17:2, S. 449-476, S. 451. –8– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B individual equality)“26 von nachrangiger Bedeutung, handelt es sich hierbei um die Herausbildung grundlegender gemeinsamer Überzeugungen (und eben nicht bloßer Verhaltensanpassungen) darüber, wer die Akteure sind und auf Basis welcher Werte sie agieren.27 Konstitutive Normen sind folglich solche, die notwendig sind, damit eine bestimmte Identität28 als eine solche zählt; sie definieren also die Identität eines Akteurs, innerhalb derer regulative Normen nicht nur Gültigkeit und Wirksamkeit erlangen, sondern möglicherweise überhaupt erst einen Sinn ergeben.29 Eine trennscharfe Unterscheidung regulativer und konstitutiver Normen ist ebenso schwierig, wie die Bestimmung davon, welche zuerst existier(t)en. Denn einerseits wirkt das Einhalten bestimmter regulativer Normen konstituierend, indem sie nicht nur für den Akteur selbst feste Bestandteile seiner Identität sind, sondern das Vorhandensein dieser Identität auch gegenüber anderen Akteuren zum Ausdruck bringen, sie führen demnach zur Herausbildung und Aufrechterhaltung einer Identität. Andererseits muss letztere bereits vorherrschen, bevor die Akteure bestimmte Standards als für sich handlungsleitend wahrnehmen, akzeptieren und ihr Verhalten dementsprechend anpassen.30 26 27 28 29 30 Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 27. Zu konstitutiven und regulativen Normen siehe z. B. Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, S. 54, Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 891, Katzenstein, Peter 1996: Cultural Norms and National Security, Ithaca/London, S. 18. Ausführlich zu Identitäten siehe S. 16 der Arbeit. Ausführlich zur Unterscheidung zwischen „constitutive and regulative rules“ s. Searle, John R. 1995: The Construction of Social Reality, New York, S. 27ff. und 43ff. Kratochwil illustriert sie anhand eines Schachspieles: Wenn man „Schach“ sagt und damit dem Mitspieler signalisiert, dass dessen König in Gefahr ist, handelt es sich hierbei nur deshalb um eine sinnvolle Handlung, weil konstitutive Regeln den König zu einer besonderen, über gewisse Eigenschaften und Fähigkeiten verfügende Schachfigur werden lassen und als das Ziel des Spiels die Bezwingung des Königs festschreiben. Ohne diese konstitutiven Regeln, die die Akteure des Schachspiels definieren und dadurch bestimmte Handlungen in dem Sinne ermöglichen dass ohne sie sinnhaftes Handeln nicht möglich ist, kann man die Aktion „Schach“ nicht begreifen. Im Gegensatz dazu verleihen regulative Regeln den Handlungen nicht unbedingt Sinn, so dass sie überhaupt zu Handlungen werden – die Handlungen können auch ohne regulative Regeln existieren und begriffen werden. Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 26. An folgendem Beispiel soll der Versuch einer Verdeutlichung des Unterschiedes und der damit einhergehenden Schwierigkeit vorgenommen werden: Als konstitutive Norm wird in der Literatur häufig die Norm der staatlichen Souveränität gehandelt, d.h. die Vorstellung der Unabhängigkeit eines Staates nach außen und seines Selbstbestimmungsrechts nach innen. Souveränität ist insofern eine konstitutive Norm, als sie zum Einen grundlegend für die Definition von Akteuren als Staaten und zum anderen für die staatliche Handlungsfähigkeit ist – sobald als Staaten definierte Akteure in Erscheinung treten, nehmen regulative Normen auf ihr Handeln Einfluss. Die Wahrung staatlicher Souveränität ihrerseits ist jedoch abhängig von regulativen Normen wie dem in Artikel 2 Abs. 7 der Charta der Vereinten Nationen verankerten Nichteinmischungsgebot in die inneren Angelegenheiten sowie dem gebotenen Respekt der territorialen Integrität. Auch ihre Anerkennung wird zunehmend an Bedingungen, etwa die Einhaltung elementarer (regulativer) Menschenrechtsstandards, geknüpft. –9– T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B 2.2 Fallen Normen vom Himmel? Ursachen und Quellen ihrer Entstehung Wie bereits angeklungen ist, bedingen regulative und konstitutive Normen sich gegenseitig, was die Antwort auf die Frage, welche Normen zuerst entstehen, schwierig oder gar unmöglich macht und darüber hinaus das Augenmerk auf ein größeres Problemfeld lenkt: Nicht nur die Bestimmung einer eventuellen Reihenfolge der Normentstehung ist in manchen Fällen schwer vorzunehmen, sondern auch die Suche nach dem Ursprung von Normen und den Ursachen ihrer Entstehung, stellt eine – in der Literatur zwar als Problem aufgeworfene, jedoch nur marginal in Angriff genommene – Herausforderung dar.31 Die die Wirkung, Wirksamkeit und Durchsetzung einer Norm fokussierenden Ansätze setzen ihre Existenz in der Regel voraus und konzentrieren sich auf Rahmenbedingungen, die ihre Verbreitung und ggf. Institutionalisierung begünstigen, sie setzen letztere mit ihrer Entstehung gleich. Letzteres kann daran liegen, dass unter Normentstehung weniger die Evolution der Idee von der Norm selbst, sondern ihr „Werdegang“ von einer subjektiven, wenig verbreiteten Überzeugung zu einem kollektiven Verhaltensstandard verstanden wird. Bei der Suche nach den Ursachen für die Genese von Normen liegt eine funktionalistische Betrachtungsweise nahe, d.h. die Annahme, dass sie sich entwickeln, weil sie bestimmte Funktionen erfüllen, es sich bei Normen also um Antworten auf Probleme und Bestandteile von Problemlösungsstrategien handelt.32 Während rationalistische Ansätze den Regelungsbedarf eines offensichtlichen Problems als Ausgangspunkt nehmen und in der Herausbildung von Normen den Ausdruck von exogenen Akteurspräferenzen sowie ein Mittel zur Senkung von Transaktionskosten erkennen (wollen),33 gehen konstruktivistische Ansätze davon aus, dass ein kollektives Problembewusstsein vorherrschen bzw. ggf. erst in 31 32 33 Z.B. kritisiert Florini die Behandlung von Normen als „unexplained sources of the exogenously given preferences of actors “. Auch Kowert/Legro merken an, dass neorealistischen und neoinstitutionalistischen Ansätzen zwar zum Vorwurf gemacht wird, von fixen, von außen vorgegebenen staatlichen Präferenzen und Interessen auszugehen, die sozialkonstruktivistischen Ansätze jedoch den gleichen Fehler wiederholen, wenn sie die soziale Konstruiertheit von Identitäten und Normen anerkennen, ohne auf die Prozesse einzugehen, die dazu geführt haben, dass Normen und Identitäten entstanden sind. S. Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363-389, hier S. 363 oder Sugden, Robert 1989: Spontaneous Order, in: Journal of Economic Perspectives 3:4, S. 85-97 sowie Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity, and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 454 und S. 469. Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 69. Kübler erkennt die Problemlösungsfunktion von Normen zwar an, gibt aber zu bedenken, dass wir es auch hier mit einem Zirkel zu tun haben, denn damit eine Norm wirksam werden kann, müssen andere „collective action problems“ schon gelöst worden sein, was wiederum die Existenz anderer Normen voraussetzt. Kübler, Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics & Organization 17:2, S. 449-476, S. 451. Siehe als zentralen Text dieses Ansatzes Axelrod, Robert/Keohane, Robert O. 1986: Achieving Cooperation under Anarchy: Strategies and Institutions, in: Oye, Kenneth A. (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton, S. 226-254. – 10 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Aushandlungsprozessen hergestellt werden muss.34 Über die Fähigkeit zur Lösung konkreter Probleme hinausgehend, identifizieren viele AutorInnen sowohl regulative als auch konstitutive Normen als zentrale Bestandteile des internationalen Systems, als „powerful ordering principles“,35 die für die Schaffung und Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt sorgen,36 indem sie nicht nur Akteure definieren und als Handlungsrichtlinien dienen, sondern auch Kommunikation ermöglichen, weil sie einen bestimmten interpretativen Rahmen kreieren, innerhalb werden können.37 dessen Forderungen gestellt und Begründungen vorgebracht Auch nach der Feststellung, dass es sich bei der Entstehung von Normen um eine Reaktion auf erkannte, kommunizierte und infolge dessen akzeptierte Notwendigkeiten handelt, bleibt die Frage nach den Quellen von Normen offen. Eine einfache Vermutung, die jedoch Gefahr läuft, als zirkuläres Argument gesehen zu werden, lautet, dass Normen aus anderen Normen entstehen, z.B. sich aus Normen höherer Ordnungen herleiten lassen oder sich aber auch als ergänzende Normen auf der gleichen Ebene entwickeln (Interaktionen zwischen Normen).38 Der Ausgangspunkt von Sugden, dass „rules regulating human action can evolve without conscious human design“, steht im Widerspruch zur funktionalistisch- intentionalistischen Erklärungsansätzen, ist jedoch dem Ansatz „norms cause norms“ ähnlich, begreift er Normen doch als ein sich aus Konventionen herausbildendes Zufallsprodukt: Zunächst stellen sich Verhaltensgewohnheiten ein, die ihrerseits Verhaltenserwartungen erzeugen, denen die Akteure aufgrund ihres „desire for the approval of others“ Folge leisten (und die damit zur Norm werden).39 Auch Florini nimmt, indem sie eine interessante Analogie 34 35 36 37 38 39 An der Erzeugung dieses Bewusstseins sind sogenannte norm entrepreneurs beteiligt – staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die bestimmte Problemfelder erkannt haben und daran arbeiten, EntscheidungsträgerInnen vom dringenden Regelungsbedarf zu überzeugen. Ausführlich zu diesem Punkt S. S. 27 der Arbeit. Simon, Steven/Martini, Jeff 2004: Terrorism: Denying Al Qaeda Its Popular Support, in: The Washington Quarterly 28:1, S. 131-145, hier S. 132. Etwa Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke, S. 53, Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 894 oder Nadelmann, Ethan 1990: Global Prohibition Regimes: The Evolution of Norms in International Society, in: International Organization 44:4, S. 479-526, S. 480f. Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 70, auch Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 892. Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 470. Ein mögliches Beispiel für die Herleitung aus Normen höherer Ordnung ist das Gewaltverbot, das sich aus der staatlichen Souveränität ableitet. Sugden, Robert 1989: Spontaneous Order, in: Journal of Economic Perspectives 3:4, S. 85-97, hier S. 86 bzw. S. 95. Wie Gewohnheiten zur Norm werden können, veranschaulicht Kratochwil am Beispiel eines Ehepaares (wobei die Frau natürlich diejenige ist, die zuhause auf ihren Mann wartet, der von der Arbeit heimkehrt): Die Tatsache, dass er gewöhnlich zu einer bestimmten Uhrzeit nach Hause kommt, würde, sollte er unpünktlich sein, zur Verärgerung der Frau beitragen, da ihre, sich über Zeit eingestellten, Erwartungen enttäuscht werden würden. Auch wenn ihre Erwartungshaltung vorher niemals ausgesprochen wurde, würde es aufgrund der Verspätung zu einem Gespräch der Ehepartner kommen, an dessen Ende eine Norm (pünktlich nach Hause zu kommen oder Verspätungen anzukündigen) stehen könnte. – 11 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B von Normen und Genen herstellt, eine evolutionistische Perspektive ein: So wie die Evolution kein teleologischer Prozess ist, ist auch der Prozess der Entstehung von Normen nicht unbedingt Ausdruck konkreter Zielsetzungen. Vielmehr handelt es sich bei Normen wie bei Genen um das Resultat zahlreicher (kleiner), den Mechanismen der Selektion (Variation, also das Vorhandensein von Handlungsalternativen, Reproduktion, d.h. Wiederholung und Imitation von Handlungen und Konkurrenz, verstanden als die Möglichkeit, dass sich bestimmte Handlungstypen auf Kosten anderer durchsetzen) unterworfenen Verhaltensanpassungen, die den Anforderungen der Umwelt am besten entsprechen.40 Die Interaktion zwischen Umwelt und Akteur wird auch von Kowert/Legro als eine mögliche Normquelle behandelt. Demnach sehen sich Akteure gelegentlich mit dramatischen Veränderungen ihrer Umwelt („external shock“) konfrontiert und dadurch gezwungen, neue Normen aufzustellen, welche in diesem Fall als Folge einer Revolution betrachtet werden können. Sie können jedoch auch durch eine Iteration entstehen, d.h. sich sukzessive und über Zeit den Ansprüchen der Realität annähern. Der zweite von den Autoren in diesem Zusammenhang behandelte Interaktionsprozess ist der zwischen zwei oder mehreren Akteuren: Hier kann zum Einen „shared knowledge“, das im Verlauf einer kommunikativen Auseinandersetzung entsteht, in eine Norm umgesetzt werden, zum Anderen entstehen Normen infolge der Herausbildung von Identitäten und damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsprozessen.41 Wie genau dies vor sich geht, das gestehen auch Kowert/Legro ein, bleibt unterbelichtet. Eine mögliche Erklärung könnte unseres Erachtens sein, dass sich (staatliche oder nicht-staatliche) Akteure im Prozess der Definition ihrer Identität besonders intensiv mit dem eigenen Verhalten und mit dem von Akteuren, denen sie sich verbunden fühlen, beschäftigen (Inklusion) sowie – und dies ist entscheidend – auch die Handlungen derjenigen Akteure analysieren, die sie nicht als zur eigenen Gruppe zugehörig erachten (Exklusion). Zu einer Norm könnte hier ein Verhalten werden, das innerhalb der eigenen Gruppe dominiert oder als das Gegenteil des in der anderen Gruppe beobachteten Verhaltens gesehen wird, von der man sich durch die Norm deutlich abgrenzen möchte. 2.3 Wie Normen wirken: zwei Handlungslogiken Es ist deutlich geworden, dass die Frage nach der Entstehung von Normen sich anscheinend nicht abschließend und befriedigend klären lässt und die vorhandenen Erklärungsversuche leider unpräzise, spekulativ und außerdem sehr spärlich bleiben, insbesondere im Vergleich 40 41 Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 82f. Die Ähnlichkeit zwischen Normen und Genen plausibilisiert sie anhand folgender Charakteristika, die sie sowohl bei Normen als auch bei Genen ausmacht: Beide seien erstens „ instructional units directing the behavior of their respective organisms “, sie werden, zweitens, weitervererbt bzw. kulturell übermittelt und drittens sind sie „contested “, d.h. sie befinden sich in einem ständigen Wettbewerb mit anderen Einheiten. Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363389, hier S. 367 bzw. S. 369. Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 470ff. bzw. S. 475. – 12 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B zur Literatur, die sich ausgehend von dem inzwischen konsensualen Befund „norms matter“42 mit der Wirkung von Normen befasst. Zwei unterschiedliche, häufig zwar als gegensätzlich gehandelte, in einigen Arbeiten jedoch auch miteinander verknüpfte Ontologien – homo oeconomicus und homo sociologicus – und zwei damit einhergehende Handlungslogiken – logic of consequences (auch logic of consequentialism) und logic of appropriateness – bilden den Hintergrund der Überlegungen dazu, warum und über welche Mechanismen Normen einen Einfluss auf das Akteursverhalten ausüben können. Zentral für diese Debatte sind die Beziehungen zwischen den Faktoren Interessen, Kosten-Nutzen-Kalkülen, Identitäten und Normen. 2.3.1 Rationalismus: Kostenvorteile durch Normbefolgung Akteurszentrierte, Nutzenmaximierer, rationalistische die Ansätze43 auf Basis von konzipieren individuellen Akteure als egoistische Kosten-Nutzen-Kalkülen und feststehenden Präferenzen Entscheidungen treffen. Normen können in diesem Verständnis nur existieren, wenn und solange sie den Akteursinteressen entsprechen und ihren optimierenden Zweck – dem Akteur einen größeren Nutzen oder eine Gruppe von mehreren Akteuren dem besten zu erreichenden Ergebnis näher zu bringen – erfüllen. Dieses Ergebnis kann deshalb erreicht werden, so lautet die spieltheoretisch inspirierte Argumentation, weil Normen erstens einen Rahmen bereitstellen, in dem die Staaten ihre Erwartungen koordinieren können und zweitens, ihre konsequente Befolgung über mehrere „Spiele“ hinweg das Vertrauen der Akteure ineinander festigt und für Erwartungsstabilität sorgt, wodurch die Kooperationsbereitschaft der Akteure und ihre Kooperationsgewinne erhöht werden können.44 Durch die Schaffung und Veränderung von Anreiz- und Sanktionssystemen können Normen zwar nicht die (fixen!) Interessen der Staaten neu ausrichten, sehr wohl aber ihre Kosten-Nutzen-Kalküle betreffend die Wahl bestimmter Strategien verschieben, indem sie über die zur Verfügung stehenden Mittel Aufschluss geben und der Einsatz resp. der Nicht-Einsatz bestimmter Mittel zum Erreichen der gewünschten Zwecke bestraft oder belohnt wird.45 Dieser Auffassung folgend, handeln die Akteure also nach der logic of 42 43 44 45 S. statt vieler Checkel: „…the once controversial statement that norms matter is accepted by all except the most diehard neorealists”. Checkel, Jeffrey T. 1997: International Norms and Domestic Politics: Bridging the Rationalist-Constructivist Divide, in: European Journal of International Relations 3:4, S. 473-495, hier S. 473. Für eine Zusammenfassung der zentralen Annahmen siehe Hasenclever, Andreas/Mayer, Peter/Rittberger, Volker 1997: Theories of International Regimes, Cambridge S. 23ff. Besonders die Anfang der achtziger Jahre aufgekommene Regimetheorie hat sich anhand verschiedener spieltheoretischer Modelle intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum Staaten unter der Bedingung der Anarchie im internationalen System dennoch Kooperationshindernisse wie Informationsunvollkommenheit und Misstrauen überwinden und Regime bilden können. Grundlegend hierbei sind die Sammelbände von Krasner, Stephen 1983 (Hg.): International Regimes, Ithaca/London und Oye, Kenneth A. 1986 (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton. Dieses neoinstitutionalistische Argument findet sich auch in: Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York, S. 153-185, hier S. 183. – 13 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B consequences, sie wägen Handlungsalternativen im Hinblick auf ihre wahrscheinlichen, in Zukunft zu erwartenden Konsequenzen für die eigenen und kollektiven Ziele ab und sie tun dies im Bewusstsein, dass solche Kalkulationen von anderen Akteuren genauso durchgeführt werden: „The behavior of individuals or states is influenced by providing consequentialist incentives.“46 Davon ausgehend, dass das Bild des vollständig informierten, uneingeschränkt rational kalkulierenden Akteurs in der eher durch Unsicherheit gekennzeichneten Empirie in dieser Form nicht anzutreffen ist, trifft Axelrod die Annahme, dass Akteure mit einer „limited rationality “ eher nach der Versuch-und-Irrtum-Methode vorgehen, d.h. diejenige Strategie wiederholen, die sich als erfolgreich erwiesen hat und entsprechend diejenigen verwerfen, die nicht zum erwünschten Ergebnis geführt haben.47 Auf dieser Grundlage basiert auch das Prinzip der Imitation, mit dem Unterschied, dass Akteure hierbei nicht ihre eigenen Erfahrungen wiederholen, sondern die potentiellen Kosten von Misserfolgen reduzieren, indem sie andere Akteure beobachten und entweder das bereits von ihnen an den Tag gelegte und zum Erfolg geführte Verhalten nachahmen,48 oder sich an den Entscheidungen derjeniger Akteure orientieren, die sie für besser informiert halten und denen sie infolge dieses Informationsvorsprungs zu entscheiden.49 zutrauen, sich für erfolgversprechendere Alternativen Die zunächst dominierende Vorstellung, dass v.a. die Aussicht auf materielle Gewinne bzw. Verluste zu compliance führt, d.h. ein bestimmtes Verhalten begünstigen bzw. den Akteur davon abhalten kann, wurde inzwischen auch auf rationalistischer Seite um die Bedeutung nicht-materieller Faktoren wie Status und Reputation ergänzt – auch der homo oeconomicus weise demnach soziale Züge auf und schließe daher den Wunsch nach Anerkennung und Respekt in seine Präferenzordnung ein. Die Kosten des Reputationsverlusts würden demnach gegen den Nutzen der Handlung abgewogen, die diesen verursachen könnte und umgekehrt könnten Akteure den Nutzen des Reputationsgewinns aufgrund des Unterlassens einer Maßnahme mit den ggf. dadurch entstehenden (materiellen) 46 47 48 March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 949f. Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S. 1095-1111, hier S. 1097. Zur Beschreibung von Nachahmung als rationaler Strategie siehe z.B. Florini: „(…) it is rational for people to adopt innovations when they observe that someone they know who has already adopted the innovation has succeeded “. Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363-389, hier S. 375 oder Finnemore: „Imitation, in a world of uncertainty, is often a perfectly rational strategy to adopt“. Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, 49 Ithaca/London, S. 11. Verweise auf Vertreter dieser Sicht finden sich bei: Bernheim, Douglas B. 1994: A Theory of Conformity, in: The Journal of Political Economy 102:5, S. 841-877, hier S. 842. – 14 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Kosten verrechnen. Hierbei gilt: je stärker die materiellen Anreize für eine Handlung, desto größer der reputative Nutzen, der durch den Verzicht auf diese Handlung entsteht.50 Es gibt jedoch auch rationalistische Ansätze, die zwar ebenfalls mit Kosten-NutzenVerhältnissen operieren, ihre Argumentation jedoch in eine andere Richtung ausbauen, indem sie normgeleitetes Verhalten gerade nicht als Folge bewusster payoff-Kalkulationen zwischen Normbefolgung und Nicht-Befolgung konzipieren, sondern als Folge des Verzichts auf diese Kalkulationen: Hier fungieren Normen als „cognitive energy-saver“.51 Ihre Befolgung ist schlichtweg „billig“, weil die Akteure in der Lage sind, zu erkennen, dass schon die bloße Entscheidungsfindung (pro oder contra Normeinhaltung) durch komplizierte Kosten-NutzenKalküle für sie mit Kosten verbunden ist – letztere können sie sich sparen, indem sie sich einfach an die Norm halten.52 2.3.2 Konstruktivismus: Normen als Identitätsbestandteile und angemessenes Verhalten Die konstruktivistische Kritik richtet ihren Fokus zunächst auf die Vorstellung, dass Normen erst innerhalb eines durch Akteursinteressen gesetzten Präferenzrahmens relevant werden, indem sie die Handlungsoptionen der Akteure einschränken, weil sie ihnen ein Set an Handlungsalternativen bereitstellen, mit Hilfe derer sie ihren fixen Präferenzen folgen und ihre als gegeben erachteten Interessen durchsetzen können. Normen, so der Hinweis von konstruktivistischer Seite, verringern zwar durchaus die Anzahl möglicher Antworten auf die Frage „How do I get what I want? “, und geben die zur Erreichung eines Zieles verfügbaren Mittel vor – entscheidend ist jedoch, dass sie auch einen Einfluss darauf haben, „what states want“,53 also auf die verfolgten Ziele . Dieser Einwand birgt zwei Implikationen in sich: Erstens könne nicht (länger) davon ausgegangen werden, dass Akteure sich immer über ihre Präferenzen im Klaren sind. Zweitens entfalten Normen ihre Wirkung nicht erst, nachdem die Akteure – auf Basis materieller Gegebenheiten und funktionaler Bedürfnisse – ihre Interessen definiert haben, vielmehr gibt es einen Prozess der Herausbildung resp. Neuformierung von Interessen, in welchem Normen eine entscheidende Rolle spielen können.54 Demnach haben Normen das Potential, zu verändern, was Staaten wollen und nicht nur, wie sie das, was sie 50 51 52 53 54 Für nähere Ausführungen siehe Akerlof, George 1980: A Theory of Social Custom, of Which Unemployment May Be One Consequence, in: Quarterly Journal of Economics 94:4, S. 749-775 und Bernheim, Douglas B. 1994: A Theory of Conformity, in: The Journal of Political Economy 102:5, S. 841-877. Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363389, hier S. 366. Epstein, Joshua 2001: Learning to Be Thoughtless: Social Norms and Individual Computation, in: Computational Economics 18:1, S. 9-24, hier S. 9f. Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 29 bzw. S. 5ff. Als „ fundamental component“ im Prozess der Interessensdefinition werden Normen z. B. von Klotz erachtet, wobei sie den Prozess selbst immer noch als ein „unsolved issue for international relations theories “ ansieht. Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 15ff. – 15 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B wollen, erreichen können. Zwar wird weder im Verhältnis von Normen-Interessen noch von Interessen-Verhalten ein deterministischer Zusammenhang gesehen, weil sowohl bei der Definition von Interessen als auch bei der Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten neben Normen durchaus auch andere Faktoren (z.B. Macht, geostrategische Lage etc.) von handlungsleitender Bedeutung sein können, jedoch betonen die Autorinnen die konstitutive Eigenschaft von Normen – demnach führt ihre Existenz nicht zwangsläufig, im Sinne einer Ursache, zu einem bestimmten Verhalten.55 Letzteres garantiert sie zwar nicht, macht es jedoch durch die Schaffung von „permissive conditions“56 wahrscheinlicher, da Normen die Zuordnung von Zielen und Verhaltensweisen zu den Kategorien „legitim“ und „illegitim“ ermöglichen.57 Diese Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Verhalten ist grundlegend für die im Folgenden beschriebenen Basiskonzepte der konstruktivistischen (Normen)Theorie – Identitäten und Logik der Angemessenheit. Identitäten Ergänzend zur Wirkung der Normen auf die Interessensformation werden die bereits angesprochenen sozialen Züge des homo oeconomicus von konstruktivistischen TheoretikerInnen weiter ausgebaut und in das allgemeine Konzept von mit einer bestimmten Identität ausgestatteten – sozial konstruierten – Akteuren integriert. Der Begriff findet breite Verwendung, aber längst nicht alle, die sich seiner bedienen, erachten eine Definition für nötig, vermutlich weil sie davon ausgehen, dass alle „know how to employ the word and (…) understand it in other peoples’ sentences“ – dem steht der Befund entgegen, dass sich die vorhandenen Definitionen nicht nur hinsichtlich ihrer Komplexität sondern auch substantiell unterscheiden.58 Es lassen sich drei grundlegende Identitätsverständnisse abgrenzen: Mit state identity kann einfach die Gesamtzahl aller Attribute gemeint sein, die den Staat tatsächlich zum Staat („and not some other kind of thing“) machen, d.h. dazu führen, dass ein Akteur der Art „Staat“ zugeordnet werden kann, ohne zu spezifizieren, um welche Art Staat es sich handelt.59 Die personale Identität kann hingegen sehr wohl qualitative, charakterisierende Aussagen beinhalten, umfasst sie doch das Selbstverständnis bzw. die Selbstwahrnehmung einer Person 55 56 57 58 59 S. ausführlicher zu Kausalitätsüberlegungen und Normen auch die Ausführungen im Kapitel zur Herangehenswiese, S. 46 der Arbeit. Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York, S. 153-185, hier S. 158. Zu diesem Verständnis siehe Klotz, Audie 1995: Norms reconstituting interests: global racial equality and U.S. sanctions against South Africa, in: International Organization 49:3, S. 451-478, hier S. 461f. Den mangelnden Determinismus von Normen betrachtet Klotz als eine häufige Eigenschaft strukturalistischer Theorien – je schmaler das Spektrum der durch Strukturen (in diesem Fall Normen) ermöglichten Handlungsoptionen, desto eher kann man von einer kausalen Beziehung zwischen Norm und Handlung ausgehen. S. statt vieler für eine Zusammenstellung unterschiedlicher Definitionen Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 4f. Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 34. – 16 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B (resp. eines Akteurs) einschließlich der damit verbundenen Wertvorstellungen. So beschreibt z.B. Wendt Identitäten als „relatively stable, role-specific understandings and expectations about self“, Kowert/Legro knapp als „self-understandings“ und für Jepperson et. al sind Identitäten „the basic character of states“.60 Daneben – und aus einer anderen Perspektive – bezieht sich die soziale Identität nicht nur auf das eigene, sondern auch auf das fremde Verständnis davon, was jemand ist („a collectively defined kind of person“),61 was analog zu Wendts Verständnis relatively stable, role-specific understandings and expectations about others wären. Soziale Identitäten sind häufig gekoppelt an soziale Positionen resp. Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und sie ermöglichen eine Einordnung in soziale Kategorien,62 indem sie sich aus Kriterien zusammensetzen, die ein Akteur erfüllen muss, um als Teil einer Gruppe zu gelten (und die bei Nicht-Erfüllung die Exklusion des Akteurs bedeuten können), während die Gruppe die Identität des Akteurs anerkennen muss.63 Auch wenn man – aus konzeptionellen Gründen – durchaus zwischen der personalen und der sozialen Identität trennen kann, erscheint es einleuchtend, dass niemand über nur eine der beiden Identitäten verfügen kann, d.h. dass sich die Identität eines Akteurs sich aus beiden Teilen (dem personalen und dem sozialen) zusammensetzt. Dieses Verständnis verwenden wir auch im Folgenden. Normen spielen bei der Definition von Identitäten eine entscheidende Rolle und wirken insofern konstitutiv, als ihre Umsetzung zum Einen die eigene Vorstellung darüber zum Ausdruck bringt, wer man ist und wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat, d.h. der Aufrechterhaltung des Selbstbildes vor sich selbst dient. Zum Anderen signalisieren Akteure durch Befolgung spezifischer Normen ihre Gruppenzugehörigkeit – sie orientieren sich an ihrem (vermeintlichen) Fremdbild, mit dem Ziel, die „relevant others” dazu zu bewegen, “to recognize and validate a particular identity and to respond to it appropriately ”, wobei die oben bereits angesprochenen konstitutiven Normen hier eine 60 61 62 63 S. Wendt, Alexander 1992: Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics, in: International Organization 46:2, S. 391-425, hier S. 397, Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 33 und Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 33. Dass diese Definition nicht sehr präzise ist, weil sie z.B. offen lässt, wie viel kollektive Übereinstimmung notwendig ist, um einer Person eine bestimmen Identität zusprechen zu können und auch nicht angibt, welche Bestandteile solch eine Definition umfassen kann, wird auch von Cancian selbst eingestanden. Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 137. Nach Fearon ist die Unterscheidung in Identitäten und soziale Kategorien überflüssig. Der Begriff „Identität“ könne und solle sogar durch „soziale Kategorie“ ersetzt werden, denn nichts anderes meinen die meisten AutorInnen, wenn sie Identitäten als Selbst- oder Fremdverortungen von Akteuren begreifen. Diese Substitution würde auch die Erkenntnis, Identitäten seien sozial konstruiert, trivial werden lassen, denn wie sonst können soziale Kategorien sein, wenn nicht sozial konstruiert? Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 14f. Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 6 und Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 137. – 17 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B wichtige Rolle spielen.64 Der hinter der Normwirkung vermutete Mechanismus kann sich hingegen sehr wohl abhängig von der Annahme unterscheiden, ob Akteure auf Basis der personalen oder der sozialen Identität handeln. Während bei ersterer davon ausgegangen werden kann, dass die Akteure motivational (d.h. aus dem Glauben an eine Norm heraus) agieren, lässt die soziale Identität durchaus die Möglichkeit einer instrumentellen Normbefolgung zu – worauf es hier ankommt, ist weniger die Überzeugung und Wertschätzung der Norm durch den Akteur, sondern vielmehr sein Interesse an der Bewahrung der eigenen Identität, deren Anerkennung er durch compliance sicherstellen will. Dennoch ist auch hierbei eine motivationale Komponente enthalten – zwar glauben die Akteure nicht unbedingt an die Richtigkeit der Norm, offenbar jedoch an die Bedeutung der Identität.65 Aufgrund ihrer psychologischen, emotionalen Wirkung wird sozialen Identitäten bei der Erklärung von Kooperationsbereitschaft eine entscheidende Rolle zugewiesen, denn sie sollen nicht nur zur Entstehung von Vertrauen und damit zum „trust-based behavior” (in Abgrenzung zum „incentive-based behavior”) führen, ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl könne überdies auch zur Entstehung von „sharing, cooperation, perceived mutuality of interests, and willingness to sacrifice personal interests for group interests“ beitragen.66 Das Heranziehen von Identitäten als Erklärungsfaktor des Akteursverhaltens verändert bzw. ergänzt das Modell der Normenwirkung auf die Interessensformation: Da Identitäten als „the basis of interests“67 gelten und ein Grund dafür sein können, dass – mit der Fähigkeit zu Emotionen wie Sympathie gegenüber der eigenen Gruppe sowie gegenseitigen Bewunderung ausgestattete – Akteure „will forgo their short-term interests and cooperate to solve a common problem“, wirken Normen in diesem Konzept nicht direkt auf die Herausbildung von Interessen bzw. auf das Verhalten, sondern sie nehmen darauf indirekt – als konstitutive Elemente von Identitäten – Einfluss.68 Logic of appropriateness In Abgrenzung zur akteurszentrierten logic of consequences, in welcher der Wunsch nach der Maximierung des eigenen Nutzens die Handlungen des Akteurs anleitet, handelt es sich beim norm- bzw. identitätengeleitetem Verhalten um eine logic of appropriateness, so dass die 64 65 66 67 68 Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 54. (Die Autoren paraphrasieren und ergänzen hier Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 137.) Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 139ff. Mercer, Jonathan 2005: Rationality and Psychology in International Politics, in: International Organization 59:1, S. 77-106, hier S. 95f. Wendt, Alexander 1992: Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics, in: International Organization 46:2, S. 391-425, hier S. 398. Zu Inklusions- und Exklusionsmechanismen und -prozessen innerhalb von Gruppen sowie mit der Gruppenzugehörigkeit einhergehenden Gefühlen siehe ausführlich: Brewer, Marylinn B. 1999: The Psychology of Prejudice: Ingroup Love or Outgroup Hate?, in: Journal of Social Issues 55:3, S. 429-444. – 18 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Akteure sich im Rahmen einer Interaktion nicht mehr nur die bereits oben zitierte Frage „How do I get what I want? “ stellen, sondern in erster Linie überlegen: „What kind of situation is this?“ und „What am I supposed to do now? “,69 mit dem Ziel, dass ihre (angemessenen) Handlungen dazu führen, dass sie (auch weiterhin) als Mitglieder einer sozialen Ordnung wahrgenommen werden. Die in der Angemessenheitslogik zum Ausdruck kommenden Beziehungen von Normen, Identitäten und Handlungen bringen March/Olsen wie folgt auf den Punkt: „…actors are imagined to follow rules that associate particular identities to particular situations, approaching individual opportunities for action by assessing similarities between current identities and choice dilemmas and more general concepts of self and situations. (…) Appropriateness need (sic!) not to attend to consequences, but it involves cognitive and ethical dimensions, targets and aspirations. As a cognitive matter, appropriate action is action that is essential to a particular conception of self.”70 Sowohl bei der konsequentialistischen als auch bei der Angemessenheitslogik handelt es sich um individuelle Handlungslogiken, da sie beanspruchen, das Verhalten von Akteuren erklären zu können. Dennoch unterscheiden sich die beiden hinsichtlich der erklärenden Faktoren, denn während der nach der logic of consequences handelnde homo oeconomicus sich aufgrund seiner eigenen – strukturunabhängigen – Beschaffenheit als rationalistischer Nutzenmaximierer für bestimmte Handlungsoptionen entscheidet, die Handlungslogik also selbst bestimmt, handelt der homo sociologicus stets im Rahmen sozial konstruierter Strukturen wie Normen, Identitäten und Werte, so dass sein Verhalten nur innerhalb dieser möglich und verständlich ist.71 Nichtsdestotrotz erheben konstruktivistische AutorInnen Einspruch gegen die Unterstellung, sie würden die Angemessenheitslogik als die einzig existierende Handlungslogik akzeptieren und rationalistische Verhaltenserklärungen negieren. Vielmehr argumentieren sie, dass Akteure in unterschiedlichen Situationen unterschiedlichen Handlungslogiken folgen können,72 bzw. dass das Verhalten des Akteurs in einer Situation sowohl von den erwarteten Konsequenzen und Kosten-Nutzen-Kalkülen als auch von seiner Identität mitsamt der dazu gehörenden Normen beeinflusst wird: „any particular action probably involves elements of each [logic, ER]“.73 Als Antwort auf die Frage, welche Handlungslogik wann dominiert, diskutieren March/Olsen vier verschiedene Interpretationen: Erstens gehen manche Ansätze von der Dominanz der klare(re)n Logik über die unklare(re) aus – bei eindeutigen Interessen, 69 70 71 72 73 Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 29. March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 951. Siehe zu diesem Punkt: Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 912f. und March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 951f. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 888. March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 952. – 19 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Präferenzen und kalkulierbaren Konsequenzen und eher unpräzisen Normen und schwer abschätzbaren Auswirkungen auf die Identitäten ist konsequentialistisch motiviertes Handeln wahrscheinlicher. Entsprechend wahrscheinlicher ist normgeleitetes Handeln in Situationen mit unbestimmten Präferenzen und unabsehbaren Folgen, jedoch mit klaren Verhaltensstandards, die, wie oben ausgeführt, die Interessensdefinition erleichtern können. VertreterInnen der zweiten Interpretation argumentieren, dass die zur Anwendung kommenden Logiken sich auf die Wichtigkeit der zu treffenden Entscheidung zurückführen lassen. Hier wiederum geht die eine Seite davon aus, dass die logic of appropriateness bei grundlegenden Entscheidungen greift und überhaupt erst die Regelsetzung ermöglicht, auf Basis derer Kosten-Nutzen-Kalkulationen durchführbar werden. Die andere Seite kehrt das Argument erwartungsgemäß um und macht rationale Erwägungen zur Grundlage der Regelsetzung, die erst im Nachhinein eine Orientierung für normgeleitetes Handeln darstellen. Ein Entwicklungsprozess von der konsequentialistischen hin zur Angemessenheitslogik wird in der dritten Variante angenommen, d.h. Akteure treten zunächst instrumentell und rational an neue Interaktionen heran, entwickeln aber aufbauend auf ihren geteilten Erfahrungen gemeinsame Identitäten, so dass sukzessive die Angemessenheitslogik ihre Wirkung entfalten kann. Die vierte Interpretationsmöglichkeit begreift jede Logik als einen Spezialfall der anderen, so ließe sich die logic of consequences auch als ein Set von bestimmten Normen begreifen, die etwa besagen, was unter Rationalität zu verstehen ist, dass rationales Handeln angemessenes Handeln ist und welche Konsequenzen von den Akteuren als nützlich bzw. als kostenverursachend bewertet werden. Die logic of appropriateness lässt sich jedoch ebenso konsequentialistisch auslegen, denn, so die Begründung, auch sozial konstruierte Akteure handeln immer in der Antizipation möglicher Folgen ihres Verhaltens für ihre Identität, für ihren Status als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe und wägen den Nutzen einer Handlung gegen ihre zu erwartenden – wenn nicht materiellen, dann zumindest sozialen – Kosten ab.74 Sie ist zwar strukturalistischer als die rationale Logik, lässt dem Akteur jedoch immer noch genügend Spielraum bei der Entscheidungsfindung.75 2.4 Mechanismen und Modelle der Diffusion von Normen Die Überlegung, über welche unterschiedlichen Logiken Normen auf das Akteursverhalten Einfluss nehmen können, führt zu der generellen Frage, wie Akteure mit zuvor von anderen Akteuren hervorgebrachten Normen in Berührung kommen, d.h. über welche Mechanismen sie sich der Existenz der im System vorhandenen Normen bewusst werden, wie die Verhaltensanpassung an die gestellten kollektiven Erwartungen funktioniert und durch welche 74 75 March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 952ff. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 914. – 20 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Faktoren sie begünstigt wird, kurzum: Wie verbreiten sich Normen bzw. wie werden sie verbreitet sowie nötigenfalls durchgesetzt und welche Akteure spielen hierbei eine Rolle? Immer wieder in diesem Zusammenhang verwendete Stichworte sind Sozialisation und Lernen. Beide Konzepte zeichnen sich, wie die bisher vorgestellten Theoretisierungen zu anderen Aspekten von Normen, eher durch konzeptionelle Vielfalt denn durch Klarheit aus. Der Ursprung der Sozialisationstheorie liegt bei Durkheim, der als „Sozialisation“ die Vergesellschaftung des Individuums, also die durch andere erfolgte Heranführung des zunächst asozialen Wesens an das soziale Leben und seine Erziehung durch die Gesellschaft entsprechend einem in dieser vorherrschenden Ideal verstand.76 Theoretiker wie Mead und Parsons fassten unter den Prozess der Sozialisation die mittels Interaktionen stattfindende Rollenübernahme, die für sie in der Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen, der Verinnerlichung kultureller Werte und Normen sowie im Aufbau von Loyalität gegenüber der Gesellschaft bestand.77 Die Kernelemente dieses Verständnisses – Anpassung an Erwartungen, Verinnerlichung von Normen und Werten, Interaktion, andere Akteure – sind ebenfalls zentral für die sozialkonstruktivistischen Definitionen der Sozialisation von Staaten78 „as a process of learning in which norms and ideals are transmitted from one party to another“ oder „as the process by which states internalize norms originating elsewhere in the international system“.79 Wie von Wendt herausgestellt, findet hierbei vor allem ein kognitiver, über bloße Verhaltensanpassungen hinausgehender Prozess statt,80 in dessen Verlauf (staatliche) Akteure sowohl regulative als auch konstitutive Normen internalisieren und dessen Endpunkt nicht nur geändertes Verhalten, sondern ein tatsächlicher Wandel von Einstellungen und Überzeugungen darstellt. Nach Alderson mache der „individual belief change “ jedoch nur einen Teil des Sozialisationsprozesses aus, der politische Prozess, worunter innenpolitisches Umsetzen der Normen (nationale Institutionalisierung und Implementierung) gemeint ist, sei nämlich ebenso entscheidend.81 Deutlich wird an dieser Stelle die Schwierigkeit der Übertragung eines ausgehend von und für Individuen entwickelten Konzeptes auf Staaten, bei denen es sich um aus zahlreichen Akteursgruppen bestehende, korporative Gebilde handelt. Sind institutionelle Schritte der 76 77 78 79 80 81 Ausführlich siehe Durkheim, Emile 1972 [1922]: Erziehung und Soziologie, S. 28ff. Siehe z.B. Mead, George H. 1973 [1934]: Identität, in: Ders.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main, S. 177-271 und Parsons, Talcott 2003 [1972]: Das System moderner Gesellschaften, München. Leider verzichten die mit diesem Verständnis arbeitenden AutorInnen darauf, die soeben angeführten Quellen dieser Definition auszuweisen und beziehen sich innerhalb der IB meist auf Wendt, der diese Begriffe in die disziplininternen Diskussionen einbrachte. Definitionen angeführt von Checkel und Anderson, s. Checkel, Jeffrey T. 1998: The Neoliberal Moment in Sweden: Economic Change, Policy Failure or Power of Ideas, Paper presented at the Ideas, Culture and Political Analysis Workshop, Princeton University, May 15-16 1998, S. 4 bzw. Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, hier S. 417. Wendt, Alexander 1992: Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics, in: International Organization 46:2, S. 391-425, hier S. 399. Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, hier S. 418. – 21 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Anpassung an internationale Normen z.B. in Form einer neuen Gesetzgebung eher leicht feststellbar, wird dies bei ihrer de facto-Wirkung schon um einiges schwieriger, während das Überprüfen von Einstellungsveränderungen gleich mehrere Probleme aufwirft: Es bleibt nicht nur unklar, welche Akteure innerhalb eines Staates diesen Prozess durchlaufen müssen und wie viele die für die Internalisierung notwendige kritische Masse bilden, sondern auch, ob es notwendig ist, dass sie tatsächlich anfangen, an die Richtigkeit der Norm zu glauben oder lediglich so handeln, als hätten sie ihre Meinung geändert (was schwer überprüfbar ist). Während die Forschungsgruppe Menschenrechte die Sozialisation von (menschenrechtsverletzenden) Regierungen – als Institutionen und nicht nur in Bezug auf einen individuellen Staatschef – im Fokus ihrer Analyse hat82 und darauf aufbauende Arbeiten die „moral consciousness of actors“ als irrelevant für den Sozialisationsprozess und die Normimplementation erachten,83 sprechen Finnemore/Sikkink von „persuasion“, womit sie durchaus einen Wandel der Überzeugungen nahelegen.84 Neuere Arbeiten weisen darauf hin, dass über die Regierungsebene hinaus auch staatliche Eliten, zivilgesellschaftliche Gruppen und selbst einzelne Individuen nicht außer Acht gelassen werden dürfen, weil eine Norm ein Mindestmaß an Anschlussfähigkeit aufweisen und somit mit anderen in einem sozialen System herrschenden Normen harmonieren muss.85 Sozialisation ist jedoch nicht nur als Prozess zu sehen, gleichzeitig ist sie auch Ergebnis, denn dass sie stattfinden kann, lässt bereits auf die Existenz einer sich als solche verstehenden, auf gemeinsamen Normen basierenden (internationalen) Gesellschaft schließen.86 Letzteres impliziert ferner, dass darunter nicht die Einstellungs- bzw. Verhaltensänderung eines Staates von innen heraus fällt, sondern es sich hierbei um ein exogenes, mit eben dieser Gesellschaft in Relation stehendes, systemisches Phänomen handelt.87 Die Vorstellung von der Sozialisierbarkeit der Staaten beinhaltet die Annahme, sie seien lernfähig, d.h. in der Lage, ihr Verhalten an neue Informationen anzupassen und sich überzeugen zu lassen. Wesentlich (und vielzitiert) im Zusammenhang mit der Diffusion von 82 83 84 85 86 87 Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 5-41. So sei die tatsächliche Überzeugung der Akteure unerheblich, solange ihre Worte mit den Taten übereinstimmen. Risse, Thomas/Sikkink, Kathryn 1999: The Socialization of International Human Rights into Domestic Practices, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-37, hier S. 17 und S. 29. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 895. Hoffmann, Matthew J.: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm Life Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 16, online unter: <http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005. Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 541, hier S. 8. Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, hier S. 423f. – 22 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Normen ist die von Finnemore getroffene Unterscheidung zwischen learning und teaching , die darauf basiert, dass Staaten zwar generell Nachahmung als erfolgversprechende Lernstrategie identifiziert haben, der Lernimpuls jedoch entweder, wie bei learning von ihnen selbst ausgehen kann oder aber von anderen, die ihnen (unaufgefordert) etwas beibringen wollen – teaching.88 Der erste Fall liegt vor, wenn sie die Notwendigkeit erkannt haben, etwas zu verändern, die Lernbereitschaft sich also endogen herausbildet und andere Akteure dementsprechend auch nicht unbedingt als Lehrer, sondern eher als Vorbilder, die das Problem bereits erkannt und Lösungswege definiert haben, gelten können. Checkel erkennt einen derartigen Lernprozess bei staatlichen Eliten, die ohne ersichtlichen materiellen oder sozialen Druck internationale Normen annehmen, die im Folgenden top-down diffundieren können (elite learning dynamic).89 Teaching hingegen bedeutet, dass, auch ohne intrinsischen Lernimpuls und bei fehlender Problemsensibilität, tatsächlich Lehrer aktiv werden, deren oberstes Ziel die Normsetzung ist und die an ihre Schüler mit Lehrplänen herantreten.90 Diese können agenda setting, die Schärfung des Problembewusstseins und das Unterbreiten möglicher Lösungsstrategien beinhalten. In der Literatur zur Normentheorie hat sich für diese Akteure die Bezeichnung norm entrepreneurs91 etabliert – sie wirken aktiv auf die Herausbildung der staatlichen Präferenzen ein und wenden zur Realisierung ihrer Ziele diverse Mittel an: Neben der Ausübung materiellen und sozialen Drucks (Sanktionen, öffentliche Kritik, blaming and shaming ), sind aber auch Argumentieren und Überzeugen von Bedeutung, wobei die letzten beiden sowohl nach moralischen und emotionalen als auch nach KostenNutzen-Gesichtspunkten ablaufen können. Dem Ziel der „Promotion“ einer Norm können sich sowohl andere Staaten als auch nationale und transnationale gesellschaftliche Akteure wie z.B. Nichtregierungsorganisationen (NGOs)92 verschrieben haben. Zwar von der logic of 88 89 90 91 92 Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 12f. In seinem Artikel verwendet Checkel nicht nur unterschiedliche Mechanismen der Normverbreitung, sondern bringt die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens auch mit der inneren Verfasstheit der Staaten in Verbindung. So sei die elite learning dynamic besonders in stark staatlich kontrollierten Systemen für eine Norm häufig die einzige Möglichkeit, sich durchzusetzen, da Einflüssen von unten, also aus der gesellschaftlichen Ebene heraus, starke Grenzen gesetzt sind. In liberal verfassten Staaten sei hingegen ein bottom-up-Modus wahrscheinlicher, denn die – an ihrer Wiederwahl interessierten – politischen Eliten seien empfänglicher für gesellschaftlichen Druck und deshalb bereit, ihre Strategien zu überdenken und internationale Normen umzusetzen. Siehe Checkel, Jeffrey T. 1997: International Norms and Domestic Politics: Bridging the Rationalist-Constructivist Divide, in: European Journal of International Relations 3:4, S. 473-495, hier S. 477ff. S. als Illustration Finnemores Aufsatz zur Rolle der UNESCO als norm teacher im Bereich der Wissenschaftspolitik: Finnemore, Martha 1993: International organizations as teachers of norms: the United Nations Educational, Scientific, and Cultural Organization and science policy, in: International Organization 47:4, S. 565-597. Zu diesem Punkt siehe z.B. Nadelmann, Ethan 1990: Global Prohibition Regimes: The Evolution of Norms in International Society, in: International Organization 44:4, S. 479-526, hier S. 483f., Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn 1998: Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca/London, S. 14, Simon, Steven/Martini, Jeff 2004: Terrorism: Denying Al Qaeda Its Popular Support, in: The Washington Quarterly 28:1, S. 131-145, hier S. 132. Die dem deutschen Begriff „Nichtregierungsorganisation“ entsprechende Abkürzung lautet eigentlich „NRO“. Wir verwenden jedoch das Kürzel NGO (für non-governmental organization), da es sich mittlerweile im öffentlichen- wie im Fachdiskurs durchgesetzt hat. – 23 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B appropriateness geleitet, handeln sie jedoch „extremely rational“, was die Auswahl ihrer Mittel, der institutionellen Wege und die Adressaten ihrer Aktionen angeht.93 Inzwischen werden ihre Aktivitäten im Prozess der Normverbreitung als unabdingbar erachtet94 und spielen in beiden als prominent geltenden Modellen zur Normdiffusion bzw. Normdurchsetzung eine entscheidende Rolle: im von Finnemore/Sikkink beschriebenen Norm-Life-Cycle wie auch im sog. Spiralmodell von Risse/Sikkink. 2.4.1 Das Spiralmodell: Erfolgsbedingungen der staatlichen Menschenrechtssozialisation Angeleitet von der Frage, welche Erfolgsbedingungen vorliegen müssen, damit Staaten den mit der Internalisierung von Menschenrechtsnormen abschließenden Sozialisationsprozess durchlaufen, modellieren Risse/Sikkink verschiedene Stufen dieses innenpolitischen Wandels.95 Besondere Berücksichtigung finden hierbei als norm entrepreneurs konzipierte transnationale Menschenrechtswerke – den in der Arbeit von Keck/Sikkink beschriebenen „Bumerang-Effekt“ ausbauend,96 werden die Aktivitäten der „transnational advocacy networks” im Wechselspiel mit der Gesellschaft des jeweiligen Staates und seiner (zunächst repressiven) Regierung in ein fünf Phasen umfassendes „Spiralmodell des Menschenrechtswandels“ integriert. Als Bumerang-Effekt bezeichnen Keck/Sikkink den auf einen Staat sowohl von unten als auch von oben ausgeübten Druck, der als Folge von Interaktionen zwischen innenpolitischen oppositionellen Gruppierungen (worunter nicht nur Parteien der Opposition Zusammenschlüsse fallen) sondern und auch NGOs auf und andere internationaler zivilgesellschaftliche Ebene agierenden Menschenrechtsnetzwerken entstehen kann. Demnach appellieren interne Regimekritiker – entweder mangels Möglichkeiten oder Erfolgsaussichten – nicht (länger) direkt an ihre 93 94 95 96 Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 910. Zu unterschiedlichen institutionellen Strategien von norm entrepreneurs siehe: Coleman, Katharina P. 2004: „A Place to Stand”: Institutional Settings for International Norm Change, Paper prepared for the 2004 Annual Meeting of the American Political Science Association, September 2-5, 2004. Eine Einschränkung trifft jedoch Hoffmann, der die Normdiffusion in settings von unterschiedlicher Komplexität untersucht und zu dem Schluss kommt, dass „norm entrepreneurs are not a necessary condition for norms to emerge – in low complexity environments, agents find the natural norm without help.“ Hoffmann, Matthew J. 2004: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm Life Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 19, online unter: <http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005. Vgl. für die folgenden Ausführungen zum Spiralmodell seine drei zentralen Darstellungen: Risse, Thomas/Sikkink, Kathryn 1999: The socialization of international human rights norms into domestic practices: introduction, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38 sowie Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 5-41 bzw. die in Buchform erschienene Langfassung mit ausführlichen Länderfallstudien: Risse, Thomas/Jetschke, Anja/Schmitz, Hans-Peter 2002: Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und innenpolitischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden. Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn 1998: Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca/London, S. 12f. – 24 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B menschenrechtsverletzende Regierung, sondern richten ihre Bemühungen auf die internationale Ebene, wo sie mit Hilfe der dort operierenden transnationalen NGOs sowohl um die Aufmerksamkeit internationaler Menschenrechtsorganisationen (wie z.B. der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen) als auch anderer Staaten für die Menschenrechtssituation in ihrem Land kämpfen. Die Reaktionen auf diese Aktivitäten sind zweifacher Natur: Nicht nur können z.B. internationale Geldgeber dazu motiviert werden, die nationalen Oppositionsgruppen zu unterstützen und ihnen damit weitere und intensivere regierungskritische Tätigkeiten erleichtern oder gar ermöglichen (bottom-up pressure), sondern die erreichte Stärkung des internationalen öffentlichen Interesses kann auch ein top-down pressure auf die nationale Regierung auslösen. Hierdurch werden sowohl andere Staaten als auch internationale Organisationen dazu bewogen, Forderungen nach einer Verbesserung der Menschenrechtspraxis zu stellen und ihre Erfüllung ggf. z.B. an die weitere Vergabe von Hilfsgeldern zu knüpfen.97 Dieser Bumerangmechanismus entwickelt sich nach mehreren „boomerang throws with diverging effects on the human rights situation in the target country“98 zu einer Sozialisationsspirale, in deren fünf Verlaufsphasen drei unterschiedliche Handlungsmodi zum Tragen kommen. In der ersten Phase der Repression verhindert die die Menschenrechte missachtende Regierung durch einen starken Kontrollapparat nicht nur eine Stärkung der machtlosen nationalen Oppositionellen, sondern möglicherweise auch die Weitergabe der Informationen über die innenpolitische Lage nach Außen, also an die internationale Öffentlichkeit. Das Gelingen eben dieser Informationsübermittlung ist entscheidend, um einen Übergang in die zweite Phase – Leugnen – vollziehen zu können. Transnationale Menschenrechtsnetzwerke betreiben hier mittels Informationskampagnen über den Zielstaat und die dort herrschende kritische Menschenrechtslage Lobbying und wenden sich an die liberale (in der Regel westliche) Öffentlichkeit und dortige Regierungen, um diese durch moral persuasion zunächst daran zu erinnern, dass sie als Staaten, in denen Menschenrechte einen hohen Stellenwert einnehmen, auch in der Pflicht stehen, sich für diese einzusetzen.99 Wenn sich die Staaten an den shaming -Kampagnen beteiligen, weisen die in die Kritik geratenen Regierungen in der Regel die Vorwürfe zurück, indem sie zum Einen internationalen Menschenrechtsnormen ihre Gültigkeit absprechen und sich zum Anderen jegliche Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbieten, wobei das letzte Argument – der Hinweis auf eine überlegenere internationale Norm der nationalen Souveränität – wesentlich häufiger und deutlicher geäußert wird. Dieses Verhalten wird bereits als Beginn des Sozialisationsprozesses gewertet, denn das öffentliche Leugnen der Vergehen bringt zum 97 98 99 Erfolge und Misserfolge dieser Strategie in verschiedenen Politikfeldern werden von Keck/Sikkink beschrieben, für eine Zusammenfassung der Ergebnisse siehe Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn 1998: Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca/London, S. 202f. Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38, hier S. 18. Dies wird dem Handlungstypus „moralische Bewusstseinsbildung“ zugeordnet, siehe genauer S. 27 dieser Arbeit. – 25 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Ausdruck, dass der Staat Teil der internationalen Gemeinschaft und zumindest partiell um seine Reputation besorgt ist sowie der Existenz internationaler Normen Rechnung trägt, auch wenn er sie in der Argumentation instrumentalisiert. Jedoch wird der Übergang in die dritte Phase als schwierig erachtet, da die Leugnen-Zeiträume häufig sehr lange andauern und die Repressoren zahlreiche Strategien haben, sich dem internationalen Druck zu widersetzen und z.B. die Opposition zu beseitigen. Ob dennoch die Phase der taktischen Konzessionen erreicht werden kann, hängt neben der Hartnäckigkeit internationaler Bemühungen auch von der Verwundbarkeit des betreffenden Staates ab, etwa seiner Abhängigkeit von internationalen (finanziellen und militärischen) Zuwendungen, aber auch seinem Interesse, auch weiterhin als akzeptiertes Mitglied der Gemeinschaft zu gelten. Sind diese Bedingungen gegeben, wird der Staat vermutlich versuchen, die internationale Kritik zu beschwichtigen und Verbesserungen der Menschenrechtslage zu signalisieren, indem er seine guten Absichten bekundet, und „publikumswirksame“ Maßnahmen – beispielsweise werden demonstrativ politische Gefangene entlassen oder der Presse mehr Freiheiten eingeräumt – durchführt. Diese Zugeständnisse beruhen jedoch (noch) nicht auf der Einsichtigkeit des Regimes, sondern stellen erzwungene Reaktionen auf vorausgegangene Verhandlungen dar und sind instrumenteller Natur – im Spiralmodell wird dieser Handlungstypus als „strategisches Verhandeln (bargaining) und instrumentelle Anpassung“ bezeichnet. Entscheidend ist in dieser Phase, dass die repressiven Regierungen dazu neigen, die Wirkung, die die Konzessionen entfalten können, zu unterschätzen und so einerseits ihre mobilisierenden Effekte für die innerstaatlichen Gruppen geringer als tatsächlich zu bewerten und andererseits, in der Annahme, Reden sei billig, ihre eigene argumentative Verstrickung (rhetorical selfentrapment) nicht als solche zu erkennen.100 Dadurch machen sie sich angreifbarer, nicht nur, da die Menschenrechtsgruppen sowohl im Inneren als auch international leichter um (weitere) Unterstützung werben, sich ausdifferenzieren und besser vernetzen können, sondern auch, weil die Staaten seitens der norm entrepreneurs immer wieder an ihre eigenen Argumente erinnert und mit diesen konfrontiert werden. Es entwickelt sich also ein Dialog zwischen den kritisierten Regimen und ihren Kritikern und „the logic of arguing takes over“,101 was den zweiten Handlungsmodus des Spiralmodells (moralische Bewusstseinsbildung, Argumentation und kommunikative Überzeugungsprozesse) darstellt:102 Der aus strategischen Erwägungen 100 101 102 S. zu rhetorischem Handeln im Allgemeinen und zu argumentativer Selbstverstrickung im Besonderen: Schimmelpfennig, Frank 2001: The Community Trap: Liberal Norms, Rhetorical Action, and the Eastern Enlargement of the European Union, in: International Organization 55:1, S. 47-80, hier insbesondere S. 62ff. Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38, hier S. 28. Wobei die moralische Bewusstseinsbildung, wie oben bereits beschrieben, ein Prozess ist, der zwischen transnationalen Menschenrechtsnetzwerken und westlichen Staaten in den ersten beiden Phasen stattfindet. In der Phase der taktischen Konzessionen sind hingegen Argumentation und kommunikative Überzeugungsprozesse relevant. Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 5-41, S. 9. – 26 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B heraus begonnene instrumentelle Austausch geht über in eine echte argumentative Auseinandersetzung über Menschenrechtsverletzungen und kann in der Einsicht der menschenrechtsverletzenden Regierungen in die Notwendigkeit, die Situation zu verbessern sowie in gemeinsamen Überlegungen hinsichtlich möglicher Schritte, um dies zu erreichen, münden. Die vierte Phase „präskriptiver Status“ zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass die Gültigkeit der Normen nicht länger umstritten ist und auch die avisierten Regierungen im Diskurs auf diese Bezug nehmen,103 obwohl die Menschenrechtsverletzungen auch weiterhin andauern können. Maßgeblich sei die Absicht, die Situation zu verbessern, die im dritten Handlungsmodus – Institutionalisierung und Habitualisierung – zum Tragen kommt. Dementsprechend ratifizieren die betroffenen Regierungen nicht nur internationale Menschenrechtspakte, sondern schaffen auch innenpolitische institutionelle Mechanismen zur rechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzern, etwa, indem die Norm verfassungsmäßig verankert, in die entsprechende Gesetzgebung umgesetzt sowie für BürgerInnen die Möglichkeit etabliert wird, Menschenrechtsverletzungen zur Anzeige zu bringen. Jedoch garantieren diese Schritte aus mehreren Gründen keineswegs den Übergang in die fünfte Phase des normgeleiteten Verhaltens: Zum Einen kann es passieren bzw. ist sogar anzunehmen, dass eine Regierung keine vollständige Kontrolle über alle dem staatlichen Apparat zuzurechnenden Akteure (wie z.B. Polizei und Militär) innehat, so dass diese u.U. auch weiterhin Menschenrechte missachten können. Zum Anderen wird vermutlich parallel mit den erzielten Fortschritten im Menschenrechtsbereich auch das öffentliche Interesse letztendlich sinken, dabei ist es gerade in dieser – häufig instabilen – Phase wesentlich, den von oben und unten ausgeübten Druck auf die Regierung aufrechtzuerhalten, um eine Konsolidierung und Internalisierung der Norm zu erreichen.104 2.4.2 Norm-Life-Cycle: internationale Normunternehmer und Normkaskaden Die (insgesamt drei) Karrierestufen einer Norm von ihrer Entstehung bis zur Internalisierung als Endstadium, wie sie auch im Spiralmodell postuliert wird und die auf den verschiedenen Stufen tragenden Handlungslogiken werden von Finnemore/Sikkink im als Norm-Life-Cycle bezeichneten Modell erfasst.105 Sie unterscheiden hierbei zwischen „norm emergence“ (Stufe 1), „norm cascade“ (Stufe 2) und „internalization“ (Stufe 3), wobei die Bezeichnung der ersten Stufe als norm emergence, also Normentstehung, genau genommen nicht zutreffend ist, meinen die Autorinnen hierbei doch nicht die tatsächlichen Ursprünge der Norm, etwa die Ideen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, sondern die Anfänge einer von norm entrepreneurs vorangetriebenen Diffusion einer Norm, die sie als Reaktion auf bestimmte von 103 104 105 Ob sie tatsächlich von ihnen überzeugt sind, spiele jedoch keine Rolle, s. FN 153 (S. 38) der Arbeit. Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38, hier S. 33. Zentral für die folgenden Ausführungen ist der folgende Aufsatz, mit dem Finnemore/Sikkink den NormLife-Cycle als Modell einführen: Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917. – 27 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B ihnen registrierte Missstände für notwendig erachten.106 Ihre Motivation zum Aktivwerden kann altruistischer, emphatischer und ideeller Natur sein, aber auch aus der eigenen Betroffenheit resultieren. Die Normunternehmer sehen sich auf dieser ersten Stufe mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass „new norms never enter a normative vacuum but instead emerge in a highly contested normative space where they must compete with other norms and perceptions of interest“.107 Um die neue Norm gegen dominante normative Überzeugungen, Interessensdefinitionen und als angemessen geltende Verhaltensweisen zu verteidigen, müssen sie unterschiedliche Techniken einsetzen. Strategic social construction und framing sind die hierbei angewendeten Strategien: Die NormaktivistInnen bedienen sich einer bis dato eher ungewohnten – interpretierenden und dramatisierenden – Sprache und wirken durch die Verwendung von bestimmten (neuen) sprachlichen Kombinationen auf bestehende Denkmuster mit der Absicht ein, zunächst ein Problembewusstsein zu kreieren. Hierbei soll der betreffende Sachverhalt derartig konstruiert werden, dass akzeptiert wird, er bedürfe einer Aufarbeitung bzw. Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit; im Folgenden werden mögliche – auf ihren Vorstellungen von angemessenem Verhalten beruhende – Lösungsvorschläge unterbreitet und durchzusetzen versucht. Damit nachhaltig auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei anderen Akteuren hingewirkt werden kann, benötigen „all norm promoters at the international level (…) some kind of organizational platform from and through which they promote their norms.“108 Als solche Plattformen können speziell mit dem Ziel der Diffusion konkreter Normen gebildete Zusammenschlüsse und Netzwerke, aber auch bereits bestehende internationale oder transnationale Organisationen dienen. Ihre Vorteile liegen darin, dass sie erstens auf Basis der in ihnen gebündelten Expertise für bestimmte Problemfelder Informationen bereitstellen und überzeugend auftreten können. Zweitens verfügen manche Organisationen über strukturelle Mittel, z.B. finanzielle Anreize oder Sanktionsmöglichkeiten, mit denen sie Staaten zur Einhaltung bestimmter Normen motivieren können.109 Drittens bietet sich hierdurch die Gelegenheit, eine Norm auf internationaler Ebene zu institutionalisieren, d.h. festzustellen, was die Norm vorschreibt und was als ihre Verletzung gelten kann. 106 107 108 109 Finnemore und Sikkink wählen in ihren Beispielen zur Behandlung von Verwundeten und Gefangenen im Krieg und zum Frauenwahlrecht Individuen und soziale Gruppen, die als norm entrepreneurs fungieren, aber es sind natürlich auch internationale Organisationen sowie andere Staaten in dieser Rolle denkbar. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 897. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 899. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass die Strategien „Überzeugung“ oder „Belohnung/Bestrafung“ je nach Unabhängigkeit und Mächtigkeit des (staatlichen) Akteurs variieren. So können finanziell schwach ausgestattete Staaten leichter über (materielle) Anreizsysteme zur Verhaltensänderung bewogen werden als solche, die nicht auf internationale Finanzhilfen angewiesen und somit weniger für Anreize empfänglich sind – diese müssten tatsächlich mithilfe der Bereitstellung neuer Informationen überzeugt werden. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 900. – 28 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Zwar garantiert Letzteres nicht, dass ein zum Einleiten der zweiten Stufe – Normenkaskade – notwendiger tipping point erreicht wird, zumindest wird jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Schwelle überschritten werden kann, erhöht.110 Unter tipping point verstehen die Autorinnen das Zustandekommen einer kritischen Masse von Staaten, die sich für die Bestrebungen der norm entrepreneurs empfänglich zeigen, zudem aber auch auf mögliche innenpolitische Forderungen reagieren, neue Normen anerkennen sowie umsetzen und damit zu norm leaders werden können. Finnemore/Sikkink stellen fest, dass eine genaue Angabe bezüglich der Anzahl der zum Überschreite des tipping points notwendiger Staaten nicht möglich ist. Allerdings verweisen sie auf empirische Studien, die Unterzeichnungen von Konventionen analysiert haben und darauf hindeuten, dass es sich dabei um ca. ein Drittel aller Staaten handelt, wobei es von Bedeutung ist, welche Staaten sich einer Norm anschließen, ob es z.B. diejenigen tun, die von der Norm betroffen und somit tatsächlich gezwungen sind, ihr Verhalten zu ändern oder solche, die über einen bestimmten moralischen Status verfügen und als Vorbilder gelten können.111 Das Vorhandensein einer kritischen Masse löst eine Normkaskade aus, die sich im Vergleich zur Stufe der Normenstehung durch eine andere Dynamik auszeichnet: Ist auf der ersten häufig noch ausschlaggebend, dass aus dem Inneren des Staates Druck ausgeübt wird, der die Regierung zur Anerkennung der Norm bewegen soll, kommen auf der zweiten Stufe internationale Sozialisationsprozesse zum Tragen, so dass Staaten, innerhalb derer nicht unbedingt nach der Norm verlangt wird, dennoch anfangen, Normen anzuerkennen und einzuhalten. Den Erfolg der während der Normkaskade stattfindenden Prozesse führen die Autorinnen v.a. auf die Identität der Staaten als Mitglieder 110 111 Die Idee der Normkaskade ist angelehnt an das von Bikchandani et. al entwickelte – rationalistische! – Modell der Informationskaskade (informational cascade): Dieses sucht imitierendes Verhalten von Akteuren dadurch zu erklären, dass sie sich in ihren Entscheidungen hinsichtlich eines Sachverhaltes nicht nur von ihren eigenen Eindrücken, sondern vor allem von den über die Entscheidungen anderer Akteure vorliegenden Informationen beeinflussen lassen. Demnach wird die Wahl einer Handlungsalternative desto wahrscheinlicher, je häufiger sie im Vorfeld der eigenen Entscheidung von anderen Akteuren ebenfalls getroffen wurde. Bikchandani, Sushil/Hirshleifer, David/Welch, Ivo 1992: A Theory of Fads, Fashion, Custom, and Cultural Change as Informational Cascades, in: The Journal of Political Economy 100:5, S. 992-1026, hier S. 994. Auf Normen übertragen, bedeutet Kaskade, dass ein Staat sich eher zu normkonformem Verhalten entschließt, wenn dieser Entschluss bereits von einer gewissen Anzahl anderer Akteure gefasst wurde – man kann sich das so vorstellen, dass die Verbreitung einer Norm nur bis zu einem Punkt (tipping point) linear, nach seinem Überschreiten jedoch exponentiell verläuft, da eine Norm nicht mehr durch ihre Substanz sondern auch durch die Anzahl ihrer Unterstützer an Überzeugungskraft gewinnt. Die Autorinnen führen die Landminenkonvention als Beispiel an, bei der das erforderliche Drittel von 60 Staaten im Mai 1997 erreicht war, woraufhin im Dezember 1997 weitere 124 Staaten den Vertrag ratifizierten. Welche anderen empirischen Studien zum tipping point die Autorinnen im Sinn hatten, wurde leider nicht angegeben. Betrachtet man jedoch etwa die Chemiewaffenkonvention, so kann von einer Ratifikationskaskade nicht die Rede sein, vielmehr scheint es sich hier um einen mehr oder weniger gleichmäßigen Anstieg der ratifizierenden Vertragsparteien zu handeln: Von 1993-1996 haben die ersten 60 Staaten den Vertrag ratifiziert, bis 1998 weitere 60, das letzte Drittel ist auch heute noch nicht erreicht. Vergleichbar tipping-point-frei erscheint z.B. auch die Durchsetzung der Convention on Elimination of All Forms Of Discrimination Against Women (CEDAW): Das erste Drittel wurde in den Jahren 1980-1984 erreicht, das nächste Drittel bis 1993. Bis 180 Staaten die Konvention gezeichnet hatten, vergingen schließlich mehr als zehn weitere Jahre. Während die von mir angeführten Beispiele lediglich der Illustration dienen sollen, dass eine solche Kaskade wohl kaum bei allen Verträgen anzunehmen ist, wäre eine systematische Überprüfung der Vorstellung eines tipping-points sicherlich interessant – den Rahmen dieser Arbeit würde sie leider sprengen. – 29 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B der internationalen Gemeinschaft zurück und damit einhergehend auf den Wunsch nach Anerkennung als solche und nach Wertschätzung von anderen, aber auch von sich selbst.112 Schließlich kann eine Norm auf diese Weise eine so breite Akzeptanz erlangen, dass sie als End- (oder Höhe-) Punkt der Diffusion von den Akteuren internalisiert wird. 2.4.3 Normen am Ziel: Internalisierung Beide vorgestellten Modelle schließen mit der Vorstellung, dass eine Norm als Ergebnis des Sozialisationsprozesses in ihrer letzten Phase bzw. Stufe einen besonderen Status – die Internalisierung – erlangt. In diesem Stadium denken die Akteure nicht länger darüber nach, ob sie die (inzwischen eine „taken-for-granted quality “113 erlangte) Norm befolgen oder nicht, vielmehr halten sie sich automatisch daran. Nach dem erfolgten Lernprozess erscheint normkonformes Verhalten dem Akteur so selbstverständlich, dass er „kaum noch darüber [nachdenkt], ob [ er] sie einhalten soll oder nicht“.114Außerdem liegt beiden Modellen die Annahme zugrunde, dass eine solche Norm beinahe völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet, da ihre Einhaltung nicht länger umstritten ist und keiner weiteren Überzeugungsarbeit bedarf.115 Normkonformität findet in diesem Stadium ohne externe Sanktionsdrohungen bzw. Sanktionserwartungen statt: „When norms are internalized, they are followed even when violation would be unobserved and not exposed to sanctions“.116 Elster argumentiert hier jedoch, Internalisierung habe zur Folge, dass ein Akteur sich durchaus der im Falle eines Normbruchs greifenden internen Sanktionen – wie Scham, Verlust der Selbstachtung, Unsicherheit über die eigene Identität117 – bewusst ist und dieses Bewusstsein der Grund dafür sei, warum Normen selbst dann eingehalten werden, wenn ihr Bruch anderen Akteuren nicht einmal auffallen würde. Die Vorstellung, eine Verletzung der Norm hätte psychologische Folgen für den Akteur, wird bereits von Axelrod zum Ausdruck gebracht: „[V]iolating an established norm is psychologically painful even if the direct material benefits are positive “.118 Nicht nur würde nach Axelrod bei internalisierten Normen die Aussicht auf materielle Belohnungen keinen ausreichenden Anreiz für non-compliance darstellen, darüber hinaus 112 113 114 115 116 117 118 Ausführlich zu den Grundlagen und zum Ablauf dieser Sozialisationsprozesse, s. Kapitel 2.4 (S. 21) der Arbeit. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 904. Risse, Thomas/Jetschke, Anja/Schmitz, Hans-Peter 2002: Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und innenpolitischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden, S. 18. Dazu Finnemore/Sikkink: „…norm internalization occurs; norm acquire a taken-for-granted quality and are no longer a matter of broad public debate.“ Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 895. Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 131. Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 28. Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S. 1095-1111, hier S. 1104. – 30 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B würden andere Akteure, die die Norm verinnerlicht haben, das Bedürfnis verspüren, diese Verletzung besonders stark anzuprangern und mit Sanktionen zu belegen und diese Tätigkeiten als persönlichen Gewinn empfinden. 2.5 Tabus – inspired by fear and not done, not said, not thought „Es darf uns ahnen, dass das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht so weit von uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollen” 119 Als ein besonderer Typus internalisierter Normen werden in der konstruktivistischen Literatur unter Rückgriff auf ethnologische, anthropologische und psychoanalytische Konzepte sogenannte Tabus behandelt. Der Ursprung des Begriffes „Tabu“ liegt im aus dem Polynesischen stammenden Wort tapu, dessen einfache Übersetzung „unverletzlich“ lautet,120 wobei der als gegenteilig angesehene Begriff noa für „gewöhnlich“ oder „allgemein zugänglich“121 bereits auf eine umfassendere und vielfältigere Bedeutung des Wortes tapu verweist. So wurde der Begriff z.B. auf der Inselgruppe Tonga als Bezeichnung für die Unberührbarkeit von Kultplätzen verwendet, in vielen anderen Stammesgesellschaften, auch außerhalb des Pazifikraumes, galten bestimmte Speisen, Tiere und Pflanzen als tabu, also als verboten. Solche besonders starken Verbotsnormen, die sich auf „ man’s arbitrary use of natural things“ beziehen und denen häufig eine mystische Komponente innewohnt, hat der Anthropologe Robertson Smith bereits 1889 als Tabus charakterisiert.122 Allgemeiner ist der Gegenstand von Tabus „something that is not done, said, or touched.“123 Freuds Auffassung, die Tabuisierung resultiere aus einer Ambivalenz der Individuen, kommt im folgenden Zitat pointiert zum Ausdruck: „Wo ein Verbot vorliegt, muß ein Begehren dahinter sein“124 – strikt verboten wird demgemäß genau das, was man sich besonders wünscht und zwar, weil es ebenso verführerisch wie falsch und beängstigend erscheint.125 Um dieses ambivalente Verhältnis zwischen Wunsch und Angst auszuhalten, ist das Individuum gezwungen, den Wunsch zu verdrängen und ihm eine explizit geäußerte und besonders rigorose Verabscheuung gewissermaßen entgegen zu setzen,126 ergo muss seine Bedeutung umso 119 120 121 122 123 124 125 126 Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 31. Im europäischen Sprachgebrauch wurde das Wort von James Cook etabliert. Vgl. Pfeiffer, Wolfgang et al 1989: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin, S. 1773. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 26. Zitiert nach: Douglas, Mary 1966: Purity of Danger. An Analysis of the concepts of pollution and taboo, New York, S. 10. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organisation 53:3, S. 433-468, hier S. 436. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 87. Etwas, das niemand tun will, bedarf ohnehin keines derart starken Verbotes. Freud führt Verdrängung auf die durch Triebregungen bereitete Unlust zurück: Grundsätzlich ist eine Triebbefriedigung bzw. die Befriedigung sehr starker Wünsche „ immer lustvoll “, wenn sie jedoch mit „anderen Ansprüchen und Vorsätzen unvereinbar“ ist, würde sie „also Lust auf der einen, Unlust an anderer Stelle erzeugen.“ Wenn das „Unlustmotiv eine stärkere Macht gewinnt als die Befriedigungslust“, setzt der – 31 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B nachdrücklicher bekräftigt werden, je stärker die Lust am Übertreten des Tabus und je größer die Angst davor ist.127 Der besondere Stellenwert tabuisierter Handlungen bzw. Objekte kann sich auf zwei verschiedene, doch trotz ihrer augenscheinlichen Gegensätzlichkeit dennoch häufig miteinander verknüpfte Bedeutungen stützen, die beide dem gleichen Zweck dienen: Als Reaktion auf die mit dem Bruch eines Tabus verbundene Angst nehmen das Bedürfnis nach Schutz der Gemeinschaft und die Bewahrung des Wahren, Schönen und Guten eine Vorrangstellung ein. Der angestrebte Schutz soll einerseits durch Tabuisierung der nur besonderen (oft ebenfalls heiligen) Personen vorbehaltenen Handlungen sowie der als heilig, geweiht und deshalb unberührbar geltenden Dinge erfolgen, welche als Totem (Schutzgeist oder Stammvater) dienen und die nicht entweiht werden dürfen, wobei der „Totemcharakter (…) nicht an einem Einzeltier oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung [haftet]”.128 Andererseits kann auch die Annahme von der Unreinheit, Unheimlichkeit und ausgesprochener Gefährlichkeit zur Grundlage von Tabus werden:129 Solche Verbote richten sich nicht – wie bei Totem – auf den Schutz der Objekte selbst, sondern auf den Schutz der Gemeinschaft vor ihnen. Während es im ersten Fall gilt, eine Gemeinschaft weiterhin unter das Zeichen der Reinheit und der Sicherheit einer heiligen Kraft zu stellen und auf diese Weise ein mögliches Unglück zu verhindern, das nach dem Schwinden dieses besonderen Schutzes durch eine Entweihung eintreten könnte, sich also durch das erhaltene Gute indirekt vor dem Unheil zu schützen – richtet sich die Tabuisierung im zweiten Fall direkt gegen das Böse, welches von niemandem berührt oder ausgeführt werden darf. Offenbar können Tabus demgemäß über eine unterschiedliche Systematik verfügen: Greifen einige Verbote absolut für alle Mitglieder der Gemeinschaft, beschränken andere sich unterdessen auf bestimmte Gruppen – das Recht zu ihrer Übertretung bleibt denjenigen vorbehalten, die nicht zu diesen Gruppen gehören;130 zentrieren sich einige um ein heiliges Totem und restringieren im Zusammenhang damit stehende Handlungen, beziehen sich wiederum andere auf als gefährlich und unrein geltende Verhaltensweisen und Gegenstände. 127 128 129 130 Verdrängungsmechanismus ein. Auf Tabus übertragen, bedeutet dies, dass der Wunsch zur Ausführung bestimmter Handlungen deshalb bis zur Tabuisierung verdrängt wird, weil die Angst vor ihren Folgen zu einem mächtigeren Unlustmotiv wird. S. Freud, Sigmund 1984 [1915]: Die Verdrängung, in: Ders.: Das Ich und das Es und andere metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main, S. 61-71, hier S. 62, außerdem auch: Freud, Sigmund 1940: Die Inzestscheu, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, S. 5-25, S. 25. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 42. Detaillierter dazu s. Freud, Sigmund 1940: Die Inzestscheu, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, S. 5-25, S. 7. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 26ff. Solche Verbote können sowohl nur für die gewöhnlichen Mitglieder gelten (ihnen kann z.B. der den Priestern gestattete Zutritt zu bestimmten geweihten Orten verwehrt bleiben) als auch nur für diejenigen, die in einer bestimmten Position stehen (z.B. das Zölibat bei katholischen Geistlichen). – 32 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Neben der primär bezweckten eher allgemeinen Abwendung von (u.U. vermeintlichen) Gefahren, erfüllen Tabus weitere Schutzfunktionen wie die Absicherung der herausgehobenen Stellung einer Person oder Personengruppe, aber auch gewöhnlicher Gemeinschaftsmitglieder, gegen Schädigung, den Schutz schwächerer Gemeinschaftsmitglieder vor magischen Kräften, die z.B. Priestern und Häuptlingen zugeschrieben werden131 oder den Schutz der Gemeinschaft als Ganzes vor dem Zorn der Götter und Dämonen.132 Zur Abwehr abstrakter Gefahren können überdies praktische Hintergründe hinzukommen, die tatsächlich dem Schutz der Gesundheit dienen, wie beispielsweise das Verbot mancher Speisen aufgrund ihrer Giftigkeit.133 Ferner sind Tabus, ebenso wie andere Normen,134 ein Mittel der Inklusion resp. der Exklusion – wer zu einer Stammesgemeinschaft (oder, analog dazu, zur Staatengemeinschaft) gehören will, hat die jeweiligen Verbote zu befolgen und signalisiert durch ihre Einhaltung seine Zugehörigkeit; wer sie bricht, riskiert seinen Ausschluss aus der Gemeinschaft, die Person (ggf. der Staat) wird durch einen Tabubruch selbst tabu. Es wird angenommen, dass die Tabuisierung der TabubrecherInnen, ihre gesellschaftliche Ächtung oder gar völlige Exklusion sowie weitere soziale Sanktionsmaßnahmen sich erst im Laufe einer Weiterentwicklung des Begriffes ergeben haben, herrschte doch ursprünglich die Überzeugung vor, das Tabu würde sich selbst rächen, die Bestrafung demnach automatisch erfolgen. Die „unbezwingbare“ Angst vor übernatürlichen Bestrafungen sei das Fundament der Inspiration, Aufrechterhaltung und der starken Wirkungskraft von Tabus nach Robertson Smith und Freud.135 Die Bedeutung der Angst, der Gefahr und der Bedrohungsgefühle wurde auch in der konstruktivistischen Literatur aufgegriffen und für die folgende Definition grundlegend: In Abgrenzung zu „einfachen“ Normen („prescriptions or proscriptions for behaviour“) definiert Tannenwald Tabus als „a particularly forceful kind of normative prohibition that, (…) deals with the ‚sociology of danger’”, wobei unter letzterer die Erwartung von „awful consequences or sanctions to follow in the wake of a taboo violation” zu verstehen 131 132 133 134 135 Die Anerkennung der Notwendigkeit eines Schutzes aller Personen vor mächtigeren Anderen durch bestimmte Verbote findet sich heute in der Idee moderner Staatlichkeit und konkret im Menschenrechtskonzept wieder, welches die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat festhält, den Schutz des Individuums durch den Staat gebietet und dem staatlichen Handeln durch Verbote Grenzen auferlegt. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 28. Z.B. war/ist auch die Berührung von Leichen aufgrund möglicher übertragbarer Krankheiten häufig tabuisiert und auch das Inzesttabu wird in diesem Zusammenhang genannt, da es darauf abzielt, mögliche (genetische) Schäden bei nachfolgenden Generationen zu verhindern. Dazu ausführlich: Freud, Sigmund 1940: Die Inzestscheu, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, S. 5-25. S. S. 12 der Arbeit. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 36 und Robertson Smith 1889, zitiert nach: Douglas, Mary 1966: Purity of Danger. An Analysis of the concepts of pollution and taboo, New York, S. 10. – 33 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B ist.136 Trotz der erwarteten Selbstbestrafung konnten sich im Laufe der Zeit auf Basis der Überzeugung, dass der Tabubruch eine Gefahr bzw. Unglück über die gesamte Gemeinschaft bringt und sie eine (Mit-)Schuld auf sich lädt, wenn sie den Tabubruch nicht ahndet, scharfe soziale Sanktionen etablieren. Des Weiteren wird mit einer deutlichen Verurteilung und Bestrafung durch die Gemeinschaft der Befürchtung begegnet, Tabubrüche seien in mehrfacher Hinsicht „ansteckend“,137 nicht nur könnten sich ihnen innewohnende gefährliche Kräfte durch Berührung übertragen, sondern es bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass das dem Tabu zuwiderlaufende Verhalten aus Neid (darauf, dass bestimmte Personen etwas tun, was allen anderen verboten ist) oder aufgrund der nicht eingetretenen negativen Konsequenzen, nachgeahmt werde. Solch eine (sich ausbreitende) Imitation des Bruches als kollektive Nicht-Einhaltung von bis dato fundamentalen Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens kann den Fortbestand der Gemeinschaft durch den Wegfall ihrer Regelungsmechanismen in der Tat unmöglich machen. Ein Tabubruch kann sich jedoch ganz im Sinne einer self-fulfilling-prophecy ebenso selbst rächen, wenn das auf den Bruch folgende schlechte Gewissen und die empfundene Scham zur Qual für die betreffende Person werden138 oder sich eine Gemeinschaft, die sich ihrer Grundfeste beraubt sieht (z.B. auch nur durch eine einmalige Entweihung des heiligen Tieres oder Ortes), auflöst. Außer der Reaktion der Gemeinschaft, die durch ihre Selbstauflösung auf den Bruch reagiert und hiermit die negativen Konsequenzen erst selbst schafft, ist ferner denkbar, dass alle nach einem Tabubruch erfolgenden, negativ bewerteten Ereignisse als durch den Tabubruch verursacht interpretiert werden. Es wird deutlich, dass die durch Tabubrüche entstehende Gefahr nicht unbedingt darin zu sehen ist, dass sie zu unmittelbar zu negativen Konsequenzen führen müssen; diese können jedoch dennoch eintreten – und zwar u.U. allein deshalb, weil bestimmte Handlungen eben nicht bloß als Übertretungen bestimmter Verbote, sondern als Tabubrüche wahrgenommen werden. Da diese, laut dem Mythos, nicht ohne schreckliche Folgen bleiben können, sorgen die Gemeinschaften durch ihre – intendierten oder nicht intendierten – Reaktionen dafür, dass sich der Mythos bewahrheitet. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass offenbar keine Möglichkeit besteht, darüber nachzudenken, ob und wie gravierend die Missachtung des Tabus und ihre Folgen tatsächlich sind und weder Begründungen für die Schwere der Tat noch für die Sinnhaftigkeit des Verbots vorgebracht werden müssen. Wie von Freud herausgestellt, verbieten sich Tabus, 136 137 138 Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organisation 53:3, S. 433-468, hier S. 436. Zu Ansteckung, Nachahmung und Sanktionierung durch/von Tabubrüche(n) siehe Robertson Smith, zitiert nach: Douglas, Mary 1966: Purity of Danger. An Analysis of the concepts of pollution and taboo, New York, S. 23 und Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 44ff. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 85. – 34 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B in Abgrenzung zu moralischen Verboten „eigentlich von selbst“.139 Ihre Autorität „is unmatched by any other prohibition“,140 ebenso wenig müssen sie unter Rückgriff auf höhere Autoritäten (wie z.B. die göttliche) begründet werden: „Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.“ Die Selbstverständlichkeit von Tabus zeigt sich somit insbesondere darin, dass die Frage, warum etwas verboten ist, sich denjenigen, für die das Tabu gilt, gar nicht erst stellt, „sie sich ihnen wie selbstverständlich [unterwerfen]“ und „ es ihnen auch nicht ein[fällt], danach zu fragen“,141 denn „[t]here is no reflection on it, no reasoning about it, no discussion of it“.142 Vielmehr halten sich Tabus, wie andere internalisierte Normen auch, auf Basis einer „psychischen Beharrung“, die infolge der Tradierung von Generation zu Generation entsteht.143 Käme die Frage nach ihrer Begründung auf – gestellt z.B. von Angehörigen anderer Gemeinschaften, denen die Tabus unbekannt sind – sei nach Freud (zunächst?) keine zufriedenstellende Antwort zu erwarten, denn die dem Tabu zugrunde liegenden Motive seien unbewusst,144 d.h. ungedacht. So ist die über das bloße Verbot des Ausführens gewisser Handlungen wie z.B. das Berühren unreiner Gegenstände oder das Betreten heiliger Orte hinausgehende Prohibition der gedanklichen Berührung bzw. des Betretens bestimmter Denkräume ein zentrales Element von Tabus145 – tatsächliche Tabubrüche, ebenso wie die Reflexion über ihre Richtigkeit und Notwendigkeit sind unthinkable. Noch stärker als bei einer internalisierten Norm nach Finnemore und Sikkink, über deren Einhaltung (warum auch immer) nicht mehr diskutiert wird, fällt also schon das ernsthafte Anzweifeln seiner Gültigkeit in den Schutzbereich des Tabus. Zwar kann seine Unangreifbarkeit immer wieder öffentlich bekräftigt werden, etwaige Erwägungen eines Bruches und u.U. damit einhergehende Kosten-Nutzen-Kalküle werden jedoch sofort – und ohne weitere argumentative Auseinandersetzung – abgeschmettert.146 Das Beginnen einer 139 140 141 142 143 144 145 146 Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 26. Webster, Hutton 1942: Taboo. A sociological study, Stanford, S. 17, zitiert nach: Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 701. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 27 und 30. Webster, Hutton 1940: Taboo. A sociological study, Stanford, S. 17, zitiert nach: Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 701. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 33ff. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 41. Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 37. Quester weist darauf hin, dass schon das Anstellen von rationalen Kalkulationen bei tabuisierten Themen nicht stattfinden kann. George H. 2005: If the nuclear taboo gets broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91, hier S. 74. – 35 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Debatte, in der Begründungen für die Notwendigkeit eines Tabus angeführt werden müssten, kann bereits als Ausdruck einer Schwächung des Tabus gelten.147 Diese Undenkbarkeit eines Tabubruches und sein absoluter Gültigkeitsanspruch gelten neben der bereits in den Ausführungen zu internalisierten Normen angebrachten „taking for grantedness“ als dessen Kernbestandteile. Als weitere zentrale Tabu-Elemente seien zusammenfassend seine Angst-Basiertheit, seine Schutzfunktion und die Gefahr einer Selbstbewahrheitung des Mythos nach einem Tabubruch im Sinne einer self-fulfilling prophecy genannt. 2.6 Theoretische Schwächen: Problematische Modelle, Ausblenden von agency und Fortschrittsbias Nicht zu leugnen ist, dass konstruktivistische Theorien die bis dato rationalistischpositivistisch dominierte Debatte über verschiedene Dimensionen internationaler Normen entscheidend erweitert und bereichert, wenn auch nicht mit endgültigen Antworten beliefert haben. Der nachdrückliche Hinweis auf gegenseitige Bedingtheit von Akteuren und Strukturen, dem eine für den Konstruktivismus konstituierende Bedeutung attestiert werden kann, gewann insbesondere in Abgrenzung zum strikten Individualismus und der Akteurszentriertheit des Rationalismus an Relevanz. Allerdings wird genau diese Abgrenzung als ein Grund für die Entstehung einer – angesichts der üblichen Fokussierung auf die Wechselbeziehung zwischen Akteur und Struktur doch überraschenden – theorieinhärenten Lücke angesehen: dem Verschwinden von agency . So erfüllen konstruktivistische Ansätze zwar durchaus den Anspruch, die charakteristische Wechselwirkung zwischen Norm und Akteur nachzeichnen zu können – zumindest bevor das Internalisierungsstadium der Norm erreicht ist.148 Hat eine Norm jedoch die unterschiedlichen Entwicklungsphasen von ihrer Entstehung, Verbreitung und Durchsetzung bishin zu ihrer Verinnerlichung erfolgreich durchlaufen, scheint sie letztendlich ähnlich einer Struktur zu wirken: Die oben beschriebenen Modelle legen nahe, dass der Akteur einer internalisierten Norm nichts als folgen kann und nicht nur Normbrüche unwahrscheinlich werden, sondern auch Diskussionen über ihre Gültigkeit aus dem Rahmen des Möglichen gerückt werden. Die Norm als Struktur wird somit dem Zugriff des Akteurs entzogen, agency wird als der Struktur ausgeliefert aufgefasst. 147 148 Auch, wenn dies nicht ausschließt, dass das Tabu am Ende der Debatte seine Gültigkeit wieder erlangt oder sogar gestärkt aus ihr hervorgeht, s. zu diesem Punkt auch Fußnote 161 (S. 41) der Arbeit. Die Entstehungs- und Wirkungsmechanismen von Normen sind bereits ausführlich dargestellt worden, deshalb soll an dieser Stelle lediglich eine kurze stichpunktartige Ausführung zum Zusammenspiel zwischen Normen und Akteuren genügen: Akteure wie norm entrepreneurs bringen eine Norm ins öffentliche Bewusstsein und engagieren sich für ihre Verbreitung. Die Norm ihrerseits wirkt auf (andere) Akteure, konstituiert Identitäten, verändert Kosten-Nutzen-Kalküle. Akteure wiederum bedienen sich der Norm, um ihr Verhalten zu rechtfertigen bzw. die Handlungen von anderen zu delegitimieren usw. Auch wird hier das für die Beziehung Akteur-Struktur typische Henne-Ei-Problem deutlich: Normen verändern Strukturen und sind gleichzeitig bereits Ausdruck veränderter Strukturen. Sie können als Ergebnis der Interaktionen zwischen Akteuren entstehen, wobei letztere mit der Hervorbringung von Normen auf strukturelle Veränderungen oder auf den Einfluss anderer Akteure reagieren können. – 36 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Neben der bereits erwähnten Abgrenzung von akteurszentrierten Ansätzen, die als konstruktivistisches Korrektiv zum Rationalismus, die Strukturen wenn nicht negiert, so doch gänzlich vernachlässigt, zu einer stärkeren – zu starken – Fokussierung der Strukturen beiträgt, führt Checkel vier weitere mögliche Erklärungen für die „constructivism’s missing agents“ an: So interessieren sich, erstens, konstruktivistische AutorInnen, eher für intersubjektive, kollektive und weniger für individuelle Prozesse, was einzelne Akteure aus dem Blickfeld rücken lässt. Zweitens bringe es auch Wendts einflussreiche Konzeption von der sozial konstruierten Identität des Staates mit sich, dass individuelle, auf nationaler Ebene ablaufende Prozesse an Bedeutung verlieren. Die soziologischen Grundlagen des Konstruktivismus, genauer, der soziologische Institutionalismus mit seiner Ausklammerung individueller Machtpotentiale seien der dritte Grund. Unterstützend wirke, viertens, die von Checkel diagnostizierte „empirische bias“ der Normenforschung – so beschäftigen sich zahlreiche Studien mit Aktivitäten von transnationalen Akteuren, internationalen Organisationen und NGOs und lassen die unterschiedliche – möglicherweise auf nationalstaatlicher Ebene zu begründende – Responsivität der Akteure für manche Normen außer Acht.149 Während der Kritikpunkt, dem Akteur, sobald eine Norm internalisiert ist, jegliche Macht darüber zu entziehen und agency zu eliminieren, sowohl auf das Spiralmodell als auch auf den Norm-Life-Cycle gleichermaßen zutrifft, unterscheiden sich die beiden sehr wohl hinsichtlich der von ihnen internen Faktoren zugemessenen Bedeutung. Die Internalisierung von Menschenrechtsnormen wird von Risse/Sikkink als ein Produkt des Zusammenspiels von internen und externen Faktoren aufgefasst, in dem innenpolitische Akteure wie gesellschaftliche Gruppen und die Regierung mit internationalen Akteuren wie internationalen Organisationen und NGOs sowie mit anderen Staaten interagieren. Finnemore/Sikkink verorten die für ihre Erklärung relevanten Faktoren hingegen fast ausschließlich auf der internationalen Ebene – so wirken zu Beginn transnationale Normunternehmer auf Nationalstaaten ein (was genau in den Staaten passiert, wird jedoch weitgehend ausgeblendet und es wird nur in einem Nebensatz erwähnt, dass auch innenpolitischer Druck eine Rolle spielen könnte) und der für den Übergang in die nächste Phase notwendige tipping point ist erst dann erreicht, wenn eine bestimmte Schwelle an normbefürwortenden Staaten erreicht ist. Letzteres ist wiederum eine auf internationaler Ebene zu erreichende Voraussetzung, die wenig Aufschluss darüber zu geben vermag, warum manche Staaten von der Normkaskade erfasst werden, andere wiederum nicht. Darauf kann allerdings auch das Spiralmodell keine befriedigende Antwort geben, zwar wird die innere Verfasstheit eines Staates und sein Grad an Offenheit in die Erklärung miteinbezogen,150 ebenfalls werden die Übergänge von einer 149 150 Checkel, Jeffrey T. 1998: The Neoliberal Moment in Sweden: Economic Change, Policy Failure or Power of Ideas, Paper presented at the Ideas, Culture and Political Analysis Workshop, Princeton University, May 1516 1998, S. 2f. Die Bedeutung dieser internen Faktoren und individueller Besonderheiten der Fälle werden erst zur Sprache gebracht, nachdem die Ergebnisse der Anwendung des Spiralmodells auf die Empirie eine große Varianz zwischen den unterschiedlichen Staaten aufweisen. Siehe zur Auswertung und Einordnung der Fallstudien: – 37 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B Stufe zur nächsten als vom Vorliegen bestimmter Bedingungen abhängig betrachtet,151 jedoch reicht die Erklärungskraft nicht aus, um allgemein zu bestimmen, wann und wie diese Bedingungen hergestellt werden können. Genauso wenig ist eine Aussage über die wahrscheinliche Dauer der jeweiligen Phasen möglich – vielmehr zeigt die Durchführung mehrerer Fallstudien, dass die Entwicklungen in den untersuchten Staaten nicht nur unterschiedlich schnell verlaufen, sondern die tatsächlich erreichten Veränderungen der Menschenrechtslage ebenfalls stark variieren.152 Zwar haben einige, als „success stories“ bezeichneten Länder in der letzten Phase des normgeleiteten Verhaltens nach Ansicht der Autoren „mostly completed [the] internalization of human rights norms“, allerdings wird nicht präzisiert, woran eine solche Internalisierung zu erkennen ist. Letzteres, in Verbindung mit weiteren recht vage formulierten Feststellungen und Kriterien kann man sowohl Risse/Sikkink als auch Finnemore/Sikkink durchaus zum Vorwurf machen.153 Beide Modelle können ferner als Beispiele für ein weiteres Problem der Normtheorie stehen – und dieses ist auch durch das bereits kritisierte Ausblenden von agency bedingt: Rückt der Akteur nach der Norminternalisierung aus dem Blickfeld, bleibt dies nicht folgenlos für die weitere Entwicklung der Norm, verschwinden mit dem Akteur doch nicht nur die (naheliegende) Notwendigkeit der Normreproduktion sondern auch die Möglichkeit eines von Seiten des Akteurs ausgehenden Normwandels nach oder während der Internalisierungsphase. Sich explizit mit dem Begriff des normative change befassende Autorinnen und Autoren 151 152 153 Risse, Thomas/Ropp, Stephen C. 1999: International human rights norms and domestic change: conclusions, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 234-278, hier S. 262f. So hängt z.B. der Übergang von der zweiten Phase (Leugnen) in die dritte (taktische Konzessionen) von der Mobilisierung transnationaler Netzwerke und der Verwundbarkeit der menschenrechtsverletzenden Regierung durch Sanktionen ab. Dies werten Risse/Ropp jedoch nicht als Schwächung des Modells, sondern argumentieren, dass es ihnen vorrangig um das Aufzeigen der hinter dem Sozialisationsprozess stehenden Dynamik ging. Risse, Thomas/Ropp, Stephen C. 1999: International human rights norms and domestic change: conclusions, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 234-278, hier S. 258. Z.B. schreiben Risse/Sikkink einerseits, dass es in der vierten Phase (präskriptiver Status) irrelevant sei, ob die beteiligten Akteure tatsächlich an die Norm glauben oder nicht, solange eine Übereinstimmung zwischen ihren Taten und Worten besteht. Andererseits sei für dieses Stadium charakteristisch, dass die Gültigkeit der Norm nicht länger kontrovers ist, auch wenn das tatsächliche Verhalten (immer noch nicht) normkonform ist – dass Akteure lediglich behaupten, sie würden die Norm teilen und nicht länger eine Debatte über sie geführt wird, ist an diesem Punkt einleuchtend, doch handelt es sich bei anhaltenden Normbrüchen etwa nicht um ein Auseinanderklaffen zwischen Worten und Taten, das es in diesem Stadium nicht geben dürfte? (Vgl. Risse, Thomas/Sikkink, Kathryn 1999: The Socialization of International Human Rights into Domestic Practices, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-37, S. 29.) Finnemore/Sikkink bleiben z.B. bei ihrem Punkt, eine internalisierte Norm verschwinde aus dem breiten öffentlichen Diskurs und werde nur noch von „few people“ diskutiert, insofern unpräzise, als dass sie nicht darauf eingehen, woran man die Breite des Diskurses schätzen kann und ob es eine Rolle spielt, welche – wenn auch wenige – Akteure eine Norm in Zweifel ziehen. Des Weiteren wurde oben bereits darauf verwiesen, dass die Autorinnen sich nicht in der Lage sehen, die Größe der zur Normkaskade führenden kritischen Masse zu bestimmen, auch Kriterien zur Identifizierung der für die Normkaskade relevanten Staaten werden im Konjunktiv vorgebracht und lesen sich eher als Vorschläge. (Vgl. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 895 bzw. S. 901.) – 38 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B thematisieren ebenfalls ausschließlich den zur Verinnerlichung einer Norm führenden Prozess und nicht, wie der Ausdruck vermuten ließe, deren mögliche Veränderung auch nach dem Erreichen des letzten Stadiums – dieses wird als Endpunkt der Normkarriere verstanden, einmal soweit gekommen, scheint die Norm stabil und „in Sicherheit“. Immerhin gibt es einige Arbeiten, die durchaus die Möglichkeit der Erosion einer Norm in Betracht ziehen, wie z.B. Akerlof, der argumentiert, dass eine Norm dann verschwinden kann, wenn sie für die Aufrechterhaltung der Reputation des Akteurs nicht mehr notwendig ist, der durch einen Bruch erzielte Reputationsverlust im Vergleich zum Gewinn sehr niedrig ist oder die Akteure schlichtweg nicht mehr an die Norm glauben.154 Auch Hoffmann merkt an, dass einmal gesetzte Standards nicht über eine Ewigkeitsgarantie verfügen und sich die Vorstellungen davon, was als angemessen aufzufassen ist, durchaus wandeln können: „If agents to longer feel that the behaviour prescribed by the norm is appropriate, they will cease to act in such a way and the appropriateness of the standard evaporates. Once this takes place, the „norm“ no longer has influence over agents’ interests and thus no influence over agents’ behaviors.“155 Allerdings bezieht er sich nicht speziell auf internalisierte Normen und befasst sich in seinem Artikel nicht weiter mit den möglichen Bedingungen, die zu dem „Gefühl, eine Norm sei nicht mehr angemessen“ führen, sondern entwickelt ein weiteres Modell der Normentstehung. Risse stellt zwar leichthin fest, dass „norms that are no longer believed will probably disappear or soon change “ – wie es zu dem Punkt kommen kann, an dem an automatisch und unbewusst befolgte Normen nicht mehr geglaubt wird, problematisiert er jedoch nicht.156 Sogar explizit mit dem Begriff Normerosion operiert Kübler, so könne diese durch eine Veränderung der Anreizstrukturen erreicht werden – allerdings erodieren in der Vorstellung der Autorin ebenfalls nur „schlechte“ Normen.157 Doch indem sie überhaupt Überlegungen dazu anstellt, was eigentlich mit der alten Norm passiert, sobald eine neue aufkommt, geht die Autorin schon einen Schritt weiter als die meisten anderen Arbeiten, die lediglich die Entwicklung einer neuen Norm behandeln, das Schicksal der alten jedoch nicht weiter untersuchen. Zwar berücksichtigen sie, dass internalisierte Normen durch (noch) stärkere ersetzt werden 154 155 156 157 Akerlofs bereits 1980 dargelegte Überlegungen entstanden jedoch nicht im Kontext der konstruktivistischen Normentheorie, entsprechend bezieht er sich weder auf staatliche Akteure, die internationale Normen internalisiert haben noch geht es ihm primär um Standards, die erodieren. Vielmehr verfolgt er das Ziel, Status und Reputation als für die Normbefolgung relevante Faktoren herauszustellen und aufzuzeigen, dass Akteure sich genau aus diesem Grund an – sie materiell benachteiligende – Normen halten. Akerlof, George 1980: A Theory of Social Custom, of Which Unemployment May Be One Consequence, in: Quarterly Journal of Economics 94:4, S. 749-775, hier S. 751. Hoffmann, Matthew J.: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm Life Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 4, online unter: <http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005. Risse, Thomas 2000: „Let’s argue!”: Communicative Action in World Politics, in: International Organization 54:1, S. 1-39, hier S. 6. Kübler, Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics, & Organization 17:2, S. 449-476, hier S. 452 bzw. 473. – 39 – T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B können,158 bleiben damit aber einem Fortschrittsglauben verhaftet, der eine kontinuierlich zunehmende Verregelung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen nahelegt.159 Demnach schränken neu entstehende Normen den Handlungsspielraum von Akteuren immer stärker ein, während die Ablösung einer Norm durch eine schwächere, die eben diesen Handlungsspielraum wieder erweitern würde, nicht bedacht wird. Dies erweist sich in Anbetracht der sozialen Praxis, nach der bereits internalisierte Normen sehr wohl durch einen neu entfachten öffentlichen Diskurs wieder in Frage gestellt werden und nach der Tabus auf die gleiche Weise eine theoretische Lücke.160 Schwächung erfahren, als zweite, empirisch bedingte , Welchen Weg wir zu gehen gedenken, um die Lücke zu füllen und unter welcher Fragestellung unser Vorhaben steht, wird im folgenden Kapitel dargestellt. 158 159 160 Siehe etwa Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations Theory, in: dies.: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 13-35, hier S. 23ff. oder Hurrell, Andrew 2001: Norms and Ethics in International Relations, in: Carlsnaes, Walter/Risse, Thomas/Simmons, Beth A. (Hg.): Handbook of International Relations, London, S. 137-154. Dieser Forschrittsglaube kommt auch in der Auswahl der in der einschlägigen Literatur angeführten Normen zum Ausdruck: Hier werden ausschließlich – aus westlicher Sicht – positiv konnotierte Standards untersucht, während z.B. die verstärkte Durchsetzung der Scharia außerhalb des normtheoretischen framings liegt. Zwar wird von Finnemore an einer Stelle darauf verwiesen, es gäbe keinen Grund, davon auszugehen, dass geteilte Überzeugungen automatisch „ethisch gut“ seien. In einer späteren Arbeit stellen sie und Sikkink allerdings fest, dass „by definition, there are no bad norms“, denn auch heute längst überwundene Normen (z.B. Sklaverei) wurden von ihren Befürwortern einst als richtiges, angemessenes Verhalten gewertet. Dieser Auffassung entsprechend nimmt die Normenforschung ebenfalls ausschließlich gute Normen in ihren Suchfokus auf. Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 6 und Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 892. Man denke nur an aktuelle Debatten um die grundlegende Norm der staatlichen Souveränität im Zusammenhang mit der Forderung nach humanitären Interventionen oder an die als bereits verregelt geglaubten, nun aber von neuem in die Diskussion geratenen Entwicklungsziele der OECD. Beispielhaft für die Schwächung eines Tabus auf diese Weise könnte die (durch weitgehende Legalisierungen im „Westen“) in der islamischen Welt angefachte Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität angeführt werden. – 40 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e 3. Fragestellung und Herangehensweise 3.1 Fragestellung Unsere Arbeit hat das Ziel, zur Überwindung dieser beiden Lücken – der theorieimmanenten und der empirisch bedingten – beizutragen: Wir fragen uns, wie es möglich ist, dass eine bereits internalisierte Norm von Seiten des Akteurs wieder in Frage gestellt werden kann und auf diese Weise geschwächte Tabus erodieren. Damit grenzen wir uns klar von der umfangreichen compliance-Literatur ab, in deren Zentrum die Frage steht, unter welchen Bedingungen sich Akteure (in der Regel) an eine Norm halten und wann normkonformes Verhalten weniger wahrscheinlich ist – denn durch den Bruch einer Norm muss deren Existenz oder gar Existenzberechtigung noch lange nicht in Frage gestellt werden.161 Im Sinne unseres Tabubegriffs ist es vielmehr wichtig, einen Einstellungswandel gegenüber dem Geltungsanspruch einer Norm aufzuzeigen, d.h. den schwindenden Glauben an ihre uneingeschränkte (moralische) Richtigkeit. Indem wir ein solches Infragestellen von Tabus betrachten und die (häufig implizite) Annahme, ein Akteur besitze keinerlei Handlungsmacht über eine internalisierte Norm mehr (d.h., sein Handeln sei in diesem Fall durch eine Art Struktur determiniert) vor dem Hintergrund empirischer Gegenbeispiele bestreiten, rückt für uns das Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit, in dem ein Akteur wieder Handlungsmacht über eine strukturähnlich wirkende Norm gewinnt, sich also die Möglichkeit einer Normerosion eröffnet und damit gleichzeitig den Prozess der Normerosion auslöst.162 Im Sinne des oben angeführten Tabubegriffs gehen wir davon aus, dass diese eigenmächtige Ausweitung des eigenen Handlungsspielraums durch einen Akteur auf Kosten der strukturähnlich wirkenden Norm geht, wir wollen jedoch nicht behaupten, dass am Ende eines auf diese Weise angestoßenen Prozesses immer die Abschaffung der jeweiligen Norm oder auch nur deren Ersetzen durch eine schwächere stehen muss. Da unsere Fallstudien noch laufende Debatten zum Gegenstand haben, anhand derer sich allerdings der Prozess des erneuten Anstoßens einer Debatte sehr gut nachvollziehen lässt, können wir über den 161 Auf diesen Unterschied wiesen Kratochwil und Ruggie bereits Mitte der 1980er Jahre hin: “[N]orms are counterfactually valid. No single counterfactual occurrence refutes a norm. Not even many such occurrences necessarily do. (…) To be sure, the law (norm) is violated thereby. But whether or not violations also invalidate or refute a law (norm) will depend upon a host of other factors, not the least of which is how the community assesses the violation and responds to it.” Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: 162 International Organization: a state of the art on an art of the state, in: International Organization 40: 4, S. 753-775, hier S. 767. Im Gegenteil kann ein Normbruch sogar zu deren Stärkung führen, wie es etwa bei den Chemiewaffen der Fall war: Nachdem Saddam Hussein in den 1980er Jahren im Krieg gegen den Iran Chemiewaffen eingesetzt hatte, ist im Januar 1989 von den USA die Pariser Chemiewaffen-Konferenz initiiert worden, mit dem Ziel, das geschwächte Tabu wieder zu stärken. Die hier vorgebrachte Forderung der arabischen Staaten, Chemiewaffen im Rahmen eines umfassenden Verbots von Massenvernichtungswaffen zu verbieten, sollte zwar in erster Linie Druck auf die nuklearen Haves ausüben, hat jedoch letztendlich zu einer Stärkung des Chemiewaffen-Stigmas beigetragen. S. Price, Richard 1995: A Genealogy of the Chemical Weapons Taboo, in: International Organization 49:1, S. 73-103, hier S. 99ff. Diese beiden Aktionen fallen notwendigerweise in eins, s. S.50 der Arbeit. – 41 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e tatsächlichen Ausgang unserer Fälle im Rahmen dieser Arbeit keine Aussagen treffen. Neben einer vollständigen Normerosion wäre ebenfalls denkbar, dass die von uns untersuchten Tabus aus den Diskussionen gestärkt – da mit einer neuen oder neu bestätigten Begründung versehen – hervorgehen. Dies würde eine Art „Wellenbewegung“ der Normschwächung und des Wiedererstarkens nahe legen, wobei wir den Zeitpunkt des beginnenden Abfallens kurz nach dem Scheitelpunkt der Welle (der Internalisierung nämlich) betrachten würden. Dennoch sei auch hier darauf hingewiesen, dass wir ein wieder in die Diskussion geratenes Tabu als bereits geschwächt konzeptionalisieren – denn wenn es nicht nur tatsächlich bestritten, sondern v.a. als bestreitbar angesehen, d.h. „das Selbstverständliche nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen wird, (…) stellt sich das Wissen darüber, wie man (…) einmal dazu gekommen ist, nicht einfach wieder ein.”163 Dass wir uns nicht sicher sind, ob die von uns untersuchten Tabus wirklich aufgehoben werden, deutet bereits darauf hin, dass ein Modell der Normerosion analog zu solchen der Normdurchsetzung (wie dem Norm Life Cycle) nicht das Ziel unserer Arbeit sein kann. Statt nach generalisierenden und überzeitlich gültigen Aussagen zu suchen, steht für uns die (hauptsächlich) rückwärts gewandte Analyse zweier prominenter Fälle im Zentrum. An der Frage, wie es zu diesen Fällen kommen konnte, lässt sich bereits ablesen, dass es uns hier nicht (wie in den oben genannten Fällen) um das Aufzeigen generalisierbarer UrsacheWirkungs-Zusammenhänge geht, sondern um das Offenlegen konstitutiver Bedingungen, die im Zusammenspiel dazu geführt haben, den Handlungsspielraum von Akteuren zunächst derart auszuweiten, dass eine Normschwächung und ein Prozess der erneuten Einschränkung von Handlungsoptionen möglich wurde, in dessen Verlauf sich dann eine neue Handlungsweise – nämlich die der Tabuschwächung – als angemessen herauskristallisierte. Mit anderen Worten gehen wir also davon aus, dass es sich bei einer Normentstehung um eine Einschränkung des Handlungsspielraumes des Akteurs handelt – dieser wird bei einer Normerosion zunächst auf Kosten der Norm ausgeweitet, indem bis dato als unangemessen erachtete Handlungsweisen wieder legitimiert werden. Jedoch findet auch in diesem Prozess erneut Verengung des Handlungsspielraumes statt – nämlich, indem die vorherige uneingeschränkt normbefürwortende Position nicht mehr einnehmbar wird. Der letzte Teil der Frage weist noch einmal darauf hin, dass wir hier einen Prozess in den Blick nehmen, in dessen Rahmen sich eine Tabuschwächung im permanenten Wechselspiel von Akteur und Struktur, aber auch in einem ständigen Zusammenwirken verschiedener Akteursgruppen vollzogen hat, bzw. noch vollzieht. Von besonderem Interesse ist für uns, welche Argumente die in den Diskussionsprozess involvierten Akteure gegen die (uneingeschränkte) Aufrechterhaltung der untersuchten Tabus vorgebracht und welche dieser Aussagen von weiteren Akteuren aufgegriffen wurden und sie dazu bewogen haben, sich dieser Position 163 Reemtsma, Jan Philipp 2004: Fratze im Spiegel. Zur Diskussion der Folter, in: Internationale Politik 59: 6, S. 95-100, hier S. 97. – 42 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e anzuschließen – es also ebenfalls als legitim zu betrachten, eine internalisierte Norm wieder in Frage zu stellen, womit der Prozess der Normerosion eine Ausweitung erfuhr. Damit lässt sich unsere Fragestellung auf drei Ebenen verorten: Auf einer metatheoretischen Ebene gehen wir der Frage nach, wie es einem Akteur möglich sein kann, seinen durch Strukturen begrenzten Handlungsspielraum eigenmächtig wieder auszuweiten, bzw. wie es ihm möglich ist, eine solche Handlungsoption überhaupt wahrzunehmen. Auf der theoretischen Ebene steht die Auseinandersetzung mit der Frage im Zentrum, wie internalisierte Normen und Tabus durch das Wiederaufkeimen einer Diskussion geschwächt werden können und wie der einsetzende Prozess dieser diskursiven Normschwächung verläuft. Und auf einer policy-Ebene erfahren wir etwas über die Infragestellung des nuklearen Tabus und des Folterverbotes in den und durch die Vereinigten Staaten von Amerika.164 Wie anhand des einleitenden Kapitels über Normtheorie gezeigt wurde, steht die mittlere dieser Ebenen für uns klar im Zentrum der Untersuchung. Hier wenden wir uns den zuvor bei der Normtheorie postulierten Problemen zu: Wir fokussieren auf das Unterschätzen von agency auf einem theoretischen Level165 und dabei insbesondere auf die Vernachlässigung innenpolitischer Gruppierungen, denen eine entscheidende Rolle bei der Stärkung und Schwächung von Normen zukommt sowie auf den theorieinhärenten Fortschrittsglauben. Die bestehende Normtheorie wird deshalb auch wesentlicher Ansatzpunkt unserer Interpretationen und Schlussfolgerungen sein. Dennoch fließen auch Aspekte der anderen beiden Ebenen in unsere Untersuchung ein: Einige Kernthemen eher metatheoretischer Diskussionen, insbesondere die hier um das Akteur-Struktur-Problem geführten Debatten und die Frage, inwieweit sich diesem im Rahmen variablenzentrierter Forschungsdesigns begegnen lässt, werden im folgenden Methodenteil angerissen.166 Die (auch) policy-relevante Komponente unserer Arbeit muss breiteren Raum einnehmen, umfasst sie doch nicht nur die Darstellung und erste Interpretation unserer Primärquellen, sondern auch die Einführung in die von uns untersuchten Tabus und ihrer Entstehungsgeschichte sowie die Skizzierung der innenpolitischen Konstellation in den USA als Umfeld der analysierten Normerosion. Zudem dient sie dazu, die von uns untersuchte Lücke der Normtheorie anhand der Empirie aufzuzeigen und (soweit möglich) zu schließen. Zusammenfassend verfolgen wir mit unserer Arbeit also drei Ziele: Erstens das Aufzeigen der theoretischen Schwächen der Normtheorie, wie es in Kapitel 2.6 bereits begonnen wurde und im folgenden Methodenkapitel aus einer anderen Perspektive vertieft werden soll, zweitens das empirische Aufzeigen und Herantasten an diese Lücken durch die Analyse zweier 164 165 166 Zur Begründung der Fallauswahl s. S. 54 der Arbeit. D. h. der Unterschätzung dieses Faktors im Rahmen einer spezifischen Theorie und nicht der abstrakten Frage, wie man das Akteur-Struktur-Problem bei der Theoriebildung generell lösen oder zumindest geschickt umgehen könnte. Dieser Kapitelaufbau mag auf den ersten Blick überraschen, erscheint jedoch sinnvoll, da wir solche Diskussionen nur insoweit skizzieren, als sie uns zur Erläuterung unserer eigenen Herangehensweise nützlich erscheinen, die Darstellung dieser Sachverhalte für uns also kein Selbstzweck ist. – 43 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e Fallstudien und drittens die Interpretation unserer Ergebnisse vor dem Hintergrund und mit dem Ziel der Erweiterung der bestehenden Normtheorie. 3.2 Herangehensweise: back to the (constructivist) roots „Let us be understood that we are not advocating a coup whereby the reign of positivist explanations is replaced by explanatory anarchy. But we would insist that, just as epistemology has to match ontology, so too does the explanatory model have to be compatible with the basic structure of the particular scientific enterprise at hand.” 167 In unserer Analyse wollen wir versuchen, die oben dargelegten Schwächen der (sozial)konstruktivistischen Normenforschung auch methodisch zu umgehen. Fünf Hauptaspekte der Überlegungen, die uns schließlich zu unserer Herangehensweise geführt haben, sollen im Folgenden umrissen werden: Erstens setzen wir dem Ziel des Gewinnens von Modellen aus large-n Studien einen offenen, explorativen Zugriff auf Tiefenfallstudien (zweitens) entgegen – womit wir uns, drittens, für die Untersuchung konstitutiver statt kausaler Zusammenhänge entscheiden. Dies erlaubt uns, viertens, Akteure stärker in den Blick zu nehmen, indem wir, fünftens, primär ihre Argumentationsweisen untersuchen. Gerade vor dem Hintergrund immer heftigerer Grabenkämpfe um sozialwissenschaftliche Methoden sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Kapitel keine tiefschürfende Analyse möglicher Untersuchungsmethoden sozial konstruierter Phänomene oder dahinterstehender epistemologischer Konzepte liefern kann oder soll. Ebenso wenig geht es uns darum, eine „Mustermethode“ für die Untersuchung von Norm(erosion)en vorzuschlagen oder gar als einzig richtige hinzustellen. Unsere Herangehensweise ist vielmehr ein kreativer Versuch, eine neue Fragestellung mit der Methode zu bearbeiten, die uns zur Lösung unseres puzzles am vielversprechendsten erschien – ohne, dass wir behaupten wollten, hiermit die beste aller Möglichkeiten gefunden zu haben. Nach einem einführenden Überblick, in dem wir die Auswahl einer bestimmten Methode erläutern (3.2.1), gehen wir in einem zweiten Schritt auf die Gegenstände unserer Analyse ein und beschreiben, wie wir uns ihnen konkret genähert haben (3.2.2). 3.2.1 No more models: Der Fall als Gesamtkunstwerk Zwei Logiken, zwei Fragestellungen Die oben bereits angebrachte Kritik an den Modellen der Normentwicklung lässt sich auf andere Bereiche konstruktivistischer mainstream -Forschung ausweiten: Auch bei der Erforschung anderer eindeutig sozial konstruierter Phänomene geht es meist in erster Linie darum, Modelle bestimmter sozialer Prozesse zu finden, die – im Sinne einer eher positivistischen Wissenschaftslogik – sowohl generalisierbar, als auch falsifizierbar sind. Mit 167 Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: International Organization: A State of the Art on an Art of the State, in: International Organization 40:4, S. 753-775, hier S. 768. – 44 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e ihrem vielzitierten Artikel “International Organization: A State of the Art on an Art of the State” haben Kratochwil und Ruggie schon zu Beginn der konstruktivistischen Wende auf die problematischen Hintergrundannahmen dieser Vorgehensweise hingewiesen:168 So scheint es absurd, auf immer weitere Bestätigung oder Widerlegung ausgerichtete Modelle sozialer Praxen entwickeln zu wollen, welche durch die permanente wechselseitige Bedingtheit von Akteur und Struktur per Definition einem ständigen Wandel unterworfen sind.169 Wenn Anarchie das ist, was Staaten daraus machen, erscheint es nur bedingt sinnvoll, einer Theorierichtung, die gerade auf diese Interaktionsprozesse fokussiert, ein überzeitlich gültiges Anarchiemodell abzuverlangen. Speziell im Hinblick auf Normen weisen Kratochwil und Ruggie zudem darauf hin, dass weder die Verletzung einer Norm, noch deren Status als nichtverschriftlichte Regel ihre Existenz widerlegen können und das Kriterium der Falsifizierbarkeit deshalb in diesem Fall unangemessen sei. Natürlich könnte man diesem Umstand Rechnung tragend noch immer versuchen, generalisierende Modelle für diejenigen Zeitspannen zu finden, in denen Akteure und Strukturen relativ stabil reproduziert werden. Dies wird im Falle konstruktivistischer Modellbildung, wie oben gesehen, jedoch meist mit dem Setzen des einen oder anderen Faktors als abhängige bzw. unabhängige Variable verbunden. Auch hiergegen ist innerhalb des konstruktivistischen Lagers Kritik laut geworden, die insbesondere darauf abzielt, soziale Phänomene nicht als Ursachen bestimmter (Akteurs-)Handlungen zu sehen. So argumentieren Kratochwil und Ruggie wiederum am Beispiel von Normen: „…unlike the initial conditions in positivist explanations, norms can be thought of only with great difficulty as ‚causing’ occurrences. Norms may ‚guide’ behaviour, they may ‚inspire’ behaviour, the may ‚rationalize’ or ‚justify’ behaviour, the may express ‚mutual expectation’ about behaviour, or they may be ignored. But they do not effect cause in the sense that a bullet through the heart causes death or an uncontrolled surge in the money supply causes price inflation.”170 168 169 Vgl. Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: International Organization: A State of the Art on an Art of the State, in: International Organization 40:4, S. 753-775, hier insbes. S. 766ff. So weist z.B. Onuf auf den ständigen Wandel speziell von Normen und Regeln hin: „Every time agents choose to follow a rule, they change it – they strengthen it by making it more likely that they and others wil l follow the rule in the future. Every time agents choose not to follow a rule, they change the rule by weakening it, and in doing so they may well contribute to the construction of some new rule.” Gerade der Konstruktivismus sei jedoch prädestiniert, diesen Wandel zu konzeptualisieren: “Constructivism is not a theory of change because it explains change indiscriminately. By definition, everything social changes – everything social. Constructivism does offer a general description of the sites of change. Every rule is an occasion for choice, every choice an incidence of change.” Onuf, Nicholas G. 1994: The Construction of 170 International Society, in: European Journal of International Law 5:1, S. 1-19, hier S. 18f. Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: International Organization: A State of the Art on an Art of the State, in: International Organization 40:4, S. 753-775, hier S. 767. Natürlich machen Kratochwil und Ruggie sich ihre Kritik mit dem Gegenbeispiel eines tödlichen Schusses leicht. Genau zu bestimmen, bei welchen Zusammenhängen man noch am ehesten von Kausalität sprechen kann (schließlich könnte man auch argumentieren, Kategorien wie „individueller Körper“ oder „Tod“ seien sozial konstruiert) und bei welchen dies nicht mehr sinnvoll zu sein scheint, dürfte nur äußerst schwer sein. Glücklicherweise hat uns hier nur die Aussage zu interessieren, dass das Denken in Variablen im Falle der von uns untersuchten Phänomene wenig sinnvoll ist. Vgl. hierzu auch Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International Relations. The Politics of Reality, Cambridge, S. 98f. – 45 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e Warum auf ihre Position als abhängig oder unabhängig festgelegte Variablen in einer Untersuchung sozialer Phänomene schwer zu verorten und damit Kausalbeziehungen kaum zu finden sind, erläuterte ausgerechnet der heute viel gescholtene Wendt in den späten 1990er Jahren.171 Einer typischen Kausalbeziehung zwischen einer unabhängigen Variable X und einer abhängigen Variable Y liegen demnach immer drei einfache Annahmen zu Grunde: X und Y existieren unabhängig voneinander, X geht Y zeitlich voraus und Y wäre ohne X nicht aufgetreten. Untersucht man jedoch eine wechselseitige Bedingtheit, dann verlieren auf jeden Fall die ersten beiden dieser Aussagen ihre Bedeutung, in den meisten Fällen wird auch die dritte sinnlos, wie Wendt am Beispiel des Kalten Krieges (statt an der sonst häufig angeführten Herr/Knecht-Beziehung) zeigt: „The relationship between the factors constituting the social kind ‚Cold War’ and a Cold War is one of identity, in the sense that those factors define what a Cold War is, not one of causal determination. (…) The factors constituting a Cold War do not exist apart from a Cold War, nor do they precede it in time; when they come into being with them, by definition and at the same time.”172 Ersetzt man den Begriff „Kalter Krieg“ durch das Wort „Normerosion“ wird deutlich, dass es sich hier um eine vergleichbare logische Konstellation handelt (s. S. 50 der Arbeit). Ähnlich verhält es sich generell mit Normen, die ja ebenfalls konstitutiv wirken können, aber auch in ihrer regulativen Wirkung nicht (kausal) unabhängig von sie reproduzierenden oder verändernden Akteuren gesehen werden können. Darüber hinaus scheinen regulative Normen sich auch deshalb einem kausalanalytischen Zugriff zu entziehen,173 weil sie ganz im Sinne konstitutiver Logik Handlungsspielräume beschränken oder erweitern, Akteurshandeln jedoch nicht determinieren.174 Eine Theorie, in deren Rahmen solche Phänomene zu fassen wären, kann aber kaum auf der positivistischen Variablenlogik (und –sprache) aufbauen: „Ideally such a theory would define exhaustively the possible ways of acting of state agents, rather than 171 172 173 174 Wendt, Alexander E. 1998: On constitution and causation in International Relations, in: Review of International Studies 24:5, S. 101-117, hier S. 105f. Wendt, Alexander E. 1998: On constitution and causation in International Relations, in: Review of International Studies 24:5, S. 101-117, hier S. 105. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Konstitutionslogik und konstitutive Logik sollten nicht synonym verwendet werden. Während erstere eine wechselseitige Bedingtheit, also eine bestimmte Beziehung zwischen zwei Phänomenen, benennt, bezeichnet letztere die Art und Weise, in der sich komplexe Zusammenhänge beschreiben lassen, welche im Zusammenspiel (aber nicht unbedingt wechselseitig) einen Handlungsraum aufspannen. Allerdings lassen sich Beziehungen, die der Konstitutionslogik unterliegen, nicht kausal, sondern nur im Sinne konstitutiver Zusammenhänge beschreiben. So z.B. Klotz: „International norms, for a constructivist, do not, strictly speaking, determine behaviour since they constitute identities and interests and define a range of legitimate policy options” oder auch Finnemore: „the connection assumed here between norms and action is one in which norms create permissive conditions for action but do not determine action”. S. Klotz, Audie 1995: Norms reconstituting interests: global racial equality and U.S. sanctions against South Africa, in: International Organization 49:3, S. 451-478, hier S. 461 bzw. Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York, S. 153-185, hier S. 158. – 46 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e generate determinate predictions about particular state behaviours.”175 Wie Herborth herausstellt, soll „[d]er so gewendete Strukturbegriff (…) also nicht länger erklären, warum etwas passiert, er soll einen Möglichkeitsraum aufspannen, der jedem staatlichen Handeln konstitutionslogisch vorausgeht.”176 Allerdings ist damit auch bei Wendt das beklagte Verschwinden von agency angelegt, denn die Frage, wie Akteure ihren Handlungsspielraum gegenüber existierenden Strukturen eigenmächtig ausweiten können oder, präziser, wie es ihnen möglich ist, größere Handlungsspielräume, als eine in der Vergangenheit konstruierte und reproduzierte Struktur sie ihnen vorzugeben scheint, wahrzunehmen, lässt sich auch im Rahmen dieses Ansatzes nicht beantworten.177 Allerdings wird in den meisten Beiträgen zu den paradigm wars darauf hingewiesen, dass Forschungsfragen dies nicht notwendigerweise immer reflektieren müssen und statt dessen – immer (mindestens) zwei Fragestellungen möglich sind – eine von außen erklärende und eine von innen verstehende. 178 Die erste Art der Fragestellung ist meist auf die Form „Welche Ursachen hat Y?“ reduzierbar und kann z.B. durch generalisierende Modelle zu beantworten versucht werden. Dass in einem Modell, anders als bei einem Gesetz, meist mehrere UrsacheWirkungs-Phasen in Kausalketten hintereinander geschaltet werden, ändert nichts an der Tatsache, dass den einzelnen Beziehungen ein überzeitlicher Gültigkeitsanspruch innewohnt, der durch immer weitere Reduktion fallspezifischer Besonderheiten gewonnen wird, bis nur noch einige grundlegende Gesetzmäßigkeiten übrig bleiben, welche wiederum an möglichst 175 176 177 178 Wendt, Alexander E. 1987: The Agent-Structure Problem in International Relations Theory, in: International Organization 41:3, S. 335-370, hier S. 365. Für eine ähnlich frühe Auseinandersetzung mit dem Akteur-Struktur-Problem s. Dessler, David 1989: What’s at stake in the agent-structure-debate, in: International Organization 43:3, S. 441-473. Vgl. Herborth, Benjamin 2004: Die via media als konstitutionstheoretische Einbahnstraße. Zur Entwicklung des Akteur-Struktur-Problems bei Alexander Wendt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11:1, S. 61-88, hier S. 65. In der Beschreibung solcher Zusammenhänge greift auch der middle ground eines mit vielen, teilweise verknüpften Variablen operierenden Begriffs komplexer Kausalität zu kurz, denn zum Einen scheint es schwierig, eine als unabhängig definierte Variable an anderer Stelle wieder als durch andere Faktoren beeinflusst zu konzeptionalisieren (vgl. Herborth, Benjamin 2004: Die via media als konstitutionstheoretische Einbahnstraße. Zur Entwicklung des Akteur-Struktur-Problems bei Alexander Wendt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11:1, S. 61-88, hier S. 64) und zum Anderen stellt sich auch bei solchen nach Kausalitäten suchenden Analysen noch immer das sog. „Naturalismusproblem“ (vgl. Mayer, Peter 2003: Die Epistemologie der Internationalen Beziehungen. Anmerkungen zum Stand der „Dritten Debatte“, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus-Dieter/Zürn, Michael (Hg.): Die Neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland, Baden-Baden, S. 47-98, hier S. 54). Obwohl mittlerweile mehrere nicht immer ganz deckungsgleiche Begriffspaare (wie Positivismus, Szientismus oder Rationalismus auf der einen und interpretative oder soziologische Ansätze, Postmoderne und Hermeneutik auf der anderen Seite) Verwendung finden, werden die beiden Grundrichtungen der IBMethoden noch immer meist unter die Erklären-Verstehen-Problematik gefasst, die Hollis und Smith wie folgt umreißen: „In international affairs and throughout the social world, there are two sorts of stories to tell and a range of theories to go with each. One is an outsider’s, told in the manner of a natural scientist seeking to explain the workings of nature (…). The other is an insider’s, told so as to make us understand what the events mean, in a sense distinct from any meaning found in unearthing the laws of nature. (…) ‘Explaining’ is the key term in one approach, ‘understanding’ in the other.” Hollis, Martin/Smith, Steve 1990: Explaining and Understanding International Relations, Oxford, S. 1. Zur ebenfalls sehr populären Unterscheidung von „Warum-“ und „Wie ist es möglich“-Fragen s. Wendt, Alexander E. 1987: The Agent-Structure Problem in International Relations Theory, in: International Organization 41:3, S. 335-370, hier S. 363. – 47 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e vielen Fällen (large-n) überprüft werden sollten. Das genaue Gegenteil solcher auf UrsacheWirkungs-Zusammenhänge ausgerichteter Fragen sind solche nach den Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Phänomene, wie auch wir sie uns in unserer Analyse stellen. Hier wird eine meist viel breitere Perspektive auf bestimmte Fälle eingenommen, die zum Ersten gerade nicht auf Generalisierbarkeit ausgerichtet ist, weil die gewählten Fälle nicht ohne weiteres auf wenige, voneinander isolierbare Faktoren reduzierbar erscheinen. Zum Zweiten erscheinen die gewählten Fälle an sich bereits als so einzigartig und überraschend, dass das Aufzeigen der sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren, die das Eintreten eines speziellen Falles als eine Alternative unter vielen ermöglicht haben, zum Selbstzweck wird. Die vormaligen fallspezifischen Besonderheiten, die uns auch Aufschluss über (frühere) mögliche Handlungsalternativen geben können, rücken hier also ins Zentrum der Untersuchung. Der tiefere Sinn von Fallstudien und das Problem der Vorannahmen Eine empirische Untersuchung der Prozesse wechselseitiger Konstituierung wie wir sie anstreben, ist am ehesten im Rahmen von Tiefenfallstudien möglich. Diese sind im Sinne einer so genannten thick description um die Berücksichtigung möglichst vieler Faktoren, die zu einer bestimmten Handlung geführt haben und dabei alternative Handlungen aus dem Blickfeld haben rücken lassen, bemüht. Da die Gewinnung von Modellen und damit die Generalisierbarkeit der Fallstudien kein wichtiges Kriterium darstellt, verläuft auch die Fallauswahl anders, als bei den meisten Fallstudien üblich: Hier ist es nicht wichtig, auf die Wahl möglichst kontrastierender oder möglichst ähnlicher Fälle zu achten, aus denen sich dann weitergehende Schlüsse ziehen lassen würden. Ebenso wenig müssen die Fallstudien den Kriterien von hard cases beim Testen einer Theorie (oder abgeleiteter Hypothesen) genügen. Dass ihr Ausgang ganz offensichtlich in eine bestimmte Richtung weist, kann vielmehr zum Kriterium der Fallauswahl gemacht werden. So ist in unserer Untersuchung bereits von Beginn an klar, dass es sich bei den analysierten Fällen um besonders offensichtliche Prozesse der Normerosion handelt – denn die Frage, die wir stellen, ist eine nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Normerosion und eben nicht ob oder warum es zu einer Normerosion kam, was in die Richtung einer positivistisch-orientierten Untersuchung weisen würde. In politikwissenschaftlichen Methodenbüchern wird durchaus darauf hingewiesen, dass Fallstudien neben dem Testen von Hypothesen auch der Theorieentwicklung dienen können, dies ist jedoch meist im Sinne der oben beschriebenen Modellbildung gemeint.179 Solchen Untersuchungen liegen bereits bestimmte Hypothesen zu Grunde, die im Feld abgetestet werden, evtl. verworfen oder angepasst und schließlich zu einem Modell zusammengefügt werden sollen.180 Da wir Fallstudien nicht als Mittel zu einem anderen Zweck (im Sinne der 179 180 S. z. B. Van Evera, Stephen 1997: Guide to Methods for Students of Political Science, Ithaca, S. 64f. S. Von Alemann, Ulrich/Tönnesmann, Wolfgang 1995: Grundriß Methoden in der Politikwissenschaft, in: Von Alemann, Ulrich (Hg.) 1995: Politikwissenschaftliche Methoden. Grundriß für Studium und Forschung, Opladen, S. 17-138, hier S. 60. – 48 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e Hypothesenprüfung oder Modellbildung) sehen, sondern primär an den Besonderheiten der Fälle selbst interessiert sind, haben wir uns für einen explorativen Zugriff entschieden. Als Ausgangspunkt der Untersuchung dient uns dabei eine theoretische Lücke, welche in der Empirie ihre Entsprechung findet und von der aus wir einen explorativen „Sprung ins kalte Wasser“ wagen, ohne uns den Blick auf die Eigenheiten unserer Fälle durch vorgefertigte Annahmen verstellen zu wollen. So erscheint es uns vielversprechender, uns erst einmal möglichst unvoreingenommen anzusehen, welche Prozesse und Entwicklungen sich im Feld finden lassen, als mit einem bestimmten Modell der Normerosion ins Feld zu gehen – z.B. um zu sehen, ob dieser Prozess im Sinne eines Norm Life Cycle rückwärts als stufenhaft beschrieben werden kann. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass unsere Fälle in die Richtung eines solchen Rückwärtsprozesses weisen (obwohl wir dies für sehr unwahrscheinlich halten), doch wäre dies dann das Ergebnis einer Untersuchung, die zunächst das Feld „sprechen“ lässt. Wie an der Anmerkung über das, was wir für unwahrscheinlich halten, bereits deutlich geworden sein dürfte, können natürlich auch wir nicht ohne Vorannahmen ins Feld gehen. Zwar wollen wir keine Hypothesen mit unserer Untersuchung testen, gehen jedoch von theoriegeleiteten Vorannahmen (insbesondere natürlich vom Vorhandensein von Normerosionsprozessen und einer grossen Bedeutung von Akteurshandeln) aus, in deren Rahmen wir die Analyse durchführen und die uns bereits einen bestimmten theoretischen Blickwinkel vorgeben sowie einen theoretischen Hintergrund für die spätere Interpretation darstellen. Darüber hinaus unterliegen natürlich auch wir als Angehörige einer sich als nunmehr „zivilisiert“ empfindenden Nation den Auswirkungen der beiden Tabus, was sich insbesondere in den einleitenden Kapiteln über die Entstehung und Wirkung derselben niedergeschlagen hat. Deshalb versuchen wir, unsere Vorgehensweise bei der Auswahl, Auswertung und Interpretation der Daten soweit wie möglich offen zu legen. Um methodisch kontrolliert zu nachvollziehbaren Ergebnissen zu kommen, haben wir ein an unserem Forschungsinteresse ausgerichtetes Vorgehen entwickelt, welches wir im Wechselspiel mit der Analyse relevanter Untersuchungsdokumente zugespitzt haben. Zuvor haben auch wir, wie üblich, gewisse Einschränkungen des Untersuchungsfeldes vornehmen müssen – nämlich einmal, indem wir den Prozess der Normerosion primär über das Handeln wichtiger Akteure nachzuzeichnen suchen und zum Zweiten, indem wir auf bestimmte Aussagen dieser Akteure fokussieren. Akteurszentriertheit und ein kleines Akteur-Struktur-Problem Tiefenfallstudien bieten den Raum, das Handeln einzelner Akteure oder Akteursgruppen näher in den Blick zu nehmen. Dies ist für uns besonders wichtig, da im Zentrum unserer Aufmerksamkeit der Prozess steht, in dem Akteure wieder Handlungsmacht über eine strukturähnlich wirkende Norm gewinnen. Dabei ist es, ähnlich wie oben am von Wendt angeführten Beispiel des Kalten Krieges bereits gesehen, unmöglich, eine Normerosion selbst – 49 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e vom Prozess der sie auslösenden Akteurshandlungen zu trennen – die Normerosion fällt mit dem Prozess des Infragestellens einer Norm in eins, so dass nicht eines als dem anderen vorgelagert konzeptualisiert werden könnte. Wenn der Prozess der Normerosion sich am ernsthaften Infragestellen der untersuchten Tabus von immer mehr Akteuren zeigt, wird das Akteurshandeln für uns zur zentralen Kategorie. Wie oben bereits skizziert, gehen wir davon aus, dass eine Normerosion immer weiter um sich greift und mehr und mehr Akteursgruppen an der Richtigkeit eines Tabus zu zweifeln beginnen, während wieder andere danach streben, die Norm – durch Versuche, die laufenden Diskussionen zu unterbinden oder mit Hilfe neuer Begründungen – wieder zu stärken. Auf dieser Ebene lässt sich ein direktes Wechselspiel von (handlungsbeschränkender) Norm und (um Erweiterung des Handlungsspielraums bemühtem) Akteur beobachten. Auf einer höher gelagerten Ebene betrachten wir – im Sinne eines akteurszentrierten Ansatzes – Strukturen jedoch nicht mehr direkt, sondern nur noch durch die Augen der involvierten Akteure: Begründet ein Akteur eine gegen die absolute Gültigkeit einer Norm gerichtete Aussage z.B. mit der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 veränderten Weltlage, so ist dieses Begründungsmuster für uns natürlich von großem Interesse. Wir nehmen jedoch keine Vogelperspektive auf Zusammenhänge zwischen solchen „Überstrukturen“ und Akteurshandeln ein, etwa, indem wir als Außenstehende die Ereignisse vom 11. September 2001 als ausschlaggebend für die nachfolgende Entwicklung der Normerosion bezeichnen würden. Strukturen – außer den strukturähnlich wirkenden Tabus selbst – nehmen wir also nur dann in den Blick, wenn ein Akteur dies selbst tut. Hier könnte uns zwar vorgeworfen werden, wir tappten nur von der anderen Seite in die Falle des Akteur-Struktur-Problems, wir sehen jedoch keine Möglichkeit, auch diese höhere Strukturebene noch gleichberechtigt in unsere Analyse einzubeziehen. Diskursanalyse „light”: Method follows function Da wir nicht auf compliance fokussieren und uns die Frage der Normeinhaltung nicht primär beschäftigt, stehen nicht die Taten der untersuchten Akteure im Vordergrund unserer Untersuchung, sondern ihre Aussagen.181 Da Akteure nur mit (andere überzeugenden) Argumenten ein Tabu infragestellen können, drängt sich eine auf Argumentationsstrukturen ausgerichtete Analyse geradezu auf. Uns interessiert, wie und welche vorgebrachten Argumente, die zu einer Normschwächung führen, bei anderen Akteuren verfangen, so dass diese ebenfalls an einem Tabu zu zweifeln beginnen. Das Augenmerk liegt hier also zunächst auf dem Prozess des argumentativen Austausches zwischen Akteuren. Dabei geht es uns 181 Diskursanalytisch übersetzt hieße das, dass wir uns im Dreieck von Dispositiven auf die Untersuchung diskursiver Praxen (also der Diskussion um eine Legitimierung von Folter in bestimmten Situationen) verlegen, während nicht-diskursive Praxen (Foltern selbst) oder Vergegenständlichen (Einrichtung von Gefangenenlagern in rechtsfreien Räumen, in denen gefoltert werden darf) nur sekundäre Bedeutung haben. Vgl. Jäger, Siegfried 2001: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, S. 81112, hier S. 106f. – 50 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e allerdings weder darum, exakt nachzuzeichnen, wer wann was gesagt und wer welches Argument von wem übernommen hat, noch um die Entwicklung eines Stufenmodells, wie etwa der Verlagerung einer Debatte aus der politischen in die öffentliche Sphäre, um mehr AnhängerInnen für das Kippen eines Tabus zu mobilisieren, sondern um das Herausstellen besonders relevanter Begründungsmuster, die den beteiligten Akteuren die Möglichkeit und Notwendigkeit der Ausweitung eigener Handlungsspielräume auf Kosten der jeweiligen Norm vor Augen führen. Obwohl auch wir uns primär auf die gedruckte Version von Aussagen konzentrieren, ist es uns mit diesem Ziel nicht möglich, mit den in der Politikwissenschaft etablierten Methoden der Dokumenten- oder Inhaltsanalyse zu arbeiten, da diese nur auf den Sinngehalt eines abgeschlossenen Dokuments oder gar Dokumentenabschnitts ausgerichtet sind, während uns die Interaktion interessiert, die mit und zwischen den von uns untersuchten Dokumenten stattgefunden hat.182 Die übliche Methode, um solche sprachlichen Interaktionsmuster in den Blick zu nehmen, ist die Diskursanalyse: „Textanalyse wird zur Diskursanalyse dadurch, dass Texte als Elemente eines überindividuellen sozio-historischen Diskurses begriffen werden: ‚Diese Elemente bezeichne ich als Diskursfragmente. Sie sind Bestandteile bzw. Fragmente von Diskurssträngen (=Abfolgen von Diskursfragmenten mit gleicher Thematik), die sich auf verschiedenen Diskursebenen (= Orte, von denen aus gesprochen wird, also Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag etc.) bewegen und in ihrer Gesamtheit den Gesamtdiskurs einer Gesellschaft ausmachen, den man sich als ein großes wucherndes Gewimmel vorstellen kann; zugleich bilden die Diskurse (bzw. dieses gesamte diskursive Gewimmel) die jeweiligen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf des gesamtgesellschaftlichen Diskurses.’“183 Trotz der Ansicht, Diskursanalyse sei eigentlich gar keine Methode, sondern vielmehr „eine Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände ”,184 die viele verschiedene Vorgehensweisen in sich vereine, scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass sich, wer Diskursanalyse betreibt, zwei grundlegende Annahmen zu eigen macht, von denen wir einer uneingeschränkt zustimmen und die zweite zur Hälfte umsetzen – weshalb wir uns dem Vorwurf, gar keine „richtige“ Diskursanalyse durchzuführen, gerne stellen.185 Wir 182 183 184 185 S. Mayring, Philipp 1995: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, Weinheim. Ähnlich verhält es sich mit der Argumentationsanalyse, die auf die Untersuchung der inneren Logik, des Aufbaus und der anschließenden Typisierung von Einzelargumenten, nicht aber eines argumentativen Austausches ausgerichtet ist. S. statt vieler Govier, Trudy 2000: A Practical Study of Argument, Calgary. Jäger, Siegfried 1999: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster, S. 177, zitiert nach: Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 33. Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 8. Wir verwenden den Begriff „Diskursanalyse” dennoch, da wir genau das hiermit bezeichnete tun – nämlich Diskurse analysieren – und uns gerade deshalb nicht einleuchtet, warum dieses Schlagwort nur von einer bestimmten ForscherInnengruppe „gepachtet” sein sollte. Dies gilt umso mehr, als die populäre Formel Habermas’, nach der ein Diskurs eine „durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Gültigkeit hin untersucht werden ” darstellt und Habermas weiter ausführt, dass wir, um Diskurse zu führen „ in gewisser Weise aus Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen heraustreten ” müssen, worunter auch fällt, dass „Tatsachen wie Normen unter dem Gesichtspunkt möglicher Existenz bzw. Legitimität betrachte[t] (d.h. hypothetisch behandel[t]) [werden] können ” – was trefflich auf unsere Unternehmung passt. Habermas, – 51 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e sehen Diskursanalyse gerade als Methode, d.h. als Mittel zur Erreichung eines bestimmten (Forschungs-)Zwecks und ordnen damit, wie eingangs bereits erwähnt, nicht unser Forschungsinteresse einer Methode unter, sondern richten umgekehrt diese an unseren Interessen aus. Zunächst stimmen wir jedoch dem von Diskursanalytikern breit geteilten Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Realität zu – auch hier gilt für uns das Motto back to the constructivist roots, etwa zu Onuf als einem Urvater des aktuellen IB-Konstruktivismus, der darauf hinwies, dass „talking is undoubtedly the most important way that we go about marking the world what it is”,186 weshalb „a constructivist view denies that world and words are independent; it sees them as mutually constitutive.”187 Dies ist gerade für die Untersuchung von Normen und Regeln zentral, denn „rules are speech acts which depend on successful communication. They function only if they achieve the desired effect with the addressee ”.188 Wie Zehfuß mit Verweis auf Onuf feststellt und im Blick auf eine konstitutive Wirkung von Normen weiter ausführt: „In basic terms, human beings construct reality through their deeds. Crucially, these deeds may be speech acts. Speech acts in turn may, through repetition, be institutionalized into rules and thereby provide the context and basis for meaning of human action.“189 Dennoch sind auch heute noch Akteure im (Sozial-)Konstruktivismus meist „stumm“, was Fierke in der Angst vor dem Vorwurf begründet sieht, Konstruktivisten beschäftigten sich „nur“ mit Sprache, während Positivisten sich mit „wirklichen Tatsachen“ auseinandersetzen könnten.190 Dabei sei diese Problembeschreibung bereits Teil des Problems selbst – denn nach urkonstruktivistischer Überzeugung, nach der eine wahrgenommene Wirklichkeit ja erst durch Sprache konstruiert werden kann, würde eine Unterscheidung zwischen Sprechen und Handeln obsolet. Im Gegensatz zu einem positivistischen Weltbild, das Sprache nur als Medium der Abbildung von Welt konzeptualisiert, müssen sich Konstruktivisten demnach das Konzept des Sprechhandelns zu eigen machen, welches auf die illokutionäre Kraft der Sprache achtet, etwas mit Sprache zu tun.191 186 187 188 189 190 191 Jürgen 1973: Wahrheitstheorien, in: Fahrenbach, Helmut (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen, S. 211-265, hier S. 214. Onuf, Nicolas G. 1998: Constructivism: A User’s Manual, in: Kubálková, Vendulka/Onuf, Nicholas G./Kowert, Paul (Hg.): International Relations in a Constructed World, Armonk, S. 58-78, hier S. 59. Onuf, Nicolas G. 1989: World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations, Columbia, S. 94. Vgl. Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International Relations. The Politics of Reality, Cambridge, S. 17. Vgl. Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International Relations. The Politics of Reality, Cambridge, S. 151. Fierke, Karin 2003: Breaking the Silence. Language and Method in International Relations, in: Debrix, François (Hg.): Language, Agency, and Politics in a Constructed World, London, S. 66-86, hier S. 69. Diez, Thomas 1999: Speaking ‚Europe’: the politics of integration discourse, in: Journal of European Public Policy 6:4, S. 598-613, hier S. 600. Diez weist allerdings darauf hin, dass die von Austin aufgeworfene Frage „how to do things with words? ” heute eher in der Form “how are things done by words?” gestellt wird, in – 52 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e Diesem Ansatz folgend, fragen sich DiskursanalytikerInnen meist, was im Rahmen eines bestimmten Diskurses geschieht, d.h. welche von verschiedenen Beschreibungen (und damit auch Konstruktionen) von Welt durch einen Diskurs gefördert oder unterdrückt werden – z.B., indem sie auf bestimmte Machtkonstellationen fokussieren, die durch einen herrschenden Diskurs etabliert, reproduziert oder unterlaufen werden.192 Ihr primäres Interesse gilt daher der Suche nach tieferliegenden Sinnstrukturen, die den untersuchten Dokumenten inhärent sind und über die sie eine mögliche „Neukonstruktion von Welt“ zu entschlüsseln suchen. Von dieser Frage, was durch einen neuen Diskurs konstruiert oder etabliert wird, weichen wir ganz klar ab, da wir dieses – die Normerosion – ja bereits klar vor Augen haben. Wir sehen es zunächst als überraschend an, dass es überhaupt einen Diskurs über „Tabuthemen“ gibt und fragen uns im Anschluss daran, wie sich Normerosion durch bestimmte Diskurse vollzieht. Dementsprechend beginnen wir unsere Analyse auch nicht mit der Wahl eines Diskurses, der dann Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung ist und aus dessen Analyse sich nach und nach eine genaue Forschungsfrage herauskristallisiert, sondern gehen mit einem bereits recht weit präzisierten Anliegen ins Feld, welches wir mithilfe der Techniken der Diskursanalyse sehr gut weiter strukturieren können. Letztlich geht es aber auch uns um die Frage „…nach den Deutungsstrukturen, die in einem Diskurs aufgebaut und im zeitlichen Verlauf stabilisiert werden oder modifiziert werden, [welche] auch zur Analyse der eingesetzten sprachlich-rhetorischen Mittel [führt], wenn es darum geht, Strategien und Mechanismen der Resonanzerzeugung in einem soziokulturellen Kontext zu analysieren.“193 Genauer gesagt bauen auch wir auf dem diskursanalytischen Grundsatz auf, dass „[n]icht alles was sich sagen ließe, (…) gesagt [wird]; und nicht überall (…) alles gesagt werden [kann]”,194 was sich aufs beste mit unserer Annahme von zunächst nicht hinterfragbaren Tabus verknüpfen lässt. Darüber hinaus machen wir uns zunutze, dass „ Diskursanalyse (…) auch Strategien [erfaßt], mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeschränkt wird ”, wobei solche Strategien „auf Aussagen [verweisen], die zu einem bestimmten Zeitpunkt 192 193 194 der nicht mehr auf eine bestimmte Intention eines Sprechers, sondern vielmehr auf die Untrennbarkeit von Sprache und Handeln hingewiesen wird. Diesen Ansatz verfolgt v. a. die kritische Diskursanalyse im Anschluss an Foucault. Strenggenommen untersuchen wir mit der Fokussierung auf zwei von uns schon im Vorfeld recht klar abgegrenzte Themengebiete keine vollständigen „diskursiven Gewimmel“, sondern nur Diskursstränge im Sinne „[t]hematisch einheitliche[r] Diskursverläufe ”, die sich wiederum aus Diskursfragmenten, also den Passagen von Texten, die sich dem Thema eines Diskursstranges widmen, zusammensetzen. Der Einfachheit halber wird im Folgenden aber weiterhin von „Diskursen“ und „Texten“ die Rede sein. Jäger, Siegfried 2001: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, S. 81-112, hier S. 97. Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 68. Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 45. – 53 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e in einer bestimmten Gesellschaft noch nicht oder nicht mehr sagbar sind, da es besonderer ‚Tricks’ bedarf, wenn man sie doch äußern will, ohne negativ sanktioniert zu werden.” 195 Auch zwei andere zentrale Punkte der frühen Foucault’schen Diskursanalyse passen sich exakt in unser Forschungsdesign ein, nämlich erstens die Berücksichtigung des „Orts des Aussagens, d.h. den historisch, sozial und kulturell bestimmten Ausgangspunkt (nicht: Ursprung) einer Serie ähnlicher Aussagen”, welche in unserem Fall ein Tabu wieder in Frage zu stellen erlauben, und daran anschließend, zweitens, die Frage nach der „Einschreibung, d.h. Wiederholung ähnlicher Aussagen”, welche „durch deren Gleichförmigkeit ein neues Ordnungsschema bzw. eine diskursive Regelmäßigkeit entsteh[en lässt], ,nach deren Muster die Aussagen im Feld dieses Diskurses generiert werden’ ”.196 Im Rahmen dieser Frage ist Diskursanalyse für eine Reihe von Analysepunkten sensibel, die an den vorliegenden Dokumenten überprüft werden. Welche wir uns davon zu eigen machen, soll im nächsten Abschnitt geklärt werden, in dem wir die praktische Anwendung unserer methodischen Überlegungen erläutern. 3.2.2 Konkrete Umsetzung: Was wird wie untersucht? Begründung der Fallauswahl Die Durchführung einer Diskursanalyse „light” oder überhaupt einer thick description von Fallstudien ist im Rahmen einer Magistraarbeit nur bei einer stark begrenzten Anzahl von Fällen möglich. Da, wie oben dargelegt, unsere Untersuchung aber nicht auf Generalisierbarkeit abzielt oder Hypothesen an einer großen Zahl von Fällen abprüfen muss, stellt dies für uns kein Problem dar. Eine Beschränkung auf zwei Fallstudien lag nicht nur angesichts der gemeinsamen Arbeit zweier Magistrakandidatinnen, sondern auch deshalb nahe, weil es nur sehr wenige Fälle der Erosion internationaler Normen, bzw. tatsächlich internalisierter Tabus zu geben scheint. Da gerade die Offensichtlichkeit des Erosionsprozesses für uns jedoch ein zentrales Kriterium war, um klar zeigen zu können, dass internalisierte Normen erodieren und um möglichst leicht nachvollziehen zu können, wie dies vonstatten geht, haben wir uns auf recht bekannte Beispiele verlegt, die sich – im Sinne der Nachvollziehbarkeit – zudem in einem Sprachraum abspielten, der uns die Analyse relevanter Dokumente erleichterte. Neben diesen Kriterien stellte sich an die von uns untersuchten Normen nur noch die Anforderung, dass sie von der einschlägigen Sekundärliteratur explizit als Tabus bezeichnet wurden. Vor diesem Hintergrund haben wir uns für die Analyse des nuklearen Tabus und des Folterverbotes entschieden, die, wie in den Kapiteln zur Entstehung 195 196 Jäger, Siegfried 2001: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, S. 81112, hier S. 83f. Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 48. – 54 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e und Wirkung dieser Tabus gezeigt wird, eindeutig als internalisierte Normen klassifiziert wurden und die heute wieder vermehrt in Frage gestellt werden. Die Tatsache, dass die Infragestellung beider Tabus zunächst in den USA aufgetreten ist, kann nur zum Teil als Zufall gewertet werden: Zum Einen liegt es nahe, dass USA als Mitglied einer „zivilisierten“, „westlichen“ Staatengemeinschaft besonders viele internationale Normen internalisiert haben. Zum Anderen meinen die Vereinigten Staaten es sich als einzig verbliebene Supermacht leisten zu können, etablierte und international geteilte Überzeugungen heute wieder infrage zu stellen, ohne sofortige Sanktionen anderer Staaten oder Institutionen (bzw. deren Auswirkungen) fürchten zu müssen. Allerdings sollte an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass wir nicht absichtlich aktuelle Fälle aus den USA gewählt haben, um die Überzeugungen der dortigen Regierung normativ zu hinterfragen, sondern uns schlicht keine plausiblen Beispiele aus anderen Ländern mit ähnlich leicht zugänglicher Dokumentenlage bekannt sind. Ebenso wenig ist es uns im Rahmen dieser Arbeit möglich, eine Normerosion auf zwischenstaatlicher oder globaler Ebene (wie z.B. im Rahmen der Vereinten Nationen) nachzuzeichnen, da Normerosionen zunächst innenpolitisch angestoßen zu werden scheinen (hier ist uns wiederum kein Gegenbeispiel bekannt) und sich dann erst in einem Wechselspiel mit anderen internationalen Akteuren oder auch weiterhin hautsächlich auf innenpolitischer Ebene entwickeln.197 Zum Zeitpunkt unserer Fallauswahl war eine weitergehende internationale Erosion der von uns untersuchten Tabus zwar bereits absehbar, eine intensive Analyse dieser Ausweitungsmechanismen würde jedoch den Rahmen unserer Arbeit sprengen. Aus diesem Grund spielt sich unsere Untersuchung ausschließlich auf der innenpolitischen Ebene der USA ab, was, wie im Folgenden zu sehen sein wird, nicht an Komplexität zu wünschen übrig lässt. Eingrenzung zu untersuchender Akteure und Primärquellen Die für uns zentrale Feststellung, dass ein kritisches Hinterfragen der Gültigkeit der von uns untersuchten Normen früher außerhalb der Grenzen eines Diskurses lag und unter die „Verbote des Sagbaren” fiel, kurz, dass wir es tatsächlich mit Tabus zu tun haben, plausibilisieren wir zum einen anhand einschlägiger Sekundärliteratur, die die Zeiträume der Entstehung der jeweiligen Tabus mit abdeckt. Die aus dieser Literatur gewonnenen Einführungen in die beiden Fallstudien werden gleichzeitig auch als Interpretationsbasis für 197 Damit handeln wir auch in Übereinstimmung mit den Forderungen Kratochwils, der davon ausgeht, dass „[reproduction of the practices of international actors (i.e., states) depends on the reproduction of practices of domestic actors (i.e., individuals and groups). Therefore, fundamental changes in international politics occur when beliefs and identities of domestic actors are altered thereby also altering the rules and norms that are constitutive of their political practices ”, weshalb er sich klar gegen die häufig praktizierte Vernachlässigung innenpolitischer Akteure richtet. Koslowski, Rey/Kratochwil, Friedrich V. 1994: Understanding Change in International Politics. The Soviet Empire’s Demise and the International System, in: International Organization 48:2, S. 215-247, hier S. 216. Vgl. hierzu auch Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International Relations. The Politics of Reality, Cambridge, S. 94f. – 55 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e die Auswertung unserer Primärdokumente dienen. Zum Anderen wählen wir einen recht weiten Untersuchungszeitraum, der einige Jahre vor dem (von uns vermuteten) Einsetzen der Normerosion beginnt, um zu zeigen, dass es in diesen Jahren tatsächlich keinerlei ernsthafte Diskussionen gab, die eine Tabuschwächung bedeutet hätten. Für die Suche nach Primärmaterialien haben wir uns hier für das Jahr 1995 entschieden, also das Jahr, in dem die unbefristete Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages beschlossen worden war und die Ratifizierung der UN-Antifolterkonvention durch die Vereinigten Staaten etwa ein Jahr zurück lag, so dass die in diesem Dokument geforderten Schritte zur Umsetzung der (Rechts-)Norm auf nationaler Ebene hätten initiiert sein müssen. Die Frage, wann die untersuchten Normerosionen einsetzen, lassen wir bewusst offen – das Aufzeigen dieses Zeitpunktes und woran wir ihn festmachen können, soll vielmehr ein Ergebnis unserer Studie sein. Anders verhält es sich mit der Wahl des Endpunktes der Untersuchung: Wie bereits bei der Erläuterung der Fragestellung angeführt, forschen wir an einem nicht abgeschlossenen Prozess, dessen Ausgang (endgültige Enttabuisierung oder Wiedererstarken der Norm) noch offen ist, so dass die Auswahl eines Endpunktes besonders schwierig (um nicht zu sagen willkürlich) zu sein scheint. Im Falle des Folterverbots haben wir uns – auch aufgrund der gewaltigen auszuwertenden Textmenge – auf den 16.12.2005 festgelegt, den Tag, an dem Präsident Bush eine Vorlage des Kongresses zum Verbot von Folter unterzeichnete – jedoch mit erheblichen Einschränkungen, nach denen das Folterverbot seine absolute Gültigkeit nicht wiedererlangt hat. Da die wichtigsten DiskursteilnehmerInnen sich jedoch spätestens nach dem Bekanntwerden einiger Regierungsmemoranden zur Legalisierung von Folter im Herbst 2004 positioniert hatten und nach diesem Ereignis kaum noch neue Argumente fielen, wurden Dokumente aus dem Jahr 2005 jedoch nur kursorisch ausgewertet. Im Falle des nuklearen Tabus bot sich hierzu ebenfalls das Ende des Jahres 2005 an, hat doch hier die Administration nach einer erneuten Ablehnung der für die Forschung an mini-nukes geforderten Gelder durch den US-Kongress angekündigt, dennoch nicht von ihren Plänen zum Bau solcher Bomben abrücken zu wollen. Während des Untersuchungszeitraumes selbst sind wir hauptsächlich auf die Analyse von Primärquellen angewiesen, da wir nur so den Prozess der Formierung von Diskurskonstellationen und -koalitionen, die ein Tabu infrage stellen,198 direkt nachvollziehen können und Sekundärliteratur, die uns diese Aufgabe zum Teil abnehmen würde, aufgrund der kurzen Zeitspanne, die uns von den untersuchten Ereignissen trennt, in nur sehr begrenztem 198 Als Diskurskoalition verstehen wir im Anschluss an Hajer „ eine Gruppe von Akteuren, die aus einer Reihe von Gründen dazukommen, ein bestimmtes Set von Story-Lines zu verwenden ”, wobei story-lines „ ein knackiges Statement, das die Erzählung [also das diskursive Anliegen einer Gruppe, SoSchi] zusammenfasse, das Leute als eine Art Kurzform in der Diskussion benutzen ”, darstellt. In unserem Fall wären solche storylines etwa die fehlgeschlagene Bombardierung der Höhlen von Tora Bora in der Diskussion um mini-nukes oder das ticking bomb scenario im Fall der Folter, s. S. 267 und 190 der Arbeit. Hajer, Maarten 2004 [2003]: Argumentative Diskursanalyse. Auf der Suche nach Koalitionen, Praktiken und Bedeutung, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis, Wiesbaden, S. 271-298, hier S. 277. – 56 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e Umfang vorliegt – sie kann, als Teil des Diskurses, zugleich ebenfalls Gegenstand der empirischen Untersuchung werden. Auch wenn für uns der Austausch bestimmter Argumente zwischen verschiedenen Akteuren zentral ist, ist es uns natürlich nicht möglich, tatsächlich alle für die Normerosion wichtigen Akteure als Individuen zu betrachten.199 Deshalb haben wir sich zum Tabu äußernde Akteure in die Gruppen MedienvertreterInnen, MitarbeiterInnen bedeutender Think Tanks, UnterstützerInnen einschlägiger Interessengruppen wie NGOs sowie in Mitglieder der Legislative (US-Kongress), der Judikative (Supreme Court) und der einflussreichen US-Administration eingeteilt, auf deren jeweilige politische Stellung im nächsten Kapitel eingegangen wird. Eine herausgehobene Stellung kommt natürlich dem USPräsidenten zu, der als Einzelperson der – soweit möglich – ebenfalls untersuchten breiten Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit gegenübersteht. Auch mit dieser Einschränkung wäre der Korpus auszuwertender Dokumente für unsere Untersuchung jedoch noch viel zu groß, so dass wir nicht von vornherein alle relevant erscheinenden Aussagen der in den Prozess der Normerosion involvierten Akteure über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in den Blick nehmen können. Dies ist für uns aber auch nicht unbedingt nötig, da wir ja primär nach Argumenten suchen, die den Erosionsprozess vorantreiben, d.h., mehrere Akteure erreichen und damit einen weitergehenden Einstellungswandel der Norm gegenüber zur Folge haben. Die Annahme, dass solche an andere gerichteten Argumente primär über Medien ausgetauscht werden, liegt nahe. Deshalb machen wir die mediale Verbreitung normbezogener Argumente zum Ausgangspunkt eines Schneeballsystems zur Dokumentensuche, durch das wir uns zu weiteren wichtigen Dokumenten wie Regierungserklärungen, Protokollen über (ExpertInnen)Anhörungen im US-Kongress oder Strategiepapieren führen lassen, die im entsprechenden Grundlagenartikel aufgegriffen werden.200 Im Sinne eines Wechselspiels von der Erstellung eines Textkorpus und fortschreitender Analyse vorliegender Dokumente schließen wir jedoch nicht aus, unsere Untersuchung auf weitere Dokumente, die in den Medien nicht angeführt werden (etwa interne Think Tank-Papiere, Regierungsargumentation waren) auszuweiten die oder Grundlage zunächst in einer bestimmten den Textkorpus aufgenommene Dokumente wieder auszuschließen, sollten sie sich als nicht relevant herausstellen, wie es auch bei „normalen“ Diskursanalysen üblich ist.201 Eine ungewollte Einschränkung ist, dass wir uns bei der Auswahl zu analysierender Dokumente auf die Printmedien beschränken müssen, da es keine (kostenfreien oder wenigstens -günstigen) Archive für relevante Fernsehsendungen gibt. Dies ist umso 199 200 201 Etwa durch Interviews, wie sie bei explorativem Vorgehen häufig Verwendung finden. Wird beispielsweise über eine Rede des Präsidenten in einem Leitartikel geschrieben, so sehen wir uns diese Rede auch im Original an und suchen darin nach weiteren Hinweisen. Finden wir einen für uns wichtigen Gastkommentar eines Professors, werden wir uns weitere seiner Publikationen ansehen, soweit sie relevant erscheinen. Auch Querverweisen auf Artikel anderer Zeitungen oder Zeitschriften wird in diesem Schneeballsystem natürlich nachgegangen. Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 81. – 57 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e ärgerlicher, als ein Großteil gerade der US-Bevölkerung das Fernsehen als primäres Informationsmedium ansieht, während die Zahl der Zeitungsleser vergleichsweise gering ist.202 Diesen Umstand haben wir abzumildern versucht, indem wir die Zeitung mit der höchsten Auflage der USA, die von einer sehr breiten Leserschaft profitiert, nämlich USA Today, zu einer der drei Ausgangsquellen unserer Analyse machen. Die anderen beiden Zeitungen, die Washington Post und die New York Times gelten als USA Today gegenüber eher linkslastig und elitenzentriert, obwohl auch sie natürlich an ein möglichst breites Publikum gerichtet sind. Da diese Zeitungen aber immer wieder Foren qualitativ hochwertigen Meinungsaustausches für verschiedene gesellschaftliche Gruppen waren, erwarten wir uns hier besonders viele Ausgangspunkte für unser Schneeballsystem.203 Da wir im Sinne eines explorativen Zugriffs keinerlei festgelegtes Analyseraster mit in die Untersuchung genommen, sondern unseren speziellen Zugriff erst im Wechselspiel mit dem Feld entwickelt haben, wählten wir als Einstieg in die Auswertung unserer Primärquellen je zwei vielversprechende Artikel aus jeder der drei Zeitungen und jedem Untersuchungsjahr, aus deren Analyse wir eine Strukturierung für die weiterhin festzulegenden Analyseschritte gewinnen konnten.204 Dabei sei nicht verschwiegen, dass wir uns hierbei zum Teil an den von Keller vorgeschlagenen Eckposten zur Feinanalyse von Daten im Rahmen einer Diskursanalyse orientierten, die wiederum an die Foucault’sche „interpretative Analytik” angelehnt sind und als drei Kernpunkte der Untersuchung eines Dokuments die „Analyse seiner Situiertheit und materialen Gestalt, die Analyse der formalen und sprachlichrhetorischen Struktur und die interpretativ-analytische Rekonstruktion der Aussageinhalte ” vorsieht.205 Aufgeschlüsselt und auf unsere Analyse bezogen bedeutet dies für uns die – allerdings nicht für alle Dokumente relevanten – Fragen nach (a) Materialart und Umfang eines Textes, (b) dessen AuftraggeberIn, AutorIn, primäre AdressatInnen und ggf. weiteres Publikum, (c) den breiteren Kontext der Textproduktion (also etwa nach/vor dem Beginn des letzten Irak-Krieges) und (d) den direkten Kontext in Bezug auf Ereignisse (z.B. Rahmen einer State of the Union Address) oder auf VorrednerIn als groben Rahmen, in den ein Dokument 202 203 204 205 Vgl. S. 78 der Arbeit. Zudem sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass der für uns kostenlose Zugang zu den Onlinearchiven dieser Zeitungen bei unserer Quellenauswahl ebenfalls eine Rolle spielte. Die Gesamtmenge der in die Auswertung einbezogenen Artikel wurde über eine Stichwortsuche bei den drei Zeitungen erstellt. Im Falle des nuklearen Tabus umfasste diese Suche die Begriffe „nuclear taboo”, „nuclear posture”, „bunker buster”, „mini-nukes”, „nukes” sowie in manchen Jahrgängen „jahrspezifische“ Stichwörter wie „B61-11“, „RNEP“ und „CTBT“, im Falle des Folterverbots nur die Begriffskombination „torture AND united states”, der sich nicht sinnvoll eingrenzen ließ. Das Wall Street Journal (WSJ) war ursprünglich nicht als Basisdokument vorgesehen, wurde aber in der Hoffnung auf Gegenstandpunkte hinzugezogen, nachdem deutlich wurde, dass die drei genannten Zeitungen sich sehr ähnlich – für das nukleare Tabu bzw. für das Folterverbot – positionierten und ProtagonistInnen mit einer eher tabukritischen Meinung verhältnismäßig selten direkten Raum boten, sondern diese vielmehr lediglich im Abdruck der sich von ihnen abgrenzenden Positionen vorkamen. Da sich zum Zeitpunkt der Einbeziehung des WSJ die Zeiträume der breiten Debatten relativ deutlich abzeichneten, haben wir es für ausreichend erachtet, seine Auswertung auf die Jahre 2001-2005 zu beschränken. Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 93. Vgl. für das Folgende auch S. 96f. – 58 – Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e eingeordnet werden kann. In Bezug auf den Inhalt des Textes selbst wird v. a. relevant, (e) welche Kernargumente er beinhaltet, ob anhand dieser eine bestimmte Wirkungsabsicht (f) erkennbar wird, (g) in welcher Form die Argumente präsentiert werden (emotional, appellativ, sachlogisch usw.) sowie – und für uns besonders wichtig – (h) von welchen Argumenten sich der Autor/die Autorin abgrenzt und (i) mit welchen Prämissen oder Hinweisen auf bestimmte Sachverhalte ein Argument gestützt wird. Die meisten der zuletzt aufgeworfenen Fragen könnten wir nicht ohne die Kenntnis dessen beantworten, wie die oben angeführten Akteure im politischen System der USA zueinander stehen und welche Rolle den Medien in den Vereinigten Staaten zukommt. Im folgenden Kapitel soll deshalb ein kurzer Überblick über das politische System der USA gegeben werden. – 59 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A 4. Hintergrund: Innenpolitische Konstellation in den USA „Wer die amerikanische Verfassung untersucht, findet, daß es sich in Wahrheit nicht um eine Verfassung handelt, sondern um eine Charta der Anarchie. Sie ist keine Regierungsordnung, sondern eine Garantie dafür, daß das amerikanische Volk niemals regiert werden kann. Und das ist genau das, was die Amerikaner wollen.” 206 Im Folgenden soll ein Überblick über die wichtigsten politischen Akteure der USA und deren komplexes Zusammenspiel gegeben werden, wobei der Schwerpunkt auf letzterem liegen wird, um das Nachvollziehen der in den beiden Fällen analysierten Dynamiken zwischen den wichtigsten Gruppen und Individuen zu erleichtern. Aus dem gleichen Grund ist die kurze Darstellung auf die für uns zentralen Akteure fokussiert; eine vollständige Aufzählung der in den politischen Prozess involvierten Gruppen und Institutionen scheinen für unsere Zwecke ebenso nebensächlich,207 wie historische oder ideengeschichtliche Herleitungen, die höchstens im zusammenfassenden Schlusskapitel zur politischen Kultur der USA eine größere Rolle spielen werden. 4.1 Stellung und Zusammenspiel staatlicher politischer Institutionen Die hier aufgeführten Institutionen umfassen den US-Präsidenten, den Kongress, die USAdministration, den Supreme Court und die (beiden großen) Parteien.208 Mit Ausnahme der Administration, deren zentrale Stellung sich erst im 20. Jh. herausgebildet hat und der Parteien, wurden diese Akteure von den Verfassungsvätern durch das komplexe System der checks and balances miteinander verbunden, welches Neustadt als „separated institutions sharing powers” beschreibt:209 Einer institutionellen Gewaltentrennung steht das funktionale Verhältnis einer Gewaltenverschränkung gegenüber. Ziel dieser noch klareren Gewaltentrennung, als sie in vielen moderneren Demokratien zu finden ist, war es, „das amerikanische Regierungssystem als Antipode eines omnipotenten Staates” zu konzipieren.210 4.1.1 Präsident Der Präsident der Vereinigten Staaten ist die zentrale Figur des politischen Lebens. Aufgrund des präsidialen Regierungssystems muss er sich keine Kompetenzen mit einem (von der 206 207 208 209 210 Bernhard Shaw 1932 bei einem Vortrag in der Metropolitan Opera, zitiert in: von Uthmann, Jörg 1988: Volk ohne Eigenschaften. Amerika und seine Widersprüche, Stuttgart, S. 20. Vernachlässigt wird v. a. die bundesstaatliche Ebene der USA, da für uns in erster Linie nationale Institutionen und nicht an einzelne Bundesstaaten gebundene zivilgesellschaftliche Akteure relevant sind, sich das beobachtete Geschehen also auf die Hauptstadt konzentriert. Letztere bezeichnen sich zwar selbst häufig als private Vereine, gehören nach Ansicht des Supreme Court jedoch zur öffentlichen Sphäre. Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 56. Neustadt, Richard E. 1980 [1960]: Presidential Power, New York, S. 33. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 167. – 60 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Legislative bestimmten) Regierungschef teilen, sondern ist als alleinige „Spitze“ der Exekutive der durch den Kongress repräsentierten Legislative gegenübergestellt. Die Reichweite der Kompetenzen des Präsidenten gegenüber dem Kongress kann anhand der Verfassung des Landes nicht abschließend geklärt werden, weshalb sich dieses Verhältnis immer wieder gewandelt hat. Das momentan zunehmende Gewicht des Präsidenten in diesem „Tauziehen“ lässt sich v. a. auf seine – in der Verfassung ausdrücklich nicht vorgesehenen211 – gesetzgeberischen Aktivitäten sowie auf seine vor dem Hintergrund zunehmender Interdependenzen bedeutender werdenden außen- und sicherheitspolitischen Kompetenzen zurückführen. Zwar ist dem Präsidenten noch immer die Möglichkeit einer formellen Gesetzesinitiative verwehrt, doch erwartet mittlerweile auch die Legislative, dass er seiner Funktion als chief legislator gerecht wird und Gesetzesentwürfe über ihm nahe stehende Abgeordnete ins Parlament einbringen lässt.212 Als gesetzliche Grundlage dieses Vorgehens wird das Instrument der State of the Union Address bemüht, mittels derer der Präsident laut Verfassung dem Kongress die Gesamtlage der Nation vor Augen führen und Gesetzesinitiativen anregen sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle präsidentiellen Gesetzesinitiativen den Kongress tatsächlich passieren würden, die „Erfolgsrate“ dieser Vorlagen schwankte vielmehr von Präsident zu Präsident zwischen 50% und 90%.213 Im Hinblick auf die Verteilung außenpolitischer Kompetenzen lässt sich die Verfassung recht eindeutig zugunsten eines größeren Einflusses des Präsidenten auslegen.214 Dennoch gibt es auch hier eine „zone of twilight”,215 in die insbesondere das Recht des Präsidenten, internationale Verträge zu zeichnen, Entscheidungen über Einsätze der US-Streitkräfte sowie Notstandsregelungen fallen – was angesichts der im 20. Jh. rapide gestiegenen außenpolitischen Bedeutung der USA immer wieder zu Streitfällen geführt hat: Die treaty 211 Vgl. Artikel I, Abschnitt 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten: „All legislative Powers herein granted shall be vested in a Congress of the United States, which shall consist of a Senate and House of Representatives.” Ebenfalls verfassungsmäßig nicht vorgesehen ist, dass seit 1824 kein Präsident mehr vom 212 213 214 215 Kongress gewählt wurde. Eigentlich war man davon ausgegangen, dass sich wesentlich mehr (da nicht durch Parteien vorgekürte) Kandidaten zur Wahl stellen würden und eine absolute Mehrheit für einen Kandidaten deshalb unwahrscheinlich sei. In diesem Fall obliegt es dem Repräsentantenhaus, einen der drei Kandidaten mit den meisten Stimmen zum Präsidenten zu ernennen. Vgl. Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 139. Vgl. Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 152. Die mitunter niedrige Quote erklärt sich auch durch den Umstand, dass der Präsident sich in der Regel nicht auf die Unterstützung aller Abgeordneten seiner Partei verlassen kann, s. S. 63 der Arbeit. Weil die Abgeordneten sich der hohen Legitimität eines neu gewählten Präsidenten bewusst sind, bringt dieser besonders wichtige und umstrittene Gesetzesvorhaben meist zu Beginn einer Amtszeit ein (sog. first hundred days-Prinzip). So stellte der Supreme Court 1936 fest, dass „the President [i]s the sole organ of the federal government in the field of international relations – a power which does not require as a basis for its exercise an act of Congress ”, was den Kongress aber nicht von der Kontrolle solcher Handlungen ausschließen soll. Entscheidung United States versus Curtiss-Wright Export Corporation (299 U.S. 304). So formulierte es der Supreme Court 1952 in einem Gutachten über das Verhältnis von Präsident und Kongress: Fall Youngstown Sheet & Tube Co. versus Sawyer (343 U.S. 579). – 61 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A power des Senats, nach der er der Verabschiedung eines internationalen Vertrages mit Zweidrittelmehrheit zustimmen muss, wird schon länger als Fehlkonstruktion der Verfassung angesehen.216 Die Handhabung des Präsidenten, diese Regelung mit Hilfe sog. executive agreements, die Verträgen in ihrer völkerrechtlichen Wirkung gleichkommen, jedoch dem Kongress nicht vorzulegen sind, zu umgehen, wird aber ebenfalls heftig kritisiert.217 Verfassungsrechtlich vorgesehen war dagegen das Recht des Präsidenten, gegen Gesetze des Kongresses ein Veto einzulegen, welches nur von einer Zweidrittelmehrheit beider Parlamentskammern außer Kraft gesetzt (overruled ) werden kann (was äußerst selten der Fall ist). Allerdings kann ein Gesetz nur als ganzes zurückgewiesen werden, weshalb der Kongress in wichtige Vorlagen sog. rider, also wichtige Bestimmungen, einbaut, die dem Präsidenten eine Zurückweisung des Gesetzes erschweren sollen. Die Möglichkeit, Druck auf das Parlament auszuüben, indem es ihm mit Auflösung droht, ist dem amerikanischen Staatsoberhaupt aber verwehrt, während das Parlament zumindest da Recht hat, den Präsidenten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens (impeachment) wegen vermuteten Amtsvergehen anzuklagen. Die dennoch insgesamt starke Stellung des Präsidenten gegenüber den Kongressabgeordneten leitet sich aber nicht nur aus seinem Vetorecht, sondern v. a. aus seiner Position als einziger vom gesamten Volk gewählter Politiker ab. 4.1.2 Kongress Die Abgeordneten des amerikanischen Zweikammerparlaments, des Kongresses, verteilen sich auf das Repräsentantenhaus, dessen Mitglieder in 435 Wahlkreisen mit vergleichbaren Einwohnerzahlen auf zwei Jahre gewählt werden und den 100-köpfigen Senat, der mit je zwei für sechs Jahre gewählten Senatoren aus jedem Bundesstaat besetzt ist, wobei alle zwei Jahre ein Drittel der Senatoren neu bestimmt wird. Bis auf den Vizepräsidenten, der den Vorsitz im Senat innehat (dort als president officer aber nur in Patt-Situationen Stimmrecht besitzt) darf kein Vertreter der Exekutive Kongressmitglied sein. Die einzelnen Fraktionen werden durch majority bzw. minority floor leaders angeführt, welche durch sog. whips, die die Abgeordneten zur „richtigen“ Stimmabgabe drängen, unterstützt werden. Zum Sprecher (speaker) des Repräsentantenhauses und gleichzeitig zum Parlamentspräsidenten wird meist der dortige Vorsitzende der Mehrheitsfraktion ernannt. Auch ihm unterstehen ein majority leader und mehrere whips. Zwar hat die US-amerikanische Legislative ihre überragende Stellung beim Einbringen von Gesetzesentwürfen verloren, doch werden in ihren zahlreichen Ausschüssen und 216 217 Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 159. Mit den beiden Case Acts aus den Jahren 1972 und 1977 verpflichtete der Kongress zunächst nur den Präsidenten, dann aber auch alle anderen Exekutivbehörden, beide Kammern des Parlaments innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zumindest über die Unterzeichnung solcher Abkommen zu informieren. Allerdings wird dies seitens der Exekutive nicht immer eingehalten. – 62 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Unterausschüssen nahezu alle der ca. 9.000 Vorhaben pro Legislaturperiode ausgearbeitet – oder, was noch häufiger der Fall ist, zum Scheitern gebracht.218 Um den starken Einfluss der Ausschüsse zu begrenzen und eine befürchtete „Atomisierung“ des Kongresses durch die Bildung immer neuer solcher Gremien zu verhindern, wurde 1995 eine Parlamentsreform durchgeführt.219 Trotzdem ist der Gesetzgebungsprozess auch weiterhin maßgeblich von der Arbeit in den insgesamt 36 ständigen Parlamentsausschüssen gekennzeichnet (was den Einfluss des Kongresses gerade in außenpolitischen Fragen schmälert, da die gesetzgeberische Arbeit hier zwischen je drei Ausschüssen in Senat und Repräsentantenhaus und 21 bzw. sogar 22 Unterausschüssen sowie mehreren informellen Gruppen aufgeteilt ist).220 Neben den üblichen Bundesgesetzen (acts) können die beiden Parlamentskammern auch joint resolutions, 221 verabschieden. gemeinsame Beschlüsse mit der Wirkung eines Bundesgesetzes, Eine besondere Stellung im Gesetzgebungsprozess nimmt die Verabschiedung des Haushaltes ein, der wie andere Gesetze auch in Ausschüssen so detailliert ausgearbeitet wird, dass der Kongress hierüber wichtige politische Steuerungsfunktionen ausüben kann. Ein unterschiedliches Abstimmungsergebnis in Repräsentantenhaus und Senat (was recht häufig vorkommt), macht die Einschaltung eines mit Experten beider Häuser besetzten conference committee nötig, dessen Kompromissvorschlag noch einmal von beiden Kammern bestätigt werden muss. Erstaunlicherweise wird nicht nur der Präsident als vergleichsweise mächtig, sondern auch der Kongress als eines der stärksten Parlamente in der westlichen Welt bezeichnet.222 Dies hängt mit der Unabhängigkeit der Kongressabgeordneten von anderen politischen Akteuren, v. a. von ihrer Partei sowie vom Präsidenten (Stichwort: starke Gewaltentrennung) zusammen. Aufgrund der vergleichsweise geringen Rolle der US-amerikanischen Parteien im politischen System kann von Fraktionsdisziplin im Kongress kaum die Rede sein: Als party vote gilt heute bereits eine Abstimmung, bei der 50% der Abgeordneten einer Partei gegen die einfache Mehrheit der Mitglieder einer anderen Partei stimmen – und selbst dies ist nur selten der Fall.223 Allerdings müssen sich Kongressabgeordnete stark an den in ihrem Wahlkreis bzw. Bundesstaat vorherrschenden Interessen orientieren, da sie nicht über Wahllisten abgesichert 218 219 220 221 222 223 Hübner spricht von 19 von 20 Gesetzesinitiativen, die bereits in Ausschüssen verworfen werden. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 118. Allerdings können die Plenen der beiden Kammern unter bestimmten Voraussetzungen die Weiterleitung von solchen killed in committee-Gesetzesentwürfen erzwingen. Vgl. Steffani, Winfried 1998: Der Gesetzgebungsprozeß, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 184-197, hier S. 189. Die Reform konnte jedoch nicht verhindern, dass sich weiterhin informelle Gruppen (sog. caucuses) zur Diskussion spezifischer Sachthemen herausbildeten. Beide Kammern verfügen über einen Ausschuss zu Foreign Relations und Armed Services sowie einen für die Arbeit der Geheimdienste zuständigen (s.u.). Auch Verfassungsänderungen oder -ergänzungen (constitutional amendments) für die eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern nötig ist, werden in Form von joint resolutions verabschiedet. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 111. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 111. – 63 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A sind, wie etwa ein Teil ihrer deutschen Kollegen. Da sie in ihrem Wahlkampf auch nur in geringem Maße von ihrer Partei unterstützt werden, sind sie zudem auf hohe Wahlkampfspenden angewiesen, die Abgeordnete meist von Interessensverbänden erhalten, welche sich eine Gesetzgebung in ihrem Sinne erhoffen (und eine Reihe von Korruptionsskandalen ausgelöst haben). Bei der Kommunikation mit anderen politischen Akteuren kommt den in den Kongressausschüssen durchgeführten hearings eine bedeutende Rolle zu. Nicht nur sind 90% der Ausschusssitzungen öffentlich,224 hier wird Experten, Interessenvertretern und Mitarbeitern der Administration auch dann Rederecht eingeräumt, wenn die Abgeordneten sie nicht selbst eingeladen haben. Zudem besitzen alle ständigen Ausschüsse (seit dem Legislative Reorganization Act von 1946) das Recht, jede Person (abgesehen vom Präsidenten) zwecks Vernehmung vorzuladen sowie alle benötigten Akten und sonstigen Unterlagen einzusehen. 4.1.3 Administration Bevor als eigentliche dritte Gewalt der Supreme Court vorgestellt wird, soll aufgrund vielfältiger Verfechtungen mit Exekutive und Legislative die Rolle der vielschichtigen (lies: ausufernden) US-Administration diskutiert werden. Hierunter verstehen wir sowohl die Mitarbeiter des Präsidenten und der Kongressabgeordneten sowie die der Ministerien und Behörden. Dass die US-Administration wenig hierarchisch gegliedert ist, liegt zum einen an der relativ großen Autonomie der derzeit 15 Ministerien,225 die häufiger Eigeninteressen als den Vorgaben des Präsidenten zu folgen scheinen.226 Dies hängt wiederum mit der geringen Rolle des Kabinetts zusammen, das nur zu formalen Anlässen zusammentritt und kaum als Entscheidungsgremium gewertet werden kann. Selbst der Vizepräsident nahm lange Zeit eine untergeordnete Stellung (als Vorsitzender des Senats und evtl. Nachfolger eines aus dem Amt geschiedenen Präsidenten in Wartestellung) ein.227 Zum Anderen liegt der recht unübersichtliche Aufbau der Administration darin begründet, dass der Kongress der 224 225 226 227 Plenumsdebatten dürfen auch im Fernsehen übertragen werden, vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 127. Anzahl und zum Teil auch Zuschnitt der einzelnen Ministerien werden vom Kongress bestimmt. Vgl. Becker, Bernd/Welz, Wolfgang 1998: Verwaltung und Vollzug, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 231-243, hier S. 234. Hübner spricht deshalb davon, dass die exekutive Macht zwar nicht zwischen Präsident und Regierungschef, wohl aber zwischen ersterem und seinen Mitarbeitern auf der einen und den Ministerien und der restlichen Bürokratie auf der anderen Seite gespalten sei. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 130. Allerdings kann der Präsident zur Steuerung und Kontrolle der ihm unterstellten Behörden executive orders erlassen, denen teilweise Gesetzeskraft zukommt. Vgl. Becker, Bernd/Welz, Wolfgang 1998: Verwaltung und Vollzug, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 231-243, hier S. 234. So hielt es Theodore Roosevelt nicht einmal für nötig, seinen damaligen Vizepräsidenten Harry S. Truman über den Bau der Atombombe zu informieren. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 133. Heute werden die Vizepräsidenten als wichtiger Teil der Administration angesehen. Vgl. Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 162. – 64 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Ernennung eines Großteils des Spitzenpersonals zustimmen muss228 und die US-Präsidenten entsprechend versucht haben, daneben eigene, unabhängige Gremien zu etablieren. Das Executive Office of the President (EOP), an dessen Spitze meist ein recht einflussreicher Chief of Staff steht, nimmt hier eine hervorgehobene Stellung ein. Die insgesamt ca. 3000 ohne Zustimmung des Kongresses berufenen Mitarbeiter des EOP bilden den persönlichen Stab des Präsidenten. Zudem kann das White House Office nach dessen Wünschen umstrukturiert werden und nimmt meist vielfältige Aufgaben wahr. Dagegen ist der Aufbau der anderen, größtenteils vom Kongress mitbestimmten Gremien des EOP festgelegt. Hierunter fallen als wichtigste Organe das Office of Management and Budget (OMB), welches als „Oberbehörde“ gilt, da es Haushaltsvorlagen für die Ministerien erstellt und deren Einhaltung kontrolliert, der Council of Economic Advisors (CEA), der den Präsidenten in wirtschaftspolitischen Fragen berät sowie der vom Kongress geschaffene National Security Council (NSC). Neben dem vom Präsidenten direkt ernannten National Security Advisor, der als „’ehrlicher Makler’ zwischen den verschiedenen außenpolitischen Stimmen der Administration vermitteln” soll, gilt der NSC als wichtigstes Beratungsgremium des Präsidenten für außen- und sicherheitspolitische Fragen.229 Neben Präsidenten und Vizepräsidenten nehmen Außen- und Verteidigungsminister und in beratender Funktion die Joint Chiefs of Staff sowie der Direktor der Central Intelligence Agency (CIA) an den Sitzungen teil.230 Der Außenminister wurde lange Zeit lediglich mit der Umsetzung der von Sicherheitsberater und NSC gefällten Entscheidungen betraut. Erst in letzter Zeit gewann das Department of State (DOS) das für US-amerikanische Ministerien übliche Eigengewicht. Die Arbeit des Ministers wird hier von dessen Stellvertreter, einem Counsellor und vier Under Secretaries unterstützt, die je ein Ressort leiten. Wesentlich schwerer wiegt jedoch der Einfluss des Department of Defense (DOD): Dem mit mehr als drei Mio. Beschäftigten größten Arbeitgeber des Bundes stehen etwa sechs Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) der USA zur Verfügung, was ihn zum wichtigsten öffentlichen Auftraggeber für die private Wirtschaft macht.231 Neben dem Büro des Verteidigungsministers (Office of the Secretary of Defense, OSD), das koordinierend tätig ist, unterteilt sich das DOD in die Departments der 228 229 230 231 Besonders im Fall der Ernennung von Ministern ist der Präsident zudem häufig dem Druck von Interessensverbänden und Wahlkampfsponsoren ausgesetzt. Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440, hier S. 425f. Der neben dem NSC auch das Department of Defense und die CIA schaffende National Security Act fand 1947 eine Mehrheit im Kongress, nachdem Roosevelt sich bei außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen vermehrt auf Ad-hoc-Beratungsgremien verlassen hatte, was dem Kongress ein Nachvollziehen der Entscheidungsprozesse erschwert hatte. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 133. Größe und Einflussreichtum der außen- und sicherheitspolitischen Institutionen der Exekutive sind v. a. dem Kalten Krieg geschuldet, während dessen der auf eine schnelle Reaktionsmöglichkeit des Präsidenten zugeschnittene Apparat ausgebaut und institutionalisiert wurde. Vgl. Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440, hier S. 428. – 65 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Teilstreitkräfte, die Joint Chiefs of Staff (JCS), die das Militär vertreten sowie den Armed Forces Policy Council, der den Verteidigungsminister berät. Immer noch recht unabhängig arbeitet auch die CIA, obwohl ihre Handlungsfreiheit durch den Intelligence Oversights Act 1980 vom Kongress begrenzt wurde.232 Entgegen ihrem Ruf umfasst die Arbeit der CIA nur zu einem sehr geringen Teil geheime covert operations; aus den dort analysierten Daten über Vorgänge in aller Welt erstellt sie vielmehr politische Analysen und Handlungsempfehlungen für die Regierung. Allerdings ist davon auszugehen, dass nicht immer alle covert actions, die im Unterschied zur typischen Spionage nicht nur Informationen über ein Land beschaffen, sondern dieses direkt beeinflussen sollen (etwa durch Kursänderung der Regierung oder Änderung der Regierungsspitze selbst), bekannt werden, da meist nur wenige Mitarbeiter eines Geheimdienstes über solche Aktivitäten informiert sind. Neben der CIA hat auch das DOD häufiger covert operations ins Leben gerufen und oftmals von eigenen Spezialeinheiten ausführen lassen. Geleitet wird die CIA vom Director of Central Intelligence, der auch die Arbeit der anderen Geheimdienste koordinieren soll (namentlich diejenigen der Ministerien für Äußeres, Verteidigung, Energie und Finanzen sowie des für die Inlandsaufklärung zuständige Federal Bureau of Investigation (FBI)).233 Im Gegensatz zur nachgewiesenen Verwicklung der drei genannten Geheimdienste in die Erosion des Folterverbots, ist die National Security Agency in dieser Frage bisher nicht in Erscheinung getreten. Dies muss jedoch nicht heißen, dass es hier keine Berührungspunkte gab, denn die Mitarbeiter dieses bedeutendsten Geheimdienstes der USA (wenn nicht der Welt) sind noch weit stärker um Geheimhaltung bemüht, als ihre inneramerikanischen Kollegen. Dass der Präsident selbst den Überblick über die Aktivitäten der amerikanischen Geheimdienste behält, soll das Intelligence Oversight Board garantieren, das dem Foreign Intelligence Advisory Board des Präsidenten (PFIAB) zugeordnet ist. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde versucht, eine bessere Abstimmung zwischen den vormals oft konkurrierenden Geheimdiensten und deren Unterabteilungen zu gewährleisten, was jedoch nicht immer gelang (wie in der Auseinandersetzung um Verhörmethoden zu sehen sein wird). 232 233 Dieser verpflichtet den Präsidenten dazu, den Kongress über alle Geheimdienstaktionen zu informieren. In Fällen äußerster Geheimhaltung ist die Informationspflicht auf die einschlägigen Ausschüsse beschränkt. Das Senate Select Committee on Intelligence und das Permanent Select Committee on Intelligence des Repräsentantenhauses waren bereits in den 1970er Jahren eingerichtet worden. Vgl. Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440, hier S. 424. Vgl. Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440, hier S. 429. – 66 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A 4.1.4 Stellung des Supreme Court vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Rechtssystems Der Supreme Court, seit 1849 mit einem chief justice und acht associate justices besetzt,234 ist der Oberste Gerichtshof der USA und der einzige, der in der Verfassung Erwähnung fand.235 Nach Artikel III, Abschnitt 2 der US-Verfassung und mit Blick auf die an Großbritannien orientierte Rechtstradition des Landes ist allerdings fraglich, ob ihm die Stellung eines Verfassungsgerichtes zukommt:236 Aus dem britischen common law, das sich deutlich vom am Verfassungstext orientierten und damit eher statischen Rechtsbegriff kontinentaleuropäischer Nationen unterscheidet, entwickelte sich in der ehemaligen Kolonie das case law, als v. a. von Richtern gesetztes, also auf vorherigen Entscheidungen aufbauendes und damit dynamisches Prinzip der Rechtsfortentwicklung.237 Case law wird von oberen Gerichten geschaffen, während in der Gerichtshierarchie niedrigere Gerichte diese weitreichenden Entscheidungen (precedents) zu übernehmen haben (sog. doctrine of state decisis). Obere Gerichtshöfe sind an die Rechtsprechung niederer Gerichte gar nicht und an frühere Urteile ihrer eigenen Instanz nur zum Teil gebunden: Da die Verfassung und ähnlich grundlegende Gesetzestexte weniger wortwörtlich genommen werden, als eine Interpretation im Geiste derselben vor dem Hintergrund aktueller Bedürfnisse angestrebt wird, können sich Urteile zu ähnlichen Fällen durchaus widersprechen oder frühere aufheben (overrule). Nach dem case law wird alles im Rahmen einer Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court oder Oberste Gerichte der Bundesstaaten entwickelte Recht zu einem integralen Bestandteil des amerikanischen Verfassungsrechts (constitutional law) und gilt neben dem originalen Verfassungstext und dessen Zusätzen (amendments) selbst als Oberste Rechtsnorm (supreme law of the land).238 Auch aufgrund dieses Grundsatzes konzentriert sich US-amerikanisches Verfassungsrecht viel weniger auf festgeschriebene Rechte, die der Staat seinen Bürgern einräumt, als ein typischer verfassungsrechtlicher „Regelkatalog“, in dem aufgeführt wäre, was genau 234 235 236 237 238 Der oberste Richter erhält zwar ein höheres Gehalt als seine Kollegen, verfügt aber nicht über mehr Rechte. Allerdings übernimmt er mehr formale Aufgaben als seine „Brüder“ (brethren ). Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 170. Vgl. Artikel III der US-Verfassung, der mit den Worten beginnt: „The judicial Power of the United States shall be vested in one supreme Court. Vgl. Kincaid, John 1998: Rechtssystem und Gerichtsbarkeit, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 214-230, hier S. 214. Entsprechend hat einzig das stark französisch geprägte Louisiana eine andersartige bundesstaatliche Rechtstradition. Ein weiterer Grund für die Entwicklung des case law ist die Ungenauigkeit (und heute auch das Alter) der US-Verfassung. Fraenkel erklärt dieses gerade für Deutsche ungewöhnlich anmutende System als „Sicherung gegen die Gefahr, daß ein politisch lebendiger Inhalt zur rechtlichen Form erstarrt.” Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 172. Daneben orientieren sich die Gerichte auch an die in den Federalist Papers (unter dem Pseudonym „Publis“) veröffentlichten Verfassungskommentaren von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay aus den Jahren 1787/1788. Timmermann, Marina 2000: Die Macht kollektiver Denkmuster. Werte, Wandel und politische Kultur in den USA und Japan, Opladen, S. 77. – 67 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A staatlichen Autoritäten erlaubt oder verboten ist.239 Das US-amerikanische rule of law (als Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Rechtsstaatsgedanken) stützt sich vielmehr auf traditionelle Prinzipien der Gerichtsbarkeit – in erster Linie die habeas corpus-Norm240 und daran anschließend die due process-Klausel – aus denen heraus grundlegendes Recht immer neu geschaffen wird. Und selbst diese Prinzipien werden aus Angst vor einem „Erstarren“ des Rechtssystems nicht genau definiert. Vielmehr sollte den Gerichten in der Auseinandersetzung mit individuellen Fällen die Ausbuchstabierung v. a. der grob als Fairnessprinzip umrissenen due process-Klausel überlassen bleiben, wie es justice Frankfurter 1951 tat, als er sie als „Bekenntnis zu dem Gedanken einer gerechten Behandlung eines jeden Mitglieds der Rechtsgemeinschaft” beschrieb.241 Vor diesem Hintergrund wurde der Supreme Court lange Zeit nicht als primär mit abstrakter Normenkontrolle befasster Verfassungsgerichtshof, sondern vielmehr als oberste Berufungsinstanz für „normale“ Streitfälle (sowie einige in der Verfassung spezifizierte Sonderfälle, für die es die erste Instanz darstellt) gesehen. Trotzdem wird der Supreme Court als „einziges Organ, das die politische Diskussion auf die Ebene moralischer, in die Zukunft weisender Probleme zu heben vermag ” angesehen, denn ihm wird das Recht, sich mit verfassungsrechtlich 242 abgesprochen. relevanten Gesetzesvorhaben zu beschäftigen, nicht (mehr) Allerdings kann der Supreme Court solchen Fällen mit dem Hinweis, es handele sich um eine sog. political question, die zu entscheiden nur genuin politische 239 240 241 242 Dies schließt an die Locke’sche Staatsphilosophie an, nach der die staatliche Autorität keine originären Rechte besitzt, sondern nur die ausübt, die ihm das Volk zugesteht: „The government is the trustee of the people.” Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 181. Bezeichnenderweise beinhalten die in der Präambel der amerikanischen Verfassung niedergelegten Freiheitsrechte auch keine Schranken (nicht einmal den Hinweis, dass sie in der Gültigkeit konkurrierender Freiheitsrechte ihre Schranken finden), so dass sie – theoretisch – alle absolut gelten. Auch dies macht eine richterliche Anlehnung allein an den Verfassungstext unmöglich. Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 192. Dieses „Prunkstück anglo-amerikanischen Rechtsdenkens” als genereller Freiheitsgarantie umfasst nach amerikanischem Verständnis auch den im fünften und 14. amendment verbrieften Schutz von Leben und Eigentum der Person, solange nicht in einem fairen Gerichtsprozess (also due process) anders entschieden wurde. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 171. Zitiert nach Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 171, in Bezug auf den Fall United States versus Williams (341 U.S. 58) aus dem Jahr 1951. Tatsächlich wurden die 1936 zur Klärung der Befugnisse des Gerichts eingeführten Selbstbeschränkungsregeln (ashwander rules) bereits öfters übertreten. Der Streit um judicial self restraint oder judicial activism wurde aber bereits in den Federalist Papers thematisiert. Vgl. Shell, Kurt L. 1998: Der Oberste Gerichtshof, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehrund Handbuch, München, S. 170-181, hier S. 173 bzw. S. 178. Während die eine Seite befürchtet, mit einer „aktiven“ Rechtsprechung würde der Supreme Court seine rein judikativen Befugnisse überschreiten und dem demokratisch gewählten Präsidenten und Kongress seine Entscheidungen aufoktroyieren, berufen sich (meist liberale) Vertreter der anderen Seite insbesondere auf die Bürgerrechte, aus der sie die Forderung nach ihrem aktiven Schutz und ihrer Durchsetzung ableiten. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 158. – 68 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Institutionen befugt seien, ausweichen.243 Dies trifft – aus Sicht des Gerichts – besonders häufig auf Fälle aus den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik zu. Auch darüber hinaus ist das Gericht befugt, sich die von ihm behandelten Fälle selbst auszusuchen (hierzu ist ein Votum von vier justices nötig), wobei es Klagen jeder (juristischen) Person, die standing vor Gericht besitzt annehmen oder auch untere Gerichte anweisen kann, wichtige Fälle an das Oberste Gericht abzugeben. Um ein Urteil zu fällen, ist eine Mehrheit von mindestens sechs Richtern (bei verfassungsrechtlichen Entscheidungen sieben) notwendig; überstimmte oder vom Urteil geringfügig abweichende Meinungen (dissenting bzw. concurring opinions) können in Berichten zum Ausdruck gebracht werden. 4.1.5 Die großen Parteien Ähnlich wie über die Befugnisse des Supreme Court entbrannte noch im 18. Jh. ein Streit über die Rolle von Parteien im amerikanischen Regierungssystem. In der Verfassung waren diese nicht vorgesehen, doch bildeten sich schon unter George Washington erste parteiähnliche Zusammenschlüsse.244 Erst im 20. Jh. bildete sich jedoch ein System häufigerer Regierungswechsel und oppositioneller Kontrolle zwischen zwei großen Parteien heraus, der eher linken Democratic Party und den eher konservativen Republicans.245 Allerdings erfüllen die US-amerikanischen Parteien auch heute noch andere und wesentlich geringere Funktionen als ihre „Partnerorganisationen“ in vielen europäischen Ländern: Sie sind lose Interessenbündnisse mit einer von einer vergleichsweise geringen Zahl von Mitarbeitern getragenen, schwach ausgebildeten Struktur, die hauptsächlich zu dem Zweck existieren, bestimmte Kandidaten aufzustellen und für ihre Wahl zu werben. Dementsprechend werden amerikanische Parteien auch nicht durch mehr oder weniger elaborierte Parteiprogramme „zusammengehalten“ (von einer Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes wie sie im deutschen Grundgesetz vorgesehen ist, kann also keine Rede sein),246 sondern stellen vielmehr ein „Sammelbecken der verschiedenartigsten politischen Strömungen” dar, „in dem alle denkbaren politischen Schattierungen vertreten sind ”.247 Zum zentralen Grundlagenpapier parteipolitischer Arbeit wird damit das Wahlprogramm (party platform), das vor Präsidentschaftswahlen auf riesigen Parteitagen (national 243 244 245 246 247 Allerdings ist die Reichweite dieses Begriffs nie abschließend geklärt und sehr unterschiedlich angewendet worden. Generell werden meist Fälle als political question klassifiziert, die die obersten Richter für politisch (zu) brisant halten oder bei denen eine Einhaltung des politischen Urteils als unwahrscheinlich eingestuft wird. Für weitere Kriterien S. Shell, Kurt L. 1998: Der Oberste Gerichtshof, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 170-181, hier S. 179. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 63. Zuvor waren die Demokraten hierzu lange Zeit zu schwach gewesen. Erst die Bedingungen des New Deal, ermöglichte ihnen, gegenüber den Republikanern aufzuholen. Kleinere Parteien, wie etwa die Grünen unter Ralph Nader konnten am politischen Prozess bisher kaum aktiv teilnehmen und werden deshalb an dieser Stelle vernachlässigt. Vgl. Artikel 21 des Grundgesetzes. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 55. – 69 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A conventions) verabschiedet wird. Einer inhaltlichen Diskussion können diese events kaum dienen, treffen sich hier doch ca. 2.000 Mitglieder der demokratischen bzw. sogar ca. 4.000 der republikanischen Partei.248 Präsidentschaftskandidaten werden darüber hinaus durch Vorwahlen vorgekürt. Solche primaries dienen nicht nur dem Zweck, auch die Aufstellung von Präsidentschaftskandidaten demokratischen Prinzipien zu unterwerfen, sondern werden auch deshalb für nötig erachtet, weil es für die unterschiedlichen Flügel einer Partei zum Teil wichtiger ist, dass ihr Kandidat sich als Anwärter für das Präsidentenamt durchsetzt, als der tatsächliche Wahlsieg (irgendeines) Vertreters ihrer Partei.249 Neben der vielzitierten Hauptfunktion „a party is to elect”250 kümmern sich die Parteien zum Teil auch um die Wahlkampffinanzierung ihrer Kandidaten. Sie selbst können nur geringe Summen zu den mittlerweile mehrere Milliarden US-Dollar „verschlingenden“ Wahlkämpfen beitragen, nehmen jedoch einen Teil der privaten Spenden an und verwalten diese Gelder. Begründet liegt die Schwäche der Parteien in der vergleichsweise großen Unabhängigkeit des Präsidenten, der aufgrund seiner Direktwahl nicht von einer Mehrheit seiner Partei im Kongress abhängig ist, die ihn wählen oder durch Verweigerung der Gefolgschaft stürzen könnte. Die „Balkanisierung”251 insbesondere der unteren Parteiebenen spiegelt sich dagegen im Kongress wider, in dessen Kammern die Fraktionen so gut wie nie geschlossen (und wenn, dann über Personalfragen) abstimmen (s.o.). 4.2 Stellung und Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher Akteure In diesem Unterkapitel soll die Rolle von Interessengruppen, worunter wir auch die für unsere Analyse bedeutenden Think Tanks fassen, die der breiten Öffentlichkeit und der Medien als (nicht uneigennütziger) Mittler zwischen allen beschriebenen Akteuren beleuchtet werden. Generell ist zu sagen, dass die hier aufgeführten zivilgesellschaftlichen Akteure vergleichsweise nah an der politischen Sphäre agieren, was mit der stark professionierten Einwirkung dieser Gruppen auf amerikanische Politik zusammenhängt.252 Nicht nur bieten politische Aushandlungsprozesse in den USA eine Vielzahl sog. points of access, in denen zivilgesellschaftliche Gruppen ihre Interessen und Meinungen einbringen können, auch der juristische Rahmen für solcherlei Aktivitäten ist weit gefasst. 248 249 250 251 252 Bis in die 1980er Jahre organisierten die Demokraten sog. midterm conventions, die dem Ziel einer stärkeren inhaltlichen Geschlossenheit der Partei durch hier öffentlich ausgetragenen Zwist aber eher schadeten denn dienten. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 72. Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 56. Lösche, Peter 1998: Die politischen Parteien, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 268-296, hier S. 268. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 70. Hingewiesen sei aber auch an dieser Stelle auf das Hobbes’sche Staatsmodell, dass eine scharfe Trennung der staatlichen und öffentlichen Sphäre nicht vorsieht. – 70 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A 4.2.1 Interessengruppen und Think Tanks Stark ausgeprägter Interessenspluralismus ist im Einwanderungsland USA eine quasi „natürliche“ Gegebenheit. Vor dem Hintergrund des ebenfalls fest in der amerikanischen Identität verwurzelten Liberalismusgedankens (s.u.) verwundert es nicht, dass man dort einer beinah unregulierten Einflussnahme von Vertretern verschiedenster Interessen lange Zeit recht unvoreingenommen gegenüberstand, während man in vielen europäischen Ländern längst eine Verzerrung der Chancen für effektives politisches Lobbying aufgrund unterschiedlicher finanzieller oder personeller Ausstattungen der einzelnen Gruppen „gewittert“ hätte. Auch heute noch wird in den USA in der Einbindung vielfältiger Gruppen in politische Entscheidungsprozesse ein Mittel zur „Ausbalancierung” der in der Gesellschaft vorliegenden Interessen gesehen,253 Kelso weist jedoch darauf hin, dass sich unter dem Begriff public pluralism eine stärkere Regulierung durch staatliche Institutionen durchgesetzt hat, die helfen soll, bestehende Asymmetrien auszugleichen.254 Der hier (im Anschluss an Fraenkel) verwendete Oberbegriff „Interessengruppen“ ist absichtlich unspezifisch gewählt, umfassen die im politischen System der USA agierenden Gruppierungen doch viel mehr Typen, als nur die vielzitierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Unter die von Fraenkel eingeführte Definition von interest groups als „ eine durch Eigeninteresse gleichwie welcher Art zusammengehaltene Gruppe von Personen, die das Verhalten anderer Personen zu beeinflussen bestrebt ist, ohne daß dieses notwendigerweise unter Anwendung von Druck geschehen müsste ”,255 zu der wir hinzufügen möchten, dass unter „Eigeninteresse“ auch der Einsatz für die (vermeintlichen) Anliegen anderer Personen oder Dinge gefasst werden muss,256 fallen vielmehr (anschließend an Wasser):257 1. public interest groups, die sich von traditionellen Interessensverbänden (2.) wie etwa Gewerkschaften und Unternehmerverbänden dahingehend unterscheiden, dass die von ihnen vertretenen, breit geteilten politischen Anliegen (z.B. Naturschutz) nicht ökonomischer Art sind; 3. single interest groups, die spezifische politische Interessen (issues), wie etwa die Einstellung der Forschung an bestimmten Waffengattungen, verfolgen oder auch einzelne ethnische Gruppen 253 254 255 256 257 Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 54. Vgl. etwa Kelso, William A. 1978: American democratic theory. Pluralism and its critics, Westport, S. 25f. Bereits seit den 1940er Jahren sollen sich alle im Umkreis von Kongressabgeordneten tätige Lobbys registrieren lassen; ein entsprechendes Gesetz gilt für ausländische Interessengruppen bereits seit 1938. Vgl. Wasser, Hartmut 1998: Die Interessengruppen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 297-314, hier S. 308f. Fraenkel, Erst: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 71, Fußnote 1. Nämlich dann, wenn man auch Altruismus z. B. gegenüber streunenden Hunden als zumindest zum Teil dem eigenen Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild geschuldet auffasst. Auch Wasser verwendet den Oberbegriff „Interessengruppen“, fasst allerdings neben den drei aufgezählten unter diesen auch eine vierte Gruppe der Interessenvertretungen öffentlicher Gebietskörperschaften und eine weitere Ausdifferenzierung traditioneller Lobbys der Wirtschaft, die für unsere Analyse keinerlei Relevanz besitzen. Vgl. Wasser, Hartmut 1998: Die Interessengruppen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, 297-314, hier S. 299ff. – 71 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A vertreten, wie es z. B. die National Association of Arab Americans tut258 und 4. ideelle Gruppen, unter die breite und meist weniger straff organisierte Bürgerbewegungen, die weniger klar umrissene moralische Werte wie Frieden und Menschenrechte oder auch (vermeintlich) religiöse Ziele wie das Verbieten von Abtreibungen propagieren, fallen.259 Ebenso unterschiedlich wie Zielsetzungen und Gestalt dieser Gruppen ist auch ihre Vorgehensweise, lediglich die Adressaten verschiedener Aktionen ähneln sich: Da der Zugang zum Präsidenten den allermeisten Gruppen verwehrt bleibt, richten sich diese vermehrt an die für den Gesetzgebungsprozess immer wichtiger werdende US-Administration. Wichtigster „Tummelplatz“ für Lobbys ist aber noch immer der US-Kongress, bzw. die für das jeweilige Anliegen zuständigen Abgeordneten. Gewichtige Verbände haben meist auch ein Büro in Washington, deren Angestellte z. B. in hearings versuchen, für ihre Standpunkte zu werben.260 Neben dieser institutionalisierten Form der Einflussnahme wird aber auch anderweitig versucht, Druck auf Politiker auszuüben.261 So z. B. durch issue networks, in denen sich mehrere, meist mit weniger Ressourcen ausgestattete Organisationen mit ähnlichen Anliegen zusammenschließen oder durch Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Vertretern der USAdministration in sog. subgovernants. Als Negativbeispiel solcher (zum Teil auch Bestechung nicht ausschließender) Einflussnahme seien die aus einer Interessengemeinschaft von Rüstungsindustrie, Pentagon und einigen Kongressabgeordneten bestehenden iron triangles 262 genannt, denen es im Zusammenspiel als sog. militärisch-industrieller Komplex (MIK) v. a. in den 1960er und 1970er Jahren gelang, die amerikanische Verteidigungs- und Rüstungspolitik 258 259 260 261 262 Die meisten ethnischen Gruppen haben sich in irgendeiner Form organisiert und versuchen, ihre Anhänger im Fall eines sie oder ihr Herkunftsland direkt betreffenden politischen Problems zu mobilisieren. Als stärkste Lobby wird das jüdische American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) bezeichnet, deren Einfluss auf die US-amerikanische Nahostpolitik – leider auch unter antisemitischen Vorzeichen – häufig thematisiert wird. Ihr Einfluss wurde u. a. in den 1980er Jahren deutlich, als es ihr gelang, Waffenexporte in arabische Staaten zu verhindern. Vgl. Falke, Andreas 1998: Der Einfluß der intermediären Institutionen auf die Außenpolitik, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 441-459, hier S. 447ff. Nedelmann rechnet diese social movements allerdings nicht zu den Gruppen, die direktes Lobbying (im Sinne professionalisierter Einflussnahme) betreiben. Sie weist aber darauf hin, dass sie durchaus in der Lage sind, die politische Agenda der USA mitzubestimmen und bei politisch Entscheidungsberechtigten wie in der breiten Öffentlichkeit veränderte Problemwahrnehmungen hervorzurufen. Vgl. Nedelmann, Birgitta 1998: Soziale Bewegungen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehrund Handbuch, München, S. 330-342, hier S. 330 und 338. Als historische „Urväter“ dieser Bewegungen können die Anti-Sklaverei- und die Frauenrechtsbewegungen genannt werden. In den 1960er und 1970er Jahren erlebte diese Form politischer Einflussnahme vor dem Hintergrund der Schwarzen- und AntiVietnamkriegs-Bewegung eine Renaissance. Da viele Angestellte der ca. 14.000 in Washington ansässigen Büros oder Berater der insgesamt über 23.000 auf nationaler Ebene agierenden Interessengruppen über großes Fachwissen verfügen, werden sie seitens der Kongressabgeordneten auch häufig zu hearings eingeladen, die sich über verschiedene Aspekte eines Gesetzesvorhabens informieren lassen müssen. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 55 und Wasser, Hartmut 1998: Die Interessengruppen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 297-314, hier S. 304. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 60f. Dieser Begriff wird jedoch nicht nur für den MIK, sondern generell für politische Konstellationen verwendet, in denen eine Koalition aus Abgeordneten und Bürokraten und Privatpersonen für längere Zeit eine letztere begünstigende Politik fördern. – 72 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A nachhaltig zu beeinflussen.263 Ebenfalls ist es durchaus üblich, auf die Richtigkeit seiner Anliegen (und auf die eigene Gruppe) mithilfe eines Gerichtsprozesses aufmerksam zu machen, so dass auch die Justiz als ein für Lobbys attraktives „Sprachrohr“ erscheint. Solche Urteile sollen natürlich auch das Interesse der Öffentlichkeit wecken, um mehr Unterstützung zu generieren und indirekt Druck auf Politiker auszuüben. Nicht alle, aber dennoch einige Think Tanks können unter die oben genannte Definition von Interessengruppen gefasst werden. Da sich einige (weniger forschungsnahe, s. u.) dieser „Denkfabriken“ von mit hochqualifizierten Mitarbeitern besetzten Verbänden, die ebenfalls versuchen, die US-amerikanische Politik in eine bestimmte Richtung zu lenken, nur graduell unterscheiden, werden sie an dieser Stelle behandelt. Zudem arbeiten noch immer viele Think Tanks, die sich in der Tradition der Aufklärung und die Bereitstellung politischen Wissens als eine Form wohltätigen Engagements (auch am Bürger!) sehen, nicht gewinnorientiert. Externe Berater aus „Denkfabriken“ in den politischen Beratungsprozess miteinzubeziehen, war in den USA schon früher üblich und ist immer noch weiter verbreitet, als etwa in Europa. So ging aus dem bereits 1916 gegründeten Institute for Governmental Studies schon 1927 die Brookings Institution als „Urvater“ der amerikanischen Think Tanks hervor. Stärker in den außenpolitischen Entscheidungsprozess involviert wurden die „Denkfabriken“ aber erst ab den 1960er Jahren, als die zunehmende Komplexität der Außenund Sicherheitspolitik begann, die alten außenpolitischen Eliten zunehmend zu überfordern, so dass eine fachliche „Unterfütterung“ politischer Ansichten nicht nur opportun sondern auch nötig erschien.264 Vielmehr scheint es ebensoviele Think Tank-Experten zu geben, die als „Aushängeschilder” für die Richtigkeit verschiedener Ansichten dienen können, wie es Meinungen auf dem politischen Parkett gibt.265 Auf diese Funktion greifen insbesondere Kongressabgeordnete häufig zurück, um einer Position gegenüber der durch die Administration mit ausreichend Expertenwissen versorgten Exekutive mehr Gewicht zu verleihen (wobei das vielgepriesene revolving doors-Modell auch für einen regen Personalaustausch insbesondere zwischen Think-Tank-MitarbeiterInnen und Mitgliedern der Administration sorgt). Es liegt aber weitestgehend in der Hand der Think Tanks, inwieweit sie sich in ein Abhängigkeitsverhältnis von ihren politischen „Kunden“ 263 264 265 S. für einen Überblick Czempiel, Ernst-Otto 1979: Amerikanische Außenpolitik, Stuttgart, S. 45f., für eine genauere Analyse dieser Verflechtungen Medick, Monika 1973: Das Konzept des „Military-Industrial Complex“ und das Problem einer Theorie demokratischer Kontrolle, in: Politische Vierteljahresschrift, 14: 4, S. 499-526. Weitere Gründe für die Ausweitung gerade außenpolitisch orientierter Think Tanks waren das Ende des mit dem Schlagwort „Jahre des Eisvogels“ belegten Begriff des von eben diesen Eliten getragenen außenpolitischen Konsenses in den USA, der am Vietnamkrieg endgültig zerbrach und der vor dem gleichen Hintergrund einsetzende Prestigeverlust insbesondere des DOS sowie das zunehmende Misstrauen der Bevölkerung gegenüber einer elitengesteuerten Außenpolitik. Vgl. Falke, Andreas 1998: Der Einfluß der intermediären Institutionen auf die Außenpolitik, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 441-459, hier S. 443. Falke, Andreas 1998: Der Einfluß der intermediären Institutionen auf die Außenpolitik, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 441-459, hier S. 443. – 73 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A begeben: Neben klar ideologisch geprägten Instituten, die ihre häufig in Auftrag gegebenen Analysen vor allem einer politischen Strömung anbieten (nicht erst in der Bush-Ära wurde die konservative Heritage Foundation zum prominentesten Vertreter dieser Gruppe), gibt es auch eine Reihe mit hochqualifizierten WissenschaftlerInnen besetzter Institute, die großen Wert auf Unabhängigkeit und Überparteilichkeit legen. Diese „universiti[ies] without students”266 setzen ihre Forschungsschwerpunkte meist selbst und gelten dementsprechend als Lieferanten besonders fundierter Analysen. Zwischen diesen beiden Typen von Institutionen sind viele Think Tanks gerade im sicherheitspolitischen Bereich mit Auftragsforschung beschäftigt; ihr Einkommen wird durch einen Teil des immensen Militärbudgets sichergestellt.267 Allerdings wenden sich Politiker gerade, wenn es um kostspielige Rüstungsforschung geht, verstärkt auch direkt an Universitäten oder große Forschungskonzerne, die über eine entsprechende Forschungsausrüstung verfügen. Die gerade von vielen Think Tanks angestrebte Unabhängigkeit und damit das Interesse einiger dieser Institutionen, ihre eigene Position zum Ausdruck zu bringen, geraten hierdurch in Gefahr – sei es, weil vielen Mitarbeitern finanziell unterstützter Forschungsprojekte die Veröffentlichung ihrer (angeblich) sicherheitsrelevanten Ergebnisse seitens der Administration direkt untersagt wird oder weil diese aus Angst vor einer Einstellung der Förderung Selbstzensur üben.268 Die zunehmende Außenfinanzierung und Vermischung von Forschung an Hochschulen und privaten Think Tanks oder Wirtschaftsunternehmen könnte damit zu einem Hindernis für die aktive Rolle werden, die Wissenschaftler gerade in der US-amerikanischen Öffentlichkeit häufig gegen die vorherrschende Regierungsmeinung eingenommen haben.269 266 267 268 Weaver, Kent R. 1989: The Changing World of Think Tanks, in: Political Science & Politics 22: 3, S. 563578, hier S. 563. Um die hier vergebenen Aufträge besser kontrollieren zu können, hat der Kongress mit dem Defense Science Board sogar eine advisory group zu diesem Thema eingerichtet. Vgl. Merges, Robert 1993: The Public Research Enterprise in the U.S.: Overview and Prospects, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.): Scientific Research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free Marked, Baden-Baden, S. 13-28, hier S. 19. Anders, als vielleicht vermutet werden könnte, ist insbesondere im Bereich der Rüstungsforschung nicht das DOD größter Auftraggeber, sondern das National Institute of Health (NIH), das den Anspruch hat, v. a. kostspielige Grundlagenforschung zu finanzieren. Vgl. Nelkin, Dorothy 1993: From the Tower to the Trenches: Changing Concepts of Scientific Freedom, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.): Scientific Research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free Market, Baden-Baden, S. 29-40, hier S. 31. Wie es etwa Neuborne deutlich vor Augen führt: „The most pervasive threat comes from the understandable reluctance of a scientist to bite the hand that not only feeds him today, but has life or death power over feeding him tomorrow. It takes an awfully brave scientist to ignore ‘suggestions’ from a government funding source about what to do and what to say, or not say, about pending research.” Neuborne, Burt 1993: Freedom of 269 Scientific Inquiry and the American Bill of Rights, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.): Scientific research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free Marked, Baden-Baden, S. 41-56, hier S. 51. Neben häufigem Personalaustausch auch zwischen Universitäten und Think Tanks halten mittlerweile 30% aller in der National Academy registrierten Wissenschaftler Anteile an wissenschaftlichen Unternehmen oder sitzen in deren Vorstandsgremien. Vgl. Nelkin, Dorothy 1993: From the Tower to the Trenches: Changing Concepts of Scientific Freedom, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.): Scientific research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free Marked, Baden-Baden, S. 29-40, hier S. 35. – 74 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A 4.2.2 Öffentlichkeit Auch, wenn sich das Wahlvolk nicht in einer der oben genannten Formen politisch engagiert, so sorgen doch eine Reihe von Instituten (teilweise im staatlichen Auftrag) dafür, dass die hier vertretenen Meinungen immer wieder durch Umfragen abgeprüft werden, die dann nicht nur den Ausgang von Entscheidungsprozessen beeinflussen, sondern auch die politische Agenda verändern können. Da die Volksmeinung (als Gegensatz zur absichtlich veröffentlichten Meinung) in den USA als wichtiges Element der demokratischen „Willensbildung von unten nach oben” angesehen wird,270 entwickelten sich hier schon früh Instrumente zu deren Bestimmung, wobei die bereits seit den 1930er Jahren durchgeführten Gallup-Umfragen das bekannteste sein dürften.271 Hinderlich in diesem Zusammenhang ist allerdings das vergleichsweise geringe Informationsniveau, über das die US-amerikanischen Bürger durchschnittlich (!) verfügen. Zwar gilt die in den 1950er Jahren prominent von Gabriel Almond und Walter Lippman vertretene Ansicht, die öffentliche Meinung sei ebenso unbeständig wie inkohärent und sei deshalb für Formulierung US-amerikanischer Politik (zu Recht) kaum relevant, mittlerweile als überholt.272 Dennoch erscheint es bedenklich, dass auch keine neueren Studien „…[are] based on some newly found evidence that the public is in fact well informed about foreign affairs. Not only do polls repeatedly reveal that the mass public has a very thin veneer of factual knowledge about politics, economics, and geography; they also reveal that it is poorly informed about the specifies of conflicts, treaties negotiations with other nations, characteristics of weapon systems, foreign leaders and the like.”273 Dementsprechend ist auch die Wahlbeteiligung extrem gering: Seit den den 1960er und 1970er Jahren sind die amerikanischen Werte stetig gesunken, so dass sich dort nun die zweitniedrigste bzw. sogar niedrigste Wahlbeteiligung aller demokratischer Staaten feststellen lässt.274 Neben Uninformiertheit (Bürger mit höherem Bildungsstand gehen statistisch gesehen häufiger zur Wahl) und allgemeinem Desinteresse sind auch die Tücken des amerikanischen 270 271 272 273 274 Zu diesem Umstand trägt auch bei, dass es in den USA viel weniger klar erkennbare politische Eliten gibt, die eine einheitliche und sich vom Rest der Bevölkerung klar zu unterscheidende politische Linie verträte, als es noch in den 1960er Jahren der Fall war. Vgl. Héritier, Adrienne: Politische Eliten, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 315-329, hier S. 315. Kleinsteuber, Hans J. 1998: Massenmedien und öffentliche Meinung, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 343-356, hier S. 354. Vgl. Holsti, Ole 1992: Public Opinion and Foreign Policy: Challenges to the Almond-Lippmann Consensus, in: International Studies Quarterly 36, S. 439-466, hier insbes. S. 442-445. Holsti, Ole 1992: Public Opinion and Foreign Policy: Challenges to the Almond-Lippmann Consensus, in: International Studies Quarterly 36, S. 439-466, hier S. 447. Problematisch erscheint hier auch, dass große ethnische Gruppen innerhalb der USA noch immer nicht ausreichend in politischen Institutionen repräsentiert sind (hier insbesondere Afroamerikaner und Latinos), was zur vielbeklagten Politikverdrossenheit gerade unter diesen Gruppen führt. Vgl. Schreyer, Söhnke 1998: Wahlsystem und Wählerverhalten, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 246-267, hier S. 249. In den letzten Jahren lag die Beteiligung an Wahlen zu Senat und Repräsentantenhaus zum Teil deutlich unter 50%, bei Präsidentschaftswahlen leicht darüber, wobei zumindest letztere nach 2001 leicht gestiegen ist, vgl. Daten der Interparlamentary Union unter: <http://www.ipu.org/english/qksrch.htm> bzw. Angaben des U.S. Census Bureau unter: <http://www.census.gov/population/www/socdemo/voting.html>, rev. 07.04.2006. – 75 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Wahl(männer)systems und die praktischen Schwierigkeiten bei der Stimmabgabe als Gründe für diese keinesfalls rühmlichen Zahlen zu nennen.275 Dass aus solch ernüchternden Zahlen zur Informiertheit und Interessiertheit der USamerikanischen Öffentlichkeit am politischen Geschehen nicht geschlossen werden kann, dass aus einer scheinbar passiven Bevölkerung nicht (wort)gewaltige Bürgerbewegungen entstehen können, ist gerade in der amerikanischen Vergangenheit mehrfach unter Beweis gestellt worden (s. o.). Aus diesem Grund und auch der hohen Wertschätzung, die der Volksmeinung trotz allem entgegengebracht wird, gehört die Überprüfung von Präsident und Kongress, ob Gesetzesvorhaben von der Bevölkerung begrüßt werden, mittlerweile zu den festen Bestandteilen vieler Entscheidungsprozesse. Es ist allerdings fraglich, ob die Meinung des Supreme Court, dass in den USA „[a]uthority (…) is to be controlled by public opinion, not public opinion by authority ”,276 nicht nur de jure und de facto eingeschränkt richtig ist. Denn nicht nur wird bei politischen Kontroversen seitens politischer Institutionen und Individuen versucht, die öffentliche Meinung auf die eigene Seite zu ziehen, auch die Medien wirken bei einem solchen going public als Meinungsmacher mit. 4.2.3 Medien Die liberalen Grundsätze der US-Politik, die als Basis für eine beinah unregulierte Tätigkeit von Lobbygruppen dienen und Einschränkungen der öffentlichen Meinungsfreiheit auszuschließen scheinen, können auch als Grundlage dafür angesehen werden, dass die USamerikanische Medienlandschaft weitgehend ohne staatliche Einmischungen bleibt.277 Viel mehr als staatlichen Vorgaben sind alle Medien den Prinzipien des freien Marktes unterworfen, d.h. existentiell von Werbeeinnahmen und Einschaltquoten abhängig und damit letztlich den (vermeintlichen) Bedürfnissen der Leser, Hörer und Zuschauer unterworfen. Zwar existiert ein staatlich finanziertes Schulfernsehen (mit verschwindend geringen 275 276 277 Das the winner takes it all-Prinzip des amerikanischen Wahlrechts, nach dem alle Wahlmänner eines Bundesstaates für einen Präsidentschaftskandidaten stimmen (sollen), wenn dieser auch nur wenige Stimmen mehr auf sich vereinigen kann, als sein Gegenkandidat, machte es 2000 möglich, dass George Bush zum Wahlsieger erklärt wurde, obwohl – auf nationaler Ebene gesehen – insgesamt weniger Bürger für ihn gestimmt hatten, als für Al Gore. Zudem entbrannte im gleichen Jahr ein Streit über angeblich verwirrende Abstimmungszettel und –maschinen, die v. a. in Regionen mit mehrheitlich demokratisch gesinnter Bevölkerung zum Einsatz gekommen seien. Hinzu kommt, dass sich amerikanische Wähler, um überhaupt zur Wahl zugelassen zu werden, zunächst selbst in Wählerlisten registrieren lassen müssen. Fall West Virginia Board of Education versus Barnette aus dem Jahr 1943 (319 U.S. 624). Das erste amendment zur US-Verfassung stellt bereits fest: „Congress shall make no law respecting an establishment of (…) abridging the freedom of speech, or of the press”. Auch gibt es keine juristischen Regelungen hinsichtlich möglicher staatlicher Zensur, was es z. B. Präsident Nixon 1971 unmöglich machte, brisante Akten zum Vietnamkrieg unter Verschluss zu halten. Allerdings schränkte der Supreme Court seine damalige Entscheidung im darauf folgenden Jahr wieder ein, indem er darauf hinwies, dass es auch kein Recht auf Zugang zu und Berichterstattung über alle politischen Dokumente gäbe. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 98. – 76 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Einschaltquoten), große öffentlich-rechtliche Rundfunk- oder Fernsehanstalten gibt es in den USA jedoch nicht.278 Gerade aus deutscher Sicht mag es als Defizit erscheinen, dass vor diesem Hintergrund „Journalismus in dem Verständnis des sogenannten ‚corporate journalism’ dafür da [ist], die Marketing-Strategie des Medienunternehmens zu bedienen und nicht umgekehrt”.279 Dies hindert eine Mehrheit der US-amerikanischen Bürger jedoch nicht daran, das im Kampf um Einschaltquoten besonders unter Druck geratene Fernsehen als wichtigstes Medium überhaupt (die durchschnittliche Einschaltzeit liegt bei ca. sieben Stunden pro Tag) und überdies als wichtigste Informationsquelle anzusehen: Als solches bezeichnen es 2005 immerhin 66% der Bevölkerung, 55% nannten es darüber hinaus das glaubwürdigste Medium.280 Möglicherweise sind diese Zahlen als später Widerhall der Entwicklung des typisch amerikanischen investigativen Journalismus zu sehen.281 Heute erscheinen diese Zahlen allerdings sehr problematisch, hält man sich vor Augen, dass Informations- und insbesondere Nachrichtensendungen seit den 1970er Jahren auf ein Minimum gekürzt wurden – v.a., weil das Publikum Meinungsumfragen zufolge viel weniger am politischen Geschehen interessiert zu sein scheint.282 Neben der generellen Entpolitisierungstendenz der US-amerikanischen Medienlandschaft wurden auch die Formate der Nachrichtensendungen selbst „markttauglicher“ gemacht: Gefragt sind v.a. kostengünstig zu beschaffende und leicht zu visualisierende Informationen, die sich massentauglich vereinfachen lassen. Folglich machen Meldungen aus dem Ausland – aufgrund nachzuliefernder Hintergrundinformationen und evtl. teurer Auslandskorrespondenten – nur einen minimalen Bestandteil der Berichterstattung aus, während die meisten politischen Berichte sich direkt auf das Geschehen in Washington konzentrieren. Hinzu kommt ein hoher Personalisierungsgrad der Berichterstattung, insbesondere was die Person des Präsidenten anbelangt, die in 80 Prozent der Meldungen im Zentrum steht, während wesentlich seltener über Vorgänge im Kongress berichtet wird. Letztgenannter Trend ist auch bei den US-amerikanischen Printmedien zu beobachten: 278 279 280 281 282 Im Folgenden wird ausschließlich auf das US-amerikanische Fernsehen und die Printmedien eingegangen. Dem Rundfunk kommt weder im politischen Geschehen, noch in unserer Analyse eine bedeutende Stellung zu. Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 84. Vgl. Angaben des Jahresberichts des Project for Excellence in Journalism der Columbia University: The State of the News Media 2006 , online unter: <http://stateofthemedia.org/2006>, rev. 07.04.2006. S. auch Kleinsteuber, Hans J. 1998: Massenmedien und öffentliche Meinung, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 343- 356, hier S. 349. Dieser ist auch als die wichtigste Ursache der Vertrauenskrise zu sehen, in die die politischen Eliten der USA gerieten, als der Vietnamkrieg plötzlich im Wohlzimmer zu sehen war und die bis heute ein eher misstrauisches Verhältnis zwischen Medien und Politik nach sich zieht. Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 85. – 77 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A „There has been a de-emphasis in coverage of routine political and government news at daily newspapers, too. (…) The end result often meant less attention to government by daily newspapers, particularly, the hum-drum activities of agencies and legislative bodies that once was the staple of news coverage.”283 Dahinter steht die veränderte Finanzierungsweise der Printmedien, die ihr Budget mittlerweile zu 75 bis 85 Prozent aus Anzeigeneinnahmen beziehen. Die eigentliche Berichterstattung läuft damit Gefahr, zum attraktiven (weil verkaufsträchtigen) Rahmen der Anzeigen zu verkommen. Gegenüber der Popularität des Fernsehens sind die klassischen Printmedien in den USA ins Hintertreffen geraten: Der Prozentsatz zeitungslesender US-Amerikaner sinkt stetig der 50 Prozent-Marke entgegen, wobei die mit Abstand höchste Auflage noch immer USA Today mit ca. 2 Mio. Lesern erzielt.284 Trotz starker Konkurrenz hat in den USA eine Vielzahl größtenteils regionaler Zeitungen überlebt – allerdings nur durch den Zusammenschluss in immer größer werdenden Medienkonzernen.285 Besonders großer Meinungsmacht durch fundierte Berichterstattung, Kommentare und Analysen wird heute insbesondere der Los Angeles Times, der New York Times, dem Wall Street Journal und der Washington Post beigemessen, wobei uns die letzten drei als Quellen unserer Analyse dienten. Die Gründung der New York Times und der Washington Post fiel noch ins 19. Jahrhundert, beide gelten heute als eher linksliberal und gehören mit (wochentags) über einer Million bzw. mehr als 700.000 Lesern zu den größten Zeitungen der USA. Als jüngste dieser drei Zeitungen wurde 1889 das eher konservative und auf Wirtschaftsnachrichten ausgerichtete Wall Street Journal gegründet, das bis vor wenigen Jahren noch mehr Leser verzeichnen konnte, als die USA Today . Heute ist die Auflage auf ca. 1,8 Millionen Exemplare zurückgegangen. Die oben skizzierten Entwicklungen könnten sicherlich mit dem Hinweis auf global zu beobachtende ähnliche Tendenzen relativiert werden. Andererseits kommt gerade im Hinblick auf die USA erschwerend hinzu, dass im gleichen Zug, wie die Medien ihr Interesse an der Politik verlieren, die Politik immer stärker von der Medienberichterstattung geprägt wird. Dies lässt sich letztlich auf die starke institutionelle Trennung von Präsident und Kongress zurückführen, die mittlerweile weniger direkt, als über die Medien miteinander kommunizieren, bzw. versuchen, die jeweils andere Seite mit Hilfe entsprechender Berichterstattung und der daran anschließenden, gewünschten Resonanz in der Bevölkerung unter Druck zu setzen. Dieser sogenannte going public-Mechanismus wurde zunächst nur vom US-Präsidenten Kongressabgeordneten 283 284 285 genutzt, mittlerweile übernommen. In aber letzter auch von Konsequenz einflussreichen werden wichtige Underwood, Doug 1998: Market Research and the Audience for Political News, in: Graber, Doris/McQuail, Denis/Norris, Pippa (Hg.): The Politics of News – The News of Politics, Washington: Congressional Quarterly, S. 174. Vgl. Angaben des Jahresberichts des Project for Excellence in Journalism der Columbia University : The State of the News Media 2006 , online unter: <http://stateofthemedia.org/2006>, rev. 07.04.2006. Hübner spricht von 80% der Zeitungen, die zu einem größeren Konzern gehören, wobei der größte die Thompson-Gruppe mit allein 110 Zeitungen ist. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 97. – 78 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Gesetzesvorhaben deshalb häufig der Presse vorgestellt, um für eine positive Grundstimmung innerhalb der Bevölkerung zu sorgen, noch bevor sie im Kongress diskutiert werden.286 Auch die fehlende Rückendeckung der Spitzenpolitiker durch Parteiapparate hat zur Folge, dass sie durch eine mediengerechte Inszenierung ihrer Politik permanent versuchen, für das Vertrauen der Bevölkerung, bzw. ihres Wahlkreises zu werben. Aufgrund der enormen Bedeutung medialer Aufmerksamkeit für die US-Politik ist insbesondere das Verhältnis von Medien und US-Präsidenten extrem reglementiert und institutionalisiert worden: Neben dem White House Press Office bietet ein offizieller Pressesprecher den Medien permanent eine feste Anlaufstelle im Weißen Haus. Das White House Office of Communications dient dagegen einer gezielteren Beeinflussung der Medien sowie als Auftrags- und Sammelstelle für Meinungsumfragen. Bis heute werden hier – jenseits der Tagespolitik – auf den Präsidenten zugeschnittene politische Imagepflege betrieben und große Medienkampagnen geplant, sowie Initiativen der Administration gegenüber dem Kongress durch going public vorbereitet. Gegenüber der Öffentlichkeitsarbeit des Weißen Hauses ist diejenige des Kongresses ins Hintertreffen geraten. Unter anderem aufgrund dieser medialen Übermacht ist es für Kongressabgeordnete schwer, sich kritisch gegenüber einem populären Präsidenten zu positionieren. Auch die Administration hat zunehmend Probleme, alternative politische Ansätze massenwirksam publik zu machen. Zumindest Außen- und Verteidigungsministerium haben in den letzten Jahren jedoch eigene Informationsapparate aufgebaut. 4.3 Politische Kultur Ohne weiter auf politikwissenschaftliches Gerangel um die Definitionsweise oder Analysemöglichkeiten von politischen Kulturen eingehen zu wollen,287 sollen in diesem Kapitel abschließend noch einige Grundprämissen und –einstellungen US-amerikanischer Politik aufgezeigt werden. Teilweise sind sie in obigen Unterkapiteln bereits angeklungen, teils werden sie in den folgenden Fallstudien weiter vertieft. Möglicherweise lässt sich eine unterschwellige, spezifisch US-amerikanische politische Kultur noch immer vergleichsweise einfach ausmachen – kann doch unterstellt werden, dass spätestens seit dem 18. Jh. bewusst versucht wurde, eine politische Identität zunächst zu 286 287 Vgl. Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 71. S. für das Folgende: Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 76-81 und 95. Das Problem wurde mit dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, verglichen, s. etwa Kaases gleichnamigen Aufsatz: Kaase, Max 1983: Sinn oder Unsinn des Konzepts „Politische Kultur” für die Vergleichende Politikforschung oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: Kaase, Max/Klingemann, Hans-Dieter (Hg.): Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980, Opladen, S. 144-171. Für einen Standardtext zum Begriff der „politischen Kultur“ s. Almond, Gabriel/Verba, Sidney 1963: The Civic Culture, Princeton. – 79 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A kreieren und dann zu festigen.288 In der Harvard Enzyklopädie ethnischer Gruppen ist entsprechend zu lesen: “ …a person did not have to be of any particular national, linguistic, religious, or ethnic background. All he had to do was to commit himself to the political ideology centered on the abstract ideals for liberty, equality and republicanism.” 289 Die hier genannten Werte beschreiben nicht zufällig das genaue Gegenteil des politischen Alltags in den Heimatländern der ersten Auswanderer. Diese Grundformel des „Amerikanismus“ ist häufig auf enger gefasste Begriffe heruntergebrochen oder modifiziert worden. Ebenfalls noch in der Frühzeit des „Projekts Amerika“ scheint die tiefe Überzeugung (und der Stolz) zu wurzeln, ein mächtiges Land mit einer völlig neuen Gesellschaftsordnung geschaffen zu haben, bzw. sogar God’s chosen people zu repräsentieren – und aus der Erfahrung, neue Vorstellungen in die Tat umsetzen zu können, speist sich bis heute eine optimistische Zukunftsorientiertheit US-amerikanischer Politik. Noch heute verfügen viele Persönlichkeiten aber auch normale Bürger, die sich in der Tradition der puritanischen Gründungsväter von God’s own country sehen, über ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein für ihre Zivilreligion, mit dem freilich zunächst die Herrschaft über die Ureinwohner Nordamerikas gerechtfertigt werden sollte.290 Andernfalls hätte man den Freiheitsentzug ganzer Völker wohl kaum mit dem Dogma eines auf Freiheit beruhenden Staatswesens zu begründen vermocht. Auch während des amerikanischen Bürgerkrieges, der sich bekanntermaßen auch an der Kontroverse über die Zulässigkeit von Sklaverei entzündete, wurde der Grundsatz, dass Freiheit eine elementare Voraussetzung menschlicher Existenz sei, von keiner der beiden Parteien bestritten.291 Schließlich findet sich gerade die Freiheit von politischer Unterdrückung an zentraler Stelle der Unabhängigkeitserklärung von 1776: „[Men] are endowed by their Creator with certain inalienable Rights, that among these are Life, Liberty (…) That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it“.292 Die Grundprinzipien Freiheit und Würde sind hierbei in engem Zusammenhang zu sehen: Die Freiheit, das Leben selbst zu bestimmen und die Würde, in dieser persönlichen Freiheit respektiert zu werden bildeten schon früh einen Grundpfeiler der Debatten um die erste amerikanische Verfassung, in der beide Werte schließlich als natürlich gegebene, also vorstaatliche Grundprinzipien festgehalten wurden. 288 289 290 291 292 Vgl. Gleason, Philip 1980: American Identity and Americanization, in: Thernstrom, Stephan (Hg.): Harvard Encyclopaedia of American Ethnic Groups, Cambridge, S. 31-58, hier S. 32. Gleason, Philip 1980: American Identity and Americanization, in: Thernstrom, Stephan (Hg.): Harvard Encyclopaedia of American Ethnic Groups, Cambridge, S. 31-58, hier S. 32. Am augenscheinlichsten zeigt sich dies im Glauben an ein sog. Manifest Destiny , also die als schicksalhaft empfundene „Zivilisierung“ durch Annektierung v. a. der westlichen Landesteile durch die „Anglo Saxon race”. S. Stephanson, Anders 1995: Manifest Destiny. American Expansion and the Empire of Right, New York. Vgl. Timmermann, Marina 2000: Die Macht kollektiver Denkmuster. Werte, Wandel und politische Kultur in den USA und Japan, Opladen, S. 77. Absatz zwei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 04. Juli 1776. – 80 – Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A Auch, wenn sich die immer heterogener werdende Gesellschaft der Vereinigten Staaten heute nicht mehr über einen „Grundprinzipienkamm“ scheren lässt, ist es doch erstaunlich, wie kontinuierlich die grundlegenden normativen Überzeugungen, mit denen die Gründerväter der USA einmal angetreten waren, über Generationen hinweg immer wieder neu konstruiert wurden und bis heute nicht nur das Weltbild vieler US-Amerikaner, sondern auch das Bild eines Großteils der Welt von den Vereinigten Staaten noch immer prägen. Möglicherweise hängt das Überdauern dieser Identität auch mit dem Internalisierungsgrad für die konstitutiven Normen zusammen, der sich mit Hofstadter folgendermaßen beschreiben lässt: „It has been our fate as a nation not to have ideologies but to be one.”293 293 Hofstadter, Richard 1973 [1948]: The American Political Tradition and the Men Who Made It, New York, S. 43. – 81 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus 5. Ausgangslage: Tabuentstehung und Internalisierung 5.1 Das internationale Folterverbot Bevor wir uns den Diskussionen und Erosionsprozessen der letzten Jahre in den USA zuwenden, sollen zunächst die beiden untersuchten Tabus sowie ihre Entstehung und Wirkung vorgestellt werden, was uns letztendlich zu den Kriterien führt, anhand derer wir die einsetzenden Erosionsprozesse festmachen können. Die folgenden Unterkapitel dienen also als Folie, vor deren Hintergrund der Beginn, die Besonderheiten und die argumentativen Strukturen der laufenden Erosionsprozesse erst deutlich werden. Die verschiedenen Wirkungsweisen des Foltertabus sowie dessen frühere argumentative Begründung erschließen sich am besten durch einen chronologischen Rückblick auf dessen Entstehungsgeschichte, der im Zentrum dieses Unterkapitels steht (5.1.2). Eingeleitet wird es jedoch durch einen kurzen Überblick über die heutigen, sich gegenseitig bestärkenden Komponenten des Tabus (Punkt 5.1.1), während die abgeleiteten Kriterien zur Tabuerosion im letzten Abschnitt (Punkt 5.1.3) vorgestellt werden. 5.1.1 Worin besteht das Foltertabu? „Whatever one might say about torture, there appear to be moral reasons for not saying it.” 294 Ebenso wie das nukleare Tabu weist auch das Folterverbot verschiedene Dimensionen auf, deren sichtbarste Ausprägung jedoch seine rechtliche Komponente ist. Das Folterverbot ist, neben dem der Sklaverei, eine der am stärksten kodifizierten Menschenrechtsnormen.295 Es gilt absolut, da einschlägige Rechtstexte jegliche Ausnahmeregelungen ausdrücklich untersagen und nahezu universell, da beinahe jeder Staat der Welt gleich mehrfach – auf internationaler, regionaler und nationaler Rechtsebene – daran gebunden ist, wie im folgenden Unterkapitel gezeigt wird. Ein Blick in die Folterstatistiken von Amnesty International (AI) und anderen Menschenrechtsorganisationen legt jedoch nahe, dass diese starke rechtlich Bindung keineswegs mit einem hohen Maß an compliance einhergeht, denn in mehr als zwei Dritteln aller Staaten wird gefoltert, in 70 davon systematisch und oftmals staatlich geduldet296 – darunter allerdings nur in sehr wenigen Demokratien.297 Vielmehr als in der bloßen Befolgung der Norm (so wünschenswert dies auch wäre) besteht der Kern des Foltertabus in der 294 295 296 297 Shue, Henry 2004: Torture, in: Levinson, Sanford (Hg): Torture. A Collection, Oxford, S. 47-60, hier S. 47. Dies wird selbst von Menschenrechts-NGOs anerkannt. Vgl. etwa Lochbihler, Barbara 2005: Für eine Welt frei von Folter, in: Psychosozial 28:2, S. 65-69, hier S. 66. So kann eine Beteiligung der Polizei in 140 Ländern nachgewiesen werden. Vgl. Amnesty International 2000: Für eine Welt frei von Folter, Bonn, S. 8. Die Angaben beruhen auf Untersuchungen von Amnesty International in 195 Ländern, die von 1997 bis 2000 durchgeführt wurden. Da beinahe jeder Staat versucht, Folterungen auf seinem Territorium zu verschleiern, ist jedoch mit einer noch höheren Dunkelziffer zu rechnen. Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 17. – 82 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Undenkbarkeit, das Folterverbot selbst in Frage zu stellen, indem Folter öffentlich als legitimes Mittel dargestellt wird.298 Tatsächlich hat bisher kein Staat der Welt ein Recht auf Folter eingefordert oder die auf seinem Territorium stattfindenden Folterungen zu legitimieren versucht.299 Ähnlich dem internationalen Gewaltverbot wurde das Folterverbot bisher also von staatlicher Seite her niemals rhetorisch unterlaufen.300 Darüber hinaus besteht auch ein Verbot, im Fall eines Bruchs ernsthaft über die Gültigkeit der Norm zu diskutieren. Während sich für einen Angriffskrieg, so er denn als humanitäre Intervention gedeutet werden kann, in den letzten Jahren unterschiedliche argumentative Begründungsmuster herausgebildet haben, kann dem Vorwurf, sich Folterungen schuldig gemacht zu haben, keine ernsthafte Rechtfertigung entgegengesetzt werden. Ebensowenig bedarf es einer Erklärung der KritikerInnen, warum diese Folter für falsch halten. Als etwa in den 1970er Jahren die USamerikanischen Geheimdienste beschuldigt wurden, im Rahmen ihrer unrühmlichen Verstrickungen in Vietnam und Südamerika gefoltert zu haben, mussten weder die aufgebrachten SenatorInnen Begründungen dafür vorbringen, warum sie Folter für etwas Schlechtes hielten, noch wurden auf Seiten der Beschuldigten Argumente in Stellung dafür gebracht, warum Folterungen in diesen Fällen doch angebracht seien, sondern von Seiten der Verantwortlichen wortreich versichert, man werde die Anschuldigungen ernst nehmen und das Übel umgehend abstellen.301 Das Tabu zu foltern ist also auch daran zu erkennen, dass argumentative Begründungen auf Seiten seiner BefürworterInnen nicht nötig sind, da das Tabu für alle selbstverständlich ist und Rechtfertigungen seitens der BrecherInnen des Verbots nicht möglich sind, da sie den Schutzbereich des Tabus bereits verletzten und deshalb als tabu gelten. Dieses gesamtgesellschaftliche „Schweigetabu“ umfasst daneben eine psychologische Komponente der Tabuisierung, nämlich die des Sprechens von Folterern und deren Opfern über ihre Erfahrungen, der aufgrund ihrer Ausrichtung auf Individuen in dieser Arbeit allerdings nur ein geringer Stellenwert zukommt. Interessant ist jedoch, dass eine Übertretung des Foltertabus psychologisch gesehen nicht nur – wie von Freud beschrieben – den 298 299 300 301 Der Begriff „Foltertabu“ wird also nicht mit dem des Folterverbots synonym verwendet, da ersterer über die rechtliche Komponente des zweiten weit hinausgeht. Das zusammengesetzte Wort „Foltertabu“ findet im alltäglichen Sprachgebrauch zwar selten Verwendung, die Einstufung von Folter als Tabu ist jedoch üblich. Als solches bezeichnen Folter nicht nur Vertreter von Menschenrechtsorganisationen (wie Kenneth Roth, der Exekutivdirektor von Human Rights Watch (HRW) in einem Streitgespräch mit dem norm challenger Alan Dershowitz (online unter: <http://edition.cnn.com/2003/LAW/03/03 /cnna.Dershowitz>, rev. 19.07.2006), sondern auch Journalisten (etwa im special report des Economist vom 11.01.2003 unter dem Titel „Is torture ever justified? ”, S. 21), Juristen (z. B. Conor Geaty, Rechtsprofessor an der London School of Economics: Geaty, Conor 2005: We must keep the last taboo, in: The Guardian, 19.04.2005) oder auch Politikwissenschaftler (etwa Allen, Jonathan 2005: Warrant to Torture? A Critique of Dershowitz and Levinson, in: ACDIS Occasional Paper 2005:1, S. 1). Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 1. Auch der staatlichen Souveränität als einer grundlegenden Norm des internationalen Systems wird rhetorisch Rechnung gezollt, da kein Staat in der Position des Angreifers gesehen werden möchte. Selbst Hitler nahm für Deutschland in Anspruch, 1939 „nur“ zurückgeschossen zu haben. Vgl. S. 151 der Arbeit. – 83 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus BrecherInnen eines Tabus (hier also den Folterer) tabu werden lässt,302 sondern auch dessen Opfer, denn beide erfahren häufig eine gesellschaftliche Stigmatisierung. Eher selbstverständlich erscheint, dass es für ein soziales Umfeld schwierig ist, einen ehemaligen Folterer wieder in die Gemeinschaft einzubinden, solange seine bzw. ihre Taten nicht erfolgreich totgeschwiegen werden können. Auch Familien von Folteropfern fällt es aber häufig ebenso schwer wie den Gefolterten selbst, zu akzeptieren, dass die (eigene) Person physisch wie psychisch völlig der Gewalt einer anderen ausgeliefert war.303 Dieses Verschweigen- und Weghören-Wollen des eigenen Umfeldes erschwert das Aufarbeiten der eigenen Erfahrungen und damit eine Rehabilitierung ehemaliger Opfer wie TäterInnen erheblich. Aufgrund des ewigen schlechten Gewissens „rächt sich” das Tabu deshalb häufig „von selbst”, so liegen die Selbstmordraten auf beiden Seiten extrem hoch. Die Frage, ob mit der Tabuisierung der Folter menschliche Triebe in Zaum gehalten werden sollen, wie Freud es vermutete, ist schwerer zu beantworten. Einerseits gilt es zwar aufgrund psychologischer Experimente als erwiesen, dass ein recht hoher Prozentsatz von Menschen schnell zu Folterern gemacht werden kann (man denke nur an das berühmte Milgram-Experiment), doch handelt es sich hier um die Ausbildung sogenannter „GehorsamsFolterer“, die aufgrund unreflektierter Autoritätshörigkeit handeln und nicht um die „Sadismus-Folter“, zu der nur ein geringerer Teil der Menschheit fähig zu sein scheint.304 Andererseits basiert das Tabu eher auf der Vorstellung eines sadistischen Folterers als Personifizierung ebenso triebhafter wie abgrundtief böser Motive. Auch wenn die Lust, Menschen Schmerzen zuzufügen, sicherlich bei weitem nicht bei jeder und jedem ausgeprägt ist, so lässt sich doch ein genereller Hang dazu, völlige Macht über andere zu erlangen und auszuüben, schwer leugnen. Im Gegenteil zum nuklearen Tabu liegt im Fall von Folterungen als einer bestimmten Handlung kein zu ächtender (und zu achtender) Totem-Gegenstand äquivalent zu einer Atombombe vor. Tatsächlich ist es besonders das Erschrecken über die Fähigkeit des Menschen, diese Handlungen auszuüben, das uns eine Auseinandersetzung mit dem Thema vermeiden lässt (und nicht etwa die Gefahr durch einen technischen Gegenstand, wenn dieser auch erst vom Menschen geschaffen und aktiviert werden muss). So weist etwa Dershowitz darauf 302 303 304 hin, dass Beschreibungen von Folterhandlungen selbst Menschen, die Vgl. Freud, Sigmund 1940: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 28. Interessanterweiseweise existiert zu dem Begriff „Folterer“, der ja eindeutig auf einen männlichen Straftäter verweist, kein weibliches Pendant, obwohl sich bekanntermaßen auch Frauen – allerdings erst seit kurzer Zeit – solcher Vergehen schuldig machen. Vgl. zu den Schuldgefühlen des Opfers: Haas, Daniela 1997: Folter und Trauma – Therapieansätze für Betroffene, Oldenburg, S. 73f. und zur Beziehung zu seinem sozialen Umfeld Ahmad, Salah/Müller Schöll, Wiltrud 2002: Heilung durch Begegnung. Systematische Familientherapie mit Folterüberlebenden, in: Birck, Angelika/Pross, Christian/Lansen, Johan (Hg): Das Unsagbare. Die Arbeit mit Traumatisierten im Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin, Berlin, S. 95-106. Vgl. Keller, Gustav 1991: Die Psychologie der Folter, Frankfurt am Main, S. 12ff. bzw. Milgram, Stanley 1995: Das Milgram-Experiment: zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Hamburg, S. 145ff. – 84 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus selbstverständlich für die Todesstrafe Stellung beziehen, erschaudern lässt.305 Dies mag damit zusammenhängen, dass mit Folterungen sofort archaische oder diktatorische Staatsformen assoziiert werden (wie etwa mittelalterliche Gesellschaften oder Chile unter Pinochet) in denen kein Bürger vor staatlicher Verfolgung sicher zu sein scheint, so dass sich der Zuhörerin – weit häufiger als im Fall der Todesstrafe – automatisch in die Rolle des Opfers versetzt, eventuell auch dessen Gefühl völligen Ausgeliefertseins nachvollzieht und so (zunächst) kaum in der Lage ist, das Thema als abstraktes Problem aufzufassen. Zudem liegt die affektartige Ablehnung von Folter und das Nichtwissenwollen um ihre Existenz in einem nicht nur in westlichen Ländern vorherrschenden, diffusen Gefühl von Abscheu und Ekel begründet, das allein die durch die Erwähnung des Themas aufkommt und ebenfalls an die gedankliche Verbindung mit barbarischen „mittelalterlichen“ Praxen geknüpft ist – womit das Foltertabu wiederum in zweierlei Hinsicht dem Freudschen Modell ähnelt: Erstens liegen die Wurzeln des Tabus für die meisten Menschen tatsächlich im Dunkeln, bzw. irgendwo in den Jahrhunderten nach der Inquisitionszeit und zweitens löst bereits der Gedanke an das Verbotene negative Gefühle aus.306 Wie von Freud für die Kategorie des Totems beschrieben, in die alle Gegenstände mit einer bestimmten Eigenschaft fallen, sind auch jegliche Folterhandlungen tabuisiert, obwohl hier (wie auch im Fall des nuklearen Tabus) Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten. Da die Frage, was bereits Folter und was „nur“ unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt und ob in einem Fall ein Gefangener erst gefoltert oder bereits für Verfehlungen bestraft wurde, in vielen Fällen nur schwer zu entscheiden ist, verfolgen alle modernen einschlägigen Verträge einen umfassenden Ansatz, der Folter wie auch unmenschliche Behandlung oder Strafe untersagt.307 Aufgrund der genannten Elemente der Tabuisierung von Folter ist es nahezu unmöglich, ein positives Selbstbild zu entwickeln bzw. aufrechtzuerhalten und zugleich Folterungen offen zu thematisieren. Dies gilt für Individuen wie für (VertreterInnen von) Staaten gleichermaßen; auch auf internationaler Ebene stellt die Aufdeckung von Folterungen im eigenen Land einen schweren Makel dar, der einer Verabschiedung aus dem Kreis der zivilisierten Nationen gleichkommt. – Man denke nur an die schwierigen Verhandlungen der Europäischen Union 305 306 307 Dershowitz, Alan M. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 148. „Alles, was die Gedanken auf das Verbotene lenkt, eine Gedankenberührung hervorruft, ist ebenso verboten wie der unmittelbare leibliche Kontakt…”, Freud, Sigmund 1940: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 37. Die Praxis der Folter wird auch häufig mit der Inquisitionszeit in Zusammenhang gebracht, was insofern nachvollziehbar ist, als in dieser Zeit besonders wahllos, brutal und häufig gefoltert wurde. Genau wegen der unkontrollierten Ausbreitung und Anwendung dieser Methoden erscheint die Folter der Inquisitionszeit jedoch als krasse Ausnahme vor dem Hintergrund vieler Jahrhunderte, in denen sie Teil „normaler“ Strafgesetzbücher und Prozessordnungen war. Da sich die Diskussion um eine Abschaffung der Folter maßgeblich auf ihre Anwendung im Rahmen alltäglicher Gerichtsverfahren bezog, wird hier auch nur auf diese Verwendungsweise eingegangen. Vgl. aber für eine ausführliche Beschreibung des Stellenwertes von Folter in der Inquisitionszeit Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten, Erftstadt. So lautet auch die Bezeichnung der UN-Folterkonvention, s. S. 107 der Arbeit. – 85 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus mit der Türkei, die auch mit dem Hinweis auf staatlich geduldete Folter immer wieder verschoben worden sind. Ebenso wie die ersten Forderungen, Folter abzuschaffen, einem neuen, auf die unbedingte Beachtung unveräußerlicher Menschenwürde bedachten Gedankengut entsprangen, gingen auch die frühesten tatsächlichen Verbote Hand in Hand mit der Durchsetzung einer modernen Staatsraison, die ganz auf die Beachtung des Wohls jedes einzelnen Bürgers (zunächst noch nicht der Bürgerinnen) ausgerichtet war, wie im Folgenden dargelegt wird. Aus heutiger Sicht erscheint ein Hinterfragen des Folterverbots somit als Verrat am Gedankengut moderner Staatlichkeit – denn der Einsatz von Folter stellt nicht nur eine Missachtung der Menschenwürde dar (wie es bei allen Menschenrechtsverletzungen der Fall wäre), sondern zielt auf deren vollständige Negierung ab: Durch die Folter soll der Willen des Opfers gebrochen und es so zur „benutzbaren Sache ” herabgesetzt werden.308 Darüber hinaus stellt der Einsatz Folter auch die Grundlagen der heutigen rechtsstaatlichen Ordnung in Frage, namentlich die generelle Unschuldvermutung (wenn ein Schuldbekenntnis durch Folter erpresst werden soll) und die Möglichkeit des Opfers, den Täter bzw. die Täterin innerhalb des Justizsystems zur Rechenschaft zu ziehen, wie Reemtsma ausführt „Warum hat – noch bin ich nicht genötigt zu schreiben: hatte – das Verbot der Folter einen so zentralen Stellenwert in unserem modernen Verständnis von Sittlichkeit, dass es zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass ein Verstoß dagegen zum selbstverständlichen Skandal wird und dass eine Diskussion über ihre möglichte Relegitimierung bisher eine Unmöglichkeit war? Deshalb, weil seine Suspendierung die Idee des Rechtsstaats in ihrer Substanz beschädigte, auf der unsere moderne westliche Kultur beruht. Rechtsstaat bedeutet, dass jede Maßnahme der Exekutive einer unabhängigen rechtlichen Überprüfung – und zwar auch in Gang gesetzt durch den Betroffenen – offen steht.“309 Welches Opfer würde nicht sein Vertrauen in ein Justizsystem verlieren, in dem Folterungen legal angeordnet werden und das seine Menschenwürde derart missachtet? Eine Klage gegen dieses System im Rahmen dieses Systems erscheint aus dieser Perspektive absurd. Die skizzierten Dimensionen des Foltertabus – ungewöhnlich starke rechtliche Kodifizierung, psychologische Tabuisierung, die mit einer generellen Verdrängung des Themas einhergeht und gedankliche Verbindung mit den Wurzeln „zivilisierter Staatlichkeit“ – sind kaum voneinander zu trennen, sie haben im Zusammenspiel jedoch ein bis vor kurzem unangreifbar scheinendes Tabu konstituiert, dessen Wirkung auf allen Ebenen vom internationalen System bis zum Individuum hin deutlich wurde. Im Folgenden soll nun umrissen werden, wie diese Ebenen sich – gegenseitig verstärkend – herausgebildet haben, wobei im Vergleich zum „jungen“ nuklearen Tabu etwas weiter ausgeholt werden muss. Denn zum Einen begannen die Diskussionen um ein Folterverbot lange vor der Gründung der 308 309 Bielefeldt, Heiner 2005: Folter und Recht. Ein Menschenrechtsprinzip in der Krise?, in: Psychosozial 28:2, S. 19-26, hier S. 20. Reemtsma, Jan Philipp 2004: Fratze im Spiegel. Zur Diskussion der Folter, in: Internationale Politik 59:6, S. 95-100, hier S. 98. – 86 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus USA, die diese Norm jedoch umgehend übernahmen, zum Anderen spielt die historische Dimension für die Begründung des Tabus selbst (wie mit dem Hinweis auf das „mittelalterliche“ dieser Praxis bereits angeklungen ist) eine wichtige Rolle. 5.1.2 Wie ist das Foltertabu entstanden, internalisiert und durchgesetzt worden? Das umfassende Foltertabu ist das Ergebnis eines Zusammenspiels rechtlicher Verbote und gesellschaftlicher Stigmatisierungen, die bis heute fortbestehen. Sowohl die rechtliche Absicherung der Norm als auch die soziale Ächtung von Folter fußen auf ethischen Überlegungen, welche mit der Verselbstständigung des Tabus jedoch überflüssig wurden und über Zeit verloren gegangen sind. Ein historischer Überblick über die Entstehungsgeschichte der Folter erscheint kaum nötig, um die Entstehung, Durchsetzung und anschließende Internalisierung des Folterverbots zu beleuchten310 und bereits die Rahmenbedingungen, in denen sich die „Normkarriere“ des Folterverbots vollzog, können hier jedoch nur stark verkürzt wiedergegeben werden, begannen die Diskussionen um ein solches Verbot doch schon in der Antike. Genauere Betrachtung erfahren lediglich diejenigen Zeitabschnitte, in denen Begründungen für ein Folterverbot aufkamen, welche für die Etablierung des modernen Tabus eine wichtige Rolle spielten,311 nämlich in erster Linie die ethischphilosophischen Überlegungen der Frühaufklärung, deren rechtliche Umsetzung Ende des 18. Jahrhunderts und die sich entwickelnde Tabuisierung von Folter im beginnenden 19. Jahrhundert sowie – nach einem „Sprung“ von ca. 150 Jahren – die dem Wiederaufleben der Folter zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschuldeten umfassenden internationalen Folterverbote. Frühe Normverfechter: Von der Renaissance zum ersten Folterverbot „J’ose prendre le parti de l’humanité contre un usage honteux à des chrétiens et à des peuples policés, et, j’ose ajouter, contre un usage aussi cruel qu’inutile.” 312 In dem vorangestellten Auszug eines Briefs Friedrichs des Großen aus dem Jahr 1749 spiegelt sich innerhalb eines Satzes die gesamte Bandbreite der Antifolterargumente zurückliegender Jahrhunderte: Folter ist religiös betrachtet ebenso unzulässig wie einem modernen Staat 310 311 312 Vgl. hierzu aber die zwar auf widersprüchlichen Thesen basierenden, jedoch gleichermaßen interessanten und umfassenden Überblicke von Peters (Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg) und Schmoeckel (Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln) sowie für einen älteren Ansatz Helbing (Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten, Erftstadt). Aus dem gleichen Grund wird auf die Darstellung der Folterdiskussion außerhalb des westlichen Kulturkreises verzichtet, obwohl es insbesondere in China, Japan und Indien ähnliche Einschränkungsprozesse gab. Brief Friedrich des Großen aus dem Jahr 1749, abgedruckt in: Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 41. – 87 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus unangemessen und zudem grausam und unnütz. Sind die Vermutungen, dass der Brief an einen französischen Philosophen (Voltaire?) gerichtet war, richtig, „wagt“ der König hier jedoch weit weniger, als er vorgibt: Zwar hatte Friedrich II. acht Jahre zuvor als erster Regent in Kontinentaleuropa ein Folterverbot gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt,313 doch gehörte die hier zum Ausdruck gebrachte Ansicht in Kreisen nicht nur französischer Intellektueller bereits seit Jahrzehnten zum common sense. Rückblick: Kosten-Nutzen-Abwägungen antiker und mittelalterlicher Rhetoren Die älteste Kategorie von Argumenten, die in Diskussionen über Folter eine Rolle spielten und bei Friedrich mit dem Wort „inutile” zusammengefasst werden, sind rationale KostenNutzen-Kalküle hinsichtlich der Effizienz von Folter bei der Erlangung wahrer (!) Geständnisse. Solche Überlegungen wurden bereits in der Antike angestellt. So wies Aristoteles in seiner Ars Rhethorica darauf hin, dass Nützlichkeitsargumente sowohl wohl von FolterkritikernInnen, wie auch –befürworternInnen verwandt werden konnten: „Es besteht (…) keine Schwierigkeit, in Bezug hierauf [auf Folterungen, SoSchi] das Passende zu sehen (…): wenn sie die eigene Sache begünstigen – sie seien unter allen Zeugenaussagen die einzig wahren; wenn sie aber der eigenen Sache entgegen (…) stehen, kann man ihren Wahrheitsgehalt zerstören, indem man gegen jegliche Art von Folterung spricht; denn gezwungenermaßen sagt man ebenso gut die Unwahrheit wie die Wahrheit, indem man dabei verharrt, die Wahrheit nicht zu sagen, während andere leichter zur Lüge bereit sind, um schneller befreit zu sein.“314 Solchen Nützlichkeitserwägungen kam auch im Mittelalter ein hoher Stellenwert in der Diskussion um die Anwendung von Folter zu – was heute, nach der Tabuisierung, per se inhuman und damit illegitim erscheint, war aus damaliger Perspektive durchaus verständlich. Die letzten Jahrhunderte des römischen Imperiums waren ebenso wie weite Abschnitte des Mittelalters von hohen Verbrechenszahlen gekennzeichnet, denen eine recht geringe Aufklärungsrate gegenüberstand. Dies war nicht nur dem Fehlen eines modernen Polizeiapparates geschuldet, sondern auch dem Mangel an inzwischen selbstverständlichen Beweismitteln wie etwa Fingerabdrücken. Um Angeklagte rechtskräftig verurteilen zu können, waren die Richter auf Zeugenaussagen angewiesen und für den Fall, dass keine Augenzeugenberichte oder freiwilligen Geständnisse vorlagen, lag es nahe, mögliche ZeugInnen oder auch den bzw. die Angeklagte(n) selbst zu foltern.315 Die damalige 313 314 315 S. S. 92 der Arbeit. Kurzzeitige Aussetzungen bzw. starke Einschränkungen der Folterpraxis hatte es zuvor bereits in Schweden und Aragon gegeben. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 55 ff. Sieveke, Franz G. (Hg.) 1995: Aristoteles: Rhetorik, München, S. 80. Über die Jahrhunderte gab es immer wieder Änderungen des Status von Folter im Rechtsprozess sowohl hinsichtlich der betroffenen Personen (ZeugInnen/Angeklagte selbst), deren sozialer Herkunft (SklavInnen/BürgerInnen/WürdenträgerInnen) sowie der Umstände, unter denen Folter erlaubt war (u.a. Anzahl der Augenzeugen, Zulassen von Indizienbeweisen, Notwendigkeit von Voruntersuchungen oder Einspruchsmöglichkeiten) und der Beweiskraft des eventuell erzielten Geständnisses, welches meist mit zeitlichem Abstand zur Folterung wiederholt werden musste. Erstaunlich ist jedoch, dass die Einbettung der Folter in den Rechtsprozess einer unkontrollierten Ausbreitung dieser Praxis entgegengewirkt zu haben – 88 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus folterkritische Literatur verweist insbesondere auf die dilemmatische Situation des Richters, der oft keine andere Wahl als die Anordnung von Folter habe, um zumindest eine Chance auf die Ermittlung der Wahrheit zu bekommen, obwohl auch ihnen durchaus bewusst sei, dass es zur Folterung Unschuldiger und zu falschen Geständnissen kommen könne. So galt Folter zwar spätestens zu Beginn des 16. Jahrhundert als res fragilis et periculosa, die nicht nur Unschuldige treffen konnte, sondern auch zu einer Benachteiligung Schwacher durch eine auf einem schnellen Geständnis basierende Verurteilung und einer Bevorzugung kräftigerer Personen, die nach überstandener Folter ohne Geständnis freigelassen werden mussten, führte.316 Dennoch wurde sie weiterhin unter der Annahme akzeptiert, dass es ohne die zugleich abschreckende und aufklärende Funktion der Folter zu noch mehr Straftaten und damit mehr Ungerechtigkeiten kommen würde. Um den Verbrechen in diesen Epochen Herr zu werden und zu einer allgemeinen Konsolidierung und Durchsetzung staatlicher Gewaltmonopole beizutragen, fielen die damals angestellten Kosten-Nutzen-Rechnungen also noch für eine Beibehaltung der Folter als Rechtsmittel aus. Unter heutigen Umständen macht eine Anwendung von Folter zumindest zur Erlangung eines Geständnisses einer bereits begangenen Tat wenig Sinn, die Kosten-Nutzen-Abwägung schien sich aber bereits im 18. Jahrhundert in Richtung einer Abschaffung der Folter zu verschieben. (Mit)Verantwortlich dafür war das Aufkommen des modernen Beweisrechts und eine durch die Einführung von Haftstrafen veränderte Strafpraxis: Zu Unrecht Verurteilte konnten nun aus Gefängnissen entlassen werden, während sie früher hingerichtet worden wären. Moralische und naturrechtliche Argumentation der Frühaufklärung Es ist fraglich, ob der Wandel hin zu den ersten Folterverboten in erster Linie von Rechtsüberlegungen geleitet wurde oder nicht vielmehr moralische Überzeugungen ausschlaggebend waren, wie sie vor allem in der Frühaufklärung populär wurden. Denn die ersten beiden wichtigen Schriften für eine Abschaffung der Folter wurden schon in den 1620er Jahren vorgelegt und damit lange vor den ersten Justizreformen hin zu einem modernen Beweisrecht.317 Wie von Aristoteles beinah vorhergesagt, begründeten die frühen 316 317 scheint. Folter blieb weitgehend eine Ausnahmeerscheinung, deren Ablauf und Härtegrad stark reglementiert war und blieb. Hierzu trug auch bei, dass Richter für überzogene Folterungen zur Rechenschaft gezogen werden konnten (vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, insbes. S. 86ff). Schmoeckel gibt für die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts an, dass ca. zwei Drittel der auf richterlichen Beschluss Gefolterten nicht gestanden hätten und deshalb freigesprochen wurden. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 486. Es handelte sich zum Einen um eine 1522 publizierte Fassung von Augustinus De Civitate Dei, die der Herausgeber, Juan Luis Vives, mit kritischen Kommentaren versehen hatte. Vives Mentor, Erasmus von Rotterdam, lehnte die Veröffentlichung des Werkes zwar ab, auf anderen Wegen publiziert gehörten Vives Schriften jedoch Anfang des 17. Jahrhunderts zu den meistgelesenen in Europa (vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S.112f.). Die erste Monographie – 89 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Foltergegner ihre Forderungen ähnlich denen älterer Gelehrter, nur zogen sie daraus andere Schlüsse – nämlich dass Folter nicht trotz ihres zweifelhaften Nutzens im Gerichtsprozess beibehalten werden müsse, um die Gesellschaft als Ganze zu schützen, sondern sie aufgrund der negativen Folgen abzuschaffen, die sie für das einzelne (möglicherweise unschuldig gefolterte und verurteilte) Individuum habe. Deutlich spiegeln sich hier die Ideale der Renaissance wider, die den Menschen und dessen irdische Existenz ins Zentrum ihrer von einer humanistischen Moral geprägten Überlegungen (bzw. Kosten-Nutzen-Rechnungen) stellen. Die revolutionäre Annahme, dass eine Gesellschaft weniger gottgegeben, als vielmehr das sei, was ihre Mitglieder aus ihr machten, ermöglichte auch die Forderungen nach einer Ausrichtung (vor)staatlicher Autorität auf den einzelnen Bürger und einer Vorbildfunktion der Herrschenden, die durch harte und brutale Gesetzgebung wie Folterungen ein Klima der Gewalt und eine Verrohung der Sitten heraufbeschwören würden318 – was vor dem Hintergrund moderner Staatlichkeit noch immer aktuell wirkt. Allerdings konnten die damaligen Autoren ihre Annahme, dass eine Welt ohne Folter möglich sei, kaum mehr als durch vage Andeutungen auf andere Völker stützen, die ohne diese Praxis zurecht kämen,319 so dass neben diesen bereits humanistisch-moralisch unterfütterten Nützlichkeitsargumenten andere Argumentationslinien an Relevanz gewannen. Noch von Vives und Grevius stammt die Behauptung, dass Folter unchristlich sei, welche sich (wie man an dem Brief Friedrichs sieht) über Jahrhunderte hinweg hielt und sich heute in der Dichotomie zivilisierten und barbarischen Verhaltens wiederfindet. Möglicherweise liegt in dieser Argumentationsweise humanistischer Neuerer, die sich (nicht immer ganz korrekt) gegenüber dem auslaufenden spätmittelalterlichen Glaubens- und Gesellschaftsformen abgrenzen wollten, der Kern unserer Assoziation von Folter mit „düsterem Mittelalter“ und „Barbarei“ – also einer zunächst bewussten „Archaisierung“ dieser Praxis – begründet, obwohl die Abschaffung der Folter erst ca. 200 Jahre später durchgesetzt wurde. Viel stärker als in früheren Schriften traten nun auch moralisierende Argumentationen gegenüber Kosten-Nutzen-Kalkülen in den Vordergrund, in denen dem humanistischen Ideal des zivilisierten Umgangs aller miteinander die Figur des aus sadistischen Impulsen heraus handelnden Folterers gegenübergestellt wurde. Montaigne und seine Nachfolger prägten einen neuen, subjektiv gefärbten Stil, indem sie ihre Gefühle etwa bei öffentlichen Folterungen und 318 319 gegen Folter mit dem Titel „Tribunal reformatum”, die durch einen Abdruck in einer frühen Enzyklopädie ebenfalls weit verbreitet war, verfasste zum Anderen der Kalvinist Johannes Grevius 1624 (vgl. Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 186f.). Diese Argumentation fand sich v.a. in den Essais von Montaigne, die 1580, also knapp 60 Jahre nach Vives Kommentaren, erstmals publiziert wurden, vgl.: Enzensberger, Hans Magnus 2004: Michel de Montaigne: Essais. Erste modernde Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt am Main, S. 537. Angespielt wurde v.a. auf England, das jedoch ein anderes Rechtssystem entwickelt hatte (s. S. 96 der Arbeit). – 90 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Hinrichtungen schilderten und ihre sachliche Argumentation so durch das beim Leser erregte Gefühl des Mitleids bzw. des Ekels erfolgreich zu stützen vermochten.320 Das Verhalten eines rational und moralisch reflektierten honnête homme, der grausame Folter selbstverständlich ablehnte, wurde darüber hinaus identitätsstiftend für die kommenden Generationen französischer Intellektueller und prägt bis heute das Bild eines aufgeklärten Mitglieds der Gesellschaft. Gleichzeitig mit stärker moralisierenden Argumentationsweisen bildete sich also auch eine identitätsstiftende Wirkung der Gegnerschaft von Folter auf drei Ebenen heraus, nämlich erstens christliche versus barbarische Zivilisation, zweitens eine auf das Wohl der Bürger ausgerichtete versus veraltete mittelalterliche eher der Willkür des bzw. der Herrschenden ausgelieferte Gesellschaft und drittens ein aufgeklärter und mitfühlender honnête homme gegenüber sadistischem Folterer. Wer sich mit den positiv besetzen Gruppen identifizieren wollte, musste quasi automatisch zum Foltergegner werden – damit war die Ablehnung von Folter Anfang des 18. Jahrhunderts zumindest unter der aufgeklärten Oberschicht zum Selbstläufer geworden. Übertragen in die Terminologie der Normtheorie ergibt sich hier also der interessante Befund, dass für die Identifikation mit einer bestimmten Identität (Humanismus) compliance mit einer für jene Gruppe konstitutiv wirkenden Forderung nach der Einführung einer noch gar nicht kodifizierten regulativen Norm nötig war und dies eine Art Norm-Forderungskaskade auslöste. Dass ein weiter Kreis von Menschen Folter ablehnen müsse, war für die Nachfolger Vives, Grevius und Montaignes eine Selbstverständlichkeit, gingen sie doch bereits davon aus, dass Folter etwas zutiefst Unnatürliches sei, da solcherlei Gewaltanwendungen dem menschlichen Wesen widerstrebten und sie die Persönlichkeit und Integrität der BürgerInnen verletzen. Deutlich werden hier zum Einen die Parallelen zu frühen Staatstheoretikern, die bereits in Richtung der Entwicklung eines Naturrechts wiesen, welches zunächst Leib und Leben einer Person, später auch deren Würde als vorstaatlich gegeben und dem Willen der Herrschenden nicht, bzw. nur in Ausnahmefällen unterworfen ansahen.321 Zum Anderen, jedoch ebenfalls im Gedanken natürlich gegebener menschlicher Eigenschaften wurzelnd, wuchs die Bedeutung des von Montaigne aufgebrachten Ekel- und Schamgefühls in der 320 321 Zentral sind hier die beiden Essays „Über die Grausamkeit“ (Buch II, XI) und „Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit“ (Buch II, XXVII), beide 1580 erschienen und aktueller abgedruckt in: Enzensberger, Hans Magnus 2004: Michel de Montaigne: Essais. Erste modernde Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt am Main, S. 210-217 bzw. S. 343-347. Auf den Punkt gebracht wurde der Zusammenhang von Naturrecht und Folterfreiheit nicht von Hobbes, der sich für Folter in Ausnahmefällen aussprach oder Locke, von dem keine solchen Aussagen bekannt sind, sondern von Pierre Bayle, der vor dem Hintergrund der damals wütenden Religionskriege eine Privatsphäre für jeden Bürger forderte, in der er vor Eingriffen des Staates geschützt sei. Das Gewissen und die Würde, aber auch der Körper des Menschen seien gottgegebene Werte und müssten folglich der Gewalt des Staates entzogen werden. Selbst zur Verfolgung legitimer Zwecke dürfe der Herrscher keine Mittel anwenden, die in anderen Fällen als Verbrechen gelten würden. Vgl. insbesondere sein „Historisches und kritisches Wörterbuch“ (Gawlick, Günter/Kreimendahl, Lothar 2003: Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl, Hamburg) und seine „Philosophischen Kommentare“ (Tannenbaum, Amie Godman 1987: Pierre Bayle’s ‚Philosophical Commentary’. A Modern Translation and Critical Interpretation, New York.). – 91 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Folterdiskussion, da sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts ein neues Körpergefühl eingestellt hatte, mit dem offene Wunden und andere „Verunreinigungen“ des natürlich gegebenen Körpers zunehmend als hygienisch unrein und somit scham- und ekelerregend empfunden wurden. Es versteht sich von selbst, dass sich auch diese Komponente in der (Nicht-) Diskussion von Folter bis heute gehalten hat. Tatsächlich tauchten parallel zur Entwicklung dieses neuen Körpergefühls erste Belege einer Tabuisierung des Sprechens über die Folterpraxis auf: Als 1670 eine neue Ordonnance criminelle für ganz Frankreich ausgearbeitet wurde, schien bereits die Nennung einzelner Foltermethoden das Schamgefühl der redigierenden Juristen zu verletzen, denn es galt als äußert indezent, die erlaubten Arten aufzuzählen.322 Vermutlich auch weil die damaligen Richter in Frankreich bei der Anwendung von Folter wie seit Jahrhunderten anwesend zu sein hatten, schränken sie deren Anwendung in der Praxis stark ein. Preußens Beweis der praktischen Umsetzbarkeit des Folterverbots Als Friedrich II. 1740 das erste Folterverbot erließ,323 galt Folter, wie er selbst schrieb, also weithin bereits als Instrument von zweifelhaftem Nutzen, war als unchristlich verschrien, wurde als gleichzeitig mitleid-, scham- und ekelerregend empfunden sowie wesentlich seltener angewandt, als in vergangenen Jahrzehnten. Wenn hiermit die Grundlagen eines Foltertabus bereits gelegt waren, compliance mit der noch nicht verschriftlichten Norm bereits weitgehend vorhanden sowie die Ablehnung der Folter zum Aushängeschild europäischer Intellektueller geworden war, zu denen Friedrich sich selbst gern zählte, warum glaubte er dennoch, mit der Einführung dieser regulativen Norm noch etwas Riskantes zu wagen? Trotz der Seltenheit der Fälle, in denen Folter Mitte des 18. Jahrhunderts noch angewandt wurde, liefen Preußens Juristen Sturm gegen das neue Gesetz. Sie fürchteten vor allem um die abschreckende Wirkung der Folter, ohne die Schwere und Häufigkeit von Straftaten sprunghaft ansteigen könnten sowie um den Einsatz der Folter als unverzichtbares letztes Mittel zur Erlangung eines Geständnisses im Strafprozess, dem noch immer ein hoher Stellenwert zukam. Schriften aus diesen Reihen für die Beibehaltung von Folter wiesen entsprechend auf die Praxiserfahrung der Juristen hin, von denen einige meinten, Meinungen der Foltergegner generell als Phantasien weltfremder Idealisten abtun zu können. Dass diese Gruppe sich beinah geschlossen gegen eine Kodifizierung des Folterverbots stellte, ist umso erstaunlicher, als einige andere Juristen auch in Preußen aus moralischen Gründen bereits theoretisch gegen Folter eingestellt waren.324 Hieran zeigt sich, dass diese Gruppe weniger 322 323 324 Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 490. Zudem bezeichnet die Ordonnance Folter als „un usage ancien.” Die Ordre zur Abschaffung der Folter erließ Friedrich II. am 03.06.1740, also nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt. Ihr Wortlaut ist u.a. abgedruckt in: Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 179. Personifiziert wurde dieser Widerspruch in der Person des obersten Pariser Richters Lamoignon, der zu Protokoll gab, dass er für die generelle Abschaffung von Folter, dies jedoch seine Meinung als Privatmann – 92 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus durch einheitliche Moralvorstellungen zusammengehalten wurde, als durch ein grundlegend anderes Staatsverständnis, als Friedrich II. es proklamierte: Während sie zum Teil zwar das Leid Einzelner anerkannten und nun auch für moralisch ungerechtfertigt hielten, glaubten sie noch, die Sicherheit der Gesellschaft als Ganzes durch eine generelle Abschaffung der Folter aufs Spiel zu setzen. Nach Friedrichs Logik einer primär auf das Wohl jedes Einzelnen ausgerichteten Staatlichkeit, die letztlich in einer besseren Gesellschaft aller resultieren würde, machte es dagegen durchaus Sinn, mit einem Folterverbot die Freisprechung 20 Schuldiger zu riskieren, wenn damit ein einziger Unschuldiger vor der grausamen Tortur geschützt werden konnte.325 Da der Monarch schon zuvor alle Todesurteile und Folterungen persönlich hatte genehmigen müssen, konnte er die Einhaltung seines Gesetzes recht gut überwachen, gelegentliche Anfragen seiner Gerichte, ob nicht doch gefoltert werden könne, wies er regelmäßig ab. Da die Richter weder den Anweisungen ihres Königs widersprechen, noch sich gegen eine „breite gesellschaftliche Front” stellen wollten, „welche die Anwendung der Folter als unschicklich und unzulässig empfand ”,326 stellte sich bei dieser Gruppe also eine Art instrumentelle Anpassung ein. Dass es schließlich zu einem Mentalitätswandel auch innerhalb dieser direkt für Folterungen verantwortlichen Gruppe kam, hing zum Einen damit zusammen, dass Preußen nach 1740 bekanntlich nicht im Chaos versank, die Kosten-NutzenRechnung, nach der Folter zur Abschreckung und Aufklärung von Verbrechen als notwendig eingestuft wurde, sich also als Fehlkalkulation entpuppte und zum Anderen mit der nun forcierten Änderung des allgemeinen Strafrechts (wie etwa der Entwicklung der Kronzeugenregelung), die sich in der Phase der europaweiten Ausweitung des Folterverbots noch beschleunigte und vertiefte.327 Erleichtert wurde die Akzeptanz des neuen Gesetzes allerdings auch durch eine Reihe von Einschränkungen: Erstens wurde Friedrichs Ordre zunächst nicht öffentlich, sondern nur den betroffenen Justizbeamten zugänglich gemacht. Insbesondere aus heutiger Sicht bedenklich ist, dass Friedrich, zweitens, Folter ausdrücklich als letztes Mittel zuließ, wenn er die Sicherheit des Staates selbst in Gefahr sah. Das erste nationale Folterverbot galt, ähnlich wie die meisten folgenden europäischen also noch nicht absolut – Fälle von Hochverrat (sog. crimen laesae majestatis) 325 326 327 und Landesverrat sowie einige besonders schwere Straftaten waren sei. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 135. Vgl. Friedrichs Essay „Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen“ von 1749, abgedruckt in: Taureck, Bernhard 1986: Friedrich der Große und die Philosophie. Texte und Dokumente, Stuttgart, S. 91. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 481. So wurde es zunächst in Deutschland, dann in ganz Europa geradezu Mode, Essays über die Reform des Strafrechts zu schreiben, oft angeregt durch Preisausschreiben wie 1777 in Bern, für das Friedrich II. selbst das Preisgeld sponserte, welches Voltaire, der selbst am Wettbewerb teilnahm (aber nicht gewann) zu verdoppeln versprach. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 75. – 93 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus ausgenommen.328 Diese Art von Einschränkungen wurzelte zwar in der bereits im 13. Jahrhundert bekannten Kategorie des crimes exeptum, also einer besonders schweren Straftat, mit der weitreichende Abweichungen vom üblichen Rechtsverfahren gerechtfertigt wurden, war jedoch insofern neu, als im 18. Jahrhundert nicht mehr der Verrat am Herrschenden selbst im Vordergrund stand, sondern die abstrakte Bedrohung der Funktionsfähigkeit der Institution Staat und seiner BürgerInnen. Drittens traten bereits kurz nach dem Erlass des Gesetzes Probleme bei der Definition dessen auf, was als Folter zu gelten habe und was nicht: So war u.a. zunächst unklar, ob ein Richter mit Folter drohen durfte, solange das Gesetz noch geheim und ob das Schlagen von Angeklagten den sonst üblichen Foltermethoden gleichzustellen war.329 Indem in den ersten Jahrzehnten nach der Einführung des Folterverbots klar wurde, dass das Wegfallen dieses Instruments nicht die befürchteten negativen Auswirkungen hatte, erstarb schließlich auch die Forderung nach Ausnahmeregelungen. Zeitgleich wurde die Folter in vielen Nachbarländern Preußens verboten. Norm entrepreneurs der Aufklärung: Die Internalisierung des Folterverbots „Tant d’habiles gens, et tant de beaux génies ont écrit contre l’usage de la torture, que je n’ose parler après eux. J’allais dire qu’elle pourrait convenir dans les gouvernements despotiques […] mais j’entend la voix de la nature contre moi. “ 330 Obwohl dem ersten Folterverbot über Jahrhunderte hinweg eine argumentative Grundlage bereitet worden war, erstaunte die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Geltungsbereiches dieser regulativen Norm auf ganz Europa und dessen Kolonien doch Zeitgenossen wie Historiker:331 In den ersten vier Jahrzehnten nach Friedrichs Ordre war eine erste große Welle neuer gesetzlicher Regelungen durch Europa gerollt, die letzten territorialen und sachlichen Ausnahmeregelungen fielen bis 1820. Ein Grund für diesen für die damalige Zeit rasanten Wandlungsprozess war sicherlich die Propagierung der preußischen Norm durch norm entrepreneurs in Form europäischer Intellektueller, die sich zum Teil schon vor Friedrichs Entscheidung gegen Folter ausgesprochen und nun auch ein praktisches Vorbild und Rechtsbeispiel hatten, auf das sie rekurrieren konnten. So hielt Voltaire die Würfel nach der erfolgreichen Durchsetzung des Verbots in Preußen für bereits gefallen, da mit dem Beweis, dass eine Rechtsordnung ohne Folter praktisch umsetzbar war, die gerade auf dem Bonus praktischer Erfahrungen basierende Argumentationslinie der FolterbefürworterInnen 328 329 330 331 Zu letzteren zählte vielfacher Mord und die denunziatorische Folter bereits überführter Täter zur Aufdeckung krimineller Netzwerke. Vgl. Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 179f. Vgl. Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 181. Montesquieu, Charles 1979 [1748]: De l’esprit des lois VI,17, Paris, S. 220. Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 108. – 94 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus zusammengebrochen war.332 Einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten neben den Schriften Voltaires zur Folterfrage insbesondere diejenigen Montesquieus und des Mailänders Cesare Beccaria, deren Werke zwar kaum neue Argumente enthielten, die älteren jedoch stilistisch so geschickt formulierten und zusammenfassten, dass die Schriften Vives oder Montaignes bald beinahe in Vergessenheit gerieten. So fand Beccarias gut strukturierte Kurzfassung der bisherigen Antifolterargumentation LeserInnen bis in die höchsten Kreise und erregte auch in den gerade gegründeten Vereinigten Staaten großes Aufsehen.333 Wie internalisiert die Ablehnung von Folter damals war, verdeutlicht dagegen das Eingangszitat Montesquieus: Zum Einen gesteht er, der Anti-Folterdiskussion kaum noch etwas hinzufügen zu können; die Bandbreite der Argumente für ein Verbot scheint also bereits ausgeschöpft. Zum Anderen betont er, dass sich ein (originelleres) Nachdenken über eventuelle Ausnahmen von selbst verbiete – dies widerstrebe seiner bzw. generell der Natur des Menschen. Aufgrund seines eigenen Gewissens erteilt sich Montesquieu hier also selbst und von vornherein ein Denkverbot über die Möglichkeiten eines legitimen Einsatzes von Folter, was bereits deutlich in Richtung einer Tabuisierung des Themas weist. Da sich der hier hervorgehobene Gedanke eines natürlichen Rechts bzw. einer natürlichen Moral auch in der Bevölkerung weitgehend durchgesetzt hatte, konnten Folterverbote nach 1740 vermutlich auch deshalb schnell in Form regulativer Normen durchgesetzt werden, da die Internalisierung dieser Norm ihrer Kodifizierung scheinbar in vielen Ländern vorausging . Gleichzeitig klingt mit Montesquieus Verweis auf despotische Staaten, in denen Folter vielleicht noch am ehesten angewandt werden könne, wieder die Trennung in zivilisierte, folterverbietende Nationen einerseits und Folter erlaubende „Barbarenstaaten“ andererseits an. Zu diesen despotischen und archaischen Staaten wollten wohl insbesondere die protestantischen Reiche in der Nähe Preußens nicht länger gezählt werden, denn ihre Herrscher folgten als erste dem Schritt Friedrichs II.334 Erst auf Druck der Bevölkerung schafften auch die ersten katholischen Herrscher Folter in ihren Reichen ab, wie etwa in der Toskana, deren Großherzog dem französischen König Louis XVI. riet, dem Wunsch seines Volkes nach einem Folterverbot zu entsprechen, unter dem sich ja mit am frühsten solche Forderungen verbreitet hatten. Normtheoretisch kann also vom Einsetzen einer Normkaskade um das Jahr 1770 gesprochen werden, wobei die jeweiligen RegentInnen 332 333 334 Vgl. Voltaire, François-Marie Arouet 1986 [1766]: Kommentar zu dem Buch „Über Verbrechen und Strafen“ von einem Anwalt aus der Provinz, in: Mensching, Günther: Voltaire. Republikanische Ideen, Frankfurt am Main, S. 33-88, hier S. 59. Belegt sind u.a. die Lektüre Beccarias „Dei delitti e delle pene” durch Katharina die Große, Kaiser Leopold II. und den ersten US-Präsidenten Thomas Jefferson. Vgl., wie auch für die zentralen Passagen des Textes, Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 198-200. Dass viele protestantische Herrscher dem Beispiel Friedrichs schnell folgten, mag auch daran gelegen haben, dass sie mit ihm verwandt waren. Die ersten dieser Staaten waren Mecklenburg, Dänemark und Schweden. Für eine genauere und ausführliche Übersicht der ersten Folterverbote nach dem Friedrichs II. vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 64-74. – 95 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus teilweise gleich fünffach unter Druck gerieten, die nationale Gesetzgebung zu ändern: Zu den Forderungen der Bevölkerung (1. bottom up -Prozess) kam das von jener als positiv erachteten Beispiel von immer mehr Staaten (2. quantitative Kaskadenfunktion, s. S. 29 der Arbeit), deren HerrscherInnen teilweise auf eine Übernahme ihrer Gesetze drängten (3. Einfluss ausländischer Regierungen) sowie die Furcht vor einem schlechten Image, das ein Herrscher bzw. eine Herrscherin für sich selbst und sein bzw. ihr Land durch die Beibehaltung der Folter riskierte (4. frühes naming and shaming sowie 5. Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als modern angesehener Staaten). Maßgeblich vorangetrieben und zugleich am meisten gebremst wurden solche Vorhaben von Gruppen des gebildeten Bürgertums bzw. des Adels, nämlich weiterhin von aufgeklärten norm entrepreneurs auf der einen und konservativ gestimmten Justizbeamten auf der anderen Seite, wobei letztere durch die anlaufenden generellen Strafrechtsreformen teilweise das Lager wechselten. Das Antifoltergesetz Louis XVI. war der letzte souveräne Rechtsakt des Monarchen vor der Französischen Revolution, in deren Verlauf das Recht auf Freiheit von Folter auch während der Phase des terreur nicht eingeschränkt wurde. Im Gegenteil deutet Art. 9 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen auf dieses Recht hin;335 die Ordonnance des Königs von 1788 fand sich zudem in den Gesetzbüchern der Revolutionszeit und denen der nachfolgenden Stabilisierung der politischen Verhältnisse wieder.336 Die Eroberungen Napoleon Bonapartes taten ein Übriges, um diese Strafrechtsreformen auch in denjenigen Ländern durchzusetzen, die sich der Folterverbotswelle noch nicht angeschlossen hatten, wie etwa in Spanien. Drei Wurzeln des Folterverbots in den Vereinigten Staaten Dass Napoleon nach 1815 keine Gelegenheit mehr hatte, das französische Strafrecht in England einzuführen, hatte hinsichtlich der Folterfrage keinerlei Relevanz, denn in Großbritannien hatte sich mit dem common law ein völlig anderes Rechtssystem als auf dem Kontinent etabliert, das in den meisten Fällen eine Urteilsfindung durch eine Jury aus Laienrichtern vorsah, für welche die Zeugen- und Geständnisfolter keine Rolle spielte. Da das common law zum Einen aus Gewohnheitsrecht, zu dem auch die Magna Charta gehörte, abgeleitet und im dementsprechend Folter verbietenden Bürgerlichen Gesetzbuch zusammengefasst wurde und zum Anderen aus königlichen Verordnungen bestand, mussten Ausnahmen vom allgemeinen Folterverbot vom König/von der Königin bzw. seinem/ihrem 335 Die Formulierung „[d]a jeder solange als unschuldig anzusehen ist, bis er für schuldig befunden wurde, muss, sollte seine Verhaftung für unumgänglich gehalten werden, jede Härte, die nicht für die Sicherstellung seiner Person notwendig ist, vom Gesetz streng unterbunden werden,” weist darauf hin, dass 336 Folterungen zur Erlangung eines Geständnisses, welches später zu einer Verurteilung führen kann, untersagt sind. Es handelt sich hier allerdings nicht um den berühmten Code Civil, sondern um den Code des délits et des peines, erlassen 1791, den Code d’instruction criminell aus dem Jahr 1808 und den Code pénal von 1810. Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 127 bzw. S. 156 sowie zu den Auswirkungen der napoleonischen Eroberungspolitik S. 127. – 96 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Rat, der sog. Star Chamber, genehmigt werden.337 Als Anhaltspunkte dafür, dass das Folterverbot in England schon lange vor dem Friedrichs II. nicht nur institutionalisiert, sondern auch weitgehend internalisiert war, kann, erstens, die Seltenheit solcher Ausnahmen, die größtenteils bei Fällen von Hochverrat durch die Star Chamber angeordnet wurden, gewertet werden. Zweitens spricht auch die ablehnende Haltung des Parlamentes gegenüber dem Versuch Heinrichs VI., Folter einzuführen, dafür wie auch, drittens, die heftigen Proteste der Bevölkerung, als die Mitglieder Star Chamber unter Elisabeth I. immer eigenmächtiger zu agieren begonnen und sich für eine Einführung der Folter nach dem Vorbild des kontinentaleuropäischen Rechts ausgesprochen hatten, aufgrund derer schließlich alle Ratsherren ihres Amtes enthoben werden mussten.338 Anders als in England, wurde das französische Strafrecht in einigen von Frankreich dominierten Territorien außerhalb Europas eingeführt, wie zum Beispiel in Ägypten und Mexiko sowie in den damals noch französisch kontrollierten Gebieten Nordamerikas. In den bereits zu den Vereinigten Staaten zusammengeschlossenen Provinzen der Ostküste waren teilweise zuvor schon Verfassungen erlassen worden, deren ausdrückliche Zusicherung einer individuellen Privatsphäre, die natürlich auch den eigenen Köper vor staatlichen Zugriffen schützen sollte, Folterverbote einschloss.339 Auf nationaler Ebene enthält insbesondere das fünfte der ersten zehn unter dem Begriff bill of rights bekannt gewordenen amendments zur US-Verfassung von 1789 ein Folterverbot:340 Mit dem Auskunftsverweigerungsrecht ist jeder Person vor und während einer Inhaftierung wie auch vor Gericht garantiert, sich nicht selbst belasten zu müssen – was zu dieser Zeit ja der Zweck gerichtlicher Folterungen war.341 Wie auch diese Regelung entwickelte sich das US-amerikanische Recht aus dem des Mutterlandes Großbritannien, das keinerlei Folterungen vorsah, ging in einigen Punkten jedoch noch darüber hinaus – etwa, indem in einzelnen Bundesstaaten auch die in England üblichen verschärften Bedingungen der Beugehaft (sog. peine forte et dure) untersagt oder vor der 337 338 339 340 341 So schrieb Wiliam Blackstone in seinem Gesetzeskommentar von 1769, Folter sei „ ein Werkzeug des Staates, nicht des Gesetzes ”. Zitiert nach Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 140. Blackstone interpretierte auch den Satz der Magna Charta „Nullus liber homo aliquo modo destruatur, nisi per legale judicium parium suorim aut per legem terrae” als generelles Folterverbot. Vgl. Brian, Innes 1998: Die Folter. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit, S. 88. Vgl. etwa Art. 8 der Verfassung von Pennsylvania, in der auch das Recht, sich in einem Prozess nicht selbst belasten zu müssen, besonders betont wird, Art. 1 der Verfassung von Virginia sowie die Präambel der Verfassung von Massachusetts, abgedruckt und abgeglichen in: Jellinek, Georg 1996 [1904]: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Schutterwald, S. 46-58. Vgl. Brugger, Winfried 1987: Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Tübingen, S. 304f. Der Zusatzartikel lautet: „No person shall be held to answer for a capital, or otherwise infamous crime, unless on a presentment or indictment of a Grand Jury, except in cases arising in the land or naval forces, or in the Militia, when in actual service in time of War or public danger; nor shall any person be, subject for the same offence to be twice put in jeopardy of life or limb; nor shall be compelled in any criminal case to be a witness against himself, nor be deprived of life, liberty, or property, without due process of law; nor shall private property be taken for public use, without just compensation.” Das seit den 1960er Jahren bei jeder Verhaftung zu verkündende sog. Miranda-Warning , nach dem Angeklagte u.a. das Recht haben, zu schweigen, ist durch seine mediale Verbreitung heute nicht USAmerikanerInnen geläufig. Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 130. – 97 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Unabhängigkeit Anordnungen der Star Chamber zu Folterungen nicht ausgeführt wurden.342 Ebenso wie zunächst in Europa war die compliance-Rate mit diesen Regelungen in den USA sehr hoch: Bis ins 20. Jahrhundert lassen sich – juristisch betrachtet – keinerlei Hinweise auf ein Unterlaufen dieser Gesetze feststellen. Selbst der bekannte Fall der „Hexenjagd“ von Salem 1692 lief wohl ohne Folterungen der Angeklagten ab, die allerdings größtenteils hingerichtet wurden.343 Ähnlich widersprüchlich muss aus heutiger Sicht der brutale Umgang mit SklavInnen in den amerikanischen Kolonien und später in den Vereinigten Staaten anmuten, die beim geringsten Verdacht insbesondere des Verrats ihrer Herrschaft körperlich bestraft oder gehängt wurden. Diese Handlungen wurden jedoch nicht als Folter, sondern als Privatangelegenheiten gewertet, da sie weder im Rahmen eines juristischen Verfahrens noch aufgrund staatlicher Anordnungen erfolgten. Eine andere Definition hätte sich mit dem damals bereits sehr ausgeprägten Selbstbild der USA auch nicht vertragen, verstand sich die Nation doch insbesondere in Menschenrechtsfragen als Vorreiter und allgemein als Prototyp einer aufgeklärten Gesellschaft.344 Tatsächlich waren sie in Menschenrechtsfragen allen kontinentaleuropäischen Nationen insofern voraus, als sich bereits ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776 das Konzept einer universellen Gültigkeit der Menschenrechte fand, welches in Europa erst 13 Jahre später durch die Französische Revolution verbreitet wurde. In der bereits oben angeführten Eröffnungsformulierung „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain inalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ kommt darüber hinaus der Gedanke zum Ausdruck, dass die elementarsten Rechte des Menschen keiner argumentativen Begründung bedürfen – sie sind (gott-) gegeben und damit unhinterfragbar. Aber auch die Strafpraxis der USA nahm einige Reformen vorweg, die in Europa erst später zu rechtlichen Rahmenbedingungen einer konsequenten Durchsetzung des Folterverbots wurden. Ganz im Sinne unveräußerlicher Menschenrechte und Menschenwürde richtete sich das Augenmerk US-amerikanischer Reformer nicht mehr nur auf den Schutz Unschuldiger (wie etwa durch die due process-Klausel),345 sondern auch auf den humanen Umgang mit bereits verurteilten Schuldigen. Diese Einstellung wurde insbesondere durch die Ausrichtung von Haftstrafen primär auf eine Besserung und nicht auf eine Bestrafung des 342 343 344 345 Vgl. Brian, Innes 1998: Die Folter. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit, S. 98. Vgl. Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten, Erftstadt, S. 482. Über die Verbindungen der USA zur europäischen Aufklärung ist viel geschrieben worden – sowohl im 18. und 19. Jahrhundert (vgl. z.B. Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ von 1835), wie auch in den nachfolgenden Jahrhunderten (vgl. z.B. Jellinek, Georg 1996 [1904]: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Schutterwald), so dass dieser Befund hier kaum wiederholt werden muss. S. S. 68 der Arbeit. – 98 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Verurteilten346 und das Verbot unangemessener und unmenschlicher Strafe im achten amendment zur US-Verfassung praktisch umgesetzt.347 Aus heutiger Sicht mag ebenso erstaunlich klingen, dass sich die jungen Vereinigten Staaten auch durch den Aufbau sehr bürgernaher und –freundlicher Polizeieinheiten hervortaten. Diese in humanistischen Idealen wurzelnden Regelungen sind besondere vor dem Hintergrund der Geschichte der Vereinigten Staaten verständlich – hatten seit 1620 doch viele frühe EinwohnerInnen gerade aufgrund der politischen Missstände, zu denen auch Folterungen zählten, Europa den Rücken gekehrt bzw. waren vor ihrer Migration selbst politisch und religiös verfolgt und gefoltert worden. Wie schon zuvor in Europa setzten sich diejenigen, die direkt oder indirekt Folteropfer geworden waren, am lautesten für ein generelles Verbot ein.348 Ihrer Forderung nach einer vor staatlichen Eingriffen geschützten Sphäre der Bürger, die deren Leib und Leben, ihr Gewissen, ihre Würde, ihre Religionszugehörigkeit wie auch ihr Eigentum umfasst, ist den Gesetzen der USA in besonderer Weise entsprochen worden – so wurden gleich fünf Artikel der bill of rights dem (Rechts-) Schutz der Einzelperson gewidmet,349 die bis heute das politische Grundverständnis der Nation und deren individualistisches Konzept der Menschenwürde prägen.350 Die Tatsache, dass in der Geschichte der USA niemals legal gefoltert werden durfte, ist also v.a. auf drei Quellen zurückzuführen: Erstens auf das noch vom Mutterland Großbritannien beeinflusste Rechtssystem, in dem Folter kein Bestandteil des Gerichtsverfahrens war, zweitens auf die persönlichen Erfahrungen der frühen EinwohnerInnen der Vereinigten Staaten, die ihre persönlichen Rechte in der neuen Gesetzgebung in besonderer Weise berücksichtigt sehen wollten und drittens auf die enge Verbindung nicht nur der 346 347 348 349 350 S. zu diesem Einstellungswandel prominent Foucault, Michel 1994 [1976]: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main. Das achte amendment, das in der heutigen Folterdiskussion wie auch das fünfte häufig zitiert wird, lautet: „Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted.” Es wurzelt noch in den britischen sog. Habeas Corupus-Gesetzen (s. S. 68 der Arbeit) und verbietet alle Strafen, die von der Gesellschaft abgelehnt, unangemessen und entwürdigend sind. In den USA wurde bis vor kurzem das achte amendment als Verbot jeglicher Folterungen interpretiert. Dagegen konnte sich ein generelles Verbot der Todesstrafe (die als akzeptiert sowie in manchen Fällen verhältnismäßig und angemessen gilt) unter Hinweis auf diesen Zusatzartikel bekanntlich bisher nicht durchsetzen, obwohl Gerichte die Verhängung der Todesstrafe in einzelnen Fällen häufig aufgrund dieses Artikels ablehnen. Vives und Montaigne gehörten ehemals jüdischen Familien an, die Opfer der spanischen Inquisition geworden worden waren, Grevius wurde als Kalvinist selbst Opfer politischer Verfolgung und Folter. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 112 bzw. 123. Es handelt sich hierbei um die amendments vier bis acht, in denen neben dem Recht, im Gerichtsprozess zu schweigen, im achten Artikel auch das Verbot von „cruel and unusual punishments” auf das frühe Verständnis menschlicher Würde verweist, vgl. Heller, Francis H. 1987: USA. Verfassung und Politik, Wien, S. 41 sowie Brugger, Winfried 2002: Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, Berlin, S. 42. Vgl. S. 80 der Arbeit bzw. zum Vergleich des eher gesamtgesellschaftlich ausgerichteten, kontinentaleuropäischen Konzepts der Menschenwürde (wie es sich etwa bei Kant findet) mit dem auf die Schutzsphäre des Individuums ausgerichteten, wie es in den USA vorherrscht Brugger, Winfried 2002: Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, Berlin, S. 47 f. – 99 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Gründungseltern der USA mit der europäischen Aufklärung, die Folterungen im Anschluss an den Diskurs auf dem Kontinent „natürlich“ ablehnten, obwohl auf ihrem Territorium mit britischer Rechtstradition dieses Mittel ja nie zum Einsatz gekommen war. Mit Blick auf die gesamte westliche Welt scheint also letztlich das Zusammenspiel des Engagements populärer Intellektueller, deren Forderungen von der breiten Bevölkerung aufgenommen und in Form verstärkten Drucks an die Obrigkeit weitergegeben wurden, genauso zur Auslösung einer Kaskade von Folterverboten beigetragen haben, wie der geglückte Schritt Friedrichs II., mit dem der Preußenkönig ein politisches Symbol hatte setzen können. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war eine entsprechende regulative Norm in fast allen europäischen Staaten sowie in einigen europäischen Kolonien verschriftlicht worden, die Intellektuellen und – soweit man dies beurteilen kann – wohl auch ein Großteil der Bürgerschaft hatten eine ablehnende Haltung Folterungen gegenüber bereits zuvor internalisiert und auch die nun mit neuen strafrechtlichen Methoden experimentierende Gruppe der Juristen zeigte sich mehr und mehr von der Anwendbarkeit und moralischen Richtigkeit des Verbots überzeugt. Einer vollständigen Tabuisierung der Folter stand nichts mehr im Wege. Scham und Ekel: Emotionalisierung und Tabuisierung der Folterdiskussion „Die Folter hat für immer aufgehört zu existieren.” 351 Ebenso wie bei der schnellen Durchsetzung nationaler Rechtsnormen gegen Folter waren norm entrepreneurs maßgeblich daran beteiligt, den Boden für eine gesamtgesellschaftliche Tabuisierung von Folter zu bereiten. In der Klassik lebten die Ideale der Renaissance, nun verbunden mit dem moderneren Gedankengut der Spätaufklärung, wieder auf, generelle Ablehnung erfuhr damit nicht nur alles, was in irgendeiner Weise an das bereits als archaisch und barbarisch geltende Mittelalter erinnerte, sondern auch die Grundeinstellungen und Praktiken des ancien régime, die den Wert jedes einzelnen menschlichen Wesens (insbesondere der nicht-adeligen darunter) verkannt habe. In einer nach der natürlichen Reinheit Arkadiens strebenden Gesellschaft, deren Ideale der Einfachheit, Leichtigkeit und Klarheit sich in Architektur, Mode und Prosa spiegelten, konnten selbst Gedanken an die grausam-blutigen Praktiken in düsteren Folterkellern nicht anders als störend empfunden werden. Spätestens jetzt wurde Folter nicht mehr als rationales Instrument einer überkommenen Rechtsordnung aufgefasst, sondern als vor dem Hintergrund menschlichen Einfühlungsvermögens völlig entartete und vor allem irrationale Praxis, die bereits einer dunklen Vergangenheit anzugehören schien. Entsprechend fanden die drastischen Schilderungen Montaignes, mit denen er ca. 230 Jahre zuvor erstmals Mitleid bei seinen LeserInnen erwecken wollte, nun gar keine LeserInnen mehr, wie überhaupt nur noch wenige Abhandlungen mit aktuellem Bezug über Folter erschienen. Publiziert wurden lediglich einige 351 Aussage Victor Hugos aus dem Jahre 1874, zitiert nach: Klingst, Martin 2004: Ein bisschen Folter gibt es nicht, in: Die Zeit, 49. – 100 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Werke von Historikern, die sich mit dem bereits als ad acta gelegten geschichtlichen Abschaffungsprozess der Folter beschäftigen, wobei auch sie selten auf die juristische und gesellschaftliche Problematik eingingen, die durch die Abschaffung der Folter in früheren Jahrhunderten hätte entstehen können, sondern allein die moralische Überzeugungskraft humanistischer und aufklärerischer Gedanken und Empfindungen als ausschlaggebend hinstellten.352 Letztlich ist es für die Tabudiskussion im Rahmen dieser Arbeit also unerheblich, ob die Abschaffung der Folter stärker durch juristische Reformen oder moralische Überzeugungen begünstigt wurde – wichtig ist, dass der Abschaffungsprozess als dem „Licht der Aufklärung“ geschuldet wahrgenommen wird und die damit verknüpften moralischen Überzeugungen schon damals die rational geführte Auseinandersetzung um einen potentiellen Nutzen von Folter vergessen ließen. juristische Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand also endgültig keine Notwendigkeit mehr, die Ablehnung von Folter argumentativ zu begründen: Foltergegnerschaft wurde als natürlich gegeben angenommen, eine Rückkehr dieser Praxis nach dem Zeitalter der Vernunft wurde – dem damaligen Fortschrittsglauben entsprechend – für unmöglich gehalten.353 Diese Ebene einer internalisierten Norm, die zum Teil ja bereits im vorangegangenen Jahrhundert anzutreffen war, wurde nun durch eine Tabuisierung von Folter überlagert. Es war nicht nur nicht mehr nötig, gegen Folter zu argumentieren, Debatten um dieses Thema waren auch kaum noch möglich, da eine Positionierung für Folter gesellschaftlich nicht mehr als rational begründbare und damit legitime Meinung akzeptiert wurde und ein offenes Sprechen über Folter generell als unangemessen und ekelerregend galt: „Die Grausamkeit der Folter wurde so intuitiv empfunden, daß sie nicht mehr rational nachvollzogen werden mußte ”,354 wobei „[g]erade die stereotype Wiederholung des Grausamkeitsarguments, welches nicht weiter ausgeführt wurde, (…) auf die Sicherheit eines bis ins Unbewußte verhafteten Urteils und ein 352 353 Vgl. etwa die allerdings erst 1866 erschienene Abhandlung des US-amerikanischen Historikers Henry Charles Lea (zitiert nach Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 109): „In der allgemeinen Aufklärung, welche die Reformation verursachte und begleitete, schwanden langsam jene Leidenschaften dahin, die die strengen Institutionen des Mittelalters hatten entstehen lassen. (…) Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit werden universale Liebe und Mitmenschlichkeit, die die Grundlage des Christentums bilden, als Fundamente der menschlichen Gesellschaft angesehen. (…) Angesichts der langsamen Evolution der Jahrhunderte können wir unseren Fortschritt nur durch den Vergleich mit weit zurückliegenden Zeiten feststellen; aber nichtsdestoweniger gibt es einen Fortschritt, und zukünftige Generationen werden vielleicht in der Lage sein, sich ganz von der grauen und willkürlichen Herrschaft des Aberglaubens und der Gewalt zu befreien.” Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 137. Schmoeckel weist über den Einzelfall der Folter zu dieser Zeit hinaus darauf hin, dass „die basalen Rechtsüberzeugungen einer Gesellschaft weniger logischer Natur sind, vielmehr ihre Kraft gerade daraus beziehen, daß sie rational nicht weiter hinterfragt werden. (…) Der Mensch, der seine Empfindung und letztlich seine Natur zu beachten lernte, handelte natürlicher, d.h. menschlicher.” Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. 354 Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 572. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 499. – 101 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus zugrunde liegendes Ekelgefühl hindeute[t].”355 Kurz nach dem Fall der letzten nationalen Ausnahmeregelungen um 1820 waren Diskussionen um das Thema Folter tabu. Vor diesem Hintergrund wirkt vielleicht weniger erstaunlich, dass der konservative Umschwung, der weite Teile Europas im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erfasste und vielerorts mit empfindlichen Einschränkungen der bereits erkämpften bürgerlichen Freiheitsrechte, durchgesetzt durch massive Polizeipräsenz, einherging, nicht zu einem Wiederaufleben der Folter führte. Tatsächlich sind aus dieser Zeit der Wächterstaaten keinerlei Folterungen bekannt, so dass das Eingangszitat Hugos vor dem Hintergrund heutiger historischer Kenntnisse als zutreffend eingestuft werden kann.356 Hinsichtlich der Lage in den ländlichen Gebieten der neuen (süd-)westlichen Provinzen der USA gibt es jedoch widersprüchliche Hinweise: Einerseits scheint die Annahme, dass sich die verantwortlichen Beamten des „Wilden Westens“ zu jeder Zeit, auch der des Bürgerkrieges, an die hohen Rechtsstandards der Ostküste gehalten haben, schwer begründbar und tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass teilweise mit Gewalt erpresste Geständnisse sogar vor Gericht Verwendung fanden, während einschlägige Quellen die Vereinigten Staaten auch für diese Zeit als „folterfreie Zone“ ausweisen.357 Möglicherweise war die Einstellung, in den USA als zivilisierter Nation habe Folter keinen Platz mehr, bereits so tief verwurzelt, dass man zunächst keine Untersuchungskommissionen einrichten wollte (oder gar nicht an einen solchen Schritt dachte), die gegenteilige Hinweise hätten liefern können. Denn Folter galt bis in das 20. Jahrhundert hinein zumindest in Europa und Nordamerika als „Antithese der Menschenrechte, als ärgster Feind einer menschlichen Rechtsordnung und des Liberalismus, als größte Bedrohung für Recht und Vernunft, die im 19. Jahrhundert vorstellbar war.”358 Die Möglichkeit von Folterungen war soweit aus dem Bewusstsein verdrängt, dass man keinen Anlass sah, sich im frühen Kriegsrecht vor der Zeit der beiden Weltkriege dagegen abzusichern.359 Dies mag auch eine Erklärung dafür sein, dass das Wiederaufleben der Folter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst nicht thematisiert wurde – mit der Tabuisierung hatte das Nichtwissenwollen um Folter eingesetzt. 355 356 357 358 359 Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 572. Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 158. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 14. Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 109. Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 49. – 102 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Tabuisierte non-compliance: Die universellen Folterverbote des 20. Jahrhunderts 360 „Tief betroffen, dass Folter immer noch in verschiedenen Teilen der Welt praktiziert wird…” 361 Obwohl Versuche, Folter wieder zu legalisieren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in (demokratischen wie totalitären) westlichen Staaten wieder auftraten, setzte sich nur wenige Jahrzehnte später auch auf internationaler Ebene die Interpretation durch, dass die Ablehnung von Folter zunächst ein „elementares Gemeingut […] der europäischen Zivilisation” gewesen sei, welches erst später „zunehmend weltweit anerkannt” wurde und dass das gesetzliche Verbot von Folter als „Spezifikum der europäischen Kultur unabhängig davon, inwieweit die staatliche Praxis gegen das Verbot verstößt” verstanden werden müsse.362 Auf diese Lesart verweist auch die eingangs zitierte erste Präliminarklausel einer Resolution der UNGeneralversammlung von 1973, mit der diese ihren Entschluss bekannt gab, eine AntiFolterkonvention ausarbeiten zu wollen. In den ersten, noch stark von dem Schock über die Gräueltaten insbesondere des Zweiten Weltkrieges geprägten internationalen Menschenrechtsdeklarationen taucht Folter dagegen nur als ein Verbrechen unter vielen auf. So wurde die Anwendung von Folter in Kriegszeiten gegen Kriegsgefangene wie Zivilpersonen in den vier Genfer Konventionen von 1949 als „schwere Verletzung des Abkommens” untersagt.363 In Richtung einer Hervorhebung von Folter als besonders schwerer Menschenrechtsverletzung wies allerdings bereits damals ihre Einstufung als Kriegsverbrechen im Sinne des Status des Nürnberger Gerichtshofes, weshalb diese Straftaten niemals verjähren.364 Im Vergleich zur schlichten Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte , 365 die die neu gegründeten Vereinten Nationen 1948 erließen und die v. a. symbolischen Charakter hatte, beinhaltete der bereits über ein (wenn auch wenig wirksames) Kontrollsystem verfügende Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (kurz IPBPR) von 1966 erstmals ein rechtlich bindendes Folterverbot, 360 361 362 363 364 365 Die Wirkung und Ausgestaltung der in diesem Kapitel angesprochenen internationalen Dokumente und Verträge sowie der daraus hervorgegangenen Institutionen kann hier nicht en detail diskutiert werden, s. hierzu aber insbes. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich und Bank, Roland 1996: Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der Vereinten Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation und Effektivität der neueren Kontrollmechanismen, Freiburg. UN-Resolution A/Res/3059 (XXVII) vom 02.11.1973, zitiert nach: Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 119. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 83. Da Schmoeckel sich auf die Entwicklung der Folterdiskussion in Europa konzentriert, ist nicht verwunderlich, dass er den Begriff „europäisch“ statt „westlich“ verwendet. Allerdings macht auch er an anderer Stelle deutlich, dass die USA für ihn diesem Kulturraum angehören, vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeßund Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 528. Alle vier Konventionen enthalten einen identischen dritten Artikel, der u. a. Folter verbietet. Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 69. Art. 5 lautet: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.” – 103 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus welches darüber hinaus als notstandsfestes Recht, das sowohl in Friedens- wie auch in Kriegszeiten galt, etabliert wurde.366 Auffällig ist, dass nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, dessen Verbrechen sich durch die Verabschiedung der oben genannten Dokumente nie wiederholen sollten, Euphemismen zur Bezeichnung von Folter verwendet wurden. Neben dem bekannten Begriff des „Verhörs dritten Grades“, wie Himmler Folterverhöre in seinem Erlass vom Juni 1942 bezeichnete, wurden solche auch am Vorabend der Russischen Revolution sowie im faschistischen Italien und Spanien von denjenigen entwickelt, die Folter nach einer mehr als 100jährigen völligen Verbannung wieder als legale Praxis etablieren wollten und damit zumindest dem Schweigetabu noch in gewisser Hinsicht Rechnung trugen.367 Interessanterweise trat Folter in genau den Staaten wieder auf, die den Wert des Individuums im Vergleich zur Sicherung des Gesellschaftssystems als Ganzem wieder herabsetzten, wo also der Staat zum Selbstzweck wurde, wie er es im ancien régime gewesen war. Nicht nur diese Staaten sahen sich jedoch auch neuen Gefahren, wie zum Beispiel dem Aufbau moderner Geheimdienstapparate, ausgesetzt, die Folter unter Sicherheitsaspekten Erfolg versprechend erscheinen ließen. Die nun gebräuchlichen Formen von Folter waren also auch insofern neu, als sie einer geänderten Zielsetzung dienten: Der Informationsgewinnung mit Hilfe gefangener Gegner (seien diese Kriegsgefangene, Spione oder Vertreter innenpolitischer Oppositionsgruppen) außerhalb eines Rechtsprozesses und zur Verhinderung (angeblich) gemeingefährlicher Handlungen, bzw. zum Durchkreuzen feindlicher Kriegsstrategien. Erst jetzt wurde Folter zur „entfesselten Tortur moderner Verhöre ”, mit der „die Wahrheit (…) um jeden Preis erpreßt werden soll” und dem Opfer nicht mehr wie in früheren Gerichtsprozessen die Möglichkeit eingeräumt werden musste, durch sein Schweigen unter der Folter gegen den Staat in Form der ermittelnden Justiz zu „gewinnen”.368 Diese neue Zielsetzung erforderte auch die Entwicklung und den Einsatz neuer Foltermethoden, die dem Opfer keine Chance mehr lassen sollten, zu gewinnen, also zu schweigen. Eine psychologische Verwissenschaftlichung Techniken und den von Foltermethoden Einsatz angeblich brachte nicht nur geständnisfördernder pharmakologischer Substanzen hervor, auch die physischen Methoden zielten noch weit stärker als die reglementierten Praxen früherer Jahrhunderte auf stärkere Schmerzen des Opfers ab.369 366 Das eigentliche Verbot beschreibt, ebenfalls noch recht vage, Art. 5: „No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. In particular, no one shall be subjected without his free consent to medical or scientific experimentation”, während Art. 4 festlegt, dass keinerlei Ausnahmen 367 368 369 zulässig sind. Vgl. auch für das Folgende Mellor, Alec 1961: La torture. Son histoire – son abolition – sa réapparition au XXe siècle, Paris. Für alle drei Zitate Foucault, Michel 1994 [1976]: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, S. 54f. Vgl. Haas, Daniela 1997: Folter und Trauma – Therapieansätze für Betroffene, Oldenburg, S. 22-27. – 104 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Weniger „ausgefeilt“ dürften dagegen die Methoden einer anderen Quelle von Folterungen gewesen sein, die insbesondere in den Vereinigten Staaten bekannt wurde und auf scharfe Ablehnung stieß: Der brutale Umgang einiger Angehöriger der US-amerikanischen Polizei mit Personen in ihrem Gewahrsam wurde in den 1930er Jahren in einigen nationalen Untersuchungsberichten skandalisiert,370 der Supreme Court hob zudem einige Urteile auf, die aufgrund erpresster Geständnisse zu Stande gekommen waren.371 Ähnlich wie die bereits 1902 bekannt gewordenen Folterungen durch US-amerikanische Offiziere auf den Philippinen wurden auch diese Fälle bald totgeschwiegen, nachdem sie als absolute Ausnahmeerscheinungen gewertet worden waren, die von staatlicher Seite schnellstens sanktioniert und abgestellt werden sollten.372 Das Wiederaufleben der Folter zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde also immer als krasse Ausnahme angesehen – entweder auf der Ebene individueller Täter in „zivilisierten“ Gesellschaften oder der „abartiger“ Regime, während staatlich akzeptierte Folterungen außerhalb totalitärer Staatsformen weiterhin für völlig undenkbar gehalten wurden.373 Ganz in diesem Sinne wurde Armeeangehöriger im auch versucht, algerischen Berichte Befreiungskrieg über zu Folterungen vertuschen französischer oder zumindest herunterzuspielen. – die Berichte seien übertrieben und wenn überhaupt ein „gewisser Zwang“ ausgeübt worden sei, der noch keine Folter darstelle, so ginge dies auf Konto der Fremdenlegion, in der ja keine Franzosen dienten.374 Deutlich wird die Ablehnung des Gedankens, Franzosen hätten sich Folterungen zu Schulden kommen lassen seitens der französischen Bevölkerung und Staatsspitze auch in dem Versuch, die Publikation der Foltervorwürfe in Henri Allegs Buch „La question” von 1958 zu unterbinden. Das Thema wurde derart tabuisiert, dass es erst vierzig Jahre später in Frankreich zu einer Diskussion in Medien und Nationalversammlung sowie einer Öffnung der französischen Archive zum Algerienkrieg kam. Vor diesem Hintergrund erscheint wenig erstaunlich, dass der Anstoß zur Formulierung einer allein Folter adressierenden Konvention der Vereinten Nationen in den 1970er Jahren gerade nicht in den Verfehlungen Frankreichs oder totalitärer europäischer Staaten gesehen 370 371 372 373 374 Aufsehen erregte insbesondere der sog. Wikkersham Report, der auch für Theodore Roosevelt, damals noch Polizeichef von New York, Anlass zu tiefgreifenden Polizeireformen darstellte. Vgl. hierzu insbesondere den Fall Green vs. Mississippi von 1933. Vgl. Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten, Erftstadt, S. 622. Vgl. wie auch für den Fall Algeriens Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 174-177. Allerdings wurden die exzessiven Folterungen in Algerien nicht von der französischen Regierung selbst legitimiert, die gerade für die Kolonien geltenden Folterverbote mehrfach wiederholte, sondern „nur“ von Seiten des Militärs und des Geheimdienstes. Wie viele Kolonialmächte hatte auch Frankreich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts im Gegenteil versucht, Folterungen in seinen Kolonien zu unterdrücken, vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 14. – 105 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus wurde, sondern in den Menschenrechtsverletzungen in Chile unter Pinochet.375 Auch viele, vornehmlich westliche NGOs schlossen sich als im Vergleich zu denen der Spätaufklärung noch junge Form von norm entrepreneurs der Forderung nach einer solchen Konvention an – wiederum primär mit Verweisen auf die Zustände in Entwicklungsländern.376 Obwohl die Erprobung moderner Foltermethoden wie auch Versuche, Folter wieder als legales Instrument – wenn auch mit einem neuen Stellenwert – vor allem in westlichen Ländern aufgetreten waren, wurde dieses Problem nach der Mitte des 20. Jahrhunderts (und der Demokratisierung der meisten dieser Länder) vor allem in anderen Kulturkreisen verortet. Vor dem Hintergrund der gewachsenen Anforderung an „zivilisierte“ Nationen schienen Hinweise für Folterungen im eigenen Land nicht mehr mit der Identität westlicher Staaten vereinbar – die unbedingte „Folterfreiheit“ dieser Staaten war zu einem Kriterium der Gruppenzugehörigkeit (Inklusion) geworden, wobei folternden Staaten auch argumentativ der Zutritt zur „westlichen Wertegemeinschaft“ verwehrt werden konnte (Exklusion). Neben der öffentlichen Ablehnung von Folter, die nun von den meisten Staaten bekundet wurde, wurde die tatsächliche Einhaltung der Norm insbesondere für „westliche“ Staaten zu einem verschärften Zugehörigkeitskriterium – weshalb Fälle von non-compliance (wie in Algerien oder Vietnam) unbedingt verheimlicht werden mussten. Die Verhandlungen auf Ebene der Vereinten Nationen (UN) führten zunächst zur Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von 1975, die insofern außerordentlich wichtig war, als sie erstmals eine umfassende Definition von Folter beinhaltete, die Versuche, die bestehenden rechtlichen Hürden mit Hilfe von Euphemismen zu umgehen, unmöglich machte. Danach ist Folter „…any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally inflicted by or at the instigation of a public official on a person for such purposes as obtaining from him [sic!] or a third person information or confession, punishing him for he has committed or is suspecting of having committed, or intimidating him or other persons.”377 Einerseits ist diese Definition insofern offen, als sie keine vollständige Aufzählung der Ziele von Folterungen, sondern nur Beispiele hierfür liefert. Andererseits ist sie sehr bestimmt, indem sie private Gewaltanwendungen explizit ausschließt und den staatlichen Charakter von 375 376 377 Vgl. Bank, Roland 1996: Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der Vereinten Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation und Effektivität der neueren Kontrollmechanismen, Freiburg, S. 9. Insbesondere der erste Bericht der neu gegründeten Organisation Amnesty International über Haftbedingungen in Südafrika schlug hohe Wellen. 1972 startete AI eine großangelegte Kampagne gegen Folter, mehr als eine Million Unterschriften für die Verabschiedung einer eigenen Anti-Folterkonvention wurden der UN-Generalversammlung vorgelegt. Im Hinblick auf die USA thematisierte der erste allein diesem Thema gewidmeten Bericht von AI zwar unverhältnismäßige Polizeigewalt, kam jedoch zu der Feststellung, dass es „keinen Beweis für eine behördlich gebilligte Verletzung dieses Gesetzes [des nationalen Folterverbotes, SoSchi]” gab. Amnesty International 1975: Bericht über die Folter, Frankfurt am Main, S. 199. Resolution der Generalversammlung vom 09. Dezember 1975, A/Res/3452 (XXX). – 106 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Folter betont, was zu dieser Zeit – und im Hinblick auf den allgemeinen Sprachgebrauch – durchaus nicht selbstverständlich war.378 Allerdings war die Erklärung nicht rechtlich bindend, weshalb mit dem Ziel einer solchen Konvention weiterverhandelt wurde. Die Konvention gegen Folter und andere grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde am 10.12.1984 von der UN-Generalversammlung per Akklamation verabschiedet – eine für viele UN-BeobachterInnen auch deshalb überraschend schnelle Einigung, weil die Anti-Folterkonvention weit über die meisten Verträge zur Kodifizierung anderer Menschenrechte (ausgenommen dem Verbot der Sklaverei) hinausgeht:379 So enthält sie eine präzise Definition des Gegenstandes, wobei die umfassende Folter-Definition der Erklärung von 1975 in weiten Teilen übernommen wurde und verpflichtet als bindendes Recht alle Vertragsparteien zu einem Maßnahmenpaket zur innerstaatlichen Implementierung der Konvention.380 Tatsächlich findet sich daneben auch in der Mehrzahl der Staatsverfassungen ein ausdrückliches Folterverbot oder ein Verbot von Handlungen, die Folter gleichkommen (und selbst beim Fehlen solcher Klauseln lässt sich dieses Recht aus dem jeweiligen Schutz persönlicher Integrität ableiten), wohingegen keine einzige Staatsverfassung die Anwendung von Folter ausdrücklich zulässt.381 Besonders wichtig im Hinblick auf eine weltweite Gültigkeit dieser Norm ist, dass Folter in dem Verpflichtungen auf zwischenstaatlicher Ebene gewidmeten Part der Anti-Folterkonvention explizit als Weltverbrechen bezeichnet wird, was eine universelle Rechtsprechung ermöglicht: Jeder Folterer kann ungeachtet seiner Herkunft in jedem der Vertragsstaaten vor Gericht gestellt und nach dessen Maßstäben verurteilt werden. Hinzu kommt ein Implementationsmechanismus, dessen Einrichtung der für Menschenrechtserklärungen recht lange und v. a. detaillierte Text der Konvention ebenfalls regelt: Die Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtungen obliegt in erster Linie dem UN Committee against Torture (CAT), das hierzu entsprechende Berichte der Mitgliedsstaaten überprüft, die eigentlich regelmäßig eingereicht werden sollten.382 Darüber hinaus kann das CAT aber auch unter bestimmten Bedingungen eigene Untersuchungen einleiten und über Beschwerden von Mitgliedsländern oder sogar einzelnen Individuen über andere Vertragsstaaten entscheiden, 378 379 380 381 382 Vgl. zur Frage, ob die alltagssprachlich sehr weite Verwendung des Begriffs nicht eher zur Verbreitung dieser Praxis beigetragen hat Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 194f. Der Originaltext der Konvention findet sich online unter: <http://www.unhchr.ch/html/menu3/b /h_cat39.htm>, rev. 25.08.2006. Zu den Maßnahmen auf nationaler Ebene zählt u. a. der Schutz von Folteropfern, eine strenge Gesetzgebung zur Ahnung der TäterInnen und eine entsprechende (Neu-)Ausrichtung der Ausbildung von Polizei und Militär. Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 75. Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 75. Vgl. zu Funktion und Aufbau des CAT sowie die Aufgaben der anderen, auf UN-Ebene mit dem Folterverbot befassten Institutionen des (früheren) Human Rights Committee, des UNSonderberichterstatters über Folter und des Committee for the Prevention of Torture Bank, Roland 1996: Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der Vereinten Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation und Effektivität der neueren Kontrollmechanismen, Freiburg, S. 19-134. – 107 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus was im Vergleich mit anderen Komitees, die über die Einhaltung von Menschenrechten wachen sollen, wiederum recht weitreichende Befugnisse sind. Ebenfalls anders als viele andere Menschenrechte ist das Folterverbot auch in dieser Konvention als absolutes Recht kodifiziert worden, das keinerlei Ausnahmen zulässt und auch in Notstandssituationen nicht eingeschränkt werden darf. Besonders deutlich wird dies in Art. 2, welcher besagt, dass „[n]o exceptional circumstances whatsoever, whether a state of war or a threat of war, internal political instability or any other public emergency, may be invoked as a justification of torture.” Obwohl das Folterverbot allein mit dieser Konvention eine der am stärksten kodifizierten Menschenrechtsnormen ist und damit die Handlungsspielräume aller beigetretenen Staaten in dieser Frage sehr deutlich einschränken soll, haben bis heute mehr als 140 Staaten dieses Dokument gezeichnet. Auch diejenigen fünfzig Staaten, die diesen Schritt bisher nicht getan haben, sie jedoch auf völkerrechtlicher Ebene an das Folterverbot gebunden, denn das Folterverbot ist nicht nur einfacher Teil des Völkergewohnheitsrechts, das – ganz ähnlich wie in der politikwissenschaftlichen Theorie zur Etablierung sozialer Normen – „durch gleichförmige Übung mit allmählich hinzutretender Rechtsüberzeugung gebildet” wird,383 so dass das Verbot unabhängig vom Ratifizierungsstand der einschlägigen Rechtsnormen internationale Gültigkeit besitzt.384 Es gehört auch zum ius cogens, also zu den zwingenden Normen des Völkergewohnheitsrechts, die zur ordre public der Völkergemeinschaft gezählt werden und jegliche zwischenstaatlichen Verträge, einseitigen Erklärungen oder nationalen Gesetzesänderungen zur Umgehung dieser internationalen Normen automatisch außer Kraft setzen. Der Einschätzung von Folter als Weltverbrechen entspricht auch der ihres Verbots als Verpflichtung erga omnes: Über diese internationalen und völkerrechtlichen Regelungen hinaus ist das Folterverbot (wie auch eine Reihe anderer Menschenrechtsnormen) durch eine Reihe regionaler Abkommen ergänzt worden, so dass die meisten Staaten der Welt außer auf internationaler Ebene (die sich in nationaler Gesetzgebung widerspiegeln muss) auch auf dieser dritten Ebene an das Folterverbot gebunden sind – ein weiterer Beleg dafür, dass „über die Verwerflichkeit der Folter ein breiter und zumindest auf konzeptioneller Ebene unerschütterlicher Konsens besteht” ,385 selbst wenn es manchen dieser Verträge an Schärfe und Durchsetzungs- 383 384 385 Vgl. hierzu auch die Formulierung des Internationalen Gerichtshofes zum Vorliegen von Völkergewohnheitsrecht im Continental Shelf Case: „The states concerned must therefore feel that they are conforming to what amounts to a legal obligation.” [Herv. SoSchi] International Court of Justice 1969: Das Urteil des Internationalen Gerichtshofes vom 20.02.1969 über den deutschen Anteil am Festlandsokel in der Nordsee, in: Zeitschrift für ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht, 29/1969, S. 476-524, hier S. 514f. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 74. Vgl. auch für das Folgende Raess ausführliche juristische Herleitung und völkerrechtliche Begründung (S. 74-90). Tomuschat, Christian 1989: Rechtlicher Schutz gegen Folter? Zum Verhältnis von nationalen und internationalen Rechtsnormen, in: Schulz-Hageleit, Peter (Hg.): Alltag-Macht-Folter. Elf Kapitel über die Verletzung der Menschenwürde, Düsseldorf, S. 95-118, hier S. 107. – 108 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus möglichkeiten mangelt.386 Im Rahmen dieser Arbeit ist insbesondere auf die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) von 1969 hinzuweisen, die auf der bereits 1948 verabschiedeten Amerikanischen Menschenrechtserklärung basiert und ein notstandsfestes Folterverbot enthält. Dass die USA das Dokument zwar 1977 unterschrieben, jedoch nicht ratifiziert haben, liegt an der bekannten Abneigung des Landes gegen die Unterwerfung unter fremde Gerichtsbarkeit: Die AMRK ermöglicht das Einreichen von Individual-, teilweise auch Staatenbeschwerden, die – anders als bei den Vereinten Nationen – unter bestimmten Bedingungen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt werden können. Rechtliche Situation in den USA: Öffentliche Vorbildfunktion und geheime non-compliance Zwar haben sich die Vereinigten Staaten dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht unterworfen, auf nationaler Ebene aber immer wieder demonstriert, dass sie nicht nur der Einstufung von Folter als Weltverbrechen zustimmen, sondern auch auf internationaler Ebene ihrer Stellung u. a. im Hinblick auf Folterverbote als Vorreiter der Durchsetzung internationaler Menschenrechte gerecht werden wollen: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte insbesondere die Präsidentenfamilie Roosevelt den Grundstein für eine Verschriftlichung universeller Menschenrechtsprinzipien zu legen geholfen, in deren Rahmen auch und gerade Folter geächtet werden sollte: So hat sich Eleonore Roosevelt, die als Nichte Theodores von der Diskussion um die Verfehlungen der New Yorker Polizei wissen musste, in ihrer Funktion als UN-Botschafterin auch für das Festschreiben eines entsprechenden Artikels in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingesetzt. Bereits zuvor hatte ihr Mann, Präsident Franklin D. Roosevelt, 1941 eine vielbeachtete Ansprache an den USKongress gerichtet, in der er (noch ohne von einer Menschenrechtserklärung im modernen Sinn zu sprechen) die „Freiheit von Furcht“ und damit auch von der Furcht vor Folter als eine der vier fundamentalen Freiheiten bezeichnet hatte.387 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich vehement für die Genfer Konventionen ein, welche die USA noch im Jahr ihrer Verabschiedung ratifizierten. Insbesondere gegen und nach dem Ende des Kalten Krieges und der sich lockernden Supermachtblockade innerhalb der Vereinten Nationen, versuchten die USA zumindest rhetorisch an ihre Vorreiterschaft in Sachen universelle Menschenrechte wieder anzuknüpfen. 386 387 Der in der Europäischen Antifolterkonvention niedergelegte Schutz gegen Folter geht sogar noch über den der UN-Antifolterkonvention hinaus, die als „Banjul-Charta“ bekannt gewordene Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker enthält zumindest ein bindendes Folterverbot. 1981 wurde auch eine Islamische Menschenrechtserklärung verabschiedet, nach der Folter ebenfalls geächtet wird, allerdings konnte sich die Konferenz der Islamischen Staaten bisher nicht entschließen, den Text in Form einer bindenden Deklaration zu verabschieden. Die Initiative ist dennoch von Bedeutung, da insbesondere arabische Staaten auf internationaler Ebene immer wieder versucht haben, bestimmte Strafen (wie das Abhacken von Gliedmaßen oder Steinigungen) explizit nicht unter die Definition von Folter zu fassen. Vgl. Roosevelt, Franklin D. 1945 [1941]: Ansprache an den Kongreß am 6. Januar 1941, in: Baudisch, Paul (Hg.): Roosevelt spricht. Die Kriegsreden des Präsidenten, St. Gallen, S. 124-130, hier S. 129. – 109 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus So ratifizierten sie 1992 den bereis 1977 gezeichneten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und traten bei der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 gegen Versuche großer asiatischer Länder (lies: Handelspartner) ein, die Gültigkeit von Menschenrechten von nationalen und regionalen Besonderheiten abhängig zu machen.388 Anlässlich der Unterzeichnung des War Crimes Act, der für SoldatInnen und ZivilistInnen, die sich Kriegsverbrechen nach der Genfer Konvention und ihrer (von den USA ratifizierten) Zusatzprotokolle zu Schulden haben kommen lassen, lange Haftstrafen bzw. sogar die Todesstrafe vorsieht, betonte Bill Clinton 1996 die US-amerikanische „Führungsrolle in der Entwicklung des Rechts zum Schutz von Kriegsopfern”.389 Hinsichtlich der UN-Anti-Folterkonvention, an deren Formulierung die USA aktiv mitgearbeitet und deren Verabschiedung sie zugestimmt hatten, beschwor Reagan den USKongress, den Vertrag – wenn auch mit einigen Vorbehalten v.a. hinsichtlich der Ermittlerrolle des CAT – zu ratifizieren und „unserem Wunsch, der abscheulichen Folterpraxis ein Ende zu bereiten” Ausdruck zu verleihen,390 was aufgrund eben dieser Vorbehalte aber erst 1994 der Fall war. Allerdings erklärte der Senat bezüglich der Umsetzung der Konvention in nationales Recht, dass Folterungen seit der Annahme der bill of rights mit der Verfassung des Landes unvereinbar seien391 und auch das Außenministerium erklärte in seinem ersten Bericht an das CAT: „Torture is prohibited by law throughout the United States. It is categorically denounced as a matter of policy and as a tool of state authority. (…) No official of the government, federal, state or local, civilian or military, is authorized to commit or to instruct anyone else to commit torture. Nor may any official condone or tolerate torture in any form. No exceptional circumstances may be invoked as a justification for torture. U.S. law contains no provision permitting otherwise prohibited acts of torture or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment to be employed on grounds of exigent circumstances (for example, during a ‚state of public emergency’) or on orders from a superior officer or public authority.“392 Innenpolitisch gesehen sind die USA darüber hinaus einer der wenigen Staaten, in denen tatsächlich Folterfälle aus Drittländern vor Gericht gebracht wurden. Eine spezielle nationale Grundlage hierzu bietet der noch aus dem Jahr 1789 stammende Alien Tort Claims Act 388 389 390 391 392 Vgl. McCoy, Alfred W. 2005: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folter-Forschung und –praxis von CIA und US-Militär, Frankfurt am Main, S. 88. Bill Clinton zitiert nach: McCoy, Alfred W. 2006: A Question of Torture. CIA Interrogation, From the Cold War to the War on Terror, New York, S. 102. An dieser Stelle kommt auch der aus europäischer Sicht prekäre Spagat zwischen der Ablehnung von Folter, nicht aber der Todesstrafe zum Ausdruck. Bill Clinton zitiert nach: McCoy, Alfred W. 2006: A Question of Torture. CIA Interrogation, From the Cold War to the War on Terror, New York, S. 102. Vgl. Parry, John T. 2004: Escalation and Necessity. Defining Torture at Home and Abroad, in: Levinson, Sanford (Hg.): Torture. A Collection, Oxford, S. 145-164, hier S. 150. U.S. Department of State 1999: Initial Report of the United States of America to the U.N. Committee Against Torture, S. 4f. (Absatz 6). – 110 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus (ATCA),393 nach dem sogar zivilrechtliche Schadensersatzansprüche aus einem Drittland stammender, direkt oder indirekt betroffener Individuen gegenüber ebenfalls aus einem Drittland stammende Folterer durch US-Gerichte beschlossen werden können, sobald sich eine der beiden Parteien in den USA aufhält. Den ersten dieser Fälle, Filartiga versus PenaIrala, gewann 1980 ein Paraguayaner, der vor einem US-Zivilgericht den aus dem gleichen Land stammenden Folterer seines Sohnes verklagte kannte.394 Um solche Klagen unter dem ATCA weiter zu erleichtern, verabschiedete der US-Kongress 1991 zudem den US Protection for Victims of Torture Act. Bekanntermaßen ging mit der internationalen Rhetorik und innenpolitischen Gesetzgebung gegen Folter im 20. Jahrhundert nicht immer compliance aller gesellschaftlichen Akteure der USA einher. Bei der Entwicklung immer neuer Foltermethoden mit zum Teil hohem wissenschaftlichem und finanziellem Aufwand hat die CIA seit den 1950er Jahren immer wieder eine unrühmliche Vorreiterrolle eingenommen – wobei peinlich auf die Geheimhaltung dieser Forschungen geachtet wurde.395 Bis heute sind die meisten einschlägigen Dokumente aus dieser Zeit geheim bzw. kaum systematisch aufgearbeitet worden. Der Einsatz dieser Methoden insbesondere in den 1970er Jahren wurde in Teilen jedoch zeitnah aufgedeckt, wobei Folterungen im Rahmen des sog. Phoenix-Programms in Vietnam und in Uruguay den US-Senat schließlich veranlassten, insbesondere die USamerikanischen „Hilfen“ bei der Ausbildung der Polizeiapparate dieser Länder einer Revision zu unterziehen. Obwohl der New York Times 1970 eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung der CIA-Praktiken in befreundeten Staaten zukam, spielten sich die nachfolgenden Verhandlungen hauptsächlich innerhalb des Kongresses (und dort binnen weniger Monate) ab – mit dem Hinweis, die CIA habe sich bereits reformiert, wurden weitere Ermittlungen abgelehnt, eine Strafverfolgung der Täter wurde nicht eingeleitet. Offensichtlich gab es keinerlei öffentlichen Druck, wie überhaupt auch im Hinblick auf die US-amerikanische Öffentlichkeit „weiter ein tiefes, nahezu unerklärliches Schweigen über das Thema Folter” herrschte und es bis Ende der 1980er Jahre „vollends in der Versenkung [verschwand].”396 393 394 395 396 Der Gesetzestext findet sich unter: <http://cyber.law.harvard.edu/torts3y/readings/update-a-02.html>, rev. 07.07.2006. Vgl. für seine heutige Anwendung auch Bruha, Thomas/Steiger, Dominik 2006: Das Folterverbot im Völkerrecht, Stuttgart, S. 37f. Die Forderung des Gerichts belief sich auf ca. 10 Mio. US-Dollar. Dass sich auch Ärzte und Psychologen des nationalsozialistischen Regimes in den Reihen der ersten Folterforscher der CIA befanden und allein die Versuchsprogramme zu sog. „Gehirnwäsche“ in den 1950er Jahren mehrere Milliarden Dollar verschlangen, ist mittlerweile belegt. Möglicherweise wurden auch die Experimente Milgrams von der CIA in Auftrag gegeben. Vgl. auch für das folgende Kapitel eins bis drei, S. 31-94, aus McCoy, Alfred W. 2005: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folter-Forschung und –praxis von CIA und US-Militär, Frankfurt am Main, hier insbes. S. 36, 38 und 44. McCoy, Alfred W. 2005: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folter-Forschung und –praxis von CIA und US-Militär, Frankfurt am Main, S. 82 bzw. 83. Auch die Ende der 1980er Jahre angestrengten Untersuchungen über den Einsatz eines Buches zur Ausbildung von Folterern in Honduras verliefen sich jedoch nach einigen Kongress-hearings im Sande. – 111 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Das Totschweigen dieser Fälle der Normmissachtung ermöglichte es bis vor kurzem, dass „[c]itizens of the United States do not usually consider torture to be a feature of the nation’s heritage.” 397 Dieses allgemeine Nichtwissenwollen liegt wohl nicht nur in der Überzeugung der US-amerikanischen BürgerInnen über die Eigenschaften ihrer auf das Wohl des Individuums ausgerichteten Demokratie und Gerichtsbarkeit begründet, sondern auch in der Angst vor einem Imageverlust nach außen, der für die selbsternannte Vorbildnation in Sachen Menschenrechte natürlich besonders empfindlich ist. Ein prominentes Beispiel dafür, wie wichtig die Aufrechterhaltung zumindest des Anscheines absoluter Einhaltung der Folterverbote gerade für Demokratien ist, lieferte Amerikas engster Verbündeter, Großbritannien, 1978: Damals hatte Irland das Nachbarland wegen angeblicher Folterungen von IRA-Mitgliedern vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angeklagt, der jedoch entschied, bei den verwendeten Praktiken handele es sich zwar um unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, nicht aber um Folter. Die britische Regierung wie Presse feierte dies als eindeutigen Sieg vor Gericht – obwohl mit Menschenrechtsverletzungen im Sinne der EMRK festgestellt worden waren. dem Urteil In der Angst vor naming and shaming bei denjenigen, denen die Verstöße der Vereinigten Staaten wie auch Großbritanniens gegen das Folterverbot bewusst waren, verbinden sich die rigiden juristischen Grenzen des Folterverbots auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene mit den moralischen Vorstellungen einer „natürlich“ folterfreien, zivilisierten und demokratischen Nation, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat. 5.1.3 Wie wirkt das Foltertabu? Im vorangegangenen Kapitel ist argumentiert worden, dass das Foltertabu, wie es sich heute darstellt, auf zwei große Quellen zurückzuführen ist: Eine historisch gewachsene, moralische und emotionale sowie eine rechtliche auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene. Erstere führte nach einer argumentativen Auseinandersetzung über mehrere Jahrhunderte hinweg zu einer affektiven, moralischen Ablehnung von Folter, die spätestens im 19. Jahrhundert jegliche Diskussionen um die Wiedereinführung von Folterungen unmöglich werden ließ – u.a., indem hier die Grundlagen für eine „Archaisierung“ von Folter und für die Gefühle der Scham und des Ekels gelegt wurden, die bis heute allein der Gedanke an diese Praxis hervorrufen kann. Dies spiegelt sich sowohl im Verhalten von Staaten, bei denen naming and shaming in Bezug auf Folter deshalb immer wieder funktioniert, wie auch bei einzelnen Individuen, insbesondere in den psychologischen Folgen, die Folterungen für TäterInnen, Opfer und den Umkreis dieser Personen haben. Die zweite Ebene der internationalen Ächtung von Folter durch geltendes Recht kann allerdings nicht ganz von der erstgenannten getrennt gesehen werden, wie sich an der subjektiven Komponente der Definition von Völkergewohnheitsrecht zeigt. Dabei sind die Bestimmungen des modernen 397 Skolnick, Jerome 2004: American Interrogation. From Torture to Trickery, in: Levinson, Sanford (Hg.): Torture. A Collection, Oxford, S. 105-127, hier S. 105. – 112 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus Völkerrechts insbesondere deshalb bedeutend, weil sie – anders als die ersten nationalen Folterverbote und entsprechend der moralischen Haltung einer absoluten Ablehnung ab dem 19. Jahrhundert – Folter als derart inhuman ausweisen, dass keinerlei Ausnahmeregelungen mehr zulässig sind und Folter darüber hinaus als Weltverbrechen, der Folterer als Feind der ganzen Menschheit angesehen wird.398 Mit der Entstehungsgeschichte dieser Rechtsnormen ging gleichzeitig die Schaffung einer gefühlten geographischen Distanz zwischen folternden, „barbarischen“ und Folter verbietenden, „zivilisierten“ Nationen einher. Foltergegnerschaft, die zunächst für die Identität einer Gruppe von Intellektuellen konstitutiv war, gehört nun zum positiven Selbstbild und Image nach außen (beinah) jeden Staates. Beide Ebenen haben bewirkt, dass für die Ablehnung von Folter heute keine ernsthafte argumentative Begründung mehr nötig ist: Folter wird per se und ausnahmslos als negativ und undenkbar eingestuft. Dieses Verdienst der Aufklärung sehen wir auch im modernen Völkerrecht verankert: So wird in der Präambel der UN-Anti-Folterkonvention lediglich darauf verwiesen, dass Folter gegen die „inherent dignity and the equal and inalienable rights of all members of the human family ” verstößt, die „the foundation of freedom, justice and peace in the world” seien und diese wiederum auf der „inherent dignity of the human person” beruhen – ein nicht weiter begründeter Zirkelschluss, der offen lässt, worauf Menschenwürde eigentlich beruht, warum Folter gegen sie verstößt und wieso dieser Verstoß die Grundfeste des internationalen Systems erschüttern sollte. Wie bereits im ersten Unterpunkt dieses Kapitels dargelegt wurde, ging die Abschaffung der Folter tatsächlich mit der Entstehung moderner Staatlichkeit und dem Gedankengut des Rechtstaates Hand in Hand. In den folgenden Ausführungen zu den historischen Umständen der ersten Verbote sollte jedoch deutlich geworden sein, dass Folter zuvor jahrhundertelang ein durchaus als rational eingestuftes Instrument einer – auf anderen Kosten-Nutzen-Rechnungen basierenden – Rechtsordnung war und bis ins 19. Jahrhundert hinein Ausnahmeregelungen auch in Folter verbietenden Staaten als durchaus üblich eingestuft wurden – u.a. im Falle von Hochverrat war die Menschenwürde auch juristisch nicht immer die überordnete Norm. Eine (eventuell auch auf solche historischen Fakten verweisende) offene Befürwortung von Folter ist heute dagegen nicht möglich, denn diese Position ist seit dem 19. Jahrhundert „archaisiert“ und „irrationalisiert“ worden und auch juristisch heute nicht mehr begründbar. Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass die Infragestellung der Gültigkeit eines Foltertabus – unabhängig von compliance mit dieser Norm – sowohl aus historisch-moralischer als auch aus juristischer Sicht völlig unmöglich ist, da dies außerhalb des denkbaren Rahmens der Einwohner zumindest jeder „zivilisierten“ Nation liegen sollte. Damit stehen auch die beiden Hauptkriterien fest, an denen sich eine Erosion des Foltertabus festmachen lässt: 398 Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 87. – 113 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus 1. Rechtfertigung: Es wäre der Versuch einer Akteursgruppe oder einer Nation, eine öffentliche und ernsthafte Diskussion über die Legalisierung von Folter zu beginnen – etwa, indem bestehende Fälle von non-compliance mit dem internationalen Folterverbot zu rechtfertigen versucht werden. 2. Rationalisierung: Zudem wäre das Tabu dann klar gebrochen, wenn eine solche Diskussion auch von anderen DiskursteilnehmerInnen als rational zu beziehende Position anerkannt würde – auch, wenn diese nicht der eigenen Anschauung entspräche. Somit wäre auch die Suche nach Argumenten für eine Beibehaltung der absoluten Gültigkeit des Folterverbots ein Indiz für dessen Schwächung, denn die Möglichkeit, dass Folter in bestimmten Fällen angebracht sein könnte, wäre eine für alle DiskursteilnehmerInnen denkbare Option. Im Sinne eines nicht hinterfragbaren Tabus wären argumentative Rechtfertigung und Rationalisierung von Folter klare Anzeichen dafür, dass sich der Denkrahmen eines Akteurs stark verschoben hat und Folter – selbst, wenn sie argumentativ abgelehnt wird – nicht mehr unthinkable ist. Dies kann, muss aber nicht notwendig mit einer Ausweitung des Handlungsrahmens einhergehen, in dem Folter tatsächlich wieder angewandt wird. Dagegen wäre es ein zusätzliches Indiz für die Schwäche des Tabus, wenn stattfindende Folterungen nicht länger verheimlicht würden: 3. Ent-Distanzierung: Das Zugeben von non-compliance, also das öffentliche Sprechen (nicht unbedingt Rechtfertigen) über stattfindende Folterungen wäre insbesondere in westlichen Staaten ein Bruch mit dem bereits traditionellen Totschweigen von Folterfällen wie etwa in Algerien oder Vietnam. Würden Folterfälle nicht länger verheimlicht, könnten sich westliche schwerer von anderen folternden Staaten geographisch distanzieren, womit ein wichtiges Abgrenzungskriterium (zwischen Staaten, die Folter nur ablehnen und solchen, die die Verbote auch einhalten) verloren ginge. 4. Ent-Archaisierung: Auch eine Ent-Archaisierung von Folter ein Hinweis für eine Tabuschwächung, denn die Diskussion um Folterfälle in der eigenen jüngeren Vergangenheit würden die Vorstellung, dass das Unterlassen von Folterungen an das Aufkommen moderner (demokratischer) Rechtsstaaten geknüpft ist, unterminieren. 5. Ausnahmeregelungen: Einen ähnlichen Effekt hätte das Eingeständnis, dass Folterverbote zunächst nicht absolut galten, und Ausnahmen in einigen Fällen zugelassen waren – also auch die Menschenwürde einer Güterabwägung mit anderen Rechtsstandards (z.B. der Gefährdung des Staates) unterworfen wurde. 6. Ent-Universalisierung: Unter das Anzweifeln der absoluten Gültigkeit des Tabus könnte neben dem Hinweisen auf Ausnahmeregelungen auch die Einschränkung seiner universellen Gültigkeit für alle Menschen – eigene BürgerInnen wie Fremde und Unschuldige wie Schuldige – fallen. Auch hier würde Menschenwürde nicht mehr länger als natürlich gegeben und unveräußerlich angesehen. Insgesamt wären also mehrere Indizien dafür denkbar, dass Folter als mit den moralischen Vorstellungen und juristischen Standards eines modernen Rechtsstaates vereinbar angesehen und damit normalisiert würde. Ob und wenn ja, welche dieser Kriterien sich tatsächlich in der US-amerikanischen Diskussion der letzten Jahre um die Gültigkeit des Folterverbots finden ließen, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein. – 114 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus 5.2 Das nukleare Tabu „What makes atomic weapons different is a powerful tradition that they are different.“ 399 Die im August 1945 von us-amerikanischen Luftstreitkräften ausgeführten Atombombenabwürfe400 auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wurden nicht nur als eine Revolution der modernen Kriegsführung erachtet401 und hatten die bedingungslose Kapitulation Japans zufolge – dieses Ereignis führte der Menschheit das technisch mögliche Ausmaß der Zerstörung in aller Grausamkeit vor Augen. Die Kenntnis von teilweise vollständig verdampften 150.000 Toten, Bilder von zwei völlig ausgelöschten Städten, vor unerträglichem Schmerz und Entsetzen verzerrten Gesichtern und durch Brandwunden bis zur Unkenntlichkeit entstellten Körpern brannten sich nachdrücklich in das Gedächtnis der weltweiten Öffentlichkeit ein. Nie zuvor und nie wieder danach hat sich ein Staat zu militärischen Zwecken der Kraft nuklearer Sprengsätze bedient, selbst ihre friedliche Nutzung wie z.B. für industrielle Sprengungen stößt auf rigorose Ablehnung,402 so grauenvoll sind mit Nuklearexplosionen einhergehende Assoziationen und so absolut die in ihrer Stärke einer religiösen Überzeugung gleichkommende universelle Verdammung von Nuklearbomben als „peculiar monster“.403 Die inzwischen mehr als fünf Jahrzehnte dauernde Phase des Nicht-Einsatzes von Nuklearwaffen wird im Rahmen von rationalistischen Abschreckungstheorien überwiegend materialistisch erklärt. Als Ergänzung und Herausforderung letzterer wird auf konstruktivistischer Seite mit dem Ziel, der emotionalen, moralischen und sozialen Grundlage des außergewöhnlichen Stellenwertes von Nuklearwaffen gebührend Rechnung zu tragen, das nukleare Tabu als besonders stark internalisierte Norm konzeptionalisiert und als Erklärungsansatz für das non-use-Phänomen entwickelt. Im Lichte der im theoretischen Teil 399 400 401 402 403 Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 260. Ich werde im Folgenden die allgemeine Bezeichnung „Nuklearwaffen“ verwenden und nur dann den Begriff „Atombombe“, wenn tatsächlich Atombomben – also solche Waffen, deren Energie durch Kern spaltung (Fissionsprinzip) freigesetzt wird – gemeint sind. Diese Technik wurde jedoch bald nach den ersten Abwürfen durch das Fusionsprinzip abgelöst, weshalb heute die weitaus meisten Nuklearwaffen Kernverschmelzungswaffen sind. Z.B. Dies wurde bereits 1946 von Brodie et al. mit der Begründung ausgeführt, durch Atomwaffen werde schlagartig sowohl die Effektivität von Verteidigungssystemen als auch die Bedeutung zahlenmäßiger Überlegenheit einer der Parteien reduziert. S. Brodie, Bernard 1946: War in the Atomic Age, in: Ders. (Hg.): The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order, S. 21-69. Beispielsweise schildert Schelling seinen Eindruck einer „virtually universal rejection “, die in den 1970er Jahren auf den Vorschlag, mittels kleiner thermonuklearer Detonationen ökologisch saubere Energie zu produzieren, bei AbrüstungsexpertInnen und EnergieanalystInnen zu beobachten war. S. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3 sowie Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 150. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 444. – 115 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus vorangestellten Konzepte zu Normen im Allgemeinen und Tabus im Besonderen werden in diesem Kapitel unter 5.2.1 die Kerncharakteristika dieses Phänomens herausgearbeitet, um im Folgenden (5.2.2) seine Entstehung aus normtheoretischer Perspektive zu beleuchten. Daran anknüpfend werden unter Punkt 5.2.3 beide zur Erklärung des nuklearen Nicht-Einsatzes angebotenen Wirkungsmechanismen – rational und tabubasiert – und damit einhergehende Handlungslogiken (logic of consequences und logic of appropriateness) im Verhältnis zueinander diskutiert. Schließlich entwickle ich im Fazit (5.2.4), aufbauend auf einer kurzen Zusammenfassung des Kapitels, die Kriterien, die eine Erosion des nuklearen Tabus indizieren würden. 5.2.1 Inhuman, abscheulich und anders: das Fundament des nuklearen Tabus Trotz unterschiedlicher Auffassungen über die Notwendigkeit und Richtigkeit des Phänomens sowie hinsichtlich der ihm zugrunde liegenden Motivationen, konnte sich seit Beginn der 1950er Jahre sowohl in der Politikwissenschaft als auch bei politischen Entscheidungsträgern die Überzeugung von der globalen Existenz404 eines nuklearen Tabus durchsetzen. Welche Charakterzüge machen diese, auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft ebenso wie besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika geteilte Nicht-Einsatz-Norm bzw. EinsatzVerbotsnorm,405 also die „jointly recognized expectation that they [nuclear weapons, ER] may not be used “406 sowie den „normative belief about the behaviour [of non-use, ER]“407 zu einem Tabu? Wie ist die Reichweite der oben vorgestellten, anderen wissenschaftlichen Disziplinen entliehenen, Tabu-Konzepte in diesem Zusammenhang zu beurteilen?408 Angesichts nicht nur untereinander schon divergenter ursprünglicher Tabusysteme, sondern auch der völlig anderen Kontextbedingungen, innerhalb derer das nukleare Tabu im Vergleich zu traditionellen Tabus operiert (genannt sei beispielhaft als die Totemisierung von Naturerscheinungen im Gegensatz zu Produkten modernster Technologien), ist eine hundertprozentige konzeptionelle Übertragbarkeit nicht zu erwarten – und doch lässt sich 404 405 406 407 408 Die Ansicht von der weltweiten Gültigkeit der Norm, die z.B. von Jon Wolfsthal, dem Deputy Director of the Non-Proliferation Project of the Carnegie Endowment for International Peace, in einem Zeitungsartikel mit folgender Aussage auf den Punkt gebracht wird: „There is no such thing as a tactical nuclear weapon in the eyes of 99 percent of the world’s population ”, könnte jedoch mit Verweis auf Staaten wie z.B. Israel und Nordkorea angezweifelt werden. Zitiert nach: Adler, William M. 2004: News! Nukes are back. The Bush administration plans for the next (little) nuclear Wars, in: Austin Chronicle, 16. Januar 2004. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 435f. Die sich erst in den 1990er Jahren etablierte konstruktivistische Definition von Normen als kollektiven Verhaltenserwartungen wird, wie hier ersichtlich, von Schelling schon 1960 formuliert. Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 260. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 436. In der Wissenschaft, darauf verweist z.B. Tannenwald, findet der Begriff jedoch nicht primär aufgrund der vermuteten Ähnlichkeit Verwendung, sondern in erster Linie, weil er von politischen Entscheidungsträgern gebraucht wird – erst dies stößt die wissenschaftlichen Systematisierungsversuche an. – 116 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus eine Reihe überraschender struktureller Ähnlichkeiten,409 verblüffend auch aufgrund ihrer Anzahl, feststellen. So entfaltet das nukleare Tabu neben der regulativen, auf den Umgang mit Nuklearwaffen zielenden, auch eine konstitutive, auf die Identität des Akteurs Einfluss nehmende Wirkung: Die bereits an einigen Stellen dargestellten norm- bzw. tabubasierten Inklusions- resp. Exklusionsmechanismen wirken hier gleich zweifach, indem einerseits auf Basis des Besitzes von Nuklearwaffen neue Kategorien von Staaten als „Haves“ bzw. „Havenots“ kreiert werden – und entsprechend auch die Geltung und Anwendbarkeit einiger Normen entlang dieser Identitäten variiert.410 Andererseits avanciert die (an den weitaus älteren Diskurs über das Verhalten „zivilisierter“ Staaten im Krieg anschließende) gedankliche und behaviourale Einhaltung des Tabus sowohl zu einem wichtigen Element des Selbstverständnisses eines Staates als „civilized member“ der internationalen Gemeinschaft, dessen Vertreter „just don’t do things like that“,411 als auch zur Bedingung der Anerkennung von anderen Staaten als ein solches. Insbesondere in den Vereinigten Staaten als dem einzigen Land, das jemals Atombomben abgeworfen hat, ist das nukleare Tabu aufgrund seiner moralischen, aber auch technologischen Bestandteile zu einem konstitutiven, während der letzten Jahrzehnte des non-use gewachsenen und stets bekräftigten Wert geworden: „A nuclear taboo is a value. It is especially attractive as a value to American Culture, which loves the latter technology, believes it enjoys a long lead in exploiting that technology“.412 Nuklearwaffen als Totem – heilig und verdammt Die Konstruktion von Identitätsmerkmalen um Nuklearwaffen herum ist nur einer der Gründe, weshalb ihnen der Status eines Totems bescheinigt werden kann: Sie sind außerdem – erstens – unberührbar in dem Sinne, dass sie ihre Rolle als Mittel der militärischen Kriegsführung nach zwei Einsätzen eingebüßt haben und nicht mehr verwendet, sondern 409 410 411 412 Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 14. Z.B. verpflichten sich die im – inzwischen 189 Parteien umfassenden – Nichtverbreitungsvertrag (NonProliferation Treaty, im Folgenden NPT abgekürzt) von 1968 (in Kraft getreten am 5. März 1970 mit der Ratifikation der USA und der UdSSR) festgeschriebenen Nuklearmächte (Haves) China, Großbritannien, Frankreich, UdSSR und die USA dazu, erstens gegen alle übrigen Staaten (Have-nots) keine nuklearen Angriffe durchzuführen (negative Sicherheitsgarantien – gegenüber Haves wurde eine solche Verpflichtung nie kodifiziert!), diese zweitens bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit Technologietransfers zu unterstützen und drittens ihres nuklearen Sprengköpfe abzurüsten – im Gegenzug verzichten die „Habenichtse“ vertraglich auf nukleare Aspirationen. Der Vertragstext ist online einsehbar unter: <http://www.un.org/events/npt2005/npttreaty.html>, rev. 22.08.2006. Price/Tannenwald zitieren diese Antwort eines Offiziers der US-Armee auf die Frage, warum Nuklearwaffen im Zweiten Golfkrieg nicht in Frage kamen. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 139, siehe dazu auch Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 437f. Gray, Colin S. 2000: Nuclear Weapons and the Revolution in Military Affairs, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 99-134, hier S. 120. – 117 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus lediglich bewahrt werden. Doch selbst dies steht, zweitens, nur sehr wenigen Akteuren zu, wodurch ihr Status dem der Hohepriester gleichkommt:413 Der Besitz von Nuklearwaffen ist bestimmten – und nur sehr wenigen – Staaten vorbehalten, denen ein rationaler Umgang mit den Waffen, sprich ihre Verwendung nur in absoluten Notfällen, zugetraut wird;414 die Verhinderung von Proliferation an andere (und damit, neben der Gewährleistung nuklearer Sicherheit, auch die Beibehaltung der exklusiven Besitzprivilegien) ist erklärtes Ziel sowohl internationaler als auch nationaler Politikanstrengungen. Neben dem staatlichen Besitz war/ist auf individueller Ebene der bloße Kontakt mit ihnen ebenfalls nur für einen sehr kleinen, mit einer besonderen Aura umgebenen Personenkreis möglich: Die hochtalentierte Physikelite der Welt – aufgrund ihrer überragenden, als außerirdisch erachteten intellektuellen Fähigkeiten „die Marsianer“ genannt – entwickelte und baute in völliger Abschottung von der Außenwelt die ersten Bomben,415 wobei in den National Laboratories nach wie vor unter strenger Geheimhaltung Nuklearwaffenprogramme durchgeführt werden. Überlegungen, die sich auf das Schicksal der gesamten Menschheit auswirken können, stellt eine kleine Gruppe von Nuklearstrategen an, die Letztentscheidung über einen Einsatz liegt schließlich einzig in der Hand des us-amerikanischen Präsidenten. Nuklearwaffen sind drittens, gleichzeitig geweiht und verflucht, wecken sie doch so sehr die Angst vor vollständiger Vernichtung des Menschen durch sich selbst wie sie auch als 413 414 415 Siehe ausführlich zu diesem Vergleich: Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 23ff. Daase macht in diesem Artikel die These stark, es sei verkürzt, das nukleare Tabu lediglich auf den Nicht-Einsatz zu reduzieren und nicht auf den Besitz auszudehnen, begründe doch die durch ungleiche nukleare Besitzverhältnisse geschaffene Dichotomie zwischen Haves und Have-nots eine Hierarchie – ebenfalls ein typischer Bestandteil von Tabus. Auch Quester spricht von einem in Entstehung begriffenen Proliferationstabu, das sich auf die Ansicht stütze, die geächteten Waffen soll man auch nicht besitzen wollen. Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91, hier S. 81. In dieser Arbeit bildet jedoch nur das Einsatztabu den Gegenstand der genaueren Betrachtung, weil sich die Proliferationsfrage für die Vereinigten Staaten als Haves nur im Hinblick auf andere, nicht jedoch auf sie selbst stellt. Trotz des im NPT für alle anderen Staaten festgeschriebenen Besitzverbotes sind mit Indien, Israel und Pakistan (als weltweit einzige Staaten waren alle drei niemals dem Vertrag beigetreten) sowie Nordkorea (nach eigener Auskunft; wiederum der einzige Staat, der jemals seinen Austritt aus dem NPT verkündet hat), inzwischen mindestens vier weitere – aus Sicht des Vertrages inoffizielle – über Nuklearwaffen verfügende Staaten bekannt. Der us-amerikanische Wissenschaftler Robert Oppenheimer leitete die Forschungen des 1934-1945 als „Manhattan-Projekt“ bezeichneten, streng geheimen Atomprogramms, das vor allem aus Furcht vor der Entwicklung einer Atombombe in Nazi-Deutschland ins Leben gerufen wurde; dem jüdischstämmigen Oppenheimer haben sich mit Leo Szilard, Edward Teller, Eugene Wigner, Enrico Fermi und dem selbst nicht aktiv am Projekt beteiligten Albert Einstein, der jedoch Präsident Roosevelt 1939 in einem Brief auf die Notwendigkeit des Atomprogramms hinwies, weitere bedeutende, aus europäischen Staaten aufgrund faschistischer Bedrohung immigrierte Kernphysiker angeschlossen, deren Motivation im Kampf gegen Hitler lag. Die strengen Isolationsregeln des militärischen Projektleiters, General Leslie R. Groves, der die Anlangen umgebende Stacheldrahtzaun sowie die Kompartimentierung der Forscher von der Außenwelt, von ihren Familien und sogar voreinander, wurden besonders von den Europäern – angesichts ihrer Assoziationen mit Konzentrationslagern – als ein hoher Preis für die Freiheit der Forschung erachtet. Rhodes, Richard 1986: Physics and Desert Country, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 443-485 sowie Rhodes, Richard 1986: Men from Mars, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 104-133. – 118 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Schutzgeist bestimmter Nationen, ja der ganzen Menschheit gelten können,416 wenn man ihnen aufgrund ihrer abschreckenden Kraft eine bedeutende Rolle nicht nur in der Beendigung des Zweiten, sondern auch in der Verhinderung eines dritten Weltkrieges zugesteht und sie demgemäß als Friedenswahrerinnen betrachtet.417 Hinzu kommt, dass ausgerechnet die Existenz dieser Waffen, deren Vernichtungskraft alle bisherigen um das Tausendfache übersteigt,418 der „Todesspirale“ vergangener Kriege ein Ende setzte – während vorher technologische Entwicklungen einen immensen Anstieg von Opferzahlen von Krieg zu Krieg bedeuteten, zwangen Nuklearwaffen die mit ihnen ausgestatteten Staaten zum „langen Frieden“, zum Konfliktaustrag ohne ihren militärischen Einsatz (jedoch unter seiner Androhung).419 Außer ihrem Charakter als Dämon und Schutzgeist, sind diese Waffen gleichzeitig auch das eindrucksvollste Symbol des im Geiste der Zeit liegenden technischen Fortschritts: Neben Bildzeugnissen und Augenzeugenberichten von universellen und grauenvollen, für das menschliche Auge kaum zu ertragenden nuklearen Zerstörungen stehen auch zahlreiche Abbildungen des Atompilzes für die nukleare Faszination sowie beeindruckte Beschreibungen der Ästhetik von Nuklearexplosionen, in denen die Gleichzeitigkeit von Anziehungskraft und Angst offenkundig wird: „Es war ein überwältigendes Erlebnis. Das Licht, das so ungeheuer stark war – wir durften nur durch sehr dicke, rußige Gläser es anschauen. Und das von 30 Kilometer Entfernung. Dann die Wolke von Staub, die sich da erhob, ganz sonderbar gespenstisch gefärbt – violett, das waren die radioaktiven Strahlen, die die Luft ionisierten und leuchten ließen. Die erste Reaktion war, dass wir stolz waren, dass wir es fertig gebracht hatten. Die zweite Reaktion war: Um Gottes willen, was haben wir in die Welt gesetzt?“420 416 417 418 419 420 Auch diese Funktion von Nuklearwaffen war Gegenstand einer moralischen Debatte, indem z.B. von katholischen Bischöfen kritisiert wurde, dass schon die Ausrichtung der us-amerikanischen Nuklearwaffen auf sowjetische Städte der Kriegsmoral zuwiderläuft, die eine Diskriminierung der Ziele gebietet. Die Aufrechterhaltung des Friedens durch das Halten von Millionen von ZivilistInnen als Geisel, ihre Herabsetzung zu einem bloßen Mittel der Politik könne mitnichten als moralisch gelten. S. Quester, George H. 2000: The Continuing Debate on Minimal Deterrence, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 167-188, hier S. 174. So führt z.B. Mlyn die mangelnde Bereitschaft zu Reformen der US-Nuklearpolitik genau auf diese weit verbreitete Überzeugung zurück. Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 206f. Thermonukleare Bomben überstiegen wiederum die Explosionsstärke erster Atombomben um das Tausendfache. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 1. Gaddis, John Lewis 1989: Long Peace: Inquiries Into the History of the Cold War, Oxford, zitiert nach: Wiegrefe, Klaus 2005: „Die Kräfte des Allmächtigen“, in: Der Spiegel 31/2005, S. 100-113, hier S. 102. Der deutsche Physiker Hans-Albrecht Bethe, damaliger Chef der Abteilung für theoretische Physik in Los Alamos, über die erste Testzündung der Atombombe im Juli 1945. Deutschlandfunk, 2. Juli 2006: Ein Vater ohne jeden Stolz. – 119 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Der Technikeuphorie ist viertens, der im Zusammenhang mit Nuklearwaffen betriebene Kult geschuldet, der durchaus vergleichbar mit den zu Ehren von Totem veranstalteten Festen, aufgeführten Tänzen und gebrachten Opfergaben ist:421 „Nuclear war games, nuclear alert exercises and nuclear test explosions are modern versions of totemic ceremonial dances which are meant to help reinforce loyalty to the totem (by making obedience to nuclear orders automatic) and to reinforce the power of the totem (by reinforcing the credibility of conditional threats to use nuclear weapons).”422 Das fünfte analoge Merkmal zwischen Nuklearwaffen und Totemgegenständen ist die bereits getätigte Feststellung, dass Totemisierung sich auf alle einer Gattung zugehörigen Objekte (z.B. alle Kühe oder alle Beeren) richtet:423 Entsprechend sind auch alle Nuklearwaffen (unabhängig z.B. von ihrer Sprengkraft, Reichweite und Strahlung) mit dem Einsatzverbot belegt.424 Um den besonderen Status der Nuklearwaffen aufrechterhalten zu können, müssen sie sogar allein und automatisch aufgrund ihrer technischen (eben nuklearen) Beschaffenheit in eine spezielle Kategorie fallen – eine natürliche, auf objektive Merkmale stützbare Grenze zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Waffengattungen existiert nicht, weshalb sie entlang willkürlicher Linien gezogen werden muss; die nukleare Technologie diene in diesem Fall als eine solche.425 Andere Wahrnehmungen schaffen andere Fakten oder warum sich der Mythos immer bewahrheitet Beruhend auf der Feststellung, es gäbe per se nichts, was Nuklearwaffen zu andersartigen Waffen mache,426 wird eben diese sozial konstruierte Klassifizierung von Nuklearwaffen als Waffen einer besonderen Kategorie zu einem weiteren zentralen Bestandteil des nuklearen 421 422 423 424 425 426 Z.B. wurden in Indien 1999 am Jahrestag des ersten erfolgreichen Nuklearbombenversuches große Paraden veranstaltet. Der damalige indische Ministerpräsident wird mit folgenden Worten zitiert: „Vor einem Jahr haben wir die Fesseln der Abhängigkeit von fremder Technologie abgeschüttelt.“ Rhein-Zeitung vom 28. Mai 1999: Neue Gewalt im Kaschmir-Konflikt. Im Zusammenhang mit Indien finden sich auch Hinweise auf die göttliche Kraft des Tabus, so wurde die erfolgreiche Durchführung der ersten indischen nuklearen Testexplosion im Jahr 1974 mit dem Codewort „The Buddha smiled“ an die damalige Premierministerin Indira Gandhi gemeldet. S. Perkovich, George 2005: From Hiroshima to Armageddon: A Reading List, in: Washington Post, 31.07.2005. Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 18. S. S. 32 der Arbeit. Beispielsweise zielte die in den 1950ern vorangetriebene Entwicklung „kleinkalibriger“ Nuklearwaffen mit geringer Sprengkraft sowie für den Luftkampf geeigneter nuklearer Raketen durch die Demonstration ihrer Einsetzbarkeit ohne des Effekts großflächiger Verwüstung, auch auf die Aufhebung des absoluten Einsatzverbotes – was bekanntlich (bis heute noch) nicht gelungen ist. Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 260. Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 261. Siehe dazu auch Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 16ff. – 120 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Tabus. Eine solche Kategorie wurde mit der 1948 in einer UN-Resolution427 vorgenommenen Definition von „Massenvernichtungswaffen“ zur Verfügung gestellt, wodurch die Möglichkeit eröffnet wurde, Nuklearwaffen mit einem uneingeschränkten Stigma als inakzeptables Mittel der Kriegsführung zu belegen.428 In Abgrenzung zur Bezeichnung „konventionelle Waffen“ für diejenigen Waffen, die sich „by compact, by agreement, by convention“ als Kampfmittel eignen, deren Einsatz in bestimmten Situationen erwartet und somit als im Einklang mit bestehenden Normen, ergo auch nicht als Regel- und schon gar nicht als Tabubruch gewertet werden würde, argumentiert Schelling, es gäbe eine „established convention that nuclear weapons are different“429 und aus diesem Grund nicht einsetzbar. Für diese traditionell (und nicht rational) begründete und zudem stark normativ aufgeladene Unterscheidung von Nuklearwaffen und konventionellen Waffen spielt die Wahrnehmung eine zentrale Rolle: Es sei demnach notwendig, anzuerkennen, dass „a distinction can exist between nuclear and other weapons even though the distinction is not physical but is psychic, perceptual, legalistic or symbolic“.430 Mit anderen Worten, gehören die an bestimmte Waffen geknüpften Assoziationen genauso zu ihrem Wesen wie ihre physischen Eigenschaften. Waffen können anders sein, weil die Menschen glauben, dass sie anders sind; weil sie „als einzigartig wahrgenommen werden“.431 Die Konstruktion der Außergewöhnlichkeit dieser Waffen vollzieht sich, wie durch den obigen Verweis auf die Schaffung einer neuen Definition angedeutet, durch bestimmte diskursive Praktiken: In ihrem Rahmen werden mittels Grenzziehungen sowohl zwischen unterschiedlichen Waffengattungen als auch potentiellen Angriffszielen bestimmte Handlungen nicht nur als illegitim gebrandmarkt, sondern im zweiten Schritt auf Basis dieser Stigmatisierung Handlungsoptionen sukzessive verdrängt, womit der Entscheidungsspielraum des Akteurs verengt wird.432 So entsteht, wenn auch nicht zwangsläufig aufgrund der technischen Merkmale oder der Destruktivität (die auch von anderen Waffen erreicht werden kann), dennoch eine zu Tabus gehörende „bright line“433 – die Wahl einer delegitimierten Option wie des Gebrauches 427 428 429 430 431 432 433 Diese Resolution wurde von der dem Sicherheitsrat unterstehenden Commission for Conventional Armaments am 12. August 1948 verabschiedet und legte als ihren Aufgabenbereich alle Waffen, mit Ausnahme von Massenvernichtungswaffen wie Nuklear-, Bio- und Chemiewaffen bzw. solchen Waffen, die ihrer Wirkung nach mit den genannten vergleichbar seien, fest. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 18ff. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3 sowie Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 260. Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 257. Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 10. Eine detaillierte Darstellung dieses Prozesses in den USA und auf internationaler Ebene findet sich unter Punkt 5.2.2, S. 127 der Arbeit. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 8. – 121 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus einzigartiger Waffen würde auch einzigartige Konsequenzen nach sich ziehen. Was schon allgemein im Zusammenhang mit Tabus als selbsterfüllende Prophezeiung beschrieben wurde,434 kann also am nuklearen Tabu besonders deutlich demonstriert werden. „If men define situations as real, they are real in their consequences“,435 bringt Tannenwald die Annahme auf den Punkt, der die Nuklearwaffen umgebende Mythos würde sich in der Tat infolge eines nuklearen Einsatzes bewahrheiten, weil unabhängig von den faktisch angerichteten Schäden wie Todesopfern oder radioaktiver Kontamination die Reaktionen auf einen als Tabubruch klassifizierten Nuklearangriff vermutlich – eben weil es sich bei ihnen weniger oder zumindest nicht nur um die Vergeltung der Todesopfer, sondern ganz wesentlich auch um die Vergeltung des Tabubruches selbst handelt – so verheerend ausfallen würden, dass man „immediately in a new world with all the unimaginable consequences that could follow“ wäre.436 Die Basis der Undenkbarkeit: apokalyptische Angst und absolute Amoralität Die Erwartung „unvorstellbarer“ Einsatzfolgen deutet das Vorliegen eines weiteren zentralen Tabucharakteristikums im Falle des nuklearen Tabus an: Die Undenkbarkeit eines Tabubruches. Die Horrorszenarien, die sich beim bloßen Gedanken daran unmittelbar entfalten, lösen das sofortige Abschmettern möglicher Zweifel an der Gültigkeit des Tabus aus. Nicht nur wagt man es nicht, sich der „apocalyptic vision“ eines nuklearen Holocausts hinzugeben und sich eine Welt nach einem Nuklearschlag auszumalen, schon der Gedanke an einen solchen Angriff würde politischen Entscheidungsträgern gar nicht in den Sinn kommen, und falls es dennoch geschähe, sollte sich sofort das Gefühl, man tue etwas völlig Inakzeptables, indem man den Tabubruch auch nur gedanklich in Betracht ziehe, einstellen: „[A]bhorrence at the thought (…) be such that the idea of using them [Nuklearwaffen, ER] would be immediately dismissed without reaching the point of being considered a real alternative “.437 Weil der Nicht-Einsatz selbstverständlich, die Option eines Einsatzes hingegen „inconceivable“,438 „unthinkable“ und „simply out of the question“ erscheint439 und darüber hinaus anzunehmen ist, dass, wer nach einer möglichen Begründung der non-option fragen 434 435 436 437 438 439 S. S. 34 der Arbeit. So Tannenwald unter Rekurs auf das Soziologenpaar William and Dorothy Thomas, s. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 8f. Ob die Menschheit in der Welt danach überhaupt noch existiert hätte, darf angesichts der während des Kalten Krieges zwischen den beiden Supermächten herrschenden „Mutual Assured Destruction (MAD)“Doktrin bezweifelt werden. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 320ff. sowie Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 702. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 125. Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91, hier S. 80. – 122 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus würde, ohnehin nicht in der Lage wäre, die Antwort zu verstehen,440 wird eine öffentliche, seine Kosten und Risiken sowie Nutzen und Vorteile abwägende Diskussion so unnötig wie unmöglich. Eine ernsthafte Infragestellung der inhumanen, abscheulichen und wahllos zerstörerischen Natur der Nuklearwaffen, das Leugnen ihrer „random, indiscriminate and universal violence inflicting terrible pain“441 würde zu einem empörten Aufschrei der Öffentlichkeit führen und – weil sie zu einer Relegitimierung der als höchst unmoralisch erachteten Waffen führen könnte – selbst als höchst unmoralisch gewertet werden. Diese dem nuklearen Einsatzverbot zugrunde liegenden Moralvorstellungen finden sich überwiegend in den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts442 sowie den (davon nicht trennscharf abgrenzbaren) Prinzipien des Gerechten Krieges,443 die ihrerseits zwei Betrachtungsweisen auf Nuklearwaffen eröffnen: Während die erste Interpretation postuliert, Technologien seien wertneutral, d.h. eine Waffe an sich könne gar nicht über einen moralischen oder unmoralischen Charakter verfügen, sondern lediglich ihr Einsatz einem moralischen Urteil unterzogen werden, stellen Nuklearbomben der zweiten Auffassung, wie sie im nuklearen Tabu ihre Entsprechung findet, zufolge eine per se unmoralische Waffengattung dar. Verboten sind von diesem Standpunkt aus nicht nur bestimmte Arten des Waffeneinsatzes, sondern die Waffen selbst und zwar, weil sie fundamentalen Geboten wie dem der Diskriminierung (von zivilen und militärischen Zielen) sowie der Verhältnismäßigkeit der Mittel niemals gerecht werden könnten444 und geradezu „offensive to all morality “445 sind. Es könne schlichtweg kein Verhältnis zwischen den mittels militärischer Nutzung von Nuklearwaffen möglicherweise erreichten Zielen und der katastrophalen, massiven 440 441 442 443 444 445 Wir erinnern uns an Freuds Aussage (s. S. 35 dieser Arbeit), das Tabu erschiene nur den von ihm Beherrschten selbstverständlich, allen anderen jedoch nicht einleuchtend. So argumentiert auch Schelling, dass die Bemühungen, jemandem, dem das Tabu unbekannt ist, klar zu machen, warum eine nukleare Bombe mit einer womöglich geringeren Sprengkraft als eine nicht-nukleare dennoch nicht als konventionelle Waffe gelten könne, vergeblich seien, denn während die einen meinen, die Antwort darauf intuitiv zu wissen, stellt sich bei den anderen dieses Gefühl einfach nicht ein. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. Rhodes, Richard 1986: Tongues of Fire, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 679-747, hier S. 719. Festgehalten seit 1856 in zahlreichen Dokumenten, die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle sind die bekanntesten, für eine Übersicht s. Website des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, online unter: <http://www.icrc.org/ihl.nsf/INTRO?OpenView>, rev. 10.07.2006. Für einen Überblick über die Lehre vom Gerechten Krieg sowie Verweise auf zentrale Monographien s. Mayer, Peter 1999: War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien moralisch gerechtfertigt? Die Operation „Allied Force“ im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/1999, S. 287-321, insbesondere S. 291ff. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 11. So verlieh 1954 Paul Nitze, der damalige Direktor des Planungsstabes und der spätere Sicherheitsberater Kennedys während der Kuba-Krise, in seiner Argumentation gegen massive nukleare Vergeltungsschläge, aber auch gegen Präventivkriege, dieser Auffassung Ausdruck. Entscheidend ist für ihn, dass die auf der Seite der Moral stehenden Vereinigten Staaten (in Abgrenzung zur auf der anderen Seite stehenden UdSSR), durch den Verzicht auf die inhumanen Waffen als Kampfmittel auch auf dieser Seite bleiben und ein reines Gewissen behalten. Zitiert nach: Talbott, Strobe 1988: The Master of the Game. Paul Nitze and the Nuclear Peace, New York, hier S. 64. – 123 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Vernichtung von (unschuldigen) Menschenleben geben, das im Rahmen des Akzeptablen läge. Die Zivilbevölkerung wird hierbei auf ein Mittel der Politik herabgesetzt, was barbarisch ist, weil es gegen die Menschenwürde verstößt und der Mensch hier nicht mehr Selbstzweck, sondern nur noch Mittel zum Zweck ist.446 Außerdem bedeuteten die kaum kontrollierbaren und unkalkulierbaren Spätfolgen, (die, selbst wenn die Opferzahlen mit einem konventionellen Einsatz vergleichbarer sind, nach wie vor relevant bleiben) ein untragbares Risiko, so die Argumentation von FriedensaktivistInnen.447 Auch Präsident Truman bekräftigt, rekurrierend auf das Verbot, Nicht-KombattantInnen zu militärischen Zielen zu erklären und anzugreifen, nach den Nuklearschlägen gegen Japan nicht nur die oben bereits ausgeführte Ansicht, man müsse Nuklearwaffen von anderen unterscheiden, sondern formuliert auch seine Zweifel, ob sie aufgrund ihrer Grausamkeit jemals wieder militärisch eingesetzt werden könnten: „You’ve got to understand that this isn’t a military weapon… It is used to wipe out women and children and unarmed people, and for not military uses. So we have got to treat it differently from rifles and cannon and ordinary things like that."448 Von Vertretern der Theorie des gerechten Krieges wird außer den zwei bereits genannten ebenfalls die Forderung nach einer angemessenen Erfolgswahrscheinlichkeit erhoben – in Anbetracht der Tatsache, dass ein nuklearer Einsatz zu Zeiten der Blockkonfrontation einen sofortigen Zweitschlag ausgelöst hätte, was niemals als Erfolg hätte gewertet werden können, laufen Nuklearwaffen auch diesem Grundsatz zuwider. Ferner findet das Prinzip der ultima ratio, das besagt, ein Krieg dürfe nur dann begonnen werden, wenn alle anderen Alternativen ausgeschöpft wurden, auch Anwendung auf Nuklearwaffen: Sie gelten aufgrund ihrer Besonderheit als „weapons of last resort“,449 die ein Staat ausschließlich als letzte Chance zur Sicherung seines eigenen Überlebens begreifen und nutzen dürfe. Gleichzeitig deutet diese, wenn auch nur als letzter Ausweg, so doch vorhandene Option, auf den ambivalenten Charakter des nuklearen Tabus hin – einerseits sind Nuklearwaffen absolut verschmäht und verboten, andererseits ist ihre militärische Nutzung jedoch die ganze Zeit zumindest „ein bisschen denkbar“ und in manchen Situationen erscheint sie gar als letzte Rettung, als der die Vernichtung der Gemeinschaft verhindernde Schutzgeist.450 446 447 448 449 450 Rhodes, Richard 1986: Tongues of Fire, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 679-747, hier S. 698. Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 704. Zitiert nach: Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326, hier S. 315. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 448. Das Verbot militärischer Nutzung und zugleich ihr politischer Gebrauch in der Abschreckungsstrategie wird von Daase als ein weiteres Element der mehrfachen, zwischen den beiden Polen „Achtung und Ächtung “ entstehenden Ambivalenz des nuklearen Tabus interpretiert. Ausführlich s. Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 18f. – 124 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Der Rechtsstatus – beinahe völkerrechtswidrig Widergespiegelt wird diese Ambivalenz ebenso in der Rechtslage von Nuklearwaffen: Zum Einen handelt es sich beim nuklearen Tabu um ein ungeschriebenes, d.h. nicht-verrechtlichtes Verbot ihrer militärischen Nutzung, hat doch „niemand die Unterscheidung zwischen nuklearen und konventionellen Waffen dekretiert“,451 genauso wenig wie jemand „eine Norm erlassen [hat], die den Einsatz von Nuklearwaffen verbietet; und es gibt auch keine Vereinbarung, in der sich Staaten generell zu einem Nichteinsatz verpflichtet hätten.“452 Zum Anderen vertreten einige RechtsexpertInnen durchaus überzeugend die Ansicht, die Norm ließe sich auch ohne eine Rechtsvorschrift, die explizit den Nuklearwaffeneinsatz verbietet (wie es z.B. in der Chemiewaffenkonvention der Fall ist),453 auf Basis unterschiedlicher Prinzipien des Völkerrechts, wie z.B. dem in Artikel IV der UN-Charta festgehaltenen Gewaltverbot, dem Verbot von Verbrechen gegen die Menschlichkeit,454 dem Verbot, dem Feind durch gezielte Tötung von Nicht-KombattantInnen schaden zu wollen, aber auch, KombattantInnen unnötiges Leid zuzufügen, begründen.455 Dieser Ansicht schloss sich der Internationale Gerichtshof (IGH) 1996 in einer Advisory Opinion zwar grundsätzlich an – und konnte dennoch keine abschließende Feststellung, dass es unter allen Umständen illegal sei, Nuklearwaffen abzuwerfen, tätigen. Zur Begründung wurden zwei mögliche Ausnahmen angeführt: Erstens sei (ebenfalls den gewohnheitsrechtlichen Prinzipien von Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit unterliegende) Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta ein jedem Staat zustehendes Recht und obwohl ein nuklearer Zweitschlag aufgrund der nachhaltigen Zerstörung und des Eskalationsrisikos nur sehr unwahrscheinlich als verhältnismäßige Reaktion aufgefasst werden könnte, wird damit nicht kategorisch ausgeschlossen, dass eine nukleare Reaktion, die sowohl der Sicherung der weiteren Existenz 451 452 453 454 455 Wobei einschränkend argumentiert werden könnte, dass die oben zitierte Resolution der Kommission für konventionelle Waffen Massenvernichtungswaffen als außerhalb ihrer Zuständigkeit definierte und dadurch durchaus eine Unterscheidung zwischen ihnen und konventionellen Waffen „dekretierte“. Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 20. Das explizite Einsatzverbot, aber auch das Entwicklungs- und Produktionsverbot sind bereits im Titel dieses Übereinkommens enthalten „Convention on the Prohibition of the Development, Production, Stockpiling and Use of Chemical Weapons and on their Destruction “. Zum ersten Mal kodifiziert in der Haager Landkriegsordnung von 1907, wurde dieser völkerrechtliche Straftatbestand in der Londoner Charta (zur Verfolgung der Kriegsverbrecher des 2. Weltkrieges) von 1945 und 2002 im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes bekräftigt. Während die Überlegung, inwieweit die Inkaufnahme ziviler Opfer bei der Zerstörung relevanter militärischer Ziele gerechtfertigt werden kann, ebenfalls nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten durchgeführt werden sollte und der dabei erreichte militärische Vorteil gegen „Kollateralschäden“ abzuwägen ist, besteht Konsens darüber, dass es unter keinen Umständen gerechtfertigt sein kann, ganze Städte und damit die Bevölkerung des feindlichen Landes zu Angriffszielen zu erklären. S. International Court of Justice 1996: Legality of the threat or use of nuclear weapons. Dissenting Opinion of Judge Higgins. Im Gegensatz zu einer „counterforce strategy “, die darauf abzielt, durch Bombardements militärische Objekte zu zerstören, die dem Feind in der Kriegsführung nützen, werden mit einer gegen Städte und andere zivile Ziele gerichteten „countervalue strategy “ Objekte ins Visier genommen, die der Feind am meisten wertschätzt. S. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 147ff. Für Verweise auf Rechtsmeinungen siehe Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 705. – 125 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus eines Staates dient als auch die genannten Prinzipien wahrt, legal sein könnte. Das zweite Argument (auf das sich auch die USA beriefen), ein nuklearer Einsatz müsse nicht zwangsläufig das humanitäre Völkerrecht brechen, denn es gäbe deutliche Unterschiede im Destruktivitätspotential von Nuklearbomben, liege doch auch ein clean-use mit strahlungswie niederschlagsarmen Bomben in unbesiedelten Gebieten und somit ausschließlich gegen militärische Objekte im Rahmen des Möglichen, wurde vom IGH – mit dem Verweis auf das auch im Falle eines eventuellen clean-use unkalkulierbare Eskalationsrisiko – ausgesprochen kritisch gesehen. Und dennoch konnten die RichterInnen, wie im Falle der Selbstverteidigung, nicht klar schlussfolgern, dass selbst ein clean-use völkerrechtswidrig sein muss.456 Zusammenfassung: Sieben Gesichtszüge der Unberührbaren Besonders interessant ist am IGH-Urteil, dass die Justiz hier, durch das Einbeziehen der selbst bei einem clean-use fortbestehenden Eskalationsgefahr in ihre Argumentation, der bereits erläuterten Eigenschaft des (nuklearen) Tabus Rechnung trägt, Reaktionen nicht ausschließlich auf Basis der faktischen Schäden, sondern auch auf Basis des perzipierten Tabubruches zu provozieren. Zusammenfassend können daneben Kerncharakteristika des nuklearen Tabus gelten: folgende sieben Elemente als 1. Nuklearwaffen genießen einen Totem-Status: sie alle sind geächtet und geachtet, gefürchtet und geweiht, Dämon und Schutzgeist. 2. Es existiert eine über die technische Unterscheidung dieser Waffengattungen hinausgehende, scharfe moralische Trennung zwischen konventionellen und nuklearen Waffen. 3. Letztere stellen eine besondere – mit Attributen wie „monströs“, „inhuman“ und „besonders tödlich“ besetzte – Waffengattung dar, deren Gebrauch zwangsläufig zu apokalyptischen Konsequenzen führen muss. 4. Sie sind deshalb nicht für den Ersteinsatz bestimmt, sondern ausschließlich Abschreckungs-, ggf. Verteidigungswaffen, und selbst dann nur 5. weapons of last resort, deren Einsatz nur in zwei Fällen als denkbare Option in Frage kommt: Entweder als Reaktion auf einen bereits erfolgten nuklearen Erstschlag oder als letzte Möglichkeit, die Existenz des eigenen Staates zu retten. 6. Die Gültigkeit des Tabus ist selbstverständlich. Sie erlaubt keine Reflexion und bedarf keiner Begründung (mehr): Der Kampf mit diesen Waffen verbietet sich quasi von selbst. 7. Das Tabu wurde seit seiner Entstehung kein einziges Mal gebrochen und wird durch die lange und mächtige non-use-Tradition besonders gestärkt. Wie die Nicht-Einsatznorm eine derartige Geltungskraft erlangen konnte, d.h. welche Stationen sie im Laufe ihres Internalisierungsprozesses durchlaufen hat, welche Akteure in diesem Prozess relevant waren und welcher Strategien sie sich bedienten, um die Norm zu etablieren, wird im folgenden Kapitel erläutert. 456 Eine detaillierte Diskussion des Urteils aus konstruktivistischer Perspektive findet sich in: Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326. – 126 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus 5.2.2 Locking nukes in Pandora’s box: Entstehungsprozess des nuklearen Tabus „Evidence for the taboo lies in discourse, institutions, and behaviour. The most obvious evidence lies in discourse – the way people talk and think about nuclear weapons – and how this has changed since 1945.“ 457 Brachen die USA 1945 ein Tabu, als sie die bedingungslose Kapitulation des demoralisierten Japan mit zwei atomaren Angriffen gegen seine Zivilbevölkerung erzwangen? War Präsident Truman, als er den Einsatzbefehl gab, der Ansicht, unkonventionelle, barbarische, jeglichen moralischen Grundsätzen zuwiderlaufende Waffen zu nutzen und damit das Ende der Gemeinschaft zivilisierter Staaten, ja der ganzen Welt, zu riskieren? Die angesichts anderer Greueltaten des vorausgegangenen Weltkrieges ohnehin entsetzte und schockierte Öffentlichkeit war nach diesem Ereignis noch entsetzter und noch schockierter – wo aber blieb die breite Empörung, die man infolge des Überschreitens einer „bright line“ erwarten würde? Anscheinend gab es deshalb keinen Bruch, weil es zu diesem Zeitpunkt noch kein Tabu gab – Hiroshima und Nagasaki stellten zunächst nichts anderes als eine „natürliche“458 Fortsetzung der im 459 Städtebombardements, Zweiten Weltkrieg ausgiebig angewandten Strategie der bloß mit neuen, effektiveren Waffen dar, die, während counterforce- Bombardements zur Zerstörung militärischer Anlagen genutzt wurden, als countervalueTaktik460 den Kampfwillen des Gegners brechen und ihn durch Demoralisierung zum Aufgeben bewegen sollten.461 Zunächst eher als Ausdruck der Kontinuität denn des Wandels gewertet, wurden Hiroshima und Nagasaki sukzessive zu Präzedenzereignissen und sie können, im Unterschied zu anderen Tabus, deren Ursprünge häufig im Verborgenen liegen, als grauenvolle Kontrastpunkte gelten, die den Tabuisierungsprozess angestoßen haben. Entscheidend waren in diesem Zusammenhang ausgerechnet die an der Entwicklung der Atombomben beteiligten Wissenschaftler, wenn auch unter ihnen keine Einigkeit darüber herrschte, wie erstens die Beurteilung des Geschehenen und zweitens der weitere Umgang mit den von ihnen entfesselten Kräften aussehen sollte: Während Edward Teller, teils aufgrund seines Pessimismus gegenüber der Sowjetunion, teils aufgrund seiner Überzeugung, man könnte technische Entwicklungen ohnehin nicht verhindern, seine Nuklearforschungen fortsetzte (und später die Wasserstoffbombe erfand) und Ernest Lawrence einen Tag nach 457 458 459 460 461 Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 9. Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 15. Zu Städtebombardements bzw. zum counter-city-targeting während des Kalten Krieges siehe ausführlich: Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326, hier S. 318ff. Zu den Begriffen counterforce und countervalue S. FN 455, S. 125 der Arbeit. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 134ff. – 127 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Hiroshima seinen Beitrag am Bau der Atombombe stolz hervorhob und ihren Einsatz befürwortete, weil er in der abschreckenden Kraft der Atombomben das Potential sah, Kriege ein für alle Mal zu beenden, war ein Teil ihrer Kollegen gänzlich anderer Auffassung. So bereuten Albert Einstein und Leo Szilard inzwischen, Roosevelt mit den Warnungen vor der deutschen Atombombe überhaupt zum Start eines eigenen Programms bewogen zu haben. Beide hatten bereits im Vorfeld Initiativen gegen einen Abwurf gestartet, nachdem ihnen mögliche Konsequenzen des „opening the door to an era of devastation of an unimaginable scale “ bewusst wurden – zahlreiche Wissenschaftler aus Los Alamos, z.B. auch Eugene Wigner, schlossen sich ihnen an. Nachdem sie den ersten Angriff, der ihre schlimmsten Vermutungen übertraf und den sie als „flagrant violation of our own moral standards“462 betrachteten, nicht verhindern konnten, sahen sie ihre Aufgabe darin, Politik und Militär von der Grausamkeit der Waffen zu überzeugen und sie von weiteren Einsätzen abzubringen. Robert Oppenheimer verspürte angesichts der unfassbaren Zerstörungen tiefe Schuldgefühle, hatte er doch geglaubt, mit der Entwicklung der Bombe der Menschheit zu dienen – seine vielzitierte Aussage „Now I have become Death, destroyer of worlds” verleiht der besonderen Tragik seiner Rolle Ausdruck.463 Wenig später weigerte er sich, zusammen mit Teller weiterhin an Waffenentwicklungen zu arbeiten und war ein entschiedener Gegner der Wasserstoffbombe. Szilard verließ die Physik gänzlich und wandte sich der Biologie zu.464 Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, die sehr früh den besonderen Charakter der Waffen sowie ihre moralischen Implikationen thematisierten und vehement gegen ihren weiteren Einsatz opponierten, erschienen in der ersten Zeit nach ihrem Einsatz Atombomben den meisten Entscheidungsträgern in den Vereinigten Staaten nicht als Angehörige einer anderen Waffengattung und waren für diese immerhin aus moralischer Sicht noch so unproblematisch, dass auch weitere Abwürfe ernsthaft in Erwägung gezogen wurden. Auch in der amerikanischen Öffentlichkeit war nicht die Rede von einem nuklearen Tabu,465 vielmehr fanden die Einsätze in der Notwendigkeit zur Beendigung des Krieges ihre Rechtfertigung, wobei Meinungsumfragen zufolge mehr als 80 Prozent der Bevölkerung diese Position teilten. Unterdessen nahm die neugegründete UN-Generalversammlung am 24. Januar 1946 einen von den USA zusammen mit anderen permanenten Sicherheitsratsmitgliedern eingebrachten Entwurf einstimmig an und wies damit in ihrer ersten Resolution auf die Dringlichkeit zur Kontrolle atomarer Energie, mit dem Ziel, sicherzustellen, dass diese ausschließlich zu 462 463 464 465 Rhodes, Richard 1986: Epilogue, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 749-788, hier S. 750. Oppenheimer zitiert nach: A Dangerous Lid to Lift, Editorial der Los Angeles Times vom 13. März 2002. Rhodes, Richard 1986: Epilogue, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 749-788, hier S. 749ff. sowie Wiegrefe, Klaus 2005: „Die Kräfte des Allmächtigen“, in: Der Spiegel 31/2005, S. 100-113. Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91, hier S. 80. – 128 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus friedlichen Zwecken Anwendung finden dürfe, hin.466 In den USA selbst bestand hingegen weniger Einigkeit hinsichtlich des Verwendungszwecks und der Natur von Nuklearwaffen: „Although many individuals, including some U.S. leaders, were clearly troubled by the immense destructive power of the new weapon and its possibly revolutionary implications, others viewed it as just another military weapon.“467 Für letztere habe gerade der Ausgang des Krieges das Potential der Atomwaffen offenbart, erfolgreich gegen Feinde vorzugehen, so gab es z.B. in den Luftstreitkräften, die sie letztendlich an ihren Bestimmungsort bringen würden, weder moralische noch strategische Bedenken, ließen sich die Waffen doch problemlos in bestehende Pläne integrieren, und seien sie nicht anders als konventionelle Bomben, wenn man ihre Radioaktivität reduzieren könne.468 Mit dem letzten Hinweis sollte bewusst eine Abgrenzung zu sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund der schrecklichen Erfahrungen mit Giftgas im Ersten Weltkrieg bereits im Stigmatisierungsprozess befindenden, also schon als anders interpretierten chemischen Waffen469 gezogen werden – wenn Atombomben weniger oder keinen radioaktiven fallout produzieren, sind sie nicht giftig, ergo auch nicht anders.470 Beginnende Stigmatisierung wenige Jahre nach Hiroshima Die Bestrebungen, den Glauben an den konventionellen Charakter der Atomwaffen aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, deuten die offensichtlich bereits sehr früh vorhandenen Befürchtungen, die Waffen könnten doch für anders gehalten werden können, an. Zur Entstehung dieser Befürchtungen haben auf internationaler Ebene zahlreiche Aktivitäten der Vereinten Nationen, die sich – als Institution, die geschaffen wurde, um die Menschheit „vor der Geißel des Krieges zu befreien“471 – seit ihrer Gründung prominent und intensiv mit dem Thema Abrüstung im Allgemeinen und Nuklearwaffen im Konkreten beschäftigt haben, beigetragen: Angefangen bei der oben erwähnten Resolution zur Kontrolle der Atomenergie und zur Klassifizierung atomarer, biologischer, chemischer sowie „aller anderen Waffen mit einem vergleichbaren destruktiven Effekt“ als Massenvernichtungswaffen, über die Einrichtung der Internationalen Atomenergiebehörde 466 467 468 469 470 471 Resolution der Generalversammlung A/RES/1(1) vom 24. Januar 1946: Establishment Of a Commission to Deal With the Problem Raised By the Discovery of Atomic Energy. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 15f. Zu Einstellungen der Air Force s. Cillessen, Bret J. 1998: Embracing the Bomb: Ethics, Morality, and Nuclear Deterrence in the U.S. Air Force, 1945-55, in: Journal of Strategic Studies 21:1, S. 96-134, zitiert nach: Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 16. Zum Tabuisierungsprozess von Chemiewaffen sind die Arbeiten von Price einschlägig, s. Price, Richard 1995: The Genealogy of the Chemical Weapons Taboo, in: International Organization 49:1, S. 73-103, Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152 sowie die Monographie: Price, Richard 1997: The Chemical Weapons Taboo, Ithaca. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 17. Charta der Vereinten Nationen, Präambel. – 129 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus (International Atomic Energy Agency, IAEA) im Jahr 1957 und des 1. Komitees der Generalversammlung, das sich ausschließlich mit Abrüstungsfragen befasst und in dessen Rahmen der NPT verhandelt wurde, bis hin zur Einberufung zahlreicher Spezialkommissionen, ist die UNO zu einem bedeutenden „forum for delegitimation politics“472 geworden und hat sowohl dafür gesorgt, dass Rüstungskontroll- und - Technologiefragen stets internationale Aufmerksamkeit zuteil wurde als auch dafür, dass der Handlungsfreiheit im Umgang mit Nuklearwaffen Grenzen auferlegt wurden.473 Parallel dazu begann sich, auch als Reaktion auf die beginnende Organisation der Hiroshima-Überlebenden und ihre Forderungen, Atomwaffen für immer abzuschaffen474 sowie auf die von der UdSSR vorgebrachten – im Lichte eigener nuklearer Rüstungsanstrengungen zugegebenermaßen scheinheiligen – Forderungen nach einem Verbot von Atomwaffen, in den frühen 1950er Jahren auch auf transnationaler Ebene eine breite globale antinukleare Bewegung zu formieren, der sich unterschiedliche, vornehmlich westliche Gruppen anschlossen.475 Geleitet von einem „general sense of revulsion regarding nuclear weapons“ und der angesichts der sich zuspitzenden Supermachtkonfrontation verständlichen Angst vor einem Nuklearkrieg, aber auch besorgt über mögliche negative Folgen der zahlreich durchgeführten Nukleartests für Umwelt und Gesundheit, hat die Anti-Atombewegung durch die Beeinflussung des framings, also die Schaffung bestimmter Interpretationsstrukturen im Zusammenhang mit Nuklearwaffen,476 in dreifacher Weise zur diskursiven Tabuentwicklung beigetragen: Erstens konnte in einem agenda setting -Prozess der bislang auf Sicherheitsthemen reduzierte Diskurs um Nuklearwaffen um die mit ihnen verbundenen gesundheitlichen, humanitären und umweltpolitischen Aspekte erweitert werden – mögliche Folgen der Atombombenentwicklung und –Nutzung wurden in aller Deutlichkeit durch Verweise auf Hiroshima und Nagasaki publik gemacht. Es ist zweitens gelungen, die Entwicklung, den Besitz und den Einsatz von Nuklearwaffen auch aus einer moralischen Perspektive zu diskutieren: „The question of whether we arm ourselves with nuclear weapons 472 473 474 475 476 Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 19. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 436. Überlebende eines Angriffs werden im Japanischen hibakusha (wörtlich übersetzt: explosionsgeschädigte Personen) genannt, heute leben noch schätzungsweise ca. 250.000 von ihnen in Japan – im Jahr 1986 wurde ein Projekt durchgeführt, in dessen Verlauf Statements von hibakusha aufgezeichnet wurden. Tragischerweise waren sie – als Opfer des Tabubruches – in der japanischen Gesellschaft ebenfalls Jahrzehnte lang tabuisiert. (Eine Parallele zu tabu werdenden Folteropfern, s. S. 84 der Arbeit). Für hibakusha-Berichte s. z.B. <http://www.inicom.com/hibakusha/>, rev. 10.07.2006. Soweit nicht anders gekennzeichnet, vergleiche für den kommenden Abschnitt: Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 20-23. Tannenwald verwendet hier das unter 2.4.1 (S. 24) vorgestellte Spiralmodell, um das Zusammenspiel zwischen verschiedenen nationalen, transnationalen und internationalen Akteuren zu illustrieren, das zur Tabuisierung von Nuklearwaffen geführt hat. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 123. – 130 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus is, perhaps, the supreme moral issue of our day.“477 Die moralische Bewusstseinsbildung wurde durch Massendemonstrationen und andere Protestaktionen unterstützt, welche auf ein großes mediales Echo stießen, und – drittens – zu einer hohen öffentlichen Mobilisierung führten, wodurch der Druck auf Entscheidungsträger, ihre Nuklearpolitik zu reflektieren und zu legitimieren, wachsen konnte. Die US-Präsidenten und die Kraft des Tabus: nicht durchgehend konstitutiv War ein derart starker öffentlicher Druck auf und unter Präsident Truman nicht notwendig, da er sich, infolge seiner eigenen „post-Hiroshima abhorrence“478 mit Nachdruck gegen Nuklearschlagsempfehlungen des Militärs im Korea-Krieg gewandt hat, und sich darüber hinaus aufgrund seiner und der öffentlichen Skepsis gegenüber dem Militär mit Unterstützung des Kongresses für einen Ausbau der zivilen Kontrolle über Nuklearwaffen einsetzte,479 wurde die Kraft der öffentlichen Meinung für die Nuklearpolitik der Nachfolgeregierung zu einem entscheidenden Faktor. So zollte ihr der Außenminister der Eisenhower-Administration John Foster Dulles Tribut, als er 1953 seine MitarbeiterInnen auf die Notwendigkeit zur Beseitigung des nuklearen Tabus hinwies, von dem er alles andere als überzeugt war, beruhe es seiner Ansicht nach auf einer „false distinction“ zwischen verschiedenen Waffengattungen: „Somehow or other we must manage to remove the taboo from the use of these weapons“.480 Die durch den laufenden Tabuisierungsdiskurs als eingeschränkt empfundenen Handlungsoptionen der Vereinigten Staaten sollten mittels der Redefinitionsstrategie der conventionalization wieder erweitert werden und das „moral problem in the inhibitions on the use of the A-Bomb“481 demnach dadurch umgangen werden, dass Atomwaffen erstens im Diskurs so behandelt werden als seien sie konventionell; Vertreter militärischer und politischer Eliten betonten hierbei ihren moralischen Charakter sowie die mit anderen Waffen bestehenden Gemeinsamkeiten – statt Unterschiede. Zweitens sollte durch die Entwicklung kleinerer, taktischer Atombomben mit dem Ziel, sie gegen militärische Ziele zu richten, ihre Einsatzfähigkeit erhöht sowie das Argument gestärkt werden, eine diskriminierende Verwendung ohne Folgekontamination sei sehr wohl möglich, die Waffen müssten folglich nicht zwangsläufig inhuman sein. Sie sollten – drittens – ohne Sonderstatus in die 477 478 479 480 481 Wittner, Lawrence S. 1993: Resisting the Bomb. A History of the World Nuclear Disarmament Movement, zitiert nach: Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 23. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 446. Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326, hier S. 315. Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 702. Diese Aussage ist zugleich die erste dokumentierte Verwendung des Begriffs durch politische Praktiker. Zitiert nach: Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. – 131 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Militärplanung integriert und mögliche Einsatzoptionen in Konfliktfällen ohne Rücksicht auf als irrational erachtete Barrieren uneingeschränkt erwogen werden.482 Doch Schranken fallen nicht zwangsläufig dadurch, dass man beschließt, sie zu ignorieren und gerade gedankliche sowie unsichtbare sind, wie Schelling feststellt, noch schwerer zu zerstören als andere: „[T]acit conventions are sometimes harder to destroy than explicit ones, existing in potentially recalcitrant minds rather than on destructible paper.“483 Hatten weder Präsident Eisenhower selbst noch die Mitglieder seiner Administration sonderlich starke persönliche moralische Bedenken bezüglich Atomwaffen, so fühlten sie sich nichtsdestotrotz gezwungen, auf die unzerstörbaren Hemmungen anderer Rücksicht zu nehmen.484 Nachdem sich das Gefühl, Nuklearwaffen seien anders und durch ihren Einsatz überschreite man besondere Schwellen, fast zehn Jahre nach Hiroshima vorrangig in der öffentlichen Meinung etabliert hatte485 und diese Anschauung nicht nur nicht geschwächt werden konnte, sondern, ganz im Gegenteil, stärker wurde, mussten sich Dulles und Eisenhower das Scheitern der Konventionalisierungsversuche eingestehen und dem öffentlichen Druck nachgeben. Neben der Entscheidung gegen den Einsatz von Nuklearwaffen in Konflikten, ratifizierten die USA 1958 und 1963 auch Teststoppabkommen – die Angst vor politischen Kosten führte dazu, dass das nukleare Tabu instrumentellen Einfluss auf Militär und Politik nehmen konnte,486 sich also zumindest regulativ auf ihr Verhalten auswirkte. Dass die Effekte des Tabus während seiner Zeit als Verteidigungsminister unter John F. Kennedy (1961-1963) und unter Lyndon B. Johnson (1963-1969) mitnichten ausschließlich instrumentell, sondern auch konstitutiv waren, haben wiederholt Robert McNamaras Aussagen gezeigt – vergleichbar mit Trumans Einstellung, waren auch in diesen beiden Regierungen Atombomben so tief verabscheut, dass „the United States chose to lose a humiliating and destructive war against a small, non-nuclear adversary while all its nuclear weapons remained on the shelf.“487 McNamara legte großen Wert auf die Feststellung, dass die nukleare Zurückhaltung im Vietnam-Krieg, die sich nicht nur im Nicht-Einsatz, sondern auch 482 483 484 485 486 487 Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 23ff. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 25. Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91, hier S. 80. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 149. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 451. Schelling argumentiert, dass auch die Sowjetunion während des Afghanistan-Krieges offensichtlich ähnlichen tabubedingten Restriktionen unterstand – auch sie nahm eher einen langwierigen Krieg mit anschließender Niederlage in Kauf, statt über dessen Beendigung mittels Nuklearwaffen nachzudenken. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. – 132 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus im Verzicht auf nukleare Drohungen äußerte, nicht der öffentlichen Meinung, sondern allein der Überzeugung der jeweiligen Regierung geschuldet war:488 „It had nothing whatever to do with what the world might have thought about it“, sondern „it was because it was neither military desirable nor morally acceptable .“489 Während die non-use-Norm nach ihrer Entstehung von den drei ersten, von Demokraten geführten Nachkriegsadministrationen nicht nur befolgt,490 sondern offensichtlich auch geteilt wurde, wurde 1969 mit Richard M. Nixon wieder ein Republikaner Präsident, für den das durch die Vorgängerregierungen weiter gestärkte nukleare Tabu vor allem eine lästige Einschränkung us-amerikanischer Macht darstellte und ihn seinen Traum von einem „knockout blow“ zur Beendigung des Vietnam-Krieges kostete. Die Entscheidung „Nuklearwaffen oder nicht“ war für Nixon nach eigener Aussage eine zwischen Kopf und Herz, doch im Gegensatz zu denjenigen, die unter der Wirkung des Tabus einen rational gebotenen Einsatz aus emotionalen Gründen ablehnen würden, wünschte er sich im Herzen so sehr den großen nuklearen Knall wie er sich im Kopf auch dessen Konsequenzen bewusst war, die, außer in der nachhaltigem Schädigung der sich gerade bessernden Beziehungen zur UdSSR und zu China, auch in einem weltweiten, öffentlichen Aufschrei der Empörung bestanden hätten.491 Den geäußerten Einsatzwunsch wertet Tannenwald als bloßen Bluff, konnte dieser überhaupt nur in dem Bewusstsein zur Sprache gebracht werden, dass seine Ausführung wegen der aus den anti-nuklearen Überzeugungen anderer entstehenden Beschränkungen ohnehin nicht möglich sei.492 488 Die dezidierte Darstellung McNamaras, Nuklearwaffen seien nie eine Option gewesen, wird jedoch durch neu entdeckte Tonbänder in Zweifel gestellt, auf denen er im Gespräch mit Kennedy über den Konflikt zwischen Indien und China Anfang der 1960 Jahre mit den Worten zu hören ist: „Before any substantial commitment to defend India against China is given, we should recognize that in order to carry out that commitment against any substantial Chinese attack, we would have to use nuclear weapons. Any large Chinese Communist attack on any part of that area would require the use of nuclear weapons by the U.S., and this is to be preferred over the introduction of large numbers of U.S. soldiers.“ S. Giridharadas, Anand 2005: 489 490 491 492 ‘63 Tapes Reveal Kennedy and Aides Discussed Using Nuclear Arms in a China-India Clash, in: New York Times, 26.08.2005. Zitiert in: Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear Non-Use, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 455. Tannenwald führt ab Seite 453 aus, dass es hinsichtlich militärischer Nützlichkeit jedoch auch andere Auffassungen gab, so kamen einige Militärstrategen nach Prüfung der nuklearen Option zu dem Schluss, dass z.B. die mehrere Monate andauernde Belagerung der amerikanischen combat base in Khe Sanh durch einen Einsatz taktischer Nuklearwaffen schnell und effektiv hätte beendet werden können. Allerdings wurde diese Überlegung seitens der Regierung nicht nur sofort als „unverantwortlich“ abgelehnt, auch dass es sie überhaupt gab, sollte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. In den zitierten Äußerungen, die McNamara 1997 getätigt hat, scheint er immer noch diesem Verbot zu folgen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die USA im Vietnam-Krieg keineswegs vor grausamen Bomben zurückschreckten – man denke nur an die durch Napalm-Brandbomben verursachten Verstümmelungen oder die Vergiftungen sowie die schwere Kontamination durch das zur Entlaubung eingesetzte Pestizid Agent Orange. Dies gilt auch für Truman, denn, wie oben ausgeführt, existierte die Norm vor Hiroshima und Nagasaki nicht, danach hielt er sich daran. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 455ff. Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 31. – 133 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Herausforderung durch das Ende des Kalten Krieges? Mit dem Ende des Kalten Krieges schien auch die in diesem Fall offenkundig gewordene, jedoch insgesamt Jahrzehnte lang bestandene Widersprüchlichkeit zwischen der – sowohl öffentlichem Druck als auch persönlichen Überzeugungen geschuldeten – de-facto-non-usePolitik und der Deklarationspolitik der Abschreckung ein Ende zu nehmen. Die Versicherung der mutual assured destruction (MAD) wurde nach Beendigung der Blockkonfrontation obsolet – aber was bedeutete die neue „Unwahrscheinlichkeit“ einer nuklearen Vergeltung für das nukleare Tabu? Konnte sich der Glaube an die unmoralische, einzigartige Natur der Waffen auch vor der Herausforderung, die die eben nicht mehr zu erwartenden apokalyptischen Konsequenzen infolge eines Tabubruchs darstellten, noch behaupten? Einen ersten Testfall stellte der zweite Golfkrieg (1991) dar, in dem sich die internationale Gemeinschaft mit Irak nicht nur einem konventionell sehr stark gerüsteten Feind gegenüber sah, sondern auch mit der Gefahr eines Einsatzes von WMD konfrontiert wurde, denn Saddam Hussein legte nicht nur nukleare Ambitionen an den Tag, sondern verfügte zudem über ein einsatzbereites Chemiewaffenarsenal. Die USA spielten die nuklearen Optionen routinemäßig durch und setzten nach alter Manier auf Abschreckung, indem sie Saddam Hussein mit einem nuklearen Angriff drohten, sollte er von seinen WMD Gebrauch machen.493 Vom militärischen Standpunkt aus erschien ein derartiger Angriff durchaus möglich und sogar gewissermaßen rational, waren doch zum Einen mit starken Truppenkonzentrationen und von Städten weit genug abgelegenen sowie tief vergrabenen militärischen Anlagen (deeply buried targets, DBT) erstens gut erreichbare Ziele vorhanden, die, zweitens, sehr niedrige Kollateralschäden erwarten ließen und gab es zum Anderen Kalkulationen, die in einem Nuklearwaffeneinsatz sogar die Möglichkeit sahen, Tote auf beiden Seiten des Konflikts zu reduzieren.494 Nichtsdestotrotz hat nicht nur der Präsident so einen Ansatz von Anfang an aus politischen Gründen ausgeschlossen,495 auch zahlreiche andere, sowohl militärische als auch politische Entscheidungsträger brachten zum Ausdruck, dass Nuklearwaffen weder in operationalen Kriegsplänen noch in Gedanken vorkamen,496 „the assumption was simply that conventional forces would be used.“ 497 Natürlich konnte diese Annahme nur deshalb bestehen, weil genügend konventionelle Alternativen zur Verfügung standen – auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass Nuklearwaffen nicht deshalb nicht eingesetzt wurden, weil sie zu zerstörerisch, sondern weil 493 494 495 496 497 Müller, Harald/Sohnius, Stephanie 2006: Intervention und Kernwaffen. Zur neuen Nukleardoktrin der USA, HSFK-Report 1/2006, Frankfurt am Main, S. 12. S. Gertz, Bill 1991: U.S. can do battle with „tactical nukes“, in: Washington Times, 29.01.1991. So Barry, John 1991: The Nuclear Option: Thinking the Unthinkable, in: Newsweek, 14.01.1991. Tannenwald zitiert von ihr interviewte Angehörige des Weißen Hauses und des Pentagons mit folgenden Aussagen, dass Nuklearwaffen „were not part of our mindset“ sowie „the issue of our nuclear weapons use never came up to my knowledge during the entire crisis.“ Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 459. – 134 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus andere Waffen inzwischen genauso zerstörerisch sind, aber im Vergleich zu Nuklearwaffen weitaus geringere politische Kosten mit sich bringen.498 Die besondere Abwägung zwischen nuklearen und konventionellen Strategien bringt zwei Implikationen mit sich: Das Vorhandensein konventioneller Alternativen könne nicht schlicht vorausgesetzt werden, sondern wird von Tannenwald auch auf die Nicht-Einsatzfähigkeit der stigmatisierten Nuklearwaffen zurückgeführt, hätte sie doch zur Folge gehabt, dass die Erforschung und Entwicklung konventioneller Rüstung überhaupt vorangetrieben worden ist.499 Darüber hinaus tritt das nukleare Tabu auch insofern in Erscheinung, als automatisch zunächst die Erfolgschancen anderer Kampfmittel erwogen werden, bevor der mögliche Nutzen von Nuklearwaffen Gegenstand der Überlegungen wird. Auch dass sie auch ohne die Androhung eines nuklearen Gegenschlags, wenn überhaupt, dann erst als ultima ratio in Frage kommen und für ihren Einsatz besondere Notwendigkeiten vorliegen sowie besondere Begründungen vorgebracht werden müssen, ist ein klarer Indikator für das Fortbestehen des Totemstatus auch über den Ost-West-Konflikt hinaus.500 Gerade die Beendigung der Rivalität der Supermächte hatte ihrerseits bereits vor dem Golfkrieg die Hoffnung auf eine Denuklearisierung der Weltpolitik und damit auf eine Stärkung des bereits bestehenden Tabus geweckt, denn Nuklearwaffen schienen angesichts des konstatierten Endes der Geschichte501 dramatisch an Bedeutung zu verlieren, so dass weitreichende Abrüstungsschritte und verstärkte Nicht-Proliferations-Anstrengungen sowohl auf der internationalen Agenda standen als auch Gegenstand nationaler Politiken wurden: Die neue Beziehung zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten fand ihren Ausdruck ebenso in vertraglichen Vereinbarungen zu Reduktionen nuklearer Arsenale wie Kürzungen der Rüstungsbudgets.502 Dennoch war der vollständige Abschied von Nuklearwaffen und das Brechen der sich ebenfalls über lange Zeit entwickelten Gewohnheit, sie als integralen Bestandteil der Verteidigungspolitik zu betrachten oder gar die offizielle Erklärung einer no-first-use-policy, aufgrund von Befürchtungen hinsichtlich der Proliferation 498 499 500 501 502 Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 460f. Dieses Argument illustriert deutlich die Schwierigkeit, die Normen selbst als unabhängige Variablen und ihre Wirkung in one-way-kausalen Beziehungen erfassen zu wollen: Führt einerseits das Vorhandensein anderer Kampfmittel dazu, dass die Norm eingehalten werden kann, stellt die Entstehung dieser Alternative ihrerseits schon ein Produkt der Norm dar. S. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, S. 147ff. sowie allgemeiner zu diesem Thema S. 46 der Arbeit. Auch in anderen Konflikten – z.B. im mit hoher Wahrscheinlichkeit über Chemiewaffen verfügenden früheren Jugoslawien – standen Nuklearwaffen nicht zur Debatte. Müller, Harald/Sohnius, Stephanie 2006: Intervention und Kernwaffen. Zur neuen Nukleardoktrin der USA, HSFK-Report 1/2006, Frankfurt am Main, S. 13. Titel des berühmten Werkes von Fukuyama, Francis 1992: Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, München. Gabel, Josiane 2004: The Role of U.S. Nuclear Weapons after September 11, in: The Washington Quarterly 28:1, S. 181-195, hier S. 182f. sowie Walker, William 2000: Nuclear Order and Disorder, in: International Affairs 76:4, S. 703-724, hier S. 710f. – 135 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus an Drittstaaten, neuer Gefahren in der Dritten Welt sowie des Misstrauens gegenüber der sich in einer instabilen Umbruchzeit befindenden alten Supermacht, immer noch nicht möglich – das Beibehalten vor funktional.503 der Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung erschien nach wie Offenkundig wurde diese Haltung noch 1991 in der Weigerung der Regierung George H. Bushs (mit Unterstützung von Seiten der starken Lobby aus Kernwaffenlabors und „Verteidigungsestablishment“, die sich die Option zur Entwicklung neuer Nuklearwaffen offen halten wollten), die Verhandlungen zum Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT) aufzunehmen. Entgegen der Regierungsposition verhängte der US-Kongress im Jahr 1992 ein nationales Testmoratorium für Nuklearwaffen (nach den beiden maßgeblich beteiligten, demokratischen Senatsmitgliedern John Spratt und Elizabeth Furse auch Spratt-Furse-ban genannt) und verlieh damit seiner Zustimmung zur Intention des CTBT Ausdruck. Nach vorausgegangenen heftigen Debatten und wiederum als Reaktion auf den Druck der empörten, auf nukleare Abrüstung hoffenden und drängenden Öffentlichkeit, in der neben den Medien auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen eine aktive Rolle spielten, gab der Präsident die Beendigung aller laufenden Entwicklungsprogramme für Nuklearwaffen bekannt und unterzeichnete nach langem Zögern schließlich das Teststoppgesetz, womit er einen Wendepunkt in der offiziellen Nuklearpolitik der USA markierte.504 Dieser durch veränderte weltpolitische Realitäten ermöglichte Wandel sollte durch die 1993 von Präsident Bill Clinton in Auftrag gegebene, seit 1978 erste Nuclear Posture Review nicht nur anerkannt, sondern aktiv vorangetrieben und manifestiert werden, indem alle Bereiche der Nuklearpolitik – von der Streitkräftestruktur und ihres Bereitschaftsstatus über Proliferationsverhinderung bis hin zur nuklearen Sicherheit und Sicherung des maroden russischen Nukleararsenals – einer umfassenden Revision unterzogen werden sollten. Große Hoffnungen wurden in die NPR gesetzt, sie wurde nicht nur als Gelegenheit zur Abschaffung der strategischen Triade505 und Proklamation der no-first-use-Strategie (auch nicht als Reaktion auf Einsätze mit biologischen oder chemischen Waffen) begriffen, sondern ebenso als Chance, das nukleare Tabu zur offiziellen staatlichen Politik zu erheben. Schließlich war die Gelegenheit zur Ächtung von Nuklearwaffen schon 1992 von Les Aspin, dem damaligen Chairman des House Armed Services Committee und dem späteren Außenminister unter 503 504 505 Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 199. Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 15f. Diese bestand zu Zeiten des Ost-West-Konflikts aus land-, luft- und seegestützten nuklearen Trägersystemen, sprich aus Interkontinentalraketen ( intercontinental ballistic missiles, ICBMs), schweren Bombern ( long-range bombers) und U-Boot-basierten ballistischen Flugkörpern ( submarine-launched ballistic missiles, SLBMs), s. Russell, James/Wirtz, James J. 2002: A Quiet Revolution: The New Nuclear Triad, in: Strategic Insight, 1. Mai 2002. – 136 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Clinton erkannt worden: „[I]f we now had the opportunity to ban all nuclear weapons, we would. This is how profound the change is that we have undergone.“506 Nach dem Erscheinen der NPR konnten jedoch auch die euphemistischen, sowohl neues Denken über als auch die neue Rolle von Nuklearwaffen betonenden Statements der offiziellen Seite nicht darüber hinwegtäuschen, dass keines der mit ihr verbundenen Ziele erreicht werden konnte und sie vielmehr nur geringe Bestandsreduktionen und damit nur marginale Veränderungen der Nuklearstrategie brachte.507 Zu prägend war anscheinend die bereits zu diesem Zeitpunkt wahrgenommene Bedrohung durch „Schurkenstaaten“, zu groß der bürokratische Hang zur Kontinuität und zu stark der Einfluss an ihrer Erstellung beteiligter, im Kalten Krieg sozialisierter Abschreckungsstrategen.508 Auf der anderen Seite trug die Schwäche der innovativen Kräfte (wie des ehrgeizigen Les Aspin), der abnehmende Druck der – sich auf einen automatischen Bedeutungsverlust von Nuklearwaffen verlassenden – Öffentlichkeit509 sowie das zu geringe Vertrauen in das Demokratisierungspotential Russlands,510 auch unter neuen Umständen während der gesamten Präsidentschaft zum Fortbestand der alten Ambivalenz der Verdammung der Waffen einerseits und der vorgegebenen Dauerbereitschaft zu ihrer Nutzung andererseits. Auch wenn die durch den Wegfall der sowjetischen Bedrohung stattgefundenen strukturellen Veränderungen sich nicht proportional in den nuklearstrategischen Anpassungen der Vereinigten Staaten niederschlugen, so herrschte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre dennoch überwiegend Abrüstungsoptimismus – deuteten die politischen Zeichen doch beständig in Richtung einer, wenn auch langsamen, nuklearen Marginalisierung. Neben der Implementierung von START I und II, stellte insbesondere die unbegrenzte Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, mit der 1995 auch der no-first-use-Politik gegenüber Have-Nots Nachdruck verliehen wurde, einen Meilenstein dar. Schließlich unterzeichnete die Clinton506 507 508 509 510 Aspin, Les 1992: From Deterrence to Denuking. A New Nuclear Policy for the 1990s, in: Shaping Nuclear Policy for the 1990s: A Compendium of Views. Report of the Defense Policy Panel of the Committee on Armed Services, 17. Dezember 1992. So sollten die Abrüstung nuklearer Sprengköpfe die bereits 1993 im START-II-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty ) zwischen George Bush und Boris Jelzin festgeschriebenen Schwellen von 3.000 bis 3.500 nicht überschreiten, man konnte sich ferner weder zu einer Absage an die strategische Triade, noch zu einer reinen Zweitschlagsstrategie durchringen. Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 204, außerdem: Deutsch, John 2005: A Nuclear Posture for Today, in: Foreign Affairs 84:1, S. 49-60, hier S. 49. Müller, Harald/Sohnius, Stephanie 2006: Intervention und Kernwaffen. Zur neuen Nukleardoktrin der USA, HSFK-Report 1/2006, Frankfurt am Main, S. 10 und Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 206. So nahm nicht nur die Präsenz von Abrüstungsthemen in den Medien ab, sondern auch die finanzielle Unterstützung für einschlägige NGOs; beides ging mit einem allgemein sinkenden Interesse der Bevölkerung an der Außenpolitik einher. S. Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 22 sowie Gabel, Josiane 2004: The Role of U.S. Nuclear Weapons after September 11, in: The Washington Quarterly 28:1, S. 181-195, hier S. 183ff. Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 23. – 137 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Regierung – nach breiten öffentlichen Protesten gegen einen ursprünglich geplanten Schwellenvertrag511 – im darauf folgenden Jahr das CTBT und schrieb hiermit die nationale Absage an Nukleartests auch auf internationaler Ebene fort.512 In diesen „tentative first steps toward renouncing nuclear weapons as instruments of warfare“513 nach Ende des Kalten Krieges kamen die Bestrebungen der Staaten, die grausamen Waffen loszuwerden, gleich auf mehreren Ebenen zum Vorschein: So konnten erstens einige Länder davon abgehalten werden, eigene Nuklearprogramme durchzuführen bzw. Nuklearwaffen zu erwerben.514 Die Ansicht, dass die Anzahl ihrer Besitzer konstant bleiben sollte, und die Waffen selbst einer besonderen Kontrolle unterliegen sollten, fand 1995 ihre „triumphale“515 Bekräftigung – die „Hohepriester“ behielten also ihren (zumindest offiziellen) Exklusivstatus.516 Zweitens schien man sich des Totems, das nun seine heilige Schutzfunktion zu verlieren schien, endgültig entledigen zu wollen: Die eingegangenen Rüstungskontrollverpflichtungen können als ein entscheidender Schritt zur Erfüllung der lang gehegten Hoffnung, die schon existierenden Waffen restlos zu vernichten, gelten. Dank der umfassenden Testmoratorien schien drittens die Gefahr gebannt, die Waffen dadurch zu enttabuisieren, dass die Auffassung von ihrer besonderen Natur untergraben wird – vielmehr wurde diese besonders unterstrichen, indem die Entwicklung neuer Waffen mit geringerem fallout und geringerer Sprengkraft untersagt und damit dem von einigen verfolgten Ziel, ihre Einsatzfähigkeit durch Senkung des Zerstörungspotentials zu erhöhen, ein Riegel vorgeschoben wurde; das faktische Einsatzverbot wurde hier also durch formelle, lediglich das Verbot von Tests festschreibende Verträge untermauert.517 Vor diesem Hintergrund 511 512 513 514 515 516 517 Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 26f. Zwar scheiterte die – zum Zeitpunkt der Unterzeichnung sicher geglaubte – Ratifikation des Vertrages 1999 im US-Senat, das Moratorium von 1992 wurde aber zunächst beibehalten und wird bis dato eingehalten, obwohl der US-Kongress 2003, wie von der Regierung George W. Bushs gefordert, für seine Aufhebung gestimmt hat. Den Demokraten ist es gelungen, immerhin das Verbot zur Entwicklung neuer Nuklearwaffen aufrechtzuerhalten, Forschung hingegen ist nun erlaubt. Manning, Robert 1998: Nuclear Age: The Next Chapter, in: Foreign Policy 109/Winter 1997-98, S. 70-84, hier S. 70. So einige ehemalige Republiken der Sowjetunion wie z.B. die Ukraine und Weißrussland, aber auch Südafrika, das sein militärisches Nuklearprogramm vor seinem NPT-Beitritt 1995 stoppte. Müller, Harald 2005: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, HSFK-Report 4/2005, S. 3. Für eine kritische Diskussion der Folgen der Vertragsverlängerung siehe die kleine ZIB-Debatte, also Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, Dembinski, Matthias/Müller, Harald 2003: Mehr Ratio als Charisma: Zur Entwicklung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes vor und nach 1995, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/2003, S. 333350, Wolf, Reinhard 2003: Tabu, Verrechtlichung und die Politik der nuklearen Nichtverbreitung. Eine interessante Hypothese auf der Suche nach einem tatsächlichen Problem, in: Zeitschrift für internationale Beziehungen 2/2003, S. 321-331, sowie schließlich Daases Replik: Daase, Christopher 2003: Nonproliferation und das Studium internationaler Legitimität. Eine Antwort auf meine Kritiker, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/2003, S. 351-364. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. – 138 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus präsentierte sich das nukleare Tabu als stabiler denn je und ein nuklearer Einsatz blieb auch ohne die permanente Zweitschlagsdrohung undenkbar bzw. schien gerade ohne sie in noch weitere Ferne gerückt, fanden sich die Vereinigten Staaten nun nicht mehr in der Position derjenigen, die eine massive nukleare Bedrohung aufrechterhalten müssen oder sich gar sich zu einem nuklearen Gegenangriff gezwungen sehen könnten. 5.2.3 Tabu unter dem security umbrella der Abschreckung? Zum Verhältnis der Handlungslogiken Wenngleich die Frage nach der Beziehung beider non-use-Erklärungen, also dem Einsatzverbot einerseits und der Einsatzdrohung und -befürchtung andererseits, aufgrund des Zusammenbruches des nuklear gerüsteten Feindes nahe liegend ist, stellte sie sich zu diesem Zeitpunkt freilich nicht zum ersten Mal – vielmehr existierte der augenscheinliche Widerspruch zwischen Abschreckungspolitik und moralischer Nuklearwaffenächtung besonders während des Ost-West-Konflikts und fand, wie bereits zu Beginn des Kapitels angeführt, seinen Niederschlag auch im akademischen Diskurs: Den rationalistischen Einwänden, die ständige nukleare Einsatzbereitschaft spreche gegen die Behauptung eines breit geteilten, normativen Einsatzverbotes und außerdem könnten die dem letzteren zugeschriebenen Effekte ebenso auf die Praxis der gegenseitigen Einschüchterung durch die verfeindeten Supermächte zurückgeführt werden,518 stehen Hinweise auf Grenzen der Abschreckungstheorie gegenüber, der es unter anderem an Erklärungen für den Verzicht auf Nuklearwaffen in Konflikten ohne Vergeltungsdrohung, aber auch für die Fälle misslungener Abschreckung fehle.519 Zwei unterschiedliche Handlungslogiken 520 scheinen hier aufeinander zu treffen, wobei beide unterschiedliche Antworten auf die Frage bieten, auf welche Faktoren die ausgebliebene Wiederholung von Hiroshima zurückgeführt werden kann. Auf der einen Seite findet sich die konsequentialistische Erklärung von Staaten (als rationalen Akteuren) praktizierter nuklearer Zurückhaltung, wie sie im Abschreckungskonzept postuliert wird:521 Grundlegend wird unter (erfolgreicher) Abschreckung522 die Fähigkeit verstanden, den Gegner davon abzubringen, etwas zu tun, was er sonst tun würde, indem ihm inakzeptable Kosten als Bestrafung für die Tat angedroht werden (deterrence by punishment) und/oder vermittelt wird, dass er seine Ziele mit einer bestimmten Strategie ohnehin nicht erreichen kann, sein erwarteter Nutzen 518 519 520 521 522 Gehring, Verna 2000: The Nuclear Taboo, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. Z.B. der Angriff Argentiniens auf die britischen Falkland-Inseln. Für detaillierte Ausführungen und weitere Fälle siehe: Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717. Siehe genauer Kapitel 2.3 (S. 12) der Arbeit. Zu den Grundannahmen siehe z.B. Achen, Christopher/Snidal, Duncan 1989: Rational Deterrence Theory and Comparative Caste Studies, in: World Politics 41:2, S. 143-169, hier S. 150. Lee erklärt, dass „Abschreckung“ als Begriff bereits Erfolg impliziert. Wenn der Begriff verwendet wird, so ist damit dagegen in der Regel eine „attempted deterrence“, also die Absicht, den Gegner abzuschrecken, gemeint. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 83. – 139 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus wird ihm also verwehrt (deterrence by denial)523 – die Option, Nuklearwaffen einzusetzen, wird folglich dann ausgeschlossen, „if the costs of a second strike retaliation exceed potential benefits.“524 Demnach haben sowohl die UdSSR als auch die USA auf einen Erstschlag verzichtet, weil das Drücken des roten Knopfes a) angesichts der deterrence by punishment aufgrund des unmittelbar erfolgten massiven Vergeltungsschlages mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die eigene Vernichtung bedeutet hätte und unter Rationalitätsgesichtspunkten diese untragbar hohen Kosten den zweifelhaften Nutzen bei Weitem überstiegen hätten oder b) bei Aufrechterhaltung der deterrence by denial-Strategie auch ohne die sofortige nukleare Vernichtung keine Aussicht darauf bestand, einen eskalierenden Nuklearkrieg zu gewinnen (Verweigerung der Gewinnchancen). Neben solchen materialistischen Erklärungen stand auf der anderen Seite die in diesem Kapitel bereits ausführlich dargelegte Überzeugung, dass der Einsatz von Nuklearwaffen aus Angemessenheitserwägungen nicht durchgeführt werden dürfe, weil er gegen sämtliche moralischen Prinzipien verstoßen und der us-amerikanischen Identität zuwider laufen würde. Der Versuch der Explizierung des Verhältnisses der beiden Handlungslogiken erscheint nicht nur im Lichte dieses Kapitels, das bedingt durch die normtheoretisch inspirierte Fallauswahl das nukleare Tabu sehr zentral, nukleare Abschreckung hingegen nur marginal behandelt hat, notwendig. Auch und vor allem mit Blick auf den nachfolgenden Befund der Normerosion, der als Ausgangspunkt der empirischen Auswertung dienen wird, gewinnt das Verhältnis von Rationalität und Angemessenheit an Relevanz: einerseits zur Feststellung, ob sich die Angemessenheitsvorstellungen tatsächlich gewandelt haben oder ob es sich bloß um eine Fortsetzung alter Abschreckungsstrategien in neuer Qualität handelt, sowie andererseits der Strukturierung des Argumentationsverlaufs unter anderem anhand dieser Kategorien. Wohlwissend, dass am Ende nicht eine einzig richtige Logik gekürt werden und dass es für den Nicht-Einsatz keine monokausale Erklärung geben kann, will ich im Folgenden dennoch der Frage nachgehen, inwiefern es sich zwischen Abschreckung und nuklearem Tabu tatsächlich um widersprüchliche Handlungslogiken handelt und wie sich mögliche Verhältnisse der rationalistischen und konstruktivistischen Nicht-Einsatz-Erklärungen zueinander – idealtypisch – konzipieren lassen. Angeleitet von der Frage nach der Vereinbarkeit beider Erklärungen, wird zunächst die Möglichkeit der gegenseitigen Bedingtheit beider Logiken erörtert. Anschließend werden – überspitzt und vereinfacht – Überlegungen zur Dominanz der einen Logik über die andere angestellt. Die ersten konstruktivistischen Arbeiten zum nuklearen Tabu wiesen noch ausdrücklich darauf hin, dass sie sich – diagnostizierend, dass es sich bei Abschreckung um eine zu einfache 523 524 Zu den Konzepten vergleiche ausführlich: Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 82-109, eine knappe Darstellung findet sich in: Rajagopalan, Rajesh 1999: Nuclear Strategy and Small Nuclear Forces: The Conceptual Components, in: Strategic Analysis. A Monthly journal of the IDSA, XXIII:7. James, Carolyn C. 2000: Nuclear Arsenal Games: Size does Make a Difference, Paper prepared for the International Studies Association, 41st Annual Convention, 14.-18. März 2000. – 140 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Erklärung für das komplexe non-use-Phänomen handle – als ergänzende und erweiternde Ansätze verstehen.525 So würde ein rein rationalistischer Zugang, neben den oben bereits angeführten Abschreckungspuzzles auch leugnen, dass die Existenz des nuklearen Tabus von politischen Strategen (auch von solchen, die Kosten-Nutzen-Kalküle zum einzigen entscheidungsrelevanten Faktor erklärten)526 nicht nur anerkannt wurde, sondern sie sich dadurch auch in ihren Handlungsoptionen beschränkt fühlten. Würden hingegen rationale Handlungsmotivationen negiert und ausschließlich normative Beweggründe auf Basis des nuklearen Tabus geltend gemacht werden, sei damit die Vehemenz und die Glaubwürdigkeit jahrzehntelanger Abschreckungspolitik nicht zu erfassen. Der Nicht-Einsatz beruht demzufolge sowohl auf rationalen als auch auf moralischen Erwägungen und die exklusive Annahme jeder Logik ohne die Berücksichtigung der jeweils anderen würde das Erkenntnispotential unnötigerweise beschneiden. Daneben kann sich jedoch die Auffassung, das nukleare Tabu existiere und könne innerhalb der dominanteren logic of consequences konzeptionalisiert werden, ebenfalls auf plausible Argumente stützen, indem sein starker rationalistischer Kern hervorgehoben wird. Die Nicht-Einsatz-Norm basiere demnach „on calculated reasoning of the costs and benefits of nuclear warfare“527 – das Tabu sei gewissermaßen ein Produkt der Abschreckung,528 stelle sein Fundament schließlich die Angst vor den Folgen seines Bruches dar, wobei hierbei unerheblich ist, welcher Art diese sind: Die unmittelbar durch den Abwurf einer Nuklearbombe verursachten massiven und nicht-diskriminierenden Schäden sowie weitreichende wie langanhaltende radioaktive Kontamination (diese Schäden schlagen jedoch nicht unbedingt auf der Kostenseite des Angreifers zu Buche), die strenge Verurteilung durch andere Staaten, insbesondere aber ein zerstörerischer Gegenschlag lassen sich als enorme Kosten betrachten. Die Angst kann auch aus einem weiteren Grund als ein klassischrationalistischer Mechanismus ausgelegt werden, nämlich nicht nur, wie eben geschildert, wegen der (fast) sicher zu erwartenden Kosten, sondern ebenso aufgrund ihrer Unkalkulierbarkeit. So kann die durch einen nuklearen Angriff ausgelöste extreme Eskalationsgefahr 525 526 527 528 mit unabsehbarem Ausgang (angesichts der eigenen S. z.B. Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 449. Gehring, Verna 2000: The Nuclear Taboo, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3. Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 7. – 141 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Verteidigungsunfähigkeit infolge der nuklearen Revolution529 sowie der ständigen Ungewissheit über die tatsächlichen militärischen Kapazitäten des Gegners und seine Ausdauerbereitschaft) von risikoaversen Nutzenmaximierern schlichtweg nicht in Kauf genommen werden. Hierin wird deutlich, dass der dyadischen Komponente in dieser NichtEinsatz-Erklärung eine besondere Bedeutung zukommt, denn während der bloße Einsatz vor allem für den Feind sehr kostenintensiv wäre und daher nicht abschreckend wirken muss, wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis durch die gegnerische Zweitschlagsfähigkeit drastisch verändert, indem nun auch seine antizipierte Reaktion ein essentieller, ja existenzieller Bestandteil der Kalkulationen wird. Aus dieser rationalistischen Perspektive senkt das nukleare Tabu durch seine moralische Komponente lediglich die ohnehin schon geringe Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes, indem es seine Kosten noch stärker erhöht, es behält jedoch einen bestenfalls katalytischen Wert – denn Abschreckung als Strategie existiert nicht erst seit dem nuklearen Zeitalter und sie kann, wie man an anderen Waffengattungen sehen kann, auch gänzlich ohne Tabus funktionieren. Des Weiteren dürfe man nicht den Fehler begehen, das Scheitern der Abschreckungspolitik in manchen Fällen dem Scheitern der Abschreckungstheorie gleichzusetzen, denn auch ersteres könne durchaus – z.B. unter Einbeziehung neuer, mit dem Grundgerüst jedoch kompatibler Faktoren wie Perzeption und Unvollständigkeit von Informationen – innerhalb der Theorie Erklärung finden.530 Demgegenüber würde eine von der Dominanz des nuklearen Tabus ausgehende Sichtweise genau an diesem Punkt ansetzen:531 Wenn Abschreckung auch ohne Tabus wirksam sein kann, so kann der abschreckende Charakter von Nuklearwaffen dennoch nicht per se vorausgesetzt werden, vielmehr stellt sich die Frage, warum bestimmte Waffen als abschreckend bzw. als besonders abschreckend empfunden werden – als alleiniger Faktor reiche ihr Zerstörungspotential nicht aus, gäbe es doch auch Waffen, die in dieser Hinsicht durchaus vergleichbare „Erfolge“ erzielen könnten.532 Eine derart wirksame und lang anhaltende Abschreckung mit Nuklearwaffen sei vor allem möglich gewesen, weil sie mit Charakteristika von Tabus belegt worden sind und die Angst vor den – gerade tabubedingt 529 530 531 532 Brodie, Bernard 1946: War in the Atomic Age, in: Ders. (Hg.): The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order, S. 21-69, hier S. 28ff. sowie Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. 2000: Introduction: Understanding Nuclear Weapons in a Transforming World, in: Dies. (Hg.): The Absolute Weapons Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 1-15, hier S. 5. Achen, Christopher/Snidal, Duncan 1989: Rational Deterrence Theory and Comparative Case Studies, in: World Politics 41:2, S. 143-169, hier S. 152. Zur abschreckungstheoretischen Bedeutung von Psychologie und Wahrnehmung siehe z.B. das Sammelband: Jervis, Robert/Ned Lebow, Richard/Gross Stein, Janice 1985: Psychology of Deterrence, Baltimore/London. Hier scheint Tannenwald über ihren noch 1996 zum Ausdruck gebrachten, bescheidenen Standpunkt als ergänzende Erklärung hinausgegangen zu sein, indem sie das Tabu wesentlich grundlegender als „ essential to explaining the overall patterns of non-use“, wenn auch nicht als die einzige Erklärung charakterisiert. Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 439f. So starben während des 2. Weltkriegs Hunderttausende japanische ZivilistInnen durch BrandbombenAngriffe, 80.000 allein in Tokio in der Nacht zum 10. März 1945. S. Rademacher, Cay 2005: Nagasaki ging wegen Treibstoffmangels unter, in: Der Spiegel, 22.05.2005, online unter: <http://www.spiegel.de /panorama/0,1518,366012,00.html>, rev. 22.08.2006. – 142 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus unproportionalen – Folgen ihres Einsatzes eine über das Faktische weit hinausgehende Eigendynamik entwickelt hat, die den Fortbestand des Tabus auch nach dem Ende des Kalten Krieges sichert. Besonders diese neue Situation, in der durch den Wegfall des nuklearen Kontrahenten ein entscheidender Erklärungsfaktor der dyadisch-rationalistischen Erklärung ausgehebelt wird, lässt auf den (inzwischen?) monadischen Charakter des nuklearen Tabus schließen – selbst ohne die Erwartung einer Gegenreaktion bleibt ein nuklearer Einsatz undenkbar. Die jahrzehntelang im Rahmen der Abschreckungsstrategie vorgegebene Denkbarkeit ist mit dem monadischen Ansatz durchaus vereinbar und wird vor dem Hintergrund des Sicherheitsdilemmas der Supermächte nachvollziehbar: Selbst wenn das Tabu auf beiden Seiten (jeweils unabhängig von der anderen)533 vorlag, so konnte dennoch keine der zwei Mächte jemals sicher sein, dass dieses vom Gegner geteilt wird, weshalb die ständige Androhung eines Bruches notwendig war, um sich, das Tabu (und dadurch wiederum sich), zu schützen.534 5.2.4 Zusammenfassung und Erosionskriterien Die Schutzfunktion des nuklearen Tabus ist einer der Hauptgründe für seine Stärke, die sich, wie im Verlauf des letzten Kapitels herausgearbeitet, auf mehrere Pfeiler stützt: Wesentlich für die Aufrechterhaltung des nuklearen Einsatzverbotes ist die Wahrnehmung von Nuklearwaffen als anders- und einzigartig sowie die scharfe Trennung zwischen ihnen und konventionellen Waffen. Dabei wird die nukleare Beschaffenheit von Waffen zum technischen Unterscheidungsmerkmal der Waffengattungen, die dadurch entstehende Zweiteilung bietet jedoch lediglich die Basis zur Konstruktion der bright line, die vor allem – und weit über die Technik hinaus – mittels moralischer Zuschreibungen gezogen wird. In Abgrenzung zu konventionellen Waffen, deren Einsatz bei Wahrung bestimmter Prinzipien im Einklang mit der Moral steht und die ergo einen Status als legitime Kampfmittel genießen, unterliegen erstens, ihrem Charakter als Totem entsprechend, alle Nuklearwaffen der Stigmatisierung als unmoralisch und inhuman. Zweitens gründet sich auf diese Ächtung ein Einsatzverbot, dessen Missachtung nicht nur zu apokalyptischen Konsequenzen führen muss, sondern auch nur in einer absolut alternativ- und ausweglosen Situation denkbar und begründbar wäre – Nuklearwaffen sind demnach nie „weapons of warfare“, sondern immer nur „weapons of last resort“. 533 534 Dass sie unusable sind, steht außer Frage – Begründungen für ihren Die Frage, inwiefern von der Existenz eines nuklearen Tabus in der UdSSR ausgegangen werden kann, ist noch unbeantwortet und bietet ein interessantes Forschungsdesiderat. Diese Annahme würde auch erklären, warum Abschreckungspolitik dem nuklearen Tabu zum Trotz ihre Glaubwürdigkeit behielt – konfrontiert mit einem als unberechenbar eingestuften Feind, glaube man eher das schlimmste. Hingegen wird z.B. von Morgan die Ansicht vertreten, dass Nuklearwaffen aufgrund ihrer, durch die Zerstörungskraft bedingten Nutzlosigkeit, die Glaubwürdigkeit der Abschreckungspolitik eher unterlaufen denn stärken, glaube doch ohnehin niemand, dass diese Waffen eingesetzt würden. S. Morgan, Patrick M. 1985: Saving Face for the Sake of Deterrence, in: Jervis, Robert/Ned Lebow, Richard/Gross Stein, Janice 1985: Psychology of Deterrence, Baltimore/London, S. 125-152. – 143 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus außergewöhnlichen Stellenwert werden in Anbetracht seiner taken-for-grantedness obsolet, ein Hinterfragen der Besonderheit unmöglich. Diese Selbstverständlichkeit ist jedoch, wie aus der Darstellung des Entstehungs- und Durchsetzungsprozesses der Norm hervorgeht, nicht von allen gesellschaftlichen Gruppen und innerhalb dieser nicht von allen Akteuren gleichermaßen internalisiert: Konnte das nukleare Tabu in der us-amerikanischen Bevölkerung sehr schnell eine breite und dauerhafte Anerkennung erlangen, kann man auf der Ebene politischer Entscheidungsträger nicht von einer linearen, von Regierung zu Regierung stärker werdenden Verinnerlichung sprechen, während die Wissenschaft und das Militär in dieser Frage dauerhaft tief gespalten waren. Dennoch wirkt die Nicht-Einsatz-Norm, ungeachtet ihrer uneinheitlichen Internalisierung, allein durch ihre Existenz – so kann sie selbst von denjenigen, die nicht an ihre Richtigkeit glauben, nicht negiert werden und wird zu einem zentralen Faktor, den es bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen gilt. Nicht nur die Handlungsoption „nuklearer Angriff“ wird dementsprechend, wenn von Einzelnen auch nicht für falsch befunden, unwählbar, ja nicht einmal öffentlich artikulierbar; auch mögliche Maßnahmen zur Erhöhung der Einsatzfähigkeit von Nuklearwaffen stehen außerhalb des – durch die weitgehend geteilte Gültigkeit des Tabus und die dahinter stehende Öffentlichkeit – verengten Entscheidungsspielraumes. Durch die Norm beschränkt, könnte letzterer ergo auch nur auf Kosten der Norm ausgeweitet werden – woran wäre die eine solche Ausweitung ermöglichende Erosion des nuklearen Tabus zu erkennen? Ein Blick in seine Geschichte kann erste Anhaltspunkte liefern, gab es doch während der letzten Jahrzehnte immer wieder (bislang erfolglose) Versuche seiner Beseitigung seitens derjenigen, die sich durch das Verbot restringiert fühlten und die Einsatzfähigkeit von Nuklearwaffen im doppelten – also moralischen und technischen – Sinne erhöhen wollten: Konnte sich das Tabu vor allem aufgrund der herrschenden Auffassung etablieren, Nuklearwaffen seien nicht wie andere Waffen und ihr Einsatz würde der Übertretung einer besonderen Schwelle gleichkommen, ist es nahe liegend, erstens eine Konventionalisierung von Nuklearwaffen, wie sie schon einmal Teil der politischen Strategie war,535 als ein Kriterium der Erosion zu nehmen. Dem nuklearen Tabu würde die Basis entzogen werden, wenn sich die Überzeugung, es gäbe keine grundsätzlichen moralischen Unterschiede zwischen nuklearen und nicht-nuklearen Waffen, im Diskurs durchsetzen ließe. Hierbei kann der argumentative Weg, der Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Waffengattungen gegenüber den Unterschieden hervorhebt, durch das Vorantreiben technischer Entwicklungen wesentlich gestützt werden, indem das Zerstörungspotential konventioneller Waffen erhöht, das nuklearer Waffen wiederum gesenkt wird, indem sie, mit geringerer Sprengkraft ausgestattet, auch weniger fallout verursachen. Solche neuartigen, theoretisch einsetzbaren Nuklearwaffen würden den Totemstatus insofern untergraben, als nur noch ein Teil der 535 Vgl. S. 131 dieser Arbeit. – 144 – En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus Gattung nuklearer Waffen geächtet bliebe – im Gegensatz zur vorherigen Tabuisierung der gesamten Gattung wäre dies ein zweites Erosionskriterium. Durch die diskursive und technische Herstellung der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Waffengattungen sowie Differenzierungen innerhalb der Nuklearwaffen würden Begründungen für die notwendige Aufrechterhaltung des nuklearen Tabus geäußert werden müssen, was angesichts seiner bisherigen Selbstverständlichkeit als dritter Erosionsindikator gelten kann. Zum Ausdruck kommen würde die Schwächung des Tabus – viertens – in einem reframing von nuklearen Waffen als ultima ratio in zwei klar definierten Fällen hin zu einer gleichrangigen Option unter vielen in nicht mehr genau benannten Situationen und damit die Aufhebung der Beschränkung ihres Verwendungszweckes auf Verteidigung zur Überlebenssicherung und Abschreckung. Zusammengefasst könnte eine Erosion des nuklearen Tabus also aufgrund des Vorliegens eines oder mehrerer folgender Kriterien festgestellt werden: 1. Es findet eine Konventionalisierung nuklearer Waffen statt. 2. Die ehemals absolut geltende Ächtung betrifft nur noch einen Teil der Nuklearwaffen. 3. Begründungen für die Gültigkeit des Tabus werden notwendig. 4. Nukleare Einsatzoptionen werden für eine Reihe von Situationen in Betracht gezogen. Diese Basis wird im empirischen Kapitel als Folie dienen, um den argumentativen Verlauf der Erosion des nuklearen Tabus nachzuvollziehen. 5.3 Zwischenfazit: globaler Tabus Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier Wie aus der bisherigen Lektüre vielleicht bereits deutlich geworden ist, weisen die beiden von uns untersuchten Tabus erhebliche Unterschiede auf, die wir im Folgenden diskutieren werden. Die daneben vorhandenen strukturellen Gemeinsamkeiten ergeben sich notwendigerweise aus den Kriterien, die wir der Fallauswahl zugrunde gelegt hatten: Beide Normen sind (bzw. waren) in den Vereinigten Staaten besonders stark internalisiert und konstitutiv für die Identität des Landes, sie weisen des Weiteren typische Tabu-Charakteristika nach dem Konzept Freuds auf. Diesem entsprechend, regulieren beide Verbotsnormen vor dem Hintergrund vorausgegangener oder auch andauernder negativer Erfahrungen bestimmte Handlungspraxen (nämlich das Abwerfen von Nuklearwaffen sowie das Foltern von Menschen). Beide zielen auf die Kontrolle des potentiell in jeder Person (auch der eigenen) angelegten Begehrens ab, welches von der Faszination, (destruktive) Macht über andere Menschen auszuüben, herrührt. Während in einem Fall die vorhandene Macht das vollständige physische Ausradieren ganzer Städte bzw. sogar die Annihilation der gesamten Menschheit bedeuten kann, steht im anderen die totale psychische Auslöschung eines Individuums durch das Brechen seiner bzw. ihrer Persönlichkeit im Mittelpunkt. Dass diese Handlungen als Ausdruck des absolut Bösen gelten, rührt einerseits von der ihnen – 145 – Zwi s che nf a zi t: Z we i gl ob al e T ab us zugeschriebenen Irrationalität und andererseits von der kaum bestreitbaren unmenschlichen Grausamkeit her, die sich in ihnen manifestiert. Aus Angst vor der Möglichkeit der Ausführung dieser Handlungen, deren Ausführung selbst sowie ihren Folgen, vor denen es die Gesellschaft durch Tabuisierung zu schützen gilt, sind Folter und Nuklearwaffen geächtet, wobei im Falle der Nuklearwaffen mit dieser Ächtung auch ihre Achtung als Totemobjekte einhergeht, für die es im Fall der Folter kein Pendant gibt. Gründet sich also die Faszination der nuklearen Technologie auf die Ästhetik der Waffen sowie insbesondere ihrer Explosionen und kann dem Totem nicht nur direkt durch zeremonielle Zurschaustellung, sondern auch indirekt durch das Aufgreifen von Bildmotiven wie dem Atompilz öffentlich gehuldigt werden, lässt sich für Folter das Gegenteil feststellen: Weder liegt ein Totem vor noch sind Symbole oder Visualisierungen der Handlung öffentlich präsentierbar und stilisierbar.536 Hier reicht die Tabuisierung des Themas soweit, dass eine direkte Auseinandersetzung, z.B. mit Folterinstrumenten nur auf einer abstrakten, historischen Ebene oder aus einer sicheren geographischen Distanz heraus erträglich zu sein scheint. So ordnet der Besuch ehemaliger Folterkammern diese Praxis einer längst vergangenen Epoche zu, während aktuelle Bilder sie mit dem Zweck von shaming und blaming in eine fremde und (zumindest in dieser Hinsicht) rückständige Kultur verweisen. In Abgrenzung zu dieser Skandalisierung und „Archaisierung“ von Folter werden Nuklearwaffen – ebenfalls ausschließlich auf einer abstrakten Ebene – als ein Symbol militärischer, technischer und wissenschaftlicher Progressivität angesehen, das unabhängig von der tödlichen Wirkung der Waffe betrachtet werden kann und auf das nicht nur ForscherInnen, sondern ganze Nationen stolz sein können. Die besondere Mystik des nuklearen Tabus wird dabei durch die vorrangig strategischen Überlegungen geschuldete Verheimlichung des eigentlichen Forschungsprozesses noch erhöht, wohingegen das Nicht-Publizieren möglicherweise ebenso innovativer Foltermethoden eher dem Totschweigen des Themas generell entspricht: Die Vorstellung eines Staates, der sich als mit modernster Foltertechnik ausgestattet präsentiert, ist schlichtweg bizarr. Folter eignet sich auch deshalb nicht als Statussymbol, weil ihr nicht die Funktion eines Schutzgeistes zugeschrieben wird – obwohl dies im Hinblick auf die Informationsgewinnung, z.B. über die Kriegsstrategie des Feindes, durchaus rational begründbar wäre – die der Aufbau eines Nukleararsenals qua Abschreckungslogik tatsächlich erfüllt. Kann man bei der nuklearen Nicht-Einsatz-Norm ihre rationale – eben abschreckungsbasierte – Komponente nicht von der Hand weisen, scheint es sich beim Folterverbot zumindest zum Teil um eine nachträgliche Rationalisierung zu handeln, indem der Verzicht auf Folter zum Bestandteil des Fundaments 536 Dies zeigt sich z.B. auch in der Bildsprache bekannter Filme: Während Atompilze häufiger auf der Leinwand zu sehen sind und das Bild eines auf einer Nuklearbombe reitenden Soldaten aus „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben” beinahe jedem geläufig ist, werden Folterungen meist allenfalls angedeutet. So erregte kürzlich eine Szene des Films „Syriana“, in der dem Hollywoodschauspieler George Clooney von Hisbollah-Mitgliedern gefoltert wird, großes Aussehen, mehrmals wurden Forderungen laut, die Szene herauszuschneiden. – 146 – Zwi s che nf a zi t: Z we i gl ob al e T ab us moderner Staatlichkeit erkoren wurde.537 Aus dieser Perspektive ist auch die im Vergleich mit anderen Menschenrechtsnormen ungewöhnlich starke rechtliche Kodifizierung des Folterverbots zu verstehen – dass im Falle des nuklearen Tabus weder eine direkte völkerrechtliche Festschreibung vorliegt noch eine eindeutige, uneingeschränkte Herleitung aus anderen Rechtsnormen möglich war, macht einen weiteren bedeutenden Unterschied der beiden Fälle aus. Der unterschiedliche Rechtsstatus verhält sich interessanterweise genau umgekehrt zur Einhaltung der Normen: So wurde das Einsatzverbot in den letzten 60 Jahren niemals unterlaufen, Folterungen finden dagegen ständig statt. Auf der Ebene der diskursiven compliance kehrt sich das Verhältnis erneut um, denn während es für die Aufrechterhaltung des Folterverbots sowie für jeden Staat selbst zentral ist, uneingeschränkte Zustimmung zu einschlägigen Völkerrechtsnormen öffentlich und nachdrücklich zu bekunden, war der angedrohte Bruch des nuklearen Tabus jahrzehntelang ein bedeutender Teil offizieller staatlicher Sicherheitspolitik. Ein gewisser Grad an Denkbarkeit von nuklearen Einsätzen als last-resort-option musste schlichtweg bestehen, um die Glaubwürdigkeit der Abschreckungspolitik nicht zu untergraben und damit gleichzeitig die Einhaltung der Norm sicherzustellen. Angesichts der absoluten Gültigkeit des Folterverbots, das rechtlich und moralisch jede Ausnahme explizit untersagt, könnte eine solche Definierung von ultima ratioOptionen dagegen den Anfang vom Ende der Norm bedeuten. Die beiden Normen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Absolutheit, sondern, technisch bedingt, auch durch den Kreis ihrer Adressaten: Zwar ist das nukleare Tabu natürlich auch von denjenigen (bzw. verständlicherweise besonders von ihnen) als legitim und bewahrungswürdig anerkannt, denen die Option eines nuklearen Einsatzes mangels Verfügbarkeit der dafür notwendigen Nuklearwaffen gar nicht offen steht, die aber möglicherweise Ziel eines solchen Angriffs werden könnten. Unmittelbar gilt die Norm jedoch nur für einen kleinen Teil der Staatengemeinschaft, nämlich für die fünf im Sinne des NPT offiziellen und mindestens drei inoffiziellen Nuklearmächte, denn nur sie sind in der Lage, tatsächlich gegen das Tabu zu verstoßen. Im Gegenteil dazu ist das Folterverbot für alle Staaten von direkter Relevanz: Um zu foltern, muss man nicht notwendigerweise über hochentwickelte Technik verfügen, so dass Folter in jedem Staat – im Sinne technischer Machbarkeit – möglich ist. Möglich im Sinne der Legitimierbarkeit ist sie hingegen in keinem Staat der Welt, würden entsprechende Rechtfertigungsversuche doch einer Verabschiedung aus dem Kreis der zivilisierten Nationen gleichkommen. Genauso wird auch entlang der Einhaltung des nuklearen Tabus eine Dichotomie zwischen Zivilisiertheit und Barbarei konstruiert. Inhumanes Verhalten, wie beispielsweise das Foltern oder Töten von 537 Zum Teil deshalb, da nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob die frühen Folterverbote tatsächlich v.a. dem Aufkommen einer neuen Staatsraison geschuldet waren und ob letztere nicht auch mit Ausnahmereglungen von ersteren weiterbestehen könnte, wie es bis ins 19. Jahrhundert der Fall war. – 147 – Zwi s che nf a zi t: Z we i gl ob al e T ab us Unschuldigen, ist mit dem Status eines Mitglieds der Gemeinschaft zivilisierter Staaten genauso wenig vereinbar, wie mit dem positiven Selbstbild einer Nation. Für die Identität der USA sind beide Normen – jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen – von besonderer Bedeutung: Die Herausbildung des vergleichbar jungen nuklearen Tabus steht in engem Zusammenhang mit der internationalen Vormachtstellung der Vereinigten Staaten und ist gewissermaßen ein „Urprodukt“ des modernen Amerika, das die Atombombe zuerst entwickelt und als einziges Land eingesetzt hat sowie noch heute die größte Nuklearmacht ist. Im Gegensatz zu diesen inländischen Entwicklungen handelt es sich beim Folterverbot um eine wesentlich ältere und in dreifacher Hinsicht „importierte Norm“ – durch die Anlehnung an englisches Recht, die biographischen Hintergründe der frühen Einwanderer sowie die Identifikation mit den Idealen der (kontinentaleuropäischen) Aufklärung. Aufgrund der Übernahme zur Zeit der Staatsgründung wurde gerade diese Norm zu einem Kernbestandteil der sich herausbildenden us-amerikanischen Identität, was sich insbesondere in den Bestrebungen der politischen Elite des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg niederschlug, diese Norm zu universalisieren. Angesichts der sich im Bewusstsein der Politik, der Wissenschaft, des Militärs und der Öffentlichkeit eingebrannten Präzedenzfälle kann die Entstehung des nuklearen Tabus vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Ablehnung nur bedingt auf Leistungen einzelner norm entrepreneurs zurückgeführt werden. Das jahrhundertelange Anschreiben von Normverfechtern gegen Folter war hingegen für die Etablierung zunächst nationaler Verbote ausschlaggebend. Ihre Argumente sollten aber auch Denken und Diskurs der Bevölkerung wie der Regierenden bis ins 20. Jahrhundert prägen, was sich schließlich in der völkerrechtlich Ächtung von Folter niederschlug. In Anbetracht der absoluten Geltung des Folterverbots, das keinerlei juristische Ausnahmen kennt, würde diese bereits durch den Versuch der öffentlichen Legitimierung eines Einzelfalls untergraben. Ein wichtiges Anzeichen für den Bruch des Foltertabus wäre also ein argumentativer Austausch über die Möglichkeit einer Legalisierung dieser Praxis, in dem auch Argumente für Folter als rational begründbar anerkannt würden. Da das nukleare Einsatzverbot hingegen niemals rechtlich festgeschrieben wurde und als ultima ratio schon immer – theoretisch – auch völkerrechtlich gerechtfertigt werden konnte, kann eine Tabuschwächung also auch nicht an der Definierung von Ausnahmeregelungen festgemacht werden (wobei eine Ausweitung der letzteren einen Hinweis darstellen könnte). Zentral wäre in diesem Fall vielmehr eine Hinterfragung der besonderen Natur von Nuklearwaffen, das Verwischen der bright line zwischen weapons of last resort und konventionellen Waffen, indem, wie auch bei Folter, darauf verwiesen würde, dass neue Formen von Nukleareinsätzen gerade im Vergleich zu anderen Waffen aus rationalen Überlegungen geboten werden. Ernsthaft geführten Diskussionen über eine Legalisierung von Ausnahmeregelungen im einen Fall stünde also die diskursive Konventionalisierung im anderen gegenüber. In beiden Fällen brächten Debatten über solche Optionen sowohl eine Ausweitung der Denkräume der beteiligten Akteure zum Ausdruck, für die das Hinterfragen des Tabus wieder denkbar geworden wäre, als auch deren erweiterten Handlungsspielraum im Hinblick auf den Einsatz von Folter und Nuklearwaffen. – 148 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e 6. Erosion zweier internationaler Tabus 6.1 Erosion des Folterverbots Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Kapitels über die Entstehung und heutige Wirkung des absoluten Folterverbotes soll den LeserInnen im Folgenden ermöglicht werden, dessen rasche Erosion in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts nachzuvollziehen. Ebenso wie bei der nachfolgenden Beschreibung der Erosion des nuklearen Tabus wird hierzu kein vollständiger Überblick über die ausgewerteten Dokumente gegeben, sondern der Erosionsprozess aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, wobei die einzelnen Unterkapitel jedoch aufeinander aufbauen: Einer Übersicht über den ungefähren zeitlichen Ablauf der Debatte, deren Fehlen in den 1990er Jahren und Höhepunkten nach dem 11. September 2001 (6.1.1), folgt eine über die wichtigsten Protagonisten, die den Diskussionsprozess maßgeblich vorangetrieben haben – wobei hier kaum von geschlossenen Akteursgruppen die Rede sein kann, da deren Vertreter in der Folterfrage oftmals konträre Positionen einnehmen (6.1.2). Daran anschließend werden die häufigsten Argumente für und gegen den Fortbestand der absoluten Gültigkeit der Norm vorgestellt sowie vor dem Hintergrund der beschriebenen Akteure und theoretischer Überlegungen eingeordnet (6.1.3). Im Fazit dieses zweiten Teils der Folterfallstudie (6.1.4) wird diskutiert, inwiefern der Erosionsprozess den zuvor beschriebenen Kriterien für eine Schwächung des Tabus tatsächlich entspricht und welche Aspekte der Diskussion besondere Anhaltspunkte dafür bieten können, wie die Erosion der Norm möglich wurde. 6.1.1 Zeitraum und Ablauf der Debatte Zunächst ist im Hinblick auf die Diskussion um das Folterverbot festzustellen, dass diese sehr breit geführt wurde und in ihrem Verlauf nahezu alle Formen gesellschaftlicher Gruppierungen – von Anwaltskammer und Ärztelobby bis zu Zeitungsverlegern und Zeithistorikern – erfasste. Entsprechend umfangreich war die untersuchte Datenmenge: Von den insgesamt 5330 Treffern der Jahrgänge 1995 bis 2004 der New York Times und der USA Today wurden insgesamt 523 Artikel in die Analyse einbezogen, wobei die hohe Trefferzahl eine Unterscheidung in besonders wichtige („direkt relevante“) Dokumente (240) und eher für die Hintergründe der Argumentation bedeutende („indirekt relevante“) Artikel (273) erforderlich machte, welche weniger aufwendig ausgewertet wurden. Aufgrund dieser Unterscheidung und durch das Weglassen sämtlicher Jahrgänge der Washington Post und einer nur sehr groben Auswertung der Treffer aus NYT und USA Today für das Jahr 2005 (aber unter Berücksichtigung von 37 Verweisdokumenten)538 ergab sich mit 650 538 Die Verweisdokumente waren unterschiedlichster Art: Neben einigen Artikeln nicht untersuchter Zeitungen wurden u.a. einige hearings und Reden von Regierungsmitgliedern sowie offizielle Untersuchungsberichte und Anklageschriften von Menschenrechts-NGOs ausgewertet. Besondere Beachtung verdienen die vier in die Analyse einbezogenen Monographien der norm challenger Dershowitz (Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven) und Ignatieff – 149 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e berücksichtigten Argumenten eine ähnlich hohe Anzahl wie bei der Untersuchung des nuklearen Tabus (vgl. Excel-Tabelle im Anhang).539 Entsprechend der Ausweitung der Debatte stieg die Anzahl der veröffentlichten Artikel zum Thema Folterverbot nach 2001 kontinuierlich an. Einen Eindruck von dieser Entwicklung vermittelt die folgende Darstellung, deren Angaben zwar nicht als exakt missverstanden werden sollten,540 anhand derer sich aber deutlich ablesen lässt, dass der Verlauf der Debatte an einige zentrale Ereignisse geknüpft ist: Abb. 1: Verteilung als direkt relevant eingestufter Dokumente zur Folterdiskussion Vor dem 11. September 2001: Letzte Schritte bei der Internalisierung des Folterverbots „Are you nuts?” 541 Auffällig, wenn auch unseren Annahmen entsprechend, ist zunächst, dass in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kaum Treffer zu verzeichnen waren. In den wenigen Artikeln, die das 539 540 541 (Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh) auf der einen sowie der Abu Ghraib-Aufklärer Danner (Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York) und Greenberg/Dratel (Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.) 2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge) auf der anderen Seite. Hintergrund der nur groben Auswertung der Treffer aus dem Jahr 2005 war nicht nur der unverhältnismäßig große Umfang der Datenmenge, sondern auch die Tatsache, dass die Diskussion in der zweiten Hälfte des Jahres 2004 deutlich abebbte. Zwar flammte sie im Sommer des folgenden Jahres wieder auf, doch traten hier weder neue Akteure innerhalb der USA auf den Plan (vielmehr wurde sie von der Kritik europäischer Staaten erneut angestoßen), noch wurden neue Argumente auf beiden Seiten vorgebracht. Anhand einiger Artikel über den Diskussionsverlauf selbst lässt sich jedoch schließen, welche Gruppen sich neu positionierten und Argumentationsweisen – auch der Gegenseite – übernahmen. S. S. 179 der Arbeit. Die Zahlen sollten deshalb nicht absolut genommen werden, da sich z.B. einige Argumente derart häufig wiederholten, dass sie nicht mehr als direkt, sondern nur noch als indirekt relevant gezählt wurden. Darüber hinaus wurden nach dem Losbrechen der Diskussion um die absolute Gültigkeit des Tabus selbst einige Entwicklungen vernachlässigt, die für den Nachweis der Internalisierung der Norm vor dieser Zeit wichtig gewesen waren (etwa Klagen über Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten), so dass die Trefferzahl nach 2001 noch höher hätte ausfallen können. Antwort eines US-amerikanischen Geheimdienstagenten auf die Frage eines arabischen Kollegen, ob man einen Gefangenen mit Folter zum Reden bringen solle (im Juli 2001). Zitiert nach: Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times, 09.05.2004. – 150 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Thema Folter in oder durch die USA zum Thema hatten, wurde die Gültigkeit der Norm nicht infrage gestellt, vielmehr hoben sie Schritte zu einer (noch) stärkeren Internalisierung der Norm lobend hervor. So stand die Unterzeichnung des Torture Victim Protection Act 1992 durch George H. Bush im Einklang mit seinem „strong and continuing commitment to advancing respect for and protection of human rights throughout the world ”, wobei die Forderung, dass „[t]he United States must continue its vigorous efforts to bring the practice of torture and other gross abuses of human rights to an end wherever they occur”542 damals wohl kein Lippenbekenntnis war. Denn der Beginn des eigentlichen Untersuchungszeitraums Mitte der 1990er Jahre ist von dem Streben geprägt, die letzten „institutionellen Sümpfe“ der Geheimdienste sowie (kleiner) Teile von Armee und Polizei, in denen – verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit – noch Folterungen stattgefunden hatten, endgültig trockenzulegen. Sowohl das Bekanntwerden eines Armeehandbuches, welches in bestimmen Verhörsituationen Folterungen nahe legte und bei der Ausbildung von Militärs in „befreundeten“ lateinamerikanischen Staaten bis in die 1980er Jahre eingesetzt worden war wie auch ein Fall besonders brutaler Misshandlungen eines verhafteten Einwanderers durch die New Yorker Polizei lösten gleichzeitig heftige öffentliche Proteste und politische Reformanstrengungen aus.543 Für eine internalisierte, affektive Ablehnung von Folterungen spricht auch, dass letztere im Hinblick auf andere Staaten immer wieder kritisiert wurden und mehrfach zu einer Kürzung oder Einstellung von Entwicklungshilfezahlungen führte. Selbst im Fall erster islamistischer Terroranschläge wurde Folter nicht als Option wahrgenommen, sondern im Gegenteil der verfassungsgemäße Umgang mit dem Drahtzieher des Oklahoma City Bombings, Timothy McVeigh, den zu diesem Zeitpunkt in eine Folterdebatte vertieften Israelis als Gegenbeispiel vor Augen geführt. Ebenso wurde auf die Folterungen der des Anschlags auf die kenianische US-Botschaft Verdächtigten in Nairobi entsetzt reagiert – und noch bis kurz vor „9-11“ schien diese Haltung selbst Geheimdienstagenten selbstverständlich, wie das Eingangszitat zeigt. 542 543 Rede George H. Bushs bei der Unterzeichnung des Torture Victim Protection Act von 1991 am 12. März 1992. Die auch vor dem Hintergrund von bekannt gewordenen Folterfällen während der 1980er Jahre in Guatemala gemachte Ankündigung des neuen CIA-Chefs, John Deutch, er wolle dafür sorgen, dass jeder seiner Mitarbeiter „American interests and American values at heart” habe, wurde ebenso ernst genommen, wie die Vorschläge diverser Untersuchungskommissionen zum Verhalten der New Yorker Polizei insbesondere im Umgang mit Minderheiten (zitiert nach Weiner, Tim 1995: New C.I.A. Chief Wants to Revamp U.S. Spying Overseas, in: New York Times, 13.07.1995). Im Hinblick auf den ersten Fall wurden keinerlei Rechtfertigungsversuche seitens der Geheimdienste vorgebracht, vielmehr die Vorwürfe, das gezeigte Verhalten sei „unacceptable in the intelligence service of a democratic society ” widerspruchslos „geschluckt“. Im zweiten Fall forderte ein Anwalt der beschuldigten New Yorker Polizeibeamten lediglich, die Gerichtsverhandlungen außerhalb der Stadt abzuhalten, um trotz der großen öffentlichen Proteste ein faires Verfahren für seine Mandanten garantieren zu können (Editorial der New York Times vom 18. August 1996 unter dem Titel „Making the C.I.A. Accountable ” und Artikel der New York Times vom 17. Februar 1999 mit dem Titel „Louima Case Jeopardized, Lawyers Say ”). – 151 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Die Primärquellen unterstützen jedoch nicht nur die Annahme einer Internalisierung der Norm innerhalb der USA, darüber hinaus spiegelt sich in vielen der Artikeln aus den 1990er Jahren auch die Einstellung, mit dem Ende des Kalten Krieges sei nun weltweit das „Zeitalter der Menschenrechte“ angebrochen,544 als dessen wichtigste Vorboten die Festnahme Augusto Pinochets 1998 und auch die als humanitäre Intervention aufgefassten Angriffe auf Jugoslawien gesehen wurden. Als besonderen Beitrag der USA zu dieser Entwicklung wurde die Zunahme von Fällen gewertet, die gegen ausländische Menschenrechtsverbrecher unter dem Alien Tort Claims Act verhandelt wurden:545 Im September 1996 gestand ein USamerikanisches Gericht einem Folteropfer erstmals zu, einen Staat (Argentinien) anklagen zu können, im Herbst 2000 kamen u.a. zwei große Verfahren gegen Li Peng, der in seiner damaligen Funktion als chinesischer Premierminister das Massaker auf dem Tinananmen-Platz mitangeordnet hatte, und den früheren bosnischen Frührer Radovan Karadzic hinzu. Auch wenige Stunden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bestand Außenminister Colin Powell darauf, die Unterzeichung der Inter-American Democratic Charter, deren zweites Kapitel ein Folterverbot enthält, auf einer Konferenz der OAS in Lima vorzuziehen, damit er noch seine Unterschrift leisten konnte – dies sei „the most important thing I can do before departing to go back to Washington, DC.”, so Powell.546 Insgesamt bestätigen also die Primärquellen aus der Zeit vor „9-11“ die bereits anhand der Sekundärliteratur in Kapitel 5.1 gewonnene Vermutung, dass das Foltertabu in den USA quer durch alle Gesellschaftsschichten internalisiert war, als positiver Bestandteil der eigenen Identität gewertet und Fälle von non-compliance ebenso selbstverständlich skandalisiert wurden, wie diese von Seiten der Täter nicht zu rechtfertigen versucht wurden. Nach dem 11. September 2001: „Time to think about torture” „It’s a new world, and survival may well require old techniques that seemed out of the question.” 547 Die ersten Artikel, die die deutlichen Rufe nach einer Einschränkung der Gültigkeit des Folterverbots wiedergaben, erschienen im Oktober und November 2001, wie das Eingangszitat zeigt, wobei deren Autoren den Beginn der Debatte unter den US-BürgerInnen noch einige Wochen früher – und damit direkt nach den Ereignissen vom 11. September – verorteten. Diese (an der Anzahl veröffentlichter Artikel gemessen) noch recht beschränkte 544 545 546 547 So eröffnete David Rieff 1999 einen Gastbeitrag in der New York Times mit den Worten „The age of human rights is upon us.” Rieff, David 1999: The Precarious Triumph of Human Rights, in: New York Times, 08. August 1999. Vgl. etwa Sullivan, John 2000: The World; American Justice Tackles Rights Abuses Abroad, in: The New York Times, 03.09.2000. Zitiert nach Amnesty International 2003: United States of America: Memorandum to the US Government on the rights of people in US custody in Afghanistan and Guantanamo Bay, S. 34. Der Text der OASCharta findet sich online unter: <http://www.oas.org/OASpage/eng/Documents/Democratic_ Charter.htm>, rev. 16.07.2006. Titel und Untertitel eines Gastbeitrags des Newsweek-Herausgebers Jonathan Alter in der New York Times vom 05. November 2001. – 152 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Debatte weitete sich insbesondere im März 2002 und 2003 zeitweise aus, nämlich jeweils nach der Festnahme bedeutender Schlüsselpersonen des al-Qaida-Netzwerkes durch das USMilitär. Die Frage, ob man Folter vor dem Hintergrund der Ereignisse von „9-11“ wieder erlauben sollte, wurde ab hier also nur noch teilweise abstrakt geführt und vielfach mit der verknüpft, wie man Abu Zubaidah, den ab November 2001 angeblich höchsten Militärstrategen der al Qaida und Khalid Shaikh Mohammed, den mutmaßlichen Architekten der Anschläge am 11. September, sicherheitstechnisch wichtige Informationen abringen könnte. Obwohl sich nun mehr Akteure an der Debatte zu beteiligen schienen, als direkt nach „9-11“, blieb die Berichterstattung auf vereinzelte Artikel begrenzt, die noch nicht aufeinander Bezug nahmen. Selbst die Eröffnung des ersten Gefangenenlagers in Guantanamo Bay auf Kuba, Camp X-Ray, im Januar 2002 rief noch vergleichsweise wenige Kritiker auf den Plan. Mehr Aufmerksamkeit zog dagegen die Veröffentlichung einer Monographie von Alan Dershowitz, Rechtswissenschaftler an der Universität Harvard, mit dem Titel „Why Terrorism Works” auf sich – insbesondere die Argumente des Autor für eine ernsthafte Erwägung des Einsatzes von Folter im Kampf gegen den Terrorismus und die Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Selbstverständnis einer modernen Demokratie erfuhr im Verlauf des Jahres im Rahmen von (kritische) Würdigungen.548 Rezensionen über die untersuchten Zeitungen hinaus Dennoch fiel die mit Abstand größte Anzahl relevanter Artikel (wie zu erwarten war) auf die Zeit nach der Veröffentlichung erster Bilder aus dem Bagdader Abu Ghraib-Gefängnis, welches die US-Truppen bereits kurz nach dem Fall Bagdads wiedereröffnet hatten (die Bilder selbst stammen aus dem Herbst 2003). Wie so oft trug erst eine Visualisierung der Debatte zu deren nunmehr rasanten Ausbreitung bei; nachdem die Fotos von Misshandlungen am 28. April 2004 in der CBS-Sendung „60 Minutes” gezeigt worden waren, machten sie weltweit Schlagzeilen – wobei in den USA sofort eine Debatte darüber aufflammte, ob man die schockierenden Bilder überhaupt hätte zeigen dürfen.549 Die laufende Folterdiskussion kreiste nur noch um diese Aufnahmen, wobei in der überwiegenden Mehrzahl der Artikel NormbefürworterInnen ihr Entsetzen zum Ausdruck brachten, während andere Stimmen die Ereignisse als bedauerliche Einzelfälle oder gar als normales Kriegsgeschehen einordneten. Offener wurde die nun zunehmend an Schärfe gewinnende Diskussion in den folgenden beiden Monaten, die v.a. durch das Bekanntwerden diverser, zunächst geheim gehaltener Memoranden aus den inneren Zirkeln der US548 549 S. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 162. Selbst Donald Rumsfeld versuchte sein Versäumnis, auf bereits seit längerem vorliegende Berichte insbesondere des Roten Kreuzes über die Zustände in Abu Ghraib zu reagieren, mit dem Hinweis zu rechtfertigen, erst die Bilder hätten ihm das Ausmaß der Katastrophe vor Augen geführt, vgl. Bernstein, Carl 2004: History lesson: GOP must stop Bush, in: USA Today, 24.05.2004. Aufgrund des vielfachen Nachdrucks der Bilder auch in Deutschland kann auf eine Beschreibung im Rahmen dieser Arbeit – ganz im Sinne des Tabus – wohl verzichtet werden. Der weitaus größere und (wahrscheinlich) noch weit schockierendere Teil der Aufnahmen (Fotos und Videos) wird weiterhin unter Verschluss gehalten. – 153 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Administration, in denen eine Reihe umstrittener Verhörmethoden zu legalen Mitteln im Kampf gegen den Terrorismus erklärt, eine neue, extrem enge Definition von Folter entwickelt und einschlägige internationale Abkommen in diesem Zusammenhang als irrelevant eingestuft wurden. In diese Zeit fallen viele hearings sowie die Publikation mehrerer detaillierter Berichte über die Ereignisse, die zu dem Skandal um Abu Ghraib geführt hatten und über eventuelle. Zusammenhänge dieser Missstände mit den publizierten Memos.550 Dass die Debatte gegen Ende des Sommers 2004 in Medien und Politik recht schnell abebbte, ist insofern erstaunlich, als in die letzten Monate des Jahres 2004 eine Reihe von Klagen über die Zustände im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba fielen, die jedoch weder Proteststürme auf Seiten der BefürworterInnen der Norm, noch Rechtfertigungsversuche auf Seiten ihrer Gegner zur Folge hatten. Anfang 2005 erklärte die NYT die Diskussion zunächst für tot.551 Erst als die europäischen Verbündeten der USA im Kampf gegen den Terrorismus552 offen für die Schließung von „Gitmo” eintraten und dies in der Bezeichnung des Lagers als „gulag of our times” durch die Generalsekretärin von Amnesty International, Irene Khan, ihren Widerhall fand,553 lebte die Diskussion Ende Mai / Anfang Juni des Jahres wieder auf, wobei zwar die Empörung über die Zustände in Guantanamo nur wenig hinter der über die Abu Ghraib-Bilder zurückblieb. Anders als im Jahr zuvor wurde jedoch rhetorisch weniger scharf geschossen und ein Teil der ehemaligen BefürworterInnen einer Beibehaltung der absoluten Gültigkeit des Folterverbots laut über die Notwendigkeit einiger „harter Verhörmethoden“ nachzudenken begann.554 Nach einer kurzen Ruhephase mündete die Debatte schließlich in die Auseinandersetzung im US-Kongress um ein neues nationales Gesetz zur Einschränkung von Verhörmethoden bei jeglichen Gefangenen in US-Gewahrsam im Winter 2005, dem „Amendment on (1) the Army Field 550 551 552 553 554 Zu nennen sind hier insbesondere die beiden innerhalb des US-Militärs angefertigten Berichte, der sog. „Taguba Report”, online unter: <http://news.findlaw.com/nytimes/docs/iraq/tagubarpt.html>, rev. 19.07.2006 und der sog. „Fay Report”, online unter: <http://news.findlaw.com/nytimes/docs/iraq /tagubarpt.html>, rev. 19.07.2006. Einen wesentlich breiteren Fokus wählten die vom DOD unabhängigen Autoren des sog. „Schlesinger Report”, online unter: <http://www.defenselink.mil/news/Aug2004 /d20040824finalreport.pdf>, rev. 19.07.2006), dessen Inhalt deshalb unten diskutiert wird, s. S. 176 der Arbeit. Vgl. etwa einen Leserbrief in der NYT, der am 02. März 2005 unter dem Titel „Silence on Torture” erschien: „Where is the outcry from the media regarding this despicable policy [Festhalten von Gefangenen in Guantanamo, SoSchi]? Where are all the enlightened conservatives who decry America’s eroding values? I would like to believe that they are sincere in their beliefs, but their silence on this matter speaks volumes about where their true interests lie.” Die Mehrzahl der US-amerikanischen Quellen fasst die Gegenmaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten in Folge des 11. September 2001 unter dem Stichwort War on Terror zusammen, während sie in Deutschland meist als „Kampf“ (und nicht „Krieg“) gegen den „Terrorismus“ (und nicht den auf die Beteiligung von Staaten hinweisenden „Terror“) bezeichnet werden. Auch aus normativen Gründen haben wir uns für die vom Originalbegriff abweichende deutsche Variante entschieden, ebenso wie für die Einordnung der Ereignisse von „9-11“ als „Anschläge“ und nicht als „attacks”. Zitiert nach einem Editorial der New York Times vom 06. Mai 2006 dem Titel „Un-American by Any Name”. Dies tat selbst der ehemalige Herausgeber der sonst gegen jegliche Form „verschärfter Verhörmethoden“ wetternden New York Times, Joseph Lelyveld, in einem mehr als 8000 Worte umfassenden Essay, der am 12. Juni 2005 unter dem Titel „Interrogating Ourselves” in der NYT veröffentlicht wurde. – 154 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Manual and (2) Cruel, Inhumane, Degrading Treatment, amendment #1977 ”, das nach dessen Initiator, Senator John McCain, auch etwas kürzer als McCain Amendment 1977 bezeichnet wird. Im Hinblick auf dieses Gesetz sowie die Diskussionen um Guantanamo Bay ist darauf hinzuweisen, dass die Debatten über angemessene Verhörmethoden sehr eng mit denen um den Status der Inhaftierten als Kriegsgefangene (engl. Prisoners of War, kurz POWs) im Sinne der Genfer Konventionen verknüpft waren und sind. Auch ein Großteil der Memos der USAdministration kreiste um die Frage, wie man die Einordnung der Gefangenen in diese Kategorie juristisch umgehen könne. Ich habe versucht, hier so weit wie möglich eine (künstliche) Trennung der Diskussion vorzunehmen, was nicht immer einfach war. In vielerlei Hinsicht hat es sich auch als schwierig erwiesen, die Diskussion um eine Legalisierung von Folter von den Reaktionen auf die Misshandlungen in Abu Ghraib zu trennen – da die Debatte auch hier nicht abstrakt geführt, sondern mit der Frage, welchen Stellenwert die Ereignisse in Abu Ghraib für die USA allgemein hätten, verknüpft wurde, war dies teilweise unmöglich. Der Versuch, die Frage, wie es zur Praxis in Abu Ghraib kommen konnte ebenso wie die juristischen Spitzfindigkeiten der Memos zur Anwendung des POW-Status so weit als möglich zu umgehen, ist zwar bedauerlich, im Hinblick auf den Umfang einer Magistraarbeit jedoch notwendig. Zudem erscheint eine genauere Beschreibung dieser Debatten für die Beantwortung der Kernfrage – wie es zur Diskussion um eine Legalisierung, nicht zur Anwendung von Folter kommen konnte – nur indirekt relevant. Wichtig erscheint also insbesondere, welche Akteure Folter zuerst wieder als ein legitimes Mittel im Kampf gegen den Terrorismus ansahen und welche Gruppen in diese Forderung einstimmten. 6.1.2 Akteurspositionen für und gegen eine Legalisierung von Folter Die beiden erstaunlichsten Befunde aus der Analyse der nach dem 11. September veröffentlichten Primärquellen im Hinblick auf die wichtigsten Akteurspositionen sind – um das Wichtigste vorwegzunehmen – dass es, erstens, kaum Akteursgruppen gab, die sich geschlossen für oder gegen eine Legalisierung von Folter positionierten und dass, zweitens, die öffentliche Debatte um eine Wiedereinführung von Vertretern derjenigen Gruppen angestoßen wurde, die die Norm schon früh internalisiert hatten, nämlich von seitens der Bevölkerung und der Medien. Hingegen haben Mitglieder derjenigen Gruppen, die die Norm bald in der Praxis vielfach brechen sollten (Geheimdienste und Militär) bzw. dieses Handeln insgeheim billigten (Administration), ihre non-compliance gegenüber der Öffentlichkeit über Jahre hinweg vehement dementiert. Überspitzt könnte man sagen, dass Regierung und Administration damit ein sperrangelweit offen stehendes window of opportunity übersahen oder bewusst ignorierten – und sich damit innenpolitisch wohl mehr schadeten, als wenn sie die Anwendung „harter Verhörmethoden“ von Beginn an offen gelegt und als notwendig hingestellt hätten. – 155 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Winter 2001: Vom Stammtisch in die Medienlandschaft Als Präsident Bush die BürgerInnen der USA am 10. Dezember 2001 (dem Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) dazu aufrief „to honor the legacy of human rights passed down to us from previous generations and to resolve that such liberties will prevail in our nation and throughout the world as we move into the 21st century” ,555 hatten diese bereits eine Debatte über die Notwendigkeit einer Wiedereinführung von Folter begonnen: „[T]orture is already a topic of discussion in bars, on commuter trains, and at dinner tables” stellte die New York Times knapp sechs Wochen nach den Anschlägen fest.556 Welcher Anteil der Bevölkerung eine Position für oder gegen Folter einnahm, lässt sich leider nicht nachvollziehen, da aus dieser frühen Zeit keine Umfragen vorliegen. Die Autorinnen und Autoren der Leserbriefe, die die New York Times insbesondere im November zu dieser Frage veröffentlichte, positionieren sich häufiger gegen, als für Folter, was jedoch auch der generell links-liberalen Grundausrichtung der Zeitung (und also auch eines Großteils der Leserschaft) geschuldet sein kann – die Anzahl der Leserbriefe selbst lässt allerdings vermuten, dass die öffentliche Diskussion das Tabu, über Folterungen zu sprechen, bereits unterspült hatte.557 Nur aus dem Pflichtgefühl heraus, laufende Debatten zu begleiten und wiederzugeben, hätten sich seriöse JournalistInnen dieses Themas angenommen, so der Autor des ersten längeren Artikels der NYT zur Folterdebatte.558 CBS News lehne eine Berichterstattung über die Diskussion gar rundweg ab – solange es keinerlei Anzeichen dafür gäbe, dass die Regierenden solche Schritte in Erwägung zögen, sei das Thema an Stammtischen und bei (weniger seriösen) Showmastern gut aufgehoben.559 Letzteres war eine klare Anspielung auf Fernsehdiskussionen, deren Moderatoren weniger Skrupel hatten, die neu entbrannte Folterdiskussion (positiv) zu kommentieren und dies nicht nur auf FOX News, sondern auch auf CNN, das folgenden „Denkanstoß“ lieferte: „A little food for thought, Bill. 1995. Filipino authorities arrest a guy named Abdul Murad. They torture him. Under torture, he admits that he was planning to bring down 11 American airliners, blow up the CIA, kill the pope. Torture is bad. Keep in mind, some things are worse. And under certain circumstances, it may be the lesser of two evils. Because some evils are pretty evil.“560 555 556 557 558 559 560 Zitiert nach Amnesty International 2003: United States of America: Memorandum to the US Government on the rights of people in US custody in Afghanistan and Guantanamo Bay, S. 8. Rutenberg, Jim 2001: Torture Seeks into Discussion by News Media, in: New York Times, 05.11.2001. Vgl. die Leserbriefe unter der Debattenüberschrift „In Desperate Times, Talking of Torture”, abgedruckt in der Ausgabe vom 08. November 2001 sowie diejenigen vom 12. und vom 18. November mit den Überschriften „Torture is Un-American ” und „Liberty and Security in the Age of Terror”. Rutenberg, Jim 2001: Torture Seeks into Discussion by News Media, in: New York Times, 05.11.2001. Wie oben beschrieben war es dann tatsächlich das Team von CBS News, dass die Bilder von Abu Ghraib als erstes veröffentlichte. CNN 2001: Target Terrorism: Forcing Suspects to Talk, Transkript der Sendung CNN Crossfire vom 25. Oktober 2001. – 156 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Zwar wirft der Gegenspieler des Moderators ein, die USA seien eben nicht die Philippinen, doch hatten sich zu diesem Zeitpunkt auch bereits einige Kolumnisten mit der Frage auseinander gesetzt, ob Folter in den USA selbst wieder erlaubt werden sollte. Wenn Folter im Fall des philippinischen Islamisten gewirkt hätte, müsse man sich auch die Frage stellen, wie man Informationen aus den Drahtziehern des 11. September herausbekommen könnte, überlegten die Kolumnisten des Online Magazins Slate der Washington Post Group und auch des Wall Street Journal im Oktober 2001 und damit noch vor dem eingangs zitierten Jonathan Alter.561 Klar gegen jegliche Art von Folter positionierten sich dagegen jene Gruppen, die sich erstaunlicherweise ab Januar 2002 überhaupt nicht mehr zu Wort meldeten, nämlich Interessensverbände arabischstämmiger Amerikaner, die (zu Recht) eine Inhaftierungswelle unter Mitgliedern ihrer ethnischen Gruppe befürchteten.562 Dagegen sahen Vertreter von Menschenrechts-NGOs zunächst noch keinen Anlass, sich in die Diskussion einzuschalten – dies würde man erst tun, wenn sich die Debatte ausweiten sollte. Ähnlich wie die Sendeleitung von CBS gingen sie nicht davon aus, dass in der Regierung ähnliche Fragen aufgeworfen würden wie in der Bevölkerung: „To the government’s credit, it’s not the government proposing this [Folter anzuwenden, SoSchi]. It’s various commentators”, stellte der Direktor von Human Rights Watch (HRW), Kenneth Roth, im November 2001 fest.563 Die Unschuldsvermutung der Medien und des HRW für die Politik – gestützt auf entsprechende Aussagen hinsichtlich der Bedeutung von Menschenrechten – ist also ein Grund dafür, dass die Debatte nicht früher von mehr Akteuren ernstgenommen wurde. Hieran wird deutlich, dass das Thema Folter zunächst eine zweifache Spaltung der Medienlandschaft zur Folge hatte: Herausgeber von Zeitungen und Sendeleiter waren sich ebenso uneins darüber, ob man die Forderung nach Folter überhaupt thematisieren wie darüber, ob man diesen Überlegungen zustimmen sollte. Ausweitung der Debattenteilnehmer 2002 und 2003: „There are ways to make them talk”564 Vom Frühjahr 2002 bis in den Winter 2003 weitete sich die Debatte mehrfach kurzzeitig aus, wobei eine stetige Zunahme von Diskursteilnehmern zu verzeichnen war. Dies hing möglicherweise damit zusammen, dass die Debatte immer weniger abstrakt geführt wurde, vielmehr machte sich ihr Verlauf an der Inhaftierung dreier prominenter Gegner fest, von 561 562 563 564 Vgl. Lithwick, Dahila 2001: Tortured Justice, in: Slate, 24.10.2001 sowie Winik, Jay 2001: Security Comes Before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001. Entsprechend äußerte sich Hussein Ibish der PR-Chef des American Arab Anti-Discrimination Committee auf CNN: CNN 2001: Target Terrorism: Forcing Suspects to Talk, Transkript der Sendung CNN Crossfire vom 25. Oktober 2001. Zitiert nach Rutenberg, Jim 2001: Torture Seeks into Discussion by News Media, in: New York Times, 05.11.2001. Überschrift eines Kommentars von Eric Schmitt in der New York Times vom 20. Juni 2002. – 157 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e denen man sich wichtige Informationen erhoffte, nämlich der beiden al Qaida Kämpfer Abu Zubaidah und Khalid Shaik Mohammed im Frühjahr 2002 und 2003 und Saddam Husseins im Winter 2003. Bereits zu Beginn des Jahres 2002 wurde klar, dass man der Debatte um Folter – bzw. generell die Verhörmethoden (das Wort Folter fällt auffallend selten, s.u.) – kaum ausweichen konnte. Es lagen zwar erst wenige Stellungnahmen der Regierung vor, doch machte sie durch ihr Handeln – namentlich durch die Einrichtung von Gefangenenlagern auf Kuba – deutlich, dass sie sich nicht aus der Debatte herauszuhalten gedachte, wie es auch NGOs zunächst gehofft hatten. Diese reagierten nun insbesondere heftig auf Vorwürfe von Misshandlungen, die zunächst von in der Nähe des Kabuler Flughafen Bagram inhaftierten mutmaßlichen Kämpfern erhoben wurden – die ersten Berichte aus einer langen Reihe Anklageschriften über USGefangenenlager in aller Welt, vornehmlich veröffentlicht von Amnesty International, Human Rights Watch und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), wurden publiziert und teilweise von den Medien aufgegriffen. Ab Januar 2002 wandten sich große Menschenrechts-NGOs also regelmäßig und einhellig gegen den Einsatz jeglicher „harter Verhörmethoden“ und skandalisierten den Umgang der USA insbesondere mit ihren „unlawful combatants” – was sie zur einzigen Akteursgruppe macht, die in der Folterfrage einheitlich einer Meinung war und blieb. Auch, indem sie diesen Gruppen ein Forum gaben, durchgängig über ihre Aktivitäten berichteten und ihre Standpunkte in Editorials teilten, positionierten sich die Herausgeber und JournalistInnen der New York Times ebenfalls über weite Strecken der Debatte gegen das Handeln der Regierung – wenn auch nicht mehr explizit gegen das Führen einer Diskussion selbst. Demgegenüber berichteten die USA Today wie auch das Wall Street Journal nur sehr vereinzelt (und dem Regierungshandeln gegenüber weniger kritisch) über die Vorwürfe und ihre Hintergründe.565 Zumindest auf der Ebene der Frage, ob Folter angemessen sei (und nicht der, ob man diese Frage überhaupt stellen dürfe) blieb die Zeitungslandschaft also gespalten. Dies spiegelte sich auch in den veröffentlichten Leserbriefen, die zumindest einen Einblick von den in der Bevölkerung laufenden Debatten ermöglichen: Anders als die zwar zahlreichen, jedoch größtenteils gegen Folter eingestellten Leserbriefe, die an die NYT gerichtet werden, brachten die in der USA Today und im Wall Street Journal publizierten zeitweise viel Verständnis für „harte Verhörmethoden“ zum Ausdruck. 565 Diese Verteilung war für unsere Analyse natürlich problematisch, da wir in erster Linie an normfeindlichen Argumentationsweisen interessiert waren, die durch die NYT größtenteils nur indirekt (durch Zitieren oder Abgrenzen von Statements anderer Akteure) zu erfahren waren. Andererseits zeichnete sie sich gerade im Fall der Folterdiskussion durch die bei weitem ausführlichste Berichterstattung aus; anhand eher konservativer Blätter hätten sich der Verlauf der Debatte und die wichtigsten Ereignisse kaum nachvollziehen lassen. – 158 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Entsprechend fielen auch die Reaktionen auf das zweite (und letzte) wichtige Statement einer Vereinigung von besonders betroffenen gesellschaftlichen Gruppierungen aus: Aly Abuzaakouk, der Vorsitzende des American Muslim Council hatte sich darüber beklagt, dass den ersten in Guantanamo Bay eingetroffenen Gefangenen die Haare und Bärte geschoren und den afghanischen Kämpfern die Turbane weggenommen worden waren566 – und sich damit in den Augen der meisten Autorinnen und Autoren von Leserbriefen wegen völlig überzogener Kritik lächerlich gemacht.567 Offensichtlich stuften sie diese Handlungen nicht als illegitime Demütigungen ein, erste kritische Stimmen der europäischen Alliierten bezüglich der Verweigerung des Kriegsgefangenenstatus wurden hingegen durchaus ernst genommen. Für die Bevölkerung waren die laufenden Folterdiskussionen noch rein theoretischer Natur, zwar wurde die Verweigerung des POW-Status kritisiert, an staatlich gebilligte oder gar angeordnete Misshandlungen jedoch noch nicht geglaubt. So wurde auch die Veröffentlichung von Alan Dershowitz’ Monographie „Why Terrorism Works”, mit der sich der HarvardProfessor klar und öffentlich für Folter in bestimmten Fällen aussprach, teilweise als zu abstrakt bezeichnet.568 Allerdings wurde die von Dershowitz beschriebene Notwendigkeit einer Diskussion um das Thema von jedem der Rezensenten explizit geteilt, was wiederum belegt, dass es innerhalb der Zeitungslandschaft keine größeren Diskussionen mehr darüber gab, ob man eine (abstrakte) Debatte um das Thema Folter führen dürfe.569 Dershowitz’ Buch rief allgemein großes Aufsehen hervor, da es sämtliche moralischen Gründe für eine Legalisierung von Folter stilistisch geschickt und für jeden nachvollziehbar innerhalb eines Kapitels abhandelte. Auch diejenigen Kritiker, die seine Forderungen letztlich nicht teilten, zollten seiner logisch stringenten und moralisch herausfordernden Argumentationsweise Rechnung – im Gegensatz zu den früheren norm entrepreneurs wie Beccharia und Voltaire, die die bereits kursierenden Argumente elegant und verständlich zusammenfassten, könnte Dershowitz also als prominentester intellektueller „norm challenger” bezeichnet werden, der der entfachten Debatte um die Gültigkeit der Norm eine neue Qualität verlieh. Allerdings 566 567 568 569 Insbesondere letzteres war vor dem Hintergrund der einsetzenden Debatte um den POW-Status der Inhaftierten ein besonders heikler Punkt, da einige Juristen argumentierten, die schwarzen Turbane der Taliban-Kämpfer seien einer westlichen Uniform vergleichbar, die Kämpfer also als Kombattanten zu erkennen gewesen, weshalb sie nach der Genfer Konvention als Kriegsgefangene hätten behandelt werden müssen. Vgl. die Leserbriefe, die unter dem Titel „Prisoners don’t deserve special handling ” in der USA Today vom 17. Januar 2001 veröffentlicht wurden. Wie vielleicht vorherzusehen, wurde diese Kritik vom Rezensenten der USA Today geäußert, vgl. Minzesheimer, Bob 2002: Dershowitz explains ‚Why Terrorism Works’, in: USA Today, 29.08.2003. Vgl. etwa Gewen, Barry 2002: Thinking the Unthinkable, in: The New York Times, 15.11.2002: „Dershowitz enjoys getting people angry at him, and the chapter of ‚Why Terrorism Works’ that discusses torture seems explicitly designed to elicit outrage. But those who believe that they have principled objections to torture should read it. (…) He is at his best when forcing us to confront difficult questions about freedom, to think troubling, unpleasant thoughts.”, Minzesheimer, Bob 2002: Dershowitz explains ‚Why Terrorism Works’, in: USA Today, 29.08.2002: „Dershowitz’s contribution is to (…) play the role of intellectual provocateur.” oder Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.09.2002: „Dershowitz’s book will anger unreconstructed civil libertarians, the government-phobes on the extreme right, and Arafat’s European apologists. That is a considerable merit…”. – 159 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e machte Dershowitz’ Forderung, man solle sich mit der heiklen Frage auseinander setzen, bevor die Regierung Fakten schaffe, deutlich, dass auch er noch nicht an von Regierungsseite angeordnete Misshandlungen glaubte.570 (Von der gleichen Grundannahme ging auch der erste längere Artikel einer (öffentlich zugänglichen) Militärzeitschrift aus, der sich den Vor- und Nachteilen von Folterverhören zuwandte.)571 Der erste laut geäußerte Vorwurf, die USA würden sich bereits Folterungen – und nicht „Misshandlungen“, „harter Befragungen“ o.ä. – schuldig machen, kam aus einer vielleicht unerwarteten Ecke, nämlich von dem französischstämmigen Mitglied der Hamburger alQaida-Zelle Zacarias Moussaoui, der im September 2002 mit der Forderung „free Abu Zubaydah from C.I.A. torture chamber and bring him into my open court” den Gerichtssaal betrat und im November 2003 erklärte, „torture is now part of the American way of life.”572 Ähnlich äußerte sich im Januar 2003 auch das aus den USA stammende mutmaßliche alQaida-Mitglied Richard Reid, der diese Vorwürfe während seiner Gerichtsverhandlung im Januar 2003 erhob.573 Die Debatte, ob Gefangene in Drittländer verschickt werden sollten, um dort verhört, nicht explizit gefoltert zu werden, war jedoch schon ein Jahr zuvor, nach der Festnahme von Abu Zubaidah, aufgekommen, dessen Inhaftierungsort nicht bekannt gegeben wurde. Obwohl zu dieser Zeit bereits einige Artikel nicht mehr nur die theoretische Möglichkeit thematisierten, dass der Einsatz von Folter wieder notwendig werden könnte, sondern nun auf die praktischen Schwierigkeiten verwiesen, die bei Verhören von fundamentalistischen Islamisten wie Abu Zubaidah auftraten,574 die Diskussion über die Notwendigkeit eines Einsatzes von Folter insgesamt zunahm und sogar bereits von Fernsehserien aufgegriffen wurde,575 positionierte sich die US-Administration nach außen klar gegen die Spekulationen, die Regierung könnte diese Schritte ebenfalls in Erwägung ziehen oder gar bereits durchführen. Mit der Aussage, diese Vermutungen seien „wrong, inaccurate, not happening, and will not happen” gab Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eines der ersten absoluten Dementis zu eventuellen Verstrickungen der Administration in Fälle von Misshandlungen ab und damit 570 571 572 573 574 575 Vgl. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 162. Vgl. Smith, Paul J. 2002: Transnational Terrorism and the al Qaeda Model: Confronting New Realities, in: Parameters, Sommer 2002. Gerichtsverhandlung gegen Zacarias Moussaoui, zitiert nach: Shenon, Philip 2003: Judge Bars 9/11 Suspect From Being Own Lawyer, in: New York Times, 15.11.2003. Zitiert nach Shenon, Philip 2003: The Terror Suspect; Man Charged in Sept. 11 Attacks Demands That Qaeda Leaders Testify, in: New York Times, 22.03.2003 bzw. Transkript der Urteilsverkündung gegen den „Schuhbomber“ Richard Reid vor einem Bundesgericht in Boston: CNN 2002: Reid: „I am at war with your country“, Transkript der Urteilsverkündung gegen den „Schuhbomber“ Richard Reid vor einem Bundesgericht in Boston am 30. Januar 2003. Vgl. Shenon, Philip 2002: Intelligence: Officials Say Qaeda Suspect Has Given Useful Information, in: New York Times, 26.05.2002 oder Schmitt, Eric 2002: There are Ways to Make Them Talk, in: New York Times, 20.06.2002. Vgl. James, Caryn 2002: Critic’s Notebook; TV’s Take on Government In a Terror-Filled World, in: New York Times, 30.04.2002. – 160 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e eine Linie vor, die alle Mitglieder der Administration über den Zeitraum der gesamten Folterdiskussion hinweg durchzuhalten bemüht waren. Aus Stellungnahmen zu den später veröffentlichten Memos und den Texten selbst geht jedoch hervor, dass gerade in der Zeit nach der Festnahme von Abu Zubaidah und anderen hohen al Qaida- und Taliban-Kämpfern innerhalb der Administration ganz ähnliche Diskussionsprozesse abliefen, wie in der Bevölkerung, diese jedoch nicht offen nach außen getragen, sondern durchgängig dementiert wurden.576 Anhand der ab Mai 2004 veröffentlichten einschlägigen Memoranden wird deutlich, dass sich bereits kurz nach dem 11. September 2001 Juristen aus verschiedenen Institutionen der US-Administration den Fragen zuwandten, ob gegen Terrororganisationen Vergeltungsmaßnahmen sowie gegen diese „beherbergende“ Staaten präventive Militäraktionen durchgeführt werden könnten und ob den hierbei gemachten Gefangenen der Status von Prisoners of War zugesichert werden musste oder nicht.577 Wie weit die Meinungen innerhalb der Administration in diesen Fragen auseinander lagen, wird u.a. an einer Memo des damaligen Außenministers Colin Powell vom 26. Januar 2002 deutlich, in der er bereits auf die stark verkürzte und v.a. einseitige Argumentation der sich äußernden Juristen sowie auf Möglichkeiten hinwies, auch Gefangene mit POW-Status effektiv befragen zu können.578 Dass sich in den folgenden Jahren keine Memoranden des damaligen Außenministers mehr finden, ist der Tatsache geschuldet, dass er aufgrund seines „Störpotentials“ über die Entwicklungen nicht mehr auf dem Laufenden gehalten wurde. Die Haltung Bushs in der Folterfrage ist noch immer nicht ganz geklärt. Einerseits war er sicherlich über die Diskussionen innerhalb der Administration und erst recht über eventuelle covert operations (s.u.), in deren Rahmen die Gültigkeit sämtlicher Folterverbote faktisch außer Kraft gesetzt wurde, informiert. Andererseits sprach er auch innerhalb der Administration deutlich aus, dass auch Inhaftierte ohne Kriegsgefangenenstatus „humanely ” behandelt werden sollten, was bei den Autoren der Memos und der später eingerichteten working group durchaus ernst genommen wurde. Die gleichen Autoren, die bereits präventive Militärschläge und den POW-Status diskutiert hatten, wandten sich ab Februar 2002 der Frage zu, welche Methoden in Verhören von Inhaftierten von wem angeordnet und angewandt werden durften. Zu diesem Kreis gehörten insbesondere Jay Bybee, damaliger wie heutiger stellvertretender Justizminister, Alberto R. Gonzales, damals Mitglied des White House Council, seit 2005 Justizminister, William J. Haynes, damals wie heute Rechtsberater im DOD. 576 577 578 Vgl. hierzu auch den bereits am 22. September 2002 erschienenen Artikel von Bill Keller in der New York Times mit dem Titel „The Sunshine Warrior”, in dem er eine Quelle zitiert, laut der sich der damalige stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz in einer Kabinettssitzung gegen den Einsatz von Folter (ohne Umschreibung) gewandt hatte. Alle angeführten Memoranden sowie eine Zeitleiste zu deren Entstehung und eine Beschreibung ihrer Autoren finden sich in Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.) 2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge. Auch dieses Memorandum Powells findet sich abgedruckt in: Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.) 2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge, S. 122-125 (Memo Nr. 8). – 161 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Bybee war der Autor der ersten beiden Memos zur Folterfrage vom Februar und August 2002, erst im Oktober 2002 wurden seine Anregungen jedoch von einer Reihe von Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums, teilweise in Guantanamo stationiert, aufgegriffen und erste Übersichten erlaubter und verbotener Verhörmethoden erstellt (welche wiederum von anderen VerhörspezialistInnen gegenüber der höchsten militärischen Ebene, namentlich General Myers, dem Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff auch kritisiert wurden). Hieran wird zum einen deutlich, dass die Diskussion um die Notwendigkeit von Folterungen nach „9-11“ innerhalb der Administration erst ca. fünf Monate nach den Debatten in der Bevölkerung und den Medien einsetzte und zunächst von einem extrem begrenzten Personenkreis (schriftlich) geführt wurde. Offensichtlich reichte das Ereignis der Anschläge selbst also nicht aus, um die Diskussion auf der politischen Ebene „von selbst“ zu entfachen und anzuheizen; dies war erst der Fall, als im tatsächlichen Umgang mit inhaftierten Terrorverdächtigen immer offensichtlicher wurde, dass die üblichen Verhörmethoden versagten:579 „People were trying like hell how to ratchet up the pressure (…) We’d been at this for a year plus and got nothing out of them so officials concluded we need to have a less-cramped view of what torture is and is not.” Trotz dieser Schwierigkeiten waren aber nicht alle betroffenen MitarbeiterInnen der Administration und des Militärs bereit, sich von früheren Anti-Folternormen loszusagen. Um die rechtliche Grundlage der angezweifelten Verhörmethoden zu prüfen, ließ Donald Rumsfeld von Januar bis März 2003 eine Arbeitsgruppe innerhalb des DOD tagen, die die ranghöchsten Rechtsberater verschiedenster militärischer Institutionen (DOD Sekretariat, Army , Navy , Air Force und Militärgeheimdienst) umfasste. Der im April 2003 vorgelegte Bericht der Gruppe verwies nicht nur auf eine Reihe juristischer Schlupflöcher in internationalen und nationalen Folterverboten (insbesondere in den Genfer Konventionen, der UN Anti-Folterkonvention und der Verfassung der USA), sondern stellte auch einen Katalog von Argumenten zur Verfügung, mit denen sich Mitglieder des Militärs und der Administration im Falle eines Bekanntwerdens von Misshandlungen bedienen sollten.580 Dass Donald Rumsfeld die in verschiedene Härtegrade unterteilten Vorschläge für Verhörmethoden selbst genehmigen musste (und einige ablehnte), macht eine handschriftliche Notiz des Verteidigungsministers deutlich, in der er sein Unverständnis darüber zum Ausdruck brachte, dass die Gefangenen während der Verhöre maximal vier Stunden lang stehen dürften, während er häufig viel länger stehen müsse.581 579 580 581 In Guantanamo stationiertes Mitglied des US-Militärs, zitiert nach: Bravin, Jess 2004: Pentagon Report Set Framework for Use of Torture. Security or Legal Factors Could Trump Restrictions, Memo to Rumsfeld Argued, in: Wall Street Journal, 07.06.2004. Vgl. den Bericht der Working Group on Detainee Interrogations in the Global War on Terrorism vom 04. April 2003 (freigegeben am 21. Juni 2004) mit dem Titel „Detainee Interrogations in the Global War on Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy and Operational Considerations”, abgedruckt in: Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.) 2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge, S. 286-359 (Memo Nr. 26). Vgl. Jehl, Douglas 2004: Files Show Rumsfeld Rejected Some Efforts to Toughen Prison Rules, in: New York Times, 23.06.2004. – 162 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Obwohl die internen und öffentlichen Debatten spätestens ab dem Frühling 2003 also parallel liefen und der Administration ein umfangreiches Set von Argumenten zur Verfügung gestanden hätte, um „coercive methods” bei der Befragung von Terrorverdächtigen anzuwenden, versuchten die Regierenden nicht, die Meinung der schon länger in Folterdebatten verstrickten Bevölkerung zu beeinflussen, so dass sich diese noch längere Zeit über die Absichten der Regierung im Unklaren war. Vertreter des US-Militärs gaben zwar an, ihre Häftlinge psychisch unter Stress zu setzen (etwa, indem sie Gefangene aus kalten Klimazonen in möglichst warmen Räumen verhörten), Folterungen würden jedoch keine Option darstellen. Jegliche Form physischen Kontaktes wurde öffentlich ebenso ausgeschlossen wie der intern bereits von Vertretern der CIA geforderte Einsatz von Wahrheitsserum:582 „That’s not how we do business.”583 Zudem gab die Regierung im Sommer 2002 auch Anweisungen an ihre Delegierten bei den Vereinten Nationen, diese sollten Besuche von UN-Vertretern in US-Gefangenenlagern verhindern,584 während sie öffentlich unvermindert ihre Unterstützung im Kampf der Vereinten Nationen gegen Folter betonten, Präsident Bush an der Spitze: „Today, on the United Nations International Day in Support of Victims of Torture, the United States declares its strong solidarity with torture victims across the world. Torture anywhere is an affront to human dignity everywhere. We are committed to building a world where human rights are respected and protected by the rule of law. Freedom from torture is an inalienable human right. The Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment, ratified by the United States and more than 130 other countries since 1984, forbids governments from deliberately inflicting severe physical or mental pain or suffering on those within their custody or control. (…) The United States is committed to the worldwide elimination of torture, and we are leading this fight by example.“585 Bereits hier wird deutlich, dass sich die Mitglieder der US-Regierung frühzeitig darauf festlegten, alle Vorgänge in Guantanamo Bay und in anderen Gefangenenlagern zu vertuschen und jegliche Form von Misshandlungen öffentlich abzustreiten bzw. nicht zu kommentieren, obwohl immer mehr anderslautende Berichte ans Licht kamen586 und die Bevölkerung den 582 583 584 585 586 Insbesondere die CIA experimentiert vermutlich bereits seit den 1950er Jahren mit bewusstseinsverändernden Drogen wie Sodium-Amytal und Natrium-Thiopental, die dazu führen sollen, dass der bzw. die Verhörte die Kontrolle über das von ihm / ihr Gesagte verliert. Zwar werden solche Mittel auch in den USA als „truth serum” bezeichnet, auch in der Folterdebatte wurde jedoch mehrfach darauf verwiesen, dass sich über den Wahrheitsgehalt der „Geständnisse“ keinerlei Aussagen machen lassen, da die Verhörten durchaus noch in der Lage seien, zu lügen. Schmitt, Eric 2002: There are Ways to Make Them Talk, in: New York Times, 20.06.2002, vgl. ebd. auch für die zuvor gemachten Angaben. Vgl. Crossette, Barbara 2002: U.S. Fails in Effort to Block Vote On U.N. Convention on Torture, in: New York Times, 25.07.2002. Bush, George W. 2003: Statement on United Nations International Day in Support of Victims of Torture, Ansprache des Präsidenten am 26. Juni 2003. Vgl. etwa den umfassenden Überblick über angewandte Methoden in Gellmann, Barton/Priest, Dana 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002 oder die Stellungnahmen erster entlassener Häftlinge aus Guantanamo, in: Rohde, David 2002: Threats and Responses; Afghans Freed from Guantanamo Speak of Heat and Isolation, in: New York Times, 28.10.2002. – 163 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Einsatz bestimmter Befragungsmethoden „short of torture” zumindest bei wichtigen Gefangenen – insbesondere nach der Gefangennahme des „terrorist master mind ” Khakid Shaikh Mohammeds – wohl schon mehrheitlich gebilligt hätte (s. für die neuen Sprachregelungen der Regierung S. 208f. der Arbeit).587 Zudem begannen Vertreter der Legislative und Judikative, die nationale Gesetzgebung der USA zum Schutz vor Folter zunehmend infrage zu stellen: Zunächst wurde das (auch nach der UN-Konvention gegen Folter bestehende) Verbot einer Abschiebung von Straftätern in für Folterungen bekannte Heimatländer von mehreren republikanischen Abgeordneten öffentlich als Hindernis im Kampf gegen den Terrorismus kritisiert,588 dann wurde von Seiten einiger Gerichte und Vertretern der Administration eine starke Einschränkung des Geltungsbereichs des ATCA gefordert, nach der US-amerikanische Gerichte keine Fälle mit klarem außenpolitischen Bezug mehr entscheiden dürften.589 Der gesetzliche Rahmen, der den Kern der nationalen und internationalen Folterverbote absichern sollte, geriet also von Vertretern aller drei Parteien der checks and balances unter Beschuss. Auf Seiten des Militärs lud im September 2003 das Pentagon seine Mitarbeiter zu Vorführungen des Films „La Bataille d’Alger” ein, um zu einer Diskussion über den Nutzen und die Gefahren von Folter bei der Auffindung und Zerstörung von Guerillagruppen aufzurufen.590 Ein halbes Jahr später wurde der Schwarzweißfilm von 1966 aufwendig restauriert und mit großem Erfolg in den öffentlichen Kinos der USA gezeigt – auch die Bevölkerung sah in ihm nun eine Allegorie zur immer chaotischeren Lage im besetzen Irak. 587 Vgl. u.a. die Einleitung eines für diese Zeitung erstaunlich umfassenden Artikels der USA Today: „The men and women whose job it is to extract information from captured al-Qaeda and Taliban terrorists do not shock easily. But several say they can’t believe their ears when they hear TV pundits, talk show hosts and even average Americans suggest that they should use torture to pry secrets from Khalid Shaikh Mohammed, an alQaeda leader caught in Pakistan on Saturday. For moral, legal and practical reasons, torture is wrong, government interrogation specialists say. (…) But already, his capture has touched off a national discussion about how interrogators go about their jobs. And about what techniques are not only legally and morally inbounds but also ultimately useful against hardened Islamic radicals.” Diamond, John/Locy, Toni/Willing, 588 589 590 Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003. Vgl. Swarns, Rachel L. 2003: Lawmakers Attack Immigrants’ Use of Antitorture Law to Block Deportation, in: New York Times, 12.07.2003. Vgl. Liptak, Adam 2003: U.S. Courts’ Role In Foreign Feuds Comes Under Fire, in: New York Times, 03.08.2003. Vgl. Kaufmann, Michel T. 2003: Film Studies; What Does the Pentagon See in ‚Battle of Algiers’?, in: New York Times, 07.09.2003. – 164 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Höhepunkt der Debatte: Herbst 2003 bis 2004 Mai 2004: Der Abu Ghraib-Skandal „If this is not evil, then evil has no meaning.” 591 Es scheint, als hätte die Debatte immer mehr Diskursteilnehmer angezogen, je konkreter sie wurde. Nach der abstrakten Diskussion aus dem Jahr 2001, ob man (namenlose) Terroristen foltern lassen sollte und der – scheinbar – ohne direkten Bezug zum Regierungshandeln geführten Debatte um den Umgang mit Abu Zubaidah und Khalid Shaikh Mohammed, explodierte die Anzahl der JournalistInnen, AutorInnen von Leserbriefen und Personen des öffentlichen Lebens sowie der Politik 2004, als durch die Fotos aus dem irakischen Abu Ghraib-Gefängnis und die veröffentlichen Memoranden der US-Administration deutlich wurde, dass tatsächlich bereits Folterungen stattgefunden hatten und die Regierung Misshandlungen von Gefangenen innerhalb der Administration legitimiert hatte. Das Bewusstsein, dass der wichtigste politische Akteur sich anders verhalten hatte, als nach außen vorgegeben worden war, brachte die Debatte unter allen Akteursgruppen zum Kochen. Interessanterweise waren aber auch nach den von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als Skandal angesehenen Ereignissen in Abu Ghraib bis auf die anklagenden Menschenrechts-NGOs keine geschlossenen Akteursgruppen zu beobachten. Stattdessen wurde immer deutlicher, wie zerstritten u.a. Militärs, ÄrztInnen, JuristInnen, Regierungsmitglieder und JournalistInnen über die Frage waren, ob die Misshandlungen in Abu Ghraib als Folterungen eingestuft werden sollten oder nicht, ob sie zu wenig skandalisiert oder gefährlich überdramatisiert und ob sie von einigen Einzeltätern begangen worden oder auf krasse Fehlentscheidungen der höchsten politischen Ebenen zurückzuführen waren. Für die Regierung, insbesondere den Präsidenten selbst, war das Bekanntwerden der Misshandlungen irakischer Gefangener durch US-Militärs vor allem deshalb prekär, weil er seit Januar 2003 die Beendigung der von Saddam Husseins Baath-Regime verübten Menschenrechtsverletzungen als Begründung für die Notwendigkeit eines Krieges betont hatte. In nahezu jeder seiner Reden mit außenpolitischem Bezug war explizit von den Folterkammern Husseins die Rede;592 insbesondere die Gefangennahme des früheren irakischen Diktators wurde zum Anlass genommen, darauf hinzuweisen, dass die Welt nun von einem der brutalsten Folterer befreit sei. Nachdem immer offensichtlicher wurde, dass die Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak keine Erfolge zeitigen würde, wurden 591 592 Präsident Bush in einer State of the Union Address vom Januar 2003 über die Folterungen Saddam Husseins, abgedruckt in der New York Times vom 23. Januar 2003 unter dem Titel: „President’s State of the Union Message to Congress and the Nation”. Vgl. neben der eingangs zitierten State of the Union Address vom Januar 2003 etwa seine Rede vor dem American Enterprise Institute in Washington vom 26. Februar 2003, abgedruckt in der New York Times, den Bericht über ein Interview der USA Today mit Bush vom 02. April 2003, seine Stellungnahme im irakischen Fernsehen gemeinsam mit Tony Blair, abgedruckt in der New York Times vom 11. April 2003 nach dem Fall Bagdads oder der darauf folgenden State of the Union Address vom 07. September 2003, deren Text ebenfalls einen Tag später in der New York Times veröffentlicht wurde. – 165 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Menschenrechtserwägungen sogar zum wichtigsten Kriegsgrund umdefiniert und an erster Stelle darauf verwiesen, dass ohne die Intervention der Amerikaner „Iraq’s torture chambers would still be filled with victims -- terrified and innocent.”593 Ganz den Unschuldsbeteuerungen der allermeisten Mitglieder der Administration entsprechend, wurde diese Rhetorik auch nach der Veröffentlichung erster Bilder aus Abu Ghraib weitergeführt, ja sogar noch von einigen Kabinettsmitgliedern übernommen. Zu diesem Zeitpunkt lagen einigen Kabinettsmitgliedern, Militärs und Geheimdienstchefs bereits weitreichende Informationen (inklusive Fotos und Videoaufnahmen) über die Misshandlungen vor. Einzelne Beschwerden insbesondere seitens des IKRK im Irak waren zwar von der Presse (sprich: der New York Times) bereits seit Anfang des Jahres wiedergegeben worden, hatten jedoch – trotz der bereits laufenden Folterdebatte – kein öffentliches Echo verursacht.594 Die Veröffentlichung der Bilder durch CBS News zwang dagegen alle öffentlichen Akteure, sich zu den Geschehnissen zu positionieren. Ähnlich wie zuvor bei der Angabe der Kriegsgründe zeigten sich Mitglieder der Regierung aber auch des Militärs und der Geheimdienste nach außen als geschlossene Gruppe mit recht einheitlichen Statements: Die Geschehnisse wurden öffentlich bedauert, man versprach schnelle Aufklärung, wies aber im nächsten Atemzug darauf hin, dass es sich um Einzeltäter handele, deren Taten nicht die Armee als ganze in Misskredit bringen dürften, welche im Irak gute Arbeit leiste.595 Erst später wurde deutlich, dass man sich bereits zuvor auf diese Argumentationsweise für den Fall geeinigt hatte, dass die Bilder von Abu Ghraib bekannt werden sollten:596 „We’ve got a glitch in the program. (…) The cover story was that some kids got out of control,” hatte Donald Rumsfeld bereits Monate vor der Veröffentlichung der Bilder für den Fall eines Skandals klargestellt. Allerdings übernahm auch Oppositionsführer John Kerry schnell diese Sicht der Dinge,597 während sich im Kongress Bushs ehemaliger Gegenspieler innerhalb der republikanischen Partei, John McCain, der Forderung einiger demokratischer Senatoren nach Untersuchungen 593 594 595 596 597 State of the Union Address von Präsident Bush, abgedruckt in der New York Times vom 21. Januar 2004 unter der Überschrift „President’s State of the Union Message to Congress and the Nation ”. Vgl. zur Umdeutung der Kriegsgründe Sanger, David F./Risen, James 2003: The Struggle for Iraq; Weapons Search; President Says Report on Arms Vindicates War, in: New York Times, 04.10.2003. So waren z.B. schon zuvor Folterfotos britischer Soldaten aufgetaucht, vgl. Alvarez, Lisette 2003: British Troops: Photos Raise Allegations Of Torture, in: New York Times, 31.05.2003. Vgl. etwa den Bericht von Tom Shaker und Jacques Steinberg über die erste Reaktion Bushs in der New York Times vom 01. Mai 2004 mit dem Titel „Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners ” oder die Aussagen Rumsfeld in einem ersten Kongress-hearing : US-Kongress 2004: Operations and Reconstruction Efforts in Iraq, Hearing des Committee on Armed Services des Repräsentantenhauses, 07.05.2004. Donald Rumsfeld im Januar 2004, zitiert nach geheimer Quelle in: Hersh, Seymour M. 2004: The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004. „…we cannot let the actions of a few overshadow the tremendous good work that thousands of soldiers are doing every day in Iraq and all over the world.” John Kerry zitiert in: Shaker, Tom/Steinberg, Jacques 2004: Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners, in: New York Times, 01.05.2004. – 166 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e auch auf Regierungsebene anschloss.598 Das Senator McCain auch im späteren Verlauf der Debatte immer wieder für eine vollständige Aufklärung und Abschaffung von Folterungen gegen die Mehrheit seiner Parteigenossen eintrat, lag – wie auch bei vielen frühen Normverfechtern des 17. und 18. Jahrhunderts – an seinem persönlichen Hintergrund: Während seines Einsatzes im Vietnamkrieg war er in Kriegsgefangenschaft geraten und gefoltert worden. Ganz im Sinne des Schweigetabus berichtete er vor dem Abu GhraibSkandal jedoch nur äußerst selten und ungern über seine Erfahrungen als Folteropfer.599 Insgesamt zeigte sich in den Häusern des Kongresses, bzw. deren Unterkomitees aber die zu erwartende Spaltung in (einige) demokratische Mandatsträger, die eine Skandalisierung und Aufklärung der Misshandlungen forderten und (einige) republikanische Vertreter, die die Vorfälle insgesamt herunterzuspielen versuchten.600 Erstmals wurde in Bezug auf die Bilder aus Abu Ghraib seitens der Regierung und des Militärs direkter Druck auf die Medien ausgeübt, um eine Verbreitung der Aufnahmen zu verhindern. So strahlte CBS News auf Drängen von General Richard Myers, dem Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, die dem Sender zugespielten Bilder zunächst zwei Wochen lang nicht aus.601 Arabische Sender wie Al Jazeera gaben solchen Forderungen dagegen von Anfang an nicht nach. Die US-amerikanische Presselandschaft zeigte sich in der Frage, ob und wenn ja, in welchem Teil der Zeitung man die Bilder zeigen sollte, von selbst gespalten. Ähnlich wie zu Beginn der Folterdebatte zeigten sich insbesondere die großen Tageszeitungen zunächst vorsichtig, entschlossen sich jedoch mit dem Argument, die Bilder seien bereits in anderen Medien zu sehen gewesen und man müsse aus journalistischer Sicht Bilder, über die man schreibe, auch zeigen, teilweise sogar zu deren Publikation auf der Titelseite. Innerhalb der Medienlandschaft führte also v.a. der Wunsch der Leserschaft bzw. des Publikums dazu, Tabus hinsichtlich des offenen Zeigens von Folterungen zu ignorieren. 598 599 600 601 McCain hatte 2000 die primaries (vgl. S. 70 der Arbeit) gegen George Bush verloren. Vgl. für einen frühen Artikel über die Haltung McCains etwa Stolberg, Sheryl 2004: Prisoner Abuse Scandal Puts McCain in Spotlight Once Again, in: New York Times, 10.05.2004. Vgl. Shaker, Tom/Steinberg, Jacques 2004: Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners, in: New York Times, 01.05.2004. Vgl. insbesondere den Schlagabtausch im Senat am 10. Mai 2004: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004. Vor dem Hintergrund des ständigen Pochens der Medien auf politische Unabhängigkeit war dies ein recht seltener Fall, vgl. S. 76 der Arbeit. Vgl. für den auf CBS ausgeübten Druck Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, S. 215 und zu den arabischen Sendern Shanker, Tom/Steinberg, Jacques 2004: Bush Voices ‚Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners, in: New York Times, 01.05.2004. – 167 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Exkurs: Tabubrüche in Abu Ghraib Im Vergleich zur Debatte um Guantanamo Bay (und dort gemachten, bekannten Aufnahmen etwa von knienden Gefangenen in orangefarben Anzügen und mit verbundenen Augen hinter Stacheldraht) erregten die Vorfälle in Abu Ghraib wohl deshalb eine viel größere Aufmerksamkeit, weil sich hier offensichtlich gleich mehrere Tabubrüche manifestierten: Rückblickend erscheint sicher, dass die Misshandlungen in Abu Ghraib gerade darauf abzielten, nicht nur durch das Brechen des Foltertabus zu demütigen, sondern Gefangene gezielt dazu zu zwingen, insbesondere im arabischen Raum tabuisierte (homo-)sexuelle Handlungen selbst durchzuführen. Die Tatsache, dass die sonst kaum auf die kulturellen Besonderheiten ihres Einsatzlandes vorbereiteten ReservistInnen in Abu Ghraib genau zu wissen schienen, womit sie irakisch-arabische Männer am meisten demütigen konnten, ließen bald Zweifel an der These aufkommen, dass es keinerlei Anweisungen höherer Verantwortlicher für diese Taten gegeben hätte.602 Tatsächlich stammten die Informationen über arabisch geprägte Tabus wohl aus einer bereits 1973 erschienenen Monographie des Kulturanthropologen Raphael Patai mit dem Titel „The Arab Mind ”, die zur „bible of the neocons on Arab behaviour” geworden war. Der Bruch einer zweiten Tabuebene ergab sich durch das Festhalten dieser Handlungen auf Fotos und Videos und das Posieren der Täter neben ihren Opfern – ein eklatanter Bruch des für bereits vollzogene Handlungen geltenden Schweigetabus, der darüber hinaus deutlich machte, dass die durch ihre Handlungen selbst tabuisierten Täter offensichtlich keinerlei Empfinden für das Ausmaß ihrer Tabubrüche besaßen und reine Sadismusfolter ausübten. Ob dies tatsächlich der einzige Zweck der Aufnahmen war ist allerdings noch unklar, eventuell sollten sie selbst als Grundlage weiterer Tabubrüche dienen, nämlich, die Opfer mit der Drohung unter Druck zu setzen, die Aufnahmen ihren Verwandten und Bekannten zuzuspielen – was für die (auf diese Weise ebenfalls tabuisierten) Opfer selbst aber auch für ihr Umfeld eine unerträgliche Belastung gewesen wäre. Mit der Veröffentlichung der Bilder durch Medien in aller Welt trat dieser Effekt teilweise ein, viele auf den Fotos zu erkennende Opfer leben mittlerweile völlig isoliert. Durch die Publikation der Bilder selbst entschlossen sich auch US-amerikanische Medien, eine dritte Tabuebene zu brechen, indem sie das Schweigetabu ignorierten, das nicht nur im Zeigen von Folterungen begründet lag, sondern allgemein in der Zurschaustellung von Menschen als hilflosen Opfern sowie der (in weiten Teilen der USA weit stärker als in Europa ausgeprägten) Darstellung von Nacktheit und sexuellen Handlungen. U.a., weil hier zumindest keine sexuellen Tabus verletzt wurden, wurde insbesondere das Bild eines mit einer schwarzen Kutte bekleideten und offensichtlich durch Elektroschocks gefolterten Mannes zum Symbol der Misshandlungen in Abu Ghraib.603 Auf eine andere Norm nimmt die US-Administration aus strategischen Gesichtspunkten bis heute Rücksicht: Da Misshandlungen erwachsener Männer als vergleichsweise weniger schlimm eingestuft werden, als die von Jugendlichen und Frauen, hält die US-Regierung alle entsprechenden Bilder weiterhin unter Verschluss, um nicht einen weiteren Aufschrei der Öffentlichkeit zu riskieren. In der Frage, wie mit den bekannt gewordenen Ereignissen selbst umzugehen sei, zeigte sich die Medienlandschaft stark gespalten: Während die Herausgeber und Mitarbeiter der New York Times in zahllosen Editorials, Kommentaren und Berichten eine vollständige Aufklärung der Ereignisse sowie die Übernahme von Verantwortung durch die Regierung (durch 602 603 Vgl. Hersh, Seymour M. 2004: The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004. Zudem wurde darauf verwiesen, dass die Silhouette des Mannes leicht wiederzuerkennen und zu reproduzieren ist und Assoziationen zu Jesus am Kreuz oder auch zur Gestalt der Freiheitsstatue weckt. Die dem Mann übergestülpte Kapuze ähnelt dagegen sowohl einem Schleier, wie auch dem spitzen Maskenhut eines Henkers – nur, dass dieser hier vom Opfer getragen wird. Als wäre das Foto entsprechend arrangiert, steht das Opfer auch noch auf einer Kiste, die wie die Karikatur eines Podestes wirkt. Vgl. auch darüber hinaus die Analyse des Bildes von Sarah Boxer mit dem Titel „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, erschienen in der New York Times am 13. Juni 2006. Die Angst vor dem Bruch sexueller Tabus durch die Veröffentlichung der Bilder führte in den USA teilweise so weit, dass zwar die Genitalien, nicht aber die Gesichter der Gefangenen unkenntlich gemacht wurden. – 168 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e deutlichere Entschuldigungen und personelle Konsequenzen, insbesondere den Rücktritt von Verteidigungsminister Rumsfeld) forderten sowie schnell eine Verbindung zur Verweigerung des POW-Status für die Gefangenen in Guantanamo durch die Regierung herstellten, ähnelten die selteneren Artikel des Wall Street Journal stärker der Rhetorik der Regierung in dieser Angelegenheit.604 Die begrenzte Berichterstattung der USA Today enthielt, wie üblich, Elemente beider Perspektiven,605 was sich auch in den hier abgedruckten Leserbriefen widerspiegelte, die teils von großem Misstrauen gegenüber der Regierung, teils von großem Vertrauen auch gegenüber dem eigenen Militär zeugten.606 Sommer 2004: Die Veröffentlichung der Regierungsmemoranden „Die ungeschminkte Wahrheit ist allemal besser als gefällige Lügen, die am Ende wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Vermeide es, der Darstellung eine ganz bestimmte Richtung zu geben, die durch weitere Enthüllungen diskreditiert werden kann (…). Sei darauf gefasst, daß ein Vorfall von internationaler Tragweite unabhängig von seiner wirklichen Bedeutung aus politischen Gründen aufgebauscht oder heruntergespielt wird.” 607 Man hätte vermuten können, dass nach der Diskussion um Abu Ghraib die zuvor begonnene „Kerndebatte“ um die Aufrechterhaltung eines absoluten Folterverbots verstummt wäre, da – ähnlich wie nach dem Abwurf der ersten Atombomben, wenn auch mit einem viel kleineren Kreis von Betroffenen – deutlich geworden wäre, dass hier eine bright line überschritten worden war und man solchen Entwicklungen schon im Ansatz (sprich: in Guantanamo und im lauten Nachdenken über die Notwendigkeit von Folter) Einhalt gebieten musste. Wären diejenigen Akteure, die „harte Verhörmethoden“, „torture lite” oder Ähnliches gefordert hatten, im Mai 2004 zurückgerudert oder zumindest verstummt, hätte man vielleicht auch die vorhergehende Debatte als Tabubruch einer Ausnahmesituation werten, über die Debatte schweigen und auf diese Weise das Tabu wieder stärken, bzw. wieder etablieren können. Dieser Idealfall (aus Sicht der Autorin) trat jedoch nicht ein: Nach ca. einwöchigem Schweigen veröffentlichten die Herausgeber des Wall Street Journal unter dem vielsagenden Titel „Geneva for Demagogues” ein Editorial, das die Botschaft eines ersten aufgetauchten Memos unterstützte, torture lite-Methoden wie Schlafentzug oder das Verharren in „Stresspositionen“ sollten mit Genehmigung eines befehlshabenden Generals weiterhin gegenüber Gefangenen angewendet werden. Ein großes 604 605 606 607 Vgl. etwa das Editorial der New York Times vom 05. Mai 2004 mit dem Titel “The Torture Photos” , in dem erstmals der Rücktritt Rumsfelds gefordert wurde sowie das vom 07. Mai 2004 über den Zusammenhang der Ereignisse mit denen in Guantanamo Bay unter dem Titel „The Military Archipelago”. Vgl. etwa den Artikel der USA Today vom 04. Mai 2004 mit dem Titel „Pentagon too slow to decry shameful U.S. acts in Iraq”. Vgl. z. B. die Briefe von Jack Miller („Prisoner abuse scandal points to failure in U.S. leadership ”) und Mark Overholser („Let military investigate”), die beide in der Ausgabe der USA Today vom 07. Mai 2005 abgedruckt wurden. Colin Powell über die Leugnung Russlands, 1983 ein südkoreanisches Passagierflugzeug abgeschossen zu haben. Powell, Colin 1996: Mein Weg, München, S. 302. – 169 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e konservatives Blatt wagte also eine Woche nach Veröffentlichung der Folterfotos von Abu Ghraib implizit die Aussage, eine begrenzte Anwendung von Folter oder folterähnlichen Methoden (hinsichtlich des betroffenen Personenkreises und der Intensität der erlaubten Methoden) sei grundsätzlich möglich.608 Die NYT ließ sich wenige Tage später erneut auf die nun wieder generelle Folterdebatte ein, indem sie gegen die Ansicht ihrer Kollegen argumentierte und am Tag darauf sogar einen Kommentar abdruckte, dessen Autor deutlich machte, dass man auch nach Abu Ghraib nicht zur alten Form der Genfer Konvention zurück könne:609 „Will we now allow the pendulum to swing back to ‚name, rank, serial number,’ as if suspected terrorists planning the bombing of civilians were uniformed prisoners of war obeying the rules of war?” Bereits Mitte Mai hatte sich in allen untersuchten Zeitungen die Diskussion um Abu Ghraib wieder mit der Frage vermischt, ob und wenn ja, welche „coercive methods” gegen „high valuable targets” eingesetzt wurden und werden sollten. Damit war eine neue Runde der Debatte eröffnet.610 Diese wurde auch durch einige Memoranden zur Frage des Kriegsgefangenenstatus’ und erlaubter Verhörmethoden angeheizt, die die Regierung wenige Wochen nach dem Abu Ghraib Skandal freigab (s.o.) und Grundlage eines Enthüllungsberichtes des Starjournalisten Seymour Hersh wurde, der 1969 das Massaker von My Lai aufgedeckt hatte.611 Hersh zufolge hatte Donald Rumsfeld mit Billigung Bushs und Condoleezza Rices (damals National Security Advisor des Präsidenten) nach anfänglichen Rückschlägen in Afghanistan noch im Jahr 2001 eine geheime black operation mit dem Decknamen „copper green” angeordnet, die den am Kampf gegen den Terrorismus beteiligten Geheimdiensten nahezu unbegrenzte Handlungsfreiheit verschaffen sollte: „The rules are‚ Grab whom you must. Do what you want.’”, gab eine der Quellen Hershs zu Protokoll. Zu Fehlern, die schließlich zum Abu Ghraib-Skandal führten, sei es letztendlich gekommen, da die für die asymmetrische Kriegführung im wenig bevölkerten Afghanistan entwickelten Methoden nach beginnenden Unruhen auch im Irak – und von ungeschulten, „normalen“ Soldaten statt Mitgliedern von Spezialeinheiten – angewandt worden waren. Interessant im Hinblick auf die Tabudebatte ist besonders, dass die von Hersh befragten Geheimdienstagenten sich in aller Form von den Vorfällen in Abu Ghraib distanzierten, so dass auch ein Bruch innerhalb der Gruppe derjenigen Personen sichtbar wurde, die offensichtlich zur Anwendung von Folter autorisiert waren: „You don’t keep prisoners naked in their cell and then let them get bitten by dogs. This is sick. (…) We don’t raise kids to do things like that”. 608 609 610 611 Vgl. Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004. Vgl. Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times, 09.05.2004, bzw. für das Zitat Safire, William 2004: Rumsfeld should stay, in: New York Times, 10.05.2004. Vgl. in Bezug auf die Berichterstattung von USA Today insbesondere den umfassenden Hintergrundbericht Richard Willing und John Diamond, erschienen am 13. Mai 2004 mit dem Titel „U.S. interrogators face ‚gray areas’ with prisoners”. Vgl. für das Folgende Hersh, Seymour M. 2004: The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004. – 170 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Abgesehen von der erwartungsgemäßen Positionierung der Printmedien (die NYT skandalisierte Existenz und Inhalt der Memos, das Wall Street Journal versuchte, deren Bedeutung herunterzuspielen) brach nun ein Streit über das Verhalten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in der Folterfrage und bei tatsächlichen Misshandlungen aus, wobei zunächst die Frage im Mittelpunkt stand, ob die Juristen der Administration jemals Berichte über dieses Thema hätten anfertigen dürfen.612 Einige angesehene Rechtsprofessoren, die der Reagan-Administration angehört hatten, verteidigten klar das Vorgehen ihrer Kollegen, es sei deren Job, worst case-Szenarios durchzuspielen, während Kollegen anderer prominenter Universitäten dies zurückwiesen.613 Ebenfalls durch Hershs Ermittlungen wurde bekannt, dass die Leitung der US-amerikanischen Anwaltskammer bereits 2003 mehrfach von Militärjuristen aufgefordert worden war, Ermittlungen hinsichtlich der internen Vorgänge zur Legitimierung von Folter einzuleiten, was zwar geschah, zunächst jedoch folgenlos blieb.614 Beim jährlichen Treffen der US-amerikanischen Anwaltskammer, der American Bar Association, 2004 wurde zudem heftig über die Frage gestritten, ob alle Memos zur Frage der Legalisierung von Folter offengelegt werden sollten oder ob diese aus Sicherheitsgründen unter Verschluss bleiben sollten.615 Vor dem Hintergrund immer neuer Enthüllungen über Misshandlungen in USGefangenenlagern und über das Verhalten der Regierung sahen sich ab Juni 2004 neben der American Bar Association auch andere gesellschaftliche Gruppen berufen, sich deutlich zu dieser Frage zu positionieren. Den Anfang machte ein Zusammenschluss verschiedener Religionsgemeinschaften (evangelische und katholische Christen, Moslems und Juden), deren Würdenträger in von überregionalen arabischen Fernsehsendern ausgestrahlten Spots die Geschehnisse in Abu Ghraib verurteilten.616 Zu diesem Zeitpunkt war bereits Kritik laut geworden, die sowohl in Abu Ghraib wie auch in Guantanamo anwesenden Geistlichen hätten sich schon früher an die Öffentlichkeit wenden müssen. Wenig später versuchten einige Veteranen, die Geschehnisse zu banalisieren, u.a. indem sie auf ihre „Dummheiten“ in 612 613 614 615 616 Das Wall Street Journal bejahte auch diese Frage, etwa im Kommentar „The Torture Canard ” vom 11. Juni 2004, die NYT und die Mehrheit ihrer sich in Briefen äußernden Leserschaft verneinte sie, vgl. etwa den Leserbrief von Denis Pelli, der am 13. Juni 2004 unter dem Titel “The Legal Memos about Torture” veröffentlicht wurde. Vgl. die Aussagen Charles Fried und Douglas W. Kmiec auf der einen und Stephen Gilles von der New York University auf der anderen Seite in Liptak, Adam 2004: Legal Scholars Criticize Memos on Torture, in: New York Times, 05.06.2004. Vgl. neben Hershs Enthüllungsbericht auch Lewis, Neil A./Schmitt, Eric 2004: Lawyers Decided Bans on Torture Didn’t Bind Bush, in: New York Times, 08.06.2004. Rosen, Jeffrey 2004: The Struggle Over the Torture Memos, in: New York Times, 15.08.2004. Es handelte sich um die ökumenische Gemeinschaft „Faithful America”, vgl. auch für den Text des Spots Glassmann, Mark 2004: U.S. Religious Figures Offer Abuse Apology on Arab TV, in: New York Times, 11.06.2004. Die USA Today verfolgte wie gewöhnlich einen Mittelweg, indem sie einerseits einen Kommentar abdruckte, in dem die Memos kritisiert wurden („How innocent Iraqis came to be abused as terrorists ” vom 10. Juni 2004), andererseits aber in der gleichen Ausgabe mit Alberto Gonzales auch einen der Autoren der Memos in einem längeren Gastbeitrag mit dem Titel „Terrorists are different” zu Wort kommen ließ. – 171 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e der Armee und an die Gewöhnung des Ausführens jeglicher Befehle verwiesen.617 Ebenfalls an die Berufsethik ihrer in den US-Gefangenenlagern tätigen KollegInnen appellierten einige Vertreter der Ärztelobby, wobei sich insbesondere Allen S. Keller, der Leiter des New Yorker Bellevue-Programs for Survivors of Torture – einem der weltweit größten Rehabilitationszentren dieser Art – hervortat. Vor dem Hintergrund seiner praktischen Erfahrung als Arzt im Umgang mit Folteropfern (meist Asylsuchende) aus aller Welt wies er immer wieder auf die unerträglichen und schwer zu heilenden Folgen jeglicher Misshandlungen hin und veröffentlichte Stellungnahmen, in denen er eine Unterscheidung in lite torture und andere, meist physische Foltermethoden ablehnte, da Folter letztlich immer darauf ausgerichtet sei, den Willen des Opfers zu brechen.618 Die Veröffentlichung der ersten Memos setzte natürlich in erster Linie die Regierung unter Druck, deren Mitglieder sich in einer Reihe von hearings vor dem Senat verantworten mussten. Justizminister John Ashcroft versuchte im Juni 2004 noch, die Verstrickung des Präsidenten in die Affäre zu dementieren und die Weitergabe weiterer Memos an den Senat zu verhindern, was das Misstrauen der Senatoren jedoch eher noch schürte und die Angelegenheit schließlich auch zu einer Machtprobe der Regierung mit dem Kongress über die Frage der Verheimlichung wichtiger Regierungsdokumente werden ließ,619 die letztendlich zur Freigabe weiterer interner Dokumente führte.620 Zudem musste Ashcroft auf Druck einiger Senatoren öffentlich bekennen, Folter persönlich für niemals gerechtfertigt und nicht mit der US-Verfassung vereinbar zu halten, obwohl er die nach den Anschlägen vom 11. September angestellten Rechtsüberlegungen weiterhin zu rechtfertigen suchte. Ashcroft kam aber auch von einer anderen Seite unter Druck, nämlich von denjenigen Senatoren, die offen für die Anwendung von torture lite eintraten, der Regierungslinie beipflichteten, wie etwa Senator Inhofe, der mit seiner Aussage, er sei „more outraged by the outrage” über die Abu Ghraib Bilder für Wirbel sorgte oder Senator Schumer, der Verständnis für den Wunsch des Präsidenten äußerte, Folter zu legitimieren aber einen offensiven Umgang der Administration mit diesen Überlegungen forderte: 617 618 619 620 Vgl. Welch, Liz 2004: Veterans Speak Out, in: New York Times, 30.05.2004. Vgl. insbesondere die beiden Leserbriefe in der NYT von Allen S. Keller mit den Überschriften „Torture Is Barbarism ” (erschienen am 10. März 2003) und “Cries of Outrage Over Guantanamo” (erschienen am 02. Dezember 2004). Dies widersprach aus Sicht vieler SenatorInnen dem Legislative Reorganization Act, vgl. S. 64 der Arbeit. Zur aktuellen Diskussion vgl. insbesondere den Schlagabtausch von John Ashcroft mit Senator Kennedy in: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. Vgl. Keen, Judy 2004: White House responds to critics with policy disclosure, in: USA Today, 23.06.2004. – 172 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „[I]t’s easy to sit back in the armchair and say that torture can never be used. But when you’re in the foxhole, it’s a very different deal. And I respect -- I think we all respect the fact that the president’s in the foxhole every day. (…) The problem is not in asking the question [ob Folter legalisiert werden sollte, SoSchi]. The problem isn’t with the issues being explored. The problem is there has to be very careful guidance, and it should be made public. And most people are reasonable and would understand that.“621 Auch die Herausgeber des Wall Street Journal schlossen sich dieser Position an und kreideten es Präsident Bush als Fehler an, mit seiner Folterpolitik nicht an die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Von solchen Aussagen musste sich der Justizminister nun ebenfalls distanzieren, um seine Glaubwürdigkeit zu wahren. Damit saß die Regierung rhetorisch zwischen allen Stühlen – einerseits war die zunächst eingeschlagene Linie, jegliche Misshandlungen herunterzuspielen und deren Zusammenhang mit dem Regierungshandeln unbedingt zu dementieren, spätestens mit der Veröffentlichung der erstens Memos gescheitert, andererseits konnte man sich nun auch nicht mehr plötzlich offen für die Legalisierung „harter Befragungsmethoden“ einsetzen, ohne sich vollends unglaubwürdig zu machen. Dessen ungeachtet begann der Kongress wenige Monate nach Abu Ghraib durch gesetzliche Bestimmungen gegen Folterungen vorzugehen: Einem Gesetz zur Ausweitung des Budgets für Militäroperationen in Afghanistan wurde die Klausel hinzugefügt, dass mit den Geldern keine unter den Genfer Konventionen verbotenen Zwecke verfolgt werden durften. Vor der Verabschiedung im Repräsentantenhaus war hoher Druck auf fünf republikanische Abgeordnete ausgeübt worden, die für den Antrag stimmen wollten und dies letztendlich dem Druck zum Trotz auch taten.622 Kurz zuvor hatten auch Repräsentanten der Judikative trotz der sonst üblichen Zurückhaltung des Supreme Court in außen- und sicherheitspolitischen Fragen (s. S. 68 der Arbeit) klar gemacht, dass sie das insbesondere durch die veröffentlichten Memos bekannt gewordene Handeln der Regierung für unrechtmäßig hielten: In einer Präzedenzentscheidung über die Notwendigkeit, auch den von der Regierung als „ enemy combatants” eingestuften Gefangenen Zugang zu Gerichten zu verschaffen, die über die Rechtmäßigkeit ihrer Haft entscheiden sollten, äußerten sich die Richter zwar nicht direkt zum Abu Ghraib-Skandal (der ja nicht Thema der Gerichtsverhandlung war), rügten die Regierung aber unmissverständlich in einer Nebenbemerkung, in dem sie darauf hinwiesen, dass 621 622 Website Senator Inhofe: Inhofe, James M. 2004: Transcript of Senator Inhofe’s Remarks at the 05/11/2004, Senate Armed Services Hearing on Iraqi Prisoner, Treatment (Panel 1), online unter: <http://inhofe.senate.gov/pressapp/record.cfm?id=221389>, rev. 27.08.2006. bzw. Senator Schumer im Gespräch mit John Ashcroft, in: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. Vgl. das Editorial der New York Times vom 02. Juli 2004 mit dem Titel „A Vote for Control”. – 173 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „[e]xecutive detention of subversive citizens, like detention of enemy soldiers to keep them off the battlefield, may sometimes be justified to prevent persons from launching or becoming missiles of destruction. It may not, however, be justified by the naked interest in using unlawful procedures to extract information. Incommunicado detention for months on end is such a procedure. Whether the information so procured is more or less reliable than that acquired by more extreme forms of torture is of no consequence. For if this nation is to remain true to the ideals symbolized by its flag, it must not wield the tools of tyrants even to resist an assault by the forces of tyranny.“623 Vor dem Hintergrund dieser für die Regierung äußerst unbequemen Lage erscheint es umso verwunderlicher, dass der demokratische Herausforderer von George W. Bush, John Kerry, die Folterdiskussion kaum jemals erwähnte, geschweige denn zum Thema des Präsidentschaftswahlkampfes 2004 machte. Möglicherweise fiel diese Entscheidung im Lichte mehrerer öffentlicher Umfragen, die im Sommer 2004 zur Frage der Legitimierung von folterähnlicher Methoden durchgeführt wurden. Denn auch nach dem Abu Ghraib-Skandal sprachen sich laut einer Erhebung von ABC-Poll im Juni 2004 noch 35% der Befragten in manchen Fällen für den Einsatz von Folter aus, was angesichts der Tatsache, dass Folter zu dieser Zeit nie beim Namen genannt, sondern meist von „abuses” oder „harsh interrogations” die Rede war, recht viel erscheint.624 Immerhin 46% sprachen sich für die Notwendigkeit von „physical abuse short of torture” aus.625 Ca. einen Monat später wurden noch einmal ähnliche Zahlen publiziert:626 Nun sprachen sich 30% für den Einsatz „richtiger“, physischer Folter, 41% für die psychische Folter, 42% für die Anwendung von „humiliating or degrading treatment” und 48% für eine Androhung physischer Folter aus, obwohl den Befragten mitgeteilt worden war, dass sich die USA in einer Reihe internationaler Verträge zum Verbieten solcher Handlungen verpflichtet hätten. Nach einigen lite torture-Methoden in bestimmten Szenarien befragt (der Gefangene besitzt möglicherweise/sehr wahrscheinlich wichtige Informationen über andere Mitglieder einer Terrorzelle/ über einen Anschlag auf die Vereinigten Staaten), sprach sich durchgängig eine Mehrheit der Befragten für den Einsatz von Schlafentzug aus, im letzten Szenario (Terrorist ist sehr wahrscheinlich im Besitz wichtiger Informationen) galt dies auch für das Verhüllen des Kopfes, z.B. mit einem Sack („hooding ”), die permanente Beschallung mit lauten Geräuschen und das Verharren in „Stresspositionen“. Auf der anderen Seite befürworteten noch mehr als ein Drittel der Befragten Nahrungsentzug und das Bedrohen des Gefangenen mit Hunden selbst für den Fall, dass nur eine „modest chance” dafür bestünde, dass der Inhaftierte über „some information about a suspected member of a terrorist group ” verfüge. Aus einer dritten Umfrage ging v.a. hervor, wie gespalten die eher demokratisch wählenden und eher republikanisch 623 624 625 626 Justice Stevens während der Verhandlung Rumsfeld vs. Padilla vor dem US-Supreme Court am 28. Juli 2004, zitiert nach: Greenhouse, Linda 2004: Access to Courts, in: New York Times, 29.07.2004. Vgl. Harwood, John 2004: New Values Debate over Prisoner abuse could hurt Bush, in: Wall Street Journal, 23.06.2004. Ignatieff, Michael 2004: Mirage in The Desert, in: New York Times, 27.06.2004. Vgl. für das Folgende: Program on International Policy Attitudes 2004: Americans on Detention, Torture and the War on Terrorism, in: Pipa Papers Juli 2004. – 174 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e wählenden Bürger in dieser Frage waren:627 Während insgesamt (nur) eine knappe Mehrheit von 53% der Befragten angaben, dass „torture should rarely or never be used to gain important information from suspected terrorists”,628 hielten 58% der Bush-Wähler Folter für rechtfertigbar, gegenüber nur 32% der Kerry-Wähler und 42% der Wechselwähler.629 Für die Frage, inwieweit das Folterverbot vor den 2001 beginnenden Folterdebatten eine internalisierte Norm darstellte, ist äußerst bedauerlich, dass aus dieser Zeit keinerlei Umfragen vorliegen. Vor dem Hintergrund der Tabuisierung von Folter hätte die Frage, ob man Folterungen in manchen Fällen für gerechtfertigt halte, wohl bizarr angemutet, vermutlich wären auch die Mitarbeiter von Umfrageinstituten nicht auf die Idee verfallen, sie überhaupt zu stellen – was allerdings wiederum als Beleg dafür gewertet werden kann, dass die Norm tatsächlich stark internalisiert war. Vor dem Hintergrund der früheren vollständigen Tabuisierung von Folter nehmen sich die 2004 vorgelegten Zahlen in zweierlei Hinsicht überraschend aus: Erstens wird an der Unterscheidung verschiedener als „richtiger“ oder als „mild torture” eingestufter Methoden deutlich, dass die Bevölkerung, wie auch die Umfrageinstitute, nun bereit waren, diese von der Regierung und deren Memoranden aufgebrachte Einteilung nachzuvollziehen. In den Debatten während der letzten drei Jahre hatte sich die US-amerikanische Bevölkerung offensichtlich damit angefreundet, über verschiedene Arten von Misshandlungen an Gefangenen nachdenken zu dürfen. Nach dem Bruch des eigentlichen Tabus, sich überhaupt nicht mit dem Thema Folter auseinander zu setzen, wurde also auch ein Verständnis davon möglich, dass manche Methoden nicht notwendigerweise vom Tabu gedeckt sein mussten, so dass eine „Ent-Totemisierung“ von Folterhandlungen stattfand.630 Nachdem, zweitens, das Denkverbot über Folter in dieser Weise gebrochen und Pandoras Kiste geöffnet worden war, erschien es nun auch der Hälfte der Bevölkerung legitim, manche der zuvor „unhinterfragt mittabuisierten“ Praxen herauszunehmen, zu normalisieren und zu legitimieren. Hieran zeigt sich, dass, wenn das Tabu, über ein bestimmtes Thema nachzudenken, erst einmal gebrochen ist, auch die internalisierten Verbotsnormen dahinter zu wanken beginnen können – so wurde das Handeln der Regierung, die Reichweite des Folterverbots neu zu justieren und – aus ihrer Sicht – den neuen Gegebenheiten nach „9-11“ anzupassen, von ca. 50% der Bevölkerung akzeptiert. Diese Bereitschaft, zuvor von einem Tabu geschützte Normen einer Abwägung zu unterziehen, forderte etwa zur gleichen Zeit der neben Alan Dershowitz zweite große norm 627 628 629 630 Vgl. für das Folgende: Pew Research Center/Council on Foreign Relations 2004: Eroding Respect for America Seen as Major Problem. Foreign Policy Attitudes now Driven by 9/11 and Iraq, August 2004. 32% hielten Folter für niemals zu rechtfertigten, 21% in seltenen Fällen, 28% sahen den Einsatz von Folter manchmal und 15% häufig als gerechtfertigt an. Nach Parteizugeneigtheit befragt, gaben 52% der republikanischen Wähler an, Folter sei zu rechtfertigen gegenüber jeweils 38% der demokratischen und ungebundenen. Auch, wenn die Folterhandlung an sich kein Totem darstellen kann (s. S. 146 der Arbeit), fielen doch ähnlich wie bei diesem alle Praxen einer Art (nicht alle Gegenstände) unter das Tabu. – 175 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e challenger der Folterdiskussion, Michel Ignatieff, in seiner Monographie „The Lesser Evil”.631 Ganz ähnlich wie Dershowitz hatte er in einem bereits im Mai 2004 veröffentlichten Essay gefordert, man müsse sich solchen unangenehmen Abwägungsfragen stellen, bevor die Regierung eigenmächtig die Initiative ergreife und etwa nach einem zweiten großen Terroranschlag die Rechte der Bürger in den USA (mit deren stillschweigender Zustimmung) radikal einschränken würde.632 Im Unterschied zu Dershowitz lehnte Ignatieff „torture” radikal ab – dies jedoch nur, weil auch er bereits eine Unterscheidung in Folter auf der einen und vermeintlich weniger schlimmen Methoden bei „coercive interrogations” auf der anderen Seite vornahm. Scheinbar wahllos greift er aus Pandoras Kiste, was er für angemessen hält, Schlafentzug sowie zeitliche und räumliche Desorientierung auch durch „hooding ” etwa, während jegliche Form physischer Misshandlung oder das Verabreichen von Wahrheitsserum verboten bleiben sollte. Mit seiner Unterscheidung in „milde“ und „wirkliche“ Folter bereitete Ignatieff damit den Weg zu einer neuen Debattenkultur unter den Intellektuellen der USA, die v.a. im Frühjahr 2005 zu Tage trat, als der öffentliche Aufschrei über Abu Ghraib schon längst verhallt war.633 Zunächst wurde im Sommer 2004 die Debatte, wie es zu Abu Ghraib hatte kommen können, aber durch die Publikation erster Untersuchungsberichte weiter angeheizt. Zunächst erschienen zwei innerhalb des Militärs in Auftrag gegebene und von solchen ausgeführte Berichte: Der sog. Taguba-Report war bereits vor der Veröffentlichung der Bilder aus Abu Ghraib in Auftrag gegeben worden und konnte dementsprechend bereits im Mai 2004 publiziert werden. Der sog. Fay Report, der zu dem Schluss kam, dass es sich bei den in Abu Ghraib angewandten Methoden zum Teil eindeutig um Folter handelte, wurde im August 2004 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Schlussfolgerungen beider Berichte lagen recht nahe an den Aussagen der Regierung, bei den folternden Soldaten hätte es sich um einige „faule Äpfel“ im sonst recht gesunden System gehandelt. Erst der von einer vom Militär unabhängigen Kommission erstellte sog. Schlesinger-Report stellte einen klaren Zusammenhang zwischen den Geschehnissen im Irak und dem Handeln der Regierung fest.634 Da (wie zu erwarten) keiner der Berichte auf das vorangegangene Hinterfragen von Tabus und internalisierter Normen, sondern eher auf Führungsschwächen, die schlechte Ausbildung und die allgemein gefährlichen Arbeitsbedingungen der Soldaten im Abu Ghraib Gefängnis hinwiesen, sind im Hinblick auf die Tabudiskussion eher die Folgen interessant, die die Veröffentlichung insbesondere des Schlesinger-Berichts hatte – nämlich v.a. der Ruf nach einheitlichen Verhörstandards, da in Abu Ghraib deutlich geworden war, dass die 631 632 633 634 Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh. Ignatieff lehrte bis zu seiner Wahl ins kanadische Parlament als Vertreter der Liberalen an der Harvard University und war dort Leiter des Carr Center for Human Rights Policy . Vgl. auch für das Folgende Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004. Vgl. insbesondere Kaplan, Robert D. 2005: Hard Questions, in: New York Times, 23.01.2005. Vgl. einen Artikel der USA Today mit dem Titel „Pentagon doesn’t get it: Buck stops higher up ”, der am 25.10.2004 erschien. – 176 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Umklassifizierung von Methoden in verbotene, mit Genehmigung erlaubte oder erlaubte, wie sie in einem Großteil der Memos vorgenommen worden waren, für Verwirrung gesorgt hatte. Zudem war wiederum deutlich geworden, wie uneinheitlich die Standards für an Verhören beteiligten Mitarbeiter verschiedener Institutionen waren: CIA-Beamten wurde mehr erlaubt, als ihren Kollegen vom FBI und vom Militärgeheimdienst, diese wiederum hatten Abstimmungsschwierigkeiten mit den „normalen“ Soldaten und zivilem Hilfspersonal (etwa irakischen Übersetzern) einerseits und verdeckt operierenden Mitgliedern von Spezialeinheiten des DOD (möglicherweise aus der Operation „copper green”?) andererseits.635 Bereits bevor es zum Abu Ghraib Skandal kam, hatten sich Vertreter des FBI intern über die ihrer Ansicht nach zu weitgehenden Methoden der CIA und des Militärgeheimdienstes beschwert, diese würden die Moral ihrer Mitarbeiter bzw. Soldaten untergraben und bei ihnen den Eindruck erwecken, dass bei Verhören alles erlaubt sei: „The methods employed by the C.I.A. are so severe that senior officials of the Federal Bureau of Investigation have directed its agents to stay out of many of the interviews of the high-level detainees, counterterrorism officials said.“ 636 Möglicherweise geschah diese Distanzierung auch aufgrund der angesichts der Quellenlage gerechtfertigten Befürchtung des FBI, das DOD würde seinen Mitarbeitern im Fall einer öffentlichen Skandalisierung der Verhörmethoden in Guantanamo Bay den „schwarzen Peter“ zuschieben.637 Trotz der aus Sicht der Regierung untragbaren Thesen des Schlesinger-Reports über eine mehr oder weniger direkte Befehlskette von den Spitzen des Pentagon ins Abu GhraibGefängnis fand seine Veröffentlichung erstaunlich wenig Widerhall. In der Endphase des Präsidentschaftswahlkampfes fand das Thema keine Beachtung; im Oktober 2004, fünf Monate, nachdem die ersten Bilder aus Abu Ghraib über die Mattscheibe geflimmert waren, war die öffentliche Debatte über die Verhörmethoden von Terrorverdächtigen tot. Herbst 2004 bis Herbst 2005: Intellektuelle Auseinandersetzung vor schweigender Öffentlichkeit638 In den folgenden zwölf Monaten flaute die Debatte bei beinah allen Akteuren merklich ab, was die New York Times als einer der wenigen weiterhin aktiven Debattenteilnehmer mehrfach kritisierte.639 Es scheint, als habe sich die Debatte überhitzt und als sei die 635 636 637 638 639 Vgl. für eine Zusammenfassung dieses Punktes Jehl, Douglas/Johnston, David 2004: C.I.A. Expands Its Inquiry Into Interrogation Tactics, in: New York Times, 29.08.2004. Risen, James/Johnston, David/Lewis, Neil A. 2004: Harsh C.I.A. Methods Cited In Top Qaeda Interrogations, in: New York Times, 13.05.2004. Vgl. auch Lewis, Neil A. 2004: F.B.I. Memos Criticized Practices at Guantanamo, in: New York Times, 07.12.2004. Vgl. Lewis, Neil A./Johnston, David 2004: New F.B.I. Files Describe Abuse Of Iraq Inmates, in: New York Times, 21.12.2004. Aufgrund der oben beschriebenen weniger aufwendigen Auswertung der Treffer für das Jahr 2005 beschränkt sich dieses Unterkapitel auf die Kernereignisse und groben Änderungen im Diskussionsverlauf dieses Jahres. Zuerst wurde diese Kritik im Anfang Oktober 2004 erhoben, vgl. Krugman, Paul 2004: America’s Lost Respect, in: New York Times, 01.10.2004. – 177 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Öffentlichkeit, aber auch ein großer Teil der Medien und der politischen Entscheidungsträger der ständig neuen Enthüllungen und Anklagen überdrüssig geworden, obwohl die vermutlich für die Misshandlungen von Gefangenen im Irak und in Afghanistan verantwortlichen Politiker und hohen Militärs weder zur Verantwortung gezogen worden waren, noch signalisiert hatten, ihr Verhalten grundlegend zu ändern. Nahezu unbemerkt von den Medien gelang es der Regierung stattdessen, einen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen, mit dem es möglich werden sollte, Personen aufgrund des bloßen Verdachts die Aufenthaltserlaubnis der Vereinigten Staaten zu entziehen und sie in ihre für Folterungen berüchtigten Heimatländer abzuschieben.640 Zudem erregte weder die Klage von vier bereits im März entlassenen Briten gegen Donald Rumsfeld wegen Misshandlungen in Guantanamo, noch die heftige Kritik des Vorsitzenden der UN-Antifolterkommission, Theo van Boven, auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz zum Verhalten der USA unter der Anti-Folterkonvention großes Aufsehen.641 Auch die stockende juristische Aufarbeitung der Vorfälle in Abu Ghraib wurde kaum noch öffentlich skandalisiert – was vor dem Hintergrund nun erscheinender Monographien und Dokumentensammlungen zu dem Thema, für die ebenfalls kein großes Interesse zu bestehen schien, umso leichter möglich gewesen wäre.642 Lediglich die nach dem erneuten Wahlsieg Bushs erfolgte Nominierung eines der Autoren der kritisierten Memoranden, Alberto Gonzales, zum Nachfolger Ashcrofts im Amt des Justizministers, gegen die sich auch einige ehemalige Militärjuristen aussprachen, wurde auch über die New York Times hinaus zum öffentlichen und kongressinternen Thema.643 Soweit sich anhand der ausgewerteten Empirie die gesamte Debattenlage einschätzen lässt, scheint sich für die folgenden Monate im Winter 2004 und Frühjahr 2005 das Bild zu ergeben, nach dem die Herausgeber der New York Times gemeinsam mit einigen Menschenrechts-NGOs versucht haben, die öffentliche Skandalisierung Verhörmethoden, insbesondere in Guantanamo Bay, wieder anzukurbeln. 644 von Dieses gelang zumindest zeitweise in den Sommermonaten, nachdem Condoleezza Rice als neue 640 641 642 643 644 Vgl. das Editorial der New York Times mit dem Titel „Not in America” vom 01. Oktober 2004. Vgl. Reuters 2004: World Briefing Europe: Britain: Ex-Guantanamo Inmates File Suit, in: New York Times, 28.10.2004 bzw. die Pressemitteilung der Vereinten Nationen vom 28.10.2004 mit dem Titel „Human Rights Press Conference on Requests Visits to Detention Centers.” Hier handelt es sich insbesondere um Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, dessen Nichtbeachtung in der New York Times am 04. Dezember 2004 von Peter Steinfels in seiner Rezension mit dem Titel „The ethical questions involving torture of prisoners are lost in the debate over the war in Iraq” beklagt wurde. Vgl. etwa Lewis, Neil A. 2004: Ex-Military Lawyers Object To Bush Cabinet Nominee, in: New York Times, 16.12.2004. In seinen Schreiben hatte sich Gonzales v.a. gegen die Einhaltung der Genfer Konventionen und für einen extrem engen Folterbegriff ausgesprochen, vgl. S. 201 der Arbeit sowie im Original: Memo von Alberto Gonzales an Präsident Bush mit dem Titel „Decision re application of the Geneva Convention on Prisoners of War to the conflict with al Qaeda and the Taliban“ vom 25. Januar 2002, abgedruckt in: Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, S. 83-87, hier S. 84 So stellte etwa das IKRK in einem Bericht vom Dezember 2004 fest, die in Guantanamo angewandten Methoden würden „tantamount to torture”, vgl. Internationales Komitee vom Roten Kreuz 2004: Iraq: ICRC explains position over detention report and treatment of prisoners, Pressekonferenz, 08.05.2004. – 178 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Außenministerin bei ihren Antrittsbesuchen in Europa von beinahe jedem Amtskollegen zur Schließung der Gefangenenlager in Guantanamo aufgefordert worden war. Als zudem die Generalsekretärin von Amnesty International, die Lager auf Kuba zudem als „gulag of our times ” bezeichnete,645 schlossen sich auch bedeutende Personen der USA (u.a. Jimmy Carter) dieser Forderung an.646 Die folgende Auseinandersetzung innerhalb der Bevölkerung erreichte aber nicht mehr die Reichweite und Schärfe derer um Abu Ghraib. Ebenso wie die Skandalisierung tatsächlich geschehener Misshandlungen war auch die öffentliche und mediale Diskussion über den Nutzen und die Notwendigkeit „milder Folter“ stark abgeflaut – auch, wenn einige Politiker der wieder gewählten Regierung versuchten, ihr Vorgehen stärker zu rechtfertigen, als dies einige Monate zuvor beim Abu Ghraib-Skandal der Fall gewesen war. Hoffte man hier vielleicht bereits über die Apathie der Bürger nach der Aufregung um die Vorfälle im Irak auf das stillschweigende Einverständnis der Bevölkerung, die in Meinungsumfragen ja zumindest einige Methoden „milder Folter“ mehrheitlich gebilligt hatte? In diese Richtung deuten zumindest der nun „routinemäßige Einsatz“ von Folter in US-amerikanischen Krimi- und Agentenserien, deren Produzenten sich den Vorwurf der New York Times gefallen lassen mussten, Folter in den Augen der Öffentlichkeit zu normalisieren647 – aber auch Leserbriefe an die NYT, diese würde mit ihrer ausführlichen Berichterstattung zum Thema Folter über die Stränge schlagen: „I suspect that we Americans may not be as conflicted about ‚torture lite’ as your writer may imagine. (…) The actual rules are usually unspoken: we expect those on the front line to take the necessary steps to protect us while maintaining community standards of human decency and respect.“648 Vor dem Hintergrund der schweigenden Öffentlichkeit war nun jedoch umso deutlicher zu hören, dass sich die Debatte um die Notwendigkeit von Folter unter einigen Intellektuellen des Landes nicht nur fortsetzte, sondern auch drehte: Ganz anders als in den ersten Jahren der Diskussion, in der auf die Essays von Dershowitz, Ignatieff und anderen Befürwortern „harter Verhörmethoden“ mit aggressiver Polemik geantwortet und die Rechtsberater des Weißen Hauses bestenfalls als skrupellose Rechtsverdreher gebrandmarkt worden waren, schien sich im Frühjahr 2005 zwar noch kein Kompromiss herauszubilden – die Notwendigkeit einer ernsthaften Debatte über dieses Thema wurde jedoch von immer mehr Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anerkannt und die Positionen der norm challengers nun als rationale (wenn auch nicht in allen Punkten geteilte) Argumentationsweise angesehen: „The wall 645 646 647 648 Zitiert nach einem Editorial der New York Times vom 06. Mai 2006 mit dem Titel „Un-American by Any Name”. Vgl. Associated Press 2005: Carter Says U.S. Should Close Detention Center at Guantanamo, in: New York Times, 08.06.2005. Vgl. Green, Adam 2005: Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time, in: New York Times, 22.05.2005. Leserbrief von Robert Blount-Lyon mit der Überschrift „Interrogating Ourselves ” abgedruckt in der New York Times vom 26. Juni 2005. – 179 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e between the liberal campus and a conservative, utilitarian-minded military breaks down”. 649 In Sandford Levinsons Sammelband mit Essays von Autoren verschiedenster fachlicher Hintergründe und politischer Richtungen nimmt sich der Beitrag eines Chicagoer Ethikprofessors, nach dem Folter vollständig „tabooed and forbidden” bleiben sollte, nun eher als Einzelmeinung aus.650 Der Trend bestätigt sich, als im Juni sogar ein ehemaliger Chefredakteur der New York Times in der NYT einen mehrseitigen Essay veröffentlichte, der auf die nun „rationalisierte“ Debatte um torture lite hinweist („Meanwhile, torture lite has been the subject of a little-noticed but intense debate involving rights groups, law professors, ethicists, counterterrorism theorists and military lawyers”) und sie als notwendig hinstellte:651 Die nach Abu Ghraib eingekehrte Ruhe könne, ja müsse nun genutzt werden, um zum Kern der Frage durchzudringen, wie mit der Frage von torture lite umzugehen sei und er selbst halte mittlerweile weder die Extremposition, „milde Folter“ in jeder Situation abzulehnen noch das Zulassen brutaler Verhörmethoden für gerechtfertigt, sondern schwanke – nach einer Reihe von Interviews und Recherchen – zwischen der Notwendigkeit des Versuches, bestimmte Methoden für bestimmte Fälle zu legalisieren oder aber die strikten gesetzlichen Verbote aufrecht zu erhalten und im Ernstfall zu brechen. Lelyveld zog für seinen Essay auch einen Bericht einer Gruppe renommierter RechtswissenschaftlerInnen heran, die bei einem Treffen in Harvard 2005 einen Report über den Einsatz „harter Verhörmethoden“ (highly coercive interrogation, kurz HCI) ausgearbeitet und publiziert hatten.652 Dabei hatte nach eigenen Angaben nur einer der rund zwanzig anwesenden ProfessorInnen Zweifel geäußert, ob man „HCI“ tatsächlich in den von seinen MitdiskutantInnen geforderten Fällen (ähnlich dem ticking bomb scenario) anwenden sollte.653 Schließlich sei es unwahrscheinlich dass, wie im Abschlussbericht der Gruppe gefordert, der Präsident sein Einverständnis für jede der genannten Extremsituationen geben könne. So praxisfern die Vorschläge der Harvard-Gruppe auch waren, fanden sie doch Anklang im Kongress – auch unter DemokratInnen: „If you’re serious about trying to get information in advance of an attack, interrogation has to be one of the main tools. It has to be made to work. I’m O.K. with it not being pretty.”, gab die demokratische Abgeordnete Jane Harman zu Protokoll, während der entschiedene Foltergegner John McCain als einer der wenigen Republikaner die Debatte, welche Methoden gerade noch angemessen und legal sein könnten, 649 650 651 652 653 Auch für das zuvor Gesagte insbesondere Kaplan, Robert D. 2005: Hard Questions, in: New York Times, 23.01.2004. Elshtain, Jean Bethke 2004: Reflection of the Problem of ‚Dirty Hands’, in: Levinson, Sanford 2004: Torture. A Collection, S. 77-89, hier S.79. Es handelt sich um Lelyveld, Joseph 2005: Interrogating Ourselves, in: New York Times, 12.06.2005. Heymann, Philip B./Kayyem, Juliette N. 2005: Long-Term Legal Strategy Project for Preserving Security and Democratic Freedoms in the War on Terrorism, National Memorial Institute for the Prevention of Terrorism, Harvard. Zu diesen Fällen zählte die Befragung von Gefangenen, bei denen man „probable cause to believe that he is in possession of significant information (…) about a specific plan that threatens U.S. lives ” habe. – 180 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e endlich beendet sehen wollte: „You don’t need to get into questions of whether its O.K. to break someone’s right arm but not his left foot.” 654 Tatsächlich bildete die Debatte des Kongresses um ein neues Foltergesetz im Winter 2004 unter der Beteiligung McCains den vorläufigen Schlussakt der Folterdebatte. Das Amendment on (1) the Army Field Manual and (2) Cruel, Inhumane, Degrading Treatment, amendment #1977 , neben McCain noch von vier weiteren republikanischen Senatoren eingebracht, sollte endlich eine Vereinheitlichung der Verhörmethoden bringen, sowie alle über diese im einschlägigen Armeehandbuch festgehaltenen Methoden hinausgehenden Praxen untersagen. Nachdem das Gesetz nach hitzigen kongressinternen Debatten mit den Stimmen einiger abweichender republikanischer Abgeordneter in beiden Häusern verabschiedet worden war, weigerte sich Präsident Bush zunächst, das McCain Amendment zu unterschreiben und drohte das erste Veto seiner Präsidentschaft an. Dass es schließlich doch noch zur Verabschiedung des Gesetzes durch den Präsidenten kam, verdankt sich einem politischen Trick: Kurz vor der Ausfertigung des amendments wurde ein neues Armeehandbuch herausgegeben – mit einem geheimen Kapitel über Verhörmethoden, so dass bis heute nicht bekannt ist, von welchen Methoden laut Gesetz nicht mehr abgewichen werden darf. Auf politischer Bühne fiel der Vorhang also (zunächst) vor einer Reihe offener Fragen in der Folterdiskussion. Im Rückblick erscheint die Debatte um die Legalisierung gerade im Vergleich zu der um die Entwicklung neuer Nuklearwaffen (s.u.) als viel chaotischer: Es gibt kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die sich nicht irgendwann zu diesem Thema geäußert hätte, die allermeisten Gruppen waren intern gespalten, einige „kippten“ insbesondere gegen Ende der Debatte und nahmen in den verschiedenen Subdebatten (sollte es überhaupt eine Folterdebatte geben? Wie sind die Misshandlungen in Abu Ghraib und in Guantanamo zu bewerten? Ist torture lite eine angemessene Form von Verhörmethoden? usw.) teilweise unterschiedliche Positionen ein. Dabei ist auffällig, dass diejenigen Gruppen, denen man am ehesten eine Position klar für die unbedingte Beibehaltung der Norm zugedacht hätte, nämlich die Lobbygruppen arabischstämmiger und moslemischer US-Amerikaner sich erstaunlich ruhig verhielten. Die Skandalisierung von Misshandlungen und der Versuch, die Debatte um eine Legitimierung von Folter zunächst zu unterbinden ging vielmehr – wie zu erwarten – von Menschenrechtsorganisationen aber auch von den Medien, insbesondere der NYT aus. Hier veröffentlichten die Norm-Befürworter im Wesentlichen ihre Standpunkte, wobei die Argumente großer norm challengers wie Dershowitz oder Ignatieff – als Abweichen von der Normalposition – mehr Beachtung fanden, so dass sich zwar viele LeserInnen, JournalistInnen und HerausgeberInnen äußerst kritisch auseinander setzen, sie aber keinen wirklich „großen“ einzelnen Gegenspieler gehabt hätten. 654 Beide zitiert nach Lelyveld, Joseph 2005: Interrogating Ourselves, in: New York Times, 12.06.2005. – 181 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Die aus der Sicht der Tabudiskussion wichtigsten Befunde mit Blick auf die Akteurslandschaft sind zum einen, dass es ganz offensichtlich keinen Versuch der Regierenden gab, die Debatten der Öffentlichkeit auszunutzen, geschweige denn in Richtung einer Akzeptanz von Folter zu lenken. Möglicherweise hing dies damit zusammen, dass man sich schon früh darauf festgelegt hatte, alles zu dementieren und von dieser Linie später nicht mehr abweichen konnte, möglicherweise stand auch die Aufdeckung brisanter Geheimdienstoperationen durch das Eingeständnis, Folterungen zuzulassen und / oder die Unterstützung der (europäischen) Alliierten auf dem Spiel. Stattdessen verliefen die Diskussionen innerhalb der Administration und in der Bevölkerung teilweise parallel, so dass das Foltertabu letztlich in einer Art Zangenbewegung zerbrach: Von „ganz unten“ drängte die Bevölkerung diskursiv auf die Aufhebung der absoluten Gültigkeit des Tabus – später angeführt von prominenten norm challengers, die sich an die Spitze dieser Debatte setzten. Genau spiegelverkehrt wurden Folterungen innerhalb der Administration zunächst von „ganz oben” tatsächlich legitimiert, vermutlich zumindest im Einvernehmen mit dem USPräsidenten, während sich die nicht-öffentliche Legitimierungspolitik (teilweise unwissentlich) durch die unteren Ränge der Administration und des Militärs fortsetzte bzw. vermehrt gefordert wurde, bis es schließlich auf der Ebene einfacher Reservisten zur (bloßen?) Ausführung der Misshandlungen im Abu Ghraib-Gefängnis kam. Zum Anderen ist interessant, dass das Foltertabu schnell von ganz allein brach – ohne, dass man der Regierung ein entsprechendes Handeln zunächst zugetraut hätte. Das Verbot, über Folter nachzudenken, schien schon Ende 2001 gebrochen und Mitte 2004 bereits soweit erodiert, dass selbst der öffentliche Aufschrei über die Folterungen in Abu Ghraib nicht zu einer Beendigung der Debatten und einem Wiedererstarken der ursprünglichen Norm führte. Ganz im Gegenteil wurde es nach dem Wegfallen des Tabus auf allen Ebenen möglich, ja von vielen sogar als nötig erachtet, über erlaubte und verbotene Foltermethoden nachzudenken – eine Frage, die sich zehn Jahre zuvor höchstens CIA-Verhörspezialisten gestellt hätten. Dennoch zeigte sich am Ende des Untersuchungszeitraumes die Öffentlichkeit, Medien und auch der Kongress weiterhin über die Frage gespalten, ob Folter in Verhören nun eingesetzt werden sollte oder nicht, auch, wenn sowohl die Position der BefürworterInnen, wie auch die der GegnerInnen als rational anerkannt wurde. Tatsächlich hätten viele Diskursteilnehmer vermutlich gern den Argumenten beider Seiten zugestimmt, wie dies die TeilnehmerInnen der zuvor angeführten Meinungsumfragen oftmals auch taten. Denn sowohl Norm-Befürworter wie auch Norm-Gegner konnten mit guten Argumenten aufwarten, die Gegenstand des folgenden Unterkapitels sein werden. 6.1.3 Argumentationsweisen im Streit um das Foltertabu Nachdem bisher der Verlauf der Debatte um eine Legitimierung von Folter sowie die Positionen ihrer wichtigsten ProtagonistInnen aufgezeigt wurden, werden im Folgenden die von letzteren verwendeten Argumente vorgestellt. Anders als die Akteurspositionen änderte – 182 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e sich die Argumentationsweise über den Zeitraum der Debatte hinweg kaum, so dass ich für dieses Unterkapitel einen thematischen, statt einen chronologischen Zugriff gewählt habe. Vor dem Hintergrund unseres Forschungsinteresses kommt den Argumenten der NormgegnerInnen mehr Gewicht zu, als denen der NormbefürworterInnen, weshalb ihre Analyse hier auch breiteren Raum einnehmen wird. Nachdem die Umstände, unter denen die neue Diskussion begann, skizziert worden sind, werden zunächst die FoltergegnerInnen, dann wieder ausführlich die FolterbefürworterInnen zu Wort kommen. Neue Bedrohung, neue Regeln: Folter als Notwendigkeit im Zeitalter des Terrorismus „The date September 11, 2001, marked an historic juncture in America’s collective sense of security. On that day our presumptions of invulnerability was irretrievably shattered.” 655 Die auf den ersten Blick vielleicht trivialste Feststellung – dass die Diskussion um eine Rechtfertigung von Folter vor dem Hintergrund des Global War on Terror geführt und Folterungen auf diese Ausnahmesituation beschränkt bleiben sollten – ist nicht ganz so banal, wenn man sich die dahinter stehenden Prämissen betrachtet: Mit dem 11. September waren neue Akteure auf den Plan getreten (oder vielmehr: ins Bewusstsein gerückt), bei denen die Anwendung von Folter nach Jahrzehnten der Tabuisierung zum Einen wieder notwendig und aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften zum Anderen als weniger unmoralisch erschien. Diese beiden Prämissen, die scheinbar gegebene Notwendigkeit zu foltern und das mit diesem Standpunkt häufig verknüpfte Menschenbild eines „folterbaren“ Terroristen, bildeten die Basis der untersuchten Diskussionen, welche das Foltertabu schließlich zu Fall bringen sollten. Wie bereits angeführt, setzen die Debatten sehr schnell nach den Anschlägen des 11. September ein und tatsächlich gibt es kaum ein Statement für Folter, das diesem Ereignis nicht in irgendeiner Weise Rechnung zollt. Der Terroranschlag auf eigenem Boden wurde als so einschneidendes Ereignis wahrgenommen, dass vor allem, aber nicht nur den FolterbefürworterInnen ein völlig neues Denken insbesondere in Bezug auf die eigene Sicherheit erforderlich schien. Dazu gehörte auch und gerade die Verabschiedung von einigen alten Regeln der Kriegs- und Bürgerrechtskataloge, wie den Genfer Konventionen oder dem Miranda-Warning, deren BefürworterInnen nun als „hopelessly ‚Sept. 10’ – living in a country that no longer exists” angesehen wurden.656 Es wurde sogar argumentiert, die Einhaltung der alten Regeln hätte „9-11“ erst möglich gemacht, so dass nun keinesfalls mehr „business as usual” angesagt sei: „If we keep on doing the same thing, we cannot be surprised by the same 655 656 Schlesinger, James 2004: Final Report of the Independent Panel To Review DOD Detention Operations, online unter: <http://www.defenselink.mil/news/Aug2004/d20040824finalreport.pdf>, rev. 19.07.2006. Wie in diesem Eingangszitat wird auch in einigen weiteren Zitaten dieses Unterkapitels das Wort „torture ” nicht vorkommen, da es an anderen, nicht zitierten Stellen des Dokuments fällt, deren Übernehmen die Zitate größtenteils unnötig verlängern würde, vgl. aber die Dokumente auf der beigelegten CD-Rom. Alter, Jonathan 2001: Time to think about torture. It’s a new world, and survival may well require old techniques that seemed out of the question, in: Newsweek, 05.11.2001. – 183 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e results.”657 Die gegenteilige Möglichkeit, dass eine mehr oder weniger häufige Verletzung der rhetorisch gesetzten Standards in der eigenen Außenpolitik (bzw. deren Anwendung mit zweierlei Maß) starke Ressentiments gegenüber den USA gerade im arabischen Raum hervorgerufen haben könnte, wurde zumindest in dieser Debatte von Beginn an nicht thematisiert. Dagegen wurde mehrfach klargestellt, dass die Vereinigten Staaten nicht diejenigen gewesen seien, die sich dazu entschlossen hätten, alte Standards über Bord zu werfen: „[T]he old rules were being thrown out the window by our attackers.”658 Die FolterbefürworterInnen machten also deutlich, dass der Diskurs über dieses Thema nicht gewollt, sondern ihnen aufgezwungen worden war. Dementsprechend pochten sie zunächst darauf, dass die einsetzende Debatte über Folter absolut notwendig sei – wobei noch nicht (explizit) gesagt wurde, dass man sich am Ende der Auseinandersetzung klar für Folterungen aussprechen müsse: „The search for an effective way to combat the very real threat of terrorism has forced Americans to confront such uncomfortable questions“ (Herv. SoSchi), stellte selbst die New York Times fest.659 Gerade auch die Regierung hätte sich unbedingt mit der Option einer Legalisierung von Folter auseinander setzen müssen, wurde den Kritikern der 2004 veröffentlichten Memoranden entgegengehalten: „White House and Justice Department lawyers did explore the limits of permissible interrogation techniques – something it would have been irresponsible not to do after 9-11.“ 660 Schließlich würden sich gerade die Liberalen des Landes als erste über das Versagen der Regierung beschweren, wenn diese nicht alle Maßnahmen ergriffen und so einen zweiten Anschlag nicht verhindert hätte.661 Von liberaler Seite wurde hingegen darauf verwiesen, dass eine öffentliche Diskussion und diskursive Einigung über das Festlegen eventueller neuer Standards nach dem ersten erfolgten Terroranschlag unbedingt notwendig sei, um eine eigenmächtige und vermutlich extremere Ausweitung der Handlungsspielräume der Regierung (und ein stillschweigendes Abnicken derselben durch die Bevölkerung) nach einem eventuellen zweiten Terrorakt zu verhindern.662 657 658 659 660 661 662 Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov/archive /ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006. Editorial des Wall Street Journal mit dem Titel „The Torture Canard ” vom 11. Juni 2004. Slackman, Michel 2004: What’s Wrong With Torturing a Qaeda Higher-Up?, in: New York Times, 16.05.2004. Vgl. für einen Standpunkt für eine Debatte aber gegen „wirkliche“ Folterungen im Gegensatz zu lite torture etwa Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004: „thinking about lesser evils is unavoidable. (…)The abuse we need to talk about is torture.” Editorial des Wall Street Journal 2004: Tortured Arguments, in: Wall Street Journal, 25.06.2004. Vgl. Griesman, Henry 2004: The Legal Memos About Torture, in: New York Times, 13.06.2004. Vgl. insbesondere das Horrorszenario von Ignatieff noch in Unkenntnis der Regierungspolitik zur Folterfrage: „Once the zones of devastation were cordoned off and the bodies buried, we might find ourselves, in short order, living in a national-security state on continuous alert, with sealed borders, constant identity checks and permanent detention camps for dissidents and aliens. Our constitutional rights might disappear from our courts, while torture might reappear in our interrogation cells. The worst of it is that government – 184 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e In den meisten dieser eher gegen die Norm gerichteten Aussagen manifestierte sich in zweierlei Hinsicht noch die Stärke des allerdings bereits schwächelnden Tabus: Erstens wurde es ganz klar als unangenehm empfunden, sich mit dem Thema Folter auseinander zu setzen, bzw. auseinander setzen zu müssen, das, wie es selbst der norm challenger Dershowitz formulierte „so horrible” sei, „that our mind rebels even at the notion of thinking about evil options.”663 Auch die FolterbefürworterInnen stellten sich also so dar, als hätten sie nur allzu gerne dem Schweigetabu weiterhin Rechnung gezollt. Zweitens wird allein an der Anzahl der Hinweise auf die Wichtigkeit der Debatte selbst deutlich, wie wenig selbstverständlich es war, diese führen zu können. Hier wurde ein Denkverbot aus dem Weg geräumt, das Foltertabu damit direkt angegriffen und bereits die Grundlage für die später eintretende Umkehrung der Zuschreibung illegitimer Argumentationspositionen gelegt: War es früher undenkbar, für Folter zu argumentieren, wies die später allgemein anerkannte Notwendigkeit des Führens einer neuen Debatte darauf hin, dass alte Standpunkte, die diese Diskussionen von vornherein ausschlossen – nämlich, indem sie Folter als unter keinen Umständen zu rechtfertigen darstellten – nun als Extremposition gewertet wurden, auf die man sich „rationalerweise“ nicht mehr zurückziehen konnte. Entsprechend wurde darauf hingewiesen, dass „only the most doctrinaire civil libertarians (…) deny ”, dass es keinerlei Fälle geben könne, in denen Folter gerechtfertigt sei.664 Bevor ich mich diesen Ausnahmefällen zuwende, ist die Frage zu klären, warum die BefürworterInnen neuer Debatten vor dem Hintergrund einer neuen Weltlage gerade auf die Idee des uralten Instrumentes der Folter verfielen. Noch im Oktober 2001 brachte es das Wall Street Journal auf den Punkt: would not have to impose tyranny on a cowed populace. We would demand it for our own protection.” 663 664 Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 133. Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.08.2002. Vgl. auch die Aussage Senator Schumers bei einem hearing Ashcrofts im Hinblick auf den US-Senat: „I think there are probably very few people in this room or in America who would say that torture should never, ever be used…”. Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006, online unter: <http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A25211-2004Jun8.html>, rev. 27.08.2006. – 185 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „It is commonly agreed that our greatest breakthroughs in this war will most likely come not from military strikes or careful diplomacy – needed and important as they both are – but from crucial pieces of information: a lead about a terrorist cell; a confession from a captured bin Laden associate (…) Indeed, one small lead could potentially save thousands of lives – perhaps millions.“665 Informationen waren nun aus zweierlei Gründen zur wichtigsten Waffe im Global War on Terror geworden: Erstens war man sich darüber im Klaren, dass man beinah ausschließlich mithilfe neu gewonnener Informationen neue Anschläge verhindern konnte: „I want to burn three lessons in your conscientiousness about our new strategy for prevention: First, information is the best friend of prevention”, hämmerte der damalige Justizminister Ashcroft seinen Kollegen von der New Yorker Anwaltskammer ein.666 Ohne auf einen Krieg hindeutende Signale wie etwa Truppenverlegungen, geschweige denn einer offenen Kriegserklärung, ohne das Wissen, wann der neue Feind wo und mit welchem Mittel wieder zuschlagen würde, wurden die von Mitgliedern des feindlichen Lagers tatsächlich genannten Informationen („human intelligence”) noch wesentlich wichtiger, als etwa diejenigen feindlicher AgentInnen aus der Zeit des Kalten Krieges.667 Die Vorbereitung auf und ggf. die Verhinderung weiterer Anschläge war jedoch auch deshalb ungleich schwieriger, weil zunächst (auch durch eigenes Verschulden in den 1990er Jahren) völlig unklar war, mit was für einem Gegenüber man es überhaupt zu tun hatte. Nun brauchte man, zweitens, nicht nur dringend Informationen darüber, wer Verbindungen zur al-Qaida oder ähnlichen Terrornetzwerken hatte, wie die Organisation Mitglieder rekrutierte und woher sie ihre finanziellen Mittel bezog, sondern auch, welche politischen oder religiösen Ziele sie überhaupt verfolgte und wie ihre Mitglieder „tickten“. Kurz, man musste mithilfe von Informationen erst einmal versuchen, dem gesichtslosen Feind ein Gesicht zu geben, „to learn more of a shadowy empire of evildoers about whom Americans know virtually nothing ”, um zu verstehen, nach welchen Logiken er operierte und um ihn irgendwie einschätzen zu können.668 Zudem gingen Bevölkerung und Regierung zumindest in den ersten Monaten nach „9-11“ davon aus, dass man nicht beliebig viel Zeit habe, diese Informationen zu sammeln und zu analysieren, vielmehr war die Angst vor erneuten Anschlägen allgegenwärtig, worauf Ashcroft wiederum eindrücklich hinwies: 665 666 667 Winik, Jay 2001: Security comes before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001. Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov/archive /ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006. Vgl. insbesondere die Analyse von Schlesinger: „The need for human intelligence has dramatically increased in the new threat environment of asymmetric warfare. Massed forces and equipment characteristic of the cold war era, Desert Storm and even Phase I of Operation Iraqi Freedom relied largely on signals and imagery intelligence. The intelligence problem than was primarily one of monitoring known military sites, troop locations and equipment concentrations. The problem today, however, is discovering new information from other sources. Information derived from interrogations is an important component of this human intelligence.” Schlesinger, James 2004: Final Report of the Independent Panel To Review DOD Detention 668 Operations, online unter: <http://www.defenselink.mil/news/Aug2004/d20040824finalreport.pdf>, rev. 19.07.2006. Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. – 186 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „Reject the dusty old notion that it can’t happen in my backyard. It can.”669 Dabei standen Regierung und Administration (samt Militär und Geheimdiensten) unter dem enormen Druck, es möglichst nicht zu einem solchen Fall kommen zu lassen. Stellt man sich unter diesen Umständen eine FBI-Agentin im neu errichteten Gefangenenlager Guantanamo Bay vor, deren Gegenüber seit seiner Inhaftierung vor mehr als einem Monat beharrlich schweigt, scheint die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum ausgerechnet wieder an Folter gedacht wurde, auf der Hand zu liegen – zumindest traf dies auf einige der besagten AgentInnen und einen Teil der US-amerikanischen Bevölkerung zu. Es ist also wenig erstaunlich, dass das Wall Street Journal die Schlussfolgerung der Regierung nach dem 11. September „that interrogation „natürlich“ bezeichnet.670 should be thorough and aggressive ” als Die „Versuchung ”,671 Folter einzusetzen, um wichtige Informationen zu erpressen, war umso größer, als den gefangenen radikalen Islamisten die Bedeutung ihres Wissens (wenn sie es denn hatten und nicht aus Versehen aufgegriffen worden waren) über geplante Überraschungsangriffe und geheime Organisationsstrukturen deutlich bewusst war, weshalb sie einen großen Anreiz hatten, zu schweigen. Zudem konnte man ihnen schwerlich einen Anreiz bieten, zu sprechen: Waren zu Zeiten des Kalten Krieges AgentInnen des KGB u.a. noch mit dem Versprechen einer sofortigen Einbürgerung in die USA zur Preisgabe von Informationen bewegt worden, erschienen solche Anreize bei eher dem Gedanken des Märtyrertums verpflichteten Fanatikern zwecklos:672 „How do you deal with somebody who may feel, truly, that there is nothing to lose? ”673 TabugegnerInnen wiesen zudem darauf hin, dass die inhaftierten Kämpfer eine gute Ausbildung im Hinblick auf Verhörmethoden erhalten hatten, was ein hochrangiges Mitglied der unter Bush eingesetzten Anti-Terroreinheiten bestätigte: 669 670 671 672 673 Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov /archive/ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006. Schlesinger, James 2004: The Truth About Our Soldiers, in: Wall Street Journal, 04.09.2004. Vgl. Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times, 09.05.2004. Vgl. Shenon, Philip 2002: Intelligence: Officials Say Qaeda Suspect Has Given Useful Information, in: New York Times, 24.04.2002. Tatsächlich gibt es allerdings anderslautende Hinweise, so berichteten Wachen aus Guantanamo Bay, die Gefangenen zeigten sich nach der Einführung von Belohnungssystemen wie Fernsehstunden oder Ausflügen zum Strand erheblich kooperativer. Hier wird allerdings weder klar, ob die hierdurch „gewonnenen“ Informationen wahr sind, noch, ob sie von fanatischen al-Qaida-Mitgliedern stammen. Von Seiten der NormbefürworterInnen wurde auch auf die Möglichkeit verwiesen, ein spezielles Zeugenschutzprogramm ähnlich wie bei der Aufdeckung der Cosa Nostra ins Leben zu rufen. Vgl. Earley, Pete 2002: Witness protection can help destroy al-Qaeda, in: USA Today, 14.02.2002. Vgl. Shenon, Philip 2002: Intelligence: Officials Say Qaeda Suspect Has Given Useful Information, in: New York Times, 24.04.2002. – 187 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „The interrogations of Abu Zubaidah drove me nuts at times (…) He and some of the others are very clever guys. At times I felt we were in a classic counter-interrogation class: They were telling us what they think we already knew. Then, what they thought we wanted to know. As they did that, they fabricated and weaved in threads that went nowhere.“674 Für unsere Analyse besonders interessant ist, dass einige NormgegnerInnen annahmen, das gerade in den USA starke Foltertabu würde die Gefangenen vom Reden abhalten – denn diese wüssten um die Skrupel und rechtlichen Bindungen der VerhörspezialistInnen und glaubten sich deshalb in Sicherheit: „The detainees were resistant. They knew we weren’t going to torture them. So we needed to come up with a Plan B for the small group of people who wouldn’t talk and who we thought did have intelligence.“675 Die Annahme, die Gefangenen wüssten um das bestehende Tabu in den USA und würden deshalb schweigen, kam aber auch in der häufig angewandten Praxis zum Ausdruck, die Inhaftierten durch das Aufstellen fremder Flaggen (oder auch Pflanzen und anderer Utensilien) glauben zu machen, sie seien nicht in die „folterfreien“ USA gebracht worden, sondern in ein Land, in dem brutale Folterungen an der Tagesordnung seien, wie etwa nach Ägypten oder Syrien.676 Hier schien also durch die Existenz des Tabus selbst eine direkte Notwendigkeit gegeben, das Folterverbot zu brechen. Insgesamt betrachtet schienen die norm challengers also nicht nur gute Argumente dafür zu haben, das Denkverbot über das Thema Folter zu brechen und wieder eine Debatte anzustoßen, sondern auch eine Wiedereinführung für Folter in bestimmten Fällen zu fordern. „Should the ticking bomb terrorist be tortured?” Enge Kosten-Nutzen-Rechnungen der NormgegnerInnen und Gegenmoral der BefürworterInnen 677 „[I]t’s easy to imagine any U.S. cop turning into Dirty Harry if he knew that tens of thousands of lives were on the line. He’d be more than willing to answer for it later, while they’re pinning the medal on his chest.” 678 Um dem von FolterbefürworterInnen beschriebenen Druck, durch Folter lebenswichtige Informationen zu erlangen, etwas entgegenzusetzen, brachten die NormbefürworterInnen am häufigsten das Kosten-Nutzen-Argument vor, Folter würde keine wahren Geständnisse 674 675 676 677 678 Wayne Downing, stellvertretender National Security Advisor for Combating Terrorism zitiert nach: Priest, Dana/Gellman, Barton 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002. Zitiert nach: Golden, Tim/Natta, Don van 2004: U.S. Said to Overstate Value Of Guantanamo Detainees, in: New York Times, 21.06.2004. Vgl. etwa Natta, Don van 2003: Interrogations: Questioning Terror Suspects In a Dark and Surreal World, in: New York Times, 09.03.2003. Kapitelüberschrift aus: Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 131. Lithwick, Dahla 2001: Tortured Justice, in: Slate, 24.10.2001. – 188 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e hervorbringen.679 Damit ließen sie sich nicht nur auf den oben skizzierten, schwer zu entscheidenden aristotelischen Auslegungsstreit über den Sinn von Folterungen ein, der über Jahrhunderte hinweg nicht für ein Verbot dieser Praxis ausgereicht hatte (s. S. 88 der Arbeit), sondern gaben auch die Möglichkeit aus der Hand, ihre GegnerInnen unter Hinweis auf das Schweigetabu „diskursiv ruhig zu stellen“, indem sie deren Überlegungen die Legitimation entzogen, statt mit ihnen in einen argumentativen Wettstreit zu treten. Da sie sich eben nicht auf die früher übliche „Extremposition“ (Folter ist unthinkable) zurückzogen, machten sie ihre Position extrem angreifbar – denn durch Belege, die den Nutzen von Folter gezeigt hätten, wäre ihr argumentativer Standpunkt leicht zu widerlegen gewesen. Weil solche Studien bisher nicht vorgelegt wurden, blieb es jedoch beim Vorbringen von Beispielen von beiden Seiten, wie insbesondere dem des bereits 1995 auf den Philippinen gefassten Terroristen Abdul Hakim Murad680 aber auch aktueller Fälle aus Abu Ghraib oder Guantanamo auf Seiten der FolterbefürworterInnen. FoltergegnerInnen beriefen sich darauf, einige Gefangene aus eben diesen Haftanstalten hätten gestanden, Osama bin Laden zu sein (was offensichtlich nicht zutraf) und erhielten Unterstützung seitens einiger Geheimdienst-Agenten, die meinten, unter Folter würden die Gefangenen „not only going to tell you he’s al-Qaeda, he’s going to tell you he was the other guy on the grassy knoll” in Dallas, von dem aus der zweite Schuss auf Kennedy abgefeuert worden sein soll: „If you violate the process by jumping in and rubberhosing some SOB, you’re going to get bad information 100% of the time.” 681 Zumindest mit dem Hinweis auf das unter Folter erpresste Geständnis Abu Zubaidahs schienen die FolterbefürworterInnen jedoch mehr als nur einen Beleg für ihre Sicht der Dinge in der Hand zu haben, sondern gleichzeitig auch ein praktisches Gegenargument gegen die häufig geäußerte Kritik, das sogenannte ticking bomb scenario sei ein so unwahrscheinlicher Fall, dass man sich darüber keine Gedanken machen, geschweige denn eine Verfassungsänderung anstrengen sollte, die ihm Rechnung trüge: Abu Zubaidah hatte seine Verhörer auf die Spur José Padillas gebracht, der angeblich mitten in Manhattan eine dirty 679 680 681 Die New York Times brachte zudem das sehr fragwürdige Argument auf, gerade bei Arabern hätte Folter wenig Sinn, da sie besonders geschickt lügen würden, vgl. Maas, Peter 2003: The World: Torture, Tough or Lite; If a Terror Suspect Won’t Talk, Should He Be Made To?, in: New York Times, 09.03.2003. Wie schwierig eine Entscheidung in dieser Kosten-Nutzen-Frage ist, lässt sich gerade an diesem von FolterbefürworterInnen häufig verwendeten Beispiel zeigen: Erstens wurde darauf hingewiesen, dass kaum festgestellt werden kann, ob das von Abul Hakim Murad nach 67 Tagen in philippinischem Gewahrsam abgelegte Geständnis, nach dem er beabsichtigte, den Papst zu ermorden und elf US-amerikanische Linienflugzeuge zu entführen, tatsächlich der Wahrheit entspricht. Zweitens ist jedoch belegt, dass er (obwohl man ihm u.a. bereits alle Rippen gebrochen hatte) erst nach der psychologischen Drohung gestand, ihn dem Mossad auszuliefern, was an seine tiefsitzende Angst vor Juden appellieren sollte. Hier stellt sich wiederum die Frage, ob die Androhung einer Überstellung an einen für seinen nicht gerade zimperlichen Umgang mit (mutmaßlichen) islamischen ExtremistInnen berüchtigten Geheimdienst an sich bereits eine Folterung darstellt und damit bereits verboten wäre. Vgl. für beide Zitate von Verhörspezialisten Diamond, John/Locy, Toni/Willing, Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003. – 189 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e bomb zur Explosion bringen wollte.682 Meist wird mit dem ticking bomb scenario eine noch dilemmatischere Situation konstruiert, die zum häufig zitierten Herzstück einer von FolterbefürworterInnen vertretenen „Gegenmoral“ wurde: Im Zentrum steht hier die Frage, ob man einen Terroristen, von dem man weiß, dass er in der jeweiligen Stadt eine Bombe gelegt hat, deren genauen Ort er nicht verraten will, die aber innerhalb der nächsten Zeit unweigerlich detonieren wird, persönlich foltern, bzw. Folter anordnen oder für gut befinden würde. Typischerweise wird das Szenario so lange variiert (z.B. hinsichtlich der Anzahl der potentiellen Opfer, zuvor ausgeschöpften Möglichkeiten, dem Vorliegen einer Anordnung des Präsidenten oder auch einer dermaßen großen Sprengkraft der Bombe, dass der Terrorist bei der Explosion selbst ums Leben käme), bis sich auch der/die Letzte eingestehen muss, dass Folter in diesem Fall vielleicht doch die bessere Alternative oder dies zumindest eine rational begründbare Position sei.683 Dieses Eingeständnis zeigt für NormgegnerInnen letztlich, dass es zum Einen keine Letztbegründung für das Verbot von Folter geben kann, da die Verweigerung einer Abwägung zwischen dem Leben unschuldiger Opfer und der Menschenwürde des Täters irgendwann selbst moralisch zweifelhaft wird. Zum Anderen gingen meist diejenigen, die auf der „Extremposition“, Folter dennoch niemals zulassen zu wollen, beharrten, doch davon aus, dass in einem solchen Fall tatsächlich gefoltert würde – was für FolterbefürworterInnen eine zweite Ebene moralischer Argumentation eröffnete. Insbesondere Dershowitz wies darauf hin, dass es sich bei der Diskussion des ticking bombFalles damit nicht um eine Abwägung zweier, sondern dreier Rechtsgüter handele, nämlich neben dem Recht auf Leben und der Menschenwürde auch dem der öffentlichen Verantwortlichkeit des Staates vor seinen BürgerInnen (einschließlich des Gefolterten, falls er/sie US-BürgerIn ist): „In a democracy governed by the rule of law, we should never want our soldiers or our president to take any action that we deem wrong or illegal.”684 Schließlich sei es besser, den Handlungsspielraum der Regierung qua Gesetz auf bestimmte Fälle, in denen Folter erlaubt sei, einzuengen, als ein der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogenes und vermutlich weit häufiger brutales Vorgehen der eigenen Geheimdienste zu riskieren.685 Letztendlich, argumentierte Dershowitz (wohlgemerkt, bevor die Misshandlungen in Abu 682 683 684 685 Als gegen Padilla nach dreieinhalb Jahren „Untersuchungshaft“ in Guantanamo Bay aufgrund einer Entscheidung des Supreme Court schließlich ein Gerichtsprozess eröffnet werden musste (s. S. 173 der Arbeit) wurden Hinweise der Anklage hierauf jedoch vermieden. Das ticking bomb scenario erinnert auch stark an die Situation des Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner aus dem Jahr 2002, der dem Entführer Jakob von Metzlers, Magnus Gäfgen, Folter androhen ließ, wenn jener den Aufenthaltsort des Jungen nicht bekannt gebe. Die erst bei dem Schuldspruch Daschners 2004 in Deutschland aufflammende Debatte wies große Schnittmengen mit der in den USA geführten auf, wenn auch hier (typisch kontinentaleuropäisch, s. S 67 der Arbeit) viel häufiger mit der im Grundgesetz festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde argumentiert wurde und die Diskussion in Kreisen politischer EntscheidungsträgerInnen wesentlich weniger prominent geführt wurde. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 151. Wie oben bereits skizziert, variierte Ignatieff dieses Argument dahingehend, dass er seinen Befürchtungen, nach einem eventuellen zweiten Anschlag in einer Folter erlaubenden Diktatur aufzuwachen, Ausdruck verlieh. S. S. 184 der Arbeit. – 190 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Ghraib und Guantanamo bekannt wurden) würden mit einer von der Bevölkerung mitgetragenen Regelung, die Folter in einigen klar definierten Ausnahmefällen mit Vorliegen des Einverständnisses eines bzw. einer hohen Vorgesetzten erlauben würde und deren Verletzung auch von Gefolterten eingeklagt werden könne, höchst wahrscheinlich weniger Menschen zu Folteropfern, als ohne ein solches Gesetz.686 Die Position, dass man im Kampf gegen den Terrorismus zwar schmutzige Hände bekommen werde, aber „dirty hands need not be lawless”687 und deshalb möglichst offen über Standards gesprochen werden sollte, die der neuen Weltlage angemessen seien, wurde auch von einigen Regierungsvertretern eingenommen, u.a. von Justizminister Ashcroft: „America is a nation that guarantees political freedom, self-governance, and open, honest debate. Even when our very way of life is challenged, the means and method of our nation’s defense is an essential part of our ongoing democratic dialogue.“ 688 Offensichtlich hinderte dies den Justizminister jedoch nicht daran, geheime Memos zur Legalisierung von Folter zu verfassen. „What’s Wrong With Torturing a Qaeda Higher-Up?” Erweiterte Kosten-NutzenArgumentation der FoltergegnerInnen 689 „Wake up. The world is watching.” 690 Da der Logik des ticking bomb scenario auch aus Sicht der FoltergegnerInnen kaum etwas entgegenzusetzen war, verlegten sie sich in ihrer Argumentation gegen eine Legalisierung dieser Praxis auf die Betrachtung langfristiger Entwicklungen aus einer breiteren Perspektive: Neben dem Nutzen von Folterungen wurde am häufigsten bezweifelt, dass es bei den etwa von Dershowitz benannten, wenigen Fällen legitimierter Folterungen bleiben würde, denn „[o]nce you open the door to torture, once you start legitimizing it in any way, you have broken the absolute taboo.”691 – was auch Freuds Annahme einer „Ansteckungsgefahr“ im Falle von Tabubrüchen entspricht.692 So würden sich, erstens, die Folterer selbst an ihr Handeln gewöhnen und vermutlich von alleine immer häufiger zu immer brutaleren 686 687 688 689 690 691 692 Dabei verwies Dershowitz auf die Praktiken US-amerikanischer Geheimdienste in den letzten Jahrzehnten. Aufgrund seiner Annahme, dass mit einer Folter erlaubenden Gesetzgebung (in US-Gewahrsam) weniger und nicht mehr Menschen gefoltert würden, erscheint es eher richtig, Dershowitz als norm challenger, denn als Folterbefürworter zu bezeichnen. Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004. Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov/archive/ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006. Überschrift eines Artikels von Michael Slackman, erschienen in der New York Times am 16. Mai 2004. Forderung eines Leserbriefes an die USA Today nach einer schnellen Aufklärung des Abu Ghraib-Skandals: Gary, Bruce 2004: World is watching, in: USA Today, 07.05.2004. Kenneth Roth in einem Fernsehinterview, vgl. CNN 2001: Target Terrorism: Forcing Suspects to Talk, Transkript der Sendung CNN Crossfire vom 25. Oktober 2001. Vgl. S. 34 der Arbeit. – 191 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Methoden greifen693 – und damit ihre eigene Identität verändern, wie es selbst ein CIA-Agent umschrieb: „When you start using torture, it redefines who you are.” 694 Zweitens würde es zu einer Ausweitung von Folterfällen innerhalb der USA kommen695 – vor allem, da ja selten vor einem Geständnis klar sei, ob ein Gefangener über lebenswichtige Informationen verfüge, die es sofort zu erpressen gelte, oder nicht und so höchstwahrscheinlich auch Unschuldige zu Folteropfern würden. Drittens fürchtete man eine internationale Erosion der Norm, da autoritäre Regime unter Hinweis auf ein ähnliches Verhalten der Vereinigten Staaten Folterungen nur allzu gerne legitimieren würden: „George W. Bush has thrown the Geneva Conventions, the only civilized aspect of war, into the trash bin. Would it be surprising if the worst of dictators around the world justified their own uncivilized acts of terror on the same basis?“696 Im Vergleich zur Anwendung dieser sog. slippery slope-Argumentation eines Dammbruchs durch Ausnahmeregelungen vom Folterverbot auf internationaler Ebene zeigten sich allerdings wesentlich mehr FoltergegnerInnen besorgt über die Sicherheit der SoldatInnen ihres eigenen Landes, die Opfer eines tit for tat-Verhaltens feindlicher Nationen werden könnten: „The next time Americans are taken as prisoners of war and the Pentagon seeks decent treatment the opposing nation will say, ‚What Geneva Convention? You ripped it up at Guantanamo Bay.’“697 Senator Biden nannte diese Bedenken gegenüber Justizminister Ashcroft sogar als Hauptgrund der Ratifizierung von Folterverboten durch die USA: „I’ll conclude by saying – there’s a reason why we sign these treaties: to protect my son in the military. That’s why we have these treaties. So when Americans are captured, they are not tortured. That’s the reason, in case anybody forgets it. That’s the reason.“698 693 So etwa James Glanz: „One answer [auf die Frage, wie normale SoldatInnen zu Folterern werden könnten], say psychologists, former intelligence officers and military analysts, may lie in the nature of torture itself: Torture and humiliation is a landscape without boundaries, a terrible slope that even the most practiced interrogators can slide down once they allow themselves to apply the slightest physical or psychological pressure.”, Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York 694 695 Times, 09.05.2004. Zitiert nach: Tom Malinowski, Rechtsberater bei Human Rights Watch , zitiert nach: Diamond, John/Locy, Toni/Willing, Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003. Dies sei beim Abu Ghraib-Skandal bereits deutlich geworden: „ While many Americans may see harsh interrogation techniques used on detained operatives of Al Qaeda as justifiable, the current Iraqi prisoner abuse scandal has demonstrated the slippery slope that the government, intelligence agencies and the military find themselves on when such methods are used.” Minet, Thomas J. 2004: When Al Qaeda Is 696 697 698 Interrogated, in: New York Times, 14.05.2004. Leserbrief an die NYT: Hyypia, Jorma 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004. Kenneth Roth zitiert nach: Lichtblau, Eric/Liptak, Adam 2003: Questioning to Be Legal, Humane and Aggressive, The White House Says, in: New York Times, 04.03.2003. Zitiert nach: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. – 192 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Ebenso wie die Misshandlungen in Abu Ghraib als Beleg der slippery slope-Argumentation gewertet wurden, schien sich diese Vorhersage mit der Enthauptung des US-Amerikaners Nicholas Berg im Irak vor laufender Kamera auf traurige Weise zu bewahrheiten.699 Daneben wurden in erweiterten Kosten-Nutzen-Rechungen noch andere Sicherheitsrisiken einer solchen Praxis auf verschiedenen Ebenen ins Feld geführt: Zunächst wurde hinsichtlich des individuellen Opfers argumentiert, dass dieses, wenn es unschuldig und zuvor kein überzeugter Anti-Amerikaner gewesen sei, nachher mit Sicherheit zu einem solchen werde: „Pain and humiliation will turn some innocent suspects into real terrorists and turn real terrorists into more-determined monsters.”700 Darüber hinaus wurde insbesondere nach dem Abu Ghraib-Skandal auf den verstärkten Widerstand der Gesellschaft hingewiesen, deren Mitglieder gefoltert würden: „Brutality, even the not ‚excessive’ sort (…) is a recipe for the resentment on which insurgency thrives. That is a lesson from Vietnam”.701 Dies verschaffe wiederum Terrorgruppen größeres Ansehen und neuen Zulauf: „Terrorists like Osama bin Laden have always intended to use their violence to prod the United States and its allies into demonstrating that their worst anti-American propaganda was true. Abu Ghraib was an enormous victory for them, and it is unlikely that any response by the Bush administration will wipe its stain from the minds of Arabs.“702 Auf lange Sicht würden Folterungen die Sicherheit der Vereinigten Staaten also eher bedrohen, denn fördern. Bereits in Richtung einer eher moralischen Argumentation wiesen strategische Bedenken, der Erfolg des Kampfes gegen den Terrorismus würde durch die Fortsetzung und Legitimierung dieser Praxis insgesamt gefährdet: „How can we advocate the democratic ideal when the entire world sees our hypocrisy? ”703 Diesen Widerspruch erkannten offensichtlich auch die europäischen Partner der USA: „Le Monde ran a front-page cartoon yesterday showing an American military boot crushing the head of an Iraqi while its owner told him, ‚Repeat after me: DE-MO-CRA-CY!’”. 704 Dies löste wiederum auf US-amerikanischer 699 700 701 702 703 704 An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, dass die im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus eingetretenen Ereignisse tragischerweise beiden Seiten Recht geben können: Denn der befürchtete Dammbruch hinsichtlich der Anwendung von Folter trat ja ein, nachdem sie insgeheim legitimiert worden war. Die Frage, ob mit einer öffentlich bekannten Ausnahmeregelung Abu Ghraib hätte verhindert werden können, bleibt also offen. Ähnlich schwierig ist eine Gesamteinschätzung der Sicherheitslage: Offensichtlich haben die Handlungen der USA Empörung unter den Alliierten, befreundeten Staaten und v.a. innerhalb der arabischen Welt ausgelöst, was sich sicherlich nachteilig auswirkt. Andererseits ist nicht bekannt, ob durch Folter erpresste Geständnisse uns tatsächlich weitere Anschläge in den USA und darüber hinaus erspart haben – VerhörspezialistInnen würden sich hüten, solch einen konkreten Beleg der Wirksamkeit ihrer Methoden öffentlich zu machen, da das jeweilige Geständnis dann nicht mehr vor Gericht verwendet werden könnte. Maas, Peter 2003: The World: Torture, Tough or Lite; If a Terror Suspect Won’t Talk, Should He Be Made To?, in: New York Times, 09.03.2003. Leserbrief von Kenneth Roth an die New York Times mit der Überschrift „Brutality in Iraq: Don’t Feed the Resentment”, erschienen am 23. November 2003. Editorial der NYT 2004: The Nightmare at Abu Ghraib, in: New York Times, 03.05.2004. Leserbrief an die NYT: Jones, Jaqueline: Foreign Policy And the Candidates, in: New York Times, 22.06.2004. Beschrieben in: MacFarquhar, Neil 2004: Revulsion at Prison Abuse Provokes Scorn for the U.S., in: New York Times, 05.05.2004. – 193 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Seite – und durchaus nicht nur auf Seiten der FoltergegnerInnen – die Befürchtung aus, auch die wichtigen europäischen Verbündeten könnten sich von den USA abwenden – nicht nur, weil sie Folterungen für moralisch verwerflich hielten, sondern auch, weil ihnen der Umgang der USA mit internationalem Recht zunehmend suspekt würde: „This is international law a la carte, like multilateralism a la carte. (…) It annoys your allies in the war against terrorism and it creates problems for our Muslim allies, too. It puts at stake the moral credibility of the war against terrorism.“705 Neben der Sorge um das Image der Vereinigten Staaten im Ausland, die nicht immer nur strategisch begründet wurde (so war von einem „damage to our reputation”706 und eines notwendigen „effort to regain our good name” 707 sowie des „respect of the world”,708 gesprochen, denn „I have never known a time in my life when America and its president were more hated around the world than today.”),709 brachten viele FoltergegnerInnen ihre Wut und Enttäuschung über das Handeln der eigenen Regierung zum Ausdruck, was bereits darauf hinwies, dass sie Folter als etwas ansahen, für das man sich weiterhin schämen müsse, was also moralisch noch immer grundfalsch sei: „How much more shame can this country tolerate? ”, fragte eine Leserin der NYT nach der Veröffentlichung der Memos,710 während in der gleichen Debatte gefordert wurde, der Präsident sollte endlich personelle Konsequenzen aus den Verfehlungen der Administration ziehen, denn nur dies „could help our country regain its lost honor.”711 NormbefürworterInnen griffen also zu den klassischen Mitteln des naming , blaming und shaming gegenüber den Verantwortlichen in der Regierung, um ihrer Forderung nach einer Rückkehr zur Einhaltung der Norm Ausdruck zu verleihen. 705 706 707 708 709 710 711 Zitat eines europäischen Diplomaten aus: Seelye, Katharine Q./Erlanger, Steven 2002: Captives: U.S. Suspends the Transport Of Terror Suspects to Cuba, in: New York Times, 24.01.2002. Dieser Kritikpunkt wurde bereits in Folter befürwortenden Memos angesprochen und auch von Colin Powell in seiner Argumentation gegen Folter verwendet, vgl. Lewis, Neil A. 2004: Justice Memos Explained How to Skip Prisoner Rights, in: New York Times, 21.05.2004. Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. Krugman, Paul 2004: America’s Lost Respect, in: New York Times, 01.10.2004. Minet, Thomas J. 2004: When Al Qaeda Is Interrogated, in: New York Times, 14.05.2004. Friedman, Thomas L. 2004: Restoring Our Honor, in: New York Times, 06.05.2004. Hyypia, Jorma 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004. Leserbrief von Blum, Stephen 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004. – 194 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „Does the Bush administration have a moral compass?” Moralische Argumentation der FoltergegnerInnen 712 „Targeted use of murder (…) torture-lite; these are not the stuff of democracy. I for one fear Ignatieff’’s rationalizations for eroding civil liberties more than terrorism itself (having myself been present at the World Trade Center at the moment of its attack). We are strong enough as a people to cope with terrorist attacks; we can survive and strengthen our democratic institutions in the face of modern-day terrorism. We cannot, however, survive the stepped erosion of democratic values. Death by a thousand cuts is nonetheless death.” 713 Beim gegen die eigene Regierung gerichteten shaming wurde ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass ihre Mitglieder die moralischen Grundeinstellungen der FoltergegnerInnen teilten, dass Folter nämlich auch weiterhin – und ohne dies weiter zu begründen – als moralisch falsch angesehen werden müsse. Tatsächlich finden sich einige Statements, in denen Folter ohne Begründung verurteilt wird: So sei das Anfertigen der Memoranden bereits „a moral failure that cannot be excused ” gewesen,714 ein Versuch, „to rationalize barbarity ”715 und „to justify the unjustifiable”. 716 Auch hätten die Folterer in Abu Ghraib „by human instinct” wissen müssen, dass „the things (…) were wrong ”,717 schließlich sei „torture (…) evil in any circumstances”718 und könnte „never be justified because it impugns the very meaning of our existence and precludes that which we aspire to be: human.”719 Ebenso erstaunlich, wie dass die hier angeführten Zitate beinahe die einzigen waren, in denen Folter explizit als aus ethischen Gründen verwerflich bezeichnet wurde,720 ist, dass kaum von einer unveräußerlichen Menschenwürde die Rede war – des Kerngedankens also, auf den sich die naturrechtliche Argumentation der Frühaufklärung maßgeblich gestützt und der in aller Deutlichkeit in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung als universeller 712 713 714 715 716 717 718 719 720 Leserbrief von Rinner, Robert 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004. Leserbrief von Bierman, Mark 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 16.05.2004. Leserbrief von Colyer, Dale 2004: Torture: Condemned or Condoned?, in: New York Times, 25.06.2004. Leserbrief von O’Bryan, Felice 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004. Liptak, Adam 2004: How Far Can a Government Lawyer Go?, in: New York Times, 27.06.2004. Senator Durbin in der Senatsdebatte am 10. Mai 2004: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004. Leserbrief von Rinner, Robert 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004. Darüber hinaus vertraten gerade Mitglieder der Kirchen in den USA den Standpunkt, Folter sei eine Sünde, was sich vor dem Hintergrund der Vergangenheit dieser Institution etwas seltsam ausnehmen mag. Vgl. Glassman, Mark 2004: U.S. Religious Figures Offer Abuse Apology on Arab TV, in: New York Times, 11.06.2004. Leserbrief von Iacopino, Vincent 2001: In Desperate Times, Talking of Torture, in: New York Times, 08.11.2001. Zusammengenommen wurden solche Positionen etwa halb so oft vertreten wie allein das Argument, Folter erbrächte keine wahren Geständnisse. Allerdings drückt die Sprache, mit der z.B. die Misshandlungen in Abu Ghraib beschrieben wurden, vielfach moralisches Entsetzen aus, ohne diese Handlungen explizit als moralisch falsch zu bezeichnen. – 195 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Standard niedergelegt worden war. Nur dreimal wurde der Begriff explizit genannt, davon einmal von einem norm challenger.721 Gegenüber der Betonung universeller Normen stand deutlich häufiger der Verweis auf die Unvereinbarkeit von Folter mit den Grundwerten der eigenen Nation im Vordergrund: „America is the land of the free and the home of the brave. Our country was founded on sacred principles, and it’s time for us to remember that we are the good guys, not the butchers”. 722 Die Referenz an die Grundwerte des Landes wurde teilweise sogar mit den Erfahrungen der Gründungseltern der Vereinigten Staaten belegt: „That is not America. That is not what we are all about. Our great country was founded by people fleeing governmental repression. Our founders wanted to ensure that the United States would not oppress its citizens even during time of war, and that is why they included a prohibition on cruel and unusual punishment in the Bill of Rights of the Constitution.“723 Deutlich trat hier die Grundeinstellung hervor, Folter sei mit der US-amerikanischen Identität unvereinbar: Vor dem Hintergrund des Statements Ignatieffs „[c]ivil liberties are what America is”724 nimmt sich die in Bezug auf die Legalisierung von Folter innerhalb der Regierung gestellte Frage „Is that who we really are? ”725 also durchaus berechtig aus. Während das Stichwort „westliche Wertegemeinschaft“ nicht ein einziges Mal fiel, wurden teilweise jahrhundertealte Exklusionsmechanismen zitiert: „[N]o other democracy is so exposed by these painful moral juxtapositions, because no other nation has made a civil religion of its self-belief. The abolition of cruel and unusual punishment was a founding premise of that civil religion. This was how the fledgling republic distinguished itself from the cruel tyrannies of Europe.“726 Deutlich wird die Amerikazentriertheit der Anti-Folter-Argumentation auch, wenn es um die Vorreiterrolle geht, die gerade die USA bei der Schaffung internationalen Menschenrechts eingenommen hätten und auf die etwa Colin Powell hinwies: „ He said bluntly that declaring the conventions inapplicable would ‚reverse over a century of U.S. policy and practice in 721 722 723 724 725 726 Nämlich einmal im US-Senat von Senator Gingrich, dessen Aussage erstaunlicherweise allein im Wall Street Journal abgedruckt wurde (in: Harwood, John 2004: New Values Debate over Prisoner abuse could hurt Bush, in: Wall Street Journal, 23.06.2004), vom norm challenger Ignatieff, der die Meinung vertrat, dass „[a]n outright ban on torture, rather than an attempt to regulate it, seems the only way a democracy can keep true to its ideal of respecting the dignity even of its enemies ” (Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004.) und mit ausführlicher Herleitung in der NYT (Green, Adam 2005: Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time, in: New York Times, 22.05.2002): „… torture goes against the tenets of human community in two fundamental ways. Because torturers deny the basic humanity of their victims, it’s a violation of the norms governing everyday society. At the same time, torture constitutes society’s ultimate perversion, shaking or breaking its victim’s faith in humanity by turning their bodies and their deepest commitments – political or spiritual belief, love of family – against them to produce pain and fear.” Leserbrief von Stillwater, Jame 2005: Case against Iraq overlooks U.S. values, in: USA Today, 06.02.2006. Senator Durbin in der Senatsdebatte zum „ Abuse of Iraqi Prisoners ”: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004. Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004. James Ross, Rechtsberater bei Human Rights Watch zitiert nach: Diamond, John/Willing, Richard 2004: U.S. interrogators face ‚gray areas’ with prisoners, in: USA Today, 13.05.2004. Ignatieff, Michael 2004: Mirage in The Desert, in: New York Times, 27.06.2006. – 196 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e supporting the Geneva Conventions.’”727 Auch, um ihrer Tradition zu entsprechen, müssten gerade die USA im internationalen Kampf gegen Folter weiterhin ein „leuchtendes Vorbild“ sein, statt sich vom rechten Weg abbringen zu lassen: „To be a shining example of democratic law, we should not exempt ourselves from the international law we fought for and helped create.”728 Auch Senator Durbin betonte, dass „[i]n an era where we have emerged as a superpower, the world looks to us for leadership, inspiration, and our values.” 729 Entsprechend wurde mehrmals explizit darauf verwiesen, dass Folter „un-american”730 sei und sich die USA niemals zu solchen Handlungen herablassen dürften: „With every revelation of extra-legal abuse tolerated by the Bush administration, America’s once sterling human rights reputation gets dragged down closer to the level of some third-rate tinpot dictatorship.“731 Allerdings vertraten einige DebattenteilnehmerInnen auch den Standpunkt, dass Folterungen generell nicht mit dem Wesen einer Demokratie vereinbar seien: „[T]here are certain things democracies don’t do, even under duress, and torture is high on the list.”732Auch die Einstellung, Folter sei unzivilisiert, kam häufiger zum Ausdruck: „[C]ivilized societies view torture with revulsion”.733 Gerade aufgrund der engen Verbindung der US-amerikanischen Identität mit der Folterfrage müsse man, so die FoltergegnerInnen, bedenken, was eigentlich ein Sieg im Kampf gegen den Terrorismus bedeute: „If our fear of terrorism pushes us to abandon our values, aren’t we sacrificing our soul to win the war?”734 Es sei also keine Option, sich dem Kampfstil der Terroristen anzupassen, um den Krieg zu gewinnen, denn „[p]ursuing wild geese, we could lose the war on terrorists, but by then it wouldn’t matter; whatever was worth de-fending would have died, not at the hands of terrorists, but by our own hand.”735 Letztlich sei der Kampf gegen den Terrorismus ein Krieg der Ideen, in dem die USA nur durch überlegene Moral siegen könnten, indem sie innerhalb der arabisch-islamischen Welt ein positives Bild hinterließen, um dem Terrorismus den Boden zu entziehen: 727 728 729 730 731 732 733 734 735 Colin Powell zitiert nach: Lewis, Neil A. 2004: Justice Memos Explained How to Skip Prisoner Rights, in: New York Times, 21.05.2004. Leserbrief von Jones, Jaqueline 2004: Foreign Policy And the Candidates, in: New York Times, 22.06.2004. Senator Durbin in der Senatsdebatte zum „Abuse of Iraqi Prisoners ”: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004. So lautete etwa die Überschrift eines Leberbriefes von Alan S. Keller an die NYT vom 10. November 2001. Leserbrief von Mezoff, Carl 2004: Abu Ghraib And Guantanamo, in: New York Times, 10.05.2004. Editorial der New York Times mit dem Titel „Diluting the Geneva Convention” vom 09. Februar 2002. Editorial der USA Today mit dem Titel „Cruelty is never justified ” vom 13. Mai 2004. Earley, Pete 2002: Witness protection can help destroy al-Qaeda, in: USA Today, 14.02.2002. Leserbrief von Willment, A. C. 2001: In Desperate Times, Talking of Torture, in: New York Times, 08.11.2001. – 197 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „Military action – minimally visible and carefully planned and implemented – may be necessary to win today’s battles. But the tools required in the long run to win the war are neither bombs nor torture chambers. We need a Manhattan Project-type effort – involving the best and the brightest from all over the world – to develop an effective strategy. The weapons required to win this war include tools for promoting dignity: schools, hospitals and health care for women, respect for human rights and an understanding that the law applies to everyone – including those who believe that God is on their side.“736 Angesichts der insgesamt doch stark ausgeprägten Grundeinstellung, dass eine Legitimierung von Folter nicht mit US-amerikanischen Werten und der Identität des Landes zu vereinbaren sei, mag es verwundern, dass die Diskussion letztendlich auf eine Anerkennung der Argumente der norm challengers als rational zu vertretende Position und die Suche nach einem Kompromiss hinauslief, wie mit dem Thema Folter umzugehen sei. Die Entmoralisierung von Folter: Eine neue juristische Balance und ein neues Menschenbild Wie konnte es den NormgegnerInnen gelingen, trotz der noch verbreiteten Überzeugung, Folter würde gegen die Grundwerte der Nation verstoßen, ihre argumentative Position zu halten und zu rechtfertigen? Hierfür scheinen – neben den eingangs erläuterten Rahmenbedingungen der Debatte – verschiedene argumentative Figuren verantwortlich zu sein, die Folter eben doch mit der Identität des Landes vereinbar erschienen ließen. Hierzu gehörte erstens der Hinweis auf die Notwendigkeit der Abwägung verschiedener Grundwerte (und damit von Teilidentitäten gegenüber der Gesamtidentität der Vereinigten Staaten), das insbesondere in asymmetrischen Konflikten wichtig sei und das, zweitens, unter Hinweis auf ähnliche Fälle in der eigenen Geschichte „normalisiert“ wurde. Bei der Vermittlung dieser Ansätze spielten, drittens, Euphemismen eine wichtige Rolle – zum Einen, indem über sie ein neues Menschenbild und die sprachliche Konstruktion eines „folterbaren“ Terroristen geschaffen und zum Anderen, indem mit neuen Bezeichnungen für bestimmte Foltermethoden eine „Ent-Totemisierung“ des Folterverbots erreicht werden konnte. Alle diese Aspekte wurden, viertens, von einer rechtlichen Debatte, die hauptsächlich in den Memoranden der Regierung festgehalten ist, begleitet und unterstützt. Fünftens wurde (zwar seltener, für uns aber außerordentlich wichtig) das Tabu selbst als irrationales Konstrukt erkannt und gebrandmarkt. Das Absolute abwägen: The constitution is not a suicide pact Die Kernbotschaft des ticking bomb scenarios wie auch des Aufhebens des Denkverbotes um Folter war, dass Folter vielleicht barbarisch und schlimm, nicht aber niemals abwägbar sei. Und von der Position, dass der Grundsatz der Folterfreiheit in einigen Ausnahmefällen gegen das Recht auf Leben abgewogen werden könne, war es wiederum nur ein kleiner Schritt zu der 736 Stern, Jessica 2004: Terrorists’ own words can help us stop them, in: USA Today, 24.06.2004. – 198 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Vorstellung, es sei ein Grundrecht wie jedes andere und könne damit einer „normalen“ Güterabwägung mit anderen Rechtsnormen legitim unterzogen werden (was aufgrund der absoluten Gültigkeit des Folterverbots natürlich unzutreffend ist). Das Schlagwort einer neuen Balance bei der Abwägung wichtiger Bürgerrechte, die nun gefunden werden müsse, machte unter NormgegnerInnen wie auch –befürworterInnen die Runde: „[O]ne of the most important decisions the nation faces is how we balance the security measures we need to forestall future arracks with America’s much-cherished doctrine of civil liberties.“737 Hatte die Frage, wie man abwägen sollte diejenige, ob eine solche Abwägung nicht eigentlich indiskutabel und unmoralisch sei erst einmal in den Hintergrund gedrängt, war es möglich, beiden Extrempositionen (einer Nichtabwägung von Folter gegen Sicherheit und umgekehrt) die Gültigkeit abzusprechen: „To stick to perfectionist commitment to the right to life when under terrorist attack might achieve moral consistency at the price of leaving us defenseless in the face of evildoers. Security, moreover, is a human right, and thus respect for one right might lead us to betray another.“738 Die hinter diesen Abwägungsüberlegungen stehende Prämisse, dass Folter zumindest kurzfristig die Leben unbescholtener US-BürgerInnen retten könne, wurde durch das Einlassen auf diese Argumentation seitens der FoltergegnerInnen ebenfalls „geschluckt“. Selbst nach dem Abu Ghraib-Skandal war diese Einstellung so breit akzeptiert, dass Präsidentschaftskandidat Kerry es für besser hielt, das Thema Folter aus seiner Wahlkampagne herauszuhalten, um als Kritiker US-amerikanischer Gefangenenlager und dortiger Verhörmethoden nicht in den Verdacht zu geraten, er würde sich nicht genug für die Sicherheit des Landes einsetzen.739 Auch im Regierungslager wurden offensichtlich schon früh konkrete Grundrechtsabwägungs-Überlegungen angestellt: „For the attorney general’s office, it is a delicate balancing act. The interests of national security must be weighed against constitutional guarantees, the safety of 280 million citizens squared against the rights of a few, or a few thousand, individuals – mostly foreign nationals. The United States has not faced such a quandary since the attack on Pearl Harbor, when it was deemed necessary to intern 110,000 Japanese and people of Japanese descent, 70,000 of whom were United States citizens, to stop possible sabotage or espionage.“740 In diesem Zitat aus dem Jahr 2002 deutet sich bereits an, dass diese NormabwägungsÜberlegungen zusätzlich legitimiert wurden, indem NormgegnerInnen sie in eine Reihe historischer Abwägungsprozesse einreihten, die in Notfällen – verfassungsgemäß oder nicht – vorgenommen worden waren (neben den Maßnahmen nach den Angriffen auf Pearl Harbour wurde häufig auch das „Vorbild“ Lincolns angeführt, der zeitweise die Habeas Corpus- 737 738 739 740 Winik, Jay 2001: Security comes before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001. Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh, S. 21 Vgl. Lelyveld, Joseph 2005: Interrogating Ourselves, in: New York Times, 12.06.2005. Brzezinski, Matthew 2002: Hady Hassan Omar’s Detention, in: New York Times, 27.10.2002. – 199 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Prinzipien außer Kraft gesetzt hatte). Der Hinweis darauf, dass all diese notwendigen Ausnahmeregelungen später wieder zurückgenommen worden waren, sollte einerseits den Aufgeregtheiten der FoltergegnerInnen die Grundlage entziehen, war andrerseits jedoch auch Teil der generellen Vorstellung, es gäbe unterschiedliche oder zumindest unterschiedlich strenge (Folter-)Regelungen für Kriegs- und Friedenszeiten, wobei in ersteren prinzipiell jedes Recht einer Abwägung unterzogen werden dürfe: „…we are at war. And for us to begin to discuss all the legal ramifications of the war is not in our best interest and it has never been in times of war. This is a long understood and long-established practice.“741 Schließlich sei es auch eine positive Besonderheit des US-amerikanischen Rechts, dass es neuen Situationen flexibel angepasst werden könne, so etwa in Krisenzeiten.742 Dies spiegele sich auch im Verhalten der Justiz wider, die z.B. im Fall der Folterung Abner Louimas in den 1990er Jahren durch die New Yorker Polizei (s. S. 151 der Arbeit) sehr hart geurteilt habe, gegenüber Beamten, die arabischstämmige US-Amerikaner interniert und „hart verhört“ hatten, jedoch Milde habe walten lassen:743 „Perhaps the most outstanding characteristic of the American system of justice is its flexibility. It keeps finding ways to reflect the public mood – often helped along by pragmatism.” Deutlich kommt hier der Gedanke zum Ausdruck, dass staatliche Institutionen die Rechte ausüben sollen, die ihnen das Volk zugesteht (s. S. 68 der Arbeit). Dass Gesetze nicht in Stein gemeißelt und „the Constitution (…) not a suicide pact” seien, wurden zum typischen Slogan der norm challengers.744 „Geneva for demagogues”: der Regierungsmemoranden 745 Einblicke in die Rechts(lücken)argumentation „[D]etention operations must act as an enabler for interrogation.” 746 In Schlagwörtern wie dem vom Selbstmordcharakter der Verfassung kam ein Rechtsverständnis zum Ausdruck, das sich von dem der meisten NormbefürworterInnen insofern grundlegend unterschied, als Recht nicht als Schutz, sondern als gefährliche Behinderung wahrgenommen wurde – eine Hürde, die es entweder auf der Suche nach 741 742 743 744 745 746 Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. Auch Militärs empfanden Hinweise auf die Einhaltung internationalen Kriegsrechts eher als lästig: „ ’We are engaged in combat operations,’ Colonel Hilferty said. ‚It’s a war.’” Rohde, David 2004: U.S. Rebuked On Afghans In Detention, in: New York Times, 08.03.2004. Vgl. etwa Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004: „Abiding disagreement about the trade-off between liberty and security is a permanent characteristic of any free society. The founding fathers designed the Constitution to enable our institutions to adjudicate such fundamental disagreements of principle.” Prunick, Joyce 2002: Court System As a Mirror Of Public View, in: New York Times, 23.09.2002. Deshalb machte man sich auch darüber Gedanken, welcher Supreme Court-Richter letztere Äußerung als erster verwendet habe, s. Corn, David 2002: The ‚Suicide Pact’ Mystery Who coined the phrase? Justice Goldberg or Justice Jackson?, in: Slate, 04.01.2002. Titel eines Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004. Umschreibung eines Folterverhörs von Major General Geoffrey Miller, zitiert nach: Hersh, Seymour 2004: The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004. – 200 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Rechtslücken zu durchlöchern oder aber niederzureißen galt. Es ginge nicht an, dass „a democracy must (…) fight with one hand tied behind its back.”747 Insbesondere die Genfer Konventionen seien der neuen Realität eines asymmetrischen Konfliktes nicht angemessen, wie der damals noch im White House Council dienende Alberto Gonzales gegenüber Bush betonte: „As you have said, the war against terrorism is a new kind of war. In my judgment, this new paradigm renders obsolete Geneva’s strict limitations on questioning of enemy prisoners and renders quaint some of its provisions.“748 Die anachronistischen Regeln seien für die heutigen Anforderungen viel zu restriktiv. „[I]n the war on terrorism, wouldn’t we be naive to limit ourselves to ‚name, rank, and serial number’? ” fragte selbst James Schlesinger, indem er die einzigen drei Informationen benannte, die ein Kriegsgefangener laut den Genfer Konventionen anzugeben verpflichtet ist (und die bald zu einem weiteren Schlagwort der NormgegnerInnen wurden) und fuhr fort: „In the conditions of today, aggressive interrogation would seem essential…”. Auch das Wall Street Journal erklärte das Pochen auf die unbedingte Einhaltung der Konventionen zu einem Mittel von „Demagogen“, schließlich sei es unter diesen Regeln nicht einmal erlaubt, einem Gefangenen Süßigkeiten anzubieten, um ihn zum Reden zu bringen.749 Im Hinblick auf die Anwendung „harter Verhörmethoden“ bei den Gefangenen in Guantanamo Bay, die ja nicht als POWs im Sinne der Konventionen angesehen wurden und anderen unlawful combatants schien es einfach zu begründen, dass die Standards der Genfer Konventionen nur „to the extent appropriate and consistent with military necessity ” angewendet werden sollten: „We suspect the U.S. public understands that terrorists (…), who wear no uniforms so as to more easily murder innocent civilians, do not deserve the same status accorded legitimate prisoners of war”, stellten etwa die HerausgeberInnen des Wall Street Journal fest. Um auch den Gefangenen im Irak, die eindeutig unter die Dritte (KombattantInnen) bzw. Vierte (ZivilistInnen im Krieg) der Konventionen fielen, den Schutz dieser Gesetze verweigern zu können, musste dagegen ein rechtliches Schlupfloch ausgemacht werden, das sich schließlich im fünften Part der Übereinkommen fand:750 „While the armed conflict continues, and where 747 748 749 750 Senator Durbin in der Senatsdebatte zum „Abuse of Iraqi Prisoners ”: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004. Memo von Alberto Gonzales an Präsident Bush mit dem Titel „Decision re application of the Geneva Convention on Prisoners of War to the conflict with al Qaeda and the Taliban“ vom 25. Januar 2002, abgedruckt in: Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, S. 83-87, hier S. 84. Vgl. das Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004 mit dem Titel „Geneva for Demagogues”. Der Mahnung der FoltergegnerInnen, US-amerikanischen Gefangenen könnte in Zukunft ebenfalls der Schutz der Genfer Konventionen verwehrt werden, hielt das Wall Street Journal im gleichen Artikel das Argument entgegen, US-amerikanische SoldatInnen würden – im Unterschied zu Taliban-Kämpfern und anderen unlawful combatants – immer als Kriegsgefangene anerkannt und behandelt (d.h., nicht gefoltert), da sie ja eine Uniform trügen und einer regulären Armee angehörten. Ausschnitt eines Briefs des US-Militärs an das IKRK vom Dezember 2003, zitiert nach: Jehl, Douglas/Neil, Lewis A. 2004: U.S. Military Disputed Protected Status of Prisoners Held in Iraq, in: New York Times, 22.05.2004. – 201 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e ‚absolute military security so requires,’ security detainees will not obtain full GC protection as recognized in GCIV/5, although such protection will be afforded as soon as the security situation in Iraq allows it”, stellte eines der Memoranden heraus – wobei sich, wie später von Seiten Folter ablehnender JuristInnen betont wurde, der entsprechende Artikel auf die Inhaftierung unmittelbar gefährlicher Personen, nicht auf solche mit interessanten Informationen für die Besatzungsmacht, beziehe.751 Gerade solche Informationen seien jedoch wichtig, so die FolterbefürworterInnen innerhalb der Regierung, um den Schutz der irakischen Zivilbevölkerung sicherstellen zu können, wie er ebenfalls in den Genfer Konventionen gefordert werde.752 Wenn die Genfer Konventionen als anachronistisch hingestellt und ihre Bestimmungen zum Teil ins Lächerliche gezogen wurden, kann man dies für die einschlägigen Artikel der viel älteren US-Verfassung nicht behaupten. Innerhalb der Regierung verlegte man sich darauf, die Gültigkeit einschlägiger amendments selbst unangetastet zu lassen, betonte aber, dass es vom Grad der Involvierung von US-BürgerInnen in Folterverhöre abhängig sei, ob diese Artikel zu beachten seien oder nicht – ein Versuch, die Verschickung von Gefangenen in Drittländer zu rechtfertigen.753 Allerdings brachte außerhalb der Administration Alan Dershowitz, der die Verschickung in Drittländer auch zu „normalisieren“ versucht hatte, indem er darauf hinwies, die würde schon seit Jahrzehnten praktiziert, das juristische Kunststück eines Vorschlags fertig, wie die beiden wichtigsten amendments auszuhebeln seien: Mit dem fünften Zusatzartikel werde nur der Zwang zur Selbstanklage untersagt, so dass Aussagen über andere Täter legitim erpresst werden könnten – wie auch solche gegen sich selbst, wenn diese später nicht vor Gericht verwendet würden und folglich dafür auch keine unangemessene oder unmenschliche Strafe verhängt werden könnte, wie sie vom achten amendment verboten werde. Die juristischen Spitzfindigkeiten zur Frage der Gültigkeit der Genfer Konventionen und US-amerikanischer Antifolter-Statuten hätten auch von Laien innerhalb und außerhalb der Administration schnell als unerheblich abgetan werden können, wenn diese nachdrücklich auf den umfassenden Schutz der UN-Antifolterkonvention verwiesen hätten, die schlecht als 751 752 753 So Prof. Scott L. Silliman, Rechtsprofessor an der Duke University , zitiert nach: Jehl, Douglas/Neil, Lewis A. 2004: U.S. Military Disputed Protected Status of Prisoners Held in Iraq, in: New York Times, 22.05.2004. Vgl. das Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004 mit dem Titel „ Geneva for Demagogues” : „The U.S. holds some very dangerous people in Iraq, and it’s easy to forget that the point of interrogating them is to better protect both U.S. soldiers and the Iraqi civilians that the Geneva Conventions oblige us to safeguard.” Vgl. das Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004 mit dem Titel „Geneva for Demagogues”. Bei der Frage, ob die Gefangenenlager in Guantanamo Bay juristisch als In- oder Ausland zu betrachten seien, verfingen sich die AutorInnen der Memos allerdings in Widersprüchen: „.. lawyers argued that any torture committed at Guantanamo would not be a violation of the anti-torture statute because the base was under American legal jurisdiction and the statute concerns only torture committed overseas. That view is in direct conflict with the position the administration has taken in the Supreme Court, where it has argued that prisoners at Guantanamo Bay are not entitled to constitutional protections because the base is outside American jurisdiction.” Neil, Lewis A./Schmitt, Eric 2004: Lawyers decided Bans on Torture Didn’t Bind Bush, in: New York Times, 08.06.2004. – 202 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e veraltet eingestuft werden konnte, hatte man sie doch selbst erst vor etwa zehn Jahren ratifiziert – wenn auch mit einigen Vorbehalten, die in der aktuellen Diskussion allerdings kaum eine Rolle spielten. Erstaunlicherweise beriefen sich FoltergegnerInnen im Vergleich zu den Hinweisen auf die wohl wesentlich bekannteren Genfer Konventionen nur äußerst selten auf dieses Dokument; aufgrund der damit einhergehenden Schwierigkeiten versuchten die FolterbefürworterInnen erst gar nicht, die UN-Konvention als insgesamt nicht einschlägig abzulehnen, sondern verlegten sich darauf, den hier festgeschriebenen Folterbegriff bis zur Unkenntlichkeit auszudehnen, was schließlich mit zu einer „Ent-Totemisierung“ ehemals generell tabuisierter Folterhandlungen führte (s. S. 212 der Arbeit). Allerdings wiesen einige NormbefürworterInnen darauf hin, dass es nicht der USamerikanischen Regierung oder generell den Vereinigten Staaten obliege, universell geltendes Völkerrecht „à la carte” zu wählen oder nach Belieben umzudefinieren – auch, wenn die USA einen entscheidenden Anteil an dessen Schaffung gehabt hätten: „At Abu Ghraib, America paid the price for American exceptionalism, the idea that America is too noble, too special, too great to actually obey international treaties like the Torture Convention or international bodies like the Red Cross. Enthralled by narcissism and deluded by servility, American lawyers forgot their own Constitution and its peremptory prohibition of cruel and unusual punishment. Any American administration, especially this one, needs to learn that in paying ‚decent respect to the opinions of mankind’ – Jefferson’s phrase – America also pays respect to its better self.“754 Die hier angeführten Beispiele aus mehreren hundert Seiten mit ähnlichen Argumentationen angefüllter Memoranden zum Umgang mit folterverbietendem nationalem und Völkerrecht zeigen einerseits, dass innerhalb der Administration von einem Tabu, Folter zu legitimieren bzw. überhaupt über Folterungen nachzudenken, keine Rede mehr sein konnte. Nur mit einem unverstellten Blick ohne behindernde Denkverbote ist es möglich, gezielt solche Rechtslücken zu suchen und ausfindig zu machen, deren „Aufbauschen“ dem generellen Geist der jeweiligen Rechtsakte völlig zuwiderläuft. Andererseits lassen sich viele Memos aber auch als krampfhafter Versuch lesen, Recht so zu wenden, dass es zwar für nötig befundene Maßnahmen zur eigenen Sicherheit deckt, es aber dennoch (zumindest als Fassade) aufrechtzuerhalten, um nicht in Widerspruch mit der eigenen rechtsstaatlichen Identität zu geraten, die eine öffentliche Verabschiedung von sämtlichen grundlegenden Standards einer Demokratie über eine bestimmte Ausnahmesituation hinaus weiterhin als unmöglich erscheinen lässt. Darüber hinaus tragen zumindest einige der Memos dem Foltertabu insofern Rechnung, als sie über Seiten hinweg Argumentationen bereitstellen, mit denen der Bevölkerung der Gedanke eines Einsatzes „harter Verhörmethoden“ nahegebracht werden sollte und einige Methoden (wie etwa, die Gefangenen über einen längeren Zeitraum ohne Kleidung zu lassen) mit Blick auf die Reaktionen der Öffentlichkeit verworfen wurden. Scheinbar schätzte die Regierung die Vorbehalte ihrer BürgerInnen jedoch als noch größer ein, so dass sie alle Papiere als geheim einstufen ließ und die in den Memos vorgeschlagene 754 Ignatieff, Michael 2004: Mirage in The Desert, in: New York Times, 27.06.2004. – 203 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Argumentation größtenteils gar nicht bzw. erst nach der rasanten Ausweitung des Abu Ghraib-Skandals verwendete. Wie bereits im vorangegangenen Unterkapitel zu den Akteuren der Debatte dargelegt, war dies – aus Sicht der Regierung – vielleicht nicht die beste Strategie, denn auch außerhalb der Administration hatte nicht nur der Standpunkt, die Genfer Konventionen seien veraltet, viele BefürworterInnen gefunden, es wurde auch bezweifelt, dass die Regierung und Militär den Mut hätten, auf die Guerillakriegsführung ihrer Feinde mit gleichen Mitteln zu antworten: „Our military – which is court-martialing an Army lieutenant colonel who fired his pistol into the air to scare an Iraqi suspect into divulging details of an imminent attack – may simply be too Boy Scoutish for the rougher side of a dirty war. Iraqis who suffered under Saddam Hussein’s tyranny likely feel no such compunctions.“755 Wie das oben angeführte Bild der mit einer Hand auf dem Rücken kämpfenden Demokratie bereits zeigt, schienen viele BürgerInnen zu akzeptieren, dass die asymmetrische Form der Kriegsführung, der sich die USA nun ausgesetzt sahen, die Opferung alter Werte notwendig mache, „[f]or a liberal democracy may not be ideally qualified to fight this war.”756 So fasste etwa Ignatieff zusammen: „Indeed, the whole logic of terrorism is to exploit the rules, to turn them to their own advantage. If we hesitate to strike a mosque because the rules of war designate it as a protected place, then the smart thing for a terrorist to do is to store weapons and suicide belts there. If our forces start from the presumption that civilian women should be treated as noncombatants, then terrorists will train women to be suicide bombers. If all existing codes of warriors’ honor forbid the desecration of bodies, then it is not just mindless brutality but actually a sound terrorist tactic to drag contractors from a car in Falluja, set them alight and display their severed and burned limbs from a bridge.“757 Dabei ließen viele norm challengers keine Zweifel daran, dass die Abwägungsentscheidungen, die den kriegsführenden Vereinigten Staaten aufgezwungen worden seien, ein keinesfalls begrüßenswerter Zustand seien. Vielmehr teilten sie häufig ausdrücklich die moralischen Bedenken ihrer GegnerInnen: „There is no easy answer to the thorny issue of interrogation involving the application of torture. From a moral and legal perspective, the answer would seem to be a clear-cut no, don’t do it. (…) But in the harsh world of transnational terrorism, the reality is far from black and white. As one terrorism expert recently wrote, intelligence is the key weapon against global terrorism, but intelligence does not come cheaply (…). Civilized or not, states may be required to engage in such actions if the threat of transnational terrorism – with its current predisposition for mass casualties – is to be contained or averted.“758 Der Zwang, abwägen zu müssen verbiete es, die Augen vor solch einer Abwägung zu verschließen, die letztendlich eine zwischen einigen Werten der US-amerikanischen Identität auf der einen und dem Überleben des gesamten politischen Systems und seiner Ideale auf der 755 756 757 758 Boot, Max 2003: The Lessons of a Quagmire, in: New York Times, 16.11.2003. Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.08.2002. Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004. Smith, Paul J. 2002: Transnational Terrorism and the al Qaeda Model: Confronting New Realities, in: Parameters, Sommer 2002. – 204 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e anderen Seite sei: „When our nation is again secure, so too will be our principles”, vermutete das Wall Street Journal,759 während John Ashcroft deutlich machte, dass es manchmal nötig sei, Werte einzuschränken, um sie insgesamt zu schützen: „Those who believe Americans – and American liberties – had adequate protection on September 11, 2001 are seeking to roll back our defenses of the past year. We cannot risk damaging the security of the United States by publicizing the names of those detained in our investigation, or by allowing the potential release of individuals (…). These actions [die eben genannten Handlungen zu verbieten, SoSchi] may be advocated in the name of American liberty; but they do not, in my judgment, advance the cause of liberty. For liberty is not Abraham Lincoln’s feared ‚inherent weakness’ for which we must die, on the contrary, liberty is the eternal strength for which we must fight and for which we must prevail. And fight to secure liberty we will. In Congress, in the courts and in the media, we must defend our ability to prevent terrorism, to preserve freedom, and to protect the American people.“760 Der „folterbare” Terrorist als neues Menschenbild „They (…) are led to believe that the people they are torturing belong to an inferior race or religion. For the meaning of these pictures is not just that these acts were performed, but that their perpetrators apparently had no sense that there was anything wrong in what the pictures show.” 761 Am Beginn dieses Unterkapitels stand die Feststellung, dass dem Folterdiskurs in den USA die Prämisse zu Grunde lag, die Anschläge vom 11. September hätten den Beginn eines Ausnahmezustandes markiert, währenddessen die Bürgerrechte neu justiert werden müssten. Damit verknüpft ist auch die (selten explizierte) Annahme, dass lediglich ausländische Terroristen gefoltert werden sollten, nicht jedoch andere Straftäter oder US-amerikanische StaatsbürgerInnen: „The image in the public’s mind was one of Osama bin Laden or his top henchmen in leg irons and stubbornly withholding knowledge of future attacks. Few had in mind the torture of innocent subjects.”762 Es ist auffällig, dass die von den USA Festgehaltenen gar nicht mehr als „Gefangene“ bezeichnet wurden: „Those held in the extralegal American penal empire are ‚detainees’; ‚prisoners,’ a newly obsolete word, might suggest that they have the rights accorded by international law and the laws of all civilized countries.“763 Dass hier also keine normalen Gefangenen verhört wurden, sondern Menschen, deren einziger Inhaftierungsgrund das „Gewinnen“ von Informationen war – was natürlich einen anderen Umgang mit ihnen erforderlich machte – wurde auch von offizieller Seite zugegeben: 759 760 761 762 763 Winik, Jay 2001: Security comes before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001. Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York City, October 1, 2002. Susan Sontag über die Folterer von Abu Ghraib: Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. Lewis, Neil A. 2004: Ashcroft Says the White House Never Authorized Tactics Breaking Laws on Torture, in: New York Times, 09.06.2004. Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. – 205 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „Their detention condition is in the context of ongoing strategic interrogation [and ] under the circumstances, we consider their detention to be humane.” 764 Auch in der öffentlichen Debatte hatte sich die Annahme durchgesetzt, man könne und müsse zwischen normalen US-amerikanischen StraftäterInnen und „informationsbeladenen“ Terroristen unterscheiden, was insbesondere in der bereits ausführlich zitierten PIPAUmfrage zum Ausdruck kommt: Hier hatten sich ohne, dass ein spezielles Szenario vorgelegt worden war, 30% der Befragten für physische, 41% für psychische und 48% für die Androhung psychischer Folter ausgesprochen (s. S. 174 der Arbeit) – stellte man die gleiche Frage mit dem Hinweis, dass US-amerikanische Verdächtige betroffen sein würden, sanken die Zustimmungsraten rapide auf nunmehr fünf, sechzehn bzw. neunzehn Prozent ab.765 Diese Schieflage kann nicht nur als deutlicher Hinweis dafür gewertet werden, dass viele Befragten islamistisch motivierte Gewalttaten (fälschlicherweise) ausschließlich als Bedrohung von außen wahrnahmen, sondern auch darauf, dass sich hier die Konstruktion eines neuen Menschenbildes abzeichnete: Das Erpressen wichtiger Informationen schien moralisch unbedenklicher, wenn es sich bei den Opfern um ausländische Verdächtige handelte, deren Hinwendung zum Terrorismus islamistischer Prägung Grund genug dafür war, ihnen nicht die Rechte zugestehen zu wollen, von denen „normale“ US-amerikanische VerbrecherInnen weiterhin profitieren sollten: „The reality is that these ‚detainees’ [who kill and torture in the name of Allah] represent nothing more than an army of conquered cowards who deserve only to be treated as dangerous killers.“766 Letztlich steht hinter dieser Überlegung der (meist unausgesprochene) Gedanke, Menschen könnten ihre natürlich gegebenen Rechte doch verwirken, indem sie sich zu Straftaten herabließen, deren Logik allen fundamentalen Überzeugungen (westlichen) Rechts zuwider lief: „The authors of the Geneva Convention had no idea of future wars that could be launched by people with no allegiance to legal norms and who are committed to resuming their violent acts as soon as they are set free. A new definition will have to be found.“767 764 So Colonel Marc Warren, einer der höchsten Militärjuristen des Pentagon, in einem Brief an das IKRK, zitiert nach: Jehl, Douglas/Lewis, Neil A. 2004: U.S. Military Disputed Protected Status of Prisoners Held in Iraq, in: New York Times, 22.05.2004 (Herv. SoSchi). Vgl. ähnlich Rumsfeld: „…there is a difference in this sense that the high-value targets become much more interesting from the standpoint of the interrogation process, whereas a simple low-level person is simply being kept off the street for a period.” US-Kongress 765 766 767 2004: Operations and Reconstruction Efforts in Iraq, Hearing des Committee on Armed Services des Repräsentantenhauses, 07.05.2004. S. Program on International Policy Attitudes 2004: Americans on Detention, Torture and the War on Terrorism, in: Pipa Papers Juli 2004. Leserbrief von Rizo, Tom 2002: Prisoners don’t deserve special handling, in: USA Today, 17.01.2002. Mahmood, Elahi 2002: Change POW laws – or the designations, in: USA Today, 20.02.2002. – 206 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e So erkannte auch ein Rezensent der NYT, dass „Dershowitz argues stridently against the proposition that rights are God-given absolutes”. 768 Zwar fanden sich solche Aussagen primär bezüglich der Gefangenen in Guantanamo („Let’s not forget the kind of people we have down there. These are the people that don’t know any moral values.”),769 die Logik verwirkter Menschenrechte gipfelte jedoch in der vielzitierten Aussage Senator Inhofes, auch die offensichtliche Misshandlung der Gefangenen in Abu Ghraib dürfe nicht überbewertet werden, die Insassen seien schließlich „probably guilty of something”: „The idea that these prisoners – you know, they’re not there for traffic violations. If they’re in cell block 1-A or 1-B, these prisoners, they’re murderers, they’re terrorists, they’re insurgents. Many of them probably have American blood on their hands. And here we’re so concerned about the treatment of those individuals.“770 Ebenfalls hauptsächlich mit Bezug auf die Geschehnisse in Abu Ghraib wurde versucht, die Handlungen US-amerikanischer SoldatInnen zu relativieren, indem auf die weit häufigeren und schlimmeren Menschenrechtsverletzungen in arabischen Staaten verwiesen wurde,771 die gerade die irakischen Insassen von Abu Ghraib gewohnt seien, weshalb sie die Misshandlungen als weniger schlimm einstufen würden, als die US-amerikanische Öffentlichkeit.772 Hier steht also die Annahme, für BürgerInnen arabischer Staaten seien Menschenrechtsverletzungen eher etwas Alltägliches im Zusammenhang mit der konträr zur Argumentation der FoltergegnerInnen liegenden und ebenfalls selten direkt geäußerten Einstellung, die USA müssten sich als westliche Demokratie nicht vom Handeln autoritärer Nationen positiv abgrenzen und könnten sich durchaus wie eine „drittklassige Westentaschendiktatur” verhalten.773 Letztlich, so bemerkten insbesondere einige AutorInnen von Leserbriefen, würde man den Gefangenen auch so schneller zum gewünschten Märtyrertum verhelfen: „I say let them 768 769 Waldron, Jeremy 2002: The Great Defender, in: New York Times, 03.02.2002. General Myers zitiert in einem Editorial der New York Times mit dem Titel „Abu Ghraib, Caribbean Style ”, erschienen am 01. Dezember 2004. Vgl. ähnlich Ashcroft: „a significant number of the approximately 600 of them [den Insassen in Guantanamo] are brutal terrorists. And because of the way they are working with them, we’re getting a lot of very important and useful information.” Zitiert nach: Ashcroft, John 2004: Statement 770 771 772 773 of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. Editorial der New York Times vom 12. Mai 2004 mit dem Titel „The Abu Ghraib Spin ”. Für das folgende Zitat: Inhofe, James M. 2004: Transcript of Senator Inhofe’s Remarks at the 05/11/2004, Senate Armed Services Hearing on Iraqi Prisoner, Treatment (Panel 1). Vgl. etwa Acaster, David V. 2004: The President and the War: American Voices, in: New York Times, 26.05.2004: „Nicholas D. Kristof (column, May 22) says that ‚we are as appalled by our own war crimes as by Saddam’s.’ I am appalled that Mr. Kristof could possibly equate the cruel mischief inflicted by a dozen or so misguided, poorly trained soldiers with the horrible torture, poison gas deaths and countless other murders that Saddam Hussein is guilty of. Let’s get some sense of perspective on this issue.” Vgl. etwa den Leserbrief von Mark Bierman mit dem Titel „Lesser Evils ”, erschienen am 16. Mai 2004 in der New York Times: „There are a lot of Iraqis who are probably not shocked by this prisoner abuse scandal nearly as much as we are. In their world, this is pretty much the way you do business.” Vgl. das Zitat auf S. 197 der Arbeit. – 207 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e (…) go to Allah as the emaciated, soulless killers that they are.”774 Auf diese Weise könne man auch die Kosten der Lager in Guantanamo einsparen, bemerkte ein anderer Leser: „We should have let them starve and granted them their martyrdom. It would have been a lot cheaper for us.” Schließlich spiegelte sich die Annahme, Menschenrechte seien doch veräußerlich, auch in der Forderung, die Bestimmungen etwa der Genfer Konventionen nur noch reziprok anzuwenden und im Sinne eines tit for tat Bestimmungen des Kriegsrechts im Umgang mit neuartigen Gegnern außer Kraft zu setzen: „Instead of repudiating its own lawyers, Bush officials would be better off explaining that what they are trying to do is the very difficult and complicated business of protecting a free society that believes in the rule of law from terrorists who belief in neither.“775 In die gleiche Richtung wies die früh geäußerte Forderung eines ehemaligen Geheimdienstagenten nach dem Einsatz von Spezialeinheiten statt Bodentruppen in Afghanistan, da normale SoldatInnen auf die brutalen Kampfmethoden der Taliban nicht vorbereitet seien, während solche mit spezieller Ausbildung „are fearless and not afraid to die. Their justice is very quick and very brutal. Forget the rules of the Geneva Convention.”776 Wiederum gewann Alberto Gonzales dieser Argumentation eine weitere Wendung ab, indem er darauf hinwies, eine Anwendung der Genfer Konventionen auf Terroristen würde diese Rechtsakte entwerten: „To confer the special privileges of POW status upon terrorists would reward those who, by hiding among civilian populations, undermine the convention’s basic objective of protecting innocent citizens, and it would only encourage terrorists to continue to violate the laws of war.“777 Der Kerngedanke vieler FolterbefürworterInnen, bei den Gefolterten würde es sich nur um ausländische Terroristen handeln, die ihr Anrecht auf Folterfreiheit durch ihre Taten bzw. bösen Absichten verwirkt hätten, fand also insofern eine juristische Entsprechung, als das Aussetzen des Rechts auf Folterfreiheit auch nur solche Personen betreffen sollte. Euphemisms all the way down: Ent-Totemisierungspraxis und das Vernehmen von „high value targets” Beide bisher skizzierten Überlegungen – dass Folterungen aufgrund der Umstände ihrer Anwendung wie auch der Personen, bei denen sie angewandt würden, weniger unmoralisch seien – spiegelten sich in der beinah durchgängigen Verwendung verschiedenster 774 775 776 777 Leserbrief von Truskey, Mark 2002: Guantanamo turban strike sign of religious double standard, in: USA Today, 07.03.2002. Andere Leser zeigten sich empört über Kritik, die von den Alliierten der USA an den Haftbedingungen in Guantanamo geäußert worden war. So hatte der Economist diese als ”unworthy of a nation which has cherished the rule of law from its very birth.“ bezeichnet: The Economist 2003: Why America should shut down the Guantanamo prison camp, 08.05.2003. Editorial des Wall Street Journal mit dem Titel „Tortured Arguments” vom 25. Juni 2004. Zitiert nach: Hale, Ellen 2001: Ex-commando warns of Afghanistan perils, in: USA Today, 02.10.2001. Gonzales, Alberto 2004: Terrorists are different, in: USA Today, 10.06.2004. – 208 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Euphemismen, die denjenigen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Stichwort: „Dritter Grad“) in nichts nachstanden. Wie anhand der bisher angeführten Zitate vielleicht schon deutlich geworden ist, wurden (potentielle) Folteropfer qua Sprache zum Einen „versachlicht“ und zum Anderen zu Unmenschen erklärt – und damit doppelt torturable. Die erste Kategorie von Begriffen zur Umschreibung von Terroristen findet sich hauptsächlich in Dokumenten der Regierung und des Militärs, in denen v.a. von „high value targets”778 oder auch von Gefangenen mit „high intelligence value ” die Rede war.779 Die zweite Kategorie, die im Gegensatz zur Versachlichung eher auf eine Brutalisierung der Opfer ausgerichtet war, wurde meist in Leserbriefen aber auch in der Kommunikation der Verantwortlichen in US-Gefangenenlagern verwendet, wobei die Bezeichnung der Inhaftierten als „the worst of a very bad lot” oder auch einfach als „SOBs” den Verhörenden auch eine Distanzierung von ihren Opfern und damit vom grausamen Umgang mit ihnen erleichtert haben dürfte.780 Weit häufiger als die Verwendung von Euphemismen für Folteropfer lässt sich eine Umschreibung der Folterpraxis als solcher feststellen, wobei auch hier versachlichende und brutalisierende Begriffe unterschieden werden können. So wurde in Memos verlangt, „[to] set favorable conditions for successful interrogation and exploitation of internees ”,781 was – schon etwas deutlicher – hieß, dass „the gloves came off”782 und es AgentInnen und VerhörspezialistInnen erlaubt wurde, „to soften prisoners up”783 bzw. „to exert pain control”, wie im Falle Abu Zubaidahs, dem trotz mehrerer Schusswunden Schmerzmittel verwehrt wurden.784 Dem stand wiederum eine eher von Verrohung geprägte Sprache gegenüber, mit der z.B. ein Agent bezüglich der Verschickung der Gefangenen in Drittländern angab, dass „[w]e don’t kick the (expletive) out of them. We send them to other countries so they can kick 778 779 780 781 782 783 784 So bezeichnete sie etwa Donald Rumsfeld in einem Kongress-hearing : US-Kongress 2004: Operations and Reconstruction Efforts in Iraq, Hearing des Committee on Armed Services des Repräsentantenhauses. So etwa ein Verhörspezialist im Irak: Vincent Cannistraro zitiert nach: Willing, Richard/Diamond, John 2004: U.S. interrogators face ‚gray areas’ with prisoners, in: USA Today, 13.05.2004: „That’s how we got Saddam. High-value targets (…) get squeezed hard immediately. No broken bones (…) but just about anything goes.” Zitiert in: Golden, Tim/Natta, Don van 2004: U.S. Said to Overstate Value Of Guantanamo Detainees, in: New York Times, 21.06.2004 bzw. in: Alter, Jonathan 2001: Time to think about torture. It’s a new world, and survival may well require old techniques that seemed out of the question, in: Newsweek, 05.11.2001. „SOB” steht für „ son of a bitch” . Donald Rumsfeld in einem Kongress-hearing vom 05. Juli 2004: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. Cofer Black, damaliger Leiter des Counterterrorist Center der CIA, zitiert nach: Priest, Diana/Gellman, Barton 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002. Vgl. etwa Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times, 09.05.2004. Vgl. etwa Natta, Don van 2003: Interrogations: Questioning Terror Suspects In a Dark and Surreal World, in: New York Times, 09.03.2003. – 209 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e the (expletive) out of them ”,785 während ein anderer zugab, ein „more assertive approach”786 in Verhören bedeute für ihn „[to] kick them around a little bit in the adrenaline of the immediate aftermath [ihrer Gefangennahme, SoSchi].”787 Auch die Regierung verwendete in öffentlichen Statements alle erdenklichen Umschreibungen von Folterungen: „I’m not going to address the ‚torture’ word”, betonte etwa Donald Rumsfeld im Hinblick auf die Misshandlungen in Abu Ghraib, die er – wie auch ein Großteil aller anderen DiskursteilnehmerInnen – als „abuses” bezeichnete.788 Mit der Verwendung des Wortes „Misshandlungen“ sollte jedoch nicht nur klar gemacht werden, dass es sich hier nicht um Folterungen handelte, sondern auch, dass die angewandten Methoden nicht vom Katalog derjeniger Maßnahmen gedeckt waren, welche die Regierung im Kampf gegen den Terrorismus (intern) als unabdingbar anerkannt hatte und die sie nach dem Abu Ghraib-Skandal – wenn sich in einer Fragesituation überhaupt keine andere Ausweichsituation mehr bot – auch öffentlich benannte. Das Umdefinieren bestimmter Verhörmethoden als Nichtfolter hatte jedoch auch schon früh im öffentlichen Diskurs eingesetzt: „Gathering intelligence is clearly crucial to the entire war on terror. Long before the invasion of Iraq, voices here and there began to ask about the legitimacy of torture, sometimes treading a fine line where it is hard to tell whether the aim is to uphold a moral precept or undermine it. It became imperative to define what constituted, in government talk, ‚aggressive interrogation’ or ‚exceptional techniques’ and what was, in blunt talk, torture.“789 Einige FoltergegnerInnen versuchten zwar, dieses Schaffen einer neuen Kategorie gedanklich, sprachlich und moralisch ebenso wie juristisch zulässiger Verhörmethoden zu verhindern, 785 786 787 788 789 Zitiert nach: Umansky, Eric 2004: Only photos made story of abuse front-page news, in: USA Today, 17.05.2004. Bravin, Jess 2004: Pentagon Report Set Framework for Use of Torture. Security or Legal Factors Could Trump Restrictions, Memo to Rumsfeld Argued, in: Wall Street Journal, 07.06.2004. Zitiert nach: Priest, Diana/Gellman, Barton 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002. Zitiert nach: Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. Auch in diesem Text ist in Bezug auf Abu Ghraib häufig von „Misshandlungen“ die Rede, was nicht nur auf den Unwillen zurückzuführen ist, immer die gleichen Begriffe zu verwenden, sondern auch der Tatsache geschuldet ist, dass noch nicht sicher festgestellt werden konnte, ob diese Handlungen tatsächlich unter eine enge Definition von Folter fallen, d.h. staatlich angeordnet waren und dem Ziel der „Informationsgewinnung“ dienten – auch, wenn dies nach den Recherchen Seymour Hershs sehr wahrscheinlich erscheint. Steinfels, Peter 2004: The ethical questions involving torture of prisoners are lost in the debate over the war in Iraq, in: New York Times, 04.12.2004. Die Interpretation des Autors bezüglich des Ziehens dieser neuen Linie verweist wiederum auf den Versuch dieser DiskursteilnehmerInnen, ihr positives Selbstbild zu wahren: „In even the most morally unsophisticated forms of popular storytelling, it is certainly not violence in itself, not even killing, that unmistakably separates good guys from evil ones. It is torture. Heroes may kill; villains torture – Nazi commanders, soulless drug dealers, despots on this planet or in outer space. In debates among contemporary ethicists about the notion of acts that qualify as ‚intrinsically evil’, torture has always been a prime candidate. Within Roman Catholicism, the discussion of intrinsic evils has recently focused on abortion and euthanasia. But when Pope John Paul II weighed in on the question in his 1993 encyclical ‚The Splendor of Truth’, the list of other actions he described as evil ‚in themselves, independently of circumstances’ included, along with genocide and slavery, ‚physical and mental torture.’” – 210 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e indem sie darauf hinwiesen, dass jegliche solcher Praxen unmoralisch und rechtlich verboten seien790 und entsprechende Wortspiele deshalb unterlassen werden sollten: „…we are told, military police officers at Abu Ghraib were encouraged to treat the prisoners so as to create ‚favorable conditions’ for interrogations. What does this mean? Give the prisoners English lessons? New clothes? Come on. In any bureaucracy, orders or clearance to do something beyond the law always comes in code.“791 Dies gelte auch für einzelne Foltermethoden, die unter die neu zu schaffende NichtfolterKategorie fallen sollten, wie etwa „Sleep management” („After being kept awake for a hundred hours or so, almost anybody will confess to almost anything ”), „Water-boarding ” („This, as we now know, does not involve water skis, but holding prisoners under water for long enough that they think they are drowning “) oder das Verharren in „stress positions“,792 wie es von offizieller Seite bezeichnet wurde: „The detainees were purposefully and carefully put under stress, to include sleep deprivation, in order to facilitate interrogation; they were not tortured ”, hatte ein militärinterner Bericht über den Umgang mit Gefangenen vor der Aufdeckung der Misshandlungen in Abu Ghraib festgestellt.793 „Unfortunately ” notierte ein Verhörspezialist in Abu Ghraib später in sein Tagebuch, „a prisoner can get too stressed out and die.”794 Bei ihrer Suche nach Lücken in rechtlichen Folterverboten hatten diverse Memo-Autoren jedoch schon früh versucht, nur noch eine extrem begrenzte Kategorie von Methoden wirklich als „Folter“ zu bezeichnen. So sei dieser Begriff z.B. nur einschlägig, wenn die zugefügten Schmerzen „equivalent in intensity to the pain accompanying serious physical injury, such as organ failure, impairment of bodily function, or even death ” seien.795 Vor dem Hintergrund ernsthafter Versuche, juristische Definitionen bis zur Unkenntlichkeit zu verdrehen wurde es zum Problem, dass u.a. in der UN-Antifolterkonvention gerade keine abschließende Definition, sondern nur Beispiele gegeben werden, welche Methoden als Folterungen eingestuft werden müssen (s. S. 106 der Arbeit), was wiederum den früheren Chef der Counterterrorism-Abteilung der CIA zu der Aussage veranlasste, dass „Force and the threat to use it have always been something of a gray area. The gray areas have expanded since 9/11.” 796 790 791 792 793 794 795 796 Vgl. etwa den Leserbrief Roth, Kenneth 2004: Torture, Terror, and the Law, in: New York Times, 19.05.2004. „…the techniques authorized by the Bush administration – like stripping detainees naked and subjecting them to prolonged hooding, sleep deprivation and painful positioning – are clearly unconstitutional. These interrogation methods make a mockery of Mr. Gonzales’s vow of ‚humane’ treatment.” Hochschild, Adam 2004: What’s in a Word? Torture, in: New York Times, 23.05.2004. Hochschild, Adam 2004: What’s in a Word? Torture, in: New York Times, 23.05.2004. Zitiert nach: Reuters 2004: Iraqi Journalists Report Abuse As Detainees in U.S. Hands, in: New York Times, 18.05.2004. Staff Sagent Ivan Frederick zitiert nach: Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. Memo von Jay Bybee an Alberto Gonzales mit dem Titel „Re: Standards of Conduct for Interrogation under 18 U.S.C. §§ 2340-2340A“ vom 01. August 2002, abgedruckt in: Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, S. 115-166, hier S. 115. Vincent Cannistraro zitiert nach: Willing, Richard/Diamond, John 2004: U.S. interrogators face ‚gray areas’ with prisoners, in: USA Today, 13.05.2004. – 211 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Um Licht in diese Grauzonen zu bringen, erschien es schließlich auch vielen NormbefürworterInnen wichtig, genau zu definieren, welche Verhörmethoden klar illegal (sprich Folterungen) und welche rechtlich vertretbar (neue Zusatzkategorie) seien: „…we need more discussion about where and by whom the line should be drawn between permissible aggressive interrogation techniques, and when interrogation becomes torture and whether torture is ever justified.“797 Zwar wiesen einige strikte FoltergegnerInnen darauf hin, dass die US-Regierung ebensowenig ein Anrecht auf die Auslegung internationalen Rechts (wie etwa der Genfer Konventionen) habe, wie auf die Entscheidung, was genau als Folter bezeichnet werden sollte und was nicht: „The assumption in much of the rest of the world is that we are using torture. When we wink about what we’re doing, or try to play games with definitions, we hurt ourselves in the world. We know when what we’re doing is torture or not.“798 Aber trotz des Beharrens gerade auch vieler Menschenrechts-NGOs auf dem Grundsatz, dass „[t]here is no such thing as acceptable torture”, bildete sich im Verlauf der Debatte doch eine immer größere Akzeptanz dieser „Ausweichkategorie“ von Verhörmethoden kurz unter der Folterschwelle heraus.799 Parallel zu den beiden Annahmen, man könne bzw. müsse zwischen rechtlichen Standards in „normalen“ und Krisensituationen sowie „normalen“ Menschen und gefährlichen Terroristen unterscheiden, bildete sich also ein dritte – und wohl am weitesten akzeptierte – heraus, nach der es „wirkliche“ Folter und legale Methoden unterhalb dieser Schwelle geben sollte. Hierzu sei der Kommentar erlaubt, dass es tatsächlich schwierig erscheint, immer zu unterscheiden, wann genau die Schwelle zu Folter oder auch „nur“ unmenschlicher Behandlung überschritten wird. Allerdings sollte sich vor dem Hintergrund eines bestehenden Tabus diese Frage normalerweise überhaupt nicht stellen bzw. als zynisch und unangebracht erscheinen (wie es bereits im 17. Jahrhundert bei den Pariser Richtern der Fall war, die die erlaubten Folterarten nicht aufzählen wollten, s. S. 92 der Arbeit). War das Denkverbot aber erst einmal gebrochen, so dass man sich über möglicherweise angemessene Foltermethoden ungestraft und laut Gedanken machen durfte oder dies sogar erwünscht war, wurde es nahezu unausweichlich, einen Blick in die nun geöffnete Büchse der Pandora zu werfen und zu entscheiden, welche Methoden man „herausnehmen“, also legalisieren und welche man darin belassen, möglicherweise sogar weiterhin tabuisieren wollte. Letztlich war in den USA also nicht nur der Bruch eines Schweigetabus und Denkverbotes zu beobachten, sondern auch eine Ent-Totemisierung von Folterhandlungen, indem mit der Einführung neuer Kategorien wie torture lite nicht mehr alle diese Praxen hinter dem Schleier des Tabus verborgen blieben 797 798 799 Senator Hatch in einem Kongress-hearing am 08. Juni 2003: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006. Tom Malinowski, Rechtsberater bei Human Rights Watch , zitiert nach: Diamond, John/Locy, Toni/Willing, Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003. Vgl. Kaplan, Robert D. 2005: Hard Questions, in: New York Times, 23.01.2005. – 212 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e und es als notwendig anerkannt wurde, sich über eine Enttabuisierung einiger dieser Handlungen Gedanken zu machen.800 Frontalangriffe: Das Foltertabu als irrationale Konstruktion, die Folterdiskussion als irrationale Antwort Führte die Ent-Totemisierung von Foltermethoden und der damit weiter gestärkte Vorwurf der FolterbefürworterInnen, man könne sich nicht mehr legitim auf die Extremposition einer totalen Ablehnung von Folter zurückziehen, unbewusst zu einer weiteren Erosion des Foltertabus, so gab es auch einige direkte Angriffe von NormgegnerInnen auf die Tabuisierung von Folter. So wurde argumentiert, es sei unsinnig, das Foltern von Terroristen strengstens untersagen zu wollen, wenn man diese legitimerweise bombardieren dürfe; auch außerhalb des Kriegsrechts sei unverständlicherweise zwar als letztes Mittel die Tötung erlaubt (Stichwort: finaler Todesschuss), nicht aber „nicht-letale“ Folter.801 Insbesondere Dershowitz tat sich bei dieser „Irrationalisierung“ des Foltertabus hervor, indem er darauf hinwies, dass es unlogisch sei, rechtlich angeordnete Folterungen affektartig abzulehnen, gleichzeitig aber die Todesstrafe zu befürworten. Grund hierfür sei lediglich, dass „[r]aising the issue of torture makes Americans think about a brutalizing and unaesthetic phenomenon that has been out of our consciousness for any years”,802 woraus er wiederum schloss, dass „[i]n the end, absolute opposition to torture – even non-lethal torture in the ticking-bomb-case – may rest on historical and aesthetic considerations than on moral or logical ones.” Die Bevölkerung könne, ja müsse sich also erst daran gewöhnen, Folter als positives Mittel anzusehen, das helfe, Leben zu retten.803 Allerdings argumentierten nur recht wenige FolterbefürworterInnen auf diese Weise – und ähnlich selten waren Vorwürfe auf Seiten der FoltergegnerInnen zu hören, die Diskussion um die Legalisierung von Folter entbehre eines rationalen Kerns und sei nur den vorherrschenden Gefühlen der Angst nach den Anschlägen, des Hasses auf die Täter sowie der Frustration darüber geschuldet, sich vor den Angriffen eines gesichtslosen Feindes kaum schützen zu können. Noch kurz nach den Anschlägen war vor solch blindem Aktionismus gewarnt worden: 800 801 802 803 Im Unterschied zum Prozess der Ent-Totemisierung beim nuklearen Tabu ist im Fall des Folterverbots jedoch erneut darauf hinzuweisen, dass, wie auf S. 212 der Arbeit bereits angeführt, das Foltertabu nicht um einen Totem-Gegenstand gebildet wurde (wie es auch einige andere Eigenschaften eines Totems wie etwa das Vorhandensein von Hohepriestern, nicht aufweist) sondern hier vielmehr alle Handlungen einer Art tabuisiert wurden. Vgl. Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh, S. 139. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 149. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven, S. 148. – 213 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „Two months into the war against terrorism, the nation is sliding toward the trap that we entered this conflict vowing to avoid. Civil liberties are eroding, and there is no evidence that the reason is anything more profound than fear and frustration. We trust the Bush administration is not seriously considering torture – an idea that seems more interesting to radio talk shows and columnists than to government officials.“804 Die hier noch geäußerte Hoffnung, die Normerosion könnte aufgehalten werden hat sich – auch und gerade durch eine für die unbedingte Gültigkeit der Norm ungünstige Debattenführung auf beiden Seiten – nicht erfüllt: „It is clear that this taboo has been significantly eroded.” 805 6.1.4 Empiriefazit: Erosion ja, aber wie? Vor dem Hintergrund der bisher gemachten Aussagen über Verlauf, Akteurspositionen und Argumentationen soll nun zusammenfassend bewertet werden, inwiefern das Foltertabu – im Sinne der zuvor aufgestellten Kriterien – „Opfer“ einer Normerosion geworden ist und welches die wichtigsten Gründe für diesen Prozess waren. Am Ende von Kapitel 5.1 wurden als tabutypische Hauptkriterien für eine Erosion zum Einen der Versuch einer Akteursgruppe genannt, öffentlich eine ernsthafte Diskussion über den Bruch des Tabus – in diesem Fall also die Legitimierung von Folterungen – zu beginnen (1) und zum Anderen eine Veränderung der Debattenstruktur, nach der eine argumentative Positionierung für den Bruch des Tabus als rationale Diskursposition anerkannt würde (2).806 Wie oben gezeigt, sind diese beiden Kriterien von der Debatte um das Foltertabu in den USA in den letzten fünf Jahren klar erfüllt worden – allerdings in beiden Punkten mit durchaus überraschenden Aspekten. So hätte man bezüglich des erstgenannten Kriteriums erwarten können, dass gerade die US-Regierung ein Interesse an einer solchen Diskussion gehabt, diese vielleicht sogar angestoßen oder vorangetrieben hätte. Auf diese Weise hätte sie – öffentlich legitimiert – ihren Handlungsspielraum im Umgang mit den ihr Land bedrohenden, neuen politischen Akteuren auf Kosten der bestehenden Normen ausweiten können – denn dass viele Regierungsmitglieder spätestens ab dem Jahr 2002 den dringenden Bedarf sahen, ihren Handlungsspielraum (sprich: die Auswahl erlaubter Verhörmethoden) auf Kosten der Norm auszuweiten, ist durch die internen Memoranden hinreichend belegt. Dafür, dass die FolterbefürworterInnen innerhalb der Regierung und Administration ihre Bestrebungen geheim hielten, sind mehrere Gründe denkbar: Erstens wäre es möglich, dass sie davon ausgingen, ein Großteil der Bevölkerung würde den offensiven Umgang mit dem Thema Folter, bzw. torture lite weiterhin als nicht akzeptabel empfinden. In diesem Fall hätte die 804 805 806 Editorial der New York Times mit dem Titel „Disappearing in America”, erschienen am 10. November 2001. Allen, Jonathan 2005: Warrant to Torture? A Critique of Dershowitz and Levinson, in: ACDIS Occasional Paper 2005: 1, S. 1. Vgl. S. 179 der Arbeit. – 214 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Regierung die einsetzende Erosion des Tabus durch die bereits laufenden öffentlichen Debatten unterschätzt und ein window of opportunity ungenutzt verstreichen lassen. Zweitens ist denkbar, dass die Regierung negative Reaktionen ihrer europäischen und islamischgeprägten Alliierten befürchtete, welche die Auffassung einer notwendigen Einschränkung der Norm vor dem Hintergrund neuer weltpolitischer Gegebenheiten offensichtlich nicht teilten. Einerseits hätte die Regierung mit dieser Einschätzung zwar wahrscheinlich Recht behalten, wie der Skandal um die vermuteten Gefangenenflüge und Geheimgefängnisse der CIA in Europa gezeigt hat, andererseits ist hierbei unverständlich, warum sie auf solch absehbare Reaktionen Rücksicht nehmen sollte, wenn sie gleichzeitig vor aller Augen und ungeachtet der heftigen wie lautstarken Kritik eben jener Alliierten als unlawful combatants eingestufte Gefangene nach Guantanamo Bay fliegen ließ.807 Schließlich ist es auch möglich, dass die NormgegnerInnen in Regierung und Administration davon ausgingen, ihren Handlungsspielraum geheim in größerem Maße ausweiten zu können, als dies mit öffentlicher Billigung möglich gewesen wäre (allerdings finden sich in den einschlägigen Memos keine Hinweise darauf, dass solche Überlegungen angestellt worden wären) – in diesem Fall müsste man tragischerweise dem norm challenger Dershowitz Recht geben, der genau diese Entwicklung vorhergesagt hatte. Insgesamt bleibt in Bezug auf die Rolle der Regierung festzuhalten, dass diese sich zum Einen vermutlich zumindest aus inneramerikanischer Sicht geschickter verhalten hätte, wenn sie sich in den bereits laufenden Debatten einer gemäßigten pro Folter-Position angeschlossen, also den (angeblich) begrenzten Einsatz von tortureliteMethoden offen befürwortet hätte, anstatt auf die (von AgentInnen als unwahrscheinlich eingeschätzte) Geheimhaltung ihrer internen Regelungen und der Folterungen selbst zu hoffen.808 Zum Anderen – und vor dem Hintergrund unserer Fragestellung wichtiger – war die (eben geheime) non-compliance mit und interne Einschränkung der Norm letztlich nicht ausschlaggebend für deren Erosion. Dieser Prozess wurde vielmehr von Debatten innerhalb der Bevölkerung angestoßen, die die absolute Gültigkeit des Folterverbots als erste wieder in Frage stellte und damit das mit dem Tabu einhergehende Denkverbot brach. Bei der EntTotemisierung von Folter stellen die hier bereits veröffentlichten Regierungsdokumente zwar eine „Fundgrube“ für die Argumentation der FolterbefürworterInnen dar, wiederum spielte sich jedoch die Debatte um die Akzeptierung einer neuen Kategorie von Foltermethoden v.a. 807 808 Da diese Überlegung jedoch auch immer wieder von den AutorInnen der Memos angestellt wurden, scheint ihnen dennoch Beachtung geschenkt worden zu sein. Im Hinblick auf diese Frage hat es sich als Manko erwiesen, allein US-amerikanische Quellen heranzuziehen und nicht auch Stellungnahmen der USamerikanischen Verbündeten zu berücksichtigen (was jedoch aus zeitlichen Gründen nicht möglich war). Offensichtlich wurde auch innerhalb der Administration noch kurz vor dem Abu Ghraib-Skandal davon ausgegangen, man könne die Geschehnisse tatsächlich verheimlichen, obwohl bereits einige GeheimdienstagentInnen Zweifel geäußert hatten, dass dies im Irak möglich sei: „This was stupidity. You’re taking a program that was operating in the chaos of Afghanistan against Al Qaeda, a stateless terror group, and bringing it into a structured, traditional war zone. Sooner or later, the commandos would bump into the legal and moral procedures of a conventional war with an Army of a hundred and thirty-five thousand soldiers.” Zitiert nach: Hersh, Seymour 2004: The Gray Zone; How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 25.05.2004. – 215 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e in der Öffentlichkeit, insbesondere unter RechtswissenschaftlerInnen und MedienvertreterInnen ab. Schließlich trug auch die öffentliche Diskussion maßgeblich zur Verschiebung der Diskurspositionen hin zu einer Rationalisierung von Folter befürwortenden und einer Entrationalisierung von Folter in jedem Fall verdammenden Standpunkt bei, wobei im Verlauf der Debatte die insgeheim festgelegte Position der Regierung von Personen außerhalb dieses politischen Kreises rationalisiert und legitimiert wurde (etwa von SenatorInnen oder den HerausgeberInnen des Wall Street Journal). Im Sinn eines simplen zweigeteilten Modells von Regierungssphäre und Öffentlichkeit wäre die Erosion des Foltertabus also eher als bottom-up- denn als top-down-Prozess zu beschreiben. Im Hinblick auf diese Verschiebung von als legitim angesehenen Diskurspositionen (und damit (Punkt 2)) ist besonders interessant, dass im Verlauf der Debatte nicht nur Argumentationen pro Folter als rational vertretbar anerkannt wurden, sondern auch die Position einer ausnahmslosen und unbedingten Ablehnung von Folter (wie sie das Völkerrecht vorsieht) zunehmend irrationalisiert wurde, da durch argumentative Konstruktionen wie das ticking bomb-scenario offen gelegt wurde, wie schwer es ist, eine letzte Begründung für den Nichteinsatz von Folter aufrecht zu halten. Zu dieser Erkenntnis konnte es jedoch überhaupt erst kommen, weil sich NormbefürworterInnen quer durch alle Akteursgruppen auf eine Debatte mit ihren DebattengegnerInnen einließen, statt diese unter Hinweis auf das Tabu abzublocken und zudem hauptsächlich letztendlich schwer verifizierbare Kosten-Nutzen-Argumente gegen den Einsatz von Folter vorbrachten, statt auf die Einhaltung grundlegender ethischer Standards zu pochen. So gesehen waren die FoltergegnerInnen (natürlich unwissentlich und Erosionsprozess des Foltertabus mitverantwortlich. absichtlich) für den schnellen Können die beiden Hauptkriterien der Erosion des Folterverbots also klar als gegeben eingestuft werden, fallen die Befunde bezüglich der (ebenfalls auf S. 114 der Arbeit beschriebenen) Nebenkriterien gemischt aus: Insbesondere die hier beschriebene EntDistanzierung (Punkt 3) ist offensichtlich nicht in dem Sinne eingetreten, dass die Regierung ihr Handeln offensiv gerechtfertigt hätte. Vielmehr wurde versucht, die Herausgabe weiterer Memos unter Verstoß gegen den Legislative Reorganization Act zu verhindern und insbesondere den Präsidenten gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen, er selbst hätte durch die Annahme – eventuell auch Anforderung – entsprechender Papiere versucht, Folter zu legitimieren. Die Begründung für die Distanzierungspraxis, nämlich der Versuch, sich ganz klar vom Handeln anderer, „unzivilisierter“ Staaten abzugrenzen, war jedoch Gegenstand der Diskussion sowohl auf Seiten der Regierung wie auch bei VertreterInnen anderer Akteursgruppen: Sie forderten eine Angleichung der Kampfmethoden der USA an diejenigen ihrer – allerdings größtenteils nicht-staatlichen – Gegner, also eine Verabschiedung von gerade diesen grundlegenden Unterscheidungskriterien zwischen „zivilisiertem“ staatlichen Verhalten und Guerillakriegsführung, wie der Einhaltung internationalen Kriegsrechts, um im Global War on Terror mehr Handlungsfreiheit zu erlangen. – 216 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e Eine Ent-Archaisierung war insofern festzustellen, als darauf verwiesen wurde, dass die CIA schon früher Gefangene zum Verhör an Drittländer ausgeliefert habe. Allerdings forderte nur Dershowitz explizit, die BürgerInnen der USA müssten es sich abgewöhnen, Folter mit mittelalterlichen Grausamkeiten zu assoziieren und stattdessen akzeptieren lernen, dass Folter Leben retten könne. Zudem wurden häufig Vergleiche mit anderen historischen Krisensituationen (wie dem Außerkraftsetzen der Habeas Corpus-Prinzipien durch Lincoln) angestellt, um Einschränkungen der Gültigkeit grundlegender Normen zu rechtfertigen. Diese Argumentation ging mit der Annahme einher, dass es sich bei diesen Maßnahmen um Ausnahmeregelungen (Punkt 4) handele, die zum Einen wieder rückgängig gemacht würden, sobald die momentane Bedrohungslage nicht mehr gegeben und sie zum Anderen unter Hinweis auf die bewusst angelegte Flexibilität US-amerikanischen Rechts auch juristisch zu rechtfertigen seien. Der Notwendigkeit des Findens einer neuen Balance zwischen Sicherheit und Freiheit wurde allgemein Rechnung getragen, eine Debatte darüber nicht nur akzeptiert, sondern vielfach gefordert. Besonders deutlich kommt die Einstellung, Folterfreiheit sei ein Grundrecht, das legitim gegen andere Rechte abgewogen werden könne, in den Memoranden der Regierung zum Ausdruck, wobei die generelle Forderung, man müsse in Krisenzeiten zum Teil Recht beschneiden, um dieses insgesamt erhalten zu können, auch öffentlich vertreten wurde. Vor dem Hintergrund der Normtheorie drängt sich eine Interpretation dieser Rechtsabwägungen als Gegenüberstellung von (durch Terrorismus bedrohter) Gesamtidentität und außer Kraft zu setzenden Teilidentitäten geradezu auf. Als in der Folterdebatte bedeutendstes Nebenkriterium hat sich die Ent-Universalisierung des Foltertabus (Punkt 6) herausgestellt. Wiederum unter Rückgriff auf die Rede von einer Ausnahmeregelung wurde durch die Verwendung vielfältiger Euphemismen das neue Menschenbild eines Terroristen konstruiert, der aufgrund bestimmter Überzeugungen und Handlungsintentionen seine Menschenwürde verwirkt hat und so legitimerweise gefoltert werden kann. Dies stellt insbesondere einen krassen Bruch mit der Tradition der USA als demjenigen Land dar, das sich um die Universalisierung von Menschenrechten Ende des 18. Jahrhunderts und Mitte des 20. Jahrhunderts besonders verdient gemacht hat – schließlich haben die Vereinigten Staaten den Grundsatz der „inalienable rights” im ersten Satz ihres Gründungsvertrages niedergelegt und vor diesem Hintergrund als erstes Land anerkannt, dass auch schuldigen StraftäterInnen noch Menschenrechte zugestanden werden müssen. Die Definierung von Terroristen als menschenrechtslose Individuen kann jedoch nicht als „Rückfall“ in die Zeit vor diesen Erklärungen gewertet werden, da heute Individuen im Zentrum der Debatte stehen, deren Straftaten durch Folter verhindert, nicht aufgeklärt werden sollen, was der Richter und Rechtsprofessor Richard Posner im (bewussten?) Rückgriff auf die Argumentation Friedrichs des Großen auf den Punkt bringt: – 217 – Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e „The dogma that it is better for ten guilty people to go free than for one innocent person to be convicted may not hold when the guilty ten are international terrorists seeking to obtain weapons of mass destruction.“809 Folter wird, ganz nach der Lesart Foucaults, in ihrer modernen Variante zur Informationserpressung außerhalb eines Gerichtsverfahrens angewandt, wobei der Hinweis der FolterbefürworterInnen, diese Informationen seien unter den neuen Gegebenheiten noch wesentlich wichtiger als etwa in früheren, „normalen“ Kriegen, schwer zu widerlegen ist. So ist auch zu erklären, dass die Insassen in Guantanamo Bay nicht nur nicht als Kriegsgefangene anerkannt wurden, sondern sich eher in einer Art „Informationsbeschaffungslager“ befinden, als in einem „normalen“ Gefängnis. Ein die Ent-Universalisierung begünstigender Faktor war sicherlich auch die unausgesprochene Annahme, es würden nur Angehörige einer anderen Kultur und Religion gefoltert, so dass man selbst nie Opfer dieser Entwicklungen werden könne (und sich somit vielleicht auch nicht automatisch in die Lage des Opfers versetzen musste) im Speziellen und die erstaunlich starke Amerikazentriertheit der Debatte in beiden Lagern der Diskussion, die sich nicht zuletzt in der Vorstellung niederschlug, die USA stünden als Erfinder des Völkerrechts über diesem, so dass sie seinen Anwendungsbereich „à la carte“ wählen könnten, im Allgemeinen. Hand in Hand mit der Ent-Universalisierung des Tabus ging eine Ent-Totemisierung von Folter, die dem Kriterium der Konventionalisierung beim nuklearen Tabu ähnelt, jedoch nicht unter die Erosionskriterien des Foltertabus gefasst wurde.810 Die Akzeptanz der Schaffung einer neuen Kategorie von Foltermethoden (im Sinne des Völkerrechts) außerhalb des Tabus durch die meisten DiskursteilnehmerInnen war der Sargnagel, der das Ende des Foltertabus besiegelte. Zumindest ist momentan – trotz der Initiativen des Kongresses – kein Wiedererstarken dieses Tabus in Sicht. Vielmehr scheint es, als hätte sich ein stillschweigender Konsens herausgebildet, die Anwendung von torturelite-Methoden (in Notfällen) zu akzeptieren, dies aber zugleich zu ignorieren und zu verdrängen. Knapp fünf Jahre nach den Anschlägen vom 11. September bleibt damit fraglich, ob und wann die Angst vor neuen Anschlägen bzw. der Frust, solche nicht mit Sicherheit verhindern zu können und der auch psychologisch motivierte Wunsch, den neuen Feinden durch mehr Informationen ein Gesicht zu geben, wieder abnehmen, so dass eine Wiederherstellung der absoluten Gültigkeit dieser Norm allen relevanten Gruppen wieder wünschenswert erscheint. 809 810 Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.08.2002. Für dieses Argument Friedrichs vgl. S. 93 der Arbeit. Rückblickend lässt sich jedoch insofern ein Anknüpfungspunkt feststellen, als auch in Preußen zunächst unklar war, was als Folter zu gelten hatte und was nicht, vgl. S. 94 der Arbeit. – 218 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e 6.2 Erosion des nuklearen Tabus Schloss das Kapitel zur Entstehung des nuklearen Tabus mit der Feststellung, dass die Möglichkeit eines nuklearen Einsatzes angesichts der Mitte der 1990er Jahre herrschenden Abrüstungseuphorie unwahrscheinlicher denn jemals zuvor schien, soll im Folgenden zum Einen überprüft werden, wie lange sich die Stabilität des Einsatzverbotes aufrecht erhalten konnte und zum Zweiten eine Rekonstruktion seines Erosionsprozesses vorgenommen werden, wobei die am Ende des Kapitels 5.2 vorgeschlagenen Erosionskriterien hier als Folie dienen werden. Im Zentrum wird dabei, neben der Chronologisierung der Ereignisse vor dem Hintergrund US-amerikanischer sowie internationaler Entwicklungen, eine Darstellung der in den Vereinigten Staaten (bis heute) geführten Debatte über die Rolle von Nuklearwaffen nach Ende des Kalten Krieges und im Lichte neuer, zahlreiche Verschränkungen aufweisender Bedrohungen wie internationaler Terrorismus, totalitäre Regime und Proliferation von Massenvernichtungswaffen (WMD) stehen. Ich werde zunächst unter 6.2.1 einen Überblick über das gesichtete und ausgewertete empirische Material geben, um im Folgenden den Ablauf der Debatte sowie zentrale Ereignisse vor und nach dem diagnostizierten Erosionsbeginn zu skizzieren (6.2.2), hierbei wird die Positionierung der für den Diskussionsprozess maßgeblichen Akteure sowohl zu der Norm als auch zueinander herausgestellt. Nach einer detaillierten Darlegung des Nukleardiskurses in Kapitel 6.2.3, werde ich schließlich im Fazit (6.2.4) eine theoretische Reflexion tabuschwächender sowie zu seiner Verteidigung vorgebrachter Argumentationsweisen vornehmen und aus der Perspektive der Frage, wie die Erosion des nuklearen Diskussion vorschlagen. Tabus möglich geworden ist, Interpretationen der 6.2.1 Zeitraum und Ablauf der Debatte Materialübersicht Anders als Folter, wie in Kapitel 6.1 zu sehen war, sind Nuklearwaffen nie aus der USamerikanischen öffentlichen Debatte verschwunden, was sich in den Trefferzahlen zu den einschlägigen Stichworten zeigt811 – die Schwerpunkte der Diskussionen haben sich im Laufe der Zeit jedoch verlagert: Abrüstungsabsichten sind heute zwar nach wie vor präsent, werden jedoch parallel zum intendierten Aufbau neuer (Ersatz-)Waffensysteme vorgebracht, unilaterale Strategien der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen gewinnen gegenüber vertragsbasierten multilateralen Nicht-Proliferationsbemühungen immer mehr an 811 So hat die Suche nach den Stichworten bunker buster, nuclear taboo, nuclear posture, mini nukes, nukes in den Basisdokumenten durchschnittlich ca. 114 Treffer pro Jahr erbracht, wobei das Jahr 2000 mit 72 Fundstellen die geringste, 2002 hingegen mit 179 die höchste Treffermenge aufweist. In den Jahren 19952001 betrug die durchschnittliche jährliche Treffermenge 92 Treffer, 2002-2005 waren es schon 151. Diese Zahlen sollen in erster Linie einen Eindruck von der zu sichtenden Datenmenge vermitteln und nicht zu dem Fehlschluss verleiten, das Ausmaß der Debatte ließe sich anhand von ihnen exakt bestimmen, wenn sie auch eine Intensivierung andeuten. – 219 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Gewicht und aus heutiger Sicht verklärt anmutende nukleare Abolitionismushoffnungen812 mussten der Artikulation neuer Einsatzerfordernisse für Nuklearwaffen weichen. In den von uns als Basis gewählten Dokumenten wurden diese Veränderungen umfassend diskutiert: Insgesamt 160 der über 1200 gesichteten Zeitungsartikel aus der New York Times (NYT), USA Today (UST) und der Washington Post (WP) im Auswertungszeitraum von 1995-2005 erwiesen sich für den Argumentationsverlauf als direkt relevant (die restlichen stellten für notwendige Hintergrundinformationen eine wichtige Quelle dar), zu diesen kamen 11 Artikel des Wall Street Journal aus den Jahren 2002-2005.813 Ausgehend von dieser Basis wurden die in 49 Referenzdokumenten enthaltenen Argumente berücksichtigt, wobei nicht nur die tatsächlich genannten Pressemitteilungen, Strategiepapiere, Artikel aus anderen Zeitungen, Transkripte von Fernsehsendungen sowie Ansprachen gesichtet wurden, sondern die Recherche z.B. auf weitere Statements der prominent auftretenden Akteure, andere Policy Papers der genannten Institutionen sowie die Stichwortsuche in den Referenzzeitungen ausgeweitet wurde, sofern dies notwendig und durchführbar erschien.814 Zwar ist die Anzahl der Gesamtfundstellen seit 2001 angestiegen, man kann jedoch nicht sagen, dass es sich um einen besonders steilen Anstieg handelt – im Gegensatz dazu steht die Verteilung der internalisierungs- bzw. erosionsrelevanten Dokumente auf den Analysezeitraum: Während nur etwas mehr als ein Fünftel von ihnen aus den ersten 7 Untersuchungsjahren stammt, verteilen sich die übrigen 80% auf die letzten 4 Jahre, wie folgendem Schaubild entnommen werden kann: 815 812 813 814 815 Abolitionismus als Begriff bezieht sich nicht konkret auf Nuklearwaffen – vielmehr gab es inzwischen einige Bewegungen, die sich mit dem Ziel zusammengeschlossen hatten, einen bestimmten Missstand abzuschaffen, etwa Sklaverei oder Prostitution. Ich verwende ihn in diesem Teil ausschließlich als Bezeichnung für Forderungen nach vollständiger Abrüstung. Zur Einbeziehung des Wall Street Journal s. FN 204 (S. 58) der Arbeit Arbeit. So wurde z.B. auch die Los Angeles Times (LAT) in den Jahren 2002 und 2003 nach den bereits genannten Stichworten durchsucht, da aus der Berichterstattung in den Basisblättern hervorging, dass sie die Diskussion mit der Veröffentlichung geheimer Regierungspläne und -dokumente angestoßen hatte, in deren Folge hier eine breite Debatte erwartet werden konnte. Dieses „Übergewicht“ auf den Jahren 2002-2005 findet sich zu gleichem Anteil auch in der Verteilung der 712 ausgewerteten Argumente wieder. In diesem Zeitraum – der der Anzahl der Artikel nach als der Haupterosionszeitraum gelten kann – wiederum erreicht die Diskussion im Jahr 2002 mit 220 Argumenten, die fast 40% der Analyseeinheiten im Erosionszeitraum ausmachen, ihren quantitativen Höhepunkt und wird in den folgenden Jahren mehr oder weniger konstant weitergeführt. – 220 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Abb. 2: Verteilung der als relevant eingestuften Dokumente im Nukleardiskurs Welche Entwicklungen kommen in dieser, zunächst ausschließlich quantitativen Darstellung, zum Ausdruck? Die Ursache der raschen Intensivierung der Debatte im Jahr 2002 ist unschwer zu erkennen: Die 2001 von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld angeforderte und vom US-Kongress mandatierte Nuclear Posture Review (NPR) wurde am 8. Januar 2002 zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit dem Parlament vorgelegt, fast genau zwei Monate später druckte jedoch die Los Angeles Times, deren Kolumnist William J. Arkin nach eigenen Angaben in den Besitz einer Kopie der NPR gelangen konnte,816 Passagen des Dokuments ab und brachte damit den Stein ins Rollen.817 Da die vorherigen Jahrgänge allerdings ebenfalls nicht trefferfrei waren, sollen im Folgenden mit Fokus auf die Internalisierung des nuklearen Tabus sowie auf eventuelle Erosionstendenzen die Schwerpunkte der US-Nukleardebatte vor dem Erscheinen der NPR grob umrissen werden. Abolitionismus, Abrüstung und Angst vor Proliferation: Diskussion der 1990er Jahre Während zum 50sten Jahrestag der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki am 6. August 1995 Tausende JapanerInnen dieser Ereignisse gedachten, wurde dieses Datum auch von US-amerikanischen KommentatorInnen zum Anlass genommen, an den 816 817 Arkins Rolle bei der Aufdeckung geheimer Regierungsdokumente und -pläne (Veröffentlichung der weltweiten US-amerikanischen Nuklearwaffenpositionen Anfang der 1980er, mini-nuke-Studien 1993, NPR 2002) brachte ihm ein Porträt in der Washington Post ein, die ihn als „crossover analyst“ beschreibt und seinen LA-Times-Chef mit den Worten zitiert, Arkin sei „hydra-headed “. Solche Einschätzungen beruhen auf vielfältigen Aktivitäten des investigativ tätigen Arkin, der sich selbst nicht als Journalist bezeichnen will und weder klar einem politischen Lager noch einer bestimmten Institution zuzuordnen ist: Außer für die Los Angeles Times schreibt er regelmäßig für mehrere andere Tageszeitungen, engagiert sich bei Human Rights Watch und einigen liberalen Think Tanks – und pflegt zugleich enge Verbindungen zum Militär. Auch das Pentagon engagiert ihn zwar als Berater, ordnet ihn jedoch trotzdem in die „nonsupporter category “ ein, weil er sicherheitsrelevante Informationen veröffentliche. Seine Informanten gibt Arkin nicht preis, im Pentagon spricht man von „ stolen documents“ und ist sich darüber einig, dass die Personen, die Informationen an Arkin weitergaben, „very likely broke the law “. S. ausführlich: Kurtz, Howard 2002: Explosive Analyst, in: Washington Post, 24.05.2002. Der erste Artikel zur nicht-öffentlichen Version von Paul Richter erschien unter dem Titel „U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“ mit dem Untertitel „ Military: Administration, in a secret report, calls for a strategy against at least seven nations: China, Russia, Iraq, Iran, North Korea, Libya and Syria“ am 09. März 2002. – 221 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e apokalyptischen Charakter der aus dem Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückten Nuklearwaffen zu erinnern und die Gültigkeit des nuklearen Tabus zu bekräftigen: „Fifty years later, with at least eight nuclear powers and 20,000 nuclear bombs rattling around the planet, the bomb is no longer a weapon. It is a doomsday machine. Today, if the line between conventional and nuclear weapons is crossed, it is the end of civilization. Today, atomic bombing is not strategic bombing by other means. It is an invitation to apocalypse. Accordingly, we have developed an absolute taboo against the use of nuclear weapons – its power evidenced by the amazing fact that both of the great superpowers of our time, the United States and the Soviet Union, eschewed nuclear weapons even in the face of agonizing, debilitating defeat in war (Vietnam and Afghanistan).“818 Ein halbes Jahrhundert nach den einzigen nuklearen Angriffen ließ die Macht des Tabus die Frage, wie wahrscheinlich ein Nuklearkrieg vor dem Hintergrund der völlig anderen weltpolitischen Lage sei, dennoch nicht obsolet werden. Dies zeigte auch die von der Zeitschrift Bulletin of Atomic Scientists zu diesem Thema veranstaltete Diskussion, deren Auszüge am 03. Dezember 1995 in der New York Times unter dem Titel „Word for Word: The Doomsday Clock. How Many Minutes to Midnight 50 Years After The A-Bomb’s Birth? “ erschienen.819 Direktoren kleiner und großer Think Tanks, Angehörige von Regierungen und des Militärs, prominente Professoren sowie Nuklearphysiker, aber auch LeserInnen gaben hier ihre – erwartungsgemäß unterschiedlichen – Einschätzungen zum Besten, die sich als treffender Ausblick auf die Entwicklung der Debatte(n) der nachfolgenden Jahre erweisen sollten: Während ein nuklearer (Welt-)Krieg im Rahmen des Möglichen, aber als sehr unwahrscheinlich angesehen wurde, erschien der nukleare Terrorismus bereits zu diesem Zeitpunkt als akute Gefahr. Entsprechend beantwortete der Los Alamos-Physiker Theodore Taylor die Frage nach dem Stand der doomsday clock: „If it’s the time remaining before nuclear terrorists kill more than 100,000 people, I would set it at two minutes to midnight. If it means a nuclear World War III, then back to 11:30.“ In diesem Zusammenhang wie auch mit Blick auf die rogue states wurde die wachsende Bedeutung nationaler wie internationaler Nichtverbreitungsmaßnahmen betont, ihre bereits erzielten Erfolge als Trend zur weltweiten Absage an die grausamen Waffen interpretiert, gleichzeitig aber auch die Befürchtung geäußert, die globale Abrüstungsbewegung werde sich gegenüber den Absichten der USAdministration nicht durchsetzen können. Neue Proliferationsrisiken wurden dagegen nicht nur in der Möglichkeit zu eigenständigen Waffenentwicklungen durch feindliche Regime, sondern vor allem auch in der Schwäche Russlands erkannt, seine loose nukes als „the world’s most pressing security problem“ bezeichnet. Wie hiermit angedeutet wird, wurde die Debatte in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraumes tatsächlich vor allem von Auffassungen hinsichtlich der Abrüstungschancen und gleichzeitig auch -schwierigkeiten auf Seiten der verbliebenen und der 818 819 Krauthammer, Charles 1995: The Strategic Logic of Hiroshima, in: Washington Post, 21.07.1995. Das Bulletin of Atomic Scientists wurde im Dezember 1945 von ehemaligen Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts gegründet und druckte seitdem regelmäßig die doomsday clock ab, anhand der man die Einschätzung der Zeitschrift ablesen konnte, wie nah die Welt an einem Nuklearkrieg stand. – 222 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e ehemaligen Supermacht dominiert:820 Während die Clinton-Administration die Ansicht vertrat, dass Nuklearwaffen auch in Zukunft eine wichtige Rolle als eine „necessary insurance against an unexpected and disastrous reversal at the conventional level in some future, unspecified war, and as important inhibitors for would-be [nuclear] proliferators“ spielen würden, schaute der spätere Außenminister der ersten George W. Bush-Administration Colin Powell, der zu diesem Zeitpunkt selbst als potentieller Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde, noch hoffnungsvoll der Senkung der Nuklearwaffenzahlen „down to zero” entgegen, und damit jenem Tag, an dem „die Welt zu einem viel besseren Ort” würde.821 Diese Hoffnung teilte er nicht nur mit 84% der US-amerikanischen Bevölkerung, die 1997 erklärten, dass sie sich in einer nuklearwaffenfreien Welt weitaus sicherer fühlen würden,822 sondern auch mit einer Reihe anderer AbolitionistInnen, zu denen neben dem weltweiten Netzwerk „Abolition 2000“823 auch prominente Angehörige des US-Militärs zählten: So präsentierten Ende des Jahres 1996 zwei Generäle a. D. – der ehemalige Befehlshaber des Strategic Air Command und Vier-Sterne-General Lee Butler sowie General Andrew Goodpaster, der als Eisenhowers rechte Hand galt – nach einem gemeinsamen Statement für eine nuklearwaffenfreie Welt eine Liste von 70 weiteren Generälen aus den USA und der ganzen Welt, die ebenfalls, „for the first time the prospect of restoring a world free of the apocalyptic threat of nuclear weapons“ in Sicht glaubten – mit der Vernichtung des nuklearen Totems sollte offenbar ebenso die Wahrscheinlichkeit 820 821 822 823 824 des Tabubruches auf Null gesenkt werden.824 Von einigen Neben abrüstungsbedingten Sicherheitsbedenken wurden auch logistische Probleme diskutiert, wie etwa: Wohin mit den Waffen, die von Militärschiffen abgebaut wurden? Was soll mit dem Überschuss an radioaktivem Material geschehen, das nun nicht mehr in Bomben verarbeitet werden kann? Wo soll der nukleare Müll gelagert werden? S. hierzu: Wald, Matthew L. 1995: Today’s Drama: Twilight of the Nukes, in: New York Times, 16.07.1995. Administration und Powell zitiert in: Rosenfeld, Stephen S. 1995: New Age Nukes, in: Washington Post, 10.02.1995. Dem Optimismus dieser Zeit verleiht auch ein Zitat Powells aus seiner 1995 verfassten Biographie Ausdruck: „Während ich diese Zeilen schreibe, führt unser Staat nirgendwo Krieg. Wir sind auch nicht mehr gezwungen, (…) widerwärtige Regimes zu stützen, die sich nicht an anerkannte demokratische Grundsätze hielten. Und wir wollen nicht die gewaltige Errungenschaft des vergangenen halben Jahrhunderts vergessen: unseren Sieg im Kalten Krieg. Die Gefahr der atomaren Vernichtung ist abgewendet, diese schreckliche Bedrohung, der die Welt ausgesetzt war, solange Ost und West an ihrem gegenseitigen Mißtrauen festhielten. (…) Diesen Sieg der Freiheit hinterläßt unsere Generation der Welt. Ich empfinde es als ein außerordentliches Privileg, daß ich an einer historisch so bedeutsamen Ära teilhaben durfte.“ Powell, Colin 1996: Mein Weg, München, S. 635. Angabe nach: McGrory, Mary 1997: Poisoning the Atmosphere, in: Washington Post, 10.04.1997. Für weitere Informationen siehe die Website der Organisation, online unter: <http://www.abolition 2000.org>, rev. 24.07.2006. S. hierzu: McGrory, Mary 1996: Unofficial Leadership, in: Washington Post 12.12.1996 sowie Butler, Lee/Goodpaster, Andrew J. 1996: Joint Statement on Reduction of Nuclear Weapons Arsenals: Declining Utility, Continuing Risks. Zumindest bei Butler scheint sich in dieser Hinsicht ein fundamentaler Sinneswandel, der auf eine späte Internalisierung der Nicht-Einsatz-Norm schließen lässt, vollzogen zu haben, wie folgender Kommentar – etwas spöttisch – nahe legt: „As one of the allegedly sane ones who spent a military career promoting the madness of nuclear war, retired Gen. George Lee Butler now proclaims that U.S. nuclear policy is ‚fundamentally irrational.’ The onetime nuclear warrior, whose chores for the Air Force included approving thousands of sites to be annihilated, earned four stars before retiring in 1994 at age 55. In a speech here on Dec. 4, the former commander in chief of the Strategic Air Command dropped his bombshell: ‚Nuclear weapons are inherently dangerous, hugely expensive, militarily inefficient and morally indefensible.’ Now he tells us.” McCarthy, Colman 1996: General’s Conversion a Non-Bombshell, in: Washington Post, 17.12.1996. – 223 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Kommentatoren als „drastic suggestion“825 gewertet, wurde die Idee einer vollständigen Abrüstung nicht nur in der Administration für nicht realisierbar erachtet,826 sondern bereits der Wunsch danach unter Verweis auf die zweite, schützende, weil friedenswahrende, Seite des Doppelcharakters von Nuklearwaffen kritisch hinterfragt: „Better a world with nuclear weapons but no major war than one with major war but no nuclear weapons. (…) To designate now complete abolition as a goal for seriously intended practical policy independently of massive other changes in the world will not help the realistic agenda. [Abolition] is neither a physical nor a political possibility for decades to come. Whether it is anyway desirable is an open question which we should approach with our eyes on the real objective – the prevention of war.“827 Neben der hier geäußerten unbedingt notwendigen Beibehaltung eines Nukleararsenals zur allgemeinen Kriegsverhinderung wurden auch konkrete Abrüstungsgefahren für die USSicherheit gesehen. So interpretierte z.B. der konservative Publizist Charles Krauthammer die indischen und pakistanischen Nukleartests im Frühjahr bzw. Sommer des Jahres 1998 zum Einen als Beweis der Grenzen der Nicht-Proliferationspolitik und zum Anderen als Argument gegen die Unterzeichung des ABM-Vertrages (Anti-Ballistic-Missile Treaty ), wäre doch sein „entire purpose (…) to ensure mutual American and Soviet defenselessness“ genau in solchen Proliferationsfällen.828 Wurde die Nichtverbreitungsproblematik schon hinsichtlich der beiden den USA eher freundlich gesonnenen asiatischen Staaten sehr kritisch bewertet, ist nur natürlich, dass sie im Zusammenhang mit den üblichen Verdächtigen – den „Schurkenstaaten“ Irak, Iran, Libyen und Nordkorea – als noch um einiges bedrohlicher eingeschätzt wurde. Die Angst vor libyschen unterirdischen Chemiewaffenanlagen führte sogar zu Einsatzdrohungen mit dem sich durch besondere Durchschlagskraft auszeichnenden „nuklearen Erdpenetrator“ B61-11 noch vor seinem Produktionsabschluss.829 Auch in Reaktion auf die 1995 erfolgte Ankündigung Nordkoreas, die Plutoniumanreicherung mit dem Ziel der Herstellung von Nuklearwaffen wiederaufzunehmen, drohte das Pentagon nicht nur massive – konventionelle und nukleare – Vergeltung im Falle eines nuklearen Einsatzes an. Aufgrund ernsthafter Zweifel, dass skrupellose Diktatoren wie Kim Il Sung überhaupt abgeschreckt werden können, stand nach Aussagen des damaligen Verteidigungsministers 825 826 827 828 829 McGrory, Mary 1996: Unofficial Leadership, in: Washington Post, 12.12.1996. Komarov, Steven 1996: Ex-generals declare war on nukes; ‚Risks run too great’ group says, in: USA Today, 05.12.1996. So wird Michael Quinlan, der damalige Direktor der American Ditchley Foundation zitiert. S. Rosenfeld, Stephen S. 1996: Nuclear Abolitionism, in: Washington Post, 16.12.1996. S. dazu seinen Kommentar nachdem Indien bereits Tests durchgeführt hatte, Pakistan allerdings noch davor stand: „Defenseless America“, in: Washington Post, 28.05.1998. Genauso argumentierte Krauthammer knapp anderthalb Jahre später im Vorfeld der von ihm befürchteten CTBT-Ratifikation, dass dieser Vertrag die USA entwaffne und neuen Gefahren ausliefere. S. Krauthammer, Charles 1999: A Test Ban That Disarms Us; When it comes to nuclear testing, nations will act in their perceived self-interest, in: Washington Post, 10.09.1999. Hiermit befand sich Krauthammer auf einer Linie mit den RepublikanerInnen im Senat unter Führung des Senators von Mississippi, Trent Lott, die im umfassenden Teststopp eine Gefährdung der US-Sicherheit sahen. S. Page, Susan/Koch, Wendy 1999: Clinton, GOP trade shots over nuke treaty, in: USA Today, 15.10.1999. S. Mello, Greg 1997: The Birth Of a New Bomb; Shades of Dr. Strangelove! Will We Learn to Love the B61-11?, in: Washington Post, 01.06.1997. – 224 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e William J. Perry schon vor 1995 sogar ein preemptive strike gegen den nordkoreanischen Nuklearreaktor zur Debatte. Obwohl man zum Schluss kam, dass eine nukleare Option tatsächlich zumindest technisch – ohne Folgekontamination – durchführbar wäre, entschied man sich, vor allem aufgrund des als sehr hoch eingeschätzten Eskalationsrisikos, gegen sie und setzte weiterhin auf diplomatische Mittel.830 Als der Irak 1998 als nächster „Schurkenstaat“ die Kooperation mit den Waffeninspekteuren der UN aufkündigte, veranlasste Präsident Clinton mit Unterstützung der britischen Regierung Bombardements irakischer Ziele, die schließlich im Dezember des gleichen Jahres durchgeführt wurden. Erklärtes Ziel der „Operation Wüstenfuchs“ war es, die USA und die Nachbarstaaten des Irak vor dessen Massenvernichtungswaffen zu schützen – ein nuklearer Einsatz erschien hier jedoch genauso wenig wie im Fall Nordkorea als eine gangbare Alternative. Zum Ausschluss der nuklearen Option haben mehrere tabubezogene Faktoren beigetragen: Zum Einen wurden die politischen Kosten einer non-compliance mit dem Einsatzverbot als zu hoch eingeschätzt; konkret befürchtete man, durch den Tabubruch die Zugehörigkeit zur zivilisierten Staatengemeinschaft zu riskieren und zu einem „international pariah“ zu werden – offensichtlich war den Entscheidungsträgern die für Tabus typische Gefahr der Exklusion sehr bewusst. Zum Anderen erschienen die meisten potentiellen Ziele „out of the question“, entweder weil im Falle eines Angriffs mit horrenden Opferzahlen unter der irakischen Zivilbevölkerung zu rechnen war oder weil die Unsicherheit darüber, wo genau sich die gefürchteten Waffen befinden, die nukleare Bombardierung zahlreicher militärischer Ziele erfordert hätte – aufgrund der Stärke der Norm wiederum undenkbar. Letztendlich führte die Kombination aus politischen, moralischen und praktischen Erwägungen zur Entscheidung für eine konventionelle militärische Luftoffensive.831 Proliferationsherausforderungen wurden jedoch mitnichten ausschließlich von Seiten der „Schurkenstaaten“ wahrgenommen. Nicht nur, dass die russische Regierung im März 1998 verkündete, einen nuklearen Ersteinsatz nicht mehr ausschließen zu können, sei doch ihr „nuclear stick“ alles, was sie zur Kompensation ihrer schwachen konventionellen Streitmacht vorweisen könne832 – schon sehr früh und immer wieder wurden zudem unter den 830 831 832 Neben der Angst vor nordkoreanischen – nicht unbedingt nuklearen – Vergeltungsangriffen auf seinen südlichen Gegenpart (Kim Il Sung hatte 1994 angedroht, im Fall von Provokationen Seoul in ein „ sea of fire “ zu verwandeln), auf Taiwan oder auf den US-Verbündeten Japan – alle drei Staaten sprachen sich aus eben diesem Grund vehement gegen militärische Operationen gegen den Diktator aus – wurde ebenfalls befürchtet, dass Kim Il Sung auch außerhalb der Nuklearanlagen Bomben gelagert haben könnte, die im Falle einer militärischen Bedrohung zum Einsatz kämen. Befanden sich die Waffen, wie angenommen, tatsächlich in einigen der zahlreichen, vorsorglich für den Kriegsfall gebauten unterirdischen Bunkern, hätten sie nur mit einer Reihe nuklearer Schläge zerstört werden können – ein „unthinkable approach .“ S. Ottaway, David B./Coll, Steven 1995: New Threats Create Doubt in U.S. Policy, in: Washington Post, 13.04.1995. S. für eine knappe Wiedergabe der Diskussion der Optionen: Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in: New York Times, 15.03.1998. So der prominente russische Militärstratege Leo Volkov, der den Zustand Russlands außerdem wie folgt charakterisierte: „ We’re naked. Can you imagine that?”, zitiert nach: Hoffman, David 1998: Downsizing A Mighty Arsenal; Moscow Rethinks Role As Its Weapons Rust, in: Washington Post, 16.03.1998. – 225 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Stichworten „know how in the wrong hands“ und „loose nukes“ weitere vom maroden Nukleararsenal des einstigen Rivalen ausgehende Sicherheitsrisiken besorgt thematisiert.833 Solchen Bedenken zufolge hätten einerseits das unzureichend bewachte spaltbare Material, fertige nukleare Sprengköpfe, aber auch technische Dokumente wie Bauanleitungen in „unfriendly hands“ gelangen können.834 Andererseits bestünde in Anbetracht des desolaten Zustands der russischen – wissenschaftlichen wie militärischen – Nuklearelite auch die Gefahr eines brain drain in weniger USA-freundliche Staaten.835 So wurde offenkundig, dass Armut und das Fehlen sinnvoller Aufgaben Forscher wie Offiziere demoralisieren und sie für Korruption empfänglich werden lassen kann, sie infolge dessen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in den Dienst von „wannabe-nuclear powers“ stellen oder Terroristen über den Bau einer Nuklearbombe instruieren könnten836 – wie ernst diese Gefahr war und wie grauenhaft die Folgen nuklearer Anschläge ausfallen könnten, wurde durch den „nur“ mit Giftgas begangenen Anschlag auf die Tokioter U-Bahn und das von zwei US-Amerikanischen Terroristen mit nicht-nuklearem Sprengstoff (Ammoniumnitrat und Nitromethan) im eigenen Land ausgeführte Oklahoma City Bombing erschreckend deutlich. Die ebenfalls von Russland ausgehende Gefahr eines „accidental launch“ wurde zu einem weiteren Debattenfokus: Einerseits nährten gelegentliche Unsicherheiten darüber, wer in Russland nun die Kontrolle über den roten Knopf habe bzw. in einer politisch instabilen Situation erlangen könnte, die Angst vor einem irrtümlichen Nuklearschlag;837 andererseits bereitete die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Fehleinschätzung der Situation aufgrund technischer Mängel, wie z.B. veralteter Radargeräte, große Sorgen. So kam es 1995 beinahe zu einem „unimaginable nuclear disaster“, weil die russische Luftraumüberwachung eine auf ihren Radarschirmen registrierte amerikanisch-norwegische Forschungsrakete für eine Nuklearrakete hielt – angeblich konnte der Alarm gerade einmal zwei Minuten vor der deadline als falsch erkannt werden.838 An diese – so tod ernste und deshalb kaum als Anekdote 833 834 835 836 837 838 Dass die Wartungsstandards nicht eingehalten werden konnten und der Verfall zugelassen wurde, lag (und liegt) schlichtweg an der prekären ökonomischen Lage Russlands. S. z.B. Nunn, Sam/Blair, Bruce G. 1997: From Nuclear Deterrence to Mutual Safety; As Russia’s Arsenal Crumbles, It’s Time to Act, in: Washington Post, 22.06.1997. Ottaway, David B./Coll, Steven 1995: U.S. Focuses on Threat of Loose Nukes, in: Washington Post, 10.04.1995. Berichten zufolge hatten allein im Jahr 1996 500 (!) Offiziere Selbstmord begangen, gegen mehr als 20 Generäle wurde wegen Korruptionsverdacht ermittelt, was den damaligen Verteidigungsminister Igor Ivanov zu der Warnung veranlasste, das russische Militär könne außer Kontrolle geraten. S. Stern, Jessica 1997: Preventive Defense, in: Washington Post, 23.06.1997. Gerade für russische Wissenschaftler, deren Gehälter Russland nicht mehr zahlen konnte, wurden aus diesen Befürchtungen heraus offizielle Programme, wie das Nunn-Lugar-Programm, gestartet, im Rahmen derer sie z.B. finanzielle Unterstützung sowie eine Beschäftigung im von zusammen mit Japan gegründeten Internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrum erhalten sollten. Berichte hierzu finden sich u.a. bei: Stern, Jessica 1997: Preventive Defense, in: Washington Post, 23.06.1997 sowie bei Friedman, Thomas L. 1998: Madeleine’s Folly, in: New York Times, 17.02.1998, s. auch Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 17f. S. z.B. Blair, Bruce G. 1996: Who’s Got the Button? The Slightly Shaky Control of Russia’s Nuclear Weapons, in: Washington Post, 29.09.1996. McGrory, Mary 1999: Back From the Brinkmanship, in: Washington Post, 12.12.1999. – 226 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e zu bezeichnende – Episode, die zum Symbol der accidental-launch-Bedrohung wurde, ist in der Diskussion über de-alerting vielfach erinnert worden. Neben den oben bereits genannten AbolitionistInnen formierte sich aufgrund der Forderung nach einer Senkung der nuklearen Bereitschaftsstufe eine weitere Gruppierung, die, wenn schon die vollständige Vernichtung der Nuklearwaffen außerhalb des Machbaren schien, zumindest die Entfernung der Sprengköpfe von ihren Trägerraketen verlangte, um dadurch den Entscheidungszeitraum bis zu einem eventuellen Nuklearschlag zu vergrößern und auf diese Weise seine Wahrscheinlichkeit zu senken: „[D]e-alerting would create a judicious delay in the capacity for launch in order to assure more reliable control over nuclear weapons, to reduce daily nuclear tensions, and to strengthen mutual confidence in each other’s nuclear intentions.”839 Doch sowohl Notwendigkeit als auch Zweckmäßigkeit solcher Maßnahmen blieben umstritten – so erklärte z.B. ein US-General – ungeachtet des soeben geschilderten prominenten Vorfalls – er habe sich persönlich das russische Arsenal angesehen und könne seine Zuverlässigkeit zusichern. Auch die generell von einem hohen Bereitschaftsstatus ausgehenden Gefahren wurden angezweifelt, wie im folgenden Zitat eines Angehörigen der Clinton-Regierung deutlich wird: „I don’t buy, if you will, the picture that we are on a ,dangerous hair-trigger’ today “.840 Außerdem sei fraglich, ob solche Maßnahmen überhaupt zu der beabsichtigten nuklearen Entspannung führen können, seien sie doch jederzeit umkehrbar. Ferner könne das bereits geschilderte loose nuke -Risiko durch den Abbau der Sprengköpfe verschärft werden, schließlich seien Raketen immer noch der sicherste Aufbewahrungsort dafür.841 Dagegen bewertete George W. Bush, der sich zum damaligen Zeitpunkt im Präsidentschaftswahlkampf befand, auch noch im Jahr 2000 das Risiko eines versehentlichen Abschusses als hoch: „We need to show the world we are a peaceful nation, but I would never do anything to put our nation at risk (…). Today, for two nations at peace, keeping so many weapons at high alert may create unacceptable risks of accidental or unauthorized launch.“842 Die bisherigen Ausführungen zu den in der peaceful nation geführten Diskussionen um das Thema Nuklearwaffen verdeutlichen einen tabutypischen Umgang mit diesem Kriegsinstrument: Vor allem Waffen im Besitz anderer (feindlich wie freundlich gesonnener) Staaten, die nicht zu den bekannten nuclear High Priests zählten, ihre Waffenentwicklungen und mögliche nukleare Einsätze gegen die USA nahmen breiten öffentlichen Raum ein. Der 839 840 841 842 So der demokratische Senator Sam Nunn in einem gemeinsamen Artikel mit dem WP-Autor und Präsidenten des Center for Defense Information Bruce G. Blair. S. Nunn, Sam/Blair, Bruce G. 1997: From Nuclear Deterrence to Mutual Safety; As Russia’s Arsenal Crumbles, It’s Time to Act, in: Washington Post, 22.06.1997. Zitiert in: Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in: New York Times, 15.03.1998. Zu diesen Argumenten siehe ausführlich: Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in: New York Times, 15.03.1998. Zitiert nach: Keen, Judy 2000: Bush promises to reduce U.S. nukes even if Russians balk Plan includes building shield against missiles, in: USA Today, 24.05.2000. – 227 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Rückgriff auf das Totem zum eigenen Schutz wurde, ebenfalls in Übereinstimmung mit dem nuklearen Tabu, nur in als äußerst gefährlich wahrgenommenen Situationen überhaupt in Betracht gezogen und auch in diesen Fällen schnell wieder verworfen. War die NPR demnach tatsächlich der schlagartige, ohne Vorzeichen eingetretene Beginn des Erosionsprozesses oder lassen sich bereits vorab Einsatzverbotes feststellen? Hinweise auf die Schwächung des nuklearen Schwelende Erosionstendenzen bis 2002 Interessant ist, dass die Argumente, die in der Debatte nach 2002 auf beiden Seiten Verwendung fanden und noch immer finden, nicht unbedingt neu sind, sondern seit Beginn der 1990er Jahre bereits einige Male in ähnlicher Form ausgetauscht wurden; die Debatten erreichten jedoch niemals auch nur eine annähernd vergleichbare Breite und Intensität seit 2002. So griff Präsident Bill Clinton 1997 mit dem Erlass der Presidential Decision Directive (PDD-60) die bereits 1993 von den damaligen Joint Chiefs of Staff843 entwickelten Planungen auf, die nukleare Reaktionen auch auf Angriffe mit anderen Massenvernichtungswaffen vorsahen und erklärte letztere in seiner Richtlinie zur offiziellen Regierungspolitik, deren wichtiges Ziel die bereits diskutierte Nicht-Proliferation war. Demnach fand also schon damals eine gedankliche Ausweitung der Situationen, in denen zur nuklearen Verteidigung gegriffen werden konnte, statt. Ebenfalls im Jahr 1997 wurde die Modifikation der Nuklearbombe B61-7 zu B61-11 vorgenommen: Verbessert wurden ihre Fähigkeiten, sich in den Boden zu bohren, sie konnte nun tiefer eindringen als ihre Vorgängerin und verfügte zudem über eine verringerte Explosionskraft, die weniger fallout erwarten ließ – die Forderung nach einem solchen (sauberen) bunker buster, um tief vergrabene Ziele mit einer möglicherweise gehärteten Außenverkleidung zerstören zu können, war wiederum bereits 1991 in Los Alamos erhoben geworden.844 Die Reaktionen sowohl auf die neuen bunkerbuster-Waffen und die PDD-60 als auch auf die Doktrin der Stabschefs von 1993 fielen ähnlich aus: Einerseits wurde sofort Kritik laut, Dr. Strangelove845 kehre zurück ins Weiße Haus, solche Maßnahmen konterkarieren die jahrzehntelange US-Politik negativer Sicherheitsgarantien für nicht-nukleare Staaten (weil diese nun auch nach einem Einsatz chemischer oder biologischer Waffen Ziel eines nuklearen Angriffs werden könnten) und neue Waffen senken durch die Schaffung der Möglichkeit des Angriffs auf bisher nicht 843 844 845 Die umfassen Army , Navy , Marine Corps, und die Air Force, s. hierzu S. 66 der Arbeit. Für weitere Informationen s. Website der Vereinten Stabschefs: <http://www.jcs.mil>, rev. 24.07.2006. Vgl. dazu den Bericht von Wald, Matthew M. 1997: U.S. Refits a Nuclear Bomb To Destroy Enemy Bunkers, in: New York Times, 31.05.1997. Dr. Strangelove (in deutscher Fassung: Dr. Seltsam) ist eine Figur aus Stanley Kubricks berühmter Filmsatire auf die Strategie nuklearer Abschreckung „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“ – der deutsche Wissenschaftler arbeitet in dem Film angesichts der bevorstehenden nuklearen Vernichtung der Welt an einem Plan zur Rettung eines kleinen Teils der US-amerikanischen Elite. Im untersuchten Diskurs wurde der Name allerdings weniger als Anspielung auf die Rolle bestimmter Personen, sondern vielmehr als eine vor der Rückkehr in eine Ära, in der die Menschheit am Rande eines nuklearen Abgrundes stand, warnende Allegorie verwendet. – 228 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e vorgesehene Ziele die nukleare Hemmschwelle. Auf der anderen Seite wurden diesen Vorwürfen die Rechtfertigungen entgegengesetzt, es handle sich a) überhaupt nicht um neue Waffen, sondern um Modifikationen der alten, b) entweder um eine längst überfällige Strategieanpassung oder c) um gar keine, hätten die USA doch niemals einen nuklearen Einsatz als Reaktion auf einen WMD-Angriff ausgeschlossen und d) solle die nukleare Schwelle keineswegs gesenkt werden.846 Als im Herbst 1999 der Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT) dem Senat zur Ratifikation vorgelegt wurde und das Gremium jene schließlich verweigerte, entflammte eine Diskussion über die Bedeutung von Nukleartests für die Proliferation und die USamerikanische Sicherheit, die sich vorwiegend auf die Zuverlässigkeit des bestehenden Arsenals konzentrierte – der Verzicht auf Testoptionen wurde als eine potentielle Beeinträchtigung der Schutzfunktion des nuklearen Totems eingestuft. Die Notwendigkeit von Tests für neue Waffenentwicklungen spielte in diesem Zusammenhang eine bestenfalls marginale Rolle, doch schon im Jahr 2000 kam das letztgenannte Thema wieder auf die Agenda des Kongresses.847 So wurden die oben knapp umrissenen Argumente auch vorgebracht, als der Senat im Sommer die Aufnahme von Forschungen zum Robust Nuclear Earth Penetrator (RNEP) forderte, im gleichen Jahr ein Strategiepapier der Los Alamos-Labors und (noch vor dem 11. September) 2001 eines der Sandia Laboratories sowie des National Institute for Public Policy (NIPP) erschienen, die allesamt umfassende Veränderungen der US- Nuklearstrategie, die Entwicklung neuer Nuklearwaffen und Vorbereitungen auf neue Einsatzszenarien als notwendig erachteten.848 Entscheidend war jedoch bei allen im letzten Absatz geschilderten Fällen im Vergleich zur NPR-Debatte des Jahres 2002, dass es sich um ein jeweils punktuelles und sehr begrenztes Aufflammen handelte, das sehr schnell wieder abebbte, ohne zu einer breiten Diskussion zu führen,849 obwohl die Diskussionsanlässe ihrem Inhalt nach mit der NPR vergleichbar waren. Grund hierfür ist vermutlich, dass sich die 846 847 848 849 S. für eine kritische Argumentation z.B. Tannenwald, Nina 1997: One Step Backward, Nukewise, für eine befürwortende z.B. Keeny, Spurgeon M. Jr. 1997: One Step Forward. Folgende Berichte geben beide Sichtweisen wieder: Mello, Greg 1997: The Birth Of a New Bomb; Shades of Dr. Strangelove! Will We Learn to Love the B61-11?, in: Washington Post, 01.06.1997 sowie Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in: New York Times, 15.03.1998. Zum Scheitern des CTBT siehe ausführlich Deibel, Terry L. 2002: The Death of a Treaty, in: Foreign Affairs 81:5, S. 142-161. S. dazu den Bericht von: Pincus, Walter 2000: Senate Bill Requires Study of New Nuclear Weapon, in: Washington Post, 12.06.2000. Folgende Studien sind oben aufgeführt: Younger, Stephen M. 2000: Nuclear Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos; Younger war damals Associate Laboratory Director for Nuclear Weapons der Los Alamos National Laboratory . Außerdem das Papier des Präsidenten und Direktors der Sandia National Laboratories: Robinson, Paul 2001: A White Paper: Pursuing a New Nuclear Weapons Policy for the 21st Century. Die Studie des NIPP: National Institute for Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and Arms Control. Die Anzahl der Dokumente, die zu diesen Zeitpunkten veröffentlicht wurden indiziert die fehlende mediale Beachtung: Fünf Artikel aus den Jahren 1997 und 1998, die sich der B61-11 widmeten, sowie jeweils zwei aus 2000 und 2001, die die Aufnahme neuer Studien thematisierten. Die Strategiepapiere blieben zwar zunächst weitgehend unbeachtet – als die Diskussion ab 2002 verstärkt in Gang kam, wurde ihnen mit einiger Verspätung doch noch die öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. – 229 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Regierungen unter Clinton und Bush dem öffentlichen bzw. parlamentarischen Druck beugten850 oder doch geschickt genug waren, Debatten zu umgehen, wobei auch die Öffentlichkeit für dieses Thema anscheinend weniger empfänglich war. Welche Akteure dazu beitrugen, dass sich dies ab März 2002 änderte und welchen Ereignissen in diesem Zusammenhang besondere Unterkapitel dargestellt. Beachtung zuteil wurde, wird im folgenden 6.2.2 Wichtige Stationen des Erosionsprozesses und seine ProtagonistInnen Einleitend sei festgestellt, dass sich an der Nuclear Posture Review tatsächlich die „nuklearen Geister“ zu scheiden schienen – mit Ausnahme der nach außen Einigkeit ausstrahlenden Regierung trat während des Untersuchungszeitraumes kaum eine Akteursgruppe geschlossen auf, die Konfliktlinie verlief nur bedingt entlang der üblichen politischen Lager. So kamen z.B. die DemokratenInnen im Senat zu anderen Schlüssen als ihre KollegInnen im Repräsentantenhaus und einige Republikaner mussten sich dem Vorwurf stellen, die Politik der falschen Partei zu vertreten. Darüber hinaus gaben nicht nur langjährige AnalystInnen der Nuklear- und Sicherheitsstrategien gegensätzliche Politikbewertungen und -empfehlungen ab, auch hochrangige Bedienstete des Militärs vertraten öffentlich unterschiedliche Standpunkte, während sich die Wissenschaft ihrerseits in interne Debatten hinsichtlich des technisch Machbaren, aber auch des politisch Wünschbaren verstrickte. Die gleiche Spaltung fand sich in der Bevölkerung ebenso wie zwischen und auch innerhalb der VertreterInnen der einzelnen Medien. Die Differenzen reichten von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen über Meinungsverschiedenheiten in einigen Aspekten bis hin zu völlig konträren Schlussfolgerungen. Im Laufe des analysierten Diskurses bewegten sich die Positionen kaum aufeinander zu und ließen ebenso wenig Anzeichen für eine Verständigungsorientierung der Akteure deutlich werden; auch die Bandbreite der Argumente blieb weitgehend unverändert. Auffällig ist außer diesem Befund auch, dass sich das Akteursspektrum über die Jahre nicht signifikant veränderte – so meldeten sich immer wieder die gleichen Personen und Institutionen zu Wort, die entweder die Gefährdung des nuklearen Tabus durch die Politikveränderung anmahnten oder aber letztere verteidigten. Von letztgenannter Seite wurde jedoch – anders als von den VertreterInnen der Gegenposition – weder jemals den Begriff „nukleares Tabu“ verwendet, noch sich explizit gegen diese Norm ausgesprochen und öffentlich die Existenz des Tabus beklagt, wie es Eisenhower und Dulles in den 1950er Jahren getan hatten. Vielmehr haben es zahlreiche norm challengers gezielt an einigen Punkten angegriffen, dennoch häufig nicht ohne noch im gleichen Satz zu bekräftigen, dass seine zentralen Komponenten nach wie vor Gültigkeit hätten (wie unter 6.2.3 zu sehen sein wird). 850 Z.B. hatte der Abrüstungsaktivist William Arkin, der auch in Zusammenhang mit der Veröffentlichung der NPR eine entscheidende Rolle gespielt hatte, bereits 1993 Planungen von mini-nuke-Studien im Pentagon aufgedeckt und öffentlich skandalisiert, woraufhin der Kongress einen Teststoppbeschluss erließ, dem sich die Regierung anschloss, s. auch S. 136 und FN 816 (S. 221) dieser Arbeit. – 230 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Wie bereits geschildert, kann das von der Regierung nicht vorgesehene öffentliche Bekanntwerden der NPR als Anstoß der Diskussion gelten. Doch welche Inhalte dieses Dokumentes erregten die Gemüter so sehr, dass eine Debatte losbrechen konnte, die die Administration zwar vermeiden wollte, indem sie das Dokument zunächst unter Verschluss hielt und nach seinem Bekanntwerden zumindest seine Bedeutung herunterspielte, die aber andere Akteure, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, größtenteils begrüßten?851 Brisante Inhalte der Nuclear Posture Review Ausgehend von der Feststellung, dass Russland nicht länger als Feind der USA angesehen werden müsse und sich somit die Notwendigkeit erübrige, die US-Nuklearpolitik an dieser Bedrohung auszurichten, verwies die NPR auf grundlegende Veränderungen im nationalen wie internationalen Sicherheitsumfeld der USA. Anstelle der Gefahr durch einen Gegner mit dem Potential, das Land völlig zu zerstören, sei nun „a broad spectrum of potential opponents” getreten, die neuartige, „unpredicted security challenges” und „immediate, potential or unexpected contingencies” mit sich brächten, wobei die zunehmende Anzahl von nach Massenvernichtungswaffen strebenden Staaten eine besondere Bedrohung darstelle.852 In Anbetracht dieser Veränderungen, v.a. der wachsenden Unsicherheit über drohende Gefahren im Gegensatz zur vorherigen relativen Stabilität, sei eine Abkehr von einem „threat-based approach“ hin zu einem „capabilities-based-approach “ vonnöten, worunter die Sicherstellung der Fähigkeit, auf unvorhersehbare Bedrohungen nationaler Integrität flexibel, schnell und angemessen zu reagieren, verstanden wurde.853 Entsprechend ergibt sich auch, dass die NPR nicht nur Reduktionen des bestehenden Nuklearwaffenarsenals auf „the lowest levels consistent with U.S. national security, as well as the security of U.S. friends and allies“ vorsah, sondern im Rahmen einer neuen Abschreckungspolitik die bisherige nukleare Triade (bestehend aus Interkontinentalraketen, schweren Bombern und U-Boot-basierten ballistischen Flugkörpern) als ein Element in die „new triad “ integriert werden sollte: Die drei genannten nuklearen Bestandteile sollten zusammen mit verbesserten konventionellen Waffen zu einem der Eckpunkte dieser Triade („nonnuclear and nuclear strike capabilities“) werden, zu der neben der Raketenabwehr854 und einer Flexibilisierung der militärischen Infrastruktur 851 852 853 854 Siehe hierzu ausführlich S. 240 der Arbeit. Vgl. Nuclear Posture Review 2002, Auszüge, online unter: <http://www.globalsecurity.org /wmd/library/policy/dod/npr.htm>, rev. 01.08.2006 sowie den für den Kongress erstellten Report zu diesem Thema von Wolf, Amy 2002: The Nuclear Posture Review: Overview and Emerging Issues. Als einen der ersten hierzu publizierten Artikel s. Arkin, William M. 2002: Secret Plan Outlines the Unthinkable, in: Los Angeles Times, 10. März 2002. S. hierzu auch: Sokolsky, Richard 2002: Nuclear Underachievers, Gastkommentar in: Washington Post, 17.01.2002. Die Errichtung einer nationalen Raketenabwehr stand schon seit der Amtszeit Eisenhowers immer wieder zur Diskussion, und erreichte 1983 mit dem „Star Wars “-Forschungsprogramm Ronald Reagans ihren Höhepunkt: Der damalige Präsident hatte die Vision, sowjetische Raketen bereits im Weltraum mittels Laser-Satelliten abwehren zu können. Wie so vieles im Nuklearsektor, erschienen diese Forschungen mit dem Zusammenbruch des großen nuklearen Gegners zunächst obsolet – mit der verstärkten Wahrnehmung neuer nuklearer Gefahren seitens der „Schurkenstaaten“ rückte der Aufbau eines Raketenschutzschildes – 231 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e (worunter v.a. die Bereitstellung notwendiger Forschungs- und Produktionseinrichtungen gefasst wurde) auch eine Verbesserung der sogenannten „command, control, communications and intelligence “-Fähigkeiten zählten.855 Hierdurch sollte nicht nur die Glaubwürdigkeit der Abschreckung erhöht, sondern auch den Alliierten der USA zugesichert werden, dass sie im Fall der Fälle – ähnlich wie im Kalten Krieg – durch die Supermacht verteidigt werden können. Im Mittelpunkt stand nach wie vor das Potential, mögliche Gegner „from challenging the United States with nuclear weapons or other ‚asymmetrical threats’“ abzubringen und sie – sollte die Abschreckung misslingen – zu besiegen. Nicht nur Russland und China wurden in diesem Rahmen, trotz der verbesserten Beziehungen zu diesen Ländern, als potentielles Ziel einer nuklearen Attacke genannt, das Pentagon sollte zusätzlich mit der Ausarbeitung von Angriffsplänen für die Mitglieder der „Achse des Bösen“, nämlich Irak, Iran, Libyen, Nordkorea und Syrien beginnen. Gerade im Zusammenhang mit „Schurkenstaaten“ wurde immer wieder auf die von hard and deeply buried targets (HDBT) ausgehenden Gefahren hingewiesen – so könnten sich die Führungen der Länder im Falle eines US-Angriffs unerreichbar verstecken, zudem würden HDBTs als Lagerungs- und Produktionsstätten von Massenvernichtungswaffen dienen. Angesichts dieser Risiken betonte die NPR die Notwendigkeit zur Entwicklung neuer Nuklearwaffen mit einer geringeren Sprengkraft, die in der Lage sein müssten „to defeat emerging threats such as hard and deeply buried targets (…), to find and attack mobile and relocatable targets, to defeat chemical or biological agents, [able to withstand non-nuclear attack] and to improve accuracy and limit collateral damage.“ Vier Aspekte der NPR erscheinen im Hinblick auf das nukleare Tabu besonders relevant: Erstens brachte sie zum Ausdruck, dass sich das Szenario einer nuklearen Apokalypse gleichzeitig mit der UdSSR aufgelöst hatte. Zugleich lenkte sie die Aufmerksamkeit, zweitens, auf neue Bedrohungen und neue potentielle Ziele, aufgrund derer eine reine Abschreckungsbestimmung der Nuklearwaffen nicht mehr ausreichte und die folglich die Übernahme einer offensiven Funktion des ehemals passiv schützenden Totems erforderlich machten. Zuvor undenkbare Nuklearwaffeneinsätze sollten nicht nur ins Auge gefasst werden, sondern auch drittens, eine gemeinsame Strategie mit konventionellen Kampfmitteln bilden, wodurch die klare Trennung zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung verwischt würde. Viertens kann das Bestreben, neue Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft zu 855 allerdings bereits unter Clinton wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, von der Nachfolgeregierung Bush wurde die National Missile Defense (NMD) schließlich zu einem wichtigen Ziel erklärt. Von den OpponentInnen dieses Verteidigungstechnologie wird neben ihren hohen Kosten und der zweifelhaften Effektivität (das System könne leicht getäuscht werden) vor allem die Gefahr einer erneuten Rüstungsspirale angeführt. Demnach könnten sich vor allem Russland und China dadurch animiert sehen, die eigenen Waffenarsenale zu vergrößern, um das Schutzschild ggf. durchbrechen zu können. Für eine Zusammenfassung dieser Kontroverse s. Newhouse, John 2001: The Missile Defense Debate, in: Foreign Affairs 80:4, S. 97-109. Vgl. hierzu ausführlicher: Russell, James/Wirtz, James J. 2002: A Quiet Revolution: The New Nuclear Triad, in: Strategic Insight, 1. Mai 2002 sowie Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005. – 232 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e entwickeln, als eine Senkung der nuklearen Hemmschwelle interpretiert werden, wie es zahlreiche, um das nukleare Tabu besorgte Akteure taten. Stimmen unmittelbar nach der Veröffentlichung „Nuts about nukes” 856 Konnte die zuletzt genannte Forderung, den Bestand an Nuklearwaffen um mini-nukes und bunker-buster zu erweitern, Anfang der 90er Jahre recht schnell als illegitim zurückgewiesen werden und wurden die von der Regierung bereits zuvor angeforderten Studien kaum beachtet,857 so sollte die Entwicklung neuer Waffen mit dem Abdruck geheimer Passagen der Nuclear Posture Review im März 2002 doch zu einem wichtigen Leitmotiv des nun intensiv – sogar mit speziell deklarierten Debattentagen858 – geführten Diskurses werden. Die Einschätzung, welche Akteure sich in seinem Verlauf als norm challengers, welche hingegen als VerteidigerInnen des Tabus einzustufen seien, konnte vergleichsweise selten anhand einer offenen Positionierung für oder gegen nukleare Einsätze erfolgen, sondern vielmehr indirekt anhand des genannten Leitmotivs, d.h. also aus der Befürwortung resp. Ablehnung neuer Waffenentwicklungen gewonnen werden. Schon im ersten Bericht der NPR-Debattenwelle wurden in der Los Angeles Times alarmierte VertreterInnen von abrüstungsnahen Think Tanks wie der Nuklearwaffenexperte John Cirincione vom Carnegie Endowment for International Peace und der Präsident des Council for a Livable World, John Isaacs, zitiert, die den Wunsch nach kleineren Nuklearwaffen als ein Zeichen dafür interpretierten, dass „the Bush administration is more willing to overlook a long-standing taboo against the use of nuclear weapons except as a last resort“.859 Dieser ablehnenden Haltung wurde jedoch zugleich die Aussage des Verteidigungsanalysten der konservativen Heritage Foundation, Jack Spencer, entgegengesetzt, der die Review als „the right way to develop a nuclear posture for a post-Cold War world “ bewertete. Erste Reaktionen von Seiten der Administration verdeutlichten das Bestreben, die Debatte einzudämmen und die Bedeutung des Dokuments herunterzuspielen. So erklärte Vizepräsident Dick Cheney, das Papier gäbe lediglich „some idea of directions we’d like to move in the future“860 und der damalige Außenminister Colin Powell betonte bei seinem Auftritt in der Fernsehsendung „Face the Nation“ des Senders CBS am 10. März 2002, eine Prüfung unterschiedlicher Handlungsoptionen sei völlig normal und würde permanent durchgeführt:861 856 857 858 859 860 861 McGrory, Mary 2002: Nuts about Nukes, in: Washington Post, 14.03.2002. Die Redakteurin lehnt ihren Titel an das von ihr verwendete Zitat des Nuklearexperten Joseph Cirincione an, mit dem er seiner Befürchtung, „nukleare Irren“ seien and die Macht gekommen, Ausdruck verlieh: „It means that the nuclear nuts have seized control of the policy apparatus.“ S. FN 849, (S. 229) der Arbeit. Z.B. USA Today: Today’s Debate: Nuclear Weapons, in USA Today, 13.03.2002. Richter, Paul 2002: „U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“, in: Los Angeles Times, 09.03.2002. Zitiert in: Gordon, Michael R. 2002: A Nation Challenged: Diplomacy, in: New York Times, 12.03.2002. Mit der Betonung der Routine solcher Überlegungen reagierte die Regierung gänzlich anders als im Fall der Folter, in dem sie – obwohl es zahlreiche Forderungen danach gab, die Option, zum Zwecke der – 233 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e „We’re always reviewing our options – military options, conventional weapons, nuclear weapons. We’re always reviewing our diplomatic and economic and political options. And one of the things we’re required to by Congress is make a review of our nuclear weapons posture.“ Des Weiteren bemühte er sich, klarzustellen, dass es keine Pläne zur Entwicklung neuer Waffen gäbe, sondern die Administration lediglich an der Auslotung der Möglichkeiten interessiert sei, bereits vorhandene Waffen zu modifizieren: „[A]n aspect of this story saying we’re getting ready to develop new nuclear weapons. We are not. What we are looking at and what we’ve asked the Pentagon to do is to see whether or not within our lowered inventory levels, we might want to modify or update or change some of the weapons in our inventory to make them more effective. But we are not developing brand-new nuclear weapons…”862 Diese – auf die Betonung politischer Kontinuität zielende – Regierungsposition kam auch in einem zeitgleich ausgestrahlten Interview mit der damaligen Sicherheitsberaterin und späteren Amtsnachfolgerin Powells, Condoleezza Rice, zum Ausdruck, die darauf hinwies, es könne keine Überraschung sein, dass die Regierung sich mit neuen Bedrohungen auseinandersetze – sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, sei nichts Neues. Der Präsident selbst stimmte einige Tage später ein: „The nuclear review is not new“.863 Nach Darstellung der Los Angeles Times hatten zwei Mitglieder des Armed Services Committee des Senats, der Republikaner John W. Warner sowie der Demokrat Joseph I. Lieberman,864 hingegen offen zugegeben, dass eine Neuausrichtung der Politik an veränderten Anforderungen notwendig sei und dass Militärstrategen „more broadly “ über Verwendungsmöglichkeiten von Nuklearwaffen nachdächten. Gleichzeitig wurde hervorgehoben, dass Abschreckung nach wie vor das nuklearpolitische Primat darstelle, worauf das Bekanntwerden der in der NPR geäußerten Ziele laut Lieberman einen positiven Effekt haben könne: „Frankly, I don’t mind some of these renegade nations who we have reason to believe are working themselves to develop nuclear weapons – and I’m thinking of Iraq and Iran and North Korea here – to think twice about the willingness of the United States to take action to defend our people and our values and our allies.“865 862 863 864 865 Informationsgewinnung zu foltern, genauso durchzuspielen wie andere – dezidiert dementierte, dass eine Überprüfung dieser Alternative überhaupt, geschweige denn routinemäßig stattfinde. S. genauer S. 172 der Arbeit. CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002. NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002; George W. Bush zitiert in: Milbank, Dana 2002: Policy Changes? What Policy Changes?, in: Washington Post, 26.03.2002. Lieberman ist für seine allgemein eher dem konservativen Rand des demokratischen Spektrums zuzuordnende Einstellungen bekannt – letztere und seine Befürwortung des Irak-Krieges sollen ihn im August 2006 die „primaries“ gekostet haben, so dass er nun, nach insgesamt 18 Jahren nicht mehr für die Demokraten in den Senat einziehen kann. S. Nagourney, Adam 2006: Democrats reject key supporter or Iraq war, in: International Herald Tribune, 10.08.2006 sowie Scheiber, Noam 2006: Rewriting the rules of American politics; the Lieberman lesson, in: International Herald Tribune, 10.08.2006. Savage, David D. 2002: Nuclear Plan Meant to Deter, Los Angeles Times, 11.03.2002. – 234 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Obwohl sich neben den alarmierten Stimmen in den darauf folgenden Tagen weitere Akteure, z.B. der Chairman der Vereinten Stabschefs, General Richard B. Myers sowie einige (Gast-) KommentatorInnen der Los Angeles Times und der USA Today (z.B. Frank Gaffney Jr., Direktor des Center for Security Policy) zustimmend über die – offenkundig gewordene, doch von ihr selbst verharmloste – Regierungslinie äußerten,866 beklagte der Direktor des Lexington Institute , Loren B. Thompson, im Wall Street Journal am 13. März dennoch die Einseitigkeit der Berichterstattung: Die „breathless media coverage“ würde fälschlicherweise nahe legen, dass „Dr. Strangelove had taken control of the Pentagon“. Zum Durchatmen riet er nicht nur den von ihm abwertend als „scribes“ bezeichneten RedakteurInnen der (bis dato) ausnahmslos sehr kritisch berichtenden New York Times, nachdem diese die Vereinigten Staaten als „Nuclear Rogue“ betitelt hatte, sondern auch den in der NPR genannten Zielländern, die „quickly got their backs up“, um ihr Entsetzen über die Inhalte des Strategiepapiers zu äußern.867 Auch der regelmäßig hierzu publizierende Reporter der Washington Post zu diesem Thema, Walter Pincus, rief am gleichen Tag im Editorial zu einer sorgfältigen und besonnenen Berichterstattung auf und ordnete die in der NPR enthaltenen Vorschläge als Fortsetzung der bereits unter Clinton begonnenen Versuche, das Kalte-Kriegs-Denken zu überwinden, ein, deren grundsätzliche Richtung „admirable“ sei – die Pläne zu neuen Waffenentwicklungen bezeichnete er hingegen als „troubling“.868 Ebenfalls besorgt zeigte sich auch der ehemalige Verteidigungsminister Robert McNamara, der der Regierung vorwarf, auf eine Politik der „unilateral assured destruction“ zu setzen und WMD-Proliferation anzureizen.869 Ähnliche Bedenken hatten inzwischen einige demokratische SenatorInnen wie der zukünftige Präsidentschaftskandidat John Kerry sowie Dianne Feinstein (Mitglied des Senate Intelligence Committee), die auch in Zukunft prominent als Regierungskritikerin zu diesem Thema auftreten sollte, geäußert. Sie und weitere Senatsmitglieder grenzten sich damit nicht nur vom bereits zitierten Parteikollegen Lieberman ab, sondern reagierten zudem anders als der demokratische Mehrheitsführer Tom Daschle, der mit dem Hinweis, für Kritik sei es noch zu früh und man benötige weitere Informationen, keine Position beziehen wollte.870 Gleichermaßen fanden sich in den zu 866 867 868 869 870 So führt z.B. James P. Pinkerton in der LA Times aus, militärische Planungen wie die NPR seien üblich und notwendig, können aber nur ein erster Schritt sein – dass dieser getan wurde, erkannte auch Gaffney Jr. an, indem er die NPR als eine längst überfällige sowie „ important – and laudable departure from recent policies toward nuclear weapons“ charakterisierte. S. Pinkerton, James P. 2002: Unthinkable, but Not Unusual, Los Angeles Times, 12.03.2002 und Gaffney Jr., Frank 2002: Nuclear Reform Overdue, in: USA Today 13. März 2002. Thompson, Loren B. 2002: How To Stop Worrying and Love the Bomb, in: Wall Street Journal, 13.03.2002, das erwähnte Editorial der New York Times vom 14. März 2002 mit einem Gastkommentar: Krepinevich, Andrew 2002: The Real Problems With Our Nuclear Posture. Krepinevich ist Direktor des VerteidigungsThink-Tanks Center for Strategic and Budgetary Assessments. Editorial der Washington Post vom 13. März 2002: The Nuclear Posture. McNamara, Robert S./Graham, Thomas Jr. 2002: A Pretty Poor Posture For a Superpower, in: Los Angeles Times, 13.03.2002. Miller, Greg 2002: Democrats Divide Over Nuclear Plan, in: Los Angeles Times 13.03.2002. – 235 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e diesem Zeitpunkt veröffentlichten Leserbriefen, wenig überraschend, sowohl NPRbefürwortende als auch -ablehnende Standpunkte, wobei im folgenden Zitat weniger die Regierungspolitik als vielmehr das „verantwortungslose“ Anstoßen der Debatte durch die Los Angeles Times auf Kritik stieß: „What can you be thinking of with the screaming March 9 headline: ‚U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms’? Do you think the nations targeted, already unstable, do not read newspapers? What do you think their reaction will be? Oh, dear? Or, fire up the nukes and get in first. There are some things that should be kept within the purview of Congress. This is one of them. You have chosen the path of irresponsible reporting at its worst.“871 Nach der intensiven und, wie deutlich geworden ist, sehr hitzig und polemisch geführten Auseinandersetzung in den ersten beiden Wochen seit Erscheinen der NPR flachte die Nukleardebatte Ende März jedoch wieder ab, sollte im restlichen Jahr 2002, wie in den folgenden Jahren auch, aber immer wieder aufkommen, wenn auch nicht mehr in einer vergleichbaren Dichte. Die bereits am Diskursbeginn deutlich gewordene Spaltung dieser Zeitungen sollte fortbestehen: So behielt die linksliberale New York Times ihren deutlichen Widerstand gegen sämtliche Maßnahmen, die das nukleare Tabu gefährden könnten, bei und druckte vornehmlich dieser Positionierung zustimmende Gastkommentare und Leserbriefe ab. Die Washington Post und die USA Today blieben auf eine möglichst ausgewogene Berichterstattung bedacht, während das Wall Street Journal auch im Folgenden die Regierungsposition offensiver vertrat als sie selbst sowie in Leserbriefen entsprechende Stimmen aus der Bevölkerung veröffentlichte und auf diese Weise eine Schwächung des nuklearen Tabus zum Ausdruck brachte – und förderte.872 Budgetentscheidungen in Senat und Repräsentantenhaus als „Debatten-trigger” Der noch im Jahr 2000 vom Kongress angeforderte und ihm im Dezember 2002 seitens des Pentagons präsentierte bunker buster-Bericht blieb – angesichts der gerade einmal ein Dreivierteljahr zurückliegenden NPR-Kontroverse überraschenderweise – medial weitgehend unbeachtet,873 obwohl die Administration hierin zu dem Schluss kam, nukleare preemptive strikes auf gegnerische unterirdische Massenvernichtungswaffendepots könnten notwendig werden. Wiederum war es die Los Angeles Times (und zum wiederholten Male ihr Kolumnist William Arkin), die im Januar 2003 – und damit im Vorfeld des Irak-Krieges – einen Skandal provozierte, indem sie verkündete, die Militärplaner spielten nukleare Optionen für den bevorstehenden Angriff durch.874 In der Tat entgegnete der Chief of Staff des Weißen Hauses, 871 872 873 874 So eine Leserin im Leserbrief-Sample: „Carrying Out a Nuclear Attack“, in: Los Angeles Times, 16.03.2002. Es soll nicht der Eindruck vermittelt werden, die Zeitungen hätten selektiv nur LeserInnen mit einer bestimmten Meinung zu Wort kommen lassen – es liegt vielmehr auf der Hand, dass die Leserschaft der Blätter in der Tat mehrheitlich ihre generelle politische Ausrichtung teilte. Für eine Ausnahme s. Pincus, Walter 2002: Nuclear Strike on Bunkers Assessed, in: Washington Post vom 20.12.2002. Arkin, William 2003: The Nuclear Option in Iraq, in: Los Angeles Times, 26. Januar 2003. – 236 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Andrew H. Card, in einem NBC-Interview auf die Frage, ob auch nukleare Mittel zur Debatte stünden, er werde nichts ausschließen: „I’m not going to put anything on the table or off the table, but we have a responsibility to make sure Saddam Hussein and his generals do not use weapons of mass destruction.“875 Auf die Bestätigung dieser Äußerungen, die offensichtlich an die schon einmal 1991 gegen Hussein erfolgreich angewendete Abschreckungsstrategie anknüpften, durch Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld sowie die Bekanntgabe der Regierungspläne, der Forderung der NPR nachzukommen und Forschungen zu low-yield-weapons aufzunehmen, folgten wiederum einige aufgeregte Leserbriefe und Zeitungsartikel, die den beiden „madmen “ ein moralisches Bewusstsein absprachen.876 Davon unbeirrt, legte die Regierung für das Jahr 2004 dem Kongress einen Haushalt vor, der 15 Millionen USD allein für Forschungen zum RNEP vorsah.877 Die Summe wurde im Mai nach einem Kongress-hearing des Senats gegen den Widerstand der Demokraten bewilligt, womit auch das 1992 verhängte Testmoratorium fiel.878 Während die Maßnahme vom Abrüstungsexperten Daryl Kimball (Direktor der Arms Control Association) als Beginn einer „new era of a global nuclear arms competition“ und vom demokratischen Senator Jack Reed als Ermöglichung einer „small apocalypse“ bewertet wurde (beides Einschätzungen, die von anderen Akteuren in ähnlicher Weise bereits zur NPR abgegeben worden waren), zeigte sich die Heritage Foundation vielmehr darüber bekümmert, der vom Kongress eingeschlagene Weg könnte ein schnelles Ende finden, was aus ihrer Sicht ein großer Fehler wäre.879 Diese Befürchtung ihres Experten Jack Spencer erwies sich als nicht unbegründet, wie die im Juli 2003 mit einem Stimmenverhältnis von 377 zu 26 erfolgte Kürzung der RNEP-Finanzierung im republikanisch dominierten Repräsentantenhaus zeigen sollte. Es handelte sich hierbei jedoch nur um einen vorübergehenden Erfolg für die GegnerInnen der neuen Forschungen, denn bereits im September wurden die bewilligten Mittel nach einer Vermittlung zwischen den beiden Kammern wieder auf ihre ursprüngliche Höhe aufgestockt. Dieses mittels des Budgetierungsrechts ausgetragene Tauziehen um die Ausrichtung der US-Nuklearpolitik, in dem die große Unsicherheit über die in Zukunft einzuschlagende 875 876 877 878 879 NBC 2003: Andrew Card discusses the State of the Union, the situation in Iraq, affirmative action and Title IX, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 26.01.2003. Leserbrief „Dr. Strangelove Is Living in the White House“, in: Los Angeles Times, 28.01.2003 sowie Kristof, Nicholas D. 2003: Flirting With Disaster, in: New York Times, 14.02.2003. Angabe nach: Federal Document Clearing House Congressional Testimony, FISCAL 2004 DEFENSE AUTHORIZATION: STRATEGIC FORCES, 08.04.2003. S. zum Teststopp S. 136 der Arbeit, zu den Vorgängen im Frühjahr 2003 u.a.: Pincus, Walter 2003: Future of U.S. Nuclear Arsenal Debated, in: Washington Post, 04.05.2003, Squitieri, Tom 2003: Senate OKs ending ban on nuclear research, in: USA Today, 21.05.2003, Dewar, Helen 2003: Nuclear Weapons Development Tied to Hill Approval, in: Washington Post, 22.05.2003, Hulse, Carl/Dao, James 2003: Cold War Long Over, Bush Administration Examines Steps to a Revamped Arsenal, in: New York Times, 29.05.2003. S. Spencer, Jack 2003: Congress’s Vital Role in Building a Strong National Defense, „backgrounder” der Heritage Foundation, Juni 2003. – 237 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Richtung der Sicherheitspolitik der USA zum Ausdruck kam, sollte sich in den nächsten zwei Jahren fortsetzen: Im Sommer 2004 verweigerte zwar das Repräsentantenhaus die Fortsetzung der Finanzierung entsprechender Forschungsprogramme vollständig. Weil der Senat in dieser Frage jedoch dem Regierungsantrag stattgab, kam es im September zu einer Abstimmung im Kongress, in deren Rahmen ein Finanzierungsstopp beschlossen wurde. Somit stellte sich das mehrheitlich republikanische Parlament gegen die Administration – was auch ein Erfolg der Bemühungen des Republikaners David L. Hobson, Chairman des House Appropriations Subcommittee , war, der aus der Befürchtung heraus gegen den RNEP kämpfte, dass „some idiot might try to use it“880 und die Entscheidung als ein deutliches Zeichen an die Administration gewertet sehen wollte: „The Bush administration, Hobson said yesterday, ‚should read this as a clear signal from Congress’ that any attempt to revive the funding in next year’s budget ‚would get the same reaction.’ He added that he had not heard any threat of a veto and ‚nobody has come to me and said we can’t have this.’”881 Die von neuen Waffenentwicklungen ausgehende Gefährdung des nuklearen Tabus schien zu diesem Zeitpunkt mit der gleichen Maßnahme wie schon 1993 abgewendet – zwar sollte Hobson mit seiner Vorhersage, der Kongress würde nächstes Jahr eine mögliche Finanzierungsforderung erneut ablehnen, Recht behalten, allerdings für diese Entscheidung im Unterschied zu den 1990er Jahren auch umfangreiche Kritik von Seiten der Administration wie von einigen MedienvertreterInnen und diversen Think Tanks ernten: Außer, dass er die Vereinigten Staaten zur unilateralen Abrüstung verdammt (Center for Security Policy) und sein „confused picture of the post-Cold War world “ (National Institute for Public Policy) offenbart habe, sei es auch eine Anmaßung, über die Nuklearpolitik der Vereinigten Staaten entscheiden zu wollen, ohne Präsident zu sein: „The Congressman is within his rights as representative to try and quash this or that budget item through the power of the purse. And if Mr. Hobson wants to run for president, he can do that, too. Until then (…) [h]is colleagues and party leaders might be surprised to learn that a subcommittee chairman wants to determine the nuclear posture of the United States.“882 Diese Anmahnung des Status des High Priests traf nicht nur auf Hobson zu, denn die Regierung hat es im Hinblick auf die Kongressentscheidung anscheinend ähnlich gesehen: Anders als Anfang der 90er Jahre, als sich Präsident Bush Senior dem Druck des Parlaments beugte und das Testmoratorium unterzeichnete, machte die Regierung seines Sohnes keinen Hehl aus der Absicht, Studien zu den neuen Waffen, ungeachtet des Kongressbeschlusses, 880 881 882 Zitiert nach: Kimball, Daryl 2005: Congress Cuts Nuclear Bunker Buster. „Proliferation Analysis“ des Carnegie Endowment for International Peace. Pincus, Walter 2004: Funds for Atomic Bomb Research Cut From Spending Bill, in: Washington Post, 23.11.2004. So das Editorial des Wall Street Journal vom 03. März 2005 mit dem Titel „Hobson’s Choice ”. Es handelt sich bei der Überschrift um ein englisches Wortspiel – Hobson’s Choice bedeutet demnach, „no choice at all“, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, welche Optionen die Kongressentscheidung für die Verteidigung der USA offen lasse. – 238 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e fortzusetzen. Nachdem sich Rumsfeld im Februar 2005 in einer Memo an Energieminister Spencer Abraham dafür ausgesprochen hatte, die „nukleare Infrastruktur zu revitalisieren“, fand sich der RNEP-Posten auch in der Budgetvorlage für das Fiskaljahr 2006 wieder.883 Nach der im April erschienenen Studie des angesehenen National Research Council, die den Inhalten der kurz zuvor veröffentlichten Nukleardoktrin der Joint Chiefs of Staff sowie einigen anderen Kapazitäts- und Strategiestudien widersprach, indem sie neben den technischen Fähigkeiten auch einen möglichen clean use neuer Waffen anzweifelte sowie davor warnte, dass sie ebenfalls „massive casualties at ground level“ verursachen würden, wiederholte sich das „Budget-Spiel“ des letzten Jahres:884 Im September 2005 strich der Kongress die Forschungsgelder, nachdem diese vorher erneut im Repräsentantenhaus abgelehnt und im Senat genehmigt worden waren. Wenn die Administration auch einzulenken schien und der RNEP im Haushaltsentwurf 2007 nicht mehr vorkam, so ist dennoch alles andere als sicher, ob der ungradlinig verlaufende Weg der nuklearpolitischen Wende hiermit beendet wurde oder die Forschungen lediglich unter anderen Bezeichnungen fortgesetzt werden.885 Wie in diesem Teil deutlich gezeigt wurde, ist die US-Regierung, durch die überraschende Veröffentlichung der Nuclear Posture Review zunächst überrumpelt und zurückhaltend reagierend, im Laufe der Debatte bezüglich der eigenen Pläne offensiver geworden. Dies lag sicherlich nicht zuletzt an der systembedingten Einschränkung, eine Finanzierung der Studien nicht ohne Zustimmung des Kongresses durchsetzen zu können, so dass öffentliches Interesse für diese Angelegenheit in Kauf genommen werden musste und eine Positionierung in der Öffentlichkeit nicht vermieden werden konnte. Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Faktor ist jedoch auch die von verschiedenen Seiten entgegengebrachte Unterstützung der Regierungspläne: Insbesondere die Think-Tank-StrategInnen schienen die Anwaltschaft für die angestrebten politischen Veränderungen übernommen zu haben – ohne dem öffentlichen Druck und der Rechenschaftspflicht, unter denen eine Regierung naturgemäß steht, ausgesetzt zu sein, war es ihnen möglich, die Debatte zu verschärfen und den argumentativen Weg für die politischen Maßnahmen zu bereiten. 883 884 885 Pincus, Walter 2005: Rumsfeld Seeks to Revive Burrowing Nuclear Bomb, in: Washington Post, 01.02.2005. S. hierzu: Broad, William J. 2005: Panel Finds Flaws in Plan For Weapon, in: New York Times, 28.04.2005, Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington Post, 28.04.2005, außerdem: Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005; Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces. Für ältere Studien zu neuen Nuklearwaffen s. Verweise in FN 848 (S. 229) der Arbeit. So wurden für das Jahr 2007 z.B. Forschungsgelder für das Hard and Deeply Buried Target Defeat System (HDBTDS) beantragt; nukleare bunker busters werden darin nicht explizit erwähnt, dennoch sind einige der Ansicht, dass auch nukleare Komponenten von diesem Forschungsprogramm gedeckt seien. S. Bruno, Michael 2006: RNEP funds not requested for FY ‘07, but similar program boosted, in: Aerospace Daily & Defense Report, 10.02.2006. – 239 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e 6.2.3 Diskursive Schwächung des nuklearen Tabus Während der vorherige Teil dieses Kapitels besondere Zeitpunkte des Diskussionsprozesses beleuchtete sowie einen Überblick über die DiskursteilnehmerInnen und ihre Positionierungen zueinander bot, die Argumente selbst allerdings nur angedeutet werden konnten, stehen im Folgenden Argumentationsweisen, die die Erosion des nuklearen Tabus nicht nur offenkundig werden ließen, sondern sie aktiv vorantrieben (bzw. vorantreiben sollten), im Mittelpunkt. Da sich, wie schon auf Seite 230 festgestellt, das Spektrum der Argumente im Laufe der Zeit kaum veränderte, werde ich eine thematisch (und nicht chronologisch) gegliederte Rekonstruktion des Diskurses vornehmen und hierbei wie folgt vorgehen: Wie in den Vorüberlegungen zur Tabuerosion ausgeführt (s. S. 42), kann bereits der Ausbruch einer Debatte als Teil der Enttabuisierung gelten, weshalb zunächst dargestellt wird, inwiefern das bloße Führen der Diskussion von den Akteuren thematisiert wurde. In Folge darauf werde ich aus der Perspektive der Akteure Veränderungen im Sicherheitsumfeld der Vereinigten Staaten beschreiben und hierbei ihre Bedrohungswahrnehmung fokussieren, um anschließend daran die gezogenen Schlüsse für die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit – entlang der Punkten Abschreckung, Verteidigung und Proliferationsverhinderung – auszuführen. Hieran anknüpfend werde ich betrachten, wie die Akteure sich in der Frage „Kontinuität oder Wandel der Nuklearpolitik“ positionierten. Von besonderer Bedeutung werden hier explizite Referenzen zum nuklearen Tabu und zur nuklearen Schwelle sein, sowie die Debatte um militärische nukleare Forschung, Entwicklung und Herstellung – es ist nahe liegend, dass in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Wissenschaft berücksichtigt wird. Schließen wird dieses Kapitel mit den im Diskurs geäußerten moralischen Überlegungen. Führen der Debatte – aus unterschiedlichen Gründen begrüßt „[A] national debate on nuclear strategy might be healthy” 886 Schon die semantische Verknüpfung zwischen „healthy “ und „nuclear“, wie sie sich im Eingangszitat findet, mutet seltsam an, und umso befremdlicher wirkt es, wenn man sich vor Augen führt, dass diese Aussage sich auf die Debatte einer Strategie bezog, die das Überdenken des unthinkable nahe legte und beabsichtigte, mittels neuer nukes nukleare Einsätze politisch und technisch durchführbarer werden zu lassen. Dass jemand, der das nukleare Tabu als unangemessene Restriktion empfand, eine solche Auffassung vertrat und in einer Debatte die Chance erkannte, das Verbot zu schwächen, ist nicht weiter überraschend, sondern (möglicherweise unwissend) klug. Was – vor dem Hintergrund der Beschaffenheit von Tabus – hingegen sehr wohl überraschte, ist, dass diejenigen, die neue nuklearpolitische Tendenzen kritisch bewerteten und das nukleare Tabu dadurch als gefährdet ansahen, ebenfalls eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema verlangten. Aussagen, die bereits im Diskurs selbst ein Unterlaufen des Tabus erkannten, waren hingegen nur vereinzelt 886 Nicht namentlich benannte Regierungsangehörige, zitiert in: McManus, Doyle 2002: Nuclear Use as ‚Option’ Clouds Issue, in: Los Angeles Times, 12.03.2002. – 240 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e zu finden: „Surely nukes won’t be used in Iraq. But by noisily weighing their options, officials are undermining the taboo against such arms“, so der New York Times Kommentator Kristof.887 Während auch John Isaacs vom Council for a Livable World feststellte, dass es sich bei der Erörterung neuer Einsatzoptionen um „very, very dangerous talk“ handele,888 sah Rose Gottemoeller vom Carnegie Endowment for International Peace in der Öffentlichkeit die Chance, die militärisch-technisch dominierte Diskussion um moralische Gesichtspunkte zu erweitern – eine ähnliche diskursive Strategie wurde bereits zu Zeiten der Tabuentstehung Anfang der 1950er Jahre von der antinuklearen Bewegung angewendet, die gesundheitliche und ökologische Aspekte in den sicherheitszentrierten Diskurs einbrachte.889 Gottemoeller erinnerte in ihrem aussagekräftig überschriebenen Gastkommentar „On Nukes, We Need to Talk“ an den in den 1970er Jahren ausgetragenen „good fight over nuclear weapons“, der EuropäerInnen wie AmerikanerInnen dazu gebracht hätte, den grausamen Realitäten nuklearer Kriegsführung ins Auge zu sehen und damit zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg nach „today, when virtually no day-to-day capability for using nuclear weapons on the battlefield exists“ wurde.890 Neben der Forderung nach einer öffentlichen Bekräftigung des Tabus durch die Regierung und den Kongress, wie sie z.B. in der Los Angeles Times geäußert wurde, vertraten McNamara und Graham in der gleichen Ausgabe die Ansicht, Nuklearpolitik sollte ein öffentlicher – und kein den offiziellen EntscheidungsträgerInnen vorbehaltener – Gegenstand sein: „These matters are far too important for the administration to decide on its own. There must be a full public debate, in Congress, on the future of our nuclear deterrent and the nuclear nonproliferation regime.“891 Wurde der Debatte in dieser Argumentation der Zweck einer demokratischen Entscheidungsfindung zugewiesen, so existierte daneben offensichtlich auch ein anderes Demokratieverständnis, aus dem heraus der Debatte eine andere Funktion zukam: Nach Auffassung Loren B. Thompsons vom Lexington Institute sollte die Regierung die Chance nutzen, ihre Politik nicht nur zu ändern, sondern auch der Bevölkerung und dem Parlament die Dringlichkeit solcher Änderungen zu vermitteln, damit eventuelle affektive Reaktionen im Fall der Fälle nicht die militärische Notwendigkeit eines first-use konterkarierten: „[T]he will to act (…) means investing time in explaining the Congress and the public why first strikes will be required, so that when the time comes to act popular sentiment does not get in the way of military necessity.“892 887 888 889 890 891 Kristof, Nicholas D. 2003: Flirting With Disaster, in: New York Times, 14.02.2003. Zitiert in: Richter, Paul 2002: „U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“, in: Los Angeles Times, 09.03.2002. S. S. 130 der Arbeit. Gottemoeller spricht hier von der Diskussion über die Neutronenbombe, einer Wasserstoffbombe, die 1958 von Samuel T. Cohen entwickelt und als mögliche Einsatzwaffe gegen konventionelle sowjetische Streitkräfte in Europa gehandelt wurde. Sie ist für Menschen tödlich, lässt aber Gebäude unbeschädigt. S. Gottemoeller, Rose 2002: On Nukes, We Need to Talk, in: Washington Post, 02.04.2002. McNamara, Robert S./Graham, Thomas Jr. 2002: A Pretty Poor Posture For a Superpower, in: Los Angeles Times, 13.03.2002 sowie Editorial der Los Angeles Times vom 13. März 2002: Dangerous Lid to Lift. – 241 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Während Thompson hier implizit die Kraft des nuklearen Tabus als politisches Hindernis, das es zu beseitigen gelte, herausstellte, kritisierten weitere Debattenbefürworter, wie Frank Gaffney Jr. vom Center for Security Policy, dass nach Ende des Kalten Krieges mangels öffentlicher wie politischer Aufmerksamkeit wichtige Anpassungen der Nukleardoktrin versäumt worden seien und eine Diskussion hiermit überfällig geworden sei.893 Über den „Gesprächsbedarf“ in nuklearen Angelegenheiten stimmten also TabubefürworterInnen, wie auch seine AngreiferInnen größtenteils überein – zu vermuten ist hierbei, dass letztere das sich durch die Debatte eröffnete window of opportunity erkannten und dieses sehr bewusst nutzten, während ihren OpponentInnen kaum eine Alternative blieb, sahen sie sich doch angesichts des Regierungsdokuments vor vollendete Tatsachen gestellt: Skandalisieren schien im Vergleich zum Totschweigen insbesondere rückblickend auf die bereits im Zusammenhang mit dem nuklearen Tabu erzielten öffentlichen Erfolge die weitaus lohnendere Strategie. Face it – die Welt hat sich verändert! „[H]ere’s a news flash: We are at war with large numbers of covert groups that do indeed want to do us harm. If we can develop any weapons that can destroy their capabilities before they do us the harm they wish to inflict, then I say let’s build them and quickly!“ 894 Wenn auch die Ansicht, die Vereinigten Staaten befänden sich „in time of war“,895 im Rahmen der Nukleardebatte selten derart explizit formuliert wurde, war doch der gesamte Diskurs durchzogen von Bedrohungsanalysen und Kriegsszenarien. Hierbei wurde eine deutliche Kontrastierung zur Stabilität und zu der „predictable (…) balance of terror“896 des Kalten Krieges vorgenommen, nach deren Ende sich die USA mit einer neuen Weltordnung, gekennzeichnet vor allem durch einen „irreducible level of uncertainty “ 897 und unvorhersehbare Bedrohungen, konfrontiert sahen. Nun müsse man ständig auf Überraschungen gefasst sein, wie etwa Vize-Verteidigungsminister J.D. Crouch betonte: „We expect to be surprised and so we have to have capabilities that would deal with a broad range of 892 893 894 895 896 897 Thompson, Loren B. 2002: The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002. Zitiert in: Pincus, Walter 2005: Pentagon May Have Doubts in Preemptive Nuclear Moves, in: Washington Post, 19.09.2005. Reaktion einer WSJ-Leserin auf einen Kommentar der Senatorin und RNEP-Gegnerin Dianne Feinstein (Demokratin). Leserbrief-Sample „Wrong Song, Sung by the Wrong Senator“, in: Wall Street Journal, 02.11.2004 sowie Feinstein, Dianne 2004: Bunker Buster Take Us Down a Dangerous Path, in: Wall Street Journal, 27.10.2004. Der vollständige Satz aus dem Editorial mit dem Titel „Nuclear Posturing“ des Wall Street Journal vom 14. März 2002 lautet: „Preparing for extreme contingencies is nothing more than common sense, especially in time of war.“ Zwar wurde nicht gesagt, dass der Krieg aktuell stattfindet, vor dem Hintergrund jedoch, dass hiermit die Regierungspläne gerechtfertigt werden sollen, liegt es nahe, dass durch diesen Artikel genau dieser Eindruck vermittelt werden sollte. Energieminister Spencer Abraham in seinem Gastkommentar „Facing a New Nuclear Reality “, in: Washington Post, 21.07.2003. Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for Public Policy (NIPP). Payne ist Direktor des Instituts. – 242 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e threats.“898 Auch der ehemalige Direktor der Arms Control and Disarmament Agency, Berry Blechman sprach von einem hohen Grad an Unsicherheit und verwies hierbei auf das berühmte Zitat Rumsfelds, der das ständige Überraschtsein weitaus erstaunlicher fand als die Überraschungen selbst, so sei „the only surprise (…) that we’re surprised when we’re surprised “.899 Daneben wurde der Eindruck vermittelt, die USA seien angesichts der neuen Sicherheitsstrukturen in eine Zwangslage geraten, in der sie sich, mit dem Ziel der Schadensbegrenzung vor allem reaktiv verhalten könnten und ihnen darüber hinaus nur eine eingeschränkte – und häufig lediglich eine Reihe von „bad choices“ umfassende – Auswahl von Handlungsoptionen zur Verfügung stünde.900 Für das neue Sicherheitsdilemma sei, nachdem man „seinen besten Feind verloren“ habe,901 vor allem die Bedrohung durch neue Akteure verantwortlich – einerseits führten „lunatics“ wie Saddam Hussein „Schurkenstaaten“ an, andererseits hätten terroristische „fanatics“ und „religious zealots, who never experienced a reformation“ den Beginn eines „age of catastrophic terrorism“ eingeläutet.902 Verstärkend wurde im Diskurs die Vorstellung konstruiert, dass beide Gruppen keineswegs nebeneinander existierten, nicht selten wurden ihnen enge Verbindungen und ähnliche Ziele unterstellt, wie der folgende Interviewausschnitt mit Chief of Staff Andrew H. Card zeigt: “MR. RUSSERT: So the administration can demonstrate convincingly that Saddam Hussein is linked to Osama bin Laden and al-Qaeda? MR. CARD: Saddam Hussein has had a long history of relationships with terrorist organizations, and those terrorist organizations include the al-Qaeda network. MR. RUSSERT: And you have the evidence? MR. CARD: I’m confident that there’s no doubt that Saddam Hussein has had a relationship with terrorist organizations, including the al-Qaeda network.”903 Im Hinblick auf beide Gruppen bestehe die Problematik weniger in veränderten Rationalitäten der Gegner selbst, sondern vielmehr darin, dass man diese nicht einschätzen könne: 898 899 900 901 902 903 Zitiert in: Pincus, Walter 2002: U.S. Aims for 3,800 Nuclear Warheads, in: Washington Post, 10.01.2002. Siehe Blechman, Barry 2002: New Nuclear Policy Makes For a Safer World, Gastkommentar in: Los Angeles Times, 18.03.2002. So wird z.B. die Pentagon-Proliferationsexpertin Michele Flournoy zitiert in: Ricks, Thomas E./Loeb, Vernon 2002: Bush Developing Policy of Striking First, in: Washington Post, 10.06.2002, außerdem: Thompson, Loren B. 2002: How To Stop Worrying and Love the Bomb, in: Wall Street Journal, 13.03.2002; Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002 (beide Autoren sind senior research fellows am Institut für National and Strategic Studies, National Defense University ) sowie Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy and Forces, „backgrounder “ der Heritage Foundation, 28.10.2005. Powell, Colin 1996: Mein Weg, München, S. 446. Siehe Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths, das LeserbriefSample des Wall Street Journal vom 03. November 2005: How Can We Threaten A Fearless Enemy sowie den Leserbrief des Direktors des Western Policy Center, John Sitilides: Carrying Out A Nuclear Attack, in: Los Angeles Times, 16.03.2002. NBC 2003: Andrew Card discusses the State of the Union, the situation in Iraq, affirmative action and Title IX, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 26.01.2003. – 243 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e „[F]ar less is known about several potential challengers (…) than was known about the Soviet Union. Consequently, the scope is much greater for potential challengers’ unfamiliar or idiosyncratic factors to shape responses to U.S. deterrence policies in surprising directions. This is not to suggest that deterrence will be more difficult in the post-Cold War period because so called rogue states will be “irrational,” whereas Soviet leaders were rational. It should not be assumed that rogue states’ leaderships, for example, will be any more or less rational than were Soviet leaders. Their decisionmaking, nevertheless, may be very difficult to anticipate.“904 Was das National Institute for Public Policy hier 2001 mit Blick auf rogue states formulierte, gelte für Terroristen umso mehr. Zusätzlich würde die Schwierigkeit, dass sie „too committed, or too accident-prone, or too irrational, or simply to obscure“ seien, als dass man ihnen mit gewohnten Mitteln begegnen könnte, dadurch potenziert, dass sie keinem Territorium zugeordnet werden könnten und somit keine attackierbaren Ziele darstellten – im Gegensatz zur ehemaligen Kontrahentin UdSSR und möglicherweise auch anders als die „leastresponsible rogue states“ hätten sie auch keine Bevölkerung, gegenüber der eine Loyalität bestehen könnte.905 Gleichzeitig wurde davon ausgegangen, dass die staatlichen wie nichtstaatlichen Akteure den Besitz von biologischen, chemischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen anstreben (wenn man sie nicht bereits im Besitz solcher Kampfmittel glaubte). Die hier zum Ausdruck kommende diskursive Triade aus „Schurkenstaaten“, Terroristen und Massenvernichtungswaffen wurde zu einem zentralen, häufig als Einheit verwendeten Element des Bedrohungsdiskurses – die gemeinsame Nennung der drei Elemente verfestigte sich dermaßen, dass auch, wenn nur einer der Aspekte genannt wurde, die anderen beiden immer mitschwangen.906 Dementsprechend rückten neue Ziele vor dem Hintergrund des wachsenden Druckes der Terror- bzw. Proliferationsbekämpfung in den Vordergrund militärischer Planungen: Zum Einen verbunkerte Waffenproduktions- und Lagerungsstätten, zum Anderen aber auch schwer zugängliche Terroristenverstecke wie die Berghöhlen von Tora Bora.907 904 905 906 907 National Institute for Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and Arms Control. S. beispielsweise die Ansprachen des US-Präsidenten: Bush, George W. 2001: Remarks by the President to Students and Faculty at National Defense University, 01.05.2001 und Bush, George W. 2002: Remarks Of the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy, West Point, 01.06.2002 sowie diese kommentierend: Thompson, Loren B. 2002: The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002, aber auch Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?, Strategiepapier des Sandia-Direktors. So wurde beispielsweise in einem Artikel zur Proliferation an „Schurkenstaaten“ auf die Ereignisse vom 11. September rekurriert oder die Frage, ob rogues wie Nordkorea abgeschreckt werden könnten, mit der Bezeichnung dieser Staaten als Terroristenunterstützer verknüpft (wobei diese Verbindung gerade bei Nordkorea alles andere als wahrscheinlich ist). Ebenso wurden bedrohliche WMD-Lagerungsstätten im gleichen Zug mit Terrorcamps genannt. S. u.a. Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for Public Policy ; Payne, Keith B. 2004: NPR Moves U.S. Beyond “Balance of Terror”, in: Defense News, 15.03.2004; Meldung der USA Today: Candidates point to nuclear danger. Will they rein it in?, in: USA Today, 04.10.2004. So behalte sich der Präsident nach Aussage seiner Sicherheitsberaterin die Option vor, kleine Nuklearwaffen gegen „tougher caves in Afghanistan “ zu verwenden. Das Mitglied des Orthodox Speakers Bureau, Chris Banescu, argumentiert in einem Kommentar, dass bunker buster „could have killed Osama bin Laden as he hid in the caverns of Tora Bora, with zero loss of American military force.“ S. NBC 2002: Condoleezza Rice – 244 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Ein weiteres bedeutendes semantisches Feld wurde um die argumentative Figur der „Verantwortung“ gebildet: So könnten neben US-AmerikanerInnen selbst auch Freunde und Verbündete des Landes sowie die Bevölkerungen der Nachbarstaaten von „Schurken-„ oder Terroristen beherbergenden Staaten zu Opfern werden. Dies zu verhindern, läge in der Verantwortung des weltpolitisch herausragend positionierten Landes: „No other nation has the global responsibilities the United States bears, and we must take the actions needed to meet them“ stellte US-Navy-Admiral Robert R. Monroe fest und Außenminister Powell ergänzte „to defend the nation and defend our interests and our allies around the world “ – womit sich beide in eine Reihe ähnlicher Statements einordneten.908 Diese Verantwortungsrhetorik wird seitens der Administration in Verbindung mit Verteidigungszusicherungen im Falle möglicher (WMD-) Angriffe an den Tag gelegt, demnach trage der US-Präsident „[t]he responsibility (…) to make certain that that doesn’t happen“ (Condoleezza Rice). Die empfundene Verpflichtung, Sicherheit zu garantieren ginge mit Bestrebungen einher, anderen Völkern die Freiheit zu bringen, agierten die USA doch im Lichte einer „long history of helping people to find the opportunities of liberty and freedom”, so Andrew H. Card.909 Die in dieser Form diskursiv vermittelte Bedrohungsanalyse veränderte den Operationsrahmen des nuklearen Tabus auf mehreren Ebenen: Strukturelle Instabilität löste ein bekanntes und relativ stabiles System ab, (teils unbekannte) Akteure mit kaum nachvollziehbaren Handlungsmotivationen traten an die Stelle eines Gegners, dem man eine der eigenen ähnliche Rationalität unterstellt hatte, die ehemals primär durch Nuklearwaffen konstruierte Bedrohung hatte sich diversifiziert und umfasste nun auch andere Massenvernichtungswaffen. In solch einer Welt, in der jederzeit mit einem Angriff unbekannter Akteure mit unbekannten Mitteln zu rechnen ist, wurde eine Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume als eine unumgängliche Notwendigkeit präsentiert: Man könne es sich nicht mehr leisten und es sei schlichtweg unvernünftig, sich bestimmte Handlungsmöglichkeiten zu verschließen – in Anbetracht solcher Überlegungen ist es nahe liegend, dass durch (inter)nationale Normen auferlegte Handlungsbeschränkungen als Hürde zum Bedürfnis nach einem Optionsspektrum erschienen.910 908 909 910 breiten, größtmögliche Flexibilität gewährenden discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002 sowie Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004. Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington Post, 16.11.2004. NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002, CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002 sowie NBC 2003: Andrew Card discusses the State of the Union, the situation in Iraq, affirmative action and Title IX, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 26.01.2003. So stellte z.B. der republikanische Senator James Inhofe, der ähnlich die Foltermemos der Regierung rechtfertigte, heraus, dass „[w]ith many of the new and emerging threats in the world, we cannot afford to be ill-prepared “, zitiert in: Squitieri, Tom 2003: Senate OKs ending ban on nuclear research, in: USA Today, – 245 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Sicherheitsstrategische Schlussfolgerungen „What we want to deter is different. Those we want to deter are different. How we’re able to deter is different. And the contexts within which our deterrent must operate are different.” 911 Ausgehend von der eben geschilderten – in weiten Teilen der USA konsensualen – Bedrohungsanalyse, die einen breiten Rahmen für den Nukleardiskurs bot, wurden, Abschreckung, Verteidigung und Verhinderung von Proliferation als (voneinander nicht trennscharf abgrenzbare) sicherheitspolitische Handlungsziele formuliert, die ebenfalls auf breite Zustimmung stießen. Ein Dissens bestand hingegen bezüglich der zur Zielerreichung vor- wie eingeschlagenen Strategien und der hierfür eingesetzten bzw. vorgesehenen Mittel, wobei die Standpunkte derart polarisiert waren, dass beide Seiten die Politik der anderen im Hinblick auf die Zielsetzungen als völlig kontraproduktiv erachteten – und sich entsprechend auch mit gleichen Vorwürfen begegneten: Die wichtigste, in diesem Diskurs auf Seiten der VerfechterInnen wie GegnerInnen nuklearstrategischer Änderungen zu findende Unterstellung, ist die einer Gefährdung der nationaler Sicherheit, nicht selten begleitet von der Anmerkung, dass die Denkmuster des Kalten Krieges anscheinend nach wie vor nicht überwunden worden seien und die Rede von Neuerungen diese lediglich überdecken solle. Besonders gut nachzuvollziehen ist der letztgenannte Vorwurf im Zusammenhang mit David L. Hobsons Finanzierungsstopp-Aktivitäten:912 So wurde ihm einerseits kritisch vorgehalten, er habe mit seiner Positionierung gegen den RNEP „demonstrated how, more than a decade after the end of the Cold War, outdated axioms still have a lock on thinking about nuclear policy. Even though dressed up as new think, Mr. Hobson’s arguments are wholly Cold War vintage.“913 Dagegen hinterfragte Hobson in einer Rede vor der Arms Control Association, ob es notwendig sei, ein umfangreiches Nukleararsenal mitsamt hoher Bereitschaftsstufen aufrechtzuerhalten und sich, wie im Kalten Krieg darauf vorzubereiten, „to fight the last war“, womit er an die bereits in den 1990er Jahren geäußerte Kritik anknüpfte, die Strategen einer vergangenen Ära seien nicht in der Lage, ihre Denkgewohnheiten zu überwinden.914 21.05.2003. In diesem Sinne äußerte sich Energieminister Abraham: „[A] sensible course (…) meets our national security requirements by restoring our capabilities and ensuring that we have the flexibility to respond quickly to any potential problems in the current stockpile, or to new threats that require immediate attention“, in: Ders.: Facing a New Nuclear Reality, in: Washington Post, 21.07.2003. Siehe außerdem den deputy assistant des Pentagons, Fred S. Celec: „I don’t know that we ought to eliminate any tools in our inventory “, zitiert in: Hulse, Carl/Dao, James 2003: Cold War Long Over, Bush Administration Examines 911 912 913 914 Steps to a Revamped Arsenal, in: New York Times, 29.05.2003. Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for Public Policy. S. detaillierter S. 238 der Arbeit. Payne, Keith B. 2005: Forum: Cold War Thinking on Nuclear Policy, in: Washington Times, 16.01.2005, NIPP-Direktor Payne kommentiert hier folgenden Artikel: Hobson, David L. 2005: Forward Thinking On Nuclear Policy, in: Washington Times, 10.01.2005. Hobson zitiert in: Pincus, Walter 2005: Bush Request to Fund Nuclear Study Revives Debate, in: Washington Post, 09.02.2005. – 246 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Für unsere Untersuchung ist hierbei besonders interessant, dass die nun von beiden Seiten negativ besetzten Denkstrukturen des Ost-West-Konfliktes natürlich auch diejenigen des aus dieser Epoche stammenden nuklearen Tabus waren – und damit einhergehend auch der nuklearen Ambiguität aus deutlich demonstrierter Einsatzbereitschaft und gleichzeitiger Hoffnung, es könne immer bei bloßer Abschreckung bleiben. Während die TabuverteidigerInnen der zum Vorwurf machten, sie würde ihre Einsatzbereitschaft zu deutlich demonstrieren, wurde an ihnen im Gegenzug kritisiert, zu viel Vertrauen in die veraltete Strategie der Abschreckung zu setzen. Offenbar registrierten beide Parteien ein neuentstandenes, geradezu dilemmatisches, Missverhältnis zwischen den beiden Komponenten – was sich, unabhängig davon, der Argumentation welcher Seite man folgte, als nachteilig für das nukleare Tabu erweist: Setzt man weiterhin einseitig auf klassische Abschreckung mit alten Waffen, ohne deren reduzierte Effektivität anzuerkennen, könnte ein deshalb nicht-verhinderter fataler Terroranschlag oder Angriff mit WMD auf die USA einen nuklearen Gegenschlag auslösen. Jedoch könnten eine nicht nur klar signalisierte, sondern auch zusätzlich mit technischen Weiterentwicklungen unterstrichene nukleare Einsatzbereitschaft oder gar tatsächlich ausgeführte Nuklearschläge, die auf diesem Gebiet keineswegs ebenbürtigen Gegner stattdessen zur Fortsetzung der asymmetrischen Kriegsführung führen bzw. sie erst dazu veranlassen. Eine ähnliche argumentative Konstellation fand sich in der Proliferationsdebatte, in der die Regierung sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, durch neue Waffenentwicklungen nicht nur als Nicht-Verbreitungs-Agentin ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, sondern andere Akteure geradewegs zu provozieren, sich Massenvernichtungswaffen anzueignen, um gegenüber den Weiterentwicklungen des US-Nuklearpotentials über ein effektives Abschreckungsinstrument zu verfügen: „[A] lot of countries would conclude that there is no reason they shouldn’t have their own nukes“.915 Die Argumentation der Gegenseite lässt sich in mehrere Stränge unterteilen: Erstens könnte gerade nicht die Weiterentwicklung, sondern im Gegenteil der Abbau oder schon die technologische Stagnation des US-amerikanischen nuklearen Bestandes proliferationsfördernd wirken, würden feindliche doch Staaten hierin die Chance wittern, aufgrund einer so bedingten Schwäche der Supermacht ungestraft aufrüsten zu können. Zudem könnten auch bei befreundeten, unter dem Schutzschild der USA stehenden Nationen Zweifel an deren Verteidigungsfähigkeit aufkommen, was sie zum Ergreifen eigener Rüstungsmaßnahmen bewegen könnte.916 Drittens werde die Fähigkeit der Vereinigten Staaten 915 916 So der Politikwissenschaftler Richard K. Betts, zitiert in: Schmemann, Serge 2003: Nuclear War Strategists Rethink the Unthinkable, in: New York Times, 19.01.2003, außerdem siehe beispielsweise: Savage, David D. 2002: Nuclear Plan Meant to Deter, Los Angeles Times, 11.03.2002, Miller, Greg 2002: Democrats Divide Over Nuclear Plan, in: Los Angeles Times 13.03.2002, Editorial der Washington Post vom 13. März 2002: The Nuclear Posture, Dewar, Helen 2003: Nuclear Weapons Development Tied to Hill Approval, in: Washington Post, 22.05.2003. Zu dieser defense-assurance-Strategie der Proliferationsverhinderung siehe Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths, sowie Payne, Keith B. 2005: Forum: Cold War Thinking on Nuclear Policy, in: Washington Times, 16.01.2005. – 247 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e völlig überschätzt,, mit ihren eigenen Nuklearentscheidungen – von Abschreckungsgesichtspunkten freilich abgesehen – die Proliferationskalküle anderer Nationen zu beeinflussen, indem sie als positives Vorbild dienten. Dass diese Hoffnung schlichtweg absurd sei, sollte das karikierende Zitat einer Leserin des Wall Street Journal verdeutlichen: „I have yet to hear a public announcement from a terrorist group that says, ‚Hey the United States has decided not to develop new weapons that could hurt our cause. Great idea! Think we’ll do the same!’“917 Des Weiteren wurden der als „faktenlos“ titulierten Behauptung, „Only if we set a good example (…) will the mullahs in Iran and the gangsters in North Korea give up their nuclear programs “, Abrüstungszahlen entgegengesetzt. Demnach habe die Reduktion der US- Sprengköpfe um zwei Drittel von 6.000 auf 2.200, welche „unprecedented in scope and breath “ sei, doch unübersehbar nicht dazu geführt, dass die genannten „Schurkenstaaten“ von ihren nuklearen Absichten abrücken.918 Das Faktum zur Kenntnis nehmend, dass „the world is proliferating (…) without any studies by us“, gelte es, drittens, sich mit den Konsequenzen der Proliferation, die man nicht verhindern könne, auseinanderzusetzen.919 Hierbei müsse die Rolle als „the world’s leader in advancing [nonproliferation]“ weiterhin entschieden wahrgenommen werden – jedoch bei gleichzeitigem Ausbau eigener nuklearer Kapazitäten. Denn somit könnten bunker buster zu einer wichtigen Säule der Nichtverbreitungspolitik werden, indem sie verbunkerte Agenzien zerstören und außerdem dazu beitragen könnten, dass die feindlichen Führer in dem Wissen, ihre kostspieligen Produktionsanlagen könnten jederzeit restlos vernichtet werden, solche Investitionen als nicht lohnenswert erachten und somit erfolgreich abgeschreckt werden könnten.920 Solche neuen Abschreckungsanforderungen wurden vor allem entlang zweier Fragen diskutiert – erstens, inwiefern die USA noch abschreckend wirkten und welche Schritte hierfür zu unternehmen seien und zweitens, ob neue Akteure überhaupt abschreckbar seien – und wenn ja, mit welchen Mitteln. In Zusammenhang mit dem Abschreckungspotential kam dem (für das Konzept ohnehin zentralen) Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit mit ihren beiden Bestandteilen Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in der Debatte besondere Bedeutung zu, da einige DebattenteilnehmerInnen genau diese als nicht mehr gegeben oder zumindest gefährdet ansahen. So gäbe es nach Auffassung des demokratischen Senators Bob 917 918 919 920 Leserbrief-Sample „Wrong Song, Sung by the Wrong Senator“, in: Wall Street Journal, 02.11.2004. Huessy, Peter 2005: Nukes For Peace, Kommentar des Center for Security Policy , 14.02.2005, siehe ferner auch: Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002. Donald Rumsfeld zitiert in: Struck, Doug 2003: U.S. Focuses On N. Korea’s Hidden Arms, in: Washington Post, 23.06.2003, siehe außerdem: Center for Security Policy 2004: Hobson’s Choices, 03.01.2005. Zitat von Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington Post, 16.11.2004, siehe u.a. auch: Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces; Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths und Payne, Keith B. 2005: Forum: Cold War Thinking on Nuclear Policy, in: Washington Times, 16.01.2005. – 248 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Graham inzwischen „nations and groups adversarial to U.S. interests that have gotten the mind set that the United States is a paper tiger “, weshalb auch einige Demokraten Zustimmung zu einer „more aggressive nuclear posture“ aufbauen könnten.921 Als eine wichtige und häufig genannte Erklärung für das Entstehen dieses Eindruckes führten unterschiedliche DiskursteilnehmerInnen an, dass das alte nukleare Arsenal deshalb seine Abschreckungskraft verloren habe, weil die Feinde um wichtige Identitätsaspekte der Vereinigten Staaten wüssten. So sei ihnen die nukleare self-deterrence der Vereinigten Staaten bekannt: „The old nukes built during the cold war to roast millions of Russians are probably too destructive to use before Doomsday, and our potential enemies know that.“922 „Zu zerstörerisch“ seien diese Waffen vor allem in Anbetracht der „appropriate priority (…) on avoiding civilian casualties“ bei militärischen Angriffen seitens der US-Planer:923 „The United States finds itself in a unique historical position where it actually cares more about the local populations of adversarial states then its own leaders do. The result is that any threat to retaliate with a strategic nuclear weapons loses credibility because the (…) enemy leader may calculate that the United States would not kill millions of innocent civilians do to his actions.“924 Damit dem Gegner die Einsatzbereitschaft überzeugend vermittelt werden kann, werde es in erster Linie notwendig, neue, mit der eigenen Identität im Einklang stehende Einsatzkapazitäten zu entwickeln, zu deren Markenzeichen die „precise capability to destroy their high-value assets“ werden soll und die darüber hinaus Zuverlässigkeit bieten.925 Genau diese Anforderungen sollen von low-yield nukes erfüllt werden können – mit Blick auf das Ziel der Abschreckung sei nur folgerichtig, dass sie auch usable erscheinen müssen, denn genau dieser Mangel sei das Hauptproblem der „very large, very dirty, big nuclear weapons“.926 Hierin werde auch deutlich, dass es nicht möglich sei, die strikte Trennung zwischen „Abschreckungswaffen“ und „Kampfwaffen“, deren Aufhebung mini-nukeAblehnerInnen scharf kritisierten, zu bewahren – die Einsetzbarkeit von Waffen müsse immer vor dem Hintergrund der durch die Bedrohung gestellten Erfordernisse betrachtet sowie an letzteren ausgerichtet werden und könne ferner nicht als Absicht interpretiert werden, Kriege zu führen, wie Robert R. Monroe, Admiral der US-Navy durch eine Analogie zur Abschreckungspolitik des Kalten Krieges verdeutlichen wollte: 921 922 923 924 925 926 Zitiert in: Miller, Greg 2002: Democrats Divide Over Nuclear Plan, in: Los Angeles Times 13.03.2002. Crowley, Michael 2003: The 3rd Annual Year in Ideas; Bite-Size Nukes, in: New York Times, 14.12.2003. Payne, Keith B. 2004: Precise and Powerful. Low-Yield Nukes May Be the Deterrent We Need, in: National Review Online, 17.02.2004. So der Verteidigungsanalyst Spencer in einer „webmemo“, s. Spencer, Jack 2003: A Strong National Defense Commands New Nuclear Research Funding, Heritage Foundation, 12.08.2003. Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington Post, 16.11.2004 sowie der Republikaner Jon Kyl, zitiert in: Dewar, Helen/Pincus, Walter 2003: Senate Retains Nuclear Research Funds, in: Washington Post, 17.09.2003. Donald Rumsfeld, zitiert in: Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington Post, 28.04.2005. – 249 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e „Our Cold War arsenal deterred because it was ‚tuned’ to our adversaries, their value systems and the threats they posed. These key determinants have changed drastically. Deterrence, not war-fighting, is still our objective, and we must change our nuclear arsenal to be effective against future adversaries and their value systems. Low-yield weapons are not all that ‚usable.’ U.S. and Soviet Cold War arsenals included many thousands of low-yield weapons, yet none were ever used, even though there were many crises.“927 Neben dem Hinweis darauf, dass sehr wohl für einen potentiellen Einsatz geeignete Nuklearwaffen zur Verfügung stünden, solle die Abschreckung auch dadurch glaubwürdig bleiben, dass die Umstände, in denen ein solcher Einsatz in Erwägung gezogen würde, nicht definiert werden – nach dem Kalkül dieser Strategie der Ambiguität werde der Feind generell von Angriffshandlungen Abstand nehmen, sofern ihm glaubhaft versichert würde, dass jegliche „hostile actions“ (und eben nicht erst solche ab einer bestimmten Intensität) zu schrecklichen, wenn im Vorfeld auch nicht näher ausformulierten, Konsequenzen führen werde. Die nukleare Schwelle hänge damit weniger von den Entscheidungsträgern selbst als vielmehr von den Wahrnehmungen der Feinde ab – eine Festlegung der Umstände, unter denen ein Nukleareinsatz Gegenstand der Überlegungen würde, bedeute, dass der Feind ex negativum diejenigen Handlungen ermitteln könnte, die unterhalb dieser Schwelle liegen, was zur Folge haben kann, dass er dies ohne Angst vor einer nuklearen Vergeltung zu haben, ausnutzen könnte.928 Doch selbst wenn die USA ihre Gegner davon überzeugen können, dass sie willig und fähig sind, mit (nuklearer) Zerstörung auf (jegliche) Zerstörung zu reagieren, bleibt die zweite große Abschreckungsfrage – ob eine solche Strategie bei neuen Akteuren überhaupt den gewünschten Erfolg hätte – immer noch offen.929 So erhöhe sich hier aufgrund „kultureller Unterschiede,“ aber auch aufgrund der kurzen Dauer der Konfrontation, die Gefahr der gegenseitigen Fehlwahrnehmung:930 Nicht nur die Vereinigten Staaten könnten sich im Hinblick auf die „values“ des Gegners, deren holding at risk ihn von bestimmten Handlungen abhalten sollte, irren, sondern auch aus Sicht des Feindes kann es zu falschen Interpretationen des US-Verhaltens kommen, was ihn schlimmstenfalls zu einem Angriff veranlassen könnte.931 927 928 929 930 931 Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington Post, 16.11.2004. Auch Sokolsky und Rumer vertreten in ihrem Artikel die Ansicht, es finde eine inadäquate Dichotomisierung zwischen Kampfmitteln und Abschreckungsmitteln statt. So wie Nuklearwaffen im Kalten Krieg nur deshalb abschrecken konnten, weil der Gegner geglaubt hat, die USA seien bereit, sie einzusetzen, so muss dieser Glaube auch heute hergestellt werden. S. Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002. Die Notwendigkeit einer ambigen Sicherheitsstrategie wird u.a. begründet in: Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces sowie: Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005. Ausführungen zum öffentlichen Bild dieser Akteure finden sich auf S. 243 der Arbeit. Welche kulturellen Unterschiede hierbei gemeint sind und welche Situationen dem Autor vorschweben, in denen es durch sie zu Fehlwahrnehmungen kommen könnte, die einen Angriff auslösen könnten, wird nicht weiter ausgeführt. Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for Public Policy , das NIPP wies auf diese Problematik schon Anfang des Jahres 2001 hin, s. National Institute for Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and Arms Control. – 250 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Solche Fehlperzeptionen sind jedoch nicht das einzige Problem, haben doch die Anschläge von „9-11“ grundsätzliche Zweifel daran geweckt, ob man sich mit der Abschreckungsstrategie vor selbstmordbereiten Akteuren, scheinbar ohne territoriale oder nationale Loyalitäten, schützen kann. Das Wall Street Journal druckte vier Jahre danach immer noch Leserbriefe, die sich der nach wie vor ungelösten Frage „How Can We Threaten a Fearless Enemy? “ widmeten, ab. Wie auch anderweitig zu vernehmende Expertenmeinungen waren die veröffentlichten pessimismus gekennzeichnet: Antworten von Ratlosigkeit und Abschreckungs- „When your enemy is comprised of an amorphous federation of geographically dispersed, fanatical cells rather than a nation state and when there is no tangible target to attack, the threat of deterrence, of any nature, carries little weight.“ Während ein Leser darauf hinwies, man wisse sehr wohl, was den „islamo-fascists“ am Herzen liege und den Vorschlag des Republikaners Tom Tancredo aufgriff, deren heilige islamische Stätten wie Mekka und Medina zu bedrohen sowie als tit-for-tat-Reaktion auf in westlichen Zentren verübte Terroranschläge gegen sie Vergeltung zu üben,932 sah ein anderer die Vernichtung der Terroristen selbst als einzige Chance: „Where the Cold War had its policy of ‚containment’, we need a policy of excision” und bekräftigte damit die – aus der Befürchtung des Scheiterns der Abschreckung heraus – notwendig gewordene Neubewertung der Verteidigungspolitik.933 Umfrageergebnisse brachten ähnliche Tendenzen zum Vorschein: Einen nuklearen Ersteinsatz im Falle einer „ernsthaften Bedrohung“ für das eigene Land oder für einen der US-Verbündeten hielten über 40% der befragten opinion leaders für gerechtfertigt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung sprach sich im Januar 2005 in einer Umfrage der Gallup Organization dafür aus, terroristische Lager mit Nuklearwaffen anzugreifen – einige Wochen nach der Veröffentlichung der NPR hätte sogar mehr als die Hälfte der Befragten einen Angriff mit Nuklearwaffen auf größere Städte derjenigen Länder, die vermutlich Terroristen beherbergten, befürwortet, wobei 36% der Ansicht waren, man dürfe legitimerweise Nuklearwaffen auch dann gegen einen Gegner richten, wenn er selbst keine eingesetzt hätte.934 Durch neue Akteure errichteten Abschreckungsgrenzen schienen demnach ein Umdenken von nuklearen Drohungen hin zu nuklearen Einsätzen zu fördern: Hatte man sich bei einem abschreckbaren Gegner auf die passiv ausgeübte Schutzfunktion des nuklearen Totems, das Einsätze verhindern konnte und daher selbst nicht eingesetzt werden musste, 932 933 934 Tancredo antwortete am 14. Juli 2005 in einem Radio-Interview auf die Frage, wie die USA reagieren sollten, wenn muslimische Fundamentalisten Nuklearwaffen gegen US-amerikanische Städte einsetzen würden, man könnte im Gegenzug islamische Stätten bombardieren und löste mit seiner „Idee“ einen Sturm der Entrüstung in den USA und besonders in islamischen Ländern aus. S. Kamen, Al 2005: Brave Nuke World, in: Washington Post, 20.07.2005. Leserbrief-Sample „How Can We Threaten A Fearless Enemy?“, in: Wall Street Journal, 03.11.2005 Vgl. Gallup-Umfrage „January Wave 1“, 07.01.05-09.01.05, „March Wave 4“, 22.03.2002-24.03.2002 sowie die Umfragensammlung des Pew Research Center 2005: America’s place in the world. An investigation of the attitudes of American opinion leaders and the American public about international affairs, S. 30. – 251 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e verlassen können, hat es in Konfrontation mit einem furchtlosen Gegenüber seine Kraft verloren – da von diesem Angriffe ungeachtet des Totems zu erwarten sind, muss nun auch das Totem aktiviert, d.h. ebenfalls eingesetzt werden. Dieses Fehlen des ehemals durch Abschreckung gewährleisteten Schutzes nationaler Sicherheit sollte zum Einen durch neue Reaktionsfähigkeiten sowie Verteidigungs- und Vergeltungsmaßnahmen nach bereits erfolgten Angriffen kompensiert werden, was besonders deutlich als Begründung für die Dringlichkeit eines Raketenabwehrschildes vorgebracht worden ist. Der überkommene ABM-Vertrag müsse diesem Erfordernis zum Opfer fallen, wie Sicherheitsberaterin Rice formulierte: „The ABM Treaty is an artifact of a different period of time (…) ABM was designed to prevent national missile defense. (…) It’s a new world.“935 Doch auch das Vergeltungskonzept selbst wurde zum Anderen als den neuen Sicherheitsanforderungen nicht angemessen kritisiert, könnten doch die Folgen eines einzigen, mit Massenvernichtungswaffen durchgeführten Angriffes derart katastrophale Ausmaße erreichen, dass es höchst unverantwortlich wäre, nicht alle denkbaren Schritte zu seiner Vermeidung zu ergreifen – das klassische Verteidigungsverständnis wandelte sich in Anbetracht dessen zu einer preemptive strike-Doktrin, deren Grundzüge George W. Bush in seiner vielzitierten Rede vor den Absolventen der Elite-Militärakademie West Point im Juni 2002 umriss.936 Die Zustimmung zu seiner Auffassung, „[i]f we wait for threats to fully materialize, we will have waited too long “, wurde von zahlreichen anderen Strategen bekräftigt – z.B. auch mit dem Hinweis, dass Präemptivschläge, von ihrer Notwendigkeit abgesehen, auch problemloser durchgeführt werden könnten, weil man ungleich schwächere Kontrahenten als die UdSSR vor sich habe, deren Gegenschlagsfähigkeiten sehr beschränkt seien.937 Das Erstschlagskonzept wurde schließlich in der im September 2002 vom Weißen Haus herausgegebenen National Security Strategy (NSS) offiziell festgehalten, wenn auch ohne explizit nukleare Reaktionen zu benennen.938 Dass man sich jedoch auch auf nukleare 935 936 937 938 Zitiert in: Mufson, Steven 2000: Threat of ‚Rogue’ States: Is It Reality or Rhetoric?, in: Washington Post, 29.05.2000. S. Bush, George W. 2002: Remarks Of the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy, West Point, 01.06.2002, sowie kommentierend: Ricks, Thomas E./Loeb, Vernon 2002: Bush Developing Policy of Striking First, in: Washington Post, 10.06.2002 und Thompson, Loren B. 2002: The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002. So der Direktor des Lexington Institute, Loren Thompson in: Thompson, Loren B. 2002: The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002 Die NSS stellte fest, dass mit konventionellen Angriffen von „Schurkenstaaten“ und Terroristen kaum zu rechnen sei, seien sich diese doch über ihr vorprogrammiertes Scheitern im Klaren; WMD-Einsätze hingegen seien im Vergleich zum Kalten Krieg deshalb weitaus wahrscheinlicher, weil die neuen Feinde sie nicht mehr als last-resort-Option erachten, wie es die Sowjetunion tat. Ohne eine Unterscheidung zwischen konventionellen und nuklearen Waffen zu ziehen, wird in der NSS angekündigt, sich zu Präemptionszwecken der „ full advantage (…) of innovation in the use of military forces [and, ER] modern technology “ zu bedienen. Siehe White House 2002: National Security Strategy. Deutlicher wird die National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction (CWMD) vom Dezember 2002: „The United States will continue to make clear that it reserves the right to respond with overwhelming force – including through resort to all of our options – to the use of WMD against the United States, our forces abroad, and friends and allies “, wobei der Einschub „all options“ gezielt klarstellt, dass die nukleare nicht ausgeschlossen wird. Siehe White House 2002: National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction. – 252 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Verteidigungsfälle vorbereiten müsse und Nuklearwaffen nicht mehr als ausschließlich abschreckende „ultimate defense of the nation“ dienen könnten, hatte der damalige Los Alamos-Direktor Steven M. Younger bereits zwei Jahre zuvor konstatiert; seinen hierauf aufbauenden Vorschlag, so früh wie möglich mit der Entwicklung neuer, zur taktischen (und nicht nur strategischen) Verteidigung geeigneter Nuklearwaffen zu beginnen, die die Zerstörungsgrenzen konventioneller Sprengsätze überwinden werden, charakterisierte er als ein „departure from conventional thinking on nuclear forces“: „Nuclear weapons are one component of an integrated defense strategy that includes diplomacy and conventional forces. The principal role of nuclear weapons was and continues to be that of deterring any potential adversaries from an attack on America or our vital interests. This role is expected to continue for as long as nuclear weapons hold the appellation of ‚supreme’ instruments of military force. However, this does not mean that their role in military planning will not change at all. (…) there are still limits on the amount of damage that can be caused with a given quantity of high [conventional, ER] explosive. For these and other reasons, nuclear weapons are expected to continue to play a role in strategic doctrine, independent of their role as a psychological deterrent to aggression.”939 Nicht nur hätten die Vereinigten Staaten das Recht, die besten Technologien mit dem Ziel des Selbstschutzes zu entwickeln – eine solche Verteidigungsoption werde zu einem „necessary step toward strengthening American and world security “. Ihre Verfügbarkeit sei ferner nicht nur im Hinblick auf die US-amerikanische, sondern auch auf die gegnerische Zivilbevölkerung unverzichtbar und könnte zudem die Verluste auf Seiten eigener Truppen stark reduzieren.940 Solche Möglichkeiten aus Gründen der „political correctness“ und aus Angst vor einer „bad reputation“ nicht wahrzunehmen, sei nicht nachzuvollziehen und höchst unverantwortlich, sei doch die aufgezwungene Verteidigungsunfähigkeit „a path to enormous danger“.941 Außerdem bliebe dadurch den EntscheidungsträgerInnen in Politik und Militär im Verteidigungsfall nur die Wahl, „ either backing down from confrontation with a rogue regime, or using an airborne nuke that would risk killing millions of civilians or a huge conventional raid that risked the lives of American soldiers.“942 Auch als im April 2005 die Ergebnisse der RNEP-skeptischen Studie des National Research Council aussagten, mit den erhofften Vorzügen sei kaum zu rechnen – zwar würde die neue Waffe die angestrebten Ziele zerstören können, aber wenn nicht durch ihre Explosionskraft, so doch durch die Folgeradiation hohe Verluste an Menschenleben einfordern – argumentierte Donald Rumsfeld (auf die Frage der Senatorin Feinstein 939 940 941 942 Einschränkend führt der Autor an, dass er Terroristen bei seinen Überlegungen außen vor lässt und sich lediglich auf zwischenstaatliche Konfrontationen bezieht. Younger, Stephen M. 2000: Nuclear Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos. Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003, Republikaner Gingrich war als Sprecher des Repräsentantenhauses der Anführer der Opposition gegen die Clinton-Regierung. Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003; das political-correctnessArgument bringt Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004 über die Hemmungen aus Angst vor einem schlechten Ruf beschwert sich Jack Spencer (Heritage Foundation), zitiert in: Struck, Doug 2003: U.S. Focuses On N. Korea’s Hidden Arms, in: Washington Post, 23.06.2003. So das Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths. – 253 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e reagierend, warum die Regierung von ihren Plänen angesichts dieser Forschungen nicht Abstand nehme) vor dem Kongress nach dem ultima ratio-Prinzip und stellte klar, dass es zu ihnen schlichtweg keine bessere Alternative gäbe: „So … do we want to have nothing and only a large, dirty nuclear weapon, or would we rather have something in between? “943 Die im letzten Absatz geschilderten Äußerungen deuten auf eine Konkurrenz verschiedener identitätsrelevanter Angemessenheitsvorstellungen hin: Wie in den Hinweisen auf den schlechten Ruf und die politische Korrektheit zum Vorschein kommt, sind sich die Akteure nicht nur ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten, ihr Handeln kritisch beäugenden Wertegemeinschaft bewusst, sondern nehmen diese auch als restringierend wahr. Neben der durch diese Restriktion erforderlich werdenden Abwägung zwischen der nationalen Sicherheit und der äußeren Identität (Reputation), konfligieren zwei weitere zu einem „zivilisierten“ Staat gehörende Normen (der Nicht-Einsatz nuklearer Waffen versus das ausdrückliche Bestreben, zivile Opfer um jeden Preis zu vermeiden) – so kann ausgerechnet der Bruch der ersten Norm notwendig werden, um die zweite einhalten zu können. „Policy Changes? What Policy Changes?”944 „There’s nothing new in that.” 945 Vor dem Hintergrund der auf den letzten Seiten dargestellten Fokussierung des Nuklear- und Sicherheitsdiskurses auf neue Bedrohungen durch neue Akteure und der daraus erwachsenden neuen Erfordernissen an Strategien wie auch der soeben beschriebenen Absichten, neue Waffen zu entwickeln und herzustellen, mag der Befund überraschen, dass parallel hierzu der Betonung politischer, militärischer sowie technologischer Kontinuität in dieser Debatte ein bedeutender Stellenwert zukam. So sehr weltpolitische Veränderungen zu einer fast schon beliebigen, nach Bedarf eingesetzten Begründung für alles Mögliche wurden, so sehr scheuten sich die norm challengers, in der Öffentlichkeit Brüche mit alten Traditionen einzugestehen: Demnach seien zum Einen small nukes und bunkers busters alles andere als „brand new weapons“, sondern lediglich Weiterentwicklungen und Modifikationen alter.946 Zum Anderen sei noch nie eine no-first-use-policy deklariert worden und negative nukleare Sicherheitsgarantien seien schon immer nur unter der Voraussetzung des Nicht-Einsatzes von Massenvernichtungswaffen gültig gewesen, weshalb die von TabubefürworterInnen häufig geäußerte Kritik, es hätte eine grundlegende Neuausrichtung der Nuklearpolitik gegeben, ungerechtfertigt sei.947 Die Kontinuitäts-Argumentation gipfelte in der Anmerkung, dass sogar 943 944 945 946 947 Zitiert in: Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington Post, 28.04.2005. Milbank, Dana 2002: Policy Changes? What Policy Changes?, in: Washington Post, 26.03.2002. Kommentar der Sicherheitsberaterin Rice zur NPR. NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002 CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002. Z.B. Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy. A Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century. Die Gewährung von Sicherheitsgarantien im Jahr 1978, auf die in diesem Zusammenhang rekurriert wird, – 254 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e die Veränderungen und Anpassungen (sollte es sie tatsächlich geben) als ein Zeichen der Beständigkeit zu werten seien, da auch sie in der Vergangenheit stets stattgefunden hätten.948 Solche Versuche, den Erhalt alter Traditionen zu demonstrieren, können ebenfalls als der Identität geschuldet aufgefasst werden. Insbesondere in Bezug auf die nukleare Schwelle wurde die Wahrung der Kontinuität häufig und mit Nachdruck versichert, nicht selten mit dem Hinweis darauf, dass strategische Veränderungen nicht etwa, wie von KritikerInnen behauptet, deren Senkung dienen, sondern sie ganz im Gegenteil erhöhen sollen oder zumindest anstreben, „to keep the nuclear threshold high “, was ein langjähriges Ziel der US-Politik sei.949 Dieser falsche Eindruck entstünde bzw. würde vor allem deshalb erweckt, weil die Debatte über die Vorschläge der NPR sowie um militärische Reformen insgesamt – absichtlich oder aufgrund von Fehlinterpretationen – mit einer falschen Schwerpunktsetzung geführt würde. So würde die Absicht, mehr Unabhängigkeit von Nuklearwaffen zu erreichen und konventionelle Kapazitäten (zum Beispiel im Rahmen der Revolution in Military Affairs, RMA)950 auszubauen, ignoriert: „The criticism – that the new policy lowers the bar for use of nuclear weapons – is misplaced. In fact, by linking U.S. nuclear and conventional precision strike capabilities, the policy narrows the role of nuclear weapons in U.S. defense policy, reduces the circumstances in which they might be used and sets the stage for even deeper cuts in nuclear forces.“951 Die norm challengers unterstellten den „nuclear alarmists“, unberechtigterweise selektiv einen Strategieaspekt herauszugreifen, der ihnen dabei helfe, sensationslustig „the first step on a wurde vom damaligen Außenminister Cyrus Vance auf der ersten UN-Sondersitzung zur Abrüstung vorgetragen. Sie lautete wie folgt und war in der Tat mit Einschränkungen formuliert worden: „The US will not use nuclear weapons against non-nuclear weapon states party to the Nonproliferation Treaty except in the case of an invasion or any other attack on the United States, its territories, its armed forces or other troops, its allies, or on a state toward which it has a security commitment, carried out or sustained by such a nonnuclearweapon state in association or alliance with a nuclear-weapon state.“ Zitiert nach: Joint Chiefs of Staff 2005: 948 949 950 951 Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005. Huessy, Peter 2005: Nukes For Peace, Kommentar des Center for Security Policy , 14.02.2005. S. z.B. Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces oder Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington Post, 16.11.2004. Für eine Zusammenfassung von Rumsfelds Zukunftsvorstellungen über neue militärische Entwicklungen s. Rumsfeld, Donald 2002: Transforming the Military, in: Foreign Affairs 81:3, S. 20-32. Zur RMA und Nuklearwaffen siehe außerdem: Gray, Colin S. 2000: Nuclear Weapons and the Revolution in Military Affairs, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 99-134, für eine Diskussion der Auswirkungen solcher Militärinnovationen auf die Kriegsneigung der Demokratien, s. Müller, Harald/Schörnig, Niklas 2002: Mit Kant in den Krieg? Das problematische Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und der Revolution in Military Affairs, in: Die Friedens-Warte 2002/4, S. 353-374. Blechman, Barry 2002: New Nuclear Policy Makes For a Safer World, Gastkommentar in: Los Angeles Times, 18.03.2002, genauso Dao, James 2002: Pentagon Study Urges Arms Shift, From Nuclear to HighTech, in: New York Times, 09.01.2002 (noch vor der Veröffentlichung der unter Verschluss gehaltenen Passagen und basierend auf den Informationen, die nach dem hearing zur NPR am 08. Januar bekannt wurden) sowie Gaffney Jr., Frank 2002: Nuclear Reform Overdue, in: USA Today 13.03.2002 und Krepinevich, Andrew 2002: The Real Problems With Our Nuclear Posture, Gastkommentar in: New York Times, 14.03.2002. – 255 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e path to nuclear Armageddon“ zu verkünden,952 dabei sei doch gerade die von ihnen propagierte Abschaffung resp. Beibehaltung des alten Arsenals, ohne notwendig gewordene Anpassungen vorzunehmen, der sicherste Weg dorthin. So würde eine durch das „ill-suited stockpile “ unwirksam gewordene Abschreckung dazu führen, dass „the adversary’s provocations would proceed, and the use of nuclear weapons would be more likely .“953 Unter solchen Positionen, die das Gebot propagieren, mithilfe von Strategieanpassungen die nukleare Schwelle zu erhalten, also bereits das Eintreten von contingencies, unter denen ein nuklearer Einsatz als notwendig erachtet werden müsste, möglichst zu verhindern, bildete der NIPP-Präsident Keith B. Payne insofern eine Ausnahme, als er es für gefährlich hielt, der nuklearen Schwelle im Diskurs überhaupt solch eine prominente Behandlung zu gewähren, denn genau das mache ihr Überschreiten seiner Ansicht nach wahrscheinlicher. Zwar teilte er die Auffassung, dass auch in der NPR eine strikte Unterscheidung zwischen konventionellen und nuklearen Waffen zum Tragen komme und dass die NPR keineswegs beabsichtige, das Überschreiten der Schwelle zu erleichtern, jedoch merkte er kritisch an, dass dies auf Kosten der Abschreckung ginge (und somit andere sich veranlasst sehen könnten, über die Schwelle zu treten): „If the United States really were to blur the distinction, that is, if it treated nuclear weapons as it did conventional weapons, the credibility of the nuclear deterrent might be less open to question. Nuclear deterrence presumably would be as credible as conventional deterrence if the United States acknowledged no distinction.“954 Nach Feststellung dieser negativen Nebenwirkung auf die Sicherheit des Landes – obgleich ohne explizit zu fordern, die mit Gefahren verbundene Unterscheidung von Waffengattungen aufzuheben – brachte er zum Ausdruck, dass es sich bei der nuklearen Hemmschwelle um ein überkommenes Konstrukt handelt: „There is no such thing as a single, objective nuclear threshold to be lowered or raised mechanistically. That notion, like others, is a construct of the Cold War’s balance of terror.“955 Die nukleare Schwelle nicht explizit festzulegen und nicht mit einem Absolutheitsanspruch zu belegen, sei indes entscheidend, um den Status von Nuklearwaffen als Abschreckungswaffen aufrechtzuerhalten und gar nicht erst in die Situation zu kommen, sie einsetzen zu müssen.956 952 953 954 955 956 Editorial des Wall Street Journal vom 14. März 2002: Nuclear Posturing, sowie Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002. Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington Post, 16.11.2004. Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 142. Paul Robinson führt das gleiche Argument für no-first-useErklärungen an – auch wenn er glaubt, dass die USA die letzten sind, die Nuklearwaffen einsetzen würden, dürfe man dies nicht zu einer deklaratorischen Politik erheben, weil es sonst die Abschreckungsstrategie konterkariere. S. Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?, Strategiepapier des Sandia-Direktors. Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 144f. Wir begegnen hier erneut dem auf Seite 250 erläuterten Argument der Ambiguitätsnotwendigkeit. – 256 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Dass der Zweck von Nuklearwaffen nach wie vor Abschreckung sei und neue Entwicklungen auf diesem Gebiet immer noch die Kontinuität wahrten, sie als weapons of last resort zu betrachten, wurde im Diskursverlauf von verschiedenen ProtagonistInnen hervorgehoben, von „uninformed or uncaring critics“957 erhobene Vorwürfe, welche das Gegenteil behaupteten, vehement abgewehrt. Beispielsweise antwortete Sicherheitsberaterin Rice auf die Frage, ob richtig sei, dass Nuklearwaffen in Zukunft eine neue Aufgabe als Instrument der Kriegsführung und nicht mehr der Kriegsverhinderung erhalten: „The American policy on this score has not changed.“ 958 Aus den Reihen des Pentagon verlautete nach der Bekanntgabe der first-strike-policy, dass „nuclear first strikes would be considered weapons of last resort, especially against biological weapons“.959 Eine ähnlich lautende Erklärung gab auch Sandia-Direktor Robinson ab – „We do not maintain nuclear weapons for war-fighting purposes, but as ‚weapons of last-resort’“.960 Dass Nuklearwaffen immer noch „as occupying a special category “ angesehen werden, wurde in etwas anderer Formulierung in einem Artikel des Präsidenten des NIPP getroffen: „[N]uclear employment is plausible only in the most extreme circumstances“.961 Laut dem Bericht des Defense Science Board sei es nach wie vor „American policy (…) to pursue non-nuclear attack options wherever possible“, Nuklearwaffen würden also erst nach Ausschöpfung konventioneller Alternativen in Betracht gezogen, dennoch könne es unter extremen Umständen dazu kommen, dass der Präsident „[n]evertheless, (…) may have no choice but to turn to nuclear options.“962 In Anbetracht solcher Zusicherungen, Nuklearwaffen seien nach wie vor kein Kampfmittel und ihr Einsatz komme ausschließlich als ultima ratio in ausweglosen Situationen in Betracht, tanzte der ehemalige Sprecher des Repräsentantenhauses Newt Gingrich völlig aus der Reihe, hatte er doch kein Problem damit, in seinem Plädoyer für neue low-yield nukes und bunker buster die Bestimmung der Waffen für den Ersteinsatz zuzugeben: „This would be a weapon designed to be used. It would not simply be a weapon of deterrence, as current nuclear weapons are. Yet after Sept. 11, 2001, and after all of the public threats of Osama bin Laden, Kim Jong Il and others, how can we not be prepared to defend ourselves if necessity requires it? Such a weapon with its potential to save millions of innocent lives should not be seen as a threat but as a necessary step toward strengthening American and world security.“963 957 958 959 960 961 962 963 Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?, Strategiepapier des Sandia-Direktors. NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002. Ricks, Thomas E./Loeb, Vernon 2002: Bush Developing Policy of Striking First, in: Washington Post, 10.06.2002. Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?, Strategiepapier des Sandia-Direktors. Payne, Keith B. 2004: Precise and Powerful. Low-Yield Nukes May Be the Deterrent We Need, in: National Review Online, 17.02.2004. Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces. Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003. – 257 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Das von Gingrich angeführte Argument der Notwendigkeiten, denen man sich stellen müsse, weil keine anderen Optionen bestünde, war in der Nukleardebatte wesentlich – dass Nuklearpolitik sich nicht ausschließlich von normativen Überlegungen leiten lassen könne und Sachzwängen unterliege, war bereits 2001 als Erwiderung auf abrüstungseuphorische, abolitionistische Forderungen vorgebracht worden: „The priorities that constitute the focus for these proposals – nuclear non proliferation, safe-handling practices, and ‚anti-nuclear’ norms – are indeed worthy of consideration. But force posture recommendations based on these priorities alone, that do not also carefully consider current and potential future security requirements, are wholly inadequate because those requirements may or may not permit nuclear ‚abolition,’ ‚dealerting,’ and/or deep reductions.“964 Die TabugegnerInnen legten großen Wert auf die Feststellung, dass nach wie vor niemand Nuklearwaffen einsetzen wolle (Condoleezza Rice: „The fact is, no one wants to use nuclear weapons.” ), es sei sogar „no one anxious to think about the employment of tactical nuclear weapons“ (Herv. ER).965 Dies allein ändere dennoch nichts an den Tatsachen, nämlich, dass es Situationen gäbe, in denen man Einsätze erwägen und ggf. vielleicht sogar durchführen müsse. Da solche contingencies weitaus wahrscheinlicher geworden seien als früher, müsse man sicherstellen, für den Fall der Fälle über geeignete Einsatzmittel zu verfügen.966 Das Argument, die Verfügbarkeit solcher Waffen allein erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes, sei laut Keith B. Payne ein unzutreffender „technischer Determinismus“ und dieser aus zwei Gründen zweifelhaft: Zum Einen ignoriere diese Behauptung die Tatsache, dass der Präsident nicht auf Basis von technischen, sondern ausgehend von situativen und politischen Bedingungen über den Gebrauch von Nuklearwaffen entscheide. Technische Anpassungen würden, zum Anderen, nichts daran ändern, dass die Waffen, so wie in den vergangenen fünfzig Jahren auch, nur in Ausnahmefällen in Frage kommen würden. Die EntscheidungsträgerInnen seien sich darüber hinaus immer noch dessen bewusst, dass eine nukleare Operation „would be an act with extraordinarily high political consequences“, eine neue Technik würde es längst nicht möglich machen, darüber hinwegzusehen.967 Auch ein Blick in die Geschichte untermauere diese Argumentation, werde doch hier deutlich, dass die bloße Verfügbarkeit von Sprengköpfen mit geringer Explosionskraft keineswegs zu einer erleichterten pro-nuklearen Entscheidungsfindung geführt habe: 964 965 966 967 National Institute for Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and Arms Control. „Anxious“ wird in diesem Zusammenhang nicht, wie üblich, im Sinne von „ängstlich“, sondern im Sinne von „bestrebt“ verwendet. Editorial des Wall Street Journal vom 12. April 2004: Rethinking Armageddon, s. auch Younger, Stephen M. 2000: Nuclear Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos, sowie NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002 und Donald Rumsfeld, zitiert in: Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington Post, 28.04.2005. Payne, Keith B. 2004: Precise and Powerful. Low-Yield Nukes May Be the Deterrent We Need, in: National Review Online, 17.02.2004 – 258 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e „In fact, throughout virtually the entire course of the Cold War, from acute crises in Berlin, the Taiwan Strait, the Caribbean and the Middle East through shooting wars in Asia, when low-yield weapons were available to U.S. presidents, no evidence suggests that the availability of these weapons made any president less cautious about employing nuclear weapons.“968 „Wir entwickeln nicht, wir forschen nur und wir bauen nicht, wir entwickeln nur” „We don’t know. That’s why we want to study it (…) It is a study. It is nothing more and nothing less. (…) And it is not pursuing. And it is not developing. It is not building. It is not manufacturing. And it’s not deploying. And it is not using.” 969 Obwohl neue Waffen nach den obigen Ausführungen die Nicht-Einsatz-Kontinuität nicht gefährden müssen, wurden die Fragen rund um ihre Entwicklung, genauer, die Unterscheidung von Entwicklungsstadien (Forschung, Entwicklung, Bau),970 dennoch zu einem bedeutenden Teil der Diskussion. In Bezug auf neue Sprengköpfe haben sich nur wenige so unmissverständlich wie William Odom, General a.D. positioniert: „We absolutely need new ones. (…) You want to keep a nuclear weapons development program, get rid of old big ones, and have the flexibility to investigate new ones“, so Odom 2001.971 Hingegen haben sich andere Akteure, wie z.B. Energieminister Abraham, erstens von der Behauptung distanziert, überhaupt neue Waffen zu entwickeln und lediglich von Modifikationsabsichten gesprochen: „This is a modification of a weapon (…) not the development of a new warhead “.972 Zum Zweiten ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass man von einer Entwicklung, geschweige denn vom Bau neuer Waffen noch weit entfernt sei, und lediglich zur Forschungsphase gehörende Machbarkeitsstudien durchgeführt werden, um das Potential der Waffen, HDBTs zu zerstören, zu erkunden und Entscheidungen auf Basis von Informationen statt von Vermutungen treffen zu können.973 An diesen feasibility studies 968 969 970 971 972 973 Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 144. Donald Rumsfeld im Mai 2003 in Zusammenhang mit der Beendigung des nationalen Teststopps im Senat, zitiert in: Squitieri, Tom 2003: Senate OKs ending ban on nuclear research, in: USA Today, 21.05.2003, Editorial des Wall Street Journal vom 03. März 2005: Hobson’s Choice. Für Hinweise auf die Machbarkeitsstudie s. Republikaner James Inhofe, zitiert in: Hulse, Carl 2004: Senate Backs New Research On A-Bombs, in: New York Times, 16.06.2004. Dies ist eine grobe Einteilung, wie sie von den Akteuren im Diskurs vorgenommen wurde. Das Verteidigungs- und das Energieministerium unterscheiden insgesamt sieben Entwicklungsphasen, von denen die ersten drei, Concept Assessment, Feasibility Study & Option Down-select und Design Definition zum Forschungsstadium, Development Engineering und Production Engineering zum Entwicklungsstadium und First Production sowie Full-Scale Production zur Bauphase gehören. S. ausführlich: Department of Defense and Department of Energy 2000: Procedural Guideline For The Phase 6.X Process, 19.04.2000. Diese Anforderungen seien auch der Grund, „why the Comprehensive Test Ban Treaty was so stupid .“ Zitiert in: Pincus, Walter 2001: U.S. Nuclear Proposals Envision Sharp Cuts in Missiles, Bombers, in: Washington Post, 25.05.2001. Zitiert in: Pincus, Walter 2002: Nuclear Warhead Study Aims at Buried Targets, in: Washington Post, 13.03.2002, s. auch S. 254 der Arbeit. Office of Management and Budget des Weißen Hauses als Reaktion auf die Mitte des Jahres 2003 im Repräsentantenhaus beschlossenen Forschungsbudgetkürzungen, zitiert in: Hulse, Carl 2003: House Trims Bush Plan For Research on Weapons, in: New York Times, 19.07.2003. – 259 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e bestehe vor allem deshalb Bedarf, weil in der Wissenschaft konkurrierende Ansichten über die Zerstörungskapazitäten, Präzisionsfähigkeiten und mögliche Reduktionen der fallout-Menge herrschten, wie Donald Rumsfeld nicht müde wurde, zu betonen: „I don’t believe there is anything currently underway by way of developing new nuclear weapons, (…) [the notes, Pincus] referred not to the development of specific weapons, but the analysis that would go into determining whether or not something might or might not make sense.“974 Gegner der neuen Waffenprogramme haben offen bezweifelt, ob man angesichts der Höhe der angeforderten Beträge der Regierung Glauben schenken könnte, sie wolle tatsächlich nur eine Machbarkeitsstudie durchführen, sei doch allgemein bekannt, dass „the military procurement tap is hard to wrench closed once the research money flows“.975 Überdies bezeichneten sie diese Investition als Verschwendung von Steuergeldern,976 wohingegen von den BefürworterInnen neuer Waffen ein gegenteiliges Kostenargument gebracht wurde: Mit den – wohlgemerkt entwickelten bzw. bereits angefertigten – neuen Waffen ließen sich Kosten sparen, weil sie in der Produktion wie in der Instandhaltung nicht so teuer seien, wie das alte Arsenal. Zudem sei eine „standing nuclear force (…) far less costly, than a standing conventional force. That is many times truer when the conventional force finds itself continuously engaged.“ Wenn neue Nuklearwaffen (wieder) für eine wirksame Abschreckung sorgen könnten, würden auch kostspielige konventionelle Operationen in geringerem Maße nötig, so das Kalkül.977 Neben denjenigen, die den Wunsch nach neuen Waffen sowie Entwicklungsabsichten verneinten, gab es eine dritte Gruppe, die diese zwar zugestand, jedoch von der Produktion Abstand nahm. Hierzu gehörte u.a. Pete Domenici, der republikanische Senator von New Mexico (dem Bundesstaat, in dem sich zwei mit Nuklearforschungen befasste National Laboratories, nämlich Sandia und Los Alamos befinden), der vor dem Senat darauf aufmerksam machte, dass in dem Haushaltsentwurf für 2004 „not one single word that says we are going to build a new nuclear weapon“ zu finden sei und dass das Nachdenken über und das Konzipieren von neuen Waffen in den Labors erlaubt sein müsse.978 Wenn infolge der gescheiterten Ratifikation des CTBT im Oktober 1999 argumentiert worden war, dass diese Entwicklung zur Sicherheit und Verlässlichkeit des bestehenden Arsenals beitrage, weil man es durch Tests einer Überprüfung unterziehen könne, wurde die damit sowie mit der Beendigung des Spratt-Furse-bans im Mai 2003 gewonnene Flexibilität 974 975 976 977 978 Zitiert in: Pincus, Walter 2004: U.S. Explores Developing Low-Yield Nuclear Weapons, in: Washington Post, 20.02.2003. Editorial der New York Times vom 06. März 2005: Destabilizing Bit Of Research. So der demokratische Abgeordnete Edward Markey, zitiert in: Pincus, Walter 2005: Setbacks On Hill For Bunker Buster, in: Washington Post, 14.05.2005. Leserbrief-Sample „How Can We Threaten A Fearless Enemy?“, in: Wall Street Journal, 03.11.2005, außerdem: Younger, Stephen M. 2000: Nuclear Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos. US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655, 15.09.2003, S. S11441. – 260 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e auch hinsichtlich neuer Waffenentwicklungen als Vorteil empfunden.979 Zwar wurde auch hier aus Los Alamos wie von Seiten der Administration wiederholt eingeschränkt, dass Tests für modifikatorische Arbeiten an den Waffen nicht zwingend erforderlich sein würden und man versuchen werde, sie zu umgehen – jedoch haben andere Parteien darauf hingewiesen, dass es höchst zweifelhaft sei, inwiefern man für modifizierte, jedoch ungetestete Sprengköpfe mehr Zuverlässigkeit und Abschreckungskraft beanspruchen könne als für ihre lang erprobten „Artgenossen“ aus dem alten Arsenal.980 Aus genau solchen Überlegungen heraus müsse man die Wahlfreiheit schützen und dürfe die möglicherweise in Zukunft zur Durchführung von Tests benötigten Kapazitäten nicht abbauen.981 Akteure, die den Tests kritisch bis ablehnend gegenüber standen, sahen dies erwartungsgemäß anders, so erkannte der Abrüstungsexperte und Präsident des Center for Defense Information, Bruce G. Blair zwar durchaus die „self-bureaucratic interests“ der Nuklearwaffenlabors wie auch die Begründung des Kapazitätenerhalts an, weswegen er Grundlagenforschung zu Nuklearwaffen befürwortete. Dennoch war er der Meinung, dass die Vereinigten Staaten „should forgo designing, building, testing and fielding new weapons.“982 Greatest brains of the world: Die Rolle der Wissenschaft „[W]e should keep our nuclear scientists – the greatest in the world, excited about their work, living at one of three great laboratories – engaged and thinking about what the nuclear stockpile of the future should look like.” 983 Was Bruce Blair nüchtern als bürokratisches Eigeninteresse charakterisierte, ist, wie am Eingangszitat erkennbar, von anderen DiskursteilnehmerInnen mit weitaus mehr Pathos formuliert worden; dementsprechend begrüßt wurde von ihnen auch die Absicht der NPR, nuklearwissenschaftlichen Kapazitäten wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen.984 Die 979 980 981 982 983 984 S. S. 237 der Arbeit. In diesem Zusammenhang gab es einen interessanten medialen Zwischenfall: Der als Abrüstungsaktivist bekannte William Arkin (s. auch S. 221 der Arbeit) gestand im Januar 2002 in der Washington Post, dass er nicht sicher sei, ob er Tests tatsächlich ablehne, wenn man auch in Zukunft auf Nuklearwaffen setze – in dem Artikel wurde er als Mitglied des National Resources Defense Council, einer renommierten Umweltschutzorganisation und als Mitarbeiter der Federation of American Scientists (von ehemaligen Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts gegründete Abrüstungsorganisation) bezeichnet. Daraufhin distanzierten sich beide Organisationen in einer Richtigstellung umgehend von dieser Aussage und von Arkin selbst, der keineswegs mit ihnen „affiliated “ sei. Siehe Pincus, Walter 2002: U.S. to Seek Options on New Nuclear Tests, in: Washington Post, 08.01.2002 sowie Correction to: U.S. to Seek Options on New Nuclear Tests, in: Washington Post, 09.01.2002. So z.B. der Stanford-Physiker Sidney Drell, zitiert in: Robbins, Carla Anne 2005: U.S. Weighs Whether to Build Some New Nuclear Warheads, in: Wall Street Journal, 14.12.2005. Z.B. Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces, Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy. A Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century. Blair, Bruce G. 2003: We Keep Building Nukes For All The Wrong Reasons, in: Washington Post, 25.05.2003. Zitat des Republikaners Pete Domenici in einem hearing , s. US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655, 15.09.2003, S. S11441. Vgl. Nuclear Posture Review 2002, Auszüge, online unter: <http://www.globalsecurity.org/wmd /library/policy/dod/npr.htm>, rev. 01.08.2006. – 261 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Auswirkungen der nuklearen Marginalisierung auf die russische in diesem Bereich tätige Elite und die US-amerikanischen Reaktionen darauf sind bereits erläutert worden985 – dass man auch im eigenen Nuklearsektor mit einem „aging cadre of Cold Warriors who are heading toward retirement and taking the USA’s nuclear weapons knowledge with them “ konfrontiert sein würde, war der Politik während der „decade of neglect“ jedoch offenbar nicht bewusst. Das Statement des im kalifornischen Lawrence-Livermore-Labor beschäftigten Waffenentwicklers, Tom Thomson, dass „Nobody wants to work here“ brachte die demotivierte, um nicht zu sagen demoralisierte Einstellung der Beschäftigten auf den Punkt und deutete gleichzeitig ein weiteres Problem an – das Fehlen des wissenschaftlichen Nachwuchses, an den das über Jahrzehnte erworbene know-how tradiert werden könnte.986 Bereits jetzt gäbe es nach Angabe eines Programmdirektoren des Los Alamos-Labors gerade einmal zwei Wissenschaftler, die Erfahrungen mit echten unterirdischen Tests hätten, alle anderen MitarbeiterInnen würden aufgrund des 1992er Testmoratoriums nur noch – im Rahmen des Stockpile Stewardship Program durchgeführte987 – Computersimulationen kennen. Weil die Vereinigten Staaten schon seit Jahren keine Nuklearwaffen mehr entworfen, entwickelt, geschweige denn gebaut haben, fehle, zusätzlich zu den wissenschaftlichen Kapazitäten, auch die nukleare Infrastruktur, die früher für die Herstellung der benötigten Materialien und Waffenbestandteile gesorgt hätte. Diese Problematik entschärfen zu wollen, war eine der von den Republikanern John W. Warner und Wayne Allard vorgebrachten Begründungen, als sie vor dem Kongress im Jahr 2000 ihr amendment zur Aufnahme von RNEP-Forschungen durchsetzen konnten.988 Die beschriebenen Zustände gelte es zu ändern, weil sie ernsthaft die – für das USSelbstverständnis außerordentlich wichtige – technologische Vorreiterschaft der Supermacht gefährdeten. Zudem sei Fortschritt auf diesem Gebiet kein Selbstzweck, vielmehr seien die Labors auch mit einer wesentlichen Funktion – nämlich mit der „national security mission“ – ausgestattet, weshalb eine eventuelle Rückständigkeit nicht verantwortet werden könne. Von Staaten, die keine unmittelbare Gefahr darstellen und die, wie „India, Pakistan, China, and Russia, have maintained or improved their nuclear weapon infrastructures and continued their nuclear weapon development programs, making great progress“, eventuell technologisch 985 986 987 988 S. Seite 226 der Arbeit. S. Weisman, Jonathan 2002: Nuclear Arms Scientists may lack „sense of mission“, in: USA Today, 18.03.2002. Das 1994 gegründete Programm sollte mittels umfangreicher Experimente Nukleartests ersetzen. S. ausführlich: Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFKReport 3/2003, S. 27. Bericht von: Pincus, Walter 2000: Senate Bill Requires Study of New Nuclear Weapon, in: Washington Post, 12.06.2000. Der Präsident des Center for Security Policy begrüßte die NPR, beinhalte sie doch auch ein „restoring the critically important nuclear industrial base “, s. Gaffney Jr., Frank 2004: Global test … nuclear nonsense, in: Washington Times, 05.10.2004; siehe des Weiteren: Robbins, Carla Anne 2005: U.S. Weighs Whether to Build Some New Nuclear Warheads, in: Wall Street Journal, 14.12.2005. – 262 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e überholt zu werden,989 sei nicht hinnehmbar, weshalb es gelte, ihren eventuell erzielten Vorsprung in jedem Fall auszubauen, wie der Under Secretary of Energy for Nuclear Security Linton Brooks in einem an die drei Labordirektoren gerichteten Memo anlässlich der Teststoppbeendigung erklärte: „We must take advantage of this opportunity to ensure that we close any gaps that may have opened this past decade in our understanding of the possible military applications of atomic energy – no novel nuclear weapons concept developed by any other nation should ever come as a technical surprise.“990 Insbesondere der von illegal nach Nuklearwaffen strebenden „Schurkenstaaten“ und Terroristen erzielte Fortschritt könne existenzbedrohlich werden. Wenn der Kongress nuklearen Forschungseinrichtungen, die nationale Sicherheit als „ihr Geschäft“ betrachten, und folglich alles täte, „to help our nation and allies detect, repel, defeat, or mitigate national security threats“,991 das Budget kürze, entstünden Zweifel, ob er tatsächlich bereit und in der Lage sei, seine „most important duty to the American people” zu erfüllen.992 Zudem hätten die USA ohnehin das Recht, die besten Technologien zu ihrer Verteidigung zu entwickeln.993 Dieses sicherheitspolitische Argument wurde des Weiteren durch allgemeinere, mit der Identität der USA assoziierte Hinweise auf die Freiheit der Forschung und der Wissenschaft, aber auch auf die Gedankenfreiheit untermauert, welche nicht mittels rechtlicher oder finanzieller Hürden gehemmt werden dürften: „[O]ur scientists should remain flexible (…) we should not have to have them worried all the time whether thinking about certain aspects of a nuclear weapon of the future is a violation of the law or not. They should be permitted to think about [a new weapon] – based upon what we have learned, what we know about both our friends and our enemies and war so far, and what people are creating in the world – they should be able to think and design and posture.“994 Senator Domenici pflichtete hier Energieminister Abraham bei, der einige Monate vorher kritisierte, die „Denkverbote“ für die Wissenschaft hätten nun lange genug bestanden und es 989 990 991 Z.B. Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy. A Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century. Brooks, Linton 2003: Memorandum to Pete Nanos, Director Los Alamos National Laboratory, Michael Anastasio, Director Lawrence Livermore National Laboratory, Paul C. Robinson, President Sandia National Laboratory, Subject: FY 2004 National Defense Authorization Act, 05.12.2003. Vollständiges Zitat aus der Selbstdarstellung des Sandia-Labors im Jahresbericht: „National Security is Our Business. Sandia National Laboratories applies advanced science and engineering to help our nation and allies detect, repel, defeat, or mitigate national security threats.“ Vgl. Sandia National Laboratories 2004: 992 993 994 Annual Report 2003-2004. S. hierzu das policy paper von Baker Spring: Anlässlich der im Oktober 2005 verkündeten Streichung des Postens bunker buster aus dem Haushalt, fordert der Heritage-Analyst den Kongress auf, sich mit nuklearen Realitäten auseinanderzusetzen, und zwecks Modernisierung den „ scientific and engineering communities “ die Freiheit zu geben, „to explore advanced concepts for strategic and nuclear forces“ und sämtliche Barrieren „to researching, developing, testing, and ultimately deploying new weapons” fallen zu lassen. Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy and Forces, „backgrounder” der Heritage Foundation , 28.10.2005. Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003. Pete Domenici in einer Senatssitzung, s. US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655, 15.09.2003, S. S11441. – 263 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e würde endlich Zeit, den „best thinkers“ der Nation zu ermöglichen, „to fully shift their focus from winning the Cold War to meeting new challenges “.995 Moralische Relativitäten „That is an easy term to throw around – a moral issue.” 996 In Abgrenzung zu denjenigen, die sich aufgrund moralischer Bedenken gegen eine Bewilligung der RNEP-Forschungsgelder aussprachen, argumentierte Senator Domenici, das über rechtliche und finanzielle Restriktionen erzwungene Verbot, darüber nachzudenken, was für die Zukunft der Vereinigten Staaten am besten sei, habe für ihn mehr moralische Implikationen und erschrecke ihn mehr als die Möglichkeit der Herstellung neuer Waffen (zumal diese gar nicht im Raum stünde). Dass die Frage der Moral sich in Verbindung mit Nuklearwaffen stellte und insbesondere von denjenigen aufgeworfen wurde, die um das nukleare Tabu fürchteten, ist nicht weiter verwunderlich, doch wie sind mini-nuke und bunker-buster-BefürworterInnen damit umgegangen? Der in Frage-Antwort-Form aufgebaute „Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century ” des Nuclear Strategy Forum verzichtete darauf, die selbst aufgeworfene Frage „Are nuclear weapons immoral? ” explizit zu verneinen resp. zu bejahen, und führte stattdessen aus, dass während des Kalten Krieges häufig argumentiert worden sei, Nuklearwaffen seien mit der jüdisch-christlichen Tradition ebenso wenig vereinbar wie mit der Theorie des Gerechten Krieges – diese Begründung sei der Eskalationsgefahr zwischen den beiden damaligen Supermächten geschuldet und den hohen anzunehmenden Verlusten in der Zivilbevölkerung, da von beiden Seiten Städte zum Ziel von Nuklearangriffen gewählt worden wären. Nach der Feststellung, dass diese Situation nicht mehr aktuell sei, erinnerten die Autoren daran, dass die Atombombenabwürfe auf Hiroshima auf Nagasaki erstens den Zweiten Weltkrieg beendet hätten und dabei einer halben Million eigener Soldaten sowie doppelt so vielen japanischen Zivilisten das Leben gerettet hätten, weshalb auch heute noch die meisten US-AmerikanerInnen Trumans Entscheidung guthießen. Doch die Waffen hätten nicht nur Frieden geschaffen, sondern zudem mit ihrem Abschreckungspotential die nächsten 50 Jahre bewahren können – eine Fähigkeit, die ihnen auch unter neuen strategischen Bedingungen erhalten bleiben müsse.997 Diese zum Schluss des Absatzes zu „Nuklearwaffen und Moral“ geäußerte Auffassung, dass das Potential von Nuklearwaffen, für Frieden zu sorgen, nach wie vor grundsätzlich 995 996 997 Abraham, Spencer 2003: Facing a New Nuclear Reality, in: Washington Post, 21.07.2003 Replik des Senators Pete Domenici in einem hearing auf die Aussage der Senatorin Feinstein, die Entscheidung, ob man neue Nuklearwaffen baue oder nicht, sei eine moralische. S. US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655, 15.09.2003, S. S11447. Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy. A Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century, S. 10f. – 264 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e bestehe, fand sich in ähnlicher Form bei anderen VerteidigerInnen neuer taktischer Waffen.998 Allerdings würde das alte Nukleararsenal seinem moralischen Zweck nicht mehr gerecht, weil es seine abschreckende Wirkung 999 Forschungsprogramme erforderlich. verloren hätte, dies wiederum mache neue Während die strategischen Waffen aus dem Kalten Krieg nur als moralisch bezeichnet werden könnten, solange sie Kriege beendeten oder verhinderten, komme bei den an veränderten Anforderungen angepassten neuen Waffen ein zweiter Gesichtspunkt hinzu: So könnte die bestehende Tradition der Friedenssicherung mit ihnen nur dann fortgesetzt werden, wenn sie sich zur Abschreckung eigneten. Auch böten sie noch einen weiteren Vorteil gegenüber den „self-deterrent dirty bombs“, die wahllos vernichteten – sie sollten diskriminieren können. Über diese Eigenschaft verfügten bunker buster aus zwei Gründen: Sie seien a) präzise und b) strahlungs- bzw. niederschlagsarm, wobei letzteres sich durch ihre technologische Modernisierung bedinge. Diese ermögliche nämlich einerseits Tiefenexplosionen und verhindere auf diese Weise das Austreten des fallouts an die Oberfläche. Andererseits könne es gelingen, die absolute Menge des radioaktiven Niederschlages sowie seinen Verteilungsradius zu begrenzen.1000 Zu ihrer Präzision sollen im Rahmen der RMA erzielte Fortschritte beitragen, etwa, indem durch verbesserte Aufklärungskapazitäten die Lage der Ziele sicherer bestimmt werden soll, es aber auch möglich werde, Zielgenauigkeit und Treffsicherheit zu erhöhen. Somit entstehe eine neue Klasse von Nuklearwaffen, mit denen – konventionell unerreichbare – kriegswichtige Ziele wie die feindliche Führung, als Terroristenverstecke genutzte Felshöhlen, verbunkerte Munitionslager und Massenvernichtungswaffenlabors wie -depots zerstörbar würden.1001 Im 998 999 1000 1001 So ziehen z.B. Sokolsky/Rumer eine Analogie zur NATO-Ersteinsatzdoktrin (die einen Nuklearwaffeneinsatz gegen konventionelle Streitkräfte des Warschauer Pakts vorsah): Auch sie habe damals Empörung und Befürchtungen um die nukleare Schwelle ausgelöst, aber letztendlich den Frieden in Europa gesichert. Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002. Zu Änderungen der Abschreckungswirkung s. ausführlich S. 248 der Arbeit. Bspw. Spencer, Jack 2003: Congress’s Vital Role in Building a Strong National Defense, „backgrounder ” der Heritage Foundation, Juni 2003. Auch im Bericht des Defense Science Board (DSB) ist von „low-to no-fallout weapons“ die Rede: Solche „ low-fission-designs“ seien bereits entwickelt und getestet, würden jedoch noch nicht produziert. Diese vom DSB veröffentlichten Forschungsergebnisse wurden jedoch von der Brookings Institution für überaus zweifelhaft befunden: So seien die Bedingungen, unter denen die zitierten Testergebnisse ermittelt worden sind, nicht vergleichbar mit den reellen, weil der DSB erstens verschwiegen habe, dass die Eintrittslöcher der Testbomben anschließend sorgfältig versiegelt worden seien, was das Austreten der Radioaktivität in diesen Fällen natürlich verhindert bzw. reduziert habe, aber nach einem echten Einsatz wohl kaum zu bewerkstelligen wäre. Zweitens hänge es auch von der Beschaffenheit der durchdrungenen Oberfläche ab, inwiefern sie fallout tatsächlich zurückhalten kann – die Nevada-Felsen mit ihrem geringen Wassergehalt könnten vermutlich weitaus mehr abfangen als weniger wasserhaltige. S. Levi, Michael A. 2004: Dreaming of clean nukes. Can the Pentagon defend its plans for new nuclear bombs?, in: Nature 428/29, April 2004. Das Adjektiv „precise ” wurde in Verbindung mit low-yield nukes von der pro-Seite sehr häufig benutzt, während die Gegner darauf pochten, dass die Bunkerzerstörer keine „chirurgische“ Genauigkeit werden erreichen können und die intelligence-Möglichkeiten längst nicht so weit fortgeschritten seien wie behauptet (z.B. Cirincione: „ What if we’d detonated one on what we thought were weapons of mass destruction in Iraq? “). Ferner wird argumentiert, dass bestenfalls die Gebäude selbst, nicht jedoch die enthaltenen Agenzien vernichtet werden könnten und diese nach dem Angriff zusammen mit dem nuklearen Niederschlag die Umgebung verseuchen würden. Zudem würde es ausgesprochen schwierig – 265 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Gegensatz zu alten Waffen, deren erneuter Einsatz – wie in Japan – Abertausende unschuldige Menschenleben gekostet hätte, was sich einer moralischen Rechtfertigung entziehe, böten neue Waffen in bestimmten Situationen die einzige Chance, das Leben US-amerikanischer Soldaten und der eigenen, wie auch der sich auf dem angegriffenen Territorium befindenden, Zivilbevölkerung zu schützen.1002 Entscheidend ist auch, dass die Zerstörungskapazitäten von bunker busters – völlig konträr zu ihrer Bestimmung im Kalten Krieg – in erster Linie an Objekten und nicht an Personen ausgerichtet werden. Der besondere Wert der neuen Nuklearwaffen, bemesse sich demnach daran, „how little [damage to the opponent’s society is threatened]“ (weil ihr Einsatz dadurch glaubwürdiger würde), wohingegen die Cold-War-nukes mit steigender Zerstörungskraft immer wertvoller geworden waren: Die Umkehrung der Gleichung „je unmoralischer, desto abschreckender“ in „je moralischer, desto abschreckender“ bedeute, dass „moral considerations and the efficacy of deterrence may now merge.“ 1003 Die moralische Dimension kommt auch in Argumenten, die sich nicht auf die Waffenmerkmale beziehen, zum Tragen: So wurde z.B. der damalige Bush-Herausforderer John Kerry aufgrund seiner Ankündigung, im Falle seines Sieges die neuen Waffenprogramme sofort zu stoppen, da man nicht einerseits Nicht-Proliferations-Forderungen stellen und andererseits selbst einsatzfähige Waffen entwickeln wollen könne, scharf angegriffen. Mit solchen Aussagen demonstriere er sein Misstrauen gegenüber der militärischen Stärke und der moralischen Führungskraft seines eigenen Landes und lege im Übrigen nahe, dass die Moral der Vereinigten Staaten vergleichbar mit der ihrer Feinde sei – solch eine „moral equivalency rhetoric“ beweise nur, dass er „apparently cannot tell the difference between totalitarian and radical regimes, and democratic governments.“1004 Wer wie Kerry glaube, dass die USA ein (schlechtes) Vorbild für die Regierungen in Pjöngjang und Teheran darstellen könnten, ginge an dieser Stelle fälschlicherweise von ähnlichen Handlungsmotivationen aus; im Zusammenhang mit Nuklearwaffen könne man hingegen nicht für alle gleiche Maßstäbe anlegen, denn dies ignoriere die Tatsache, das „the problem isn’t the weapons themselves but 1002 1003 1004 werden, nach einem solchen Angriff Informationen aus der betroffenen Region zu beziehen, da man eigene (Aufklärungs-)Streitkräfte zu ihrem Schutz werde abziehen müssen. S. Kristof, Nicholas D. 2003: Flirting With Disaster, in: New York Times, 14.02.2003, Tauscher, Ellen 2003: Reinventing the arms race, Leserbrief der kalifornischen Abgeordneten, in: Washington Post, 26.07.2003, Joseph Cirincione vom Carnegie Endowment for International Peace zitiert in: Crowley, Michael 2003: The 3rd Annual Year in Ideas; Bite-Size Nukes, in: New York Times, 14.12.2003. Die technische Machbarkeit und die positiven Folgen solcher Waffen wurden vom National Research Council bezweifelt, aber auch von prominenten RNEP-Skeptikern wie dem Princeton-Physiker Robert W. Nelson immer wieder bestritten. S. eine Auswahl seiner Publikationen zu diesem Thema: Nelson, Robert W. 2001: Low-Yield Earth-Penetrating Nuclear Weapons, in: Journal of the Federation of American Scientists, 54:1, S. 1-5; Nelson, Robert W. 2003: Nuclear Bunker Busters, Mini Nukes, and the US Nuclear Stockpile, in: Physics Today 56:11, S. 32-37 sowie Nelson, Robert W. 2004: Nuclear ‚Bunker Busters’ would more likely disperse than destroy buried stockpiles of biological and chemical agents, in: Science and Global Security 12, S. 69-89. Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 144. Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004. – 266 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e who has them“ 1005 – ein Argument, das im Einklang mit der Vorstellung der alleinigen Kontrolle des Totems durch die high priests steht. Ferner wurde die polemische Unterstellung erhoben, der demokratische Präsidentschaftskandidat interessiere sich offensichtlich mehr für das Leben der Terroristen als für das seiner eigenen Soldaten, denn einerseits lasse er ersteren die Möglichkeit, sich unerreichbar in Höhlen und Bunkern zu verstecken andererseits „would [he] rather sacrifice our troops, than change his politically correct view of nuclear weapons“.1006 Die Polemik dieses Zitates und die vorangestellten Ausführungen unterstreichen nur allzu deutlich die Abwertung tabukonformer, moralisch begründeter Positionen als hohle und unreflektierte, lediglich um politische Korrektheit bemühte Lippenbekenntnisse. Auch andere Kommentatoren betonten, dass der Schutz nationaler Sicherheit und amerikanischer Menschenleben oberste Priorität habe und griffen dabei gerne auf das sogenannte ticking-bomb-scenario zurück: „Suppose, for example, that the United States had just suffered the loss of 100,000 lives in a biological warfare attack, that it not only knew the identity of the rogue state attacker but also had reliable intelligence it was preparing additional attacks on U.S. territory – and that these weapons could be destroyed only with nuclear weapons. Under these conditions, why shouldn’t the president have the option of limiting further American deaths?“1007 Während hier die Nuklearwaffen nach einem bereits erfolgten Angriff zum Einsatz kämen, um weitere Verluste zu verhindern, gibt es das Argument auch in einer preemptive-Version: „Imagine an enemy of the United States that has developed a chemical or biological weapon. Now imagine that we knew conclusively its precise production and storage locations. However, because our enemy has studied us and has learned our capabilities and our vulnerabilities, he has located the facility two stories deeper than any weapon in our arsenal can penetrate. The president would be told that we know what it is and where it is but that we have no capability to stop it.“1008 Dieser Rechtfertigung potentieller Nuklearschläge in ausweglosen Situationen (der Selbstverteidigung) unter Rückgriff auf das moralische Prinzip der ultima ratio konnte von GegnerInnen neuer Waffen kaum etwas entgegengesetzt werden; die sonst in solchen Fällen gern bezogene Position, anhand von derartig konstruierten Extrembeispielen könne man keine Regeln aufstellen, wurde spätestens nach „9-11“ kaum noch vertretbar, ist hier doch in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden, dass Extrembeispiele noch an „Extremität“ überboten werden können, wenn sie denn wahr werden. Zusätzlich zum in ticking-bomb-Situationen greifenden ultima-ratio-Prinzip und der oben bereits erläuterten Fähigkeit, dem Diskriminierungs gebot zu genügen, stellte die Verhältnismäßigkeit den dritten moralischen Grundsatz dar, der als Argument für die 1005 1006 1007 1008 Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths. Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004. Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002. Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003. – 267 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Entwicklung neuer Waffen verwendet wurde – so würden sie insbesondere mit dem Ziel, diese Anforderung erfüllen zu können, benötigt: „As with the use of other weapons, nuclear weapons may be used only under circumstances in which it is necessary to achieve legitimate military objectives and ensure military advantage. Inherit in this limitation is the principle of proportionality, which seeks to limit unnecessary suffering and protect noncombatants. The implication of this limitation for Congress is that the U.S. needs to modernize its nuclear arsenal in a way that precisely meets U.S. military objectives in today’s world.“1009 Während moralische Eigenschaften neuer Waffen recht prominent diskutiert wurden, kam ihr Rechtsstatus kaum zur Sprache – das Ausbleiben eines umfassenden Rechtsdiskurses ist im Zusammenhang mit dieser nicht-kodifizierten Norm jedoch nicht weiter verwunderlich.1010 Eine Ausnahme bildeten die Chiefs of Staff, die in ihrer Doktrin aus dem Jahr 2005 ausdrücklich feststellten, dass, obgleich die mit Nuklearwaffen kämpfende Kriegspartei mit einer weltweiten Verurteilung zu rechnen habe, unter Einhaltung der genannten Prinzipien nichtsdestotrotz „no customary or conventional international law prohibits nations from employing nuclear weapons in armed conflict.“1011 Die Heritage Foundation formulierte es, auf diese Erklärung bezugnehmend, positiv: „The Law of Armed Conflict permits the use of nuclear weapons in war.“1012 6.2.4 Empiriefazit: Erfolgreiche Herausforderung des nuklearen Tabus und seine naive Verteidigung „This was probably the most important taboo in the history of warfare“ 1013 Bevor ich mich zusammenfassend der Frage zuwende, wie die Erosion des Tabus, das wohl eines der wichtigsten Tabus in der Geschichte des Krieges – und für die Menschheit vermutlich überlebenswichtig – war, möglich geworden ist, sollen zuerst einige Überlegungen dazu erfolgen, wie stark dieser Prozess bereits fortgeschritten ist. Dies wird entlang der Erosionskriterien geschehen, die am Schluss des Kapitels zum Wesen und zur Entstehung der Norm formuliert wurden (s. S. 143) und im Folgenden reflektiert werden: Konventionalisierung: Dass die Bush-Administration eine (bewusste?) Strategie der 1009 1010 1011 1012 1013 Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy and Forces, „backgrounder” der Heritage Foundation , 28.10.2005. Die rechtliche Position der USA zu Nuklearwaffen vergleicht der NYT-Kommentator Keller mit einem Aufkleber der National Riffle Organization (einer Vereinigung, die sich für das Recht auf Waffenbesitz einsetzt): „The logic at times resembles the tautology of an N.R.A. bumper sticker: If nukes are outlawed, only outlaws will have nukes.“ Keller, Bill 2003: The Thinkable, in: New York Times, 04.05.2003. Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005. Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy and Forces, backgrounder der Heritage Foundation, 28.10.2005. Siehe zu diesem Thema auch: Eviatar, Daphne 2003: Civilian Toll: A Moral and Legal Bog, in: New York Times, 22.03.2003. Diese Position hatten die Vereinigten Staaten schon 1996 im Zusammenhang mit dem Urteil des IGH eingenommen, s. S. 126 der Arbeit. Der Direktor des Henry L. Stimson Center, Michael Krepton, zitiert in: Schmemann, Serge 2003: Nuclear War Strategists Rethink the Unthinkable, in: New York Times, 19.01.2003. – 268 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e conventionalization verfolgt, wird primär an der nuklearen Triade ersichtlich, in der nukleare wie konventionelle Waffen einen gemeinsamen Eckpunkt als „active and passive defenses“ bilden und in deren Rahmen bei Bedarf ein Zusammenspiel beider Waffentypen in militärischen Operationen vorgesehen wird. Ferner wird die klare Linie zwischen den Waffengattungen verwischt, indem konventionelle Waffen mit nuklearen Elementen aufgerüstet werden (so bauen z.B. RNEP-Studien auf Forschungen zu nicht-nuklearen Earth Penetrating Weapons (EPW) auf) und potentielle nukleare Einsätze wiederum stark durch neue, im Rahmen der Revolution in Military Affairs entwickelte Technologien unterstützt werden sollen. Aufhebung der absoluten Ächtung : Ein zentraler Bestandteil des nuklearen Tabus ist die Annahme, dass es klare Unterschiede zwischen nuklearen und konventionellen Waffen gibt und nukleare Waffen als Gattung , d.h. unabhängig von ihrer Größe, Sprengkraft oder Einsatzfähigkeit totemisiert und tabuisiert werden. Im Diskurs der letzten Jahre geht mit der Konventionalisierung eine (partielle) Ent-totemisierung einher, zwar wird immer noch begründungslos bekräftigt, dass man die Unterschiede zwischen nuklearen und nichtnuklearen Kampfmitteln anerkenne, jedoch wird gleichzeitig auch innerhalb des nuklearen Bestandes differenziert, was zu einer Verschiebung der bright line führt: So stehen sich nicht mehr konventionelle und nukleare Waffen gegenüber, sondern die alten, großen, dreckigen, wahllos zerstörenden und deshalb inhumanen Nuklearbomben des Kalten Krieges und die neuen, kleinen, sauberen, diskriminierenden und eben deshalb moralisch weniger bedenklichen Waffen der Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Stigma soll hiermit nur auf einen Teil der nuklearen Gattung beschränkt werden – wenn man bedenkt, dass gerade dieser Teil zukünftig abgerüstet werden soll und zugleich beabsichtigt wird, den Großteil des Arsenals aus neuen Waffen (sofern es tatsächlich zu ihrer Entwicklung und Produktion kommt) zu bilden, liegt die Annahme nahe, dass nicht nur die absolute Ächtung ein Ende nehmen wird, sondern die Ächtung von Nuklearwaffen insgesamt. Begründungen für die Gültigkeit der Norm: Auffällig ist, dass der Begriff „nukleares Tabu“ nur von denjenigen verwendet wurde, die um seine Existenz fürchteten, bei seinen Herausforderern fehlten solche expliziten Referenzen. Die Debatte dreht sich weniger darum, ob man das Tabu noch einhalten sollte, sondern vielmehr um die Frage, ob dies noch getan wird: Hierbei behaupten KritikerInnen der Regierungspläne, das Tabu sei in Gefahr, die Regierung dementiert ihrerseits, dass die Bereitschaft, die nukleare Schwelle zu überschreiten, sich erhöht habe. Der Einzigartigkeit von Nuklearwaffen wird ebenfalls deklaratorische Anerkennung gezollt – etwa, indem betont wird, dass man sich ihrer Besonderheit bewusst sei und indem niemand eine Begründung ihres Sonderstatus fordert. Zugleich wird diese besondere Kategorie, wie eben beschrieben, diskursiv und technisch aufgeweicht. Daneben werden die Einsetzbarkeit einiger Waffen dieser Kategorie rechtfertigende Argumentationen ins Feld geführt, was wiederum Gegenargumente notwendig werden lässt. Auch unter Rekurs auf die entsprechend konstruierten ticking-bomb-Szenarien werden sehr wohl – ausgesprochen schwer zu liefernde – Begründungen dafür eingefordert, warum man in diesen speziellen – 269 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Fällen nicht zu einer nuklearen Verteidigung oder gar zu Präemptivschlägen greifen könne bzw. aussichtsreiche und durchführbare Alternativen hierfür verlangt. Analog zum besonderen Status der Nuklearwaffen findet des Weiteren hinsichtlich der Einsätze keine abstrakte Diskussion darüber statt, ob sie moralisch verwerflich bzw. völkerrechtswidrig seien – der Rechtshinweis der Chiefs of Staff bleibt eine Ausnahme und zieht keine weiteren (Rechts-)Meinungen nach sich, und somit auch keinen Widerspruch seitens der TabubefürworterInnen, die es versäumt haben, ihre Position durch völkerrechtliche Hinweise zu untermauern. Ausweitung nuklearer Einsatzoptionen: Selbst wenn man die Androhung einer nuklearen Reaktion auch auf mit biologischen und chemischen Waffen ausgeführte Angriffe immer noch als modifizierte Fortsetzung der Zweitschlagsdoktrin (Zweitschläge infolge vom WMDEinsätzen) begreifen will, nimmt die reine Zweitschlagpolitik spätestens mit der preemptivestrike -Doktrin ein Ende, wobei bereits in der NPR eine Reihe von Situationen bestimmt wurde, in denen Nuklearwaffen Verwendung finden könnten. Obwohl in diesem Zusammenhang immer wieder beteuert wird, der Status als „weapons of last resort“ bleibe erhalten, so ist dennoch eine Änderung gegenüber dem vorherigen Verständnis zu verzeichnen: Während Nuklearwaffen im Kalten Krieg in nur zwei Fällen (nach einem erfolgten nuklearen Erstschlag und/oder zur Sicherung der Existenz des Landes) als letzte Alternative in Frage kamen, bleiben sie heute zwar immer noch ultima ratio, wenn der Einsatz anderer Mittel aussichtslos erscheint, aber diese Option wird nun auch in Situationen vorgesehen, die eben nicht existenzbedrohlich sind. Entscheidend für das nukleare Tabu wird somit nicht die Frage, ob diese Waffen noch als letzte Chance gesehen werden, sondern wann und unter welchen Umständen sie in Erwägung gezogen werden – letzteres ist unübersehbar immer häufiger der Fall.1014 Die Analyse der Nukleardebatte hat jedoch nicht nur Erosionsanzeichen deutlich werden lassen, sondern gleichzeitig gezeigt, wie stark die Wirkung des nuklearen Tabus immer noch ist: Bei seinen VerteidigerInnen wirkt es eindeutig konstitutiv – mit Ausdrücken wie „Apokalypse“, „undenkbar“ und „nuklearer Holocaust“ verwendeten sie einerseits das tabutypische Vokabular, andererseits zollen sie auch der US-amerikanischen Identität Tribut, im Rahmen derer man die Nicht-Einsatz-Tradition nicht brechen sowie die Moral der rogues übernehmen könne. Doch auch bei ihren Herausforderern/Herausforderinnen greift die Norm zumindest instrumentell: Obwohl sie dem Tabu zuwiderlaufende Strategien anwenden, scheinen sie nichtsdestotrotz ihre Absichten (größtenteils) nicht offen formulieren zu können, selbst wenn sie durch die empfundenen Einschränkungen in Widersprüche geraten. Besonders prägnant kam dieses Problem in Verbindung mit der NPR zum Ausdruck: Erst wurden ihre Inhalte unter Verschluss gehalten, was darauf schließen lässt, dass ihre Brisanz der 1014 Ein fiktives Beispiel zur Verdeutlichung, warum der immer wieder angebrachte „weapons-of-last-resort“Hinweis wenig aussagekräftig ist: Wenn man ein Land dazu bewegen wollte, seine Zollschranken zu senken, und nach dem Scheitern aller diplomatischen Versuche nukleare Drohungen aussprechen würde, so wäre auch in diesem Fall die Argumentation möglich, Nuklearwaffen seien eine „last-resort-option“, weil alle anderen Alternativen, um das Ziel zu erreichen, ausgeschöpft seien. – 270 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Administration durchaus bewusst war. Nachdem dies misslungen war, hat die Regierung – auch mit Blick ins Ausland – versucht, ihre Pläne zu verharmlosen, indem sie einerseits davor warnte „den paar Ideen“ zu viel Gewicht beizumessen und die Bedeutung des Dokuments herunterspielte. Colin Powells Befürchtung, die Pläne könnten „get the international community upset“,1015 aber auch weitere Erwähnungen internationaler Reaktionen, offenbaren nicht nur wiederholt den universellen Charakter der non-use-Norm, sondern auch das Bestreben der US-Regierung, trotz ihres Umganges mit eben dieser, nicht die Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen. Wohl ebenfalls, um die Situation zu entschärfen, versuchten Mitglieder des Kabinetts andererseits, ein framing der NPR als Abschreckungsdokument nach alter Tradition zu kreieren. Die letzte Behauptung ist im Rahmen der Abschreckungslogik in zweifacher Hinsicht paradox: Erstens kann eine Drohung nur dann abschrecken, wenn sie bekannt ist – hier wurde sie jedoch geheim gehalten. Zweitens kann eine Drohung nur dann abschrecken, wenn sie glaubwürdig ist – eben diese Glaubwürdigkeit hat die Regierung mit ihren Warnungen, man solle das Dokument doch bitte nicht allzu ernst nehmen, konterkariert. Es hat sich jedoch auch gezeigt, wie sich die instrumentellen constraints schon nach den ersten Tagen lockerten: Zwar hielt sich die Administration im Vergleich zu anderen Akteuren bedeckt, jedoch gab es außerhalb der Regierungskreise nicht wenige sehr offensive normbezogene Standpunkte, die nukleare Einsatzforderungen zugegebenermaßen im Regelfall nicht offen formulierten, diese allerdings zumindest suggerierten oder die Möglichkeiten nuklearer Verwendung perspektivisch eröffneten – ihre Argumentationen zeigen unmissverständlich, dass mit Nuklearwaffen durchgeführte Kriegsoperationen inzwischen alles andere als unthinkable waren. Unbeabsichtigte Debatte – wer verschuldete die Erosion? Obwohl ein Regierungspapier zum Anlass der Debatte wurde, scheint es aus mehreren Gründen schwierig, die Erosion des nuklearen Tabus als einen klassischen top-down-Prozess zu betrachten. Das Dokument bringt zwar zum Ausdruck, dass das nukleare Einsatzverbot in der Administration selbst keineswegs (mehr) als internalisierte Norm gelten konnte, dennoch ist es schwierig, der Regierung eine breite Erosionsabsicht zu unterstellen, weil nicht bekannt ist, ob eine Veröffentlichung der NPR (eventuell zu einem späteren Zeitpunkt) geplant war.1016 1015 1016 CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002. Ob das gelegentlich laut gewordene Argument, die Regierung reagiere nicht auf Bedrohungen, sondern nutze sie, um neue Waffenentwicklungen zu legitimieren (und damit die Erosion voranzutreiben), zutrifft, ist schwer zu beurteilen, genauso wenig, ob neue Feinde „tatsächlich“ auf den Plan traten, oder „gesucht“ worden sind. Für das Argument, die Regierung suche nach Einsatzmöglichkeiten siehe: Richter, Paul 2002: „U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“, in: Los Angeles Times, 09.03.2002, für die Bedrohungskonstruktion siehe Rosenfeld, Stephen S. 1996: The Menace of Rogue States, in: Washington Post, 07.06.1996, Mufson, Steven 2000: Threat of „Rogue” States: Is It Reality or Rhetoric?, in: Washington Post, 29.05.2000. – 271 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Letzteres erscheint eher unwahrscheinlich, da erstens die unter Clinton angefertigte review ebenfalls geheim blieb und das Pentagon sich zweitens nur gezwungenermaßen auf die Diskussionen einließ – das Durchsickern der NPR scheint auf Regierungsseite nicht als ein willkommenes window of opportunity zur Beseitigung des nuklearen Tabus wahrgenommen worden zu sein. Fast paradox – und tragisch – erscheint, dass das window of opportunity gerade von denjenigen Akteuren „geöffnet“ und „offen gehalten“ wurde, die das nukleare Tabu schützen wollten und die Pläne der Administration als skandalös empfanden. Durch ihre rege Beteiligung an der Auseinandersetzung und ihr Einlassen auf rationale (Effektivitäts-) Argumentationen haben sie einen Fortgang der Diskussion gesichert und sind damit unfreiwillig selbst zu entrepreneurs der Erosion geworden. Das Bestreben, das Handeln der Politik in einem derart wichtigen, ja essentiellen Bereich zu thematisieren, kritisch zu hinterfragen und ggf. hierdurch den politischen Entscheidungsspielraum zu begrenzen, ist sicherlich unschwer nachzuvollziehen; allerdings sind hierin zweierlei mögliche Implikationen im Hinblick auf die Funktionsweise von Tabus enthalten: Erstens ist es denkbar, dass die tabubefürwortenden DiskursteilnehmerInnen tatsächlich im – tabugemäßen – Schock über von der Regierung geplante Tabubrüche in shaming -Form affektiv reagiert haben, ohne die Folgen ihrer Reaktionen zu bedenken bzw. sich der Tatsache bewusst zu sein, damit eventuell das Tabu zu gefährden.1017 Doch auch wenn sie sich, zweitens, darüber im Klaren waren, dass die Debatte eine Gefahr für das Tabu darstellen könnte, haben sie anscheinend das Risiko unterschätzt und wahrscheinlich darauf gehofft, dass der durch die Skandalisierung aufgebaute öffentliche Druck, wie schon 1993 nach dem Bekanntwerden der mini-nuke-Studien, die Regierung dazu bewegen würde, von ihren Plänen abzurücken. Zwar blieb die hiermit geschaffene Gelegenheit von der Regierung zunächst ungenutzt, jedoch haben vor allem StrategInnen unterschiedlicher policy-Institute wie auch die Direktoren der Nationallabors sehr wohl die Chance erkannt, eine sich ankündigende nuklearstrategische Wende zu unterstützen. Ob sie die Norm vorher internalisiert hatten und hier tatsächlich ein Einstellungswandel hinsichtlich der Gültigkeit der Norm stattgefunden hat, ist schwer zu beurteilen, da zum Einen davon ausgegangen werden kann, dass solche Akteure, aufgrund der unbestrittenen Stärke des nuklearen Tabus in den Jahren vor der Erosion, selbst dann zumindest instrumentelle compliance an den Tag gelegt hätten, wenn sie es auch nicht (uneingeschränkt) teilten. Entscheidend ist, dass sie nun überhaupt öffentlich normkritische Standpunkte einnehmen konnten, denn letzteres deutet darauf hin, dass sie die Gültigkeit des Tabus auch bei anderen Akteuren bereits als geschwächt betrachteten oder zumindest meinten, das Potential zu erkennen, dieses diskursiv zu unterlaufen, ohne mit hohen politischen Kosten rechnen zu müssen. 1017 Solch einen Schockzustand erachte ich bei William Arkin, der mit der NPR bereits das zweite Dokument aufdeckte, das die Entwicklung neuer Nuklearwaffen vorsah, als sehr unwahrscheinlich. Er hat vielmehr schon vor 2002 des Öfteren alarmierende Artikel zu diesem Thema verfasst und den Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit beklagt, erst mit der NPR ist es ihm jedoch gelungen, tatsächlich eine breite nuklearstrategische Debatte auszulösen und das bislang verdeckte Handeln der Regierung mit der Öffentlichkeit zu konfrontieren. – 272 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Neue Rationalität, neue zweitschlagsunfähige Feinde Angemessenheit: fortschrittliche Technik und Hiermit lagen sie, wie gesehen, nicht falsch: Nachdem die NormbefürworterInnen, wenn auch ungewollt, das Tabu zur Disposition gestellt hatten und gegen ihre Positionen seitens der norm challengers Einwände formuliert worden waren, sahen sie sich gezwungen, sich auf einen argumentativen Austausch einzulassen und tatsächlich Begründungen gegen nukleare Einsätze zu liefern. Ab dem Punkt, an dem die Tabuherausforderer bzw. Tabuherausforderinnen die unbedingte Grausamkeit und Amoralität von Nuklearwaffen mit unterschiedlichen Argumenten und konstruierten Entscheidungssituationen infragegestellt hatten, hatten tabuschützende Argumentationsweisen, wie „Nuklearwaffen sind einfach grausam und unmoralisch“ nicht mehr überzeugt, sondern mussten durch Argumente gestützt vorgebracht werden. Während die eine Seite also glaubte, das Tabu argumentativ zu verteidigen, hat genau diese Rationalisierung des Diskurses das Tabu in zweifacher Hinsicht zusätzlich geschwächt: Erstens, weil sich auch diejenigen, die weiterhin für ein Einsatzverbot eintraten, gezwungenermaßen mit unterschiedlichen Einsatzszenarien auseinandersetzen mussten und sie nicht mehr, wie vorher, verdrängen konnten – z.B. mussten die Physiker, die Gegenstudien zum RNEP anfertigten, einem nuklearen Angriff Denkraum einräumen, um mögliche Opferzahlen, die Menge des radioaktiven Niederschlages sowie der Strahlung und die Eindringtiefe kalkulieren zu können, dieser musste für sie also thinkable werden. Zweitens sind Begründungen nicht Effektivitätsgesichtspunkten immun gegen argumentiert und Einwände, entsprechend wer folglich behauptet, dass mit eine Nuklearwaffe nicht eingesetzt werden darf, weil sie ihr Ziel gar nicht zerstören kann, den Tod von untragbar vielen Unschuldigen verursachen sowie die Umgebung auf unbestimmte Zeit radioaktiv verseuchen wird, bietet der Gegenseite mehrere Angriffspunkte, deren Widerlegung der behaupteten Grausamkeit nuklearer Einsätze die Grundlage entziehen könnte. Ebendies ist durch den – vermeintlichen, tatsächlichen oder erhofften – technischen Fortschritt möglich geworden, denn dieser bietet ein „Aber“ auf die anti-nuke -Position, indem er entscheidende Veränderungen an der grausamen Natur der Waffen verspricht: Sie werden gegen militärische Ziele sehr wohl „tödlich“ und verbreiten wenig fallout, bei gleichzeitiger Schonung der gegnerischen und bei Rettung der eigenen Zivilbevölkerung. Obwohl die Technik heute noch nicht dazu in der Lage zu sein scheint und das Grausamkeitsargument somit noch Gültigkeit besitzt, wäre durch neue Forschungen dennoch Tor und Tür geöffnet, die Behauptung, Nuklearwaffen seinen grausam, in Zukunft auf genau diese Art und Weise zu widerlegen. Wenn die Verhältnismäßigkeit hergestellt und die Diskriminierungsfähigkeit gewährleistet werden kann, werden zwei gegen Nuklearwaffen sprechende Hauptargumente ausgehebelt – nukleare Einsätze zum Schutz von Menschenleben können auf diese Weise als angemessenes Handeln profiliert werden. Neben der Beseitigung der Auffassung, dass Nuklearwaffen inhuman sind, wird ein zweiter Kernbestandteil des Tabus vor eine mehrfache Herausforderung gestellt, nämlich die – 273 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e apokalyptischen Assoziationen. Nicht nur, dass das Grauen der Atombombenabwürfe im Laufe der Zeit ohnehin in Vergessenheit gerät1018 – das Ende des Kalten Krieges und damit das Ende der permanenten Bedrohung hat diese Entwicklung zusätzlich beschleunigt, indem Nuklearwaffen im öffentlichen Bewusstsein eine Marginalisierung erfahren haben. Die gefürchteten apokalyptischen Konsequenzen eines Nuklearschlages sind ohne einen gleichwertigen nuklearen Gegner eher unwahrscheinlich, auch das inhumane counter-citytargeting scheint ein Ende zu nehmen. Gleichzeitig treten mit Terroristen (vermeintlich) neue Akteure auf den Plan, die erstens die Angst vor der Apokalypse – ganz ohne Nuklearwaffen – erwecken und zweitens kaum in der Lage sein werden, auf einen Nuklearschlag mit einem ebensolchen zu reagieren. Durch diese Veränderungen verliert das Argument, man könne keine Nuklearwaffen einsetzen, weil dies – aufgrund der Eskalationsgefahr und der zugesicherten Vernichtung – in eine Apokalypse münden würde, ebenfalls schlagartig an Gewicht. Vielmehr eröffnet sich hier der Raum für die Argumentation, man könnte gerade mit Nuklearwaffen die Apokalypse verhindern, ohne die Gefahr einer sofortigen Vergeltung zu provozieren.1019 Während also früher galt, dass der Nicht-Einsatz von Nuklearwaffen vor Krieg schützte, gilt nun, dass der Einsatz von Nuklearwaffen im Krieg schützen soll. Das Tabu zerstört sich selbst Solange es der Supermacht gelungen war, das nukleare Tabu bei gleichzeitiger permanenter Androhung seines Bruches aufrechtzuerhalten, die vom ebenfalls nuklear gerüsteten Gegner für glaubwürdig befunden wurde, solange hat das nukleare Tabu die Sicherheit des Landes geschützt – die auf deklaratorischer Ebene stets proklamierte Denkbarkeit der Überschreitung hat somit verhindert, dass das starke Tabu zu stark wurde. Nach dem Kalten Krieg wurde es zum Einen obsolet, ständige nukleare Einsatzbereitschaft zu signalisieren. Im Gegensatz zur vorherigen, jahrzehntelangen Instrumentalisierung und Gefährdung von Millionen ZivilistInnen aus sicherheitspolitischen Gründen ist zum Anderen im „Zeitalter der Menschenrechte“ die Verhinderung von Kollateralschäden in militärischen Konflikten zu einem bedeutenden Ziel der Vereinigten Staaten erklärt worden. Doch gerade die Identität der USA als einer Demokratie, für die der Schutz von eigenen und (zivilen) fremden Menschenleben oberste Priorität hat und für die, wie für andere „zivilisierte“ Staaten auch, das nukleare Tabu zum Bestandteil dieser Identität gehört, wird nun als sicherheitsrelevanter, ja sicherheitsgefährdender Faktor wahrgenommen, wie in der Debatte deutlich wird. Dies hat zwei Gründe: Erstens sieht man durch die neuen Akteure, die der Supermacht als Hauptfeind und dem westlichen System als Ganzes den Krieg erklärt haben, die eigene Identität 1018 1019 Siehe hierzu auch: Quester, George H. 2005: If the nuclear taboo gets broken, in: Naval War College Review 58:2, S. 71-91, S. 80. Man bedenke an dieser Stelle die unterschiedlichen Ausmaße der als apokalyptisch dargestellten Szenarien: Während im Kalten Krieg sich das Überleben der gesamten Nation oder gar der Menschheit permanent bedroht war, erscheint nun „nur“ ein Anschlag mit einer „dirty bomb“ im Zentrum einer Metropole als genauso grauenerregend. – 274 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e herausgefordert und das Leben der eigenen Bevölkerung in unmittelbar drohender, unbekannter Gefahr. Zweitens wisse der Feind um diese Identität, was zufolge habe, dass die neuen Gegner sich nicht durch alte Waffen abschrecken lassen, weil ihnen klar sei, dass die Vereinigten Staaten sie, aus Rücksicht auf die zivilen Opfer, niemals einsetzen würden – dieses Argument hat als eine der wichtigsten Begründungen für die Entwicklung neuer, einsetzbarer Waffen gedient. Die Stärke des nuklearen Tabus wird an diesem Punkt zu seiner Achillesferse: Da eine derart starke Norm das eigene Überleben zu gefährden scheint, müssen dringend Möglichkeiten geschaffen werden, sich selbst zu schützen – die Schwächung des nuklearen Tabus wird hierbei zu einem zentralen Moment und nicht etwa „bloß“ gezwungenermaßen in Kauf genommen. Ferner kommt im Diskurs die US-amerikanische Identität als „nukleare Priester“ wiederholt zum Ausdruck: Nicht nur, dass eine scharfe moralische Trennlinie zwischen ihnen als legitimen, über einen moralischen Führungsanspruch verfügenden Haves, die Nuklearwaffen nur zu höheren Zwecken besitzen sowie einsetzen würden, und den illegale nukleare Aspirationen an den Tag legenden wannabe-Haves, für die Nuklearwaffen (wie andere WMD auch) vor allen Dingen ein Mittel zum „mass murder” seien, gezogen wird. Proliferationsverhinderung wird vor diesem Hintergrund erstens zu einem der Hauptziele USamerikanischer Sicherheitspolitik, zweitens sehen sich die USA als den weltweit wichtigsten non-proliferator: Das Einsatzverbot nimmt gegenüber diesem Anspruch sowie der Verantwortung, sich und die Verbündeten durch Nichtverbreitung zu schützen, an Bedeutung ab – um die Zahl der „Hohepriester“ konstant zu halten, müssen Totemgegenstände in Hand der unberechtigten anderen notfalls mithilfe des eigenen Totems zerstört werden. Ebenfalls mit der eigenen nuklearen Sonderstellung hängt wohl auch die Inanspruchnahme der Definitionshoheit über die nukleare Hemmschwelle zusammen – sie hat sich in erster Linie in den USA herausgebildet und kann dementsprechend hier neujustiert werden. Während ein Teil der am „Manhattan-Projekt“ beteiligten Physiker einst durch seine offene Verzweiflung über die Folgen der eigenen Innovation zur Entstehung des nuklearen Tabus beitrug, haben ihre heutigen Nachfolger eine nicht unwesentliche Rolle in seinem Erosionsprozess gespielt: Die „Hohepriester“ der Wissenschaft waren nicht nur beschäftigungslos geworden, sondern fürchteten auch ein Aussterben ihres „Standes“, weil das nukleare Totem an Bedeutung verloren hat – die Reaktivierung des Totems schien als ein naheliegender Weg aus der eigenen Überflüssigkeit. Dass die Wissenschaftler der National Laboratories wieder an Prestige gewinnen konnten, ist neben der sicherheitspolitischen Lage – wenn Nuklearwaffen neue Funktionen erhalten, ist es gleichbedeutend mit neuen Funktionen für die Nuklearelite – einem weiteren essentiellen Bestandteil der US-Identität geschuldet: dem Selbstverständnis als technologische Avantgarde. Es könne nicht hingenommen werden, dass die Position als nuklearer Schrittmacher durch den Progress anderer in Gefahr gerät, weshalb neue Forschungen im nuklearen Bereich geboten scheinen; während andere also nach dem Besitz des tabuisierten Totems als Ausdruck technologischer Macht streben, brechen die – 275 – Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e Priester die Einheit dieser Gattung auf und planen, ihr angehörige Waffen unterhalb der Tabuschwelle zum neuen Fortschrittssymbol werden zu lassen. Sowohl die positiven sicherheitspolitischen Effekte solcher Forschungen als auch das Image der auf allen Ebenen überlegenen Supermacht scheinen hier wichtiger zu werden als die (anfangs noch hochgeschätzte) Reputation eines „politisch korrekten“, Nuklearwaffen mit uneingeschränkter Ächtung begegnenden Mitglieds der internationalen Gemeinschaft. 6.3 Zwischenfazit: Empirische Ergebnisse zweier diskursiver Tabubrüche 6.3.1 Datenmenge und Diskursverläufe Wie in den vorangegangenen Kapiteln zur Erosion der beiden Tabus vielleicht schon deutlich geworden ist, variieren beide Debatten erheblich hinsichtlich der Anzahl der DiskursteilnehmerInnen und der von ihnen publizierten Dokumente. Obwohl für die Fallstudie zur Erosion des Foltertabus die Washington Post gar nicht und die Treffer des Jahres 2005 nur kursorisch ausgewertet wurden, ergab sich eine insgesamt höhere Anzahl zu sichtender Quellen. Als Erklärung hierfür liegt der Umstand nahe, dass die Debatte insgesamt weniger abstrakt geführt wurde: Während sich die Diskussion im Fall des nuklearen Tabus ausschließlich um hypothetische Überlegungen zu non-compliance drehte (weder wurde eine neue Nuklearwaffe der Öffentlichkeit präsentiert noch eingesetzt), war in der Folterdebatte spätestens ab dem Auftauchen der Memoranden ein klarer Normbruch durch die Regierung nicht mehr zu leugnen. Seit der Festnahme wichtiger Köpfe des al-Qaida-Netzwerkes, die beharrlich schwiegen, hatten die politischen Verantwortlichen auch unter unmittelbarem Entscheidungsdruck gestanden, während sie im Zusammenhang mit der durchgesickerten NPR die Gelegenheit ergriffen, die Öffentlichkeit prophylaktisch auf eventuelle in Zukunft zu treffende Entscheidungen vorzubereiten. Bedingt durch die Fallauswahl und daher wenig überraschend, überschneiden sich die Zeiträume der Debatten in hohem Maße – allerdings mit einem interessanten Unterschied: Nachdrückliche Befürchtungen einer Schwächung des nuklearen Tabus wurden erst im März 2002 anlässlich des Bekanntwerdens ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Abschnitte der im ersten Amtsjahr der Bush-Administration – also in großen Teilen noch vor dem 11. September – angefertigten Nuclear Posture Review geäußert. Im Gegensatz dazu setzten die Diskussionen um die Legitimation von Folter unmittelbar nach den Terroranschlägen ein, was einen krassen Bruch zu den 1990er Jahren darstellte, während derer diese Frage nicht ein einziges Mal aufgeworfen worden war (obwohl sich etwa mit den Verantwortlichen für die Anschläge auf US-Botschaften in Ostafrika bereits wichtige al-Qaida Mitglieder in US-Gewahrsam befunden hatten). Vereinzelte Normverstöße innerhalb der USA wurden zwar öffentlich thematisiert, lösten jedoch neben der Skandalisierung der Vorfälle keine argumentative Auseinandersetzung über die Gültigkeit des Folterverbots aus. Anklagen bekannter Menschenrechtsverbrecher vor US– 276 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e amerikanischen Gerichten wurden zudem als Anzeichen eines anbrechenden „Zeitalters der Menschenrechte“ gewertet und „unzivilisierte“ Staaten für auf ihrem Territorium stattfindende Folterungen regelmäßig kritisiert. Eine Parallele hierzu bildeten im Nukleardiskurs die mit großer Sorge zur Kenntnis genommenen WMD-Programme auf der „Achse des Bösen“, aber auch die tabutypisches Entsetzen hervorrufende nukleare Eskalationsgefahr zwischen den inoffiziellen Atommächten Indien und Pakistan. Während diese nuklearen Bedrohungen durch fremde Staaten große öffentliche Aufmerksamkeit erregten, schien die Möglichkeit eines nuclear use durch die USA in der (auf die eigenen Arsenale bezogenen) abrüstungseuphorischen Stimmung so fern zu liegen, dass erste deutlich werdende Anzeichen für eine mögliche Redefinition der zukünftigen Rolle von Nuklearwaffen nur sehr vereinzelt aufgegriffen und kritisch kommentiert wurden. Obwohl neue Waffenentwicklungen und eine Ausweitung nuklearer contingencies eindeutig vor „9-11“ ins Auge gefasst wurden, wurde die nach den Anschlägen allgemein wahrgenommene terroristische Bedrohung zu einem wesentlichen Teil der argumentativen Strategie, so dass dieses Ereignis als zentraler Referenzpunkt beider Diskussionen gelten kann. 6.3.2 Uneinheitliche Akteursgruppen In Bezug auf die im Verlauf der Debatte vertretenen Positionen lässt sich ein großer Unterschied feststellen, bildete sich doch in der Folterfrage zum Ende des Untersuchungszeitraumes zumindest ein Konsens über die Notwendigkeit der Debatte selbst heraus, deren TeilnehmerInnen einen Kompromiss mit ihren Gegnern nicht mehr von vorneherein ausschlossen. Hingegen blieben die Standpunkte bezüglich neuer nuklearer Strategien nicht nur unverändert, Forschungsergebnissen unbeeinflusst. sondern auch (auf beiden Seiten) von Dennoch lässt sich eine vergleichbare Debattenstruktur ausmachen: Insbesondere auf Seiten der Normverfechter ergab sich eine in beiden Fällen recht ähnliche Konstellation aus jeweils einem investigativen Journalisten, der die Vorgänge innerhalb der Regierung aufzuklären versuchte und die Debatten damit entscheidend vorantrieb bzw. sogar auslöste (namentlich Seymour Hersh (Newsweek) und William Arkin (LAT)),1020 großen Tageszeitungen, die sich in beiden Fragen ganz klar positionierten (hier die New York Times), einigen Experten, die wissenschaftlich fundiert Gegenpositionen vertraten (PrincetonPhysiker Robert W. Nelson sowie der Direktor des Bellevue-Zentrums für Folteropfer, Allen S. Keller) sowie – wenig überraschend – einschlägigen NGOs und Denkfabriken. Zugleich distanzierte sich auch die Regierung in beiden Angelegenheiten nach außen geschlossen von Vorwürfen eines Normverstoßes, wobei unübersehbar zuvor festgelegte Sprachregelungen 1020 Zwar scheinen im Zusammenhang mit den von uns untersuchten Debatten keine Verbindungen zwischen den beiden Journalisten bestanden zu haben, jedoch ist bekannt, dass Arkin und Hersh in der Vergangenheit zusammengearbeitet haben. S. Kurtz, Howard 2002: Explosive Analyst, in: Washington Post, 24.05.2002. – 277 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e eingehalten wurden. Im Fall des nuklearen Tabus drangen eventuelle Differenzen zumindest nicht an die Öffentlichkeit, hingegen wurden in der Folterfrage ein Zwist in der Regierung durch die veröffentlichten Memoranden belegt und innerhalb der Administration herrschende Streitigkeiten teilweise auch nach außen getragen. Bisher kann, da keine weiteren einschlägigen Regierungsdokumente freigegeben wurden, in der Auseinandersetzung über das nukleare Tabu nur vermutet werden, woher die Impulse für neue Entwicklungen in der Nuklearstrategie kamen. Dagegen gibt es mittlerweile starke Indizien dafür, dass das Außerkraftsetzen von folterverbietenden Regeln innerhalb der Regierung direkt von Verteidigungsminister Rumsfeld ausging, es aber auch von Rechtsberatern auf anderen Ebenen der Administration vorangetrieben wurde. Schon vor diesen Entwicklungen (und später in Unkenntnis derer) hatte eine ähnliche Diskussion innerhalb der Bevölkerung begonnen, die von prominenten norm challengers gepusht wurde, so dass sich eine Zangenbewegung ergab, an der das Foltertabu letztendlich zerbrach. Die verhältnismäßig geringe Beteiligung der BürgerInnen an den Auseinandersetzung um das nukleare Tabu hing vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass es sich hierbei um eine stark militärstrategisch und technisch dominierte (Machbarkeits-)Debatte handelte, und hypothetische moralische Fragen schwerlich von diesen Gesichtspunkten losgelöst betrachtet werden konnten, wodurch sich wiederum das Übergewicht auf Seiten der Think TanksStrategInnen und der Wissenschaft erklärt. Das Pendant zur Auseinandersetzung um physikalische Probleme außerhalb der Administration bildete der Rechtsdiskurs namhafter ProfessorInnen über die Gültigkeit des Folterverbots – allerdings (noch) nicht vor Gericht, so dass der Judikative in beiden Debatten kaum eine Rolle zukam. Bezüglich der Legislative gab es dagegen eine auffällige Gemeinsamkeit: Zwar positionierten sich die Demokraten tendenziell für die, Republikaner eher gegen die Beibehaltung der beiden Normen, es waren jedoch in beiden Fällen kleine Gruppen republikanischer Senatoren, die sich (anders als zuvor die DemokratInnen) letztendlich erfolgreich gegen die Regierung durchsetzen konnten und denen somit als Normverteidiger eine wichtige Rolle zukam. Besondere Beachtung verdient die der instrumentellen Wirkung beider Verbote geschuldete argumentative Strategie der Regierung, die sie schließlich in die Sackgasse führte bzw. leicht als widersprüchlich zu erkennen war: Durch das Leugnen jeglicher Überlegungen zum Einsatz von Folter gegenüber Gefangenen am Anfang der Debatte – wobei die Regierungsmitglieder ein window of opportunity ungenutzt verstreichen ließen – war es ihnen unmöglich, sich später den BefürworterInnen des Tabubruchs anzuschließen; das klare Widerlegen der zunächst verfolgten Linie durch den Abu Ghraib-Skandal machte die Regierung schließlich rhetorisch manövrierunfähig. Im nuklearen Diskurs wurde ihr Versuch, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehene NPR als Instrument der Abschreckung zu verkaufen, mit der Sprachregelung, das zum Abschreckungsdokument umdefinierte Papier zugleich als bloße Ideensammlung, die es nicht allzu ernst zu nehmen galt, zu präsentieren, vollends ad absurdum geführt. – 278 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e 6.3.3 Argumentation Wie für beginnende Enttabuisierungsdiskurse bereits im Vorfeld angenommen werden konnte, war neben dem Gegenstand auch das Führen der Debatte an sich ein eigenständiger von Akteuren thematisierter Punkt. Hierbei ist jedoch überraschend, dass kaum jemand bereits das Führen der Debatte als Problem erachtete, sie wurde im Gegenteil sowohl von NormverteidigerInnen als auch von -angreiferInnen, begrüßt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Sahen einige bunker-buster-GegnerInnen nach dem Durchsickern der NPR in der öffentlichen Auseinandersetzung die Chance, die Regierung unter Druck zu setzen, fassten sie manche FoltergegnerInnen als Möglichkeit auf, den Aktionsspielraum der Regierung schon vor einem eventuellen weiteren Terroranschlag prophylaktisch zu begrenzen. Hier spielte die Befürchtung liberaler DiskursteilnehmerInnen eine Rolle, nach dem Eintreten dieses Falles in einer Diktatur ohne handlungsbeschränkende checks and balances aufzuwachen – dieser Bedrohung der Werte eines demokratischen Staatswesens stand in der Nukleardebatte die Bedrohung der Existenz gegenüber, also die verkündete Gefahr, aufgrund einer verschlafenen Nukleardebatte überhaupt nicht mehr aufzuwachen. Auf Seiten der Herausforderer bzw. Herausforderinnen des nuklearen Tabus wurde der Diskurs zudem als Gelegenheit befürwortet, in den 1990er Jahren versäumte, längst überfällig geglaubte nuklearstrategische Anpassungen durchzuführen und endlich eine Auseinandersetzung mit der einen veränderten, Handlungsdruck erzeugenden post-Cold-War-Realität zu wagen, während im Falle des Folterverbots das demokratiespezifische Argument im Vordergrund stand, öffentliche Angelegenheiten auch öffentlich zu regeln, statt geheime Praktiken wie das Verschicken von Gefangenen in Drittstaaten (wissentlich) zu ignorieren. Darüber hinaus wurde es in beiden Fällen als unverantwortlich hingestellt, aus normativen Gründen sicherheitsrelevante Sachzwänge nicht zu thematisieren. Ebenfalls aus Sicherheitsbedenken sprachen sich aber auch norm challengers gegen die Debatte aus. So bestehe die Gefahr, dass Strategien öffentlich diskutiert bzw. ans Tageslicht befördert würden, auf die sich Terroristen und/oder „Schurkenstaaten“ einstellen könnten, indem sie z.B. ihre Ziele anderweitig sicherten oder sie ihre Mitglieder gezielt auf bestimmte Verhörmethoden vorbereiten. Das folgende Schaubild soll die eben dargestellten Positionen der für oder gegen die Norm eingestellten Akteure in Bezug auf die Debatte verdeutlichen: – 279 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e Debatte pro pro contra Norm contra • Naming und shaming gegenüber Regierung • In Übereinstimmung mit dem Tabu, jedoch selten Debatte selbst schon Gefahr für die Norm • Sachzwänge erfordern Debatte • Öffentliche Regelung politischer Entscheidungen statt geheime Praktiken/prophylaktische Einengung des Handlungsspielraumes der Regierung • Sicherheitsrisiken: geheime Strategien werden bekannt Feinde können sich dagegen schützen Abb. 3: Positionen zum Führen der Debatte In Bezug auf die thematische Diskussion stimmten in beiden Fällen TabugegnerInnen und befürworterInnen zumindest in der Problemdefinition überein: Es galt, die Vereinigten Staaten vor neuartigen und bisher nahezu unbekannten Feinden zu schützen, wobei innerhalb der Debatten die Meinungen darüber auseinander gingen, wie dies zu gewährleisten sei. Hier ähnelten sich die Argumentationsstrategien sowohl im Folter- als auch im Nukleardiskurs insofern, als die norm challengers ihre Argumentation an konkreten Situationen festmachten und die Ausweglosigkeit in solchen Lagen als Begründung für notwendig gewordene oder möglicherweise unvermeidlich werdende Normbrüche anführten, um überlebenswichtige Informationen zu erhalten bzw. in jeder denkbaren Situation reaktionsfähig zu bleiben. Da der rhetorisch aufgeworfenen Frage der Normgegner, welche Handlungsalternativen denn in entsprechend konstruierten ticking-bomb-Situationen zur Verfügung stünden, kaum etwas entgegengesetzt werden kann, ohne fatale Folgen in Kauf zu nehmen, nahmen die NormbefürworterInnen in beiden Fällen eine breitere Perspektive ein: So sollten die USA einerseits als Abrüstungsvorbild dienen und damit den Wert des Besitzes von Nuklearwaffen (und anderen WMD) schmälern sowie entsprechende Vertragsmechanismen stärken, denn nur auf diesem Weg könnten sie glaubwürdig gegen die die nationale Sicherheit gefährdende Proliferation eintreten. Andererseits wurde der Global War On Terror als langfristiger Kampf der Ideen aufgefasst, der nur zu gewinnen sei, wenn die USA ihre hohen moralischen Werte und Menschenrechtstandards aufrechterhielten. Der Verrat der eigenen Ideale würde den Terrorgruppen nicht nur mehr Zulauf verschaffen, sondern sei darüber hinaus auch ihr eigentliches Ziel – zwei Gründe, weshalb man mit Folter den Krieg nur verlieren könne. Hinsichtlich der Vorbildfunktion der USA vertraten die NormgegnerInnen im Vergleich der beiden Debatten jedoch unterschiedliche Ansichten: So stellten die AngreiferInnen des nuklearen Tabus heraus, dass die Vorstellung, die USA könnten als moralisches Vorbild ihrer Feinde gelten, geradezu absurd sei, da Staaten wie Nordkorea niemals ihre Politik am positiven Beispiel der Supermacht ausrichten würden. Darüber hinaus könne man die Nuklearpolitiken von Demokratien und totalitären Regimen nicht mit gleichen Maßstäben messen, seien und blieben erstere doch immer moralisch überlegen, weshalb es von ihnen – 280 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e auch nicht scheinheilig sei, für sich bestimmte Vorrechte in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil zu dieser diskursiven Abgrenzung von den neuen Feinen forderten die norm challengers im Fall des Folterverbots eine Angleichung der eigenen Methoden an die der Kontrahenten: Mit einer strikten Einhaltung aller „September 10th”-Standards – wie etwa der Genfer Konventionen – auch in Kriegszeiten sei dieser asymmetrische Konflikt nicht zu gewinnen. Gleichzeitig wurde es im Sinne eines tit for tat-Denkens häufig als legitim hingestellt, diese eigentlich universell gedachten Standards nur noch reziprok anzuwenden. Hingegen besetzen VertreterInnen einer tit for tat-Strategie bei eventuellen Nuklearschlägen (etwa der Bombardierung islamischer Stätten) auch gegenüber der unter den TabugegnerInnen weitestgehend konsensualen Forderung nach einem Vermeiden ziviler Opfer eine diskursive Randposition. Mit der Überlegung, als Vergeltungsmaßnahme Mekka zu bombardieren, schien der einzige wunde Punkt gefunden, an dem man die sonst völlig auf das Jenseits ausgerichtete Ideologie radikaler Islamisten im Diesseits aushebeln könnte. Davon abgesehen bereitete der Umgang mit dem „fearless and faceless enemy“ den StrategInnen Kopfzerbrechen – deren nicht nachvollziehbare, häufig als irrational angesehene Beweggründe boten darüber hinaus einen Anlass, nicht nur eine neue Kategorie von Angreifern, sondern von gänzlich andersartigen Menschen zu bilden. Zentral wurde diese Kategorie im Folterdiskurs, da mit der neuen Klassifizierung eine Verabschiedung vom Gedanken unveräußerlicher Rechte jedes Menschen qua Menschsein einherging. Dementsprechend wichtig wurden auf die Entmenschlichung des Gegners gerichtete sprachliche Konstruktionen. Da die BefürworterInnen von Nuklearschlägen den Diskurs gezielt auf die Zerstörung militärischer Objekte einzuengen versuchten (obwohl auch die Tötung von Personen, z.B. feindlicher Führungsriegen wie Terroristen thematisiert wurde), spielten solche Euphemismen hier eine untergeordnete Rolle. Vielmehr lässt sich hier die Konstruktion eines semantischen Feldes ausmachen, in dem „Schurkenstaaten“, „Terroristen“ und „weapons of mass murder” immer gemeinsam diskutiert werden konnten – auch, wenn nur eine Kante dieser Triade im Vordergrund einer Äußerung oder eines Dokuments stand. Ins Zentrum eines weiteren semantischen Feldes wurde die mannigfaltige Verantwortung der US-Regierung für die nationale wie die internationale Sicherheit, die eigene wie die feindliche Zivilbevölkerung sowie der Selbstschutz wie der Schutz der Alliierten gestellt. Zu dieser Figur gibt es in der Folterdebatte erstaunlicherweise kein Pendant: Dass die Verbündeten von in Verhören erpressten, sicherheitsrelevanten Informationen ebenfalls profitieren könnten, wurde nicht ein einziges Mal erwähnt. Dies entspricht der generellen Amerikalastigkeit dieser Debatte, die sich einerseits um die Gefährdung us-amerikanischer BürgerInnen und SoldatInnen durch Terroristen mit US-amerikanischem Blut an den Händen und andererseits um die Einhaltung vornehmlich us-amerikanischen Rechts drehte. Die Alliierten wurden nur insofern in die Überlegungen einbezogen, als NormbefürworterInnen wie -gegnerInnen eine Abwendung insbesondere ihrer europäischen Partner im Kampf gegen – 281 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e den Terrorismus befürchteten, was dessen Erfolg ernsthaft gefährden könnte. Genau umgekehrt wurde in der Nukleardebatte argumentiert: Man riskiere eine noch größere Gefährdung, wenn die eigene Reputation im Ausland als wichtiger bewertet würde, als Erwägungen des Einsatzes von Nuklearwaffen zu (präemptiven) Verteidigungszwecken. Überhaupt wurden die (Rechts-)Normen, deren Bruch einen Reputationsverlust nach sich zu ziehen drohte, nunmehr in beiden Fällen eher als Hürde, denn als Schutz wahrgenommen: Konfrontiert mit feindlichen Staaten, für die die Unterzeichnung internationaler Rüstungsverträge wenig mehr als ein Täuschungsmanöver sei, würde die Rechtsbindung an multilaterale Abrüstungs- und Nichtverbreitungsinstrumente die USA entwaffnen und der Gewalt anderer schutzlos ausliefern. Entsprechend wurden internationale Menschenrechtsverträge wie auch einschlägige nationale Regelungen zum Schutz der eigenen BürgerInnen nun als Hürde angesehen, die es entweder vollständig aus dem Weg zu räumen (generelles Aussetzen der Genfer Konventionen) oder aber durch die gezielte Suche nach Gesetzeslücken zu durchlöchern galt (Schlupflöcher der amendments zur US-Verfassung). Letzteres kann vor allem als Versuch einiger Akteure gewertet werden, die rechtliche und normative Fassade zu wahren, um nicht eingestehen zu müssen, dass man mit der Unterhöhlung dieser Standards gleichzeitig auch die Grundfesten der eigenen Identität in Frage stellte. Dem gleichen Zweck diente das Ziehen neuer Linien innerhalb der ehemals unterschiedslos tabuisierten Handlungen und Objekte, nämlich die sprachlich konstruierte Trennung in „wirkliche“ Folter und „light torture“ auf der einen sowie „richtige“ Nuklearwaffen und „mini-nukes“ auf der anderen Seite – mittels dieser argumentativen Hilfskonstrukte soll ebenfalls die Illusion genährt werden, die alten Tabus blieben bestehen. Wenn das Bilden solcher Kategorien auch auf Widerspruch stieß, so gelang es dennoch, diese vor dem Hintergrund bestehender Tabus sowie Rechtnormen in ein framing einzubetten, in dem sie eher als neuen Sicherheitserfordernissen angemessen und innovativ, denn als illegitim erschienen. Die Vermutung liegt nahe, dass durch das Beanspruchen „geistiger Eigentumsrechte“ auf beide universellen Normen auch Handlungsspielräume im Umgang mit ihnen wahrgenommen und ausgenutzt wurden. Ein weiterer argumentativer Kniff, der die Vereinbarkeit der neuen Maßnahmen mit der eigenen Identität verdeutlichen sollte, war das Leugnen eines Bruches mit der Tradition unter Hinweis auf politische Kontinuität und das Verhalten in früheren Ausnahmesituationen: So habe kein US-Präsident jemals bestimmte Einsatzoptionen von vorneherein ausgeschlossen, dagegen aber immer in Anspruch genommen, auch Grundrechte außer Kraft zu setzen, wenn dies unbedingt nötig und erfolgversprechend erschien. Das Anzweifeln der Effektivität der neuen Mittel nahm in der rationalisierten Argumentation der NormbefürworterInnen schon sehr früh breiten Raum ein, womit sie diese angreifbar machten: Über die Frage, ob mit Folter wahre Geständnisse zu erpressen seien, ließ sich ebenso gut streiten, wie darüber, ob mit dem RNEP verbunkerte chemische oder biologische Agenzien restlos zerstört und die sich innerhalb des Explosionsradius – 282 – Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e befindenden ZivilistInnen vor ihren Folgen geschützt werden konnten. Daneben wurde von FoltergegnerInnen aber auch der Vorwurf erhoben, ihre Gegenseite würde versuchen, die Debatte um eine per se inhumane Praxis zu rationalisieren. Tatsächlich hatten FolterbefürworterInnen das Tabu direkt angegriffen, indem sie die Absolutheit des Folterverbots angesichts der erlaubten Tötung von Terroristen und legitimen Notwehrmaßnahmen wie dem finalen Rettungsschuss als irrational hinstellten. Solche Relativierungen blieben interessanterweise im Zusammenhang mit dem nuklearen Tabu aus – so haben die norm challengers in diesem Fall (naheliegende) Hinweise auf die Zerstörungskraft anderer (konventioneller) Waffen unterlassen. 6.3.4 Argumentative Auseinandersetzung als Einfallstor Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ganz ähnliche Faktoren die Erosion der beiden Tabus ermöglicht haben: In beiden Fällen begingen die TabubefürworterInnen den Fehler, sich auf die Debatten einzulassen statt eine argumentative Auseinandersetzung unter Hinweis auf die Gültigkeit der Tabus dezidiert abzublocken – wobei fraglich ist, ob diese Strategie unter den als radikal gewandelt empfundenen Umständen hätte Erfolg haben können. Daneben gab es jedoch auch fallspezifische Besonderheiten der beiden Tabus: Hierbei erscheint uns für die Erosion des nuklearen Tabus seine gewachsene Stärke am bedeutendsten, die letztendlich zu seiner Selbstzerstörung führte. So war die Fortsetzung der nuklearen Ambiguität unmöglich geworden, weil Tabubrüche nicht mehr glaubhaft angedroht werden konnten, was zu einer Existenzbedrohung für die Vereinigten Staaten deklariert wurde – um die nationale Sicherheit zu gewährleisten, erschien eine Schwächung der Norm unumgänglich, die Möglichkeit hierzu durch technischen Fortschritt gegeben. Das Foltertabu fiel dagegen in erster Linie, weil die jahrhundertelang als irrational und unvertretbar angesehene Position der Befürwortung von Folter im Verlauf der Debatte von immer mehr Akteuren als rational begründbar anerkannt wurde, während sich umgekehrt die unbedingte Einhaltung der Norm in jeder Situation bei genauem Hinsehen als kaum haltbare Extremposition entpuppte. Das Aufheben der früher selbstverständlichen Denkverbote um beide Tabus führte letztendlich unübersehbar vor Augen, dass es für sie keine Letztbegründung gibt. – 283 – C o ncl us i o 7. Conclusio: Theoretisierungsansätze unserer Ergebnisse Die im vorherigen Kapitel präsentierten empirischen Ergebnisse unserer Fallstudien ermöglichen es uns, vor dem Hintergrund der zu Beginn der Arbeit vorgestellten Annahmen der Theorie internationaler Normen auf drei Ebenen weiterführende Überlegungen anzustellen: Erstens können wir – zumindest, soweit es die Reichweite unserer Fälle erlaubt – die eingangs diagnostizierten Lücken der Normtheorie aus einer neuen, empirisch fundierten Perspektive betrachten. An dieser Stelle ist es uns nun nicht nur möglich, normtheoretische Aussagen über die von uns untersuchten Erosionsprozesse und die hierfür relevanten Akteure zu machen, sondern auch, bisherige Annahmen über das Stadium internalisierter Normen aus empirischer Sicht zu problematisieren. Die Frage, wie die Erosion der von uns untersuchten Tabus möglich geworden ist, kann selbstredend nicht von diesen generellen auf die Theorie rekurrierenden Schlussfolgerungen losgelöst betrachtet werden, jedoch lassen sich, zweitens, aus einer fallspezifischen Perspektive zum Einen Schlüsse über das Verhältnis von agency und structure in den beiden Erosionsprozessen ziehen und zum Anderen jeweils v.a. in den Besonderheiten der beiden Tabus begründete erosionsermöglichende Bedingungen identifizieren. Aus der Analyse dieser Bedingungen können wir schließlich – drittens – weitergehende Schlüsse über den Stellenwert und die Schwächen von Tabus in den internationalen Beziehungen ziehen, indem wir unsere Ergebnisse vor dem Hintergrund einschlägiger IB-Literatur sowie im Lichte der von uns aus psychoanalytischen und anthropologischen Schriften übernommenen Konzepte einordnen und interpretieren. 7.1 Komplexer Internalisierungsprozess und norm challengers Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen stellten zwei von uns identifizierte „blinde Flecken“ der Normtheorie dar – die theorieinhärente Fortschrittsbias, die zum Einen darin zum Ausdruck kommt, dass ausschließlich aus (westlich geprägter) normativer Sicht wünschenswerte Normen zum Untersuchungsgegenstand erkoren werden und zum Anderen anhand der „einbahnstraßenartigen“ Fokussierung auf voranschreitende Normentstehungsund –durchsetzungsprozesse deutlich wird. Dass wir uns entschieden haben, durch die Untersuchung von Erosionsprozessen eine Gegenspur in die Einbahnstraße einzubauen und somit den zweiten Aspekt der von uns festgestellten Fortschrittsbias zu bearbeiten, impliziert selbstverständlich, dass unser erster Kritikpunkt – das Untersuchen ausschließlich „guter“ Normen auch auf uns selbst zutrifft. Entstehungs- und Durchsetzungprozesse als negativ erachteter Normen (wie etwa der Sharia) bleiben hiermit ein wichtiges Forschungsdesiderat, während sich unsere zweite fortschrittsskeptische Vorannahme, dass auch internalisierte Normen ihre Qualität der „taken-for-grantedness“ – d.h. automatischer compliance und diskursiv unangetasteter Gültigkeit der Norm –verlieren und in eine Abwärtsbewegung geraten können, als richtig erwiesen hat. Dementsprechend lautet unser erster Befund, den wir den bisherigen Forschungen zu Normen entgegensetzen: Internalisierte Normen können – 284 – C o ncl us i o erodieren. Mit dem nuklearen Tabu und dem Folterverbot befinden sich sogar zwei universelle Normen im Erosionsprozess, die als besonders stark internalisiert galten und konstitutiv für die Identität „zivilisierter“ Mitglieder der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen und der Vereinigten Staaten von Amerika im Besonderen waren bzw. immer noch sind. Wie aus der letzten Bemerkung hervorgeht, wollen wir keineswegs bestreiten, dass eine Phase der Norminternalisierungen existiert, sich die von uns untersuchten Normen in einer solchen befanden und ein deutlicher qualitativer Unterschied zwischen dieser und anderen Phasen der Normkarriere besteht (sofern man den Grundgedanken einer Aufwärtsspirale der Normdurchsetzung denn akzeptieren will – es erscheint uns, wie im einleitenden Kapitel zur Normtheorie angeführt, sehr zweifelhaft, dass Phasen der Normentwicklung durch immer gleiche Kausalmechanismen aneinander gekoppelt sein sollen). Die Unterspezifizierung der Theorie im Hinblick auf diese letzte Phase der „Normkarriere“ und des Begriffes „Internalisierung“ hat uns, wie erwartet, Schwierigkeiten bereitet. So scheint hierbei die implizite Annahme zu bestehen, dass sich Antworten auf entscheidende Fragen intuitiv ergeben und keiner Operationalisierung bedürfen: Bereits unsere Fallauswahl wäre erleichtert worden, wenn wir klare Kriterien dafür hätten anlegen können, welche Akteure eine Norm internalisieren müssen, ab wann eine Norm als internalisiert gilt und woran eine solche besondere Qualität zu erkennen ist. Entsprechend wird die Einordnung unserer Ergebnisse dadurch erschwert, dass wir auf die für eine Internalisierung relevanten Akteursgruppen innerhalb eines Staates bestenfalls aus Andeutungen und Nebenbemerkungen der einschlägigen Werke schließen können. Weder wird expliziert, ob und in welchem Maße (neben der Regierung) einzelne innenpolitische Akteure wie Bevölkerung, Wissenschaft oder Militär eine Norm verinnerlicht haben müssen, um in Bezug auf einen Staat in seiner Gesamtheit von einer internalisierten Norm sprechen zu können, noch werden – mit Ausnahme der Feststellung, internalisierte Normen verschwänden aus dem öffentlichen Diskurs – weitere Hinweise darauf gegeben, was die Internalisierung einer Norm bei solchen Gruppen indiziert. Der Stellenwert anderer Akteure als der Regierung, die hier möglicherweise vorliegenden divergierenden Internalisierungsgrade und die unterschiedlichen Rollen, die sie bei einer Normerosion einnehmen können, wurden jedoch anhand unserer Fälle deutlich: So vermuten wir, dass die Erosion des nuklearen Tabus top-down und zwar von Akteuren (z.B. einigen Angehörigen der Bush-Administration, des Militärs und der Nationallabors) vorangetrieben wurde, die diese nie „wirklich“ internalisiert hatten, so dass man zumindest auf dieser individuellen Ebene nicht unbedingt von veränderten Einstellungen gegenüber der Norm ausgehen muss.1021 Vielmehr stellte die Veröffentlichung der NPR ein willkommenes window 1021 Dies zu überprüfen, ist nicht nur aus dem oben bereits genannten Grund (fehlende Internalisierungskriterien) schwierig, sondern auch, weil es den Akteuren in der Vergangenheit aus instrumentellen Überlegungen heraus aufgrund der Stärke des Tabus gar nicht möglich gewesen wäre, dieses – 285 – C o ncl us i o of opportunity dar, um das vermutlich von einigen Gruppierungen bereits lange Zeit als störende Einschränkung der eigenen Handlungsoptionen wahrgenommene nukleare Tabu zu unterlaufen. Im Gegensatz dazu positionierten sich im bottom up-Prozess der beginnenden Folterdebatte interessanterweise gerade diejenigen gesellschaftlichen Gruppen – nämlich Bevölkerung, Medien und insbesondere einige Rechtswissenschaftler – als erste öffentlich für eine Einschränkung des Folterverbots, bei denen von einer starken Internalisierung ausgegangen werden muss, denn gerade diese Akteursgruppen waren es schließlich gewesen, die in den Jahren zuvor jede Übertretung dieses Tabus skandalisiert bzw. deren sofortige Sanktionierung gefordert hatten.1022 Neben der vernachlässigten Akteursqualität innenpolitischer Gruppen bleibt auch das Verhältnis zwischen der Gültigkeit einer Norm (validity ) und ihrer Einhaltung (compliance) in der Internalisierungsphase ungeklärt, was sich im Hinblick auf beide Tabus als problematisch erwiesen hat. So waren in den USA während des gesamten Zeitraumes der Norminternalisierung durchaus von Teilen der US-Administration geduldete Fälle von noncompliance trotz validity der Anti-Folter-Norm zu verzeichnen. Auch global wird ihr auf der deklaratorischen Ebene eine sehr hohe Gültigkeit bescheinigt, jedoch ohne diese proklamierte Überzeugung auch in die Tat umzusetzen. Für das nukleare Tabu lässt sich ebenfalls ein – wenn auch umgekehrtes – Spannungsverhältnis zwischen den beiden Komponenten Gültigkeit und Einhaltung konstatieren: Der seitens der US-Regierungen niemals uneingeschränkt bestätigten validity steht mehr als ein halbes Jahrhundert der absoluten Einhaltung der Einsatzverbotsnorm gegenüber. Die Hinweise auf die Relevanz unterschiedlichster Gruppen und das mögliche Auseinanderklaffen zwischen Normeinhaltung und Normgültigkeit sowie das Ausbrechen der tabuschwächenden Debatten verdeutlichen, dass die Phase der Internalisierung von Normen einen komplexen, keineswegs immer linear und bei allen Akteuren synchron verlaufenden Prozess darstellt. Dementsprechend wird am Verlauf dieses Prozesses vor allem Zweierlei ersichtlich: Erstens scheinen Akteure auch in dieser Phase in der Lage zu sein, als Reaktion auf bestimmte Ereignisse „aus eigenem Antrieb“ die Gültigkeit der für sie lange Zeit selbstverständlichen Überzeugungen zu hinterfragen. Zweitens liegt die Vermutung nahe, dass unterschiedliche Internalisierungsgrade bei unterschiedlichen Akteuren ebenfalls zu einer Gefahr für die Norm werden können, da Akteure miteinander in Interaktionen treten. Entsprechend können Normen auf dem Weg zu einem – vermutlich empirisch niemals erreichbaren – Endpunkt ihrer Internalisierung 1) potentiell durch jeden gesellschaftlich 1022 öffentlich in Frage zustellen. Wiederum sind diejenigen Dokumente (z.B. interne Sitzungsprotokolle, Telefonate), die über die tatsächliche Einstellung Aufschluss geben könnten, sofern sie überhaupt existieren, nicht zugänglich. Dabei ist natürlich nicht auszuschließen, dass z.B. ein Teil der US-Bevölkerung Folter schon immer befürwortete, da aus der Zeit vor der Erosion keinerlei Umfragen oder ähnliche Hinweise vorliegen. Dass diese Frage niemals gestellt wurde und in den Medien nie thematisiert wurde, weist andererseits auf eine Internalisierung hin. – 286 – C o ncl us i o relevanten Akteur oder 2) durch diejenigen Akteure, die bei der Internalisierung langsamer (oder gar nicht?) voranschritten, im Diskurs in Frage gestellt werden, sobald diese meinen, ein window of opportunity zu erkennen, um ihre (normschwächenden) Ansichten vorzubringen – solche Handlungen seitens der norm challengers können wiederum Zweifel bei denjenigen auslösen, die die Norm bereits internalisiert hatten. Schließlich kann 3) das Handeln von Akteuren außerhalb des innenpolitischen Internalisierungsbereichs (Terroristen, nach Massenvernichtungswaffen strebende Staaten), eine diskursive Normschwächung notwendig erscheinen lassen. Zumindest im Fall des Folterverbotes scheint überdies eine Erosionskaskade eingetreten zu sein – ganz im Sinne eines rationalistischen Verständnisses dieses Konzepts reagieren die Akteure bei Erreichen einer kritischen Masse1023 von TabugegnerInnen nicht mehr nur auf die Überzeugungskraft ihrer Argumentation, sondern allein die (steigende) Anzahl der TabukritikerInnen wirkt als Anstoß, die Norm wieder in Zweifel zu ziehen.1024 Fasst man die Internalisierungsphase als einen durch Uneinheitlichkeit, Ungleichzeitigkeit und Umkehrbarkeit gekennzeichneten Prozess auf, erscheint eine in diesem Stadium befindliche und damit vermeintlich stabile Norm als noch immer fragil. 7.2 Agency-structure-Verhältnis und dessen sprachliche Vermittlung Unsere Ausgangsfrage, wie die Erosionen der beiden Tabus möglich geworden sind, lässt sich durch die Hinweise auf die asynchrone Internalisierung sowie Akteursinteraktionen nur zum Teil beantworten, da nach wie vor offen bleibt, was die Akteure zum Anlass nahmen, ihre Überzeugungen zu hinterfragen bzw. wie das window of opportunity entstanden ist, das die öffentliche Artikulation der norm challengers ermöglichte. Der in allen Spielarten des Konstruktivismus hoch bewerteten gegenseitigen Konstituiertheit zwischen Akteuren und Strukturen Rechnung tragend, liegt es nach der Betrachtung der Akteure nahe, die strukturelle Ebene bzw. die Wechselwirkungen von agency und structure ebenfalls in die Überlegungen miteinzubeziehen. Bisher haben wir uns darauf beschränkt, Strukturen aus der Perspektive der Akteure in den Blick zu nehmen und in ihnen ausschließlich aufgrund der diskursiven Referenzen erosionsermöglichende Bedingungen zu sehen. An dieser Stelle wollen wir einige darüber hinausgehende, allgemeinere Schlussfolgerungen zum Akteur-Struktur-Norm-Verhältnis im Falle des Folterverbots und des nuklearen Tabus vornehmen. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass zwar in beiden Fällen die gleichen strukturellen Faktoren gewirkt haben, letztere jedoch unterschiedliche Funktionen ausübten. Das Verhalten der TabubefürworterInnen war hingegen in beiden Fällen vergleichbar – und mit vergleichbar negativen Folgen für die Norm verbunden. 1023 1024 Wir gehen aber weder davon aus, dass diese bei jedem Erosionsfall erreicht werden, noch, dass es eine für alle Fälle ähnliche Anzahl von Akteuren geben muss. Zum Modell solch einer „Informationskaskade“ S. 29 der Arbeit. – 287 – C o ncl us i o Es hat sich gezeigt, dass das – sich auf die Strukturen des internationalen Systems auswirkende – Auftreten neuer Akteure sowie ihre Wahrnehmung in den Vereinigten Staaten in beiden Erosionsprozessen eine entscheidende, wenn auch ihrer Gewichtung nach unterschiedliche Rolle gespielt haben. Demgemäß scheint es sich bei dem externen, durch die Terrorakte vom 11. September ausgelösten Schock tatsächlich um den zentralen Faktor zu handeln, der ein (obgleich von der Regierung ungenutztes) window of opportunity für die Debatte über die Wiedereinführung von Folter schuf – folglich kann letztere als Reaktion auf die grausam demonstrierte Zerstörungsmacht der neuen staaten- und furchtlosen Akteure gesehen werden. Im Gegensatz dazu spielte der „9-11-Schock“ für den Nukleardiskurs unserer Einschätzung nach lediglich eine katalysierende Rolle, da die Bedrohung durch Terrorismus und dadurch bedingt, die Erosion bewährter Sicherheitsmechanismen wie Abschreckung, Verteidigung, aber auch Vertragsverhandlungen, bereits während der gesamten 1990er Jahre sehr präsent war. Im Unterschied zu Folter war in diesem Fall nicht nur das bereits ausgeführte permanente und diffuse Bedrohungsgefühl von Bedeutung, sondern auch der Wegfall der absoluten Bedrohung (durch die UdSSR) und damit der apokalyptischen Konsequenzen von Nukleareinsätzen. Im Zusammenspiel schufen diese Faktoren vielmehr einen „fruchtbaren Boden“ für die Debatte als ein window of opportunity.1025 Dennoch haben wir die Vermutung, dass sich die auf dem Territorium der Vereinigten Staaten verübten Terroranschläge trotz ihrer unterschiedlichen Relevanz für die konkreten Fälle Folter und Nuklearwaffen auf einer höheren Ebene in einer Form ausgewirkt haben, die wir als „Dominoeffekt der Unthinkables“ bezeichnen möchten. Dieser These zufolge hätte die Tatsache, dass solche Ereignisse, deren Durchführung und Ausmaße zuvor außerhalb des Vorstellbaren lagen, möglich waren, unserer Ansicht nach generell zu einer schlagartigen Ausweitung der Denkräume geführt, die ihrerseits Tabubrüche ermöglicht hat – dies geschah sehr direkt im Fall des Folterverbots und mittelbar im Fall des nuklearen Tabus, als hierdurch nun ein gut instrumentalisierbarer Referenzpunkt bereit stand. Die Konfrontation mit einem Unthinkable scheint somit weitere Unthinkables (und andere „einfache“ Normen, wie z.B. Pressefreiheit und Bürgerrechte) angreifbar bzw. angreifbarer gemacht zu haben. Letztlich können wir freilich kaum feststellen, bei welchen Akteuren diese schlagartige Ausweitung des Denkraums zuerst einsetzte (hier stellt sich das übliche Problem, Akteuren nicht in die Köpfe blicken zu können). Wichtiger erscheint uns allerdings die Feststellung, dass sich die Grenzen dieser Denkräume und die Verschiebung ihrer Grenzen nicht nur sprachlich manifestierte , sondern eine (Neu-)Konstruktion derselben sich ebenso im Medium der Sprache vollzog . So wurde in der Fallstudie zum Folterverbot deutlich, dass das 1025 Wie bereits im Zwischenfazit des Kapitels 6.2 auf Seite 272 ausgeführt, ist letzteres mit der Veröffentlichung der Nuclear Posture Review ausgerechnet von solchen Akteuren kreiert und anschließend offen gehalten worden, die an der