Das Ende der Selbstverständlichkeit - Goethe

Transcription

Das Ende der Selbstverständlichkeit - Goethe
J oh a nn W o l fg a ng G o ethe - U ni ve rs it ät Fr an kf urt am M ai n
Fach be r e ich Ges ellsc h aft swi sse n sch af ten
In stitu t fü r Ver gle ic h e n de Po liti kwi ssen sc haf t u nd In terna ti onale Be zieh un gen
Abschlussarbeit zur Erlangung des Grades Magistra Artium
v or ge le gt v o n
Elvi ra Rosert un d Sonja Sc hirmbeck
30 . A ug ust 20 0 6
Das Ende der Selbstverständlichkeit
Zur Erosion internationaler Normen: Folterverbot und nukleares Tabu
Erstgutachterin: Prof. Dr. Tanja Brühl
Zweitgutachter: Prof. Dr. Gunther Hellman n
El v ir a R o sert
el vi r ose @x sm a il .c om
S on j a S ch ir m bec k
so n j a.sc h ir mbe ck @t - on l i ne.d e
Danksagun g
Viele kluge Köpfe haben uns bei unserer Abschlussarbeit zur Seite gestanden.
Insbesondere danken wir Tanja Brühl als Erstgutachterin und Gunther Hellmann als
Zweitgutachter dieser Arbeit, die uns dazu ermutigt haben, gemeinsam ein Projekt
dieser Größe anzupacken – eine bessere fachliche und menschliche Betreuung hätten
wir uns nicht wünschen können. Beide haben uns auch während unseres Studiums
vielfach gefördert und dadurch nachhaltig geprägt.
Darüber hinaus danken wir Gert Krell für die Heranführung an die Internationalen
Beziehungen und an die Außenpolitik der USA sowie für sein Engagement an
unserem Fachbereich.
Wichtige inhaltliche Kommentare und Unterstützung auch über diese Arbeit hinaus
verdanken wir Harald Müller und Jürgen Neyer.
Die TeilnehmerInnen der Kolloquien und der DVPW-Nachwuchstagung 2006 haben
uns mit kritischen Anmerkungen und Tipps weitergeholfen; insbesondere unserer
Kommentatorin Antje Wiener und Benjamin Herborth sei für wichtige theoretische und
methodische Hinweise gedankt.
Jochen Hils hat uns mit seiner Kenntnis der US-amerikanischen Medienlandschaft ebenso
die Arbeit erleichtert, wie Stefan Nitz mit seiner Kompetenz und Kulanz im Hinblick auf
die relevante Literatur.
Für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts danken wir Juliane Hölzinger,
Diana Rosert, Eduard Rosert und Jutta Seidenfaden.
Elvira Rosert und Sonja Schirmbeck
Frankfurt am Main, August 2006
A uf b a u
Aufbau
1.
Ganz kurze Einleitung ................................................................ 1
2.
Theoretischer Hintergr und: Normen in den Internationalen
Beziehungen ............................................................................ 4
3.
Fragestellung und Herangehensweise ......................................... 41
4.
Hintergrund: Innenpolitische Konstellation in den USA .................... 60
5.
Ausgangslage: T abuentstehung und Internalisierung ...................... 82
6.
Erosion zweier internationaler Tabus ......................................... 149
7.
Conclusio: Theore tisierungsansätze unserer Ergebnisse ............... 284
8.
Ganz kurzer Ausblick ............................................................. 293
–I–
I nh al t
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis .........................................................................................................V
1.
Ganz kurze Einleitung ................................................................. 1
2.
Theoretischer Hintergr und: Normen in den Internationalen
Beziehungen ............................................................................ 4
2.1
Behaviorismus und Sozialkonstruktivismus: von normal zu normativ ................................5
2.2
Fallen Normen vom Himmel? Ursachen und Quellen ihrer Entstehung...........................10
2.3
Wie Normen wirken: zwei Handlungslogiken ...............................................................12
2.3.1
Rationalismus: Kostenvorteile durch Normbefolgung............................................13
2.3.2
Konstruktivismus: Normen als Identitätsbestandteile und angemessenes Verhalten..15
Identitäten.......................................................................................................................... 16
Logic of appropriateness.................................................................................................... 18
2.4
Mechanismen und Modelle der Diffusion von Normen .................................................20
2.4.1
Das Spiralmodell: Erfolgsbedingungen der staatlichen Menschenrechtssozialisation....................................................................................................24
2.4.2
Norm-Life-Cycle: internationale Normunternehmer und Normkaskaden ..................27
2.4.3
Normen am Ziel: Internalisierung........................................................................30
2.5
Tabus – inspired by fear and not done, not said, not thought.......................................31
2.6
Theoretische Schwächen: Problematische Modelle, Ausblenden von agency und
Fortschrittsbias..........................................................................................................36
3.
Fragestellung und Herangehensweise .......................................... 41
3.1
Fragestellung ............................................................................................................41
3.2
Herangehensweise: back to the (constructivist) roots...................................................44
3.2.1
No more models: Der Fall als Gesamtkunstwerk .................................................44
Zwei Logiken, zwei Fragestellungen .................................................................................... 44
Der tiefere Sinn von Fallstudien und das Problem der Vorannahmen.................................... 48
Akteurszentriertheit und ein kleines Akteur-Struktur-Problem ................................................ 49
Diskursanalyse „light”: Method follows function .................................................................... 50
3.2.2
Konkrete Umsetzung: Was wird wie untersucht? ................................................54
Begründung der Fallauswahl .............................................................................................. 54
Eingrenzung zu untersuchender Akteure und Primärquellen................................................. 55
–I–
I nh al t
4.
Hintergrund: Innenpolitische Konstellation in den USA ..................... 60
4.1
Stellung und Zusammenspiel staatlicher politischer Institutionen ....................................60
4.2
4.1.1
Präsident .......................................................................................................60
4.1.2
Kongress ......................................................................................................62
4.1.3
Administration.................................................................................................64
4.1.4
Stellung des Supreme Court vor dem Hintergrund des US-amerikanischen
Rechtssystems ...............................................................................................67
4.1.5
Die großen Parteien ........................................................................................69
Stellung und Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher Akteure ...........................................70
4.2.1
Interessengruppen und Think Tanks..................................................................71
4.2.2
Öffentlichkeit ..................................................................................................75
4.2.3
Medien..........................................................................................................76
4.3
Politische Kultur.........................................................................................................79
5.
Ausgangslage: T abuentstehung und Internalisierung ....................... 82
5.1
Das internationale Folterverbot....................................................................................82
5.1.1
Worin besteht das Foltertabu?..........................................................................82
5.1.2
Wie ist das Foltertabu entstanden, internalisiert und durchgesetzt worden? ............87
Frühe Normverfechter: Von der Renaissance zum ersten Folterverbot.................................. 87
Rückblick: Kosten-Nutzen-Abwägungen antiker und mittelalterlicher Rhetoren...................... 88
Moralische und naturrechtliche Argumentation der Frühaufklärung ....................................... 89
Preußens Beweis der praktischen Umsetzbarkeit des Folterverbots ..................................... 92
Norm entrepreneurs der Aufklärung: Die Internalisierung des Folterverbots ........................... 94
Drei Wurzeln des Folterverbots in den Vereinigten Staaten................................................... 96
Scham und Ekel: Emotionalisierung und Tabuisierung der Folterdiskussion ........................ 100
Tabuisierte non-compliance: Die universellen Folterverbote des 20. Jahrhunderts .............. 103
Rechtliche Situation in den USA: Öffentliche Vorbildfunktion und geheime non-compliance ....... 109
5.1.3
5.2
Wie wirkt das Foltertabu?...............................................................................112
Das nukleare Tabu................................................................................................. 115
5.2.1
Inhuman, abscheulich und anders: das Fundament des nuklearen Tabus............116
Nuklearwaffen als Totem – heilig und verdammt ................................................................ 117
Andere Wahrnehmungen schaffen andere Fakten oder warum sich der Mythos immer
bewahrheitet.................................................................................................................... 120
Die Basis der Undenkbarkeit: apokalyptische Angst und absolute Amoralität ...................... 122
Der Rechtsstatus – beinahe völkerrechtswidrig ................................................................. 125
Zusammenfassung: Sieben Gesichtszüge der Unberührbaren .......................................... 126
– II –
I nh al t
5.2.2
Locking nukes in Pandora’s box: Entstehungsprozess des nuklearen Tabus ........127
Beginnende Stigmatisierung wenige Jahre nach Hiroshima ............................................... 129
Die US-Präsidenten und die Kraft des Tabus: nicht durchgehend konstitutiv ...................... 131
Herausforderung durch das Ende des Kalten Krieges? ..................................................... 134
5.2.3
Tabu unter dem security umbrella der Abschreckung? Zum Verhältnis der
Handlungslogiken .........................................................................................139
5.2.4
Zusammenfassung und Erosionskriterien .........................................................143
5.3
Zwischenfazit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier globaler Tabus................ 145
6.
Erosion zweier internationaler Tabus .......................................... 149
6.1
Erosion des Folterverbots ....................................................................................... 149
6.1.1
Zeitraum und Ablauf der Debatte ....................................................................149
Vor dem 11. September 2001: Letzte Schritte bei der Internalisierung des Folterverbots.... 150
Nach dem 11. September 2001: „Time to think about torture” ......................................... 152
6.1.2
Akteurspositionen für und gegen eine Legalisierung von Folter ............................155
Winter 2001: Vom Stammtisch in die Medienlandschaft ................................................... 156
Ausweitung der Debattenteilnehmer 2002 und 2003: „There are ways to make them talk”157
Höhepunkt der Debatte: Herbst 2003 bis 2004 ............................................................... 165
Mai 2004: Der Abu Ghraib-Skandal ................................................................................. 165
Sommer 2004: Die Veröffentlichung der Regierungsmemoranden .................................... 169
Herbst 2004 bis Herbst 2005: Intellektuelle Auseinandersetzung vor schweigender Öffentlichkeit......... 177
6.1.3
Argumentationsweisen im Streit um das Foltertabu............................................182
Neue Bedrohung, neue Regeln: Folter als Notwendigkeit im Zeitalter des Terrorismus ........ 183
„Should the ticking bomb terrorist be tortured?” Enge Kosten-Nutzen-Rechnungen der
NormgegnerInnen und Gegenmoral der BefürworterInnen ................................................. 188
„What’s Wrong With Torturing a Qaeda Higher-Up?” Erweiterte Kosten-NutzenArgumentation der FoltergegnerInnen ............................................................................... 191
„Does the Bush administration have a moral compass?” Moralische Argumentation der
FoltergegnerInnen ............................................................................................................ 195
Die Entmoralisierung von Folter: Eine neue juristische Balance und ein neues Menschenbild198
Das Absolute abwägen: The constitution is not a suicide pact .......................................... 198
„Geneva for demagogues”: Einblicke in die Rechts(lücken)argumentation der
Regierungsmemoranden.................................................................................................. 200
Der „folterbare” Terrorist als neues Menschenbild .............................................................. 205
Euphemisms all the way down: Ent-Totemisierungspraxis und das Vernehmen von „high
value targets”................................................................................................................... 208
Frontalangriffe: Das Foltertabu als irrationale Konstruktion, die Folterdiskussion als irrationale
Antwort ........................................................................................................................... 213
6.1.4
6.2
Empiriefazit: Erosion ja, aber wie?....................................................................214
Erosion des nuklearen Tabus.................................................................................. 219
6.2.1
Zeitraum und Ablauf der Debatte ....................................................................219
Materialübersicht.............................................................................................................. 219
Abolitionismus, Abrüstung und Angst vor Proliferation: Diskussion der 1990er Jahre .......... 221
– III –
I nh al t
Schwelende Erosionstendenzen bis 2002 ....................................................................... 228
6.2.2
Wichtige Stationen des Erosionsprozesses und seine ProtagonistInnen ...............230
Brisante Inhalte der Nuclear Posture Review ..................................................................... 231
Stimmen unmittelbar nach der Veröffentlichung ................................................................. 233
Budgetentscheidungen in Senat und Repräsentantenhaus als „Debatten-trigger”............... 236
6.2.3
Diskursive Schwächung des nuklearen Tabus ..................................................240
Führen der Debatte – aus unterschiedlichen Gründen begrüßt .......................................... 240
Face it – die Welt hat sich verändert! ................................................................................ 242
Sicherheitsstrategische Schlussfolgerungen...................................................................... 246
„Policy Changes? What Policy Changes?” ........................................................................ 254
„Wir entwickeln nicht, wir forschen nur und wir bauen nicht, wir entwickeln nur”.................. 259
Greatest brains of the world: Die Rolle der Wissenschaft ................................................... 261
Moralische Relativitäten .................................................................................................... 264
6.2.4
Empiriefazit: Erfolgreiche Herausforderung des nuklearen Tabus und seine naive
Verteidigung.................................................................................................268
Unbeabsichtigte Debatte – wer verschuldete die Erosion? ................................................ 271
Neue Rationalität, neue Angemessenheit: fortschrittliche Technik und zweitschlagsunfähige
Feinde............................................................................................................................. 273
Das Tabu zerstört sich selbst ........................................................................................... 274
6.3
Zwischenfazit: Empirische Ergebnisse zweier diskursiver Tabubrüche......................... 276
6.3.1
Datenmenge und Diskursverläufe....................................................................276
6.3.2
Uneinheitliche Akteursgruppen........................................................................277
6.3.3
Argumentation..............................................................................................279
6.3.4
Argumentative Auseinandersetzung als Einfallstor ..............................................283
7.
Conclusio: Theore tisierungsansätze unserer Ergebnisse ................ 284
7.1
Komplexer Internalisierungsprozess und norm challengers ........................................ 284
7.2
Agency-structure-Verhältnis und dessen sprachliche Vermittlung ............................... 287
7.3
Tabuspezifische Charakteristika............................................................................... 289
7.4
Zusammenfassung: mehrfache Fragilität der Tabus .................................................. 292
8.
Ganz kurzer Ausblick .............................................................. 293
Literatur ......................................................................................... I
Erosion des Folterverbots: Dokumente (Kapitel 6.1)............................................................. XIV
Erosion des nuklearen Tabus: Dokumente (Kapitel 6.2) .......................................................XXII
– IV –
Ab k ür zu n ge n
Abkürzungsverzeichnis
AI
AB M
AI P A C
A MR K
AT C A
BI S A
BS P
C AT
CEA
CEDAW
Am nest y I nter n at i on a l
Ant i Ba l l ist ic M iss i le
Ame r ic an Is rae l Pu b li c Af fa i rs C o mm ittee
Ame r ik a ni sc he Men sc hen rec hts k o nve nt i o n
A lie n T o rt C la i ms Act
Br iti sh I nter n ati o n a l St ud ie s A ss oc i ati o n
Br utt os oz i a lpr o d ukt
C o mm ittee a ga i nst T o rtu re
C o un c il of Ec o n om ic A dv is o rs
C o n vent i o n O n El i mi n at i on Of A ll F orm s Of
D is cr im i nat i o n A g a in st W om en
CIA
C TB T
CWMD
Ce ntr a l I nte l l ige nce A gen cy
C o mp rehe n si ve T est B a n Tr eat y
Nat i o na l Str ate gy t o C om b at We ap o ns of M as s
De str uct i on
Dee p ly b ur ie d ta r gets
De pa rtme nt of Def en se
De pa rtme nt of Stat e
Defe n se Sc ie nce B o ard
De utsc he Vere i ni g un g f ür P ol it i kw i sse nsc h aft
Eu r op ä isc he Me nsc he nre cht sk o n vent i o n
Exec ut ive Of fi ce of the Pre s ide nt
Ea rth Pe netr at in g We a p on s
Feder a l B ure a u of In vest i g ati o n
Fis ca l Ye ar
Ge nfe r K o nve nt i on en
G ra nd O l d P arty
H i gh ly C o erc i ve I nte rr o gat i o n
H ar d a n d Deep ly Bu r ied Ta rg ets
H um a n R ig hts W at ch
He ss isc he St iftu n g fü r Fr ie de ns- u nd K onf l i ktf o rsc hu n g
Inte rn at i o na l At om ic En er gy Age nc y
Inte rn at i o na le Bez ie hu n gen
Inte rc o nt ine nt al B al l ist ic M is s ile s
Inte rn at i o na le r Ger ic hts h of
Inte rn at i o na le s K o mite e v o m R ote n K reu z
Inte rn at i o na le Pa kt übe r b ür ger l ic he un d p o l it i sche
Recht e
Ir is h Re p ub l ic an Ar my
J oi nt C h iefs of St aff
Ko m itee f ür Sta at ss ic her he it
L os An ge les T ime s
M utu a l A ss ure d Dest ru cti o n
M i lit är i sc h- in d ustr ie l ler K om p lex
D BT
DOD
DOS
D SB
DV P W
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GC
GOP
HCI
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–V–
Ab k ür zu n ge n
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PFI A B
N ort h At l ant ic Tre aty Or g a ni zat i o n
Ni cht reg ie ru n gs o rg a ni s ati o n
Nat i o na l In st itute of He a lt h
Nat i o na l In st itute f o r P ub l ic P ol ic y
Nat i o na l M is si le Def en se
Nuc le ar P ost ure Re vi ew
N on -P r ol ife r ati o n T re aty
Nat i o na l Sec ur ity C o u nc il
Nat i o na l Sec ur ity Str ate gy
New Y or k T i mes
Or g an i sat i o n A mer i k an is che r St a ate n
Or g an iz at i o n f or Ec o n om ic C o - Ope rat i o n a n d
De ve l op me nt
Off ice of M a na ge ment a nd Bu d get
Off ice of t he Sec reta ry of Def en se
Pres i de nti a l D irect i o n D irect i ve
Pres i de nti a l F ore i g n I nte l li ge nce Ad v is o ry B o ar d
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The Pr o gr am o n Inte rn at i on a l P o l ic y Att it ude s
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Pu bl i c Re lat i o ns
Rev o l uti o n in M i l ita ry Aff ai rs
Ro b ust N uc le ar E art h Pe netr at or
Str ate gi c A rm s Re du cti o n T a lk s
Vere int e N ati o ne n
U S- D o l l ar
U S A T od ay
W ea p on s of Ma ss De str uct i on
W a sh i ngt o n P o st
W a l l St reet J o u rn a l
Zeit sch r ift f ür Inte rn at i on a le B ez ieh u ng en
– VI –
Ei nl e i t un g
1. Ganz kurze Einleitung
Brechen Gebäude zusammen, ist die danach klaffende Lücke kaum zu übersehen und auch
der Vorgang selbst ist direkt beobachtbar. Die Erosion internationaler Normen ist hingegen
nicht leicht zu erkennen: Die Veränderung oder das Verschwinden immaterieller sozialer
Konstrukte macht sich im Alltag nur indirekt und unter Umständen erst nach einiger
Zeit bemerkbar.
Auch in der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) wurde die Möglichkeit einer
Schwächung internalisierter Normen bisher nicht zur Kenntnis genommen. Vielmehr legt die
einschlägige Literatur nahe, dass internationale Normen nach einem (allerdings nicht immer
gradlinig verlaufenden) Prozess ihrer Stärkung schließlich von Akteuren internalisiert, d.h.
automatisch befolgt werden, ohne, dass der jeweilige Akteur die Angemessenheit dieses
strukturähnlich wirkenden Verhaltensstandards jemals anzweifeln würde. Das Ausblenden der
Möglichkeit einer Umkehrung dieses Prozesses, also eines erneuten Infragestellens der
Gültigkeit einer bereits internalisierten Norm von Seiten des Akteurs, lässt sich zum Einen als
einem unter NormtheoretikerInnen1 weit verbreiteten Fortschrittsglauben geschuldet
auffassen – denn ein Großteil der (sozialkonstruktivistischen) Normtheorie2 geht von einer
stetig zunehmenden „Zivilisierung“ der internationalen Beziehungen durch das Aufkommen
und Erstarken als positiv angesehener Normen aus. Zum Anderen ist diese theorieinhärente
Lücke auf eine generelle Unterbewertung von agency im Gegensatz zum Verständnis von
Normen als primär Akteurshandeln beeinflussendem Faktor zurückzuführen – was für eine
Theorierichtung, die sich gerade der Untersuchung komplexer Wechselwirkungen von Akteur
und Struktur verschrieben hat, zunächst seltsam anmuten mag.
Ziel der vorliegenden Magistraarbeit ist es, diese Schwächen der normtheoretischen
Ansätze aufzuzeigen und anhand zweier Fallstudien zunächst darauf hinzuweisen, dass
Normerosionen
möglich
sind
–
der
breit
geteilte
Forschrittsglaube
unter
NormtheoretikerInnen und die im Konzept einer Internalisierung von Normen angelegte
agency-Blindheit also unangemessen sind. Zu diesem Zweck bedienen wir uns zweier vom
bisherigen mainstream der Normtheorie vernachlässigter Konzepte, nämlich erstens dem des
Tabus in den IB, wie es bisher vor allem Eric Herring, Nina Tannenwald und Christopher
1
2
Wir haben uns bemüht, möglichst durchgängig geschlechtsneutrale Begriffe für Personengruppen zu
verwenden, bzw. sowohl deren männliche, wie auch deren weibliche Form anzugeben. In einigen
Kontexten erschien uns dies jedoch nicht korrekt, in anderen nicht möglich. So wird u.a. nur von
„Terroristen“ die Rede sein, da die für uns relevanten islamistischen Gruppen keine Frauen ausbilden oder
von „Bürgern“ für Epochen, in denen „Bürgerinnen“ noch keinerlei politischen Einfluss besaßen. Da im
Hintergrundkapitel zum politischen System der USA besonders viele Amtsgruppen und deren Funktionen
beschrieben werden, haben wir uns aus Gründen der Lesbarkeit entschieden, hier vollständig auf die
weiblichen Bezeichnungen zu verzichten.
Die von uns aus Vereinfachungsgründen gewählte Bezeichnung „Normtheorie“ soll nicht zu dem
irrtümlichen Schluss verleiten, es handele sich hierbei tatsächlich um eine Normtheorie im Sinne eines
einheitlichen und in sich geschlossenen Theoriegebildes – im Gegenteil meinen wir hiermit (ähnlich wie
etwa bei der liberalen Friedenstheorie) die Vielfalt der theoretischen Ansätze, die sich dem Charakter, der
Entstehung und Wirkung von internationalen Normen gewidmet haben bzw. nach wie vor widmen.
–1–
Ei nl e i t un g
Daase diskutiert haben und zweitens dem der Wirkung von Sprechhandeln von Akteuren zur
Konstruktion und Reproduktion von Normen, wie es etwa Fierke und Zehfuß einklagen und
welches wir um die diskursive Schwächung von internalisierten Normen bzw. Tabus ergänzen
möchten. Da das öffentliche und ernsthafte Infragestellen der Gültigkeit eines Tabus (durch
einen Akteur) bereits dessen Schwächung bedeutet, der Akt des Anzweifelns mit der
Normerosion also in eins fällt, lassen sich auf diese Weise Prozesse von Normschwächungen
besonders gut und auch intersubjektiv vermittelbar nachvollziehen.
Vor dem Hintergrund der vier eben genannten Elemente der Normtheorie
(Fortschrittsglaube, agency-Blindheit, Tabus und Sprechhandeln) und unserer Vorannahme –
dass Erosionen internationaler Normen möglich sind – stellen wir uns also die Frage, wie es
möglich ist, dass bereits internalisierte Normen von Seiten des Akteurs wieder in Frage gestellt
und auf diese Weise geschwächte Tabus erodieren können.
Zwei Normen, deren Gültigkeit in heftigen Debatten in Frage gestellt wird und die sich
deshalb als Fallstudien zur Beantwortung unserer Fragestellung besonders gut eignen, sind das
nukleare Tabu und das internationale Folterverbot. Gerade die Entwicklungen in den
vergangenen Monaten – von Drohungen Chiracs, „Schurkenstaaten“ nötigenfalls mit
Nuklearwaffen angreifen zu wollen bis zur Aufregung über geheime Gefangenenflüge der CIA
quer durch Europa – zeigen, dass die Diskussionsprozesse über diese beiden Tabus noch
lange nicht abgeschlossen sind und auch kaum absehbar ist, wie sie letztendlich enden werden.
Da für unsere Analyse nur der Beginn dieser Normschwächungsprozesse sowie das
Stattfinden der Erosion der beiden Tabus generell relevant ist, stellt dies für uns jedoch kein
Problem dar. Beide untersuchten Erosionsprozesse nahmen ihren Ausgang in den Vereinigten
Staaten, weshalb wir uns entschlossen haben, die Positionen und das Zusammenspiel der
innenpolitischen Akteursgruppen dieses Landes und ihrer für bzw. gegen die Schwächung der
untersuchten Tabus gerichteten Argumentationen in den Blick zu nehmen.
Die aus den Fallstudien und deren Vergleich gewonnen Erkenntnisse führen wir
schließlich vor dem Hintergrund der zuvor diskutierten Theorie internationaler Normen
zusammen, so dass sich für die vorliegende Arbeit folgender Aufbau ergibt:
Auf diese gemeinsam verfasste Einleitung (1.) folgt eine Einführung in die Normtheorie
von Elvira Rosert, an deren Schluss die für uns besonders relevanten theoretischen
Schwächen stehen (2.) und eine Herleitung der Fragestellung sowie der Herangehensweise von
Sonja Schirmbeck (3.). Mit einem Hintergrundkapitel über das politische System der USA der
gleichen Autorin (4.) beginnt die Darstellung der Fallstudien. Diese untergliedert sich in
jeweils ein Unterkapitel zur Entstehung des Folterverbots (5.1) und des nuklearen Tabus (5.2),
deren wichtigste Aspekte in einem ersten Zwischenfazit (5.3.) gemeinsam diskutiert werden
sowie in zwei weitere Unterkapitel zur Erosion des Folterverbots (6.1) und des nuklearen
Tabus (6.2), die mit einem zweiten Zwischenfazit (6.3) abgeschlossen werden. Beide
Zwischenfazits wurden gemeinsam verfasst, für die Fallstudie zum nuklearen Tabu zeichnet
Elvira Rosert, für die zum Folterverbot Sonja Schirmbeck verantwortlich. Die Schlüsse aus
–2–
Ei nl e i t un g
den beiden Fallstudien werden in einer Konklusion (7.) theoretisch eingebettet, bevor die
Arbeit mit einem kurzen Ausblick (8.) schließt. Beide Abschlusskapitel gehen auf beide
Autorinnen zurück. Erst im letzten Kapitel nehmen wir mit der Frage nach einer
wünschenswerten Weiterentwicklung der beiden untersuchten Debatten explizit eine
normative Perspektive ein, die wir aus den vorangegangenen Kapiteln möglichst
herauszuhalten versucht haben – auch, wenn dies im Hinblick auf das gewählte Thema nicht
immer einfach erschien.
–3–
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
2. Theoretischer Hintergrund: Normen in den Internationalen
Beziehungen
„…norms are standards for evaluating or ranking
people as good or bad, better or worse.” 3
„they are self-enforcing behavioral regularities.” 4
„Norms are collective expectations about proper
behavior for a given identity.” 5
Was den Charakter internationaler Normen ausmacht, wie und warum sie entstehen, sich
durchsetzen sowie durchgesetzt und letztendlich von einzelnen Akteuren internalisiert
werden, wird in der Politikwissenschaft und speziell in der Disziplin der Internationalen
Beziehungen breit diskutiert. Die Eingangszitate deuten es an: Uneinigkeiten bestehen bereits
in der Konzeption von dem, was Normen sind und sie setzen sich fort in unterschiedlichen
Vorstellungen von dem, was Normen tun, d.h. welche Folgen ihre Existenz haben kann und
wie sie ihre Wirkung entfalten. Das Aufkommen dieser an die Regimetheorie anschließenden
Diskussionen ist zwar im Zusammenhang mit der konstruktivistischen Wende Anfang der
1990er Jahre und dem Fokus auf die wechselseitige Bedingtheit von Strukturen und Akteuren
zu sehen, doch konkurrieren diese Modelle, trotz einiger Vermittlungsversuche, bis heute mit
rationalistischen, stark akteurszentrierten Ansätzen.
Ziel des folgenden Kapitels ist es, anhand der Auseinandersetzung mit konkurrierenden
theoretischen Zugängen einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der
Diskussion über internationale Normen zu geben, anschließend die Schwächen und blinden
Flecken der Theorie herauszuarbeiten und an ihnen die Relevanz der dieser Arbeit zugrunde
liegenden Fragestellung zu demonstrieren. Neben unterschiedlichen Normdefinitionen
werden unter Berücksichtigung der (wechselseitigen) Beziehungen von Interessen, Identitäten,
Kosten-Nutzen-Kalkülen und Handlungen Ansätze und Modelle zur Entstehung, Wirkung
sowie Durchsetzung von Normen skizziert, die zum Einen den Ausgangspunkt unserer
Analyse darstellen. Zum Anderen stellen sie jedoch auch den erforderlichen Rahmen für die
Durchführung unserer Fallstudien bereit, indem dieses Kapitel sowohl die Grundlagen für die
Beschreibung und Entstehung der von uns untersuchten internalisierten Normen legen als
auch eine Folie zur Interpretation der rekonstruierten Erosionsprozesse bieten soll.
3
4
5
Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community,
Cambridge, S. 2.
Epstein, Joshua 2001: Learning to Be Thoughtless: Social Norms and Individual Computation, in:
Computational Economics 18:1, S. 9-24, hier S. 9.
Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National
Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 54.
–4–
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
2.1 Behaviorismus
normativ
und
Sozialkonstruktivismus:
von
normal
zu
Die zunehmende Verwendung des Begriffes „Normen“ in den Internationalen Beziehungen
(aber auch in den anderen Sozialwissenschaften sowie in der Alltagssprache) ging/geht einher
mit einer Zunahme der diesem Begriff zugeschriebenen, häufig nicht explizierten,
Bedeutungen und trägt dem Umstand, dass der Begriff zur Bezeichnung unterschiedlicher
Sachverhalte herangezogen wird, nur unzureichend Rechnung.6 Zur Begriffsunschärfe führt
auch der Gebrauch von vermeintlichen Synonymen für die gleichen Phänomene. Ferner wird
existierenden Definitionsversuchen zum Vorwurf gemacht, sie erfassten Normen häufig „by
what they do – their consequences for social life – rather than by what they are “.7 Tatsächlich
scheint es nicht einfach zu sein, das Wesen von Normen unabhängig von ihren Auswirkungen
auf das Handeln zu bestimmen und diejenigen Charakteristika zu identifizieren, die eine Norm
beispielsweise von einer Regel, einem Wert oder einer Konvention unterscheiden – bei diesen
Schwierigkeiten handelt es sich jedoch auch um einen Hinweis auf die enge Verflochtenheit
der Begrifflichkeiten.
Grundlegend lassen sich zwei Arten von Normdefinitionen unterscheiden:8 Beiden
gemeinsam ist die explizite Verknüpfung von Normen und Verhalten, wobei in
kognitivistischen
Ansätzen
Erwartungshaltungen,
d.h.
unter
Normen
verhaltensbezogene
Verhaltensstandards
verstanden
Einstellungen
werden,
während
und
sich
behavioristische Ansätze auf das tatsächliche Verhalten beziehen und Normen daher als
bestimmte Verhaltensweisen konzipieren. So koppelt z. B. Axelrod seine Definition von
Normen als dem üblichen, häufig an den Tag gelegten Verhalten an die mögliche und die
tatsächlich erfolgende Sanktionierung von Normverstößen:
„A norm exists in a given social setting to the extent that individuals usually act in a
certain way and are often punished when seen not to be acting in this way. (…)
According to this definition, the extent to which a given type of action is a norm depends
on how often the action is taken and just how often someone is punished for not
taking it.”9
Mit ihrem Plädoyer, den Begriff Normen für normales, übliches, gewöhnliches Verhalten von
Staaten zu verwenden („normal state practices“), schließt sich auch Thomson der
behavioristischen Definition an, ohne jedoch Sanktionsmöglichkeiten miteinzubeziehen.10
6
7
8
9
10
Thomson, Janice E. 1994: Norms in International Relations: A Conceptual Analysis, in: International
Journal of Group Tensions 23:1, S. 67-83, hier S. 67.
Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 100.
Im Folgenden werden in erster Linie in den Internationalen Beziehungen gebräuchliche Definitionen
dargestellt – Konzepte aus anderen Disziplinen kommen nur insofern zur Sprache als sie für das
Verständnis notwendig sind.
Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S.
1095-1111, hier S. 1097.
Die für die Entstehung und Aufrechterhaltung der normalen Praxis verantwortlichen Faktoren (z. B.
normative Überzeugungen, Kosten-Nutzen-Kalküle, Gewohnheiten) seien für diese Definition unerheblich
–5–
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Neben diesem rationalistischen, auf die Normalität von Normen als „self-enforcing behavioral
regularities“11 abzielenden Verständnis, existieren zahlreiche Ansätze, die ihre Normativität als
zentrales Element hervorheben. So spricht Bull zwar noch von „rules“ als den „general
imperative principles which require or authorize prescribed classes of persons or groups to
behave in prescribed ways (…) [and, ER] which spell out the kind of behavior that is orderly“, 12
bringt damit jedoch bereits den Kern der später von Katzenstein et al. entwickelten und
inzwischen als Standard anerkannten sozialkonstruktivistischen Definition von Normen als
Verhaltenserwartungen zum Ausdruck: „Norms are collective expectations about proper
behavior for a given identity “.13 Mehrere Aspekte sind bei diesen Auffassungen zentral:
Erstens haben Normen imperativen Charakter, können also in „Du sollst-“ oder „Es wird
erwartet,
dass du“-Sätze
übersetzt
werden
und sie
eignen
sich,
zweitens,
als
Verhaltensmaßstab, indem sie definieren, welches Verhalten als „orderly “ bzw. „proper“
einzuordnen ist.14 Drittens gelten sie für bestimmte Akteure bzw. Gruppen, die sich durch
eine gemeinsame Identität auszeichnen, sie sind folglich ihrem Wesen nach kollektiv und
intersubjektiv, was auch durch ein ergänzendes Verständnis von Normen als Interpretation
und Bewertung von Handlungen ermöglichenden „collectively shared understandings of
reality ”15 unterstrichen wird. Die normativen Erwartungshaltungen werden in Gebots- und
11
12
13
14
15
und stellen ein „ separate analytic issue“ dar. Thomson, Janice E. 1994: Norms in International Relations: A
Conceptual Analysis, in: International Journal of Group Tensions 23:1, S. 67-83, hier S. 79ff.
Epstein, Joshua 2001: Learning to be Thoughtless: Social Norms and Individual Computation, in:
Computational Economics 18:1, S. 9-24, hier S. 9. Wenn man, wie u. a. Epstein Normen als
Verhaltensregelmäßigkeiten begreift, erübrigt sich auch die Unterscheidung zwischen Normen und
Konventionen, weshalb der Autor beide Begriffe synonym verwenden kann.
Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke,
S. 53f.
Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National
Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 54.
Die Vorstellung von Normen als Verhaltensmaßstäben ist bereits in der Regimetheorie enthalten, so
nehmen Axelrod und Keohane auf Krasners Bezeichnung von „ standards of behavior defined in terms or
rights and obligations“ als Normen Bezug, wenn sie Regimen die Fähigkeit, „to provide standards against
which actions can be measured “ zusprechen. Krasner, Stephen 1983: International Regimes, Ithaca/London,
S. 2 und Axelrod, Robert/Keohane, Robert O. 1986: Achieving Cooperation under Anarchy: Strategies and
Institutions, in: Oye, Kenneth A. (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton, S. 226-254, hier S. 237.
Elgström, Ole 1998: Norm negotiations. The construction of new norms regarding gender and
development in EU foreign aid policy, in: Journal of European Public Policy 7:3, S. 457-76, hier S. 459.
Elemente dieser Definition finden sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen bei zahlreichen
AutorInnen, z. B. hebt auch Finnemore den konsensualen Charakter von Normen hervor: „they exist only
as convergent expectations or intersubjective understandings“. Nach Payne stellen Normen „a community’s
shared understandings and intentions“ dar. Die Rolle von Normen hinsichtlich der Interpretation von
Verhalten hebt Alderson hervor, indem er sie als „constellations of shared interpretive schemas and
templates for action“ auffasst. S. Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian
Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World
Politics, New York, S. 153-185, hier S. 160, Payne, Rodger A. 2001: Persuasion, Frames and Norm
Construction, in: European Journal of International Relations 7:1, S. 37-61, hier S. 37 und Alderson, Kai
2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, hier S. 422.
–6–
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Verbotssystemen, die ein Spektrum an erforderlichen und erlaubten Handlungen eröffnen,16
umgesetzt und entfalten über diese ihre verhaltensregulierende Wirkung.
Kann man bei den bisher dargelegten Charakteristika von Normen noch vom
sozialkonstruktivistischen common sense sprechen, fangen bei darüber hinausgehenden
Begriffsbestimmungen bereits die Differenzen an. Verschiedene Auffassungen finden sich
zum Einen hinsichtlich des moralischen Gehaltes von Normen, sofern dieser thematisiert
wird: So erachtet Elster Handlungsanweisungen „Do X“ oder „Don’t do X“ bereits als
(einfache) soziale Normen, ohne dass diese darüber Aufschluss geben, ob sie aus moralischen
oder anderen Gründen zu befolgen sind. Dass Moral für ihn nicht zum Kernbestandteil einer
Norm gehört, wird auch in seinem Hinweis auf die Notwendigkeit, zwischen sozialen und
moralischen Normen zu unterscheiden, deutlich.17 Diese Ansicht wird mit der Begründung,
Verhaltensstandards könnten auch funktionaler und damit nicht-ethischer Natur sein, auch
von Klotz18 sowie einer Reihe anderer AutorInnen geteilt, die moralische Normen als einen
Normtypus
unter
anderen
benennen.19
Demgegenüber
stehen
Ansätze,
die
die
Vernachlässigung moralischer und ethischer Gesichtspunkte unter Verweis darauf kritisieren,
dass Normen in erster Linie normativ sind (wobei normativ hier nicht einfach „oughtness“
sondern moralisch richtig bedeutet)20 sowie den moralischen Charakter kollektiver
16
17
18
19
20
Siehe hierzu: Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 101. Elster
spricht in diesem Zusammenhang von „obligations and interdictions, from which permissions can be
derived “. Kowert und Legro verwenden zunächst die Bezeichnung „ social prescriptions (…) [which, ER]
regulate behavior “, um im Folgenden darauf hinzuweisen, dass diese „for the proper enactment of (…)
identities “ notwendig sind. Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in:
Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 452f.
Um diese Unterscheidung zu begründen, greift er auf die von ihm als zentral erachteten Eigenschaften von
sozialen Normen als Selbstzweck und nicht als Instrument zur Zielerreichung („nonconsequentialist“ und
„not outcome-oriented “) zurück, die er kontrastierend zur rationalistischen, ergebnisorientierten
Handlungslogik und damit zur Bindung von Normen (als Mittel) an bestimmte Ziele („If you want to
achieve Y, do X “) herausstellt. Da moralische Normen jedoch dazu dienen, moralische Ziele zu erreichen
und somit auch konsequentialistisch sind, sind sie von sozialen Normen zu trennen. Elster, Jon 1989: The
Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 98ff.
Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 14. Zur
Verdeutlichung ihres Arguments lassen sich folgende Beispiele anführen: Obwohl eine Norm existiert, die
besagt, dass man sein Gegenüber ausreden lassen sollte, würden Unterbrechungen und Zwischenrufe zwar
sehr wohl als Normverstöße registriert, jedoch nicht als unmoralisch bewertet werden. Wohingegen die
absichtliche Tötung von ZivilistInnen, um z. B. die Ratifikation eines Vertrages zu erzwingen, eindeutig
gegen moralische Grundsätze verstoßen würde.
So z. B. Bull: „These rules may have the status of law, of morality, of custom or etiquette, or simply operating
procedures or ‚rules of the game’“. Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society: A Study of Order in World
Politics, London/Basingstoke, S. 53f. S. auch Hoffmann, der moralische Verhaltensstandards neben
normativen und institutionellen nennt. Hoffmann, Matthew J.: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An
Agent-Based Model of the Norm Life Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S.
3, online unter <http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev.
30.09.2005. Bei Cancian schwingt der moralische Aspekt zumindest mit, wenn sie Normen bzw. die
Einhaltung derselben als ein Mittel beschreibt, um Menschen als gut oder böse, besser oder schlechter
einstufen zu können. Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a
Maya Community, Cambridge, S. 2.
Wir teilen diese Auffassung nicht und sehen die moralische Komponente bei dem Begriff „normativ“ nicht
als zwingend notwendig an, sondern verstehen darunter zunächst etwas, das sein soll und erwünscht wird,
ungeachtet der für die Gesolltheit/Erwünschtheit angeführten Begründung.
–7–
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Erwartungen und die auf eventuelle Verstöße folgende moralische Entrüstung explizit
festschreibende Normdefinitionen.21
Die Rolle von Sanktionsmöglichkeiten wird in sozialkonstruktivistischen – wie in
behavioristischen Definitionen – ebenfalls unterschiedlich eingeschätzt: Werden sie einerseits
notwendigerweise als „ essential component[s]“22 von Normen erachtet, bedürfen legitime
Regeln nach Bull keinerlei Sanktionsmechanismen, weil die in ihnen enthaltenen
Wertvorstellungen geteilt werden23 und laut Katzenstein sind mit Normen häufig, jedoch nicht
immer, sanktionierende Elemente verbunden.24 Ferner werden interne und externe
Sanktionen unterschieden, wobei letztere sowohl materielle (z. B. Gewaltanwendung oder
Embargos), formelle (rechtliche) als auch soziale negative Folgen (wie (internationale)
öffentliche Entrüstung, Einstellung diplomatischer Kontakte, Statusverlust) und erstere die
Empfindungen des Akteurs selbst (beispielsweise Schuldgefühle und Scham), aber auch die
seitens innerstaatlicher Akteure geübte Kritik umfassen können.25
Welcher Stellenwert Sanktionen beigemessen wird, ist nicht zuletzt vom jeweiligen
Normtypus abhängig – sie sind wichtiger im Fall von bisher beschriebenen regulativen
Normen, also Handlungsanleitungen für Akteure mit einer bestimmten Identität, als bei
konstitutiven, d.h. eben dieser Identität zugrunde liegenden Normen. Während (materielle
oder
soziale)
Belohnungs-
und
Bestrafungssysteme
die
Wahl
einer
bestimmten
Handlungsalternative unattraktiv erscheinen lassen können, sind sie „in struggles to define the
mutual understandings (assumptions such as state sovereignty, private property, and
21
22
23
24
25
Siehe hierzu: Goertz, Gary/Diehl, Paul F. 1992: Toward a Theory of International Norms: Some
Conceptual and Measurement Issues, in: Journal of Conflict Resolution, S. 634-664, Kübler, Dorothea 2001:
On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics & Organization 17:2, S. 449-476,
Nadelmann, Ethan 1990: Global Prohibition Regimes: The Evolution of Norms in International Society, in:
International Organization 44:4, S. 479-526.
Goertz, Gary/Diehl, Paul F. 1992: Toward a Theory of International Norms: Some Conceptual and
Measurement Issues, in: Journal of Conflict Resolution, S. 634-664, S. 638, auch laut Cancian muss eine
Definition von Normen auf Sanktionen Bezug nehmen. Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A
Study of Beliefs and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 7.
Wenn Regeln nicht hinreichend „ legitimiert“ sind, erkennt Bull durchaus die Notwendigkeit von
Sanktionen an, damit sie wirken. Da er die Charakteristika von Regeln an ihre Effektivität bindet, d.h. die
Frage beantwortet, wie Regeln sein müssen, damit sie effektiv sind, bleibt offen, ob ineffektive Regeln noch
als Regeln gelten können. Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics,
London/Basingstoke, S. 56f.
Katzenstein, Peter 1996: Cultural Norms and National Security, Ithaca/London, S. 21.
Zu unterschiedlichen Sanktionstypen siehe u. a. Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in:
Review of International Studies 27:3, S. 415-433, S. 418 ff., Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary
Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S. 1095-1111, S. 1097, Axelrod,
Robert/Keohane, Robert O. 1986: Achieving Cooperation under Anarchy: Strategies and Institutions, in:
Oye, Kenneth A. (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton, S. 226-254, S. 237, Elster, Jon 1989: The
Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 100f., Goertz, Gary/Diehl, Paul F. 1992:
Toward a Theory of International Norms: Some Conceptual and Measurement Issues, in: Journal of
Conflict Resolution, S. 634-664, S. 638, Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions.
On the conditions of practical and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge,
S. 70f., Kübler, Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics &
Organization 17:2, S. 449-476, S. 451.
–8–
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
individual equality)“26 von nachrangiger Bedeutung, handelt es sich hierbei um die
Herausbildung grundlegender gemeinsamer Überzeugungen (und eben nicht bloßer
Verhaltensanpassungen) darüber, wer die Akteure sind und auf Basis welcher Werte sie
agieren.27 Konstitutive Normen sind folglich solche, die notwendig sind, damit eine bestimmte
Identität28 als eine solche zählt; sie definieren also die Identität eines Akteurs, innerhalb derer
regulative Normen nicht nur Gültigkeit und Wirksamkeit erlangen, sondern möglicherweise
überhaupt erst einen Sinn ergeben.29 Eine trennscharfe Unterscheidung regulativer und
konstitutiver Normen ist ebenso schwierig, wie die Bestimmung davon, welche zuerst
existier(t)en. Denn einerseits wirkt das Einhalten bestimmter regulativer Normen
konstituierend, indem sie nicht nur für den Akteur selbst feste Bestandteile seiner Identität
sind, sondern das Vorhandensein dieser Identität auch gegenüber anderen Akteuren zum
Ausdruck bringen, sie führen demnach zur Herausbildung und Aufrechterhaltung einer
Identität. Andererseits muss letztere bereits vorherrschen, bevor die Akteure bestimmte
Standards als für sich handlungsleitend wahrnehmen, akzeptieren und ihr Verhalten
dementsprechend anpassen.30
26
27
28
29
30
Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 27.
Zu konstitutiven und regulativen Normen siehe z. B. Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein,
Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of
National Security, New York, S. 33-75, S. 54, Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International
Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 891,
Katzenstein, Peter 1996: Cultural Norms and National Security, Ithaca/London, S. 18.
Ausführlich zu Identitäten siehe S. 16 der Arbeit.
Ausführlich zur Unterscheidung zwischen „constitutive and regulative rules“ s. Searle, John R. 1995: The
Construction of Social Reality, New York, S. 27ff. und 43ff. Kratochwil illustriert sie anhand eines
Schachspieles: Wenn man „Schach“ sagt und damit dem Mitspieler signalisiert, dass dessen König in Gefahr
ist, handelt es sich hierbei nur deshalb um eine sinnvolle Handlung, weil konstitutive Regeln den König zu
einer besonderen, über gewisse Eigenschaften und Fähigkeiten verfügende Schachfigur werden lassen und
als das Ziel des Spiels die Bezwingung des Königs festschreiben. Ohne diese konstitutiven Regeln, die die
Akteure des Schachspiels definieren und dadurch bestimmte Handlungen in dem Sinne ermöglichen dass
ohne sie sinnhaftes Handeln nicht möglich ist, kann man die Aktion „Schach“ nicht begreifen. Im
Gegensatz dazu verleihen regulative Regeln den Handlungen nicht unbedingt Sinn, so dass sie überhaupt zu
Handlungen werden – die Handlungen können auch ohne regulative Regeln existieren und begriffen
werden. Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical
and legal reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 26.
An folgendem Beispiel soll der Versuch einer Verdeutlichung des Unterschiedes und der damit
einhergehenden Schwierigkeit vorgenommen werden: Als konstitutive Norm wird in der Literatur häufig die
Norm der staatlichen Souveränität gehandelt, d.h. die Vorstellung der Unabhängigkeit eines Staates nach
außen und seines Selbstbestimmungsrechts nach innen. Souveränität ist insofern eine konstitutive Norm, als
sie zum Einen grundlegend für die Definition von Akteuren als Staaten und zum anderen für die staatliche
Handlungsfähigkeit ist – sobald als Staaten definierte Akteure in Erscheinung treten, nehmen regulative
Normen auf ihr Handeln Einfluss. Die Wahrung staatlicher Souveränität ihrerseits ist jedoch abhängig von
regulativen Normen wie dem in Artikel 2 Abs. 7 der Charta der Vereinten Nationen verankerten
Nichteinmischungsgebot in die inneren Angelegenheiten sowie dem gebotenen Respekt der territorialen
Integrität. Auch ihre Anerkennung wird zunehmend an Bedingungen, etwa die Einhaltung elementarer
(regulativer) Menschenrechtsstandards, geknüpft.
–9–
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2.2 Fallen Normen vom Himmel? Ursachen und Quellen ihrer
Entstehung
Wie bereits angeklungen ist, bedingen regulative und konstitutive Normen sich gegenseitig,
was die Antwort auf die Frage, welche Normen zuerst entstehen, schwierig oder gar
unmöglich macht und darüber hinaus das Augenmerk auf ein größeres Problemfeld lenkt:
Nicht nur die Bestimmung einer eventuellen Reihenfolge der Normentstehung ist in manchen
Fällen schwer vorzunehmen, sondern auch die Suche nach dem Ursprung von Normen und
den Ursachen ihrer Entstehung, stellt eine – in der Literatur zwar als Problem aufgeworfene,
jedoch nur marginal in Angriff genommene – Herausforderung dar.31 Die die Wirkung,
Wirksamkeit und Durchsetzung einer Norm fokussierenden Ansätze setzen ihre Existenz in
der Regel voraus und konzentrieren sich auf Rahmenbedingungen, die ihre Verbreitung und
ggf. Institutionalisierung begünstigen, sie setzen letztere mit ihrer Entstehung gleich. Letzteres
kann daran liegen, dass unter Normentstehung weniger die Evolution der Idee von der Norm
selbst, sondern ihr „Werdegang“ von einer subjektiven, wenig verbreiteten Überzeugung zu
einem kollektiven Verhaltensstandard verstanden wird.
Bei der Suche nach den Ursachen für die Genese von Normen liegt eine
funktionalistische Betrachtungsweise nahe, d.h. die Annahme, dass sie sich entwickeln, weil sie
bestimmte Funktionen erfüllen, es sich bei Normen also um Antworten auf Probleme und
Bestandteile von Problemlösungsstrategien handelt.32 Während rationalistische Ansätze den
Regelungsbedarf eines offensichtlichen Problems als Ausgangspunkt nehmen und in der
Herausbildung von Normen den Ausdruck von exogenen Akteurspräferenzen sowie ein
Mittel zur Senkung von Transaktionskosten erkennen (wollen),33 gehen konstruktivistische
Ansätze davon aus, dass ein kollektives Problembewusstsein vorherrschen bzw. ggf. erst in
31
32
33
Z.B. kritisiert Florini die Behandlung von Normen als „unexplained sources of the exogenously given
preferences of actors “. Auch Kowert/Legro merken an, dass neorealistischen und neoinstitutionalistischen
Ansätzen zwar zum Vorwurf gemacht wird, von fixen, von außen vorgegebenen staatlichen Präferenzen
und Interessen auszugehen, die sozialkonstruktivistischen Ansätze jedoch den gleichen Fehler wiederholen,
wenn sie die soziale Konstruiertheit von Identitäten und Normen anerkennen, ohne auf die Prozesse
einzugehen, die dazu geführt haben, dass Normen und Identitäten entstanden sind. S. Florini, Ann 1996:
The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363-389, hier S. 363 oder
Sugden, Robert 1989: Spontaneous Order, in: Journal of Economic Perspectives 3:4, S. 85-97 sowie
Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity, and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The
Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 454 und S. 469.
Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal
reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 69. Kübler erkennt die
Problemlösungsfunktion von Normen zwar an, gibt aber zu bedenken, dass wir es auch hier mit einem
Zirkel zu tun haben, denn damit eine Norm wirksam werden kann, müssen andere „collective action
problems“ schon gelöst worden sein, was wiederum die Existenz anderer Normen voraussetzt. Kübler,
Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics & Organization
17:2, S. 449-476, S. 451.
Siehe als zentralen Text dieses Ansatzes Axelrod, Robert/Keohane, Robert O. 1986: Achieving
Cooperation under Anarchy: Strategies and Institutions, in: Oye, Kenneth A. (Hg.): Cooperation Under
Anarchy, Princeton, S. 226-254.
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Aushandlungsprozessen hergestellt werden muss.34 Über die Fähigkeit zur Lösung konkreter
Probleme hinausgehend, identifizieren viele AutorInnen sowohl regulative als auch
konstitutive Normen als zentrale Bestandteile des internationalen Systems, als „powerful
ordering principles“,35 die für die Schaffung und Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt
sorgen,36 indem sie nicht nur Akteure definieren und als Handlungsrichtlinien dienen, sondern
auch Kommunikation ermöglichen, weil sie einen bestimmten interpretativen Rahmen
kreieren, innerhalb
werden können.37
dessen
Forderungen
gestellt
und
Begründungen
vorgebracht
Auch nach der Feststellung, dass es sich bei der Entstehung von Normen um eine
Reaktion auf erkannte, kommunizierte und infolge dessen akzeptierte Notwendigkeiten
handelt, bleibt die Frage nach den Quellen von Normen offen. Eine einfache Vermutung, die
jedoch Gefahr läuft, als zirkuläres Argument gesehen zu werden, lautet, dass Normen aus
anderen Normen entstehen, z.B. sich aus Normen höherer Ordnungen herleiten lassen oder
sich aber auch als ergänzende Normen auf der gleichen Ebene entwickeln (Interaktionen
zwischen Normen).38 Der Ausgangspunkt von Sugden, dass „rules regulating human action
can evolve without conscious human design“, steht im Widerspruch zur funktionalistisch-
intentionalistischen Erklärungsansätzen, ist jedoch dem Ansatz „norms cause norms“ ähnlich,
begreift er Normen doch als ein sich aus Konventionen herausbildendes Zufallsprodukt:
Zunächst stellen sich Verhaltensgewohnheiten ein, die ihrerseits Verhaltenserwartungen
erzeugen, denen die Akteure aufgrund ihres „desire for the approval of others“ Folge leisten
(und die damit zur Norm werden).39 Auch Florini nimmt, indem sie eine interessante Analogie
34
35
36
37
38
39
An der Erzeugung dieses Bewusstseins sind sogenannte norm entrepreneurs beteiligt – staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die bestimmte Problemfelder erkannt haben und daran arbeiten,
EntscheidungsträgerInnen vom dringenden Regelungsbedarf zu überzeugen. Ausführlich zu diesem Punkt
S. S. 27 der Arbeit.
Simon, Steven/Martini, Jeff 2004: Terrorism: Denying Al Qaeda Its Popular Support, in: The Washington
Quarterly 28:1, S. 131-145, hier S. 132.
Etwa Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke,
S. 53, Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 894 oder Nadelmann, Ethan 1990: Global Prohibition
Regimes: The Evolution of Norms in International Society, in: International Organization 44:4, S. 479-526,
S. 480f.
Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal
reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 70, auch Finnemore,
Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International
Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 892.
Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The
Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 470. Ein mögliches Beispiel für die Herleitung
aus Normen höherer Ordnung ist das Gewaltverbot, das sich aus der staatlichen Souveränität ableitet.
Sugden, Robert 1989: Spontaneous Order, in: Journal of Economic Perspectives 3:4, S. 85-97, hier S. 86
bzw. S. 95. Wie Gewohnheiten zur Norm werden können, veranschaulicht Kratochwil am Beispiel eines
Ehepaares (wobei die Frau natürlich diejenige ist, die zuhause auf ihren Mann wartet, der von der Arbeit
heimkehrt): Die Tatsache, dass er gewöhnlich zu einer bestimmten Uhrzeit nach Hause kommt, würde,
sollte er unpünktlich sein, zur Verärgerung der Frau beitragen, da ihre, sich über Zeit eingestellten,
Erwartungen enttäuscht werden würden. Auch wenn ihre Erwartungshaltung vorher niemals ausgesprochen
wurde, würde es aufgrund der Verspätung zu einem Gespräch der Ehepartner kommen, an dessen Ende
eine Norm (pünktlich nach Hause zu kommen oder Verspätungen anzukündigen) stehen könnte.
– 11 –
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von Normen und Genen herstellt, eine evolutionistische Perspektive ein: So wie die Evolution
kein teleologischer Prozess ist, ist auch der Prozess der Entstehung von Normen nicht
unbedingt Ausdruck konkreter Zielsetzungen. Vielmehr handelt es sich bei Normen wie bei
Genen um das Resultat zahlreicher (kleiner), den Mechanismen der Selektion (Variation, also
das Vorhandensein von Handlungsalternativen, Reproduktion, d.h. Wiederholung und
Imitation von Handlungen und Konkurrenz, verstanden als die Möglichkeit, dass sich
bestimmte
Handlungstypen
auf
Kosten
anderer
durchsetzen)
unterworfenen
Verhaltensanpassungen, die den Anforderungen der Umwelt am besten entsprechen.40 Die
Interaktion zwischen Umwelt und Akteur wird auch von Kowert/Legro als eine mögliche
Normquelle behandelt. Demnach sehen sich Akteure gelegentlich mit dramatischen
Veränderungen ihrer Umwelt („external shock“) konfrontiert und dadurch gezwungen, neue
Normen aufzustellen, welche in diesem Fall als Folge einer Revolution betrachtet werden
können. Sie können jedoch auch durch eine Iteration entstehen, d.h. sich sukzessive und über
Zeit den Ansprüchen der Realität annähern. Der zweite von den Autoren in diesem
Zusammenhang behandelte Interaktionsprozess ist der zwischen zwei oder mehreren
Akteuren: Hier kann zum Einen „shared knowledge“, das im Verlauf einer kommunikativen
Auseinandersetzung entsteht, in eine Norm umgesetzt werden, zum Anderen entstehen
Normen infolge der Herausbildung von Identitäten und damit verbundenen Inklusions- und
Exklusionsprozessen.41 Wie genau dies vor sich geht, das gestehen auch Kowert/Legro ein,
bleibt unterbelichtet. Eine mögliche Erklärung könnte unseres Erachtens sein, dass sich
(staatliche oder nicht-staatliche) Akteure im Prozess der Definition ihrer Identität besonders
intensiv mit dem eigenen Verhalten und mit dem von Akteuren, denen sie sich verbunden
fühlen, beschäftigen (Inklusion) sowie – und dies ist entscheidend – auch die Handlungen
derjenigen Akteure analysieren, die sie nicht als zur eigenen Gruppe zugehörig erachten
(Exklusion). Zu einer Norm könnte hier ein Verhalten werden, das innerhalb der eigenen
Gruppe dominiert oder als das Gegenteil des in der anderen Gruppe beobachteten Verhaltens
gesehen wird, von der man sich durch die Norm deutlich abgrenzen möchte.
2.3 Wie Normen wirken: zwei Handlungslogiken
Es ist deutlich geworden, dass die Frage nach der Entstehung von Normen sich anscheinend
nicht abschließend und befriedigend klären lässt und die vorhandenen Erklärungsversuche
leider unpräzise, spekulativ und außerdem sehr spärlich bleiben, insbesondere im Vergleich
40
41
Kratochwil, Friedrich V. 1991 [1989]: Rules, norms, and decisions. On the conditions of practical and legal
reasoning in international relations and domestic affairs, Cambridge, S. 82f.
Die Ähnlichkeit zwischen Normen und Genen plausibilisiert sie anhand folgender Charakteristika, die sie
sowohl bei Normen als auch bei Genen ausmacht: Beide seien erstens „ instructional units directing the
behavior of their respective organisms “, sie werden, zweitens, weitervererbt bzw. kulturell übermittelt und
drittens sind sie „contested “, d.h. sie befinden sich in einem ständigen Wettbewerb mit anderen Einheiten.
Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363389, hier S. 367 bzw. S. 369.
Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The
Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier S. 470ff. bzw. S. 475.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
zur Literatur, die sich ausgehend von dem inzwischen konsensualen Befund „norms matter“42
mit der Wirkung von Normen befasst. Zwei unterschiedliche, häufig zwar als gegensätzlich
gehandelte, in einigen Arbeiten jedoch auch miteinander verknüpfte Ontologien – homo
oeconomicus und homo sociologicus – und zwei damit einhergehende Handlungslogiken – logic
of consequences (auch logic of consequentialism) und logic of appropriateness – bilden den
Hintergrund der Überlegungen dazu, warum und über welche Mechanismen Normen einen
Einfluss auf das Akteursverhalten ausüben können. Zentral für diese Debatte sind die
Beziehungen zwischen den Faktoren Interessen, Kosten-Nutzen-Kalkülen, Identitäten
und Normen.
2.3.1 Rationalismus: Kostenvorteile durch Normbefolgung
Akteurszentrierte,
Nutzenmaximierer,
rationalistische
die
Ansätze43
auf Basis von
konzipieren
individuellen
Akteure
als
egoistische
Kosten-Nutzen-Kalkülen
und
feststehenden Präferenzen Entscheidungen treffen. Normen können in diesem Verständnis
nur existieren, wenn und solange sie den Akteursinteressen entsprechen und ihren
optimierenden Zweck – dem Akteur einen größeren Nutzen oder eine Gruppe von mehreren
Akteuren dem besten zu erreichenden Ergebnis näher zu bringen – erfüllen. Dieses Ergebnis
kann deshalb erreicht werden, so lautet die spieltheoretisch inspirierte Argumentation, weil
Normen erstens einen Rahmen bereitstellen, in dem die Staaten ihre Erwartungen
koordinieren können und zweitens, ihre konsequente Befolgung über mehrere „Spiele“
hinweg das Vertrauen der Akteure ineinander festigt und für Erwartungsstabilität sorgt,
wodurch die Kooperationsbereitschaft der Akteure und ihre Kooperationsgewinne erhöht
werden können.44 Durch die Schaffung und Veränderung von Anreiz- und Sanktionssystemen
können Normen zwar nicht die (fixen!) Interessen der Staaten neu ausrichten, sehr wohl aber
ihre Kosten-Nutzen-Kalküle betreffend die Wahl bestimmter Strategien verschieben, indem
sie über die zur Verfügung stehenden Mittel Aufschluss geben und der Einsatz resp. der
Nicht-Einsatz bestimmter Mittel zum Erreichen der gewünschten Zwecke bestraft oder
belohnt wird.45 Dieser Auffassung folgend, handeln die Akteure also nach der logic of
42
43
44
45
S. statt vieler Checkel: „…the once controversial statement that norms matter is accepted by all except the
most diehard neorealists”. Checkel, Jeffrey T. 1997: International Norms and Domestic Politics: Bridging
the Rationalist-Constructivist Divide, in: European Journal of International Relations 3:4, S. 473-495,
hier S. 473.
Für eine Zusammenfassung der zentralen Annahmen siehe Hasenclever, Andreas/Mayer, Peter/Rittberger,
Volker 1997: Theories of International Regimes, Cambridge S. 23ff.
Besonders die Anfang der achtziger Jahre aufgekommene Regimetheorie hat sich anhand verschiedener
spieltheoretischer Modelle intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum Staaten unter der Bedingung
der Anarchie im internationalen System dennoch Kooperationshindernisse wie Informationsunvollkommenheit und Misstrauen überwinden und Regime bilden können. Grundlegend hierbei sind die
Sammelbände von Krasner, Stephen 1983 (Hg.): International Regimes, Ithaca/London und Oye, Kenneth
A. 1986 (Hg.): Cooperation Under Anarchy, Princeton.
Dieses neoinstitutionalistische Argument findet sich auch in: Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms
of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security. Norms and
Identity in World Politics, New York, S. 153-185, hier S. 183.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
consequences, sie wägen Handlungsalternativen im Hinblick auf ihre wahrscheinlichen, in
Zukunft zu erwartenden Konsequenzen für die eigenen und kollektiven Ziele ab und sie tun
dies im Bewusstsein, dass solche Kalkulationen von anderen Akteuren genauso durchgeführt
werden:
„The
behavior
of
individuals
or
states
is
influenced
by
providing
consequentialist incentives.“46
Davon ausgehend, dass das Bild des vollständig informierten, uneingeschränkt rational
kalkulierenden Akteurs in der eher durch Unsicherheit gekennzeichneten Empirie in dieser
Form nicht anzutreffen ist, trifft Axelrod die Annahme, dass Akteure mit einer „limited
rationality “ eher nach der Versuch-und-Irrtum-Methode vorgehen, d.h. diejenige Strategie
wiederholen, die sich als erfolgreich erwiesen hat und entsprechend diejenigen verwerfen, die
nicht zum erwünschten Ergebnis geführt haben.47 Auf dieser Grundlage basiert auch das
Prinzip der Imitation, mit dem Unterschied, dass Akteure hierbei nicht ihre eigenen
Erfahrungen wiederholen, sondern die potentiellen Kosten von Misserfolgen reduzieren,
indem sie andere Akteure beobachten und entweder das bereits von ihnen an den Tag gelegte
und zum Erfolg geführte Verhalten nachahmen,48 oder sich an den Entscheidungen derjeniger
Akteure orientieren, die sie für besser informiert halten und denen sie infolge dieses
Informationsvorsprungs
zu entscheiden.49
zutrauen,
sich
für
erfolgversprechendere
Alternativen
Die zunächst dominierende Vorstellung, dass v.a. die Aussicht auf materielle Gewinne
bzw. Verluste zu compliance führt, d.h. ein bestimmtes Verhalten begünstigen bzw. den
Akteur davon abhalten kann, wurde inzwischen auch auf rationalistischer Seite um die
Bedeutung nicht-materieller Faktoren wie Status und Reputation ergänzt – auch der homo
oeconomicus weise demnach soziale Züge auf und schließe daher den Wunsch nach
Anerkennung
und
Respekt
in
seine
Präferenzordnung
ein.
Die
Kosten
des
Reputationsverlusts würden demnach gegen den Nutzen der Handlung abgewogen, die diesen
verursachen könnte und umgekehrt könnten Akteure den Nutzen des Reputationsgewinns
aufgrund des Unterlassens einer Maßnahme mit den ggf. dadurch entstehenden (materiellen)
46
47
48
March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in:
International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 949f.
Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S.
1095-1111, hier S. 1097.
Zur Beschreibung von Nachahmung als rationaler Strategie siehe z.B. Florini: „(…) it is rational for people
to adopt innovations when they observe that someone they know who has already adopted the innovation has
succeeded “. Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly
40:3, S. 363-389, hier S. 375 oder Finnemore: „Imitation, in a world of uncertainty, is often a perfectly
rational strategy to adopt“. Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society,
49
Ithaca/London, S. 11.
Verweise auf Vertreter dieser Sicht finden sich bei: Bernheim, Douglas B. 1994: A Theory of Conformity,
in: The Journal of Political Economy 102:5, S. 841-877, hier S. 842.
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Kosten verrechnen. Hierbei gilt: je stärker die materiellen Anreize für eine Handlung, desto
größer der reputative Nutzen, der durch den Verzicht auf diese Handlung entsteht.50
Es gibt jedoch auch rationalistische Ansätze, die zwar ebenfalls mit Kosten-NutzenVerhältnissen operieren, ihre Argumentation jedoch in eine andere Richtung ausbauen, indem
sie normgeleitetes Verhalten gerade nicht als Folge bewusster payoff-Kalkulationen zwischen
Normbefolgung und Nicht-Befolgung konzipieren, sondern als Folge des Verzichts auf diese
Kalkulationen: Hier fungieren Normen als „cognitive energy-saver“.51 Ihre Befolgung ist
schlichtweg „billig“, weil die Akteure in der Lage sind, zu erkennen, dass schon die bloße
Entscheidungsfindung (pro oder contra Normeinhaltung) durch komplizierte Kosten-NutzenKalküle für sie mit Kosten verbunden ist – letztere können sie sich sparen, indem sie sich
einfach an die Norm halten.52
2.3.2 Konstruktivismus: Normen als Identitätsbestandteile und angemessenes
Verhalten
Die konstruktivistische Kritik richtet ihren Fokus zunächst auf die Vorstellung, dass Normen
erst innerhalb eines durch Akteursinteressen gesetzten Präferenzrahmens relevant werden,
indem sie die Handlungsoptionen der Akteure einschränken, weil sie ihnen ein Set an
Handlungsalternativen bereitstellen, mit Hilfe derer sie ihren fixen Präferenzen folgen und
ihre als gegeben erachteten Interessen durchsetzen können. Normen, so der Hinweis von
konstruktivistischer Seite, verringern zwar durchaus die Anzahl möglicher Antworten auf die
Frage „How do I get what I want? “, und geben die zur Erreichung eines Zieles verfügbaren
Mittel vor – entscheidend ist jedoch, dass sie auch einen Einfluss darauf haben, „what states
want“,53 also auf die verfolgten Ziele . Dieser Einwand birgt zwei Implikationen in sich:
Erstens könne nicht (länger) davon ausgegangen werden, dass Akteure sich immer über ihre
Präferenzen im Klaren sind. Zweitens entfalten Normen ihre Wirkung nicht erst, nachdem die
Akteure – auf Basis materieller Gegebenheiten und funktionaler Bedürfnisse – ihre Interessen
definiert haben, vielmehr gibt es einen Prozess der Herausbildung resp. Neuformierung von
Interessen, in welchem Normen eine entscheidende Rolle spielen können.54 Demnach haben
Normen das Potential, zu verändern, was Staaten wollen und nicht nur, wie sie das, was sie
50
51
52
53
54
Für nähere Ausführungen siehe Akerlof, George 1980: A Theory of Social Custom, of Which
Unemployment May Be One Consequence, in: Quarterly Journal of Economics 94:4, S. 749-775 und
Bernheim, Douglas B. 1994: A Theory of Conformity, in: The Journal of Political Economy 102:5,
S. 841-877.
Florini, Ann 1996: The Evolution of International Norms, in: International Studies Quarterly 40:3, S. 363389, hier S. 366.
Epstein, Joshua 2001: Learning to Be Thoughtless: Social Norms and Individual Computation, in:
Computational Economics 18:1, S. 9-24, hier S. 9f.
Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 29 bzw. S. 5ff.
Als „ fundamental component“ im Prozess der Interessensdefinition werden Normen z. B. von Klotz
erachtet, wobei sie den Prozess selbst immer noch als ein „unsolved issue for international relations
theories “ ansieht. Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations. The Struggle Against Apartheid,
Ithaca, S. 15ff.
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wollen, erreichen können. Zwar wird weder im Verhältnis von Normen-Interessen noch von
Interessen-Verhalten ein deterministischer Zusammenhang gesehen, weil sowohl bei der
Definition von Interessen als auch bei der Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten neben
Normen durchaus auch andere Faktoren (z.B. Macht, geostrategische Lage etc.) von
handlungsleitender Bedeutung sein können, jedoch betonen die Autorinnen die konstitutive
Eigenschaft von Normen – demnach führt ihre Existenz nicht zwangsläufig, im Sinne einer
Ursache, zu einem bestimmten Verhalten.55 Letzteres garantiert sie zwar nicht, macht es
jedoch durch die Schaffung von „permissive conditions“56 wahrscheinlicher, da Normen die
Zuordnung von Zielen und Verhaltensweisen zu den Kategorien „legitim“ und „illegitim“
ermöglichen.57 Diese Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Verhalten ist
grundlegend für die im Folgenden beschriebenen Basiskonzepte der konstruktivistischen
(Normen)Theorie – Identitäten und Logik der Angemessenheit.
Identitäten
Ergänzend zur Wirkung der Normen auf die Interessensformation werden die bereits
angesprochenen
sozialen
Züge
des
homo
oeconomicus
von
konstruktivistischen
TheoretikerInnen weiter ausgebaut und in das allgemeine Konzept von mit einer bestimmten
Identität ausgestatteten – sozial konstruierten – Akteuren integriert. Der Begriff findet breite
Verwendung, aber längst nicht alle, die sich seiner bedienen, erachten eine Definition für
nötig, vermutlich weil sie davon ausgehen, dass alle „know how to employ the word and (…)
understand it in other peoples’ sentences“ – dem steht der Befund entgegen, dass sich die
vorhandenen Definitionen nicht nur hinsichtlich ihrer Komplexität sondern auch
substantiell unterscheiden.58
Es lassen sich drei grundlegende Identitätsverständnisse abgrenzen: Mit state identity
kann einfach die Gesamtzahl aller Attribute gemeint sein, die den Staat tatsächlich zum Staat
(„and not some other kind of thing“) machen, d.h. dazu führen, dass ein Akteur der Art
„Staat“ zugeordnet werden kann, ohne zu spezifizieren, um welche Art Staat es sich handelt.59
Die personale Identität kann hingegen sehr wohl qualitative, charakterisierende Aussagen
beinhalten, umfasst sie doch das Selbstverständnis bzw. die Selbstwahrnehmung einer Person
55
56
57
58
59
S. ausführlicher zu Kausalitätsüberlegungen und Normen auch die Ausführungen im Kapitel zur
Herangehenswiese, S. 46 der Arbeit.
Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter (Hg.):
The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York, S. 153-185, hier S. 158.
Zu diesem Verständnis siehe Klotz, Audie 1995: Norms reconstituting interests: global racial equality and
U.S. sanctions against South Africa, in: International Organization 49:3, S. 451-478, hier S. 461f. Den
mangelnden Determinismus von Normen betrachtet Klotz als eine häufige Eigenschaft strukturalistischer
Theorien – je schmaler das Spektrum der durch Strukturen (in diesem Fall Normen) ermöglichten
Handlungsoptionen, desto eher kann man von einer kausalen Beziehung zwischen Norm und Handlung
ausgehen.
S. statt vieler für eine Zusammenstellung unterschiedlicher Definitionen Fearon, James 1999: What is
identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 4f.
Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 34.
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(resp. eines Akteurs) einschließlich der damit verbundenen Wertvorstellungen. So beschreibt
z.B. Wendt Identitäten als „relatively stable, role-specific understandings and expectations
about self“, Kowert/Legro knapp als „self-understandings“ und für Jepperson et. al sind
Identitäten „the basic character of states“.60 Daneben – und aus einer anderen Perspektive –
bezieht sich die soziale Identität nicht nur auf das eigene, sondern auch auf das fremde
Verständnis davon, was jemand ist („a collectively defined kind of person“),61 was analog zu
Wendts Verständnis relatively stable, role-specific understandings and expectations about
others wären. Soziale Identitäten sind häufig gekoppelt an soziale Positionen resp.
Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und sie ermöglichen eine Einordnung in soziale
Kategorien,62 indem sie sich aus Kriterien zusammensetzen, die ein Akteur erfüllen muss, um
als Teil einer Gruppe zu gelten (und die bei Nicht-Erfüllung die Exklusion des Akteurs
bedeuten können), während die Gruppe die Identität des Akteurs anerkennen muss.63
Auch wenn man – aus konzeptionellen Gründen – durchaus zwischen der personalen und
der sozialen Identität trennen kann, erscheint es einleuchtend, dass niemand über nur eine der
beiden Identitäten verfügen kann, d.h. dass sich die Identität eines Akteurs sich aus beiden
Teilen (dem personalen und dem sozialen) zusammensetzt. Dieses Verständnis verwenden wir
auch im Folgenden. Normen spielen bei der Definition von Identitäten eine entscheidende
Rolle und wirken insofern konstitutiv, als ihre Umsetzung zum Einen die eigene Vorstellung
darüber zum Ausdruck bringt, wer man ist und wie man sich in bestimmten Situationen zu
verhalten hat, d.h. der Aufrechterhaltung des Selbstbildes vor sich selbst dient. Zum Anderen
signalisieren Akteure durch Befolgung spezifischer Normen ihre Gruppenzugehörigkeit – sie
orientieren sich an ihrem (vermeintlichen) Fremdbild, mit dem Ziel, die „relevant others”
dazu zu bewegen, “to recognize and validate a particular identity and to respond to it
appropriately ”, wobei die oben bereits angesprochenen konstitutiven Normen hier eine
60
61
62
63
S. Wendt, Alexander 1992: Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics, in:
International Organization 46:2, S. 391-425, hier S. 397, Kowert, Paul/Legro, Jeffery 1996: Norms, Identity
and Their Limits, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 451-479, hier
S. 33 und Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in
National Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75,
hier S. 33.
Dass diese Definition nicht sehr präzise ist, weil sie z.B. offen lässt, wie viel kollektive Übereinstimmung
notwendig ist, um einer Person eine bestimmen Identität zusprechen zu können und auch nicht angibt,
welche Bestandteile solch eine Definition umfassen kann, wird auch von Cancian selbst eingestanden.
Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community,
Cambridge, S. 137.
Nach Fearon ist die Unterscheidung in Identitäten und soziale Kategorien überflüssig. Der Begriff
„Identität“ könne und solle sogar durch „soziale Kategorie“ ersetzt werden, denn nichts anderes meinen die
meisten AutorInnen, wenn sie Identitäten als Selbst- oder Fremdverortungen von Akteuren begreifen.
Diese Substitution würde auch die Erkenntnis, Identitäten seien sozial konstruiert, trivial werden lassen,
denn wie sonst können soziale Kategorien sein, wenn nicht sozial konstruiert? Fearon, James 1999: What is
identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 14f.
Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 6 und
Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community,
Cambridge, S. 137.
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wichtige Rolle spielen.64 Der hinter der Normwirkung vermutete Mechanismus kann sich
hingegen sehr wohl abhängig von der Annahme unterscheiden, ob Akteure auf Basis der
personalen oder der sozialen Identität handeln. Während bei ersterer davon ausgegangen
werden kann, dass die Akteure motivational (d.h. aus dem Glauben an eine Norm heraus)
agieren, lässt die soziale Identität durchaus die Möglichkeit einer instrumentellen
Normbefolgung zu – worauf es hier ankommt, ist weniger die Überzeugung und
Wertschätzung der Norm durch den Akteur, sondern vielmehr sein Interesse an der
Bewahrung der eigenen Identität, deren Anerkennung er durch compliance sicherstellen will.
Dennoch ist auch hierbei eine motivationale Komponente enthalten – zwar glauben die
Akteure nicht unbedingt an die Richtigkeit der Norm, offenbar jedoch an die Bedeutung der
Identität.65 Aufgrund ihrer psychologischen, emotionalen Wirkung wird sozialen Identitäten bei
der Erklärung von Kooperationsbereitschaft eine entscheidende Rolle zugewiesen, denn sie
sollen nicht nur zur Entstehung von Vertrauen und damit zum „trust-based behavior” (in
Abgrenzung
zum
„incentive-based
behavior”)
führen,
ein
starkes
Zusammengehörigkeitsgefühl könne überdies auch zur Entstehung von „sharing, cooperation,
perceived mutuality of interests, and willingness to sacrifice personal interests for group
interests“
beitragen.66 Das Heranziehen von Identitäten als Erklärungsfaktor des
Akteursverhaltens verändert bzw. ergänzt das Modell der Normenwirkung auf die
Interessensformation: Da Identitäten als „the basis of interests“67 gelten und ein Grund dafür
sein können, dass – mit der Fähigkeit zu Emotionen wie Sympathie gegenüber der eigenen
Gruppe sowie gegenseitigen Bewunderung ausgestattete – Akteure „will forgo their short-term
interests and cooperate to solve a common problem“, wirken Normen in diesem Konzept nicht
direkt auf die Herausbildung von Interessen bzw. auf das Verhalten, sondern sie nehmen
darauf indirekt – als konstitutive Elemente von Identitäten – Einfluss.68
Logic of appropriateness
In Abgrenzung zur akteurszentrierten logic of consequences, in welcher der Wunsch nach der
Maximierung des eigenen Nutzens die Handlungen des Akteurs anleitet, handelt es sich beim
norm- bzw. identitätengeleitetem Verhalten um eine logic of appropriateness, so dass die
64
65
66
67
68
Jepperson, Ronald R./Wendt, Alexander/Katzenstein, Peter 1996: Norms, Identity and Culture in National
Security, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security, New York, S. 33-75, hier S. 54. (Die
Autoren paraphrasieren und ergänzen hier Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs
and Action in a Maya Community, Cambridge, S. 137.)
Cancian, Francecsa M. 1975: What are norms? A Study of Beliefs and Action in a Maya Community,
Cambridge, S. 139ff.
Mercer, Jonathan 2005: Rationality and Psychology in International Politics, in: International Organization
59:1, S. 77-106, hier S. 95f.
Wendt, Alexander 1992: Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics, in:
International Organization 46:2, S. 391-425, hier S. 398.
Zu Inklusions- und Exklusionsmechanismen und -prozessen innerhalb von Gruppen sowie mit der
Gruppenzugehörigkeit einhergehenden Gefühlen siehe ausführlich: Brewer, Marylinn B. 1999: The
Psychology of Prejudice: Ingroup Love or Outgroup Hate?, in: Journal of Social Issues 55:3, S. 429-444.
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Akteure sich im Rahmen einer Interaktion nicht mehr nur die bereits oben zitierte Frage
„How do I get what I want? “ stellen, sondern in erster Linie überlegen: „What kind of
situation is this?“ und „What am I supposed to do now? “,69 mit dem Ziel, dass ihre
(angemessenen) Handlungen dazu führen, dass sie (auch weiterhin) als Mitglieder einer
sozialen Ordnung wahrgenommen werden. Die in der Angemessenheitslogik zum Ausdruck
kommenden Beziehungen von Normen, Identitäten und Handlungen bringen March/Olsen
wie folgt auf den Punkt:
„…actors are imagined to follow rules that associate particular identities to particular
situations, approaching individual opportunities for action by assessing similarities
between current identities and choice dilemmas and more general concepts of self and
situations. (…) Appropriateness need (sic!) not to attend to consequences, but it involves
cognitive and ethical dimensions, targets and aspirations. As a cognitive matter,
appropriate action is action that is essential to a particular conception of self.”70
Sowohl bei der konsequentialistischen als auch bei der Angemessenheitslogik handelt es sich
um individuelle Handlungslogiken, da sie beanspruchen, das Verhalten von Akteuren erklären
zu können. Dennoch unterscheiden sich die beiden hinsichtlich der erklärenden Faktoren,
denn während der nach der logic of consequences handelnde homo oeconomicus sich aufgrund
seiner
eigenen
–
strukturunabhängigen
–
Beschaffenheit
als
rationalistischer
Nutzenmaximierer für bestimmte Handlungsoptionen entscheidet, die Handlungslogik also
selbst bestimmt, handelt der homo sociologicus stets im Rahmen sozial konstruierter Strukturen
wie Normen, Identitäten und Werte, so dass sein Verhalten nur innerhalb dieser möglich und
verständlich ist.71
Nichtsdestotrotz erheben
konstruktivistische
AutorInnen
Einspruch
gegen
die
Unterstellung, sie würden die Angemessenheitslogik als die einzig existierende Handlungslogik
akzeptieren und rationalistische Verhaltenserklärungen negieren. Vielmehr argumentieren sie,
dass Akteure in unterschiedlichen Situationen unterschiedlichen Handlungslogiken folgen
können,72 bzw. dass das Verhalten des Akteurs in einer Situation sowohl von den erwarteten
Konsequenzen und Kosten-Nutzen-Kalkülen als auch von seiner Identität mitsamt der dazu
gehörenden Normen beeinflusst wird: „any particular action probably involves elements of
each [logic, ER]“.73 Als Antwort auf die Frage, welche Handlungslogik wann dominiert,
diskutieren March/Olsen vier verschiedene Interpretationen: Erstens gehen manche Ansätze
von der Dominanz der klare(re)n Logik über die unklare(re) aus – bei eindeutigen Interessen,
69
70
71
72
73
Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 29.
March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in:
International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 951.
Siehe zu diesem Punkt: Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and
Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 912f. und March, James G./Olsen,
Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in: International Organization
52:4, S. 943-969, hier S. 951f.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 888.
March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in:
International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 952.
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Präferenzen und kalkulierbaren Konsequenzen und eher unpräzisen Normen und schwer
abschätzbaren Auswirkungen auf die Identitäten ist konsequentialistisch motiviertes Handeln
wahrscheinlicher. Entsprechend wahrscheinlicher ist normgeleitetes Handeln in Situationen
mit
unbestimmten
Präferenzen
und
unabsehbaren
Folgen,
jedoch
mit
klaren
Verhaltensstandards, die, wie oben ausgeführt, die Interessensdefinition erleichtern können.
VertreterInnen der zweiten Interpretation argumentieren, dass die zur Anwendung
kommenden Logiken sich auf die Wichtigkeit der zu treffenden Entscheidung zurückführen
lassen. Hier wiederum geht die eine Seite davon aus, dass die logic of appropriateness bei
grundlegenden Entscheidungen greift und überhaupt erst die Regelsetzung ermöglicht, auf
Basis derer Kosten-Nutzen-Kalkulationen durchführbar werden. Die andere Seite kehrt das
Argument erwartungsgemäß um und macht rationale Erwägungen zur Grundlage der
Regelsetzung, die erst im Nachhinein eine Orientierung für normgeleitetes Handeln darstellen.
Ein Entwicklungsprozess von der konsequentialistischen hin zur Angemessenheitslogik wird
in der dritten Variante angenommen, d.h. Akteure treten zunächst instrumentell und rational
an neue Interaktionen heran, entwickeln aber aufbauend auf ihren geteilten Erfahrungen
gemeinsame Identitäten, so dass sukzessive die Angemessenheitslogik ihre Wirkung entfalten
kann. Die vierte Interpretationsmöglichkeit begreift jede Logik als einen Spezialfall der
anderen, so ließe sich die logic of consequences auch als ein Set von bestimmten Normen
begreifen, die etwa besagen, was unter Rationalität zu verstehen ist, dass rationales Handeln
angemessenes Handeln ist und welche Konsequenzen von den Akteuren als nützlich bzw. als
kostenverursachend bewertet werden. Die logic of appropriateness lässt sich jedoch ebenso
konsequentialistisch auslegen, denn, so die Begründung, auch sozial konstruierte Akteure
handeln immer in der Antizipation möglicher Folgen ihres Verhaltens für ihre Identität, für
ihren Status als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe und wägen den Nutzen einer
Handlung gegen ihre zu erwartenden – wenn nicht materiellen, dann zumindest sozialen –
Kosten ab.74 Sie ist zwar strukturalistischer als die rationale Logik, lässt dem Akteur jedoch
immer noch genügend Spielraum bei der Entscheidungsfindung.75
2.4 Mechanismen und Modelle der Diffusion von Normen
Die Überlegung, über welche unterschiedlichen Logiken Normen auf das Akteursverhalten
Einfluss nehmen können, führt zu der generellen Frage, wie Akteure mit zuvor von anderen
Akteuren hervorgebrachten Normen in Berührung kommen, d.h. über welche Mechanismen
sie sich der Existenz der im System vorhandenen Normen bewusst werden, wie die
Verhaltensanpassung an die gestellten kollektiven Erwartungen funktioniert und durch welche
74
75
March, James G./Olsen, Johan P. 1998: The Institutional Dynamics of International Political Orders, in:
International Organization 52:4, S. 943-969, hier S. 952ff.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 914.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Faktoren sie begünstigt wird, kurzum: Wie verbreiten sich Normen bzw. wie werden sie
verbreitet sowie nötigenfalls durchgesetzt und welche Akteure spielen hierbei eine Rolle?
Immer wieder in diesem Zusammenhang verwendete Stichworte sind Sozialisation und
Lernen. Beide Konzepte zeichnen sich, wie die bisher vorgestellten Theoretisierungen zu
anderen Aspekten von Normen, eher durch konzeptionelle Vielfalt denn durch Klarheit aus.
Der Ursprung der Sozialisationstheorie liegt bei Durkheim, der als „Sozialisation“ die
Vergesellschaftung des Individuums, also die durch andere erfolgte Heranführung des
zunächst asozialen Wesens an das soziale Leben und seine Erziehung durch die Gesellschaft
entsprechend einem in dieser vorherrschenden Ideal verstand.76 Theoretiker wie Mead und
Parsons fassten unter den Prozess der Sozialisation die mittels Interaktionen stattfindende
Rollenübernahme, die für sie in der Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen, der
Verinnerlichung kultureller Werte und Normen sowie im Aufbau von Loyalität gegenüber der
Gesellschaft bestand.77 Die Kernelemente dieses Verständnisses – Anpassung an
Erwartungen, Verinnerlichung von Normen und Werten, Interaktion, andere Akteure – sind
ebenfalls zentral für die sozialkonstruktivistischen Definitionen der Sozialisation von Staaten78
„as a process of learning in which norms and ideals are transmitted from one party to another“
oder „as the process by which states internalize norms originating elsewhere in the
international system“.79 Wie von Wendt herausgestellt, findet hierbei vor allem ein kognitiver,
über bloße Verhaltensanpassungen hinausgehender Prozess statt,80 in dessen Verlauf
(staatliche) Akteure sowohl regulative als auch konstitutive Normen internalisieren und dessen
Endpunkt nicht nur geändertes Verhalten, sondern ein tatsächlicher Wandel von
Einstellungen und Überzeugungen darstellt. Nach Alderson mache der „individual belief
change “ jedoch nur einen Teil des Sozialisationsprozesses aus, der politische Prozess,
worunter innenpolitisches Umsetzen der Normen (nationale Institutionalisierung und
Implementierung) gemeint ist, sei nämlich ebenso entscheidend.81
Deutlich wird an dieser Stelle die Schwierigkeit der Übertragung eines ausgehend von und
für Individuen entwickelten Konzeptes auf Staaten, bei denen es sich um aus zahlreichen
Akteursgruppen bestehende, korporative Gebilde handelt. Sind institutionelle Schritte der
76
77
78
79
80
81
Ausführlich siehe Durkheim, Emile 1972 [1922]: Erziehung und Soziologie, S. 28ff.
Siehe z.B. Mead, George H. 1973 [1934]: Identität, in: Ders.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am
Main, S. 177-271 und Parsons, Talcott 2003 [1972]: Das System moderner Gesellschaften, München.
Leider verzichten die mit diesem Verständnis arbeitenden AutorInnen darauf, die soeben angeführten
Quellen dieser Definition auszuweisen und beziehen sich innerhalb der IB meist auf Wendt, der diese
Begriffe in die disziplininternen Diskussionen einbrachte.
Definitionen angeführt von Checkel und Anderson, s. Checkel, Jeffrey T. 1998: The Neoliberal Moment in
Sweden: Economic Change, Policy Failure or Power of Ideas, Paper presented at the Ideas, Culture and
Political Analysis Workshop, Princeton University, May 15-16 1998, S. 4 bzw. Alderson, Kai 2001: Making
sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433, hier S. 417.
Wendt, Alexander 1992: Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics, in:
International Organization 46:2, S. 391-425, hier S. 399.
Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433,
hier S. 418.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Anpassung an internationale Normen z.B. in Form einer neuen Gesetzgebung eher leicht
feststellbar, wird dies bei ihrer de facto-Wirkung schon um einiges schwieriger, während das
Überprüfen von Einstellungsveränderungen gleich mehrere Probleme aufwirft: Es bleibt nicht
nur unklar, welche Akteure innerhalb eines Staates diesen Prozess durchlaufen müssen und
wie viele die für die Internalisierung notwendige kritische Masse bilden, sondern auch, ob es
notwendig ist, dass sie tatsächlich anfangen, an die Richtigkeit der Norm zu glauben oder
lediglich so handeln, als hätten sie ihre Meinung geändert (was schwer überprüfbar ist).
Während
die
Forschungsgruppe
Menschenrechte
die
Sozialisation
von
(menschenrechtsverletzenden) Regierungen – als Institutionen und nicht nur in Bezug auf
einen individuellen Staatschef – im Fokus ihrer Analyse hat82 und darauf aufbauende Arbeiten
die „moral consciousness of actors“ als irrelevant für den Sozialisationsprozess und die
Normimplementation erachten,83 sprechen Finnemore/Sikkink von „persuasion“, womit sie
durchaus einen Wandel der Überzeugungen nahelegen.84 Neuere Arbeiten weisen darauf hin,
dass über die Regierungsebene hinaus auch staatliche Eliten, zivilgesellschaftliche Gruppen
und selbst einzelne Individuen nicht außer Acht gelassen werden dürfen, weil eine Norm ein
Mindestmaß an Anschlussfähigkeit aufweisen und somit mit anderen in einem sozialen System
herrschenden Normen harmonieren muss.85 Sozialisation ist jedoch nicht nur als Prozess zu
sehen, gleichzeitig ist sie auch Ergebnis, denn dass sie stattfinden kann, lässt bereits auf die
Existenz einer sich als solche verstehenden, auf gemeinsamen Normen basierenden
(internationalen) Gesellschaft schließen.86 Letzteres impliziert ferner, dass darunter nicht die
Einstellungs- bzw. Verhaltensänderung eines Staates von innen heraus fällt, sondern es sich
hierbei um ein exogenes, mit eben dieser Gesellschaft in Relation stehendes, systemisches
Phänomen handelt.87
Die Vorstellung von der Sozialisierbarkeit der Staaten beinhaltet die Annahme, sie seien
lernfähig, d.h. in der Lage, ihr Verhalten an neue Informationen anzupassen und sich
überzeugen zu lassen. Wesentlich (und vielzitiert) im Zusammenhang mit der Diffusion von
82
83
84
85
86
87
Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke
und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1,
S. 5-41.
So sei die tatsächliche Überzeugung der Akteure unerheblich, solange ihre Worte mit den Taten
übereinstimmen. Risse, Thomas/Sikkink, Kathryn 1999: The Socialization of International Human Rights
into Domestic Practices, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of
Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-37, hier S. 17 und S. 29.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 895.
Hoffmann, Matthew J.: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm Life
Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 16, online unter:
<http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005.
Forschungsgruppe Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke
und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 541, hier S. 8.
Alderson, Kai 2001: Making sense of state socialization, in: Review of International Studies 27:3, S. 415-433,
hier S. 423f.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Normen ist die von Finnemore getroffene Unterscheidung zwischen learning und teaching ,
die darauf basiert, dass Staaten zwar generell Nachahmung als erfolgversprechende
Lernstrategie identifiziert haben, der Lernimpuls jedoch entweder, wie bei learning von ihnen
selbst ausgehen kann oder aber von anderen, die ihnen (unaufgefordert) etwas beibringen
wollen – teaching.88 Der erste Fall liegt vor, wenn sie die Notwendigkeit erkannt haben, etwas
zu verändern, die Lernbereitschaft sich also endogen herausbildet und andere Akteure
dementsprechend auch nicht unbedingt als Lehrer, sondern eher als Vorbilder, die das
Problem bereits erkannt und Lösungswege definiert haben, gelten können. Checkel erkennt
einen derartigen Lernprozess bei staatlichen Eliten, die ohne ersichtlichen materiellen oder
sozialen Druck internationale Normen annehmen, die im Folgenden top-down diffundieren
können (elite learning dynamic).89 Teaching hingegen bedeutet, dass, auch ohne intrinsischen
Lernimpuls und bei fehlender Problemsensibilität, tatsächlich Lehrer aktiv werden, deren
oberstes Ziel die Normsetzung ist und die an ihre Schüler mit Lehrplänen herantreten.90 Diese
können agenda setting, die Schärfung des Problembewusstseins und das Unterbreiten
möglicher Lösungsstrategien beinhalten. In der Literatur zur Normentheorie hat sich für diese
Akteure die Bezeichnung norm entrepreneurs91 etabliert – sie wirken aktiv auf die
Herausbildung der staatlichen Präferenzen ein und wenden zur Realisierung ihrer Ziele diverse
Mittel an: Neben der Ausübung materiellen und sozialen Drucks (Sanktionen, öffentliche
Kritik, blaming and shaming ), sind aber auch Argumentieren und Überzeugen von Bedeutung,
wobei die letzten beiden sowohl nach moralischen und emotionalen als auch nach KostenNutzen-Gesichtspunkten ablaufen können. Dem Ziel der „Promotion“ einer Norm können
sich sowohl andere Staaten als auch nationale und transnationale gesellschaftliche Akteure wie
z.B. Nichtregierungsorganisationen (NGOs)92 verschrieben haben. Zwar von der logic of
88
89
90
91
92
Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society, Ithaca/London, S. 12f.
In seinem Artikel verwendet Checkel nicht nur unterschiedliche Mechanismen der Normverbreitung,
sondern bringt die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens auch mit der inneren Verfasstheit der Staaten in
Verbindung. So sei die elite learning dynamic besonders in stark staatlich kontrollierten Systemen für eine
Norm häufig die einzige Möglichkeit, sich durchzusetzen, da Einflüssen von unten, also aus der
gesellschaftlichen Ebene heraus, starke Grenzen gesetzt sind. In liberal verfassten Staaten sei hingegen ein
bottom-up-Modus wahrscheinlicher, denn die – an ihrer Wiederwahl interessierten – politischen Eliten seien
empfänglicher für gesellschaftlichen Druck und deshalb bereit, ihre Strategien zu überdenken und
internationale Normen umzusetzen. Siehe Checkel, Jeffrey T. 1997: International Norms and Domestic
Politics: Bridging the Rationalist-Constructivist Divide, in: European Journal of International Relations 3:4,
S. 473-495, hier S. 477ff.
S. als Illustration Finnemores Aufsatz zur Rolle der UNESCO als norm teacher im Bereich der
Wissenschaftspolitik: Finnemore, Martha 1993: International organizations as teachers of norms: the United
Nations Educational, Scientific, and Cultural Organization and science policy, in: International Organization
47:4, S. 565-597.
Zu diesem Punkt siehe z.B. Nadelmann, Ethan 1990: Global Prohibition Regimes: The Evolution of Norms
in International Society, in: International Organization 44:4, S. 479-526, hier S. 483f., Keck, Margaret
E./Sikkink, Kathryn 1998: Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics,
Ithaca/London, S. 14, Simon, Steven/Martini, Jeff 2004: Terrorism: Denying Al Qaeda Its Popular Support,
in: The Washington Quarterly 28:1, S. 131-145, hier S. 132.
Die dem deutschen Begriff „Nichtregierungsorganisation“ entsprechende Abkürzung lautet eigentlich
„NRO“. Wir verwenden jedoch das Kürzel NGO (für non-governmental organization), da es sich
mittlerweile im öffentlichen- wie im Fachdiskurs durchgesetzt hat.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
appropriateness geleitet, handeln sie jedoch „extremely rational“, was die Auswahl ihrer
Mittel, der institutionellen Wege und die Adressaten ihrer Aktionen angeht.93 Inzwischen
werden ihre Aktivitäten im Prozess der Normverbreitung als unabdingbar erachtet94 und
spielen
in
beiden
als
prominent
geltenden
Modellen
zur
Normdiffusion
bzw.
Normdurchsetzung eine entscheidende Rolle: im von Finnemore/Sikkink beschriebenen
Norm-Life-Cycle wie auch im sog. Spiralmodell von Risse/Sikkink.
2.4.1 Das Spiralmodell: Erfolgsbedingungen der staatlichen Menschenrechtssozialisation
Angeleitet von der Frage, welche Erfolgsbedingungen vorliegen müssen, damit Staaten den
mit der Internalisierung von Menschenrechtsnormen abschließenden Sozialisationsprozess
durchlaufen, modellieren Risse/Sikkink verschiedene Stufen dieses innenpolitischen
Wandels.95 Besondere Berücksichtigung finden hierbei als norm entrepreneurs konzipierte
transnationale Menschenrechtswerke – den in der Arbeit von Keck/Sikkink beschriebenen
„Bumerang-Effekt“ ausbauend,96 werden die Aktivitäten der „transnational advocacy
networks” im Wechselspiel mit der Gesellschaft des jeweiligen Staates und seiner (zunächst
repressiven)
Regierung
in
ein
fünf
Phasen
umfassendes
„Spiralmodell
des
Menschenrechtswandels“ integriert. Als Bumerang-Effekt bezeichnen Keck/Sikkink den auf
einen Staat sowohl von unten als auch von oben ausgeübten Druck, der als Folge von
Interaktionen zwischen innenpolitischen oppositionellen Gruppierungen (worunter nicht nur
Parteien
der
Opposition
Zusammenschlüsse
fallen)
sondern
und
auch
NGOs
auf
und
andere
internationaler
zivilgesellschaftliche
Ebene
agierenden
Menschenrechtsnetzwerken entstehen kann. Demnach appellieren interne Regimekritiker –
entweder mangels Möglichkeiten oder Erfolgsaussichten – nicht (länger) direkt an ihre
93
94
95
96
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 910. Zu unterschiedlichen institutionellen Strategien von
norm entrepreneurs siehe: Coleman, Katharina P. 2004: „A Place to Stand”: Institutional Settings for
International Norm Change, Paper prepared for the 2004 Annual Meeting of the American Political Science
Association, September 2-5, 2004.
Eine Einschränkung trifft jedoch Hoffmann, der die Normdiffusion in settings von unterschiedlicher
Komplexität untersucht und zu dem Schluss kommt, dass „norm entrepreneurs are not a necessary
condition for norms to emerge – in low complexity environments, agents find the natural norm without help.“
Hoffmann, Matthew J. 2004: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm
Life Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 19, online unter:
<http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005.
Vgl. für die folgenden Ausführungen zum Spiralmodell seine drei zentralen Darstellungen: Risse,
Thomas/Sikkink, Kathryn 1999: The socialization of international human rights norms into domestic
practices: introduction, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human
Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38 sowie Forschungsgruppe
Menschenrechte 1998: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer
Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 5-41 bzw. die in
Buchform erschienene Langfassung mit ausführlichen Länderfallstudien: Risse, Thomas/Jetschke,
Anja/Schmitz, Hans-Peter 2002: Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives
Handeln und innenpolitischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden.
Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn 1998: Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International
Politics, Ithaca/London, S. 12f.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
menschenrechtsverletzende Regierung, sondern richten ihre Bemühungen auf die
internationale Ebene, wo sie mit Hilfe der dort operierenden transnationalen NGOs sowohl
um die Aufmerksamkeit internationaler Menschenrechtsorganisationen (wie z.B. der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen) als auch anderer Staaten für die
Menschenrechtssituation in ihrem Land kämpfen. Die Reaktionen auf diese Aktivitäten sind
zweifacher Natur: Nicht nur können z.B. internationale Geldgeber dazu motiviert werden, die
nationalen Oppositionsgruppen zu unterstützen und ihnen damit weitere und intensivere
regierungskritische Tätigkeiten erleichtern oder gar ermöglichen (bottom-up pressure), sondern
die erreichte Stärkung des internationalen öffentlichen Interesses kann auch ein top-down
pressure auf die nationale Regierung auslösen. Hierdurch werden sowohl andere Staaten als
auch internationale Organisationen dazu bewogen, Forderungen nach einer Verbesserung der
Menschenrechtspraxis zu stellen und ihre Erfüllung ggf. z.B. an die weitere Vergabe von
Hilfsgeldern zu knüpfen.97 Dieser Bumerangmechanismus entwickelt sich nach mehreren
„boomerang throws with diverging effects on the human rights situation in the target
country“98 zu einer Sozialisationsspirale, in deren fünf Verlaufsphasen drei unterschiedliche
Handlungsmodi zum Tragen kommen. In der ersten Phase der Repression verhindert die die
Menschenrechte missachtende Regierung durch einen starken Kontrollapparat nicht nur eine
Stärkung der machtlosen nationalen Oppositionellen, sondern möglicherweise auch die
Weitergabe der Informationen über die innenpolitische Lage nach Außen, also an die
internationale Öffentlichkeit. Das Gelingen eben dieser Informationsübermittlung ist
entscheidend, um einen Übergang in die zweite Phase – Leugnen – vollziehen zu können.
Transnationale Menschenrechtsnetzwerke betreiben hier mittels Informationskampagnen über
den Zielstaat und die dort herrschende kritische Menschenrechtslage Lobbying und wenden
sich an die liberale (in der Regel westliche) Öffentlichkeit und dortige Regierungen, um diese
durch moral persuasion zunächst daran zu erinnern, dass sie als Staaten, in denen
Menschenrechte einen hohen Stellenwert einnehmen, auch in der Pflicht stehen, sich für diese
einzusetzen.99 Wenn sich die Staaten an den shaming -Kampagnen beteiligen, weisen die in die
Kritik geratenen Regierungen in der Regel die Vorwürfe zurück, indem sie zum Einen
internationalen Menschenrechtsnormen ihre Gültigkeit absprechen und sich zum Anderen
jegliche Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbieten, wobei das letzte Argument –
der Hinweis auf eine überlegenere internationale Norm der nationalen Souveränität –
wesentlich häufiger und deutlicher geäußert wird. Dieses Verhalten wird bereits als Beginn des
Sozialisationsprozesses gewertet, denn das öffentliche Leugnen der Vergehen bringt zum
97
98
99
Erfolge und Misserfolge dieser Strategie in verschiedenen Politikfeldern werden von Keck/Sikkink
beschrieben, für eine Zusammenfassung der Ergebnisse siehe Keck, Margaret E./Sikkink, Kathryn 1998:
Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca/London, S. 202f.
Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms
and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38, hier S. 18.
Dies wird dem Handlungstypus „moralische Bewusstseinsbildung“ zugeordnet, siehe genauer S. 27
dieser Arbeit.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Ausdruck, dass der Staat Teil der internationalen Gemeinschaft und zumindest partiell um
seine Reputation besorgt ist sowie der Existenz internationaler Normen Rechnung trägt, auch
wenn er sie in der Argumentation instrumentalisiert. Jedoch wird der Übergang in die dritte
Phase als schwierig erachtet, da die Leugnen-Zeiträume häufig sehr lange andauern und die
Repressoren zahlreiche Strategien haben, sich dem internationalen Druck zu widersetzen und
z.B. die Opposition zu beseitigen. Ob dennoch die Phase der taktischen Konzessionen erreicht
werden kann, hängt neben der Hartnäckigkeit internationaler Bemühungen auch von der
Verwundbarkeit des betreffenden Staates ab, etwa seiner Abhängigkeit von internationalen
(finanziellen und militärischen) Zuwendungen, aber auch seinem Interesse, auch weiterhin als
akzeptiertes Mitglied der Gemeinschaft zu gelten. Sind diese Bedingungen gegeben, wird der
Staat vermutlich versuchen, die internationale Kritik zu beschwichtigen und Verbesserungen
der Menschenrechtslage zu signalisieren, indem er seine guten Absichten bekundet, und
„publikumswirksame“ Maßnahmen – beispielsweise werden demonstrativ politische
Gefangene entlassen oder der Presse mehr Freiheiten eingeräumt – durchführt. Diese
Zugeständnisse beruhen jedoch (noch) nicht auf der Einsichtigkeit des Regimes, sondern
stellen erzwungene Reaktionen auf vorausgegangene Verhandlungen dar und sind
instrumenteller Natur – im Spiralmodell wird dieser Handlungstypus als „strategisches
Verhandeln (bargaining) und instrumentelle Anpassung“ bezeichnet. Entscheidend ist in
dieser Phase, dass die repressiven Regierungen dazu neigen, die Wirkung, die die
Konzessionen entfalten können, zu unterschätzen und so einerseits ihre mobilisierenden
Effekte für die innerstaatlichen Gruppen geringer als tatsächlich zu bewerten und andererseits,
in der Annahme, Reden sei billig, ihre eigene argumentative Verstrickung (rhetorical selfentrapment) nicht als solche zu erkennen.100 Dadurch machen sie sich angreifbarer, nicht nur,
da die Menschenrechtsgruppen sowohl im Inneren als auch international leichter um (weitere)
Unterstützung werben, sich ausdifferenzieren und besser vernetzen können, sondern auch,
weil die Staaten seitens der norm entrepreneurs immer wieder an ihre eigenen Argumente
erinnert und mit diesen konfrontiert werden. Es entwickelt sich also ein Dialog zwischen den
kritisierten Regimen und ihren Kritikern und „the logic of arguing takes over“,101 was den
zweiten Handlungsmodus des Spiralmodells (moralische Bewusstseinsbildung, Argumentation
und kommunikative Überzeugungsprozesse) darstellt:102 Der aus strategischen Erwägungen
100
101
102
S. zu rhetorischem Handeln im Allgemeinen und zu argumentativer Selbstverstrickung im Besonderen:
Schimmelpfennig, Frank 2001: The Community Trap: Liberal Norms, Rhetorical Action, and the Eastern
Enlargement of the European Union, in: International Organization 55:1, S. 47-80, hier insbesondere
S. 62ff.
Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms
and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38, hier S. 28.
Wobei die moralische Bewusstseinsbildung, wie oben bereits beschrieben, ein Prozess ist, der zwischen
transnationalen Menschenrechtsnetzwerken und westlichen Staaten in den ersten beiden Phasen stattfindet.
In der Phase der taktischen Konzessionen sind hingegen Argumentation und kommunikative
Überzeugungsprozesse
relevant.
Forschungsgruppe
Menschenrechte
1998:
Internationale
Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in:
Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5:1, S. 5-41, S. 9.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
heraus begonnene instrumentelle Austausch geht über in eine echte argumentative
Auseinandersetzung über Menschenrechtsverletzungen und kann in der Einsicht der
menschenrechtsverletzenden Regierungen in die Notwendigkeit, die Situation zu verbessern
sowie in gemeinsamen Überlegungen hinsichtlich möglicher Schritte, um dies zu erreichen,
münden. Die vierte Phase „präskriptiver Status“ zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass die
Gültigkeit der Normen nicht länger umstritten ist und auch die avisierten Regierungen im
Diskurs auf diese Bezug nehmen,103 obwohl die Menschenrechtsverletzungen auch weiterhin
andauern können. Maßgeblich sei die Absicht, die Situation zu verbessern, die im dritten
Handlungsmodus – Institutionalisierung und Habitualisierung – zum Tragen kommt.
Dementsprechend ratifizieren die betroffenen Regierungen nicht nur internationale
Menschenrechtspakte, sondern schaffen auch innenpolitische institutionelle Mechanismen zur
rechtlichen
Verfolgung
von
Menschenrechtsverletzern,
etwa,
indem
die
Norm
verfassungsmäßig verankert, in die entsprechende Gesetzgebung umgesetzt sowie für
BürgerInnen die Möglichkeit etabliert wird, Menschenrechtsverletzungen zur Anzeige zu
bringen. Jedoch garantieren diese Schritte aus mehreren Gründen keineswegs den Übergang in
die fünfte Phase des normgeleiteten Verhaltens: Zum Einen kann es passieren bzw. ist sogar
anzunehmen, dass eine Regierung keine vollständige Kontrolle über alle dem staatlichen
Apparat zuzurechnenden Akteure (wie z.B. Polizei und Militär) innehat, so dass diese u.U.
auch weiterhin Menschenrechte missachten können. Zum Anderen wird vermutlich parallel
mit den erzielten Fortschritten im Menschenrechtsbereich auch das öffentliche Interesse
letztendlich sinken, dabei ist es gerade in dieser – häufig instabilen – Phase wesentlich, den
von oben und unten ausgeübten Druck auf die Regierung aufrechtzuerhalten, um eine
Konsolidierung und Internalisierung der Norm zu erreichen.104
2.4.2 Norm-Life-Cycle: internationale Normunternehmer und Normkaskaden
Die (insgesamt drei) Karrierestufen einer Norm von ihrer Entstehung bis zur Internalisierung
als Endstadium, wie sie auch im Spiralmodell postuliert wird und die auf den verschiedenen
Stufen tragenden Handlungslogiken werden von Finnemore/Sikkink im als Norm-Life-Cycle
bezeichneten Modell erfasst.105 Sie unterscheiden hierbei zwischen „norm emergence“ (Stufe
1), „norm cascade“ (Stufe 2) und „internalization“ (Stufe 3), wobei die Bezeichnung der ersten
Stufe als norm emergence, also Normentstehung, genau genommen nicht zutreffend ist,
meinen die Autorinnen hierbei doch nicht die tatsächlichen Ursprünge der Norm, etwa die
Ideen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, sondern die Anfänge einer von norm
entrepreneurs vorangetriebenen Diffusion einer Norm, die sie als Reaktion auf bestimmte von
103
104
105
Ob sie tatsächlich von ihnen überzeugt sind, spiele jedoch keine Rolle, s. FN 153 (S. 38) der Arbeit.
Risse, Thomas/Ropp, Stephen/Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International Norms
and Domestic Change, Cambridge, S. 1-38, hier S. 33.
Zentral für die folgenden Ausführungen ist der folgende Aufsatz, mit dem Finnemore/Sikkink den NormLife-Cycle als Modell einführen: Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics
and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917.
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ihnen registrierte Missstände für notwendig erachten.106 Ihre Motivation zum Aktivwerden
kann altruistischer, emphatischer und ideeller Natur sein, aber auch aus der eigenen
Betroffenheit resultieren. Die Normunternehmer sehen sich auf dieser ersten Stufe mit der
Schwierigkeit konfrontiert, dass „new norms never enter a normative vacuum but instead
emerge in a highly contested normative space where they must compete with other norms and
perceptions of interest“.107 Um die neue Norm gegen dominante normative Überzeugungen,
Interessensdefinitionen und als angemessen geltende Verhaltensweisen zu verteidigen, müssen
sie unterschiedliche Techniken einsetzen. Strategic social construction und framing sind die
hierbei angewendeten Strategien: Die NormaktivistInnen bedienen sich einer bis dato eher
ungewohnten – interpretierenden und dramatisierenden – Sprache und wirken durch die
Verwendung von bestimmten (neuen) sprachlichen Kombinationen auf bestehende
Denkmuster mit der Absicht ein, zunächst ein Problembewusstsein zu kreieren. Hierbei soll
der betreffende Sachverhalt derartig konstruiert werden, dass akzeptiert wird, er bedürfe einer
Aufarbeitung bzw. Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit; im Folgenden werden mögliche
– auf ihren Vorstellungen von angemessenem Verhalten beruhende – Lösungsvorschläge
unterbreitet und durchzusetzen versucht. Damit nachhaltig auf Einstellungs- und
Verhaltensänderungen bei anderen Akteuren hingewirkt werden kann, benötigen „all norm
promoters at the international level (…) some kind of organizational platform from and through
which they promote their norms.“108 Als solche Plattformen können speziell mit dem Ziel der
Diffusion konkreter Normen gebildete Zusammenschlüsse und Netzwerke, aber auch bereits
bestehende internationale oder transnationale Organisationen dienen. Ihre Vorteile liegen
darin, dass sie erstens auf Basis der in ihnen gebündelten Expertise für bestimmte
Problemfelder Informationen bereitstellen und überzeugend auftreten können. Zweitens
verfügen manche Organisationen über strukturelle Mittel, z.B. finanzielle Anreize oder
Sanktionsmöglichkeiten, mit denen sie Staaten zur Einhaltung bestimmter Normen motivieren
können.109 Drittens bietet sich hierdurch die Gelegenheit, eine Norm auf internationaler
Ebene zu institutionalisieren, d.h. festzustellen, was die Norm vorschreibt und was als ihre
Verletzung gelten kann.
106
107
108
109
Finnemore und Sikkink wählen in ihren Beispielen zur Behandlung von Verwundeten und Gefangenen im
Krieg und zum Frauenwahlrecht Individuen und soziale Gruppen, die als norm entrepreneurs fungieren,
aber es sind natürlich auch internationale Organisationen sowie andere Staaten in dieser Rolle denkbar.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 897.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 899.
Die Autorinnen weisen darauf hin, dass die Strategien „Überzeugung“ oder „Belohnung/Bestrafung“ je
nach Unabhängigkeit und Mächtigkeit des (staatlichen) Akteurs variieren. So können finanziell schwach
ausgestattete Staaten leichter über (materielle) Anreizsysteme zur Verhaltensänderung bewogen werden als
solche, die nicht auf internationale Finanzhilfen angewiesen und somit weniger für Anreize empfänglich
sind – diese müssten tatsächlich mithilfe der Bereitstellung neuer Informationen überzeugt werden.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 900.
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Zwar garantiert Letzteres nicht, dass ein zum Einleiten der zweiten Stufe –
Normenkaskade – notwendiger tipping point erreicht wird, zumindest wird jedoch die
Wahrscheinlichkeit, dass diese Schwelle überschritten werden kann, erhöht.110 Unter tipping
point verstehen die Autorinnen das Zustandekommen einer kritischen Masse von Staaten, die
sich für die Bestrebungen der norm entrepreneurs empfänglich zeigen, zudem aber auch auf
mögliche innenpolitische Forderungen reagieren, neue Normen anerkennen sowie umsetzen
und damit zu norm leaders werden können. Finnemore/Sikkink stellen fest, dass eine genaue
Angabe bezüglich der Anzahl der zum Überschreite des tipping points notwendiger Staaten
nicht möglich ist. Allerdings verweisen sie auf empirische Studien, die Unterzeichnungen von
Konventionen analysiert haben und darauf hindeuten, dass es sich dabei um ca. ein Drittel
aller Staaten handelt, wobei es von Bedeutung ist, welche Staaten sich einer Norm anschließen,
ob es z.B. diejenigen tun, die von der Norm betroffen und somit tatsächlich gezwungen sind,
ihr Verhalten zu ändern oder solche, die über einen bestimmten moralischen Status verfügen
und als Vorbilder gelten können.111 Das Vorhandensein einer kritischen Masse löst eine
Normkaskade aus, die sich im Vergleich zur Stufe der Normenstehung durch eine andere
Dynamik auszeichnet: Ist auf der ersten häufig noch ausschlaggebend, dass aus dem Inneren
des Staates Druck ausgeübt wird, der die Regierung zur Anerkennung der Norm bewegen soll,
kommen auf der zweiten Stufe internationale Sozialisationsprozesse zum Tragen, so dass
Staaten, innerhalb derer nicht unbedingt nach der Norm verlangt wird, dennoch anfangen,
Normen anzuerkennen und einzuhalten. Den Erfolg der während der Normkaskade
stattfindenden Prozesse führen die Autorinnen v.a. auf die Identität der Staaten als Mitglieder
110
111
Die Idee der Normkaskade ist angelehnt an das von Bikchandani et. al entwickelte – rationalistische! –
Modell der Informationskaskade (informational cascade): Dieses sucht imitierendes Verhalten von Akteuren
dadurch zu erklären, dass sie sich in ihren Entscheidungen hinsichtlich eines Sachverhaltes nicht nur von
ihren eigenen Eindrücken, sondern vor allem von den über die Entscheidungen anderer Akteure
vorliegenden Informationen beeinflussen lassen. Demnach wird die Wahl einer Handlungsalternative desto
wahrscheinlicher, je häufiger sie im Vorfeld der eigenen Entscheidung von anderen Akteuren ebenfalls
getroffen wurde. Bikchandani, Sushil/Hirshleifer, David/Welch, Ivo 1992: A Theory of Fads, Fashion,
Custom, and Cultural Change as Informational Cascades, in: The Journal of Political Economy 100:5, S.
992-1026, hier S. 994. Auf Normen übertragen, bedeutet Kaskade, dass ein Staat sich eher zu
normkonformem Verhalten entschließt, wenn dieser Entschluss bereits von einer gewissen Anzahl anderer
Akteure gefasst wurde – man kann sich das so vorstellen, dass die Verbreitung einer Norm nur bis zu einem
Punkt (tipping point) linear, nach seinem Überschreiten jedoch exponentiell verläuft, da eine Norm nicht
mehr durch ihre Substanz sondern auch durch die Anzahl ihrer Unterstützer an Überzeugungskraft gewinnt.
Die Autorinnen führen die Landminenkonvention als Beispiel an, bei der das erforderliche Drittel von 60
Staaten im Mai 1997 erreicht war, woraufhin im Dezember 1997 weitere 124 Staaten den Vertrag
ratifizierten. Welche anderen empirischen Studien zum tipping point die Autorinnen im Sinn hatten, wurde
leider nicht angegeben. Betrachtet man jedoch etwa die Chemiewaffenkonvention, so kann von einer
Ratifikationskaskade nicht die Rede sein, vielmehr scheint es sich hier um einen mehr oder weniger
gleichmäßigen Anstieg der ratifizierenden Vertragsparteien zu handeln: Von 1993-1996 haben die ersten 60
Staaten den Vertrag ratifiziert, bis 1998 weitere 60, das letzte Drittel ist auch heute noch nicht erreicht.
Vergleichbar tipping-point-frei erscheint z.B. auch die Durchsetzung der Convention on Elimination of All
Forms Of Discrimination Against Women (CEDAW): Das erste Drittel wurde in den Jahren 1980-1984
erreicht, das nächste Drittel bis 1993. Bis 180 Staaten die Konvention gezeichnet hatten, vergingen
schließlich mehr als zehn weitere Jahre. Während die von mir angeführten Beispiele lediglich der Illustration
dienen sollen, dass eine solche Kaskade wohl kaum bei allen Verträgen anzunehmen ist, wäre eine
systematische Überprüfung der Vorstellung eines tipping-points sicherlich interessant – den Rahmen dieser
Arbeit würde sie leider sprengen.
– 29 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
der internationalen Gemeinschaft zurück und damit einhergehend auf den Wunsch nach
Anerkennung als solche und nach Wertschätzung von anderen, aber auch von sich selbst.112
Schließlich kann eine Norm auf diese Weise eine so breite Akzeptanz erlangen, dass sie als
End- (oder Höhe-) Punkt der Diffusion von den Akteuren internalisiert wird.
2.4.3 Normen am Ziel: Internalisierung
Beide vorgestellten Modelle schließen mit der Vorstellung, dass eine Norm als Ergebnis des
Sozialisationsprozesses in ihrer letzten Phase bzw. Stufe einen besonderen Status – die
Internalisierung – erlangt. In diesem Stadium denken die Akteure nicht länger darüber nach,
ob sie die (inzwischen eine „taken-for-granted quality “113 erlangte) Norm befolgen oder nicht,
vielmehr halten sie sich automatisch daran. Nach dem erfolgten Lernprozess erscheint
normkonformes Verhalten dem Akteur so selbstverständlich, dass er „kaum noch darüber
[nachdenkt], ob [ er] sie einhalten soll oder nicht“.114Außerdem liegt beiden Modellen die
Annahme zugrunde, dass eine solche Norm beinahe völlig aus dem öffentlichen Diskurs
verschwindet, da ihre Einhaltung nicht länger umstritten ist und keiner weiteren
Überzeugungsarbeit bedarf.115
Normkonformität findet in diesem Stadium ohne externe Sanktionsdrohungen bzw.
Sanktionserwartungen statt: „When norms are internalized, they are followed even when
violation would be unobserved and not exposed to sanctions“.116 Elster argumentiert hier
jedoch, Internalisierung habe zur Folge, dass ein Akteur sich durchaus der im Falle eines
Normbruchs greifenden internen Sanktionen – wie Scham, Verlust der Selbstachtung,
Unsicherheit über die eigene Identität117 – bewusst ist und dieses Bewusstsein der Grund dafür
sei, warum Normen selbst dann eingehalten werden, wenn ihr Bruch anderen Akteuren nicht
einmal auffallen würde. Die Vorstellung, eine Verletzung der Norm hätte psychologische
Folgen für den Akteur, wird bereits von Axelrod zum Ausdruck gebracht: „[V]iolating an
established norm is psychologically painful even if the direct material benefits are positive “.118
Nicht nur würde nach Axelrod bei internalisierten Normen die Aussicht auf materielle
Belohnungen keinen ausreichenden Anreiz für non-compliance darstellen, darüber hinaus
112
113
114
115
116
117
118
Ausführlich zu den Grundlagen und zum Ablauf dieser Sozialisationsprozesse, s. Kapitel 2.4 (S. 21)
der Arbeit.
Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and Political Change, in:
International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 904.
Risse, Thomas/Jetschke, Anja/Schmitz, Hans-Peter 2002: Die Macht der Menschenrechte. Internationale
Normen, kommunikatives Handeln und innenpolitischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden,
S. 18.
Dazu Finnemore/Sikkink: „…norm internalization occurs; norm acquire a taken-for-granted quality and are
no longer a matter of broad public debate.“ Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm
Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 895.
Elster, Jon 1989: The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge, S. 131.
Fearon, James 1999: What is identity (as we use the word)?, draft manuscript, Stanford University, S. 28.
Axelrod, Robert 1986: An Evolutionary Approach to Norms, in: American Political Science Review 80:4, S.
1095-1111, hier S. 1104.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
würden andere Akteure, die die Norm verinnerlicht haben, das Bedürfnis verspüren, diese
Verletzung besonders stark anzuprangern und mit Sanktionen zu belegen und diese
Tätigkeiten als persönlichen Gewinn empfinden.
2.5 Tabus – inspired by fear and not done, not said, not thought
„Es darf uns ahnen, dass das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht
so weit von uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollen” 119
Als ein besonderer Typus internalisierter Normen werden in der konstruktivistischen Literatur
unter Rückgriff auf ethnologische, anthropologische und psychoanalytische Konzepte
sogenannte Tabus behandelt. Der Ursprung des Begriffes „Tabu“ liegt im aus dem
Polynesischen stammenden Wort tapu, dessen einfache Übersetzung „unverletzlich“ lautet,120
wobei der als gegenteilig angesehene Begriff noa für „gewöhnlich“ oder „allgemein
zugänglich“121 bereits auf eine umfassendere und vielfältigere Bedeutung des Wortes tapu
verweist. So wurde der Begriff z.B. auf der Inselgruppe Tonga als Bezeichnung für die
Unberührbarkeit von Kultplätzen verwendet, in vielen anderen Stammesgesellschaften, auch
außerhalb des Pazifikraumes, galten bestimmte Speisen, Tiere und Pflanzen als tabu, also als
verboten. Solche besonders starken Verbotsnormen, die sich auf „ man’s arbitrary use of
natural things“ beziehen und denen häufig eine mystische Komponente innewohnt, hat der
Anthropologe Robertson Smith bereits 1889 als Tabus charakterisiert.122 Allgemeiner ist der
Gegenstand von Tabus „something that is not done, said, or touched.“123 Freuds Auffassung,
die Tabuisierung resultiere aus einer Ambivalenz der Individuen, kommt im folgenden Zitat
pointiert zum Ausdruck: „Wo ein Verbot vorliegt, muß ein Begehren dahinter sein“124 – strikt
verboten wird demgemäß genau das, was man sich besonders wünscht und zwar, weil es
ebenso verführerisch wie falsch und beängstigend erscheint.125 Um dieses ambivalente
Verhältnis zwischen Wunsch und Angst auszuhalten, ist das Individuum gezwungen, den
Wunsch zu verdrängen und ihm eine explizit geäußerte und besonders rigorose
Verabscheuung gewissermaßen entgegen zu setzen,126 ergo muss seine Bedeutung umso
119
120
121
122
123
124
125
126
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 31.
Im europäischen Sprachgebrauch wurde das Wort von James Cook etabliert. Vgl. Pfeiffer, Wolfgang et al
1989: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin, S. 1773.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 26.
Zitiert nach: Douglas, Mary 1966: Purity of Danger. An Analysis of the concepts of pollution and taboo,
New York, S. 10.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organisation 53:3, S. 433-468, hier S. 436.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 87.
Etwas, das niemand tun will, bedarf ohnehin keines derart starken Verbotes.
Freud führt Verdrängung auf die durch Triebregungen bereitete Unlust zurück: Grundsätzlich ist eine
Triebbefriedigung bzw. die Befriedigung sehr starker Wünsche „ immer lustvoll “, wenn sie jedoch mit
„anderen Ansprüchen und Vorsätzen unvereinbar“ ist, würde sie „also Lust auf der einen, Unlust an anderer
Stelle erzeugen.“ Wenn das „Unlustmotiv eine stärkere Macht gewinnt als die Befriedigungslust“, setzt der
– 31 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
nachdrücklicher bekräftigt werden, je stärker die Lust am Übertreten des Tabus und je größer
die Angst davor ist.127
Der besondere Stellenwert tabuisierter Handlungen bzw. Objekte kann sich auf zwei
verschiedene, doch trotz ihrer augenscheinlichen Gegensätzlichkeit dennoch häufig
miteinander verknüpfte Bedeutungen stützen, die beide dem gleichen Zweck dienen: Als
Reaktion auf die mit dem Bruch eines Tabus verbundene Angst nehmen das Bedürfnis nach
Schutz der Gemeinschaft und die Bewahrung des Wahren, Schönen und Guten eine
Vorrangstellung ein. Der angestrebte Schutz soll einerseits durch Tabuisierung der nur
besonderen (oft ebenfalls heiligen) Personen vorbehaltenen Handlungen sowie der als heilig,
geweiht und deshalb unberührbar geltenden Dinge erfolgen, welche als Totem (Schutzgeist
oder Stammvater) dienen und die nicht entweiht werden dürfen, wobei der „Totemcharakter
(…) nicht an einem Einzeltier oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung
[haftet]”.128 Andererseits kann auch die Annahme von der Unreinheit, Unheimlichkeit und
ausgesprochener Gefährlichkeit zur Grundlage von Tabus werden:129 Solche Verbote richten
sich nicht – wie bei Totem – auf den Schutz der Objekte selbst, sondern auf den Schutz der
Gemeinschaft vor ihnen. Während es im ersten Fall gilt, eine Gemeinschaft weiterhin unter
das Zeichen der Reinheit und der Sicherheit einer heiligen Kraft zu stellen und auf diese Weise
ein mögliches Unglück zu verhindern, das nach dem Schwinden dieses besonderen Schutzes
durch eine Entweihung eintreten könnte, sich also durch das erhaltene Gute indirekt vor dem
Unheil zu schützen – richtet sich die Tabuisierung im zweiten Fall direkt gegen das Böse,
welches von niemandem berührt oder ausgeführt werden darf. Offenbar können Tabus
demgemäß über eine unterschiedliche Systematik verfügen: Greifen einige Verbote absolut für
alle Mitglieder der Gemeinschaft, beschränken andere sich unterdessen auf bestimmte
Gruppen – das Recht zu ihrer Übertretung bleibt denjenigen vorbehalten, die nicht zu diesen
Gruppen gehören;130 zentrieren sich einige um ein heiliges Totem und restringieren im
Zusammenhang damit stehende Handlungen, beziehen sich wiederum andere auf als
gefährlich und unrein geltende Verhaltensweisen und Gegenstände.
127
128
129
130
Verdrängungsmechanismus ein. Auf Tabus übertragen, bedeutet dies, dass der Wunsch zur Ausführung
bestimmter Handlungen deshalb bis zur Tabuisierung verdrängt wird, weil die Angst vor ihren Folgen zu
einem mächtigeren Unlustmotiv wird. S. Freud, Sigmund 1984 [1915]: Die Verdrängung, in: Ders.: Das Ich
und das Es und andere metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main, S. 61-71, hier S. 62, außerdem
auch: Freud, Sigmund 1940: Die Inzestscheu, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im
Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, S. 5-25, S. 25.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 42.
Detaillierter dazu s. Freud, Sigmund 1940: Die Inzestscheu, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige
Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, S. 5-25, S. 7.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 26ff.
Solche Verbote können sowohl nur für die gewöhnlichen Mitglieder gelten (ihnen kann z.B. der den
Priestern gestattete Zutritt zu bestimmten geweihten Orten verwehrt bleiben) als auch nur für diejenigen,
die in einer bestimmten Position stehen (z.B. das Zölibat bei katholischen Geistlichen).
– 32 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Neben der primär bezweckten eher allgemeinen Abwendung von (u.U. vermeintlichen)
Gefahren, erfüllen Tabus weitere Schutzfunktionen wie die Absicherung der herausgehobenen
Stellung einer Person oder Personengruppe, aber auch gewöhnlicher Gemeinschaftsmitglieder,
gegen Schädigung, den Schutz schwächerer Gemeinschaftsmitglieder vor magischen Kräften,
die z.B. Priestern und Häuptlingen zugeschrieben werden131 oder den Schutz der
Gemeinschaft als Ganzes vor dem Zorn der Götter und Dämonen.132 Zur Abwehr abstrakter
Gefahren können überdies praktische Hintergründe hinzukommen, die tatsächlich dem
Schutz der Gesundheit dienen, wie beispielsweise das Verbot mancher Speisen aufgrund ihrer
Giftigkeit.133 Ferner sind Tabus, ebenso wie andere Normen,134 ein Mittel der Inklusion resp.
der
Exklusion
–
wer
zu einer
Stammesgemeinschaft (oder,
analog dazu,
zur
Staatengemeinschaft) gehören will, hat die jeweiligen Verbote zu befolgen und signalisiert
durch ihre Einhaltung seine Zugehörigkeit; wer sie bricht, riskiert seinen Ausschluss aus der
Gemeinschaft, die Person (ggf. der Staat) wird durch einen Tabubruch selbst tabu.
Es wird angenommen, dass die Tabuisierung der TabubrecherInnen, ihre gesellschaftliche
Ächtung oder gar völlige Exklusion sowie weitere soziale Sanktionsmaßnahmen sich erst im
Laufe einer Weiterentwicklung des Begriffes ergeben haben, herrschte doch ursprünglich die
Überzeugung vor, das Tabu würde sich selbst rächen, die Bestrafung demnach automatisch
erfolgen. Die „unbezwingbare“ Angst vor übernatürlichen Bestrafungen sei das Fundament
der Inspiration, Aufrechterhaltung und der starken Wirkungskraft von Tabus nach Robertson
Smith und Freud.135 Die Bedeutung der Angst, der Gefahr und der Bedrohungsgefühle wurde
auch in der konstruktivistischen Literatur aufgegriffen und für die folgende Definition
grundlegend: In Abgrenzung zu „einfachen“ Normen („prescriptions or proscriptions for
behaviour“) definiert Tannenwald Tabus als „a particularly forceful kind of normative
prohibition that, (…) deals with the ‚sociology of danger’”, wobei unter letzterer die Erwartung
von „awful consequences or sanctions to follow in the wake of a taboo violation” zu verstehen
131
132
133
134
135
Die Anerkennung der Notwendigkeit eines Schutzes aller Personen vor mächtigeren Anderen durch
bestimmte Verbote findet sich heute in der Idee moderner Staatlichkeit und konkret im
Menschenrechtskonzept wieder, welches die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat festhält, den
Schutz des Individuums durch den Staat gebietet und dem staatlichen Handeln durch Verbote
Grenzen auferlegt.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 28.
Z.B. war/ist auch die Berührung von Leichen aufgrund möglicher übertragbarer Krankheiten häufig
tabuisiert und auch das Inzesttabu wird in diesem Zusammenhang genannt, da es darauf abzielt, mögliche
(genetische) Schäden bei nachfolgenden Generationen zu verhindern. Dazu ausführlich: Freud, Sigmund
1940: Die Inzestscheu, in: Ders.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden
und der Neurotiker, S. 5-25.
S. S. 12 der Arbeit.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 36 und
Robertson Smith 1889, zitiert nach: Douglas, Mary 1966: Purity of Danger. An Analysis of the concepts of
pollution and taboo, New York, S. 10.
– 33 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
ist.136 Trotz der erwarteten Selbstbestrafung konnten sich im Laufe der Zeit auf Basis der
Überzeugung, dass der Tabubruch eine Gefahr bzw. Unglück über die gesamte Gemeinschaft
bringt und sie eine (Mit-)Schuld auf sich lädt, wenn sie den Tabubruch nicht ahndet, scharfe
soziale Sanktionen etablieren. Des Weiteren wird mit einer deutlichen Verurteilung und
Bestrafung durch die Gemeinschaft der Befürchtung begegnet, Tabubrüche seien in
mehrfacher Hinsicht „ansteckend“,137 nicht nur könnten sich ihnen innewohnende gefährliche
Kräfte durch Berührung übertragen, sondern es bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass das
dem Tabu zuwiderlaufende Verhalten aus Neid (darauf, dass bestimmte Personen etwas tun,
was allen anderen verboten ist) oder aufgrund der nicht eingetretenen negativen
Konsequenzen, nachgeahmt werde. Solch eine (sich ausbreitende) Imitation des Bruches als
kollektive Nicht-Einhaltung von bis dato fundamentalen Regeln gesellschaftlichen
Zusammenlebens kann den Fortbestand der Gemeinschaft durch den Wegfall ihrer
Regelungsmechanismen in der Tat unmöglich machen. Ein Tabubruch kann sich jedoch ganz
im Sinne einer self-fulfilling-prophecy ebenso selbst rächen, wenn das auf den Bruch folgende
schlechte Gewissen und die empfundene Scham zur Qual für die betreffende Person
werden138 oder sich eine Gemeinschaft, die sich ihrer Grundfeste beraubt sieht (z.B. auch nur
durch eine einmalige Entweihung des heiligen Tieres oder Ortes), auflöst. Außer der Reaktion
der Gemeinschaft, die durch ihre Selbstauflösung auf den Bruch reagiert und hiermit die
negativen Konsequenzen erst selbst schafft, ist ferner denkbar, dass alle nach einem
Tabubruch erfolgenden, negativ bewerteten Ereignisse als durch den Tabubruch verursacht
interpretiert werden. Es wird deutlich, dass die durch Tabubrüche entstehende Gefahr nicht
unbedingt darin zu sehen ist, dass sie zu unmittelbar zu negativen Konsequenzen führen
müssen; diese können jedoch dennoch eintreten – und zwar u.U. allein deshalb, weil
bestimmte Handlungen eben nicht bloß als Übertretungen bestimmter Verbote, sondern als
Tabubrüche wahrgenommen werden. Da diese, laut dem Mythos, nicht ohne schreckliche
Folgen bleiben können, sorgen die Gemeinschaften durch ihre – intendierten oder nicht
intendierten – Reaktionen dafür, dass sich der Mythos bewahrheitet.
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass offenbar keine Möglichkeit besteht,
darüber nachzudenken, ob und wie gravierend die Missachtung des Tabus und ihre Folgen
tatsächlich sind und weder Begründungen für die Schwere der Tat noch für die Sinnhaftigkeit
des Verbots vorgebracht werden müssen. Wie von Freud herausgestellt, verbieten sich Tabus,
136
137
138
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organisation 53:3, S. 433-468, hier S. 436.
Zu Ansteckung, Nachahmung und Sanktionierung durch/von Tabubrüche(n) siehe Robertson Smith, zitiert
nach: Douglas, Mary 1966: Purity of Danger. An Analysis of the concepts of pollution and taboo, New
York, S. 23 und Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.:
Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S.
26-92, S. 44ff.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 85.
– 34 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
in Abgrenzung zu moralischen Verboten „eigentlich von selbst“.139 Ihre Autorität „is
unmatched by any other prohibition“,140 ebenso wenig müssen sie unter Rückgriff auf höhere
Autoritäten (wie z.B. die göttliche) begründet werden: „Die Tabuverbote entbehren jeder
Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen
selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.“ Die Selbstverständlichkeit von Tabus
zeigt sich somit insbesondere darin, dass die Frage, warum etwas verboten ist, sich denjenigen,
für die das Tabu gilt, gar nicht erst stellt, „sie sich ihnen wie selbstverständlich [unterwerfen]“
und „ es ihnen auch nicht ein[fällt], danach zu fragen“,141 denn „[t]here is no reflection on it, no
reasoning about it, no discussion of it“.142 Vielmehr halten sich Tabus, wie andere internalisierte
Normen auch, auf Basis einer „psychischen Beharrung“, die infolge der Tradierung von
Generation zu Generation entsteht.143 Käme die Frage nach ihrer Begründung auf – gestellt
z.B. von Angehörigen anderer Gemeinschaften, denen die Tabus unbekannt sind – sei nach
Freud (zunächst?) keine zufriedenstellende Antwort zu erwarten, denn die dem Tabu
zugrunde liegenden Motive seien unbewusst,144 d.h. ungedacht. So ist die über das bloße
Verbot des Ausführens gewisser Handlungen wie z.B. das Berühren unreiner Gegenstände
oder das Betreten heiliger Orte hinausgehende Prohibition der gedanklichen Berührung bzw.
des Betretens bestimmter Denkräume ein zentrales Element von Tabus145 – tatsächliche
Tabubrüche, ebenso wie die Reflexion über ihre Richtigkeit und Notwendigkeit sind
unthinkable. Noch stärker als bei einer internalisierten Norm nach Finnemore und Sikkink,
über deren Einhaltung (warum auch immer) nicht mehr diskutiert wird, fällt also schon das
ernsthafte Anzweifeln seiner Gültigkeit in den Schutzbereich des Tabus. Zwar kann seine
Unangreifbarkeit immer wieder öffentlich bekräftigt werden, etwaige Erwägungen eines
Bruches und u.U. damit einhergehende Kosten-Nutzen-Kalküle werden jedoch sofort – und
ohne weitere argumentative Auseinandersetzung – abgeschmettert.146 Das Beginnen einer
139
140
141
142
143
144
145
146
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 26.
Webster, Hutton 1942: Taboo. A sociological study, Stanford, S. 17, zitiert nach: Paul, Thazha V. 1995:
Nuclear Taboo and War Initiation, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 701.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 27 und 30.
Webster, Hutton 1940: Taboo. A sociological study, Stanford, S. 17, zitiert nach: Paul, Thazha V. 1995:
Nuclear Taboo and War Initiation, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 701.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 33ff.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 41.
Freud, Sigmund 1940: Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, in: Ders.: Totem und Tabu.
Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 26-92, S. 37.
Quester weist darauf hin, dass schon das Anstellen von rationalen Kalkulationen bei tabuisierten Themen
nicht stattfinden kann. George H. 2005: If the nuclear taboo gets broken, in: Naval College Review 58:2, S.
71-91, hier S. 74.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Debatte, in der Begründungen für die Notwendigkeit eines Tabus angeführt werden müssten,
kann bereits als Ausdruck einer Schwächung des Tabus gelten.147
Diese Undenkbarkeit eines Tabubruches und sein absoluter Gültigkeitsanspruch gelten
neben der bereits in den Ausführungen zu internalisierten Normen angebrachten „taking for
grantedness“ als dessen Kernbestandteile. Als weitere zentrale Tabu-Elemente seien
zusammenfassend seine Angst-Basiertheit, seine Schutzfunktion und die Gefahr einer
Selbstbewahrheitung des Mythos nach einem Tabubruch im Sinne einer self-fulfilling
prophecy genannt.
2.6 Theoretische Schwächen: Problematische Modelle, Ausblenden von
agency und Fortschrittsbias
Nicht zu leugnen ist, dass konstruktivistische Theorien die bis dato rationalistischpositivistisch dominierte Debatte über verschiedene Dimensionen internationaler Normen
entscheidend erweitert und bereichert, wenn auch nicht mit endgültigen Antworten beliefert
haben. Der nachdrückliche Hinweis auf gegenseitige Bedingtheit von Akteuren und
Strukturen, dem eine für den Konstruktivismus konstituierende Bedeutung attestiert werden
kann, gewann insbesondere in Abgrenzung zum strikten Individualismus und der
Akteurszentriertheit des Rationalismus an Relevanz. Allerdings wird genau diese Abgrenzung
als ein Grund für die Entstehung einer – angesichts der üblichen Fokussierung auf die
Wechselbeziehung zwischen Akteur und Struktur doch überraschenden – theorieinhärenten
Lücke angesehen: dem Verschwinden von agency . So erfüllen konstruktivistische Ansätze
zwar durchaus den Anspruch, die charakteristische Wechselwirkung zwischen Norm und
Akteur nachzeichnen zu können – zumindest bevor das Internalisierungsstadium der Norm
erreicht ist.148 Hat eine Norm jedoch die unterschiedlichen Entwicklungsphasen von ihrer
Entstehung, Verbreitung und Durchsetzung bishin zu ihrer Verinnerlichung erfolgreich
durchlaufen, scheint sie letztendlich ähnlich einer Struktur zu wirken: Die oben beschriebenen
Modelle legen nahe, dass der Akteur einer internalisierten Norm nichts als folgen kann und
nicht nur Normbrüche unwahrscheinlich werden, sondern auch Diskussionen über ihre
Gültigkeit aus dem Rahmen des Möglichen gerückt werden. Die Norm als Struktur wird somit
dem Zugriff des Akteurs entzogen, agency wird als der Struktur ausgeliefert aufgefasst.
147
148
Auch, wenn dies nicht ausschließt, dass das Tabu am Ende der Debatte seine Gültigkeit wieder erlangt oder
sogar gestärkt aus ihr hervorgeht, s. zu diesem Punkt auch Fußnote 161 (S. 41) der Arbeit.
Die Entstehungs- und Wirkungsmechanismen von Normen sind bereits ausführlich dargestellt worden,
deshalb soll an dieser Stelle lediglich eine kurze stichpunktartige Ausführung zum Zusammenspiel zwischen
Normen und Akteuren genügen: Akteure wie norm entrepreneurs bringen eine Norm ins öffentliche
Bewusstsein und engagieren sich für ihre Verbreitung. Die Norm ihrerseits wirkt auf (andere) Akteure,
konstituiert Identitäten, verändert Kosten-Nutzen-Kalküle. Akteure wiederum bedienen sich der Norm, um
ihr Verhalten zu rechtfertigen bzw. die Handlungen von anderen zu delegitimieren usw. Auch wird hier das
für die Beziehung Akteur-Struktur typische Henne-Ei-Problem deutlich: Normen verändern Strukturen und
sind gleichzeitig bereits Ausdruck veränderter Strukturen. Sie können als Ergebnis der Interaktionen
zwischen Akteuren entstehen, wobei letztere mit der Hervorbringung von Normen auf strukturelle
Veränderungen oder auf den Einfluss anderer Akteure reagieren können.
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T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Neben der bereits erwähnten Abgrenzung von akteurszentrierten Ansätzen, die als
konstruktivistisches Korrektiv zum Rationalismus, die Strukturen wenn nicht negiert, so doch
gänzlich vernachlässigt, zu einer stärkeren – zu starken – Fokussierung der Strukturen beiträgt,
führt Checkel vier weitere mögliche Erklärungen für die „constructivism’s missing agents“ an:
So interessieren sich, erstens, konstruktivistische AutorInnen, eher für intersubjektive,
kollektive und weniger für individuelle Prozesse, was einzelne Akteure aus dem Blickfeld
rücken lässt. Zweitens bringe es auch Wendts einflussreiche Konzeption von der sozial
konstruierten Identität des Staates mit sich, dass individuelle, auf nationaler Ebene ablaufende
Prozesse an Bedeutung verlieren. Die soziologischen Grundlagen des Konstruktivismus,
genauer, der soziologische Institutionalismus mit seiner Ausklammerung individueller
Machtpotentiale seien der dritte Grund. Unterstützend wirke, viertens, die von Checkel
diagnostizierte „empirische bias“ der Normenforschung – so beschäftigen sich zahlreiche
Studien mit Aktivitäten von transnationalen Akteuren, internationalen Organisationen und
NGOs und lassen die unterschiedliche – möglicherweise auf nationalstaatlicher Ebene zu
begründende – Responsivität der Akteure für manche Normen außer Acht.149
Während der Kritikpunkt, dem Akteur, sobald eine Norm internalisiert ist, jegliche Macht
darüber zu entziehen und agency zu eliminieren, sowohl auf das Spiralmodell als auch auf den
Norm-Life-Cycle gleichermaßen zutrifft, unterscheiden sich die beiden sehr wohl hinsichtlich
der von ihnen internen Faktoren zugemessenen Bedeutung. Die Internalisierung von
Menschenrechtsnormen wird von Risse/Sikkink als ein Produkt des Zusammenspiels von
internen und externen Faktoren aufgefasst, in dem innenpolitische Akteure wie
gesellschaftliche Gruppen und die Regierung mit internationalen Akteuren wie internationalen
Organisationen und NGOs sowie mit anderen Staaten interagieren. Finnemore/Sikkink
verorten die für ihre Erklärung relevanten Faktoren hingegen fast ausschließlich auf der
internationalen Ebene – so wirken zu Beginn transnationale Normunternehmer auf
Nationalstaaten ein (was genau in den Staaten passiert, wird jedoch weitgehend ausgeblendet
und es wird nur in einem Nebensatz erwähnt, dass auch innenpolitischer Druck eine Rolle
spielen könnte) und der für den Übergang in die nächste Phase notwendige tipping point ist
erst dann erreicht, wenn eine bestimmte Schwelle an normbefürwortenden Staaten erreicht ist.
Letzteres ist wiederum eine auf internationaler Ebene zu erreichende Voraussetzung, die
wenig Aufschluss darüber zu geben vermag, warum manche Staaten von der Normkaskade
erfasst werden, andere wiederum nicht. Darauf kann allerdings auch das Spiralmodell keine
befriedigende Antwort geben, zwar wird die innere Verfasstheit eines Staates und sein Grad
an Offenheit in die Erklärung miteinbezogen,150 ebenfalls werden die Übergänge von einer
149
150
Checkel, Jeffrey T. 1998: The Neoliberal Moment in Sweden: Economic Change, Policy Failure or Power of
Ideas, Paper presented at the Ideas, Culture and Political Analysis Workshop, Princeton University, May 1516 1998, S. 2f.
Die Bedeutung dieser internen Faktoren und individueller Besonderheiten der Fälle werden erst zur Sprache
gebracht, nachdem die Ergebnisse der Anwendung des Spiralmodells auf die Empirie eine große Varianz
zwischen den unterschiedlichen Staaten aufweisen. Siehe zur Auswertung und Einordnung der Fallstudien:
– 37 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
Stufe zur nächsten als vom Vorliegen bestimmter Bedingungen abhängig betrachtet,151 jedoch
reicht die Erklärungskraft nicht aus, um allgemein zu bestimmen, wann und wie diese
Bedingungen hergestellt werden können. Genauso wenig ist eine Aussage über die
wahrscheinliche Dauer der jeweiligen Phasen möglich – vielmehr zeigt die Durchführung
mehrerer Fallstudien, dass die Entwicklungen in den untersuchten Staaten nicht nur
unterschiedlich schnell verlaufen, sondern die tatsächlich erreichten Veränderungen der
Menschenrechtslage ebenfalls stark variieren.152 Zwar haben einige, als „success stories“
bezeichneten Länder in der letzten Phase des normgeleiteten Verhaltens nach Ansicht der
Autoren „mostly completed [the] internalization of human rights norms“, allerdings wird nicht
präzisiert, woran eine solche Internalisierung zu erkennen ist. Letzteres, in Verbindung mit
weiteren recht vage formulierten Feststellungen und Kriterien kann man sowohl
Risse/Sikkink als auch Finnemore/Sikkink durchaus zum Vorwurf machen.153
Beide Modelle können ferner als Beispiele für ein weiteres Problem der Normtheorie
stehen – und dieses ist auch durch das bereits kritisierte Ausblenden von agency bedingt:
Rückt der Akteur nach der Norminternalisierung aus dem Blickfeld, bleibt dies nicht folgenlos
für die weitere Entwicklung der Norm, verschwinden mit dem Akteur doch nicht nur die
(naheliegende) Notwendigkeit der Normreproduktion sondern auch die Möglichkeit eines von
Seiten des Akteurs ausgehenden Normwandels nach oder während der Internalisierungsphase.
Sich explizit mit dem Begriff des normative change befassende Autorinnen und Autoren
151
152
153
Risse, Thomas/Ropp, Stephen C. 1999: International human rights norms and domestic change:
conclusions, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights:
International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 234-278, hier S. 262f.
So hängt z.B. der Übergang von der zweiten Phase (Leugnen) in die dritte (taktische Konzessionen) von der
Mobilisierung transnationaler Netzwerke und der Verwundbarkeit der menschenrechtsverletzenden
Regierung durch Sanktionen ab.
Dies werten Risse/Ropp jedoch nicht als Schwächung des Modells, sondern argumentieren, dass es ihnen
vorrangig um das Aufzeigen der hinter dem Sozialisationsprozess stehenden Dynamik ging. Risse,
Thomas/Ropp, Stephen C. 1999: International human rights norms and domestic change: conclusions, in:
Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of Human Rights: International
Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 234-278, hier S. 258.
Z.B. schreiben Risse/Sikkink einerseits, dass es in der vierten Phase (präskriptiver Status) irrelevant sei, ob
die beteiligten Akteure tatsächlich an die Norm glauben oder nicht, solange eine Übereinstimmung
zwischen ihren Taten und Worten besteht. Andererseits sei für dieses Stadium charakteristisch, dass die
Gültigkeit der Norm nicht länger kontrovers ist, auch wenn das tatsächliche Verhalten (immer noch nicht)
normkonform ist – dass Akteure lediglich behaupten, sie würden die Norm teilen und nicht länger eine
Debatte über sie geführt wird, ist an diesem Punkt einleuchtend, doch handelt es sich bei anhaltenden
Normbrüchen etwa nicht um ein Auseinanderklaffen zwischen Worten und Taten, das es in diesem Stadium
nicht geben dürfte? (Vgl. Risse, Thomas/Sikkink, Kathryn 1999: The Socialization of International Human
Rights into Domestic Practices, in: Risse, Thomas/Ropp, Stephen C./Sikkink, Kathryn (Hg.): The Power of
Human Rights: International Norms and Domestic Change, Cambridge, S. 1-37, S. 29.) Finnemore/Sikkink
bleiben z.B. bei ihrem Punkt, eine internalisierte Norm verschwinde aus dem breiten öffentlichen Diskurs
und werde nur noch von „few people“ diskutiert, insofern unpräzise, als dass sie nicht darauf eingehen,
woran man die Breite des Diskurses schätzen kann und ob es eine Rolle spielt, welche – wenn auch wenige
– Akteure eine Norm in Zweifel ziehen. Des Weiteren wurde oben bereits darauf verwiesen, dass die
Autorinnen sich nicht in der Lage sehen, die Größe der zur Normkaskade führenden kritischen Masse zu
bestimmen, auch Kriterien zur Identifizierung der für die Normkaskade relevanten Staaten werden im
Konjunktiv vorgebracht und lesen sich eher als Vorschläge. (Vgl. Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn
1998: International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917,
hier S. 895 bzw. S. 901.)
– 38 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
thematisieren ebenfalls ausschließlich den zur Verinnerlichung einer Norm führenden Prozess
und nicht, wie der Ausdruck vermuten ließe, deren mögliche Veränderung auch nach dem
Erreichen des letzten Stadiums – dieses wird als Endpunkt der Normkarriere verstanden,
einmal soweit gekommen, scheint die Norm stabil und „in Sicherheit“. Immerhin gibt es
einige Arbeiten, die durchaus die Möglichkeit der Erosion einer Norm in Betracht ziehen, wie
z.B. Akerlof, der argumentiert, dass eine Norm dann verschwinden kann, wenn sie für die
Aufrechterhaltung der Reputation des Akteurs nicht mehr notwendig ist, der durch einen
Bruch erzielte Reputationsverlust im Vergleich zum Gewinn sehr niedrig ist oder die Akteure
schlichtweg nicht mehr an die Norm glauben.154 Auch Hoffmann merkt an, dass einmal
gesetzte Standards nicht über eine Ewigkeitsgarantie verfügen und sich die Vorstellungen
davon, was als angemessen aufzufassen ist, durchaus wandeln können:
„If agents to longer feel that the behaviour prescribed by the norm is appropriate, they
will cease to act in such a way and the appropriateness of the standard evaporates. Once
this takes place, the „norm“ no longer has influence over agents’ interests and thus no
influence over agents’ behaviors.“155
Allerdings bezieht er sich nicht speziell auf internalisierte Normen und befasst sich in seinem
Artikel nicht weiter mit den möglichen Bedingungen, die zu dem „Gefühl, eine Norm sei
nicht mehr angemessen“ führen, sondern entwickelt ein weiteres Modell der Normentstehung.
Risse stellt zwar leichthin fest, dass „norms that are no longer believed will probably disappear
or soon change “ – wie es zu dem Punkt kommen kann, an dem an automatisch und unbewusst
befolgte Normen nicht mehr geglaubt wird, problematisiert er jedoch nicht.156 Sogar explizit
mit dem Begriff Normerosion operiert Kübler, so könne diese durch eine Veränderung der
Anreizstrukturen erreicht werden – allerdings erodieren in der Vorstellung der Autorin
ebenfalls nur „schlechte“ Normen.157 Doch indem sie überhaupt Überlegungen dazu anstellt,
was eigentlich mit der alten Norm passiert, sobald eine neue aufkommt, geht die Autorin
schon einen Schritt weiter als die meisten anderen Arbeiten, die lediglich die Entwicklung
einer neuen Norm behandeln, das Schicksal der alten jedoch nicht weiter untersuchen. Zwar
berücksichtigen sie, dass internalisierte Normen durch (noch) stärkere ersetzt werden
154
155
156
157
Akerlofs bereits 1980 dargelegte Überlegungen entstanden jedoch nicht im Kontext der konstruktivistischen
Normentheorie, entsprechend bezieht er sich weder auf staatliche Akteure, die internationale Normen
internalisiert haben noch geht es ihm primär um Standards, die erodieren. Vielmehr verfolgt er das Ziel,
Status und Reputation als für die Normbefolgung relevante Faktoren herauszustellen und aufzuzeigen, dass
Akteure sich genau aus diesem Grund an – sie materiell benachteiligende – Normen halten. Akerlof, George
1980: A Theory of Social Custom, of Which Unemployment May Be One Consequence, in: Quarterly
Journal of Economics 94:4, S. 749-775, hier S. 751.
Hoffmann, Matthew J.: Entrepreneurs and Norm Dynamics: An Agent-Based Model of the Norm Life
Cycle, im Reviewverfahren der American Political Science Review, S. 4, online unter:
<http://www.psych.upenn.edu/sacsec/abir/_private/Pamla/Hoffmann_norms.doc>, rev. 30.09.2005.
Risse, Thomas 2000: „Let’s argue!”: Communicative Action in World Politics, in: International Organization
54:1, S. 1-39, hier S. 6.
Kübler, Dorothea 2001: On the Regulation of Social Norms, in: The Journal of Law, Economics, &
Organization 17:2, S. 449-476, hier S. 452 bzw. 473.
– 39 –
T he or e ti s ch e r Hi n te r gr un d: N or m e n i n de n I B
können,158 bleiben damit aber einem Fortschrittsglauben verhaftet, der eine kontinuierlich
zunehmende Verregelung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen nahelegt.159
Demnach schränken neu entstehende Normen den Handlungsspielraum von Akteuren immer
stärker ein, während die Ablösung einer Norm durch eine schwächere, die eben diesen
Handlungsspielraum wieder erweitern würde, nicht bedacht wird. Dies erweist sich in
Anbetracht der sozialen Praxis, nach der bereits internalisierte Normen sehr wohl durch einen
neu entfachten öffentlichen Diskurs wieder in Frage gestellt werden und nach der Tabus auf
die gleiche Weise eine
theoretische Lücke.160
Schwächung
erfahren,
als
zweite,
empirisch
bedingte ,
Welchen Weg wir zu gehen gedenken, um die Lücke zu füllen und unter welcher
Fragestellung unser Vorhaben steht, wird im folgenden Kapitel dargestellt.
158
159
160
Siehe etwa Klotz, Audie 1996: Norms in International Relations Theory, in: dies.: Norms in International
Relations. The Struggle Against Apartheid, Ithaca, S. 13-35, hier S. 23ff. oder Hurrell, Andrew 2001: Norms
and Ethics in International Relations, in: Carlsnaes, Walter/Risse, Thomas/Simmons, Beth A. (Hg.):
Handbook of International Relations, London, S. 137-154.
Dieser Forschrittsglaube kommt auch in der Auswahl der in der einschlägigen Literatur angeführten
Normen zum Ausdruck: Hier werden ausschließlich – aus westlicher Sicht – positiv konnotierte Standards
untersucht, während z.B. die verstärkte Durchsetzung der Scharia außerhalb des normtheoretischen
framings liegt. Zwar wird von Finnemore an einer Stelle darauf verwiesen, es gäbe keinen Grund, davon
auszugehen, dass geteilte Überzeugungen automatisch „ethisch gut“ seien. In einer späteren Arbeit stellen
sie und Sikkink allerdings fest, dass „by definition, there are no bad norms“, denn auch heute längst
überwundene Normen (z.B. Sklaverei) wurden von ihren Befürwortern einst als richtiges, angemessenes
Verhalten gewertet. Dieser Auffassung entsprechend nimmt die Normenforschung ebenfalls ausschließlich
gute Normen in ihren Suchfokus auf. Finnemore, Martha 1996: National Interests in International Society,
Ithaca/London, S. 6 und Finnemore, Martha/Sikkink, Kathryn 1998: International Norm Dynamics and
Political Change, in: International Organization 52:4, S. 887-917, hier S. 892.
Man denke nur an aktuelle Debatten um die grundlegende Norm der staatlichen Souveränität im
Zusammenhang mit der Forderung nach humanitären Interventionen oder an die als bereits verregelt
geglaubten, nun aber von neuem in die Diskussion geratenen Entwicklungsziele der OECD. Beispielhaft für
die Schwächung eines Tabus auf diese Weise könnte die (durch weitgehende Legalisierungen im „Westen“)
in der islamischen Welt angefachte Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität angeführt werden.
– 40 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
3. Fragestellung und Herangehensweise
3.1 Fragestellung
Unsere Arbeit hat das Ziel, zur Überwindung dieser beiden Lücken – der theorieimmanenten
und der empirisch bedingten – beizutragen: Wir fragen uns, wie es möglich ist, dass eine
bereits internalisierte Norm von Seiten des Akteurs wieder in Frage gestellt werden kann und
auf diese Weise geschwächte Tabus erodieren.
Damit grenzen wir uns klar von der umfangreichen compliance-Literatur ab, in deren
Zentrum die Frage steht, unter welchen Bedingungen sich Akteure (in der Regel) an eine
Norm halten und wann normkonformes Verhalten weniger wahrscheinlich ist – denn durch
den Bruch einer Norm muss deren Existenz oder gar Existenzberechtigung noch lange nicht
in Frage gestellt werden.161 Im Sinne unseres Tabubegriffs ist es vielmehr wichtig, einen
Einstellungswandel gegenüber dem Geltungsanspruch einer Norm aufzuzeigen, d.h. den
schwindenden Glauben an ihre uneingeschränkte (moralische) Richtigkeit. Indem wir ein
solches Infragestellen von Tabus betrachten und die (häufig implizite) Annahme, ein Akteur
besitze keinerlei Handlungsmacht über eine internalisierte Norm mehr (d.h., sein Handeln sei
in diesem Fall durch eine Art Struktur determiniert) vor dem Hintergrund empirischer
Gegenbeispiele bestreiten, rückt für uns das Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit, in
dem ein Akteur wieder Handlungsmacht über eine strukturähnlich wirkende Norm gewinnt,
sich also die Möglichkeit einer Normerosion eröffnet und damit gleichzeitig den Prozess der
Normerosion auslöst.162
Im Sinne des oben angeführten Tabubegriffs gehen wir davon aus, dass diese
eigenmächtige Ausweitung des eigenen Handlungsspielraums durch einen Akteur auf Kosten
der strukturähnlich wirkenden Norm geht, wir wollen jedoch nicht behaupten, dass am Ende
eines auf diese Weise angestoßenen Prozesses immer die Abschaffung der jeweiligen Norm
oder auch nur deren Ersetzen durch eine schwächere stehen muss. Da unsere Fallstudien
noch laufende Debatten zum Gegenstand haben, anhand derer sich allerdings der Prozess des
erneuten Anstoßens einer Debatte sehr gut nachvollziehen lässt, können wir über den
161
Auf diesen Unterschied wiesen Kratochwil und Ruggie bereits Mitte der 1980er Jahre hin: “[N]orms are
counterfactually valid. No single counterfactual occurrence refutes a norm. Not even many such occurrences
necessarily do. (…) To be sure, the law (norm) is violated thereby. But whether or not violations also
invalidate or refute a law (norm) will depend upon a host of other factors, not the least of which is how the
community assesses the violation and responds to it.” Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986:
162
International Organization: a state of the art on an art of the state, in: International Organization 40: 4, S.
753-775, hier S. 767. Im Gegenteil kann ein Normbruch sogar zu deren Stärkung führen, wie es etwa bei
den Chemiewaffen der Fall war: Nachdem Saddam Hussein in den 1980er Jahren im Krieg gegen den Iran
Chemiewaffen eingesetzt hatte, ist im Januar 1989 von den USA die Pariser Chemiewaffen-Konferenz
initiiert worden, mit dem Ziel, das geschwächte Tabu wieder zu stärken. Die hier vorgebrachte Forderung
der arabischen Staaten, Chemiewaffen im Rahmen eines umfassenden Verbots von
Massenvernichtungswaffen zu verbieten, sollte zwar in erster Linie Druck auf die nuklearen Haves ausüben,
hat jedoch letztendlich zu einer Stärkung des Chemiewaffen-Stigmas beigetragen. S. Price, Richard 1995: A
Genealogy of the Chemical Weapons Taboo, in: International Organization 49:1, S. 73-103, hier S. 99ff.
Diese beiden Aktionen fallen notwendigerweise in eins, s. S.50 der Arbeit.
– 41 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
tatsächlichen Ausgang unserer Fälle im Rahmen dieser Arbeit keine Aussagen treffen. Neben
einer vollständigen Normerosion wäre ebenfalls denkbar, dass die von uns untersuchten
Tabus aus den Diskussionen gestärkt – da mit einer neuen oder neu bestätigten Begründung
versehen – hervorgehen. Dies würde eine Art „Wellenbewegung“ der Normschwächung und
des Wiedererstarkens nahe legen, wobei wir den Zeitpunkt des beginnenden Abfallens kurz
nach dem Scheitelpunkt der Welle (der Internalisierung nämlich) betrachten würden. Dennoch
sei auch hier darauf hingewiesen, dass wir ein wieder in die Diskussion geratenes Tabu als
bereits geschwächt konzeptionalisieren – denn wenn es nicht nur tatsächlich bestritten,
sondern v.a. als bestreitbar angesehen, d.h. „das Selbstverständliche nicht mehr als
selbstverständlich wahrgenommen wird, (…) stellt sich das Wissen darüber, wie man (…)
einmal dazu gekommen ist, nicht einfach wieder ein.”163
Dass wir uns nicht sicher sind, ob die von uns untersuchten Tabus wirklich aufgehoben
werden, deutet bereits darauf hin, dass ein Modell der Normerosion analog zu solchen der
Normdurchsetzung (wie dem Norm Life Cycle) nicht das Ziel unserer Arbeit sein kann. Statt
nach generalisierenden und überzeitlich gültigen Aussagen zu suchen, steht für uns die
(hauptsächlich) rückwärts gewandte Analyse zweier prominenter Fälle im Zentrum. An der
Frage, wie es zu diesen Fällen kommen konnte, lässt sich bereits ablesen, dass es uns hier
nicht (wie in den oben genannten Fällen) um das Aufzeigen generalisierbarer UrsacheWirkungs-Zusammenhänge geht, sondern um das Offenlegen konstitutiver Bedingungen, die
im Zusammenspiel dazu geführt haben, den Handlungsspielraum von Akteuren zunächst
derart auszuweiten, dass eine Normschwächung und ein Prozess der erneuten Einschränkung
von Handlungsoptionen möglich wurde, in dessen Verlauf sich dann eine neue
Handlungsweise – nämlich die der Tabuschwächung – als angemessen herauskristallisierte.
Mit anderen Worten gehen wir also davon aus, dass es sich bei einer Normentstehung um eine
Einschränkung des Handlungsspielraumes des Akteurs handelt – dieser wird bei einer
Normerosion zunächst auf Kosten der Norm ausgeweitet, indem bis dato als unangemessen
erachtete Handlungsweisen wieder legitimiert werden. Jedoch findet auch in diesem Prozess
erneut Verengung des Handlungsspielraumes statt – nämlich, indem die vorherige
uneingeschränkt normbefürwortende Position nicht mehr einnehmbar wird. Der letzte Teil
der Frage weist noch einmal darauf hin, dass wir hier einen Prozess in den Blick nehmen, in
dessen Rahmen sich eine Tabuschwächung im permanenten Wechselspiel von Akteur und
Struktur, aber auch in einem ständigen Zusammenwirken verschiedener Akteursgruppen
vollzogen hat, bzw. noch vollzieht. Von besonderem Interesse ist für uns, welche Argumente
die in den Diskussionsprozess involvierten Akteure gegen die (uneingeschränkte)
Aufrechterhaltung der untersuchten Tabus vorgebracht und welche dieser Aussagen von
weiteren Akteuren aufgegriffen wurden und sie dazu bewogen haben, sich dieser Position
163
Reemtsma, Jan Philipp 2004: Fratze im Spiegel. Zur Diskussion der Folter, in: Internationale Politik 59: 6, S.
95-100, hier S. 97.
– 42 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
anzuschließen – es also ebenfalls als legitim zu betrachten, eine internalisierte Norm wieder in
Frage zu stellen, womit der Prozess der Normerosion eine Ausweitung erfuhr.
Damit lässt sich unsere Fragestellung auf drei Ebenen verorten: Auf einer
metatheoretischen Ebene gehen wir der Frage nach, wie es einem Akteur möglich sein kann,
seinen durch Strukturen begrenzten Handlungsspielraum eigenmächtig wieder auszuweiten,
bzw. wie es ihm möglich ist, eine solche Handlungsoption überhaupt wahrzunehmen. Auf der
theoretischen Ebene steht die Auseinandersetzung mit der Frage im Zentrum, wie
internalisierte Normen und Tabus durch das Wiederaufkeimen einer Diskussion geschwächt
werden können und wie der einsetzende Prozess dieser diskursiven Normschwächung
verläuft. Und auf einer policy-Ebene erfahren wir etwas über die Infragestellung des nuklearen
Tabus und des Folterverbotes in den und durch die Vereinigten Staaten von Amerika.164
Wie anhand des einleitenden Kapitels über Normtheorie gezeigt wurde, steht die mittlere
dieser Ebenen für uns klar im Zentrum der Untersuchung. Hier wenden wir uns den zuvor bei
der Normtheorie postulierten Problemen zu: Wir fokussieren auf das Unterschätzen von
agency auf einem theoretischen Level165 und dabei insbesondere auf die Vernachlässigung
innenpolitischer Gruppierungen, denen eine entscheidende Rolle bei der Stärkung und
Schwächung von Normen zukommt sowie auf den theorieinhärenten Fortschrittsglauben. Die
bestehende
Normtheorie
wird
deshalb
auch
wesentlicher
Ansatzpunkt
unserer
Interpretationen und Schlussfolgerungen sein. Dennoch fließen auch Aspekte der anderen
beiden Ebenen in unsere Untersuchung ein: Einige Kernthemen eher metatheoretischer
Diskussionen, insbesondere die hier um das Akteur-Struktur-Problem geführten Debatten
und die Frage, inwieweit sich diesem im Rahmen variablenzentrierter Forschungsdesigns
begegnen lässt, werden im folgenden Methodenteil angerissen.166 Die (auch) policy-relevante
Komponente unserer Arbeit muss breiteren Raum einnehmen, umfasst sie doch nicht nur die
Darstellung und erste Interpretation unserer Primärquellen, sondern auch die Einführung in
die von uns untersuchten Tabus und ihrer Entstehungsgeschichte sowie die Skizzierung der
innenpolitischen Konstellation in den USA als Umfeld der analysierten Normerosion. Zudem
dient sie dazu, die von uns untersuchte Lücke der Normtheorie anhand der Empirie
aufzuzeigen und (soweit möglich) zu schließen.
Zusammenfassend verfolgen wir mit unserer Arbeit also drei Ziele: Erstens das Aufzeigen
der theoretischen Schwächen der Normtheorie, wie es in Kapitel 2.6 bereits begonnen wurde
und im folgenden Methodenkapitel aus einer anderen Perspektive vertieft werden soll,
zweitens das empirische Aufzeigen und Herantasten an diese Lücken durch die Analyse zweier
164
165
166
Zur Begründung der Fallauswahl s. S. 54 der Arbeit.
D. h. der Unterschätzung dieses Faktors im Rahmen einer spezifischen Theorie und nicht der abstrakten
Frage, wie man das Akteur-Struktur-Problem bei der Theoriebildung generell lösen oder zumindest
geschickt umgehen könnte.
Dieser Kapitelaufbau mag auf den ersten Blick überraschen, erscheint jedoch sinnvoll, da wir solche
Diskussionen nur insoweit skizzieren, als sie uns zur Erläuterung unserer eigenen Herangehensweise
nützlich erscheinen, die Darstellung dieser Sachverhalte für uns also kein Selbstzweck ist.
– 43 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
Fallstudien und drittens die Interpretation unserer Ergebnisse vor dem Hintergrund und mit
dem Ziel der Erweiterung der bestehenden Normtheorie.
3.2 Herangehensweise: back to the (constructivist) roots
„Let us be understood that we are not advocating a coup
whereby the reign of positivist explanations is replaced by
explanatory anarchy. But we would insist that, just as
epistemology has to match ontology, so too does the
explanatory model have to be compatible with the basic
structure of the particular scientific enterprise at hand.” 167
In unserer Analyse wollen wir versuchen, die oben dargelegten Schwächen der
(sozial)konstruktivistischen Normenforschung auch methodisch zu umgehen. Fünf
Hauptaspekte der Überlegungen, die uns schließlich zu unserer Herangehensweise geführt
haben, sollen im Folgenden umrissen werden: Erstens setzen wir dem Ziel des Gewinnens
von Modellen aus large-n Studien einen offenen, explorativen Zugriff auf Tiefenfallstudien
(zweitens) entgegen – womit wir uns, drittens, für die Untersuchung konstitutiver statt
kausaler Zusammenhänge entscheiden. Dies erlaubt uns, viertens, Akteure stärker in den Blick
zu nehmen, indem wir, fünftens, primär ihre Argumentationsweisen untersuchen. Gerade vor
dem Hintergrund immer heftigerer Grabenkämpfe um sozialwissenschaftliche Methoden sei
an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Kapitel keine tiefschürfende Analyse
möglicher Untersuchungsmethoden sozial konstruierter Phänomene oder dahinterstehender
epistemologischer Konzepte liefern kann oder soll. Ebenso wenig geht es uns darum, eine
„Mustermethode“ für die Untersuchung von Norm(erosion)en vorzuschlagen oder gar als
einzig richtige hinzustellen. Unsere Herangehensweise ist vielmehr ein kreativer Versuch, eine
neue Fragestellung mit der Methode zu bearbeiten, die uns zur Lösung unseres puzzles am
vielversprechendsten erschien – ohne, dass wir behaupten wollten, hiermit die beste aller
Möglichkeiten gefunden zu haben.
Nach einem einführenden Überblick, in dem wir die Auswahl einer bestimmten Methode
erläutern (3.2.1), gehen wir in einem zweiten Schritt auf die Gegenstände unserer Analyse ein
und beschreiben, wie wir uns ihnen konkret genähert haben (3.2.2).
3.2.1 No more models: Der Fall als Gesamtkunstwerk
Zwei Logiken, zwei Fragestellungen
Die oben bereits angebrachte Kritik an den Modellen der Normentwicklung lässt sich auf
andere Bereiche konstruktivistischer mainstream -Forschung ausweiten: Auch bei der
Erforschung anderer eindeutig sozial konstruierter Phänomene geht es meist in erster Linie
darum, Modelle bestimmter sozialer Prozesse zu finden, die – im Sinne einer eher
positivistischen Wissenschaftslogik – sowohl generalisierbar, als auch falsifizierbar sind. Mit
167
Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: International Organization: A State of the Art on an Art
of the State, in: International Organization 40:4, S. 753-775, hier S. 768.
– 44 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
ihrem vielzitierten Artikel “International Organization: A State of the Art on an Art of the
State” haben Kratochwil und Ruggie schon zu Beginn der konstruktivistischen Wende auf die
problematischen Hintergrundannahmen dieser Vorgehensweise hingewiesen:168 So scheint es
absurd, auf immer weitere Bestätigung oder Widerlegung ausgerichtete Modelle sozialer
Praxen entwickeln zu wollen, welche durch die permanente wechselseitige Bedingtheit von
Akteur und Struktur per Definition einem ständigen Wandel unterworfen sind.169 Wenn
Anarchie das ist, was Staaten daraus machen, erscheint es nur bedingt sinnvoll, einer
Theorierichtung, die gerade auf diese Interaktionsprozesse fokussiert, ein überzeitlich gültiges
Anarchiemodell abzuverlangen. Speziell im Hinblick auf Normen weisen Kratochwil und
Ruggie zudem darauf hin, dass weder die Verletzung einer Norm, noch deren Status als nichtverschriftlichte Regel ihre Existenz widerlegen können und das Kriterium der
Falsifizierbarkeit deshalb in diesem Fall unangemessen sei.
Natürlich könnte man diesem Umstand Rechnung tragend noch immer versuchen,
generalisierende Modelle für diejenigen Zeitspannen zu finden, in denen Akteure und
Strukturen relativ stabil reproduziert werden. Dies wird im Falle konstruktivistischer
Modellbildung, wie oben gesehen, jedoch meist mit dem Setzen des einen oder anderen
Faktors als abhängige bzw. unabhängige Variable verbunden. Auch hiergegen ist innerhalb des
konstruktivistischen Lagers Kritik laut geworden, die insbesondere darauf abzielt, soziale
Phänomene nicht als Ursachen bestimmter (Akteurs-)Handlungen zu sehen. So argumentieren
Kratochwil und Ruggie wiederum am Beispiel von Normen:
„…unlike the initial conditions in positivist explanations, norms can be thought of only
with great difficulty as ‚causing’ occurrences. Norms may ‚guide’ behaviour, they may
‚inspire’ behaviour, the may ‚rationalize’ or ‚justify’ behaviour, the may express ‚mutual
expectation’ about behaviour, or they may be ignored. But they do not effect cause in the
sense that a bullet through the heart causes death or an uncontrolled surge in the money
supply causes price inflation.”170
168
169
Vgl. Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: International Organization: A State of the Art on an
Art of the State, in: International Organization 40:4, S. 753-775, hier insbes. S. 766ff.
So weist z.B. Onuf auf den ständigen Wandel speziell von Normen und Regeln hin: „Every time agents
choose to follow a rule, they change it – they strengthen it by making it more likely that they and others wil l
follow the rule in the future. Every time agents choose not to follow a rule, they change the rule by weakening
it, and in doing so they may well contribute to the construction of some new rule.” Gerade der
Konstruktivismus sei jedoch prädestiniert, diesen Wandel zu konzeptualisieren: “Constructivism is not a
theory of change because it explains change indiscriminately. By definition, everything social changes –
everything social. Constructivism does offer a general description of the sites of change. Every rule is an
occasion for choice, every choice an incidence of change.” Onuf, Nicholas G. 1994: The Construction of
170
International Society, in: European Journal of International Law 5:1, S. 1-19, hier S. 18f.
Kratochwil, Friedrich/Ruggie, John Gerald 1986: International Organization: A State of the Art on an Art
of the State, in: International Organization 40:4, S. 753-775, hier S. 767. Natürlich machen Kratochwil und
Ruggie sich ihre Kritik mit dem Gegenbeispiel eines tödlichen Schusses leicht. Genau zu bestimmen, bei
welchen Zusammenhängen man noch am ehesten von Kausalität sprechen kann (schließlich könnte man
auch argumentieren, Kategorien wie „individueller Körper“ oder „Tod“ seien sozial konstruiert) und bei
welchen dies nicht mehr sinnvoll zu sein scheint, dürfte nur äußerst schwer sein. Glücklicherweise hat uns
hier nur die Aussage zu interessieren, dass das Denken in Variablen im Falle der von uns untersuchten
Phänomene wenig sinnvoll ist. Vgl. hierzu auch Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International
Relations. The Politics of Reality, Cambridge, S. 98f.
– 45 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
Warum auf ihre Position als abhängig oder unabhängig festgelegte Variablen in einer
Untersuchung sozialer Phänomene schwer zu verorten und damit Kausalbeziehungen kaum
zu finden sind, erläuterte ausgerechnet der heute viel gescholtene Wendt in den späten 1990er
Jahren.171 Einer typischen Kausalbeziehung zwischen einer unabhängigen Variable X und
einer abhängigen Variable Y liegen demnach immer drei einfache Annahmen zu Grunde: X
und Y existieren unabhängig voneinander, X geht Y zeitlich voraus und Y wäre ohne X nicht
aufgetreten. Untersucht man jedoch eine wechselseitige Bedingtheit, dann verlieren auf jeden
Fall die ersten beiden dieser Aussagen ihre Bedeutung, in den meisten Fällen wird auch die
dritte sinnlos, wie Wendt am Beispiel des Kalten Krieges (statt an der sonst häufig
angeführten Herr/Knecht-Beziehung) zeigt:
„The relationship between the factors constituting the social kind ‚Cold War’ and a Cold
War is one of identity, in the sense that those factors define what a Cold War is, not one
of causal determination. (…) The factors constituting a Cold War do not exist apart from
a Cold War, nor do they precede it in time; when they come into being with them, by
definition and at the same time.”172
Ersetzt man den Begriff „Kalter Krieg“ durch das Wort „Normerosion“ wird deutlich, dass es
sich hier um eine vergleichbare logische Konstellation handelt (s. S. 50 der Arbeit). Ähnlich
verhält es sich generell mit Normen, die ja ebenfalls konstitutiv wirken können, aber auch in
ihrer regulativen Wirkung nicht (kausal) unabhängig von sie reproduzierenden oder
verändernden Akteuren gesehen werden können. Darüber hinaus scheinen regulative Normen
sich auch deshalb einem kausalanalytischen Zugriff zu entziehen,173 weil sie ganz im Sinne
konstitutiver Logik Handlungsspielräume beschränken oder erweitern, Akteurshandeln jedoch
nicht determinieren.174 Eine Theorie, in deren Rahmen solche Phänomene zu fassen wären,
kann aber kaum auf der positivistischen Variablenlogik (und –sprache) aufbauen: „Ideally such
a theory would define exhaustively the possible ways of acting of state agents, rather than
171
172
173
174
Wendt, Alexander E. 1998: On constitution and causation in International Relations, in: Review of
International Studies 24:5, S. 101-117, hier S. 105f.
Wendt, Alexander E. 1998: On constitution and causation in International Relations, in: Review of
International Studies 24:5, S. 101-117, hier S. 105.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Konstitutionslogik und konstitutive Logik sollten nicht
synonym verwendet werden. Während erstere eine wechselseitige Bedingtheit, also eine bestimmte
Beziehung zwischen zwei Phänomenen, benennt, bezeichnet letztere die Art und Weise, in der sich
komplexe Zusammenhänge beschreiben lassen, welche im Zusammenspiel (aber nicht unbedingt
wechselseitig) einen Handlungsraum aufspannen. Allerdings lassen sich Beziehungen, die der
Konstitutionslogik
unterliegen,
nicht
kausal,
sondern
nur
im
Sinne
konstitutiver
Zusammenhänge beschreiben.
So z.B. Klotz: „International norms, for a constructivist, do not, strictly speaking, determine behaviour since
they constitute identities and interests and define a range of legitimate policy options” oder auch Finnemore:
„the connection assumed here between norms and action is one in which norms create permissive conditions
for action but do not determine action”. S. Klotz, Audie 1995: Norms reconstituting interests: global racial
equality and U.S. sanctions against South Africa, in: International Organization 49:3, S. 451-478, hier S. 461
bzw. Finnemore, Martha 1996: Constructing Norms of Humanitarian Intervention, in: Katzenstein, Peter
(Hg.): The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York, S. 153-185,
hier S. 158.
– 46 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
generate determinate predictions about particular state behaviours.”175 Wie Herborth
herausstellt, soll „[d]er so gewendete Strukturbegriff (…) also nicht länger erklären, warum
etwas passiert, er soll einen Möglichkeitsraum aufspannen, der jedem staatlichen Handeln
konstitutionslogisch vorausgeht.”176 Allerdings ist damit auch bei Wendt das beklagte
Verschwinden von agency angelegt, denn die Frage, wie Akteure ihren Handlungsspielraum
gegenüber existierenden Strukturen eigenmächtig ausweiten können oder, präziser, wie es
ihnen möglich ist, größere Handlungsspielräume, als eine in der Vergangenheit konstruierte
und reproduzierte Struktur sie ihnen vorzugeben scheint, wahrzunehmen, lässt sich auch im
Rahmen dieses Ansatzes nicht beantworten.177
Allerdings wird in den meisten Beiträgen zu den paradigm wars darauf hingewiesen, dass
Forschungsfragen dies nicht notwendigerweise immer reflektieren müssen und statt dessen –
immer (mindestens) zwei Fragestellungen möglich sind – eine von außen erklärende und eine
von innen verstehende. 178 Die erste Art der Fragestellung ist meist auf die Form „Welche
Ursachen hat Y?“ reduzierbar und kann z.B. durch generalisierende Modelle zu beantworten
versucht werden. Dass in einem Modell, anders als bei einem Gesetz, meist mehrere UrsacheWirkungs-Phasen in Kausalketten hintereinander geschaltet werden, ändert nichts an der
Tatsache, dass den einzelnen Beziehungen ein überzeitlicher Gültigkeitsanspruch innewohnt,
der durch immer weitere Reduktion fallspezifischer Besonderheiten gewonnen wird, bis nur
noch einige grundlegende Gesetzmäßigkeiten übrig bleiben, welche wiederum an möglichst
175
176
177
178
Wendt, Alexander E. 1987: The Agent-Structure Problem in International Relations Theory, in:
International Organization 41:3, S. 335-370, hier S. 365. Für eine ähnlich frühe Auseinandersetzung mit dem
Akteur-Struktur-Problem s. Dessler, David 1989: What’s at stake in the agent-structure-debate, in:
International Organization 43:3, S. 441-473.
Vgl. Herborth, Benjamin 2004: Die via media als konstitutionstheoretische Einbahnstraße. Zur Entwicklung
des Akteur-Struktur-Problems bei Alexander Wendt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11:1, S.
61-88, hier S. 65.
In der Beschreibung solcher Zusammenhänge greift auch der middle ground eines mit vielen, teilweise
verknüpften Variablen operierenden Begriffs komplexer Kausalität zu kurz, denn zum Einen scheint es
schwierig, eine als unabhängig definierte Variable an anderer Stelle wieder als durch andere Faktoren
beeinflusst zu konzeptionalisieren (vgl. Herborth, Benjamin 2004: Die via media als
konstitutionstheoretische Einbahnstraße. Zur Entwicklung des Akteur-Struktur-Problems bei Alexander
Wendt, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 11:1, S. 61-88, hier S. 64) und zum Anderen stellt sich
auch bei solchen nach Kausalitäten suchenden Analysen noch immer das sog. „Naturalismusproblem“ (vgl.
Mayer, Peter 2003: Die Epistemologie der Internationalen Beziehungen. Anmerkungen zum Stand der
„Dritten Debatte“, in: Hellmann, Gunther/Wolf, Klaus-Dieter/Zürn, Michael (Hg.): Die Neuen
Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland, Baden-Baden, S. 47-98,
hier S. 54).
Obwohl mittlerweile mehrere nicht immer ganz deckungsgleiche Begriffspaare (wie Positivismus,
Szientismus oder Rationalismus auf der einen und interpretative oder soziologische Ansätze, Postmoderne
und Hermeneutik auf der anderen Seite) Verwendung finden, werden die beiden Grundrichtungen der IBMethoden noch immer meist unter die Erklären-Verstehen-Problematik gefasst, die Hollis und Smith wie
folgt umreißen: „In international affairs and throughout the social world, there are two sorts of stories to tell
and a range of theories to go with each. One is an outsider’s, told in the manner of a natural scientist seeking
to explain the workings of nature (…). The other is an insider’s, told so as to make us understand what the
events mean, in a sense distinct from any meaning found in unearthing the laws of nature. (…) ‘Explaining’
is the key term in one approach, ‘understanding’ in the other.” Hollis, Martin/Smith, Steve 1990: Explaining
and Understanding International Relations, Oxford, S. 1. Zur ebenfalls sehr populären Unterscheidung von
„Warum-“ und „Wie ist es möglich“-Fragen s. Wendt, Alexander E. 1987: The Agent-Structure Problem in
International Relations Theory, in: International Organization 41:3, S. 335-370, hier S. 363.
– 47 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
vielen Fällen (large-n) überprüft werden sollten. Das genaue Gegenteil solcher auf UrsacheWirkungs-Zusammenhänge ausgerichteter Fragen sind solche nach den Bedingungen der
Möglichkeit bestimmter Phänomene, wie auch wir sie uns in unserer Analyse stellen. Hier wird
eine meist viel breitere Perspektive auf bestimmte Fälle eingenommen, die zum Ersten gerade
nicht auf Generalisierbarkeit ausgerichtet ist, weil die gewählten Fälle nicht ohne weiteres auf
wenige, voneinander isolierbare Faktoren reduzierbar erscheinen. Zum Zweiten erscheinen die
gewählten Fälle an sich bereits als so einzigartig und überraschend, dass das Aufzeigen der
sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren, die das Eintreten eines speziellen Falles als eine
Alternative unter vielen ermöglicht haben, zum Selbstzweck wird. Die vormaligen
fallspezifischen Besonderheiten, die uns auch Aufschluss über (frühere) mögliche
Handlungsalternativen geben können, rücken hier also ins Zentrum der Untersuchung.
Der tiefere Sinn von Fallstudien und das Problem der Vorannahmen
Eine empirische Untersuchung der Prozesse wechselseitiger Konstituierung wie wir sie
anstreben, ist am ehesten im Rahmen von Tiefenfallstudien möglich. Diese sind im Sinne
einer so genannten thick description um die Berücksichtigung möglichst vieler Faktoren, die zu
einer bestimmten Handlung geführt haben und dabei alternative Handlungen aus dem
Blickfeld haben rücken lassen, bemüht. Da die Gewinnung von Modellen und damit die
Generalisierbarkeit der Fallstudien kein wichtiges Kriterium darstellt, verläuft auch die
Fallauswahl anders, als bei den meisten Fallstudien üblich: Hier ist es nicht wichtig, auf die
Wahl möglichst kontrastierender oder möglichst ähnlicher Fälle zu achten, aus denen sich
dann weitergehende Schlüsse ziehen lassen würden. Ebenso wenig müssen die Fallstudien den
Kriterien von hard cases beim Testen einer Theorie (oder abgeleiteter Hypothesen) genügen.
Dass ihr Ausgang ganz offensichtlich in eine bestimmte Richtung weist, kann vielmehr zum
Kriterium der Fallauswahl gemacht werden. So ist in unserer Untersuchung bereits von
Beginn an klar, dass es sich bei den analysierten Fällen um besonders offensichtliche Prozesse
der Normerosion handelt – denn die Frage, die wir stellen, ist eine nach den Bedingungen der
Möglichkeit einer Normerosion und eben nicht ob oder warum es zu einer Normerosion kam,
was in die Richtung einer positivistisch-orientierten Untersuchung weisen würde.
In politikwissenschaftlichen Methodenbüchern wird durchaus darauf hingewiesen, dass
Fallstudien neben dem Testen von Hypothesen auch der Theorieentwicklung dienen können,
dies ist jedoch meist im Sinne der oben beschriebenen Modellbildung gemeint.179 Solchen
Untersuchungen liegen bereits bestimmte Hypothesen zu Grunde, die im Feld abgetestet
werden, evtl. verworfen oder angepasst und schließlich zu einem Modell zusammengefügt
werden sollen.180 Da wir Fallstudien nicht als Mittel zu einem anderen Zweck (im Sinne der
179
180
S. z. B. Van Evera, Stephen 1997: Guide to Methods for Students of Political Science, Ithaca, S. 64f.
S. Von Alemann, Ulrich/Tönnesmann, Wolfgang 1995: Grundriß Methoden in der Politikwissenschaft, in:
Von Alemann, Ulrich (Hg.) 1995: Politikwissenschaftliche Methoden. Grundriß für Studium und
Forschung, Opladen, S. 17-138, hier S. 60.
– 48 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
Hypothesenprüfung oder Modellbildung) sehen, sondern primär an den Besonderheiten der
Fälle selbst interessiert sind, haben wir uns für einen explorativen Zugriff entschieden. Als
Ausgangspunkt der Untersuchung dient uns dabei eine theoretische Lücke, welche in der
Empirie ihre Entsprechung findet und von der aus wir einen explorativen „Sprung ins kalte
Wasser“ wagen, ohne uns den Blick auf die Eigenheiten unserer Fälle durch vorgefertigte
Annahmen verstellen zu wollen. So erscheint es uns vielversprechender, uns erst einmal
möglichst unvoreingenommen anzusehen, welche Prozesse und Entwicklungen sich im Feld
finden lassen, als mit einem bestimmten Modell der Normerosion ins Feld zu gehen – z.B. um
zu sehen, ob dieser Prozess im Sinne eines Norm Life Cycle rückwärts als stufenhaft
beschrieben werden kann. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass unsere Fälle in die
Richtung eines solchen
Rückwärtsprozesses weisen
(obwohl wir
dies
für
sehr
unwahrscheinlich halten), doch wäre dies dann das Ergebnis einer Untersuchung, die zunächst
das Feld „sprechen“ lässt.
Wie an der Anmerkung über das, was wir für unwahrscheinlich halten, bereits deutlich
geworden sein dürfte, können natürlich auch wir nicht ohne Vorannahmen ins Feld gehen.
Zwar wollen wir keine Hypothesen mit unserer Untersuchung testen, gehen jedoch von
theoriegeleiteten
Vorannahmen
(insbesondere
natürlich
vom
Vorhandensein
von
Normerosionsprozessen und einer grossen Bedeutung von Akteurshandeln) aus, in deren
Rahmen wir die Analyse durchführen und die uns bereits einen bestimmten theoretischen
Blickwinkel vorgeben sowie einen theoretischen Hintergrund für die spätere Interpretation
darstellen. Darüber hinaus unterliegen natürlich auch wir als Angehörige einer sich als
nunmehr „zivilisiert“ empfindenden Nation den Auswirkungen der beiden Tabus, was sich
insbesondere in den einleitenden Kapiteln über die Entstehung und Wirkung derselben
niedergeschlagen hat.
Deshalb versuchen wir, unsere Vorgehensweise bei der Auswahl, Auswertung und
Interpretation der Daten soweit wie möglich offen zu legen. Um methodisch kontrolliert zu
nachvollziehbaren Ergebnissen zu kommen, haben wir ein an unserem Forschungsinteresse
ausgerichtetes Vorgehen entwickelt, welches wir im Wechselspiel mit der Analyse relevanter
Untersuchungsdokumente zugespitzt haben. Zuvor haben auch wir, wie üblich, gewisse
Einschränkungen des Untersuchungsfeldes vornehmen müssen – nämlich einmal, indem wir
den Prozess der Normerosion primär über das Handeln wichtiger Akteure nachzuzeichnen
suchen und zum Zweiten, indem wir auf bestimmte Aussagen dieser Akteure fokussieren.
Akteurszentriertheit und ein kleines Akteur-Struktur-Problem
Tiefenfallstudien bieten den Raum, das Handeln einzelner Akteure oder Akteursgruppen
näher in den Blick zu nehmen. Dies ist für uns besonders wichtig, da im Zentrum unserer
Aufmerksamkeit der Prozess steht, in dem Akteure wieder Handlungsmacht über eine
strukturähnlich wirkende Norm gewinnen. Dabei ist es, ähnlich wie oben am von Wendt
angeführten Beispiel des Kalten Krieges bereits gesehen, unmöglich, eine Normerosion selbst
– 49 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
vom Prozess der sie auslösenden Akteurshandlungen zu trennen – die Normerosion fällt mit
dem Prozess des Infragestellens einer Norm in eins, so dass nicht eines als dem anderen
vorgelagert konzeptualisiert werden könnte. Wenn der Prozess der Normerosion sich am
ernsthaften Infragestellen der untersuchten Tabus von immer mehr Akteuren zeigt, wird das
Akteurshandeln für uns zur zentralen Kategorie. Wie oben bereits skizziert, gehen wir davon
aus, dass eine Normerosion immer weiter um sich greift und mehr und mehr Akteursgruppen
an der Richtigkeit eines Tabus zu zweifeln beginnen, während wieder andere danach streben,
die Norm – durch Versuche, die laufenden Diskussionen zu unterbinden oder mit Hilfe neuer
Begründungen – wieder zu stärken. Auf dieser Ebene lässt sich ein direktes Wechselspiel von
(handlungsbeschränkender)
Norm
und (um
Erweiterung
des
Handlungsspielraums
bemühtem) Akteur beobachten. Auf einer höher gelagerten Ebene betrachten wir – im Sinne
eines akteurszentrierten Ansatzes – Strukturen jedoch nicht mehr direkt, sondern nur noch
durch die Augen der involvierten Akteure: Begründet ein Akteur eine gegen die absolute
Gültigkeit einer Norm gerichtete Aussage z.B. mit der nach den Anschlägen vom 11.
September 2001 veränderten Weltlage, so ist dieses Begründungsmuster für uns natürlich von
großem Interesse. Wir nehmen jedoch keine Vogelperspektive auf Zusammenhänge zwischen
solchen „Überstrukturen“ und Akteurshandeln ein, etwa, indem wir als Außenstehende die
Ereignisse vom 11. September 2001 als ausschlaggebend für die nachfolgende Entwicklung
der Normerosion bezeichnen würden. Strukturen – außer den strukturähnlich wirkenden
Tabus selbst – nehmen wir also nur dann in den Blick, wenn ein Akteur dies selbst tut. Hier
könnte uns zwar vorgeworfen werden, wir tappten nur von der anderen Seite in die Falle des
Akteur-Struktur-Problems, wir sehen jedoch keine Möglichkeit, auch diese höhere
Strukturebene noch gleichberechtigt in unsere Analyse einzubeziehen.
Diskursanalyse „light”: Method follows function
Da wir nicht auf compliance fokussieren und uns die Frage der Normeinhaltung nicht primär
beschäftigt, stehen nicht die Taten der untersuchten Akteure im Vordergrund unserer
Untersuchung, sondern ihre Aussagen.181 Da Akteure nur mit (andere überzeugenden)
Argumenten ein Tabu infragestellen können, drängt sich eine auf Argumentationsstrukturen
ausgerichtete Analyse geradezu auf. Uns interessiert, wie und welche vorgebrachten
Argumente, die zu einer Normschwächung führen, bei anderen Akteuren verfangen, so dass
diese ebenfalls an einem Tabu zu zweifeln beginnen. Das Augenmerk liegt hier also zunächst
auf dem Prozess des argumentativen Austausches zwischen Akteuren. Dabei geht es uns
181
Diskursanalytisch übersetzt hieße das, dass wir uns im Dreieck von Dispositiven auf die Untersuchung
diskursiver Praxen (also der Diskussion um eine Legitimierung von Folter in bestimmten Situationen)
verlegen, während nicht-diskursive Praxen (Foltern selbst) oder Vergegenständlichen (Einrichtung von
Gefangenenlagern in rechtsfreien Räumen, in denen gefoltert werden darf) nur sekundäre Bedeutung haben.
Vgl. Jäger, Siegfried 2001: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen
Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy
(Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, S. 81112, hier S. 106f.
– 50 –
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allerdings weder darum, exakt nachzuzeichnen, wer wann was gesagt und wer welches
Argument von wem übernommen hat, noch um die Entwicklung eines Stufenmodells, wie
etwa der Verlagerung einer Debatte aus der politischen in die öffentliche Sphäre, um mehr
AnhängerInnen für das Kippen eines Tabus zu mobilisieren, sondern um das Herausstellen
besonders relevanter Begründungsmuster, die den beteiligten Akteuren die Möglichkeit und
Notwendigkeit der Ausweitung eigener Handlungsspielräume auf Kosten der jeweiligen Norm
vor Augen führen.
Obwohl auch wir uns primär auf die gedruckte Version von Aussagen konzentrieren, ist
es uns mit diesem Ziel nicht möglich, mit den in der Politikwissenschaft etablierten Methoden
der Dokumenten- oder Inhaltsanalyse zu arbeiten, da diese nur auf den Sinngehalt eines
abgeschlossenen Dokuments oder gar Dokumentenabschnitts ausgerichtet sind, während uns
die Interaktion interessiert, die mit und zwischen den von uns untersuchten Dokumenten
stattgefunden hat.182 Die übliche Methode, um solche sprachlichen Interaktionsmuster in den
Blick zu nehmen, ist die Diskursanalyse:
„Textanalyse wird zur Diskursanalyse dadurch, dass Texte als Elemente eines
überindividuellen sozio-historischen Diskurses begriffen werden: ‚Diese Elemente
bezeichne ich als Diskursfragmente. Sie sind Bestandteile bzw. Fragmente von
Diskurssträngen (=Abfolgen von Diskursfragmenten mit gleicher Thematik), die sich auf
verschiedenen Diskursebenen (= Orte, von denen aus gesprochen wird, also
Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag etc.) bewegen und in ihrer Gesamtheit den
Gesamtdiskurs einer Gesellschaft ausmachen, den man sich als ein großes wucherndes
Gewimmel vorstellen kann; zugleich bilden die Diskurse (bzw. dieses gesamte diskursive
Gewimmel) die jeweiligen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf des
gesamtgesellschaftlichen Diskurses.’“183
Trotz der Ansicht, Diskursanalyse sei eigentlich gar keine Methode, sondern vielmehr „eine
Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände ”,184
die viele verschiedene Vorgehensweisen in sich vereine, scheint Einigkeit darüber zu bestehen,
dass sich, wer Diskursanalyse betreibt, zwei grundlegende Annahmen zu eigen macht, von
denen wir einer uneingeschränkt zustimmen und die zweite zur Hälfte umsetzen – weshalb
wir uns dem Vorwurf, gar keine „richtige“ Diskursanalyse durchzuführen, gerne stellen.185 Wir
182
183
184
185
S. Mayring, Philipp 1995: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, Weinheim. Ähnlich
verhält es sich mit der Argumentationsanalyse, die auf die Untersuchung der inneren Logik, des Aufbaus
und der anschließenden Typisierung von Einzelargumenten, nicht aber eines argumentativen Austausches
ausgerichtet ist. S. statt vieler Govier, Trudy 2000: A Practical Study of Argument, Calgary.
Jäger, Siegfried 1999: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster, S. 177, zitiert nach: Keller,
Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 33.
Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 8.
Wir verwenden den Begriff „Diskursanalyse” dennoch, da wir genau das hiermit bezeichnete tun – nämlich
Diskurse analysieren – und uns gerade deshalb nicht einleuchtet, warum dieses Schlagwort nur von einer
bestimmten ForscherInnengruppe „gepachtet” sein sollte. Dies gilt umso mehr, als die populäre Formel
Habermas’, nach der ein Diskurs eine „durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation, in
der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Gültigkeit hin
untersucht werden ” darstellt und Habermas weiter ausführt, dass wir, um Diskurse zu führen „ in gewisser
Weise aus Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen heraustreten ” müssen, worunter auch fällt, dass
„Tatsachen wie Normen unter dem Gesichtspunkt möglicher Existenz bzw. Legitimität betrachte[t] (d.h.
hypothetisch behandel[t]) [werden] können ” – was trefflich auf unsere Unternehmung passt. Habermas,
– 51 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
sehen Diskursanalyse gerade als Methode, d.h. als Mittel zur Erreichung eines bestimmten
(Forschungs-)Zwecks und ordnen damit, wie eingangs bereits erwähnt, nicht unser
Forschungsinteresse einer Methode unter, sondern richten umgekehrt diese an unseren
Interessen aus.
Zunächst stimmen wir jedoch dem von Diskursanalytikern breit geteilten Verständnis des
Verhältnisses von Sprache und Realität zu – auch hier gilt für uns das Motto back to the
constructivist roots, etwa zu Onuf als einem Urvater des aktuellen IB-Konstruktivismus, der
darauf hinwies, dass „talking is undoubtedly the most important way that we go about
marking the world what it is”,186 weshalb „a constructivist view denies that world and words
are independent; it sees them as mutually constitutive.”187 Dies ist gerade für die
Untersuchung von Normen und Regeln zentral, denn „rules are speech acts which depend on
successful communication. They function only if they achieve the desired effect with the
addressee ”.188 Wie Zehfuß mit Verweis auf Onuf feststellt und im Blick auf eine konstitutive
Wirkung von Normen weiter ausführt:
„In basic terms, human beings construct reality through their deeds. Crucially, these
deeds may be speech acts. Speech acts in turn may, through repetition, be
institutionalized into rules and thereby provide the context and basis for meaning of
human action.“189
Dennoch sind auch heute noch Akteure im (Sozial-)Konstruktivismus meist „stumm“, was
Fierke in der Angst vor dem Vorwurf begründet sieht, Konstruktivisten beschäftigten sich
„nur“ mit Sprache, während Positivisten sich mit „wirklichen Tatsachen“ auseinandersetzen
könnten.190 Dabei sei diese Problembeschreibung bereits Teil des Problems selbst – denn nach
urkonstruktivistischer Überzeugung, nach der eine wahrgenommene Wirklichkeit ja erst durch
Sprache konstruiert werden kann, würde eine Unterscheidung zwischen Sprechen und
Handeln obsolet. Im Gegensatz zu einem positivistischen Weltbild, das Sprache nur als
Medium der Abbildung von Welt konzeptualisiert, müssen sich Konstruktivisten demnach das
Konzept des Sprechhandelns zu eigen machen, welches auf die illokutionäre Kraft der
Sprache achtet, etwas mit Sprache zu tun.191
186
187
188
189
190
191
Jürgen 1973: Wahrheitstheorien, in: Fahrenbach, Helmut (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz
zum 60. Geburtstag, Pfullingen, S. 211-265, hier S. 214.
Onuf, Nicolas G. 1998: Constructivism: A User’s Manual, in: Kubálková, Vendulka/Onuf, Nicholas
G./Kowert, Paul (Hg.): International Relations in a Constructed World, Armonk, S. 58-78, hier S. 59.
Onuf, Nicolas G. 1989: World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations,
Columbia, S. 94.
Vgl. Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International Relations. The Politics of Reality,
Cambridge, S. 17.
Vgl. Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in International Relations. The Politics of Reality,
Cambridge, S. 151.
Fierke, Karin 2003: Breaking the Silence. Language and Method in International Relations, in: Debrix,
François (Hg.): Language, Agency, and Politics in a Constructed World, London, S. 66-86, hier S. 69.
Diez, Thomas 1999: Speaking ‚Europe’: the politics of integration discourse, in: Journal of European Public
Policy 6:4, S. 598-613, hier S. 600. Diez weist allerdings darauf hin, dass die von Austin aufgeworfene Frage
„how to do things with words? ” heute eher in der Form “how are things done by words?” gestellt wird, in
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Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
Diesem Ansatz folgend, fragen sich DiskursanalytikerInnen meist, was im Rahmen eines
bestimmten Diskurses geschieht, d.h. welche von verschiedenen Beschreibungen (und damit
auch Konstruktionen) von Welt durch einen Diskurs gefördert oder unterdrückt werden –
z.B., indem sie auf bestimmte Machtkonstellationen fokussieren, die durch einen
herrschenden Diskurs etabliert, reproduziert oder unterlaufen werden.192 Ihr primäres
Interesse gilt daher der Suche nach tieferliegenden Sinnstrukturen, die den untersuchten
Dokumenten inhärent sind und über die sie eine mögliche „Neukonstruktion von Welt“ zu
entschlüsseln suchen. Von dieser Frage, was durch einen neuen Diskurs konstruiert oder
etabliert wird, weichen wir ganz klar ab, da wir dieses – die Normerosion – ja bereits klar vor
Augen haben. Wir sehen es zunächst als überraschend an, dass es überhaupt einen Diskurs
über „Tabuthemen“ gibt und fragen uns im Anschluss daran, wie sich Normerosion durch
bestimmte Diskurse vollzieht. Dementsprechend beginnen wir unsere Analyse auch nicht mit
der Wahl eines Diskurses, der dann Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung ist und aus
dessen Analyse sich nach und nach eine genaue Forschungsfrage herauskristallisiert, sondern
gehen mit einem bereits recht weit präzisierten Anliegen ins Feld, welches wir mithilfe der
Techniken der Diskursanalyse sehr gut weiter strukturieren können. Letztlich geht es aber
auch uns um die Frage
„…nach den Deutungsstrukturen, die in einem Diskurs aufgebaut und im zeitlichen
Verlauf stabilisiert werden oder modifiziert werden, [welche] auch zur Analyse der
eingesetzten sprachlich-rhetorischen Mittel [führt], wenn es darum geht, Strategien und
Mechanismen der Resonanzerzeugung in einem soziokulturellen Kontext zu
analysieren.“193
Genauer gesagt bauen auch wir auf dem diskursanalytischen Grundsatz auf, dass „[n]icht alles
was sich sagen ließe, (…) gesagt [wird]; und nicht überall (…) alles gesagt werden [kann]”,194
was sich aufs beste mit unserer Annahme von zunächst nicht hinterfragbaren Tabus
verknüpfen lässt. Darüber hinaus machen wir uns zunutze, dass „ Diskursanalyse (…) auch
Strategien [erfaßt], mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeschränkt
wird ”, wobei solche Strategien „auf Aussagen [verweisen], die zu einem bestimmten Zeitpunkt
192
193
194
der nicht mehr auf eine bestimmte Intention eines Sprechers, sondern vielmehr auf die Untrennbarkeit von
Sprache und Handeln hingewiesen wird.
Diesen Ansatz verfolgt v. a. die kritische Diskursanalyse im Anschluss an Foucault. Strenggenommen
untersuchen wir mit der Fokussierung auf zwei von uns schon im Vorfeld recht klar abgegrenzte
Themengebiete keine vollständigen „diskursiven Gewimmel“, sondern nur Diskursstränge im Sinne
„[t]hematisch einheitliche[r] Diskursverläufe ”, die sich wiederum aus Diskursfragmenten, also den
Passagen von Texten, die sich dem Thema eines Diskursstranges widmen, zusammensetzen. Der
Einfachheit halber wird im Folgenden aber weiterhin von „Diskursen“ und „Texten“ die Rede sein. Jäger,
Siegfried 2001: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und
Dispositivanalyse, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.):
Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, S. 81-112,
hier S. 97.
Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 68.
Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 45.
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in einer bestimmten Gesellschaft noch nicht oder nicht mehr sagbar sind, da es besonderer
‚Tricks’ bedarf, wenn man sie doch äußern will, ohne negativ sanktioniert zu werden.” 195
Auch zwei andere zentrale Punkte der frühen Foucault’schen Diskursanalyse passen sich
exakt in unser Forschungsdesign ein, nämlich erstens die Berücksichtigung des „Orts des
Aussagens, d.h. den historisch, sozial und kulturell bestimmten Ausgangspunkt (nicht:
Ursprung) einer Serie ähnlicher Aussagen”, welche in unserem Fall ein Tabu wieder in Frage
zu stellen erlauben, und daran anschließend, zweitens, die Frage nach der „Einschreibung, d.h.
Wiederholung ähnlicher Aussagen”, welche „durch deren Gleichförmigkeit ein neues
Ordnungsschema bzw. eine diskursive Regelmäßigkeit entsteh[en lässt], ,nach deren Muster
die Aussagen im Feld dieses Diskurses generiert werden’ ”.196 Im Rahmen dieser Frage ist
Diskursanalyse für eine Reihe von Analysepunkten sensibel, die an den vorliegenden
Dokumenten überprüft werden. Welche wir uns davon zu eigen machen, soll im nächsten
Abschnitt geklärt werden, in dem wir die praktische Anwendung unserer methodischen
Überlegungen erläutern.
3.2.2 Konkrete Umsetzung: Was wird wie untersucht?
Begründung der Fallauswahl
Die Durchführung einer Diskursanalyse „light” oder überhaupt einer thick description von
Fallstudien ist im Rahmen einer Magistraarbeit nur bei einer stark begrenzten Anzahl von
Fällen möglich. Da, wie oben dargelegt, unsere Untersuchung aber nicht auf
Generalisierbarkeit abzielt oder Hypothesen an einer großen Zahl von Fällen abprüfen muss,
stellt dies für uns kein Problem dar. Eine Beschränkung auf zwei Fallstudien lag nicht nur
angesichts der gemeinsamen Arbeit zweier Magistrakandidatinnen, sondern auch deshalb
nahe, weil es nur sehr wenige Fälle der Erosion internationaler Normen, bzw. tatsächlich
internalisierter
Tabus
zu
geben
scheint.
Da
gerade
die
Offensichtlichkeit
des
Erosionsprozesses für uns jedoch ein zentrales Kriterium war, um klar zeigen zu können, dass
internalisierte Normen erodieren und um möglichst leicht nachvollziehen zu können, wie dies
vonstatten geht, haben wir uns auf recht bekannte Beispiele verlegt, die sich – im Sinne der
Nachvollziehbarkeit – zudem in einem Sprachraum abspielten, der uns die Analyse relevanter
Dokumente erleichterte. Neben diesen Kriterien stellte sich an die von uns untersuchten
Normen nur noch die Anforderung, dass sie von der einschlägigen Sekundärliteratur explizit
als Tabus bezeichnet wurden. Vor diesem Hintergrund haben wir uns für die Analyse des
nuklearen Tabus und des Folterverbotes entschieden, die, wie in den Kapiteln zur Entstehung
195
196
Jäger, Siegfried 2001: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen
Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy
(Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen, S. 81112, hier S. 83f.
Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 48.
– 54 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
und Wirkung dieser Tabus gezeigt wird, eindeutig als internalisierte Normen klassifiziert
wurden und die heute wieder vermehrt in Frage gestellt werden.
Die Tatsache, dass die Infragestellung beider Tabus zunächst in den USA aufgetreten ist,
kann nur zum Teil als Zufall gewertet werden: Zum Einen liegt es nahe, dass USA als Mitglied
einer „zivilisierten“, „westlichen“ Staatengemeinschaft besonders viele internationale Normen
internalisiert haben. Zum Anderen meinen die Vereinigten Staaten es sich als einzig
verbliebene
Supermacht
leisten
zu
können,
etablierte
und
international
geteilte
Überzeugungen heute wieder infrage zu stellen, ohne sofortige Sanktionen anderer Staaten
oder Institutionen (bzw. deren Auswirkungen) fürchten zu müssen. Allerdings sollte an dieser
Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass wir nicht absichtlich aktuelle Fälle aus den
USA gewählt haben, um die Überzeugungen der dortigen Regierung normativ zu hinterfragen,
sondern uns schlicht keine plausiblen Beispiele aus anderen Ländern mit ähnlich leicht
zugänglicher Dokumentenlage bekannt sind.
Ebenso wenig ist es uns im Rahmen dieser Arbeit möglich, eine Normerosion auf
zwischenstaatlicher oder globaler Ebene (wie z.B. im Rahmen der Vereinten Nationen)
nachzuzeichnen, da Normerosionen zunächst innenpolitisch angestoßen zu werden scheinen
(hier ist uns wiederum kein Gegenbeispiel bekannt) und sich dann erst in einem Wechselspiel
mit anderen internationalen Akteuren oder auch weiterhin hautsächlich auf innenpolitischer
Ebene entwickeln.197 Zum Zeitpunkt unserer Fallauswahl war eine weitergehende
internationale Erosion der von uns untersuchten Tabus zwar bereits absehbar, eine intensive
Analyse dieser Ausweitungsmechanismen würde jedoch den Rahmen unserer Arbeit sprengen.
Aus diesem Grund spielt sich unsere Untersuchung ausschließlich auf der innenpolitischen
Ebene der USA ab, was, wie im Folgenden zu sehen sein wird, nicht an Komplexität zu
wünschen übrig lässt.
Eingrenzung zu untersuchender Akteure und Primärquellen
Die für uns zentrale Feststellung, dass ein kritisches Hinterfragen der Gültigkeit der von uns
untersuchten Normen früher außerhalb der Grenzen eines Diskurses lag und unter die
„Verbote des Sagbaren” fiel, kurz, dass wir es tatsächlich mit Tabus zu tun haben,
plausibilisieren wir zum einen anhand einschlägiger Sekundärliteratur, die die Zeiträume der
Entstehung der jeweiligen Tabus mit abdeckt. Die aus dieser Literatur gewonnenen
Einführungen in die beiden Fallstudien werden gleichzeitig auch als Interpretationsbasis für
197
Damit handeln wir auch in Übereinstimmung mit den Forderungen Kratochwils, der davon ausgeht, dass
„[reproduction of the practices of international actors (i.e., states) depends on the reproduction of practices of
domestic actors (i.e., individuals and groups). Therefore, fundamental changes in international politics occur
when beliefs and identities of domestic actors are altered thereby also altering the rules and norms that are
constitutive of their political practices ”, weshalb er sich klar gegen die häufig praktizierte Vernachlässigung
innenpolitischer Akteure richtet. Koslowski, Rey/Kratochwil, Friedrich V. 1994: Understanding Change in
International Politics. The Soviet Empire’s Demise and the International System, in: International
Organization 48:2, S. 215-247, hier S. 216. Vgl. hierzu auch Zehfuß, Maja 2002: Constructivism in
International Relations. The Politics of Reality, Cambridge, S. 94f.
– 55 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
die Auswertung unserer Primärdokumente dienen. Zum Anderen wählen wir einen recht
weiten Untersuchungszeitraum, der einige Jahre vor dem (von uns vermuteten) Einsetzen der
Normerosion beginnt, um zu zeigen, dass es in diesen Jahren tatsächlich keinerlei ernsthafte
Diskussionen gab, die eine Tabuschwächung bedeutet hätten. Für die Suche nach
Primärmaterialien haben wir uns hier für das Jahr 1995 entschieden, also das Jahr, in dem die
unbefristete Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages beschlossen worden war und die
Ratifizierung der UN-Antifolterkonvention durch die Vereinigten Staaten etwa ein Jahr zurück
lag, so dass die in diesem Dokument geforderten Schritte zur Umsetzung der (Rechts-)Norm
auf nationaler Ebene hätten initiiert sein müssen. Die Frage, wann die untersuchten
Normerosionen einsetzen, lassen wir bewusst offen – das Aufzeigen dieses Zeitpunktes und
woran wir ihn festmachen können, soll vielmehr ein Ergebnis unserer Studie sein. Anders
verhält es sich mit der Wahl des Endpunktes der Untersuchung: Wie bereits bei der
Erläuterung der Fragestellung angeführt, forschen wir an einem nicht abgeschlossenen
Prozess, dessen Ausgang (endgültige Enttabuisierung oder Wiedererstarken der Norm) noch
offen ist, so dass die Auswahl eines Endpunktes besonders schwierig (um nicht zu sagen
willkürlich) zu sein scheint. Im Falle des Folterverbots haben wir uns – auch aufgrund der
gewaltigen auszuwertenden Textmenge – auf den 16.12.2005 festgelegt, den Tag, an dem
Präsident Bush eine Vorlage des Kongresses zum Verbot von Folter unterzeichnete – jedoch
mit erheblichen Einschränkungen, nach denen das Folterverbot seine absolute Gültigkeit
nicht wiedererlangt hat. Da die wichtigsten DiskursteilnehmerInnen sich jedoch spätestens
nach dem Bekanntwerden einiger Regierungsmemoranden zur Legalisierung von Folter im
Herbst 2004 positioniert hatten und nach diesem Ereignis kaum noch neue Argumente fielen,
wurden Dokumente aus dem Jahr 2005 jedoch nur kursorisch ausgewertet. Im Falle des
nuklearen Tabus bot sich hierzu ebenfalls das Ende des Jahres 2005 an, hat doch hier die
Administration nach einer erneuten Ablehnung der für die Forschung an mini-nukes
geforderten Gelder durch den US-Kongress angekündigt, dennoch nicht von ihren Plänen
zum Bau solcher Bomben abrücken zu wollen.
Während des Untersuchungszeitraumes selbst sind wir hauptsächlich auf die Analyse von
Primärquellen angewiesen, da wir nur so den Prozess der Formierung von
Diskurskonstellationen und -koalitionen, die ein Tabu infrage stellen,198 direkt nachvollziehen
können und Sekundärliteratur, die uns diese Aufgabe zum Teil abnehmen würde, aufgrund der
kurzen Zeitspanne, die uns von den untersuchten Ereignissen trennt, in nur sehr begrenztem
198
Als Diskurskoalition verstehen wir im Anschluss an Hajer „ eine Gruppe von Akteuren, die aus einer Reihe
von Gründen dazukommen, ein bestimmtes Set von Story-Lines zu verwenden ”, wobei story-lines „ ein
knackiges Statement, das die Erzählung [also das diskursive Anliegen einer Gruppe, SoSchi] zusammenfasse,
das Leute als eine Art Kurzform in der Diskussion benutzen ”, darstellt. In unserem Fall wären solche storylines etwa die fehlgeschlagene Bombardierung der Höhlen von Tora Bora in der Diskussion um mini-nukes
oder das ticking bomb scenario im Fall der Folter, s. S. 267 und 190 der Arbeit. Hajer, Maarten 2004 [2003]:
Argumentative Diskursanalyse. Auf der Suche nach Koalitionen, Praktiken und Bedeutung, in: Keller,
Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche
Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis, Wiesbaden, S. 271-298, hier S. 277.
– 56 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
Umfang vorliegt – sie kann, als Teil des Diskurses, zugleich ebenfalls Gegenstand der
empirischen Untersuchung werden. Auch wenn für uns der Austausch bestimmter Argumente
zwischen verschiedenen Akteuren zentral ist, ist es uns natürlich nicht möglich, tatsächlich alle
für die Normerosion wichtigen Akteure als Individuen zu betrachten.199 Deshalb haben wir
sich zum Tabu äußernde Akteure in die Gruppen MedienvertreterInnen, MitarbeiterInnen
bedeutender Think Tanks, UnterstützerInnen einschlägiger Interessengruppen wie NGOs
sowie in Mitglieder der Legislative (US-Kongress), der Judikative (Supreme Court) und der
einflussreichen US-Administration eingeteilt, auf deren jeweilige politische Stellung im
nächsten Kapitel eingegangen wird. Eine herausgehobene Stellung kommt natürlich dem USPräsidenten zu, der als Einzelperson der – soweit möglich – ebenfalls untersuchten breiten
Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit gegenübersteht.
Auch mit dieser Einschränkung wäre der Korpus auszuwertender Dokumente für unsere
Untersuchung jedoch noch viel zu groß, so dass wir nicht von vornherein alle relevant
erscheinenden Aussagen der in den Prozess der Normerosion involvierten Akteure über den
gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in den Blick nehmen können. Dies ist für uns aber
auch nicht unbedingt nötig, da wir ja primär nach Argumenten suchen, die den
Erosionsprozess vorantreiben, d.h., mehrere Akteure erreichen und damit einen
weitergehenden Einstellungswandel der Norm gegenüber zur Folge haben. Die Annahme,
dass solche an andere gerichteten Argumente primär über Medien ausgetauscht werden, liegt
nahe. Deshalb machen wir die mediale Verbreitung normbezogener Argumente zum
Ausgangspunkt eines Schneeballsystems zur Dokumentensuche, durch das wir uns zu
weiteren wichtigen Dokumenten wie Regierungserklärungen, Protokollen über (ExpertInnen)Anhörungen im US-Kongress oder Strategiepapieren führen lassen, die im entsprechenden
Grundlagenartikel aufgegriffen werden.200 Im Sinne eines Wechselspiels von der Erstellung
eines Textkorpus und fortschreitender Analyse vorliegender Dokumente schließen wir jedoch
nicht aus, unsere Untersuchung auf weitere Dokumente, die in den Medien nicht angeführt
werden
(etwa
interne
Think
Tank-Papiere,
Regierungsargumentation
waren)
auszuweiten
die
oder
Grundlage
zunächst
in
einer
bestimmten
den
Textkorpus
aufgenommene Dokumente wieder auszuschließen, sollten sie sich als nicht relevant
herausstellen, wie es auch bei „normalen“ Diskursanalysen üblich ist.201
Eine ungewollte Einschränkung ist, dass wir uns bei der Auswahl zu analysierender
Dokumente auf die Printmedien beschränken müssen, da es keine (kostenfreien oder
wenigstens -günstigen) Archive für relevante Fernsehsendungen gibt. Dies ist umso
199
200
201
Etwa durch Interviews, wie sie bei explorativem Vorgehen häufig Verwendung finden.
Wird beispielsweise über eine Rede des Präsidenten in einem Leitartikel geschrieben, so sehen wir uns diese
Rede auch im Original an und suchen darin nach weiteren Hinweisen. Finden wir einen für uns wichtigen
Gastkommentar eines Professors, werden wir uns weitere seiner Publikationen ansehen, soweit sie relevant
erscheinen. Auch Querverweisen auf Artikel anderer Zeitungen oder Zeitschriften wird in diesem
Schneeballsystem natürlich nachgegangen.
Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 81.
– 57 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
ärgerlicher, als ein Großteil gerade der US-Bevölkerung das Fernsehen als primäres
Informationsmedium ansieht, während die Zahl der Zeitungsleser vergleichsweise gering ist.202
Diesen Umstand haben wir abzumildern versucht, indem wir die Zeitung mit der höchsten
Auflage der USA, die von einer sehr breiten Leserschaft profitiert, nämlich USA Today, zu
einer der drei Ausgangsquellen unserer Analyse machen. Die anderen beiden Zeitungen, die
Washington Post und die New York Times gelten als USA Today gegenüber eher linkslastig
und elitenzentriert, obwohl auch sie natürlich an ein möglichst breites Publikum gerichtet sind.
Da diese Zeitungen aber immer wieder Foren qualitativ hochwertigen Meinungsaustausches
für verschiedene gesellschaftliche Gruppen waren, erwarten wir uns hier besonders viele
Ausgangspunkte für unser Schneeballsystem.203
Da wir im Sinne eines explorativen Zugriffs keinerlei festgelegtes Analyseraster mit in die
Untersuchung genommen, sondern unseren speziellen Zugriff erst im Wechselspiel mit dem
Feld entwickelt haben, wählten wir als Einstieg in die Auswertung unserer Primärquellen je
zwei vielversprechende Artikel aus jeder der drei Zeitungen und jedem Untersuchungsjahr,
aus deren Analyse wir eine Strukturierung für die weiterhin festzulegenden Analyseschritte
gewinnen konnten.204 Dabei sei nicht verschwiegen, dass wir uns hierbei zum Teil an den von
Keller vorgeschlagenen Eckposten zur Feinanalyse von Daten im Rahmen einer
Diskursanalyse orientierten, die wiederum an die Foucault’sche „interpretative Analytik”
angelehnt sind und als drei Kernpunkte der Untersuchung eines Dokuments die „Analyse
seiner Situiertheit und materialen Gestalt, die Analyse der formalen und sprachlichrhetorischen Struktur und die interpretativ-analytische Rekonstruktion der Aussageinhalte ”
vorsieht.205 Aufgeschlüsselt und auf unsere Analyse bezogen bedeutet dies für uns die –
allerdings nicht für alle Dokumente relevanten – Fragen nach (a) Materialart und Umfang
eines Textes, (b) dessen AuftraggeberIn, AutorIn, primäre AdressatInnen und ggf. weiteres
Publikum, (c) den breiteren Kontext der Textproduktion (also etwa nach/vor dem Beginn des
letzten Irak-Krieges) und (d) den direkten Kontext in Bezug auf Ereignisse (z.B. Rahmen einer
State of the Union Address) oder auf VorrednerIn als groben Rahmen, in den ein Dokument
202
203
204
205
Vgl. S. 78 der Arbeit.
Zudem sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass der für uns kostenlose Zugang zu den Onlinearchiven
dieser Zeitungen bei unserer Quellenauswahl ebenfalls eine Rolle spielte.
Die Gesamtmenge der in die Auswertung einbezogenen Artikel wurde über eine Stichwortsuche bei den
drei Zeitungen erstellt. Im Falle des nuklearen Tabus umfasste diese Suche die Begriffe „nuclear taboo”,
„nuclear posture”, „bunker buster”, „mini-nukes”, „nukes” sowie in manchen Jahrgängen „jahrspezifische“
Stichwörter wie „B61-11“, „RNEP“ und „CTBT“, im Falle des Folterverbots nur die Begriffskombination
„torture AND united states”, der sich nicht sinnvoll eingrenzen ließ. Das Wall Street Journal (WSJ) war
ursprünglich nicht als Basisdokument vorgesehen, wurde aber in der Hoffnung auf Gegenstandpunkte
hinzugezogen, nachdem deutlich wurde, dass die drei genannten Zeitungen sich sehr ähnlich – für das
nukleare Tabu bzw. für das Folterverbot – positionierten und ProtagonistInnen mit einer eher
tabukritischen Meinung verhältnismäßig selten direkten Raum boten, sondern diese vielmehr lediglich im
Abdruck der sich von ihnen abgrenzenden Positionen vorkamen. Da sich zum Zeitpunkt der Einbeziehung
des WSJ die Zeiträume der breiten Debatten relativ deutlich abzeichneten, haben wir es für ausreichend
erachtet, seine Auswertung auf die Jahre 2001-2005 zu beschränken.
Keller, Reiner 2004: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen, S. 93.
Vgl. für das Folgende auch S. 96f.
– 58 –
Fr a ge s te l l un g un d H e r an ge he ns we i s e
eingeordnet werden kann. In Bezug auf den Inhalt des Textes selbst wird v. a. relevant, (e)
welche Kernargumente er beinhaltet, ob anhand dieser eine bestimmte Wirkungsabsicht (f)
erkennbar wird, (g) in welcher Form die Argumente präsentiert werden (emotional, appellativ,
sachlogisch usw.) sowie – und für uns besonders wichtig – (h) von welchen Argumenten sich
der Autor/die Autorin abgrenzt und (i) mit welchen Prämissen oder Hinweisen auf bestimmte
Sachverhalte ein Argument gestützt wird.
Die meisten der zuletzt aufgeworfenen Fragen könnten wir nicht ohne die Kenntnis
dessen beantworten, wie die oben angeführten Akteure im politischen System der USA
zueinander stehen und welche Rolle den Medien in den Vereinigten Staaten zukommt. Im
folgenden Kapitel soll deshalb ein kurzer Überblick über das politische System der USA
gegeben werden.
– 59 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
4. Hintergrund: Innenpolitische Konstellation in den USA
„Wer die amerikanische Verfassung untersucht, findet, daß es
sich in Wahrheit nicht um eine Verfassung handelt, sondern
um eine Charta der Anarchie. Sie ist keine
Regierungsordnung, sondern eine Garantie dafür, daß das
amerikanische Volk niemals regiert werden kann. Und das ist
genau das, was die Amerikaner wollen.” 206
Im Folgenden soll ein Überblick über die wichtigsten politischen Akteure der USA und deren
komplexes Zusammenspiel gegeben werden, wobei der Schwerpunkt auf letzterem liegen
wird, um das Nachvollziehen der in den beiden Fällen analysierten Dynamiken zwischen den
wichtigsten Gruppen und Individuen zu erleichtern. Aus dem gleichen Grund ist die kurze
Darstellung auf die für uns zentralen Akteure fokussiert; eine vollständige Aufzählung der in
den politischen Prozess involvierten Gruppen und Institutionen scheinen für unsere Zwecke
ebenso nebensächlich,207 wie historische oder ideengeschichtliche Herleitungen, die höchstens
im zusammenfassenden Schlusskapitel zur politischen Kultur der USA eine größere Rolle
spielen werden.
4.1 Stellung und Zusammenspiel staatlicher politischer Institutionen
Die hier aufgeführten Institutionen umfassen den US-Präsidenten, den Kongress, die USAdministration, den Supreme Court und die (beiden großen) Parteien.208 Mit Ausnahme der
Administration, deren zentrale Stellung sich erst im 20. Jh. herausgebildet hat und der
Parteien, wurden diese Akteure von den Verfassungsvätern durch das komplexe System der
checks and balances miteinander verbunden, welches Neustadt als „separated institutions
sharing powers” beschreibt:209 Einer institutionellen Gewaltentrennung steht das funktionale
Verhältnis
einer
Gewaltenverschränkung
gegenüber.
Ziel
dieser
noch
klareren
Gewaltentrennung, als sie in vielen moderneren Demokratien zu finden ist, war es, „das
amerikanische Regierungssystem als Antipode eines omnipotenten Staates” zu konzipieren.210
4.1.1 Präsident
Der Präsident der Vereinigten Staaten ist die zentrale Figur des politischen Lebens. Aufgrund
des präsidialen Regierungssystems muss er sich keine Kompetenzen mit einem (von der
206
207
208
209
210
Bernhard Shaw 1932 bei einem Vortrag in der Metropolitan Opera, zitiert in: von Uthmann, Jörg 1988:
Volk ohne Eigenschaften. Amerika und seine Widersprüche, Stuttgart, S. 20.
Vernachlässigt wird v. a. die bundesstaatliche Ebene der USA, da für uns in erster Linie nationale
Institutionen und nicht an einzelne Bundesstaaten gebundene zivilgesellschaftliche Akteure relevant sind,
sich das beobachtete Geschehen also auf die Hauptstadt konzentriert.
Letztere bezeichnen sich zwar selbst häufig als private Vereine, gehören nach Ansicht des Supreme Court
jedoch zur öffentlichen Sphäre. Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine
politologische Analyse, Braunschweig, S. 56.
Neustadt, Richard E. 1980 [1960]: Presidential Power, New York, S. 33.
Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 167.
– 60 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Legislative bestimmten) Regierungschef teilen, sondern ist als alleinige „Spitze“ der Exekutive
der durch den Kongress repräsentierten Legislative gegenübergestellt.
Die Reichweite der Kompetenzen des Präsidenten gegenüber dem Kongress kann anhand
der Verfassung des Landes nicht abschließend geklärt werden, weshalb sich dieses Verhältnis
immer wieder gewandelt hat. Das momentan zunehmende Gewicht des Präsidenten in diesem
„Tauziehen“ lässt sich v. a. auf seine – in der Verfassung ausdrücklich nicht vorgesehenen211 –
gesetzgeberischen Aktivitäten sowie auf seine vor dem Hintergrund zunehmender
Interdependenzen bedeutender werdenden außen- und sicherheitspolitischen Kompetenzen
zurückführen. Zwar ist dem Präsidenten noch immer die Möglichkeit einer formellen
Gesetzesinitiative verwehrt, doch erwartet mittlerweile auch die Legislative, dass er seiner
Funktion als chief legislator gerecht wird und Gesetzesentwürfe über ihm nahe stehende
Abgeordnete ins Parlament einbringen lässt.212 Als gesetzliche Grundlage dieses Vorgehens
wird das Instrument der State of the Union Address bemüht, mittels derer der Präsident laut
Verfassung dem Kongress die Gesamtlage der Nation vor Augen führen und
Gesetzesinitiativen anregen sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle präsidentiellen
Gesetzesinitiativen den Kongress tatsächlich passieren würden, die „Erfolgsrate“ dieser
Vorlagen schwankte vielmehr von Präsident zu Präsident zwischen 50% und 90%.213
Im Hinblick auf die Verteilung außenpolitischer Kompetenzen lässt sich die Verfassung
recht eindeutig zugunsten eines größeren Einflusses des Präsidenten auslegen.214 Dennoch gibt
es auch hier eine „zone of twilight”,215 in die insbesondere das Recht des Präsidenten,
internationale Verträge zu zeichnen, Entscheidungen über Einsätze der US-Streitkräfte sowie
Notstandsregelungen fallen – was angesichts der im 20. Jh. rapide gestiegenen
außenpolitischen Bedeutung der USA immer wieder zu Streitfällen geführt hat: Die treaty
211
Vgl. Artikel I, Abschnitt 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten: „All legislative Powers herein granted
shall be vested in a Congress of the United States, which shall consist of a Senate and House of
Representatives.” Ebenfalls verfassungsmäßig nicht vorgesehen ist, dass seit 1824 kein Präsident mehr vom
212
213
214
215
Kongress gewählt wurde. Eigentlich war man davon ausgegangen, dass sich wesentlich mehr (da nicht
durch Parteien vorgekürte) Kandidaten zur Wahl stellen würden und eine absolute Mehrheit für einen
Kandidaten deshalb unwahrscheinlich sei. In diesem Fall obliegt es dem Repräsentantenhaus, einen der drei
Kandidaten mit den meisten Stimmen zum Präsidenten zu ernennen. Vgl. Jäger, Wolfgang 1998: Der
Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch,
München, S. 136-169, hier S. 139.
Vgl. Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der
USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 152.
Die mitunter niedrige Quote erklärt sich auch durch den Umstand, dass der Präsident sich in der Regel
nicht auf die Unterstützung aller Abgeordneten seiner Partei verlassen kann, s. S. 63 der Arbeit. Weil die
Abgeordneten sich der hohen Legitimität eines neu gewählten Präsidenten bewusst sind, bringt dieser
besonders wichtige und umstrittene Gesetzesvorhaben meist zu Beginn einer Amtszeit ein (sog. first
hundred days-Prinzip).
So stellte der Supreme Court 1936 fest, dass „the President [i]s the sole organ of the federal government in
the field of international relations – a power which does not require as a basis for its exercise an act of
Congress ”, was den Kongress aber nicht von der Kontrolle solcher Handlungen ausschließen soll.
Entscheidung United States versus Curtiss-Wright Export Corporation (299 U.S. 304).
So formulierte es der Supreme Court 1952 in einem Gutachten über das Verhältnis von Präsident und
Kongress: Fall Youngstown Sheet & Tube Co. versus Sawyer (343 U.S. 579).
– 61 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
power des Senats, nach der er der Verabschiedung eines internationalen Vertrages mit
Zweidrittelmehrheit zustimmen muss, wird schon länger als Fehlkonstruktion der Verfassung
angesehen.216 Die Handhabung des Präsidenten, diese Regelung mit Hilfe sog. executive
agreements, die Verträgen in ihrer völkerrechtlichen Wirkung gleichkommen, jedoch dem
Kongress nicht vorzulegen sind, zu umgehen, wird aber ebenfalls heftig kritisiert.217
Verfassungsrechtlich vorgesehen war dagegen das Recht des Präsidenten, gegen Gesetze
des Kongresses ein Veto einzulegen, welches nur von einer Zweidrittelmehrheit beider
Parlamentskammern außer Kraft gesetzt (overruled ) werden kann (was äußerst selten der Fall
ist). Allerdings kann ein Gesetz nur als ganzes zurückgewiesen werden, weshalb der Kongress
in wichtige Vorlagen sog. rider, also wichtige Bestimmungen, einbaut, die dem Präsidenten
eine Zurückweisung des Gesetzes erschweren sollen. Die Möglichkeit, Druck auf das
Parlament auszuüben, indem es ihm mit Auflösung droht, ist dem amerikanischen
Staatsoberhaupt aber verwehrt, während das Parlament zumindest da Recht hat, den
Präsidenten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens (impeachment) wegen vermuteten
Amtsvergehen anzuklagen.
Die
dennoch
insgesamt
starke
Stellung
des
Präsidenten
gegenüber
den
Kongressabgeordneten leitet sich aber nicht nur aus seinem Vetorecht, sondern v. a. aus
seiner Position als einziger vom gesamten Volk gewählter Politiker ab.
4.1.2 Kongress
Die Abgeordneten des amerikanischen Zweikammerparlaments, des Kongresses, verteilen
sich auf das Repräsentantenhaus, dessen Mitglieder in 435 Wahlkreisen mit vergleichbaren
Einwohnerzahlen auf zwei Jahre gewählt werden und den 100-köpfigen Senat, der mit je zwei
für sechs Jahre gewählten Senatoren aus jedem Bundesstaat besetzt ist, wobei alle zwei Jahre
ein Drittel der Senatoren neu bestimmt wird. Bis auf den Vizepräsidenten, der den Vorsitz im
Senat innehat (dort als president officer aber nur in Patt-Situationen Stimmrecht besitzt) darf
kein Vertreter der Exekutive Kongressmitglied sein. Die einzelnen Fraktionen werden durch
majority bzw. minority floor leaders angeführt, welche durch sog. whips, die die Abgeordneten
zur „richtigen“ Stimmabgabe drängen, unterstützt werden. Zum Sprecher (speaker) des
Repräsentantenhauses und gleichzeitig zum Parlamentspräsidenten wird meist der dortige
Vorsitzende der Mehrheitsfraktion ernannt. Auch ihm unterstehen ein majority leader und
mehrere whips.
Zwar hat die US-amerikanische Legislative ihre überragende Stellung beim Einbringen
von Gesetzesentwürfen verloren, doch werden in ihren zahlreichen Ausschüssen und
216
217
Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der
USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 159.
Mit den beiden Case Acts aus den Jahren 1972 und 1977 verpflichtete der Kongress zunächst nur den
Präsidenten, dann aber auch alle anderen Exekutivbehörden, beide Kammern des Parlaments innerhalb
eines bestimmten Zeitraumes zumindest über die Unterzeichnung solcher Abkommen zu informieren.
Allerdings wird dies seitens der Exekutive nicht immer eingehalten.
– 62 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Unterausschüssen nahezu alle der ca. 9.000 Vorhaben pro Legislaturperiode ausgearbeitet –
oder, was noch häufiger der Fall ist, zum Scheitern gebracht.218 Um den starken Einfluss der
Ausschüsse zu begrenzen und eine befürchtete „Atomisierung“ des Kongresses durch die
Bildung immer neuer solcher Gremien zu verhindern, wurde 1995 eine Parlamentsreform
durchgeführt.219 Trotzdem ist der Gesetzgebungsprozess auch weiterhin maßgeblich von der
Arbeit in den insgesamt 36 ständigen Parlamentsausschüssen gekennzeichnet (was den
Einfluss des Kongresses gerade in außenpolitischen Fragen schmälert, da die gesetzgeberische
Arbeit hier zwischen je drei Ausschüssen in Senat und Repräsentantenhaus und 21 bzw. sogar
22 Unterausschüssen sowie mehreren informellen Gruppen aufgeteilt ist).220
Neben den üblichen Bundesgesetzen (acts) können die beiden Parlamentskammern auch
joint
resolutions,
221
verabschieden.
gemeinsame Beschlüsse mit der Wirkung eines Bundesgesetzes,
Eine
besondere
Stellung
im
Gesetzgebungsprozess
nimmt
die
Verabschiedung des Haushaltes ein, der wie andere Gesetze auch in Ausschüssen so detailliert
ausgearbeitet wird, dass der Kongress hierüber wichtige politische Steuerungsfunktionen
ausüben kann. Ein unterschiedliches Abstimmungsergebnis in Repräsentantenhaus und Senat
(was recht häufig vorkommt), macht die Einschaltung eines mit Experten beider Häuser
besetzten conference committee nötig, dessen Kompromissvorschlag noch einmal von beiden
Kammern bestätigt werden muss.
Erstaunlicherweise wird nicht nur der Präsident als vergleichsweise mächtig, sondern auch
der Kongress als eines der stärksten Parlamente in der westlichen Welt bezeichnet.222 Dies
hängt mit der Unabhängigkeit der Kongressabgeordneten von anderen politischen Akteuren,
v. a. von ihrer Partei sowie vom Präsidenten (Stichwort: starke Gewaltentrennung) zusammen.
Aufgrund der vergleichsweise geringen Rolle der US-amerikanischen Parteien im politischen
System kann von Fraktionsdisziplin im Kongress kaum die Rede sein: Als party vote gilt heute
bereits eine Abstimmung, bei der 50% der Abgeordneten einer Partei gegen die einfache
Mehrheit der Mitglieder einer anderen Partei stimmen – und selbst dies ist nur selten der
Fall.223 Allerdings müssen sich Kongressabgeordnete stark an den in ihrem Wahlkreis bzw.
Bundesstaat vorherrschenden Interessen orientieren, da sie nicht über Wahllisten abgesichert
218
219
220
221
222
223
Hübner spricht von 19 von 20 Gesetzesinitiativen, die bereits in Ausschüssen verworfen werden. Vgl.
Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 118. Allerdings können
die Plenen der beiden Kammern unter bestimmten Voraussetzungen die Weiterleitung von solchen killed in
committee-Gesetzesentwürfen erzwingen. Vgl. Steffani, Winfried 1998: Der Gesetzgebungsprozeß, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 184-197,
hier S. 189.
Die Reform konnte jedoch nicht verhindern, dass sich weiterhin informelle Gruppen (sog. caucuses) zur
Diskussion spezifischer Sachthemen herausbildeten.
Beide Kammern verfügen über einen Ausschuss zu Foreign Relations und Armed Services sowie einen für
die Arbeit der Geheimdienste zuständigen (s.u.).
Auch Verfassungsänderungen oder -ergänzungen (constitutional amendments) für die eine
Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern nötig ist, werden in Form von joint resolutions verabschiedet.
Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 111.
Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 111.
– 63 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
sind, wie etwa ein Teil ihrer deutschen Kollegen. Da sie in ihrem Wahlkampf auch nur in
geringem Maße von ihrer Partei unterstützt werden, sind sie zudem auf hohe
Wahlkampfspenden angewiesen, die Abgeordnete meist von Interessensverbänden erhalten,
welche sich eine Gesetzgebung in ihrem Sinne erhoffen (und eine Reihe von
Korruptionsskandalen ausgelöst haben).
Bei der Kommunikation mit anderen politischen Akteuren kommt den in den
Kongressausschüssen durchgeführten hearings eine bedeutende Rolle zu. Nicht nur sind 90%
der Ausschusssitzungen öffentlich,224 hier wird Experten, Interessenvertretern und
Mitarbeitern der Administration auch dann Rederecht eingeräumt, wenn die Abgeordneten sie
nicht selbst eingeladen haben. Zudem besitzen alle ständigen Ausschüsse (seit dem Legislative
Reorganization Act von 1946) das Recht, jede Person (abgesehen vom Präsidenten) zwecks
Vernehmung vorzuladen sowie alle benötigten Akten und sonstigen Unterlagen einzusehen.
4.1.3 Administration
Bevor als eigentliche dritte Gewalt der Supreme Court vorgestellt wird, soll aufgrund
vielfältiger Verfechtungen mit Exekutive und Legislative die Rolle der vielschichtigen (lies:
ausufernden) US-Administration diskutiert werden. Hierunter verstehen wir sowohl die
Mitarbeiter des Präsidenten und der Kongressabgeordneten sowie die der Ministerien und
Behörden.
Dass die US-Administration wenig hierarchisch gegliedert ist, liegt zum einen an der
relativ großen Autonomie der derzeit 15 Ministerien,225 die häufiger Eigeninteressen als den
Vorgaben des Präsidenten zu folgen scheinen.226 Dies hängt wiederum mit der geringen Rolle
des Kabinetts zusammen, das nur zu formalen Anlässen zusammentritt und kaum als
Entscheidungsgremium gewertet werden kann. Selbst der Vizepräsident nahm lange Zeit eine
untergeordnete Stellung (als Vorsitzender des Senats und evtl. Nachfolger eines aus dem Amt
geschiedenen Präsidenten in Wartestellung) ein.227 Zum Anderen liegt der recht
unübersichtliche Aufbau der Administration darin begründet, dass der Kongress der
224
225
226
227
Plenumsdebatten dürfen auch im Fernsehen übertragen werden, vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische
System der USA. Eine Einführung, München, S. 127.
Anzahl und zum Teil auch Zuschnitt der einzelnen Ministerien werden vom Kongress bestimmt. Vgl.
Becker, Bernd/Welz, Wolfgang 1998: Verwaltung und Vollzug, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.):
Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 231-243, hier S. 234.
Hübner spricht deshalb davon, dass die exekutive Macht zwar nicht zwischen Präsident und
Regierungschef, wohl aber zwischen ersterem und seinen Mitarbeitern auf der einen und den Ministerien
und der restlichen Bürokratie auf der anderen Seite gespalten sei. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische
System der USA. Eine Einführung, München, S. 130. Allerdings kann der Präsident zur Steuerung und
Kontrolle der ihm unterstellten Behörden executive orders erlassen, denen teilweise Gesetzeskraft
zukommt. Vgl. Becker, Bernd/Welz, Wolfgang 1998: Verwaltung und Vollzug, in: Jäger, Wolfgang/Welz,
Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 231-243, hier S. 234.
So hielt es Theodore Roosevelt nicht einmal für nötig, seinen damaligen Vizepräsidenten Harry S. Truman
über den Bau der Atombombe zu informieren. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA.
Eine Einführung, München, S. 133. Heute werden die Vizepräsidenten als wichtiger Teil der Administration
angesehen. Vgl. Jäger, Wolfgang 1998: Der Präsident, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.):
Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 136-169, hier S. 162.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Ernennung eines Großteils des Spitzenpersonals zustimmen muss228 und die US-Präsidenten
entsprechend versucht haben, daneben eigene, unabhängige Gremien zu etablieren. Das
Executive Office of the President (EOP), an dessen Spitze meist ein recht einflussreicher Chief
of Staff steht, nimmt hier eine hervorgehobene Stellung ein. Die insgesamt ca. 3000 ohne
Zustimmung des Kongresses berufenen Mitarbeiter des EOP bilden den persönlichen Stab
des Präsidenten. Zudem kann das White House Office nach dessen Wünschen umstrukturiert
werden und nimmt meist vielfältige Aufgaben wahr. Dagegen ist der Aufbau der anderen,
größtenteils vom Kongress mitbestimmten Gremien des EOP festgelegt. Hierunter fallen als
wichtigste Organe das Office of Management and Budget (OMB), welches als „Oberbehörde“
gilt, da es Haushaltsvorlagen für die Ministerien erstellt und deren Einhaltung kontrolliert, der
Council of Economic Advisors (CEA), der den Präsidenten in wirtschaftspolitischen Fragen
berät sowie der vom Kongress geschaffene National Security Council (NSC). Neben dem vom
Präsidenten direkt ernannten National Security Advisor, der als „’ehrlicher Makler’ zwischen
den verschiedenen außenpolitischen Stimmen der Administration vermitteln” soll, gilt der
NSC als wichtigstes Beratungsgremium des Präsidenten für außen- und sicherheitspolitische
Fragen.229
Neben
Präsidenten
und
Vizepräsidenten
nehmen
Außen-
und
Verteidigungsminister und in beratender Funktion die Joint Chiefs of Staff sowie der Direktor
der Central Intelligence Agency (CIA) an den Sitzungen teil.230
Der Außenminister wurde lange Zeit lediglich mit der Umsetzung der von
Sicherheitsberater und NSC gefällten Entscheidungen betraut. Erst in letzter Zeit gewann das
Department of State (DOS) das für US-amerikanische Ministerien übliche Eigengewicht. Die
Arbeit des Ministers wird hier von dessen Stellvertreter, einem Counsellor und vier Under
Secretaries unterstützt, die je ein Ressort leiten. Wesentlich schwerer wiegt jedoch der Einfluss
des Department of Defense (DOD): Dem mit mehr als drei Mio. Beschäftigten größten
Arbeitgeber des Bundes stehen etwa sechs Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) der USA
zur Verfügung, was ihn zum wichtigsten öffentlichen Auftraggeber für die private Wirtschaft
macht.231 Neben dem Büro des Verteidigungsministers (Office of the Secretary of Defense,
OSD), das koordinierend tätig ist, unterteilt sich das DOD in die Departments der
228
229
230
231
Besonders im Fall der Ernennung von Ministern ist der Präsident zudem häufig dem Druck von
Interessensverbänden und Wahlkampfsponsoren ausgesetzt.
Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440,
hier S. 425f. Der neben dem NSC auch das Department of Defense und die CIA schaffende National
Security Act fand 1947 eine Mehrheit im Kongress, nachdem Roosevelt sich bei außen- und
sicherheitspolitischen Entscheidungen vermehrt auf Ad-hoc-Beratungsgremien verlassen hatte, was dem
Kongress ein Nachvollziehen der Entscheidungsprozesse erschwert hatte. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das
politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 133.
Größe und Einflussreichtum der außen- und sicherheitspolitischen Institutionen der Exekutive sind v. a.
dem Kalten Krieg geschuldet, während dessen der auf eine schnelle Reaktionsmöglichkeit des Präsidenten
zugeschnittene Apparat ausgebaut und institutionalisiert wurde.
Vgl. Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440,
hier S. 428.
– 65 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Teilstreitkräfte, die Joint Chiefs of Staff (JCS), die das Militär vertreten sowie den Armed Forces
Policy Council, der den Verteidigungsminister berät.
Immer noch recht unabhängig arbeitet auch die CIA, obwohl ihre Handlungsfreiheit
durch den Intelligence Oversights Act 1980 vom Kongress begrenzt wurde.232 Entgegen ihrem
Ruf umfasst die Arbeit der CIA nur zu einem sehr geringen Teil geheime covert operations;
aus den dort analysierten Daten über Vorgänge in aller Welt erstellt sie vielmehr politische
Analysen und Handlungsempfehlungen für die Regierung. Allerdings ist davon auszugehen,
dass nicht immer alle covert actions, die im Unterschied zur typischen Spionage nicht nur
Informationen über ein Land beschaffen, sondern dieses direkt beeinflussen sollen (etwa
durch Kursänderung der Regierung oder Änderung der Regierungsspitze selbst), bekannt
werden, da meist nur wenige Mitarbeiter eines Geheimdienstes über solche Aktivitäten
informiert sind. Neben der CIA hat auch das DOD häufiger covert operations ins Leben
gerufen und oftmals von eigenen Spezialeinheiten ausführen lassen. Geleitet wird die CIA
vom Director of Central Intelligence, der auch die Arbeit der anderen Geheimdienste
koordinieren soll (namentlich diejenigen der Ministerien für Äußeres, Verteidigung, Energie
und Finanzen sowie des für die Inlandsaufklärung zuständige Federal Bureau of Investigation
(FBI)).233 Im Gegensatz zur nachgewiesenen Verwicklung der drei genannten Geheimdienste
in die Erosion des Folterverbots, ist die National Security Agency in dieser Frage bisher nicht
in Erscheinung getreten. Dies muss jedoch nicht heißen, dass es hier keine Berührungspunkte
gab, denn die Mitarbeiter dieses bedeutendsten Geheimdienstes der USA (wenn nicht der
Welt) sind noch weit stärker um Geheimhaltung bemüht, als ihre inneramerikanischen
Kollegen. Dass der Präsident selbst den Überblick über die Aktivitäten der amerikanischen
Geheimdienste behält, soll das Intelligence Oversight Board garantieren, das dem Foreign
Intelligence Advisory Board des Präsidenten (PFIAB) zugeordnet ist. Nach den Anschlägen
vom 11. September 2001 wurde versucht, eine bessere Abstimmung zwischen den vormals oft
konkurrierenden Geheimdiensten und deren Unterabteilungen zu gewährleisten, was jedoch
nicht immer gelang (wie in der Auseinandersetzung um Verhörmethoden zu sehen sein wird).
232
233
Dieser verpflichtet den Präsidenten dazu, den Kongress über alle Geheimdienstaktionen zu informieren. In
Fällen äußerster Geheimhaltung ist die Informationspflicht auf die einschlägigen Ausschüsse beschränkt.
Das Senate Select Committee on Intelligence und das Permanent Select Committee on Intelligence des
Repräsentantenhauses waren bereits in den 1970er Jahren eingerichtet worden. Vgl. Dittgen, Herbert 1998:
Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang
(Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440, hier S. 424.
Vgl. Dittgen, Herbert 1998: Präsident und Kongreß im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 420-440,
hier S. 429.
– 66 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
4.1.4
Stellung des Supreme Court vor dem Hintergrund des US-amerikanischen
Rechtssystems
Der Supreme Court, seit 1849 mit einem chief justice und acht associate justices besetzt,234 ist
der Oberste Gerichtshof der USA und der einzige, der in der Verfassung Erwähnung fand.235
Nach Artikel III, Abschnitt 2 der US-Verfassung und mit Blick auf die an Großbritannien
orientierte Rechtstradition des Landes ist allerdings fraglich, ob ihm die Stellung eines
Verfassungsgerichtes zukommt:236 Aus dem britischen common law, das sich deutlich vom am
Verfassungstext orientierten und damit eher statischen Rechtsbegriff kontinentaleuropäischer
Nationen unterscheidet, entwickelte sich in der ehemaligen Kolonie das case law, als v. a. von
Richtern gesetztes, also auf vorherigen Entscheidungen aufbauendes und damit dynamisches
Prinzip der Rechtsfortentwicklung.237 Case law wird von oberen Gerichten geschaffen,
während in der Gerichtshierarchie niedrigere Gerichte diese weitreichenden Entscheidungen
(precedents) zu übernehmen haben (sog. doctrine of state decisis). Obere Gerichtshöfe sind an
die Rechtsprechung niederer Gerichte gar nicht und an frühere Urteile ihrer eigenen Instanz
nur zum Teil gebunden: Da die Verfassung und ähnlich grundlegende Gesetzestexte weniger
wortwörtlich genommen werden, als eine Interpretation im Geiste derselben vor dem
Hintergrund aktueller Bedürfnisse angestrebt wird, können sich Urteile zu ähnlichen Fällen
durchaus widersprechen oder frühere aufheben (overrule). Nach dem case law wird alles im
Rahmen einer Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court oder Oberste Gerichte der
Bundesstaaten entwickelte Recht zu einem integralen Bestandteil des amerikanischen
Verfassungsrechts (constitutional law) und gilt neben dem originalen Verfassungstext und
dessen Zusätzen (amendments) selbst als Oberste Rechtsnorm (supreme law of the land).238
Auch aufgrund dieses Grundsatzes konzentriert sich US-amerikanisches Verfassungsrecht
viel weniger auf festgeschriebene Rechte, die der Staat seinen Bürgern einräumt, als ein
typischer verfassungsrechtlicher „Regelkatalog“, in dem aufgeführt wäre, was genau
234
235
236
237
238
Der oberste Richter erhält zwar ein höheres Gehalt als seine Kollegen, verfügt aber nicht über mehr Rechte.
Allerdings übernimmt er mehr formale Aufgaben als seine „Brüder“ (brethren ). Vgl. Hübner, Emil 2003:
Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 170.
Vgl. Artikel III der US-Verfassung, der mit den Worten beginnt: „The judicial Power of the United States
shall be vested in one supreme Court.
Vgl. Kincaid, John 1998: Rechtssystem und Gerichtsbarkeit, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.):
Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 214-230, hier S. 214.
Entsprechend hat einzig das stark französisch geprägte Louisiana eine andersartige bundesstaatliche
Rechtstradition. Ein weiterer Grund für die Entwicklung des case law ist die Ungenauigkeit (und heute auch
das Alter) der US-Verfassung. Fraenkel erklärt dieses gerade für Deutsche ungewöhnlich anmutende System
als „Sicherung gegen die Gefahr, daß ein politisch lebendiger Inhalt zur rechtlichen Form erstarrt.”
Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 172.
Daneben orientieren sich die Gerichte auch an die in den Federalist Papers (unter dem Pseudonym
„Publis“) veröffentlichten Verfassungskommentaren von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay
aus den Jahren 1787/1788. Timmermann, Marina 2000: Die Macht kollektiver Denkmuster. Werte, Wandel
und politische Kultur in den USA und Japan, Opladen, S. 77.
– 67 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
staatlichen Autoritäten erlaubt oder verboten ist.239 Das US-amerikanische rule of law (als
Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Rechtsstaatsgedanken) stützt sich vielmehr auf
traditionelle Prinzipien der Gerichtsbarkeit – in erster Linie die habeas corpus-Norm240 und
daran anschließend die due process-Klausel – aus denen heraus grundlegendes Recht immer
neu geschaffen wird. Und selbst diese Prinzipien werden aus Angst vor einem „Erstarren“ des
Rechtssystems nicht genau definiert. Vielmehr sollte den Gerichten in der Auseinandersetzung
mit individuellen Fällen die Ausbuchstabierung v. a. der grob als Fairnessprinzip umrissenen
due process-Klausel überlassen bleiben, wie es justice Frankfurter 1951 tat, als er sie als
„Bekenntnis zu dem Gedanken einer gerechten Behandlung eines jeden Mitglieds der
Rechtsgemeinschaft” beschrieb.241
Vor diesem Hintergrund wurde der Supreme Court lange Zeit nicht als primär mit
abstrakter Normenkontrolle befasster Verfassungsgerichtshof, sondern vielmehr als oberste
Berufungsinstanz für „normale“ Streitfälle (sowie einige in der Verfassung spezifizierte
Sonderfälle, für die es die erste Instanz darstellt) gesehen. Trotzdem wird der Supreme Court
als „einziges Organ, das die politische Diskussion auf die Ebene moralischer, in die Zukunft
weisender Probleme zu heben vermag ” angesehen, denn ihm wird das Recht, sich mit
verfassungsrechtlich
242
abgesprochen.
relevanten
Gesetzesvorhaben
zu
beschäftigen,
nicht
(mehr)
Allerdings kann der Supreme Court solchen Fällen mit dem Hinweis, es
handele sich um eine sog. political question, die zu entscheiden nur genuin politische
239
240
241
242
Dies schließt an die Locke’sche Staatsphilosophie an, nach der die staatliche Autorität keine originären
Rechte besitzt, sondern nur die ausübt, die ihm das Volk zugesteht: „The government is the trustee of the
people.” Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 181. Bezeichnenderweise beinhalten die in der Präambel der amerikanischen Verfassung
niedergelegten Freiheitsrechte auch keine Schranken (nicht einmal den Hinweis, dass sie in der Gültigkeit
konkurrierender Freiheitsrechte ihre Schranken finden), so dass sie – theoretisch – alle absolut gelten. Auch
dies macht eine richterliche Anlehnung allein an den Verfassungstext unmöglich. Vgl. Fraenkel, Ernst 1981:
Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 192.
Dieses „Prunkstück anglo-amerikanischen Rechtsdenkens” als genereller Freiheitsgarantie umfasst nach
amerikanischem Verständnis auch den im fünften und 14. amendment verbrieften Schutz von Leben und
Eigentum der Person, solange nicht in einem fairen Gerichtsprozess (also due process) anders entschieden
wurde. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 171.
Zitiert nach Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 171, in Bezug auf den Fall United States versus Williams (341 U.S. 58) aus dem Jahr 1951.
Tatsächlich wurden die 1936 zur Klärung der Befugnisse des Gerichts eingeführten
Selbstbeschränkungsregeln (ashwander rules) bereits öfters übertreten. Der Streit um judicial self restraint
oder judicial activism wurde aber bereits in den Federalist Papers thematisiert. Vgl. Shell, Kurt L. 1998:
Der Oberste Gerichtshof, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehrund Handbuch, München, S. 170-181, hier S. 173 bzw. S. 178. Während die eine Seite befürchtet, mit einer
„aktiven“ Rechtsprechung würde der Supreme Court seine rein judikativen Befugnisse überschreiten und
dem demokratisch gewählten Präsidenten und Kongress seine Entscheidungen aufoktroyieren, berufen sich
(meist liberale) Vertreter der anderen Seite insbesondere auf die Bürgerrechte, aus der sie die Forderung
nach ihrem aktiven Schutz und ihrer Durchsetzung ableiten. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System
der USA. Eine Einführung, München, S. 158.
– 68 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Institutionen befugt seien, ausweichen.243 Dies trifft – aus Sicht des Gerichts – besonders
häufig auf Fälle aus den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik zu.
Auch darüber hinaus ist das Gericht befugt, sich die von ihm behandelten Fälle selbst
auszusuchen (hierzu ist ein Votum von vier justices nötig), wobei es Klagen jeder (juristischen)
Person, die standing vor Gericht besitzt annehmen oder auch untere Gerichte anweisen kann,
wichtige Fälle an das Oberste Gericht abzugeben. Um ein Urteil zu fällen, ist eine Mehrheit
von mindestens sechs Richtern (bei verfassungsrechtlichen Entscheidungen sieben)
notwendig; überstimmte oder vom Urteil geringfügig abweichende Meinungen (dissenting
bzw. concurring opinions) können in Berichten zum Ausdruck gebracht werden.
4.1.5 Die großen Parteien
Ähnlich wie über die Befugnisse des Supreme Court entbrannte noch im 18. Jh. ein Streit über
die Rolle von Parteien im amerikanischen Regierungssystem. In der Verfassung waren diese
nicht vorgesehen, doch bildeten sich schon unter George Washington erste parteiähnliche
Zusammenschlüsse.244 Erst im 20. Jh. bildete sich jedoch ein System häufigerer
Regierungswechsel und oppositioneller Kontrolle zwischen zwei großen Parteien heraus, der
eher linken Democratic Party und den eher konservativen Republicans.245 Allerdings erfüllen
die US-amerikanischen Parteien auch heute noch andere und wesentlich geringere Funktionen
als ihre „Partnerorganisationen“ in vielen europäischen Ländern: Sie sind lose
Interessenbündnisse mit einer von einer vergleichsweise geringen Zahl von Mitarbeitern
getragenen, schwach ausgebildeten Struktur, die hauptsächlich zu dem Zweck existieren,
bestimmte Kandidaten aufzustellen und für ihre Wahl zu werben. Dementsprechend werden
amerikanische Parteien auch nicht durch mehr oder weniger elaborierte Parteiprogramme
„zusammengehalten“ (von einer Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes wie
sie im deutschen Grundgesetz vorgesehen ist, kann also keine Rede sein),246 sondern stellen
vielmehr ein „Sammelbecken der verschiedenartigsten politischen Strömungen” dar, „in dem
alle denkbaren politischen Schattierungen vertreten sind ”.247
Zum zentralen Grundlagenpapier parteipolitischer Arbeit wird damit das Wahlprogramm
(party platform), das vor Präsidentschaftswahlen auf riesigen Parteitagen (national
243
244
245
246
247
Allerdings ist die Reichweite dieses Begriffs nie abschließend geklärt und sehr unterschiedlich angewendet
worden. Generell werden meist Fälle als political question klassifiziert, die die obersten Richter für politisch
(zu) brisant halten oder bei denen eine Einhaltung des politischen Urteils als unwahrscheinlich eingestuft
wird. Für weitere Kriterien S. Shell, Kurt L. 1998: Der Oberste Gerichtshof, in: Jäger, Wolfgang/Welz,
Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 170-181, hier S. 179.
Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 63.
Zuvor waren die Demokraten hierzu lange Zeit zu schwach gewesen. Erst die Bedingungen des New Deal,
ermöglichte ihnen, gegenüber den Republikanern aufzuholen. Kleinere Parteien, wie etwa die Grünen unter
Ralph Nader konnten am politischen Prozess bisher kaum aktiv teilnehmen und werden deshalb an dieser
Stelle vernachlässigt.
Vgl. Artikel 21 des Grundgesetzes.
Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 55.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
conventions) verabschiedet wird. Einer inhaltlichen Diskussion können diese events kaum
dienen, treffen sich hier doch ca. 2.000 Mitglieder der demokratischen bzw. sogar ca. 4.000
der republikanischen Partei.248 Präsidentschaftskandidaten werden darüber hinaus durch
Vorwahlen vorgekürt. Solche primaries dienen nicht nur dem Zweck, auch die Aufstellung
von Präsidentschaftskandidaten demokratischen Prinzipien zu unterwerfen, sondern werden
auch deshalb für nötig erachtet, weil es für die unterschiedlichen Flügel einer Partei zum Teil
wichtiger ist, dass ihr Kandidat sich als Anwärter für das Präsidentenamt durchsetzt, als der
tatsächliche Wahlsieg (irgendeines) Vertreters ihrer Partei.249 Neben der vielzitierten
Hauptfunktion „a party is to elect”250 kümmern sich die Parteien zum Teil auch um die
Wahlkampffinanzierung ihrer Kandidaten. Sie selbst können nur geringe Summen zu den
mittlerweile mehrere Milliarden US-Dollar „verschlingenden“ Wahlkämpfen beitragen,
nehmen jedoch einen Teil der privaten Spenden an und verwalten diese Gelder.
Begründet liegt die Schwäche der Parteien in der vergleichsweise großen Unabhängigkeit
des Präsidenten, der aufgrund seiner Direktwahl nicht von einer Mehrheit seiner Partei im
Kongress abhängig ist, die ihn wählen oder durch Verweigerung der Gefolgschaft stürzen
könnte. Die „Balkanisierung”251 insbesondere der unteren Parteiebenen spiegelt sich dagegen
im Kongress wider, in dessen Kammern die Fraktionen so gut wie nie geschlossen (und wenn,
dann über Personalfragen) abstimmen (s.o.).
4.2 Stellung und Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher Akteure
In diesem Unterkapitel soll die Rolle von Interessengruppen, worunter wir auch die für unsere
Analyse bedeutenden Think Tanks fassen, die der breiten Öffentlichkeit und der Medien als
(nicht uneigennütziger) Mittler zwischen allen beschriebenen Akteuren beleuchtet werden.
Generell ist zu sagen, dass die hier aufgeführten zivilgesellschaftlichen Akteure vergleichsweise
nah an der politischen Sphäre agieren, was mit der stark professionierten Einwirkung dieser
Gruppen auf amerikanische Politik zusammenhängt.252 Nicht nur bieten politische
Aushandlungsprozesse in den USA eine Vielzahl sog. points of access, in denen
zivilgesellschaftliche Gruppen ihre Interessen und Meinungen einbringen können, auch der
juristische Rahmen für solcherlei Aktivitäten ist weit gefasst.
248
249
250
251
252
Bis in die 1980er Jahre organisierten die Demokraten sog. midterm conventions, die dem Ziel einer stärkeren
inhaltlichen Geschlossenheit der Partei durch hier öffentlich ausgetragenen Zwist aber eher schadeten denn
dienten. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 72.
Vgl. Fraenkel, Ernst 1981: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse,
Braunschweig, S. 56.
Lösche, Peter 1998: Die politischen Parteien, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem
der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 268-296, hier S. 268.
Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 70.
Hingewiesen sei aber auch an dieser Stelle auf das Hobbes’sche Staatsmodell, dass eine scharfe Trennung
der staatlichen und öffentlichen Sphäre nicht vorsieht.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
4.2.1 Interessengruppen und Think Tanks
Stark ausgeprägter Interessenspluralismus ist im Einwanderungsland USA eine quasi
„natürliche“ Gegebenheit. Vor dem Hintergrund des ebenfalls fest in der amerikanischen
Identität verwurzelten Liberalismusgedankens (s.u.) verwundert es nicht, dass man dort einer
beinah unregulierten Einflussnahme von Vertretern verschiedenster Interessen lange Zeit
recht unvoreingenommen gegenüberstand, während man in vielen europäischen Ländern
längst eine Verzerrung der Chancen für effektives politisches Lobbying aufgrund
unterschiedlicher finanzieller oder personeller Ausstattungen der einzelnen Gruppen
„gewittert“ hätte. Auch heute noch wird in den USA in der Einbindung vielfältiger Gruppen
in politische Entscheidungsprozesse ein Mittel zur „Ausbalancierung” der in der Gesellschaft
vorliegenden Interessen gesehen,253 Kelso weist jedoch darauf hin, dass sich unter dem Begriff
public pluralism eine stärkere Regulierung durch staatliche Institutionen durchgesetzt hat, die
helfen soll, bestehende Asymmetrien auszugleichen.254
Der hier (im Anschluss an Fraenkel) verwendete Oberbegriff „Interessengruppen“ ist
absichtlich unspezifisch gewählt, umfassen die im politischen System der USA agierenden
Gruppierungen doch viel mehr Typen, als nur die vielzitierten Nichtregierungsorganisationen
(NGOs). Unter die von Fraenkel eingeführte Definition von interest groups als „ eine durch
Eigeninteresse gleichwie welcher Art zusammengehaltene Gruppe von Personen, die das
Verhalten anderer Personen zu beeinflussen bestrebt ist, ohne daß dieses notwendigerweise
unter Anwendung von Druck geschehen müsste ”,255 zu der wir hinzufügen möchten, dass
unter „Eigeninteresse“ auch der Einsatz für die (vermeintlichen) Anliegen anderer Personen
oder Dinge gefasst werden muss,256 fallen vielmehr (anschließend an Wasser):257 1. public
interest groups, die sich von traditionellen Interessensverbänden (2.) wie etwa Gewerkschaften
und Unternehmerverbänden dahingehend unterscheiden, dass die von ihnen vertretenen, breit
geteilten politischen Anliegen (z.B. Naturschutz) nicht ökonomischer Art sind; 3. single
interest groups, die spezifische politische Interessen (issues), wie etwa die Einstellung der
Forschung an bestimmten Waffengattungen, verfolgen oder auch einzelne ethnische Gruppen
253
254
255
256
257
Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 54.
Vgl. etwa Kelso, William A. 1978: American democratic theory. Pluralism and its critics, Westport, S. 25f.
Bereits seit den 1940er Jahren sollen sich alle im Umkreis von Kongressabgeordneten tätige Lobbys
registrieren lassen; ein entsprechendes Gesetz gilt für ausländische Interessengruppen bereits seit 1938. Vgl.
Wasser, Hartmut 1998: Die Interessengruppen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.):
Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 297-314, hier S. 308f.
Fraenkel, Erst: Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Braunschweig, S. 71,
Fußnote 1.
Nämlich dann, wenn man auch Altruismus z. B. gegenüber streunenden Hunden als zumindest zum Teil
dem eigenen Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild geschuldet auffasst.
Auch Wasser verwendet den Oberbegriff „Interessengruppen“, fasst allerdings neben den drei aufgezählten
unter diesen auch eine vierte Gruppe der Interessenvertretungen öffentlicher Gebietskörperschaften und
eine weitere Ausdifferenzierung traditioneller Lobbys der Wirtschaft, die für unsere Analyse keinerlei
Relevanz besitzen. Vgl. Wasser, Hartmut 1998: Die Interessengruppen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang
(Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, 297-314, hier S. 299ff.
– 71 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
vertreten, wie es z. B. die National Association of Arab Americans tut258 und 4. ideelle Gruppen,
unter die breite und meist weniger straff organisierte Bürgerbewegungen, die weniger klar
umrissene moralische Werte wie Frieden und Menschenrechte oder auch (vermeintlich)
religiöse Ziele wie das Verbieten von Abtreibungen propagieren, fallen.259
Ebenso unterschiedlich wie Zielsetzungen und Gestalt dieser Gruppen ist auch ihre
Vorgehensweise, lediglich die Adressaten verschiedener Aktionen ähneln sich: Da der Zugang
zum Präsidenten den allermeisten Gruppen verwehrt bleibt, richten sich diese vermehrt an die
für den Gesetzgebungsprozess immer wichtiger werdende US-Administration. Wichtigster
„Tummelplatz“ für Lobbys ist aber noch immer der US-Kongress, bzw. die für das jeweilige
Anliegen zuständigen Abgeordneten. Gewichtige Verbände haben meist auch ein Büro in
Washington, deren Angestellte z. B. in hearings versuchen, für ihre Standpunkte zu werben.260
Neben dieser institutionalisierten Form der Einflussnahme wird aber auch anderweitig
versucht, Druck auf Politiker auszuüben.261 So z. B. durch issue networks, in denen sich
mehrere, meist mit weniger Ressourcen ausgestattete Organisationen mit ähnlichen Anliegen
zusammenschließen oder durch Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Vertretern der USAdministration in sog. subgovernants. Als Negativbeispiel solcher (zum Teil auch Bestechung
nicht ausschließender) Einflussnahme seien die aus einer Interessengemeinschaft von
Rüstungsindustrie, Pentagon und einigen Kongressabgeordneten bestehenden iron triangles 262
genannt, denen es im Zusammenspiel als sog. militärisch-industrieller Komplex (MIK) v. a. in
den 1960er und 1970er Jahren gelang, die amerikanische Verteidigungs- und Rüstungspolitik
258
259
260
261
262
Die meisten ethnischen Gruppen haben sich in irgendeiner Form organisiert und versuchen, ihre Anhänger
im Fall eines sie oder ihr Herkunftsland direkt betreffenden politischen Problems zu mobilisieren. Als
stärkste Lobby wird das jüdische American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) bezeichnet, deren
Einfluss auf die US-amerikanische Nahostpolitik – leider auch unter antisemitischen Vorzeichen – häufig
thematisiert wird. Ihr Einfluss wurde u. a. in den 1980er Jahren deutlich, als es ihr gelang, Waffenexporte in
arabische Staaten zu verhindern. Vgl. Falke, Andreas 1998: Der Einfluß der intermediären Institutionen auf
die Außenpolitik, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und
Handbuch, München, S. 441-459, hier S. 447ff.
Nedelmann rechnet diese social movements allerdings nicht zu den Gruppen, die direktes Lobbying (im
Sinne professionalisierter Einflussnahme) betreiben. Sie weist aber darauf hin, dass sie durchaus in der Lage
sind, die politische Agenda der USA mitzubestimmen und bei politisch Entscheidungsberechtigten wie in
der breiten Öffentlichkeit veränderte Problemwahrnehmungen hervorzurufen. Vgl. Nedelmann, Birgitta
1998: Soziale Bewegungen, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehrund Handbuch, München, S. 330-342, hier S. 330 und 338. Als historische „Urväter“ dieser Bewegungen
können die Anti-Sklaverei- und die Frauenrechtsbewegungen genannt werden. In den 1960er und 1970er
Jahren erlebte diese Form politischer Einflussnahme vor dem Hintergrund der Schwarzen- und AntiVietnamkriegs-Bewegung eine Renaissance.
Da viele Angestellte der ca. 14.000 in Washington ansässigen Büros oder Berater der insgesamt über 23.000
auf nationaler Ebene agierenden Interessengruppen über großes Fachwissen verfügen, werden sie seitens
der Kongressabgeordneten auch häufig zu hearings eingeladen, die sich über verschiedene Aspekte eines
Gesetzesvorhabens informieren lassen müssen. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA.
Eine Einführung, München, S. 55 und Wasser, Hartmut 1998: Die Interessengruppen, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 297-314,
hier S. 304.
Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 60f.
Dieser Begriff wird jedoch nicht nur für den MIK, sondern generell für politische Konstellationen
verwendet, in denen eine Koalition aus Abgeordneten und Bürokraten und Privatpersonen für längere Zeit
eine letztere begünstigende Politik fördern.
– 72 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
nachhaltig zu beeinflussen.263 Ebenfalls ist es durchaus üblich, auf die Richtigkeit seiner
Anliegen (und auf die eigene Gruppe) mithilfe eines Gerichtsprozesses aufmerksam zu
machen, so dass auch die Justiz als ein für Lobbys attraktives „Sprachrohr“ erscheint. Solche
Urteile sollen natürlich auch das Interesse der Öffentlichkeit wecken, um mehr Unterstützung
zu generieren und indirekt Druck auf Politiker auszuüben.
Nicht alle, aber dennoch einige Think Tanks können unter die oben genannte Definition
von Interessengruppen gefasst werden. Da sich einige (weniger forschungsnahe, s. u.) dieser
„Denkfabriken“ von mit hochqualifizierten Mitarbeitern besetzten Verbänden, die ebenfalls
versuchen, die US-amerikanische Politik in eine bestimmte Richtung zu lenken, nur graduell
unterscheiden, werden sie an dieser Stelle behandelt. Zudem arbeiten noch immer viele Think
Tanks, die sich in der Tradition der Aufklärung und die Bereitstellung politischen Wissens als
eine Form wohltätigen Engagements (auch am Bürger!) sehen, nicht gewinnorientiert.
Externe
Berater
aus
„Denkfabriken“
in
den
politischen
Beratungsprozess
miteinzubeziehen, war in den USA schon früher üblich und ist immer noch weiter verbreitet,
als etwa in Europa. So ging aus dem bereits 1916 gegründeten Institute for Governmental
Studies schon 1927 die Brookings Institution als „Urvater“ der amerikanischen Think Tanks
hervor. Stärker in den außenpolitischen Entscheidungsprozess involviert wurden die
„Denkfabriken“ aber erst ab den 1960er Jahren, als die zunehmende Komplexität der Außenund Sicherheitspolitik begann, die alten außenpolitischen Eliten zunehmend zu überfordern,
so dass eine fachliche „Unterfütterung“ politischer Ansichten nicht nur opportun sondern
auch nötig erschien.264 Vielmehr scheint es ebensoviele Think Tank-Experten zu geben, die als
„Aushängeschilder” für die Richtigkeit verschiedener Ansichten dienen können, wie es
Meinungen auf dem politischen Parkett gibt.265
Auf diese Funktion greifen insbesondere Kongressabgeordnete häufig zurück, um einer
Position gegenüber der durch die Administration mit ausreichend Expertenwissen versorgten
Exekutive mehr Gewicht zu verleihen (wobei das vielgepriesene revolving doors-Modell auch
für einen regen Personalaustausch insbesondere zwischen Think-Tank-MitarbeiterInnen und
Mitgliedern der Administration sorgt). Es liegt aber weitestgehend in der Hand der Think
Tanks, inwieweit sie sich in ein Abhängigkeitsverhältnis von ihren politischen „Kunden“
263
264
265
S. für einen Überblick Czempiel, Ernst-Otto 1979: Amerikanische Außenpolitik, Stuttgart, S. 45f., für eine
genauere Analyse dieser Verflechtungen Medick, Monika 1973: Das Konzept des „Military-Industrial
Complex“ und das Problem einer Theorie demokratischer Kontrolle, in: Politische Vierteljahresschrift,
14: 4, S. 499-526.
Weitere Gründe für die Ausweitung gerade außenpolitisch orientierter Think Tanks waren das Ende des mit
dem Schlagwort „Jahre des Eisvogels“ belegten Begriff des von eben diesen Eliten getragenen
außenpolitischen Konsenses in den USA, der am Vietnamkrieg endgültig zerbrach und der vor dem
gleichen Hintergrund einsetzende Prestigeverlust insbesondere des DOS sowie das zunehmende Misstrauen
der Bevölkerung gegenüber einer elitengesteuerten Außenpolitik. Vgl. Falke, Andreas 1998: Der Einfluß der
intermediären Institutionen auf die Außenpolitik, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.):
Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 441-459, hier S. 443.
Falke, Andreas 1998: Der Einfluß der intermediären Institutionen auf die Außenpolitik, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 441-459,
hier S. 443.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
begeben: Neben klar ideologisch geprägten Instituten, die ihre häufig in Auftrag gegebenen
Analysen vor allem einer politischen Strömung anbieten (nicht erst in der Bush-Ära wurde die
konservative Heritage Foundation zum prominentesten Vertreter dieser Gruppe), gibt es auch
eine Reihe mit hochqualifizierten WissenschaftlerInnen besetzter Institute, die großen Wert
auf Unabhängigkeit und Überparteilichkeit legen. Diese „universiti[ies] without students”266
setzen ihre Forschungsschwerpunkte meist selbst und gelten dementsprechend als Lieferanten
besonders fundierter Analysen. Zwischen diesen beiden Typen von Institutionen sind viele
Think Tanks gerade im sicherheitspolitischen Bereich mit Auftragsforschung beschäftigt; ihr
Einkommen wird durch einen Teil des immensen Militärbudgets sichergestellt.267 Allerdings
wenden sich Politiker gerade, wenn es um kostspielige Rüstungsforschung geht, verstärkt auch
direkt an Universitäten oder große Forschungskonzerne, die über eine entsprechende
Forschungsausrüstung verfügen. Die gerade von vielen Think Tanks angestrebte
Unabhängigkeit und damit das Interesse einiger dieser Institutionen, ihre eigene Position zum
Ausdruck zu bringen, geraten hierdurch in Gefahr – sei es, weil vielen Mitarbeitern finanziell
unterstützter Forschungsprojekte die Veröffentlichung ihrer (angeblich) sicherheitsrelevanten
Ergebnisse seitens der Administration direkt untersagt wird oder weil diese aus Angst vor
einer Einstellung der Förderung Selbstzensur üben.268 Die zunehmende Außenfinanzierung
und Vermischung von Forschung an Hochschulen und privaten Think Tanks oder
Wirtschaftsunternehmen könnte damit zu einem Hindernis für die aktive Rolle werden, die
Wissenschaftler gerade in der US-amerikanischen Öffentlichkeit häufig gegen die
vorherrschende Regierungsmeinung eingenommen haben.269
266
267
268
Weaver, Kent R. 1989: The Changing World of Think Tanks, in: Political Science & Politics 22: 3, S. 563578, hier S. 563.
Um die hier vergebenen Aufträge besser kontrollieren zu können, hat der Kongress mit dem Defense
Science Board sogar eine advisory group zu diesem Thema eingerichtet. Vgl. Merges, Robert 1993: The
Public Research Enterprise in the U.S.: Overview and Prospects, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni,
Cosimo M. (Hg.): Scientific Research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free
Marked, Baden-Baden,
S. 13-28, hier S. 19. Anders, als vielleicht vermutet werden könnte, ist insbesondere im Bereich der
Rüstungsforschung nicht das DOD größter Auftraggeber, sondern das National Institute of Health (NIH),
das den Anspruch hat, v. a. kostspielige Grundlagenforschung zu finanzieren. Vgl. Nelkin, Dorothy 1993:
From the Tower to the Trenches: Changing Concepts of Scientific Freedom, in: Orsi Battaglini,
Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.): Scientific Research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention
and the Free Market, Baden-Baden, S. 29-40, hier S. 31.
Wie es etwa Neuborne deutlich vor Augen führt: „The most pervasive threat comes from the understandable
reluctance of a scientist to bite the hand that not only feeds him today, but has life or death power over feeding
him tomorrow. It takes an awfully brave scientist to ignore ‘suggestions’ from a government funding source
about what to do and what to say, or not say, about pending research.” Neuborne, Burt 1993: Freedom of
269
Scientific Inquiry and the American Bill of Rights, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.):
Scientific research in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free Marked, Baden-Baden,
S. 41-56, hier S. 51.
Neben häufigem Personalaustausch auch zwischen Universitäten und Think Tanks halten mittlerweile 30%
aller in der National Academy registrierten Wissenschaftler Anteile an wissenschaftlichen Unternehmen oder
sitzen in deren Vorstandsgremien. Vgl. Nelkin, Dorothy 1993: From the Tower to the Trenches: Changing
Concepts of Scientific Freedom, in: Orsi Battaglini, Andrea/Mazzoni, Cosimo M. (Hg.): Scientific research
in the U.S.A. Scientific Freedom, State Intervention and the Free Marked, Baden-Baden, S. 29-40, hier S. 35.
– 74 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
4.2.2 Öffentlichkeit
Auch, wenn sich das Wahlvolk nicht in einer der oben genannten Formen politisch engagiert,
so sorgen doch eine Reihe von Instituten (teilweise im staatlichen Auftrag) dafür, dass die hier
vertretenen Meinungen immer wieder durch Umfragen abgeprüft werden, die dann nicht nur
den Ausgang von Entscheidungsprozessen beeinflussen, sondern auch die politische Agenda
verändern können. Da die Volksmeinung (als Gegensatz zur absichtlich veröffentlichten
Meinung) in den USA als wichtiges Element der demokratischen „Willensbildung von unten
nach oben” angesehen wird,270 entwickelten sich hier schon früh Instrumente zu deren
Bestimmung, wobei die bereits seit den 1930er Jahren durchgeführten Gallup-Umfragen das
bekannteste sein dürften.271 Hinderlich in diesem Zusammenhang ist allerdings das
vergleichsweise geringe Informationsniveau, über das die US-amerikanischen Bürger
durchschnittlich (!) verfügen. Zwar gilt die in den 1950er Jahren prominent von Gabriel
Almond und Walter Lippman vertretene Ansicht, die öffentliche Meinung sei ebenso
unbeständig wie inkohärent und sei deshalb für Formulierung US-amerikanischer Politik (zu
Recht) kaum relevant, mittlerweile als überholt.272 Dennoch erscheint es bedenklich, dass auch
keine neueren Studien
„…[are] based on some newly found evidence that the public is in fact well informed
about foreign affairs. Not only do polls repeatedly reveal that the mass public has a very
thin veneer of factual knowledge about politics, economics, and geography; they also
reveal that it is poorly informed about the specifies of conflicts, treaties negotiations with
other nations, characteristics of weapon systems, foreign leaders and the like.”273
Dementsprechend ist auch die Wahlbeteiligung extrem gering: Seit den den 1960er und 1970er
Jahren sind die amerikanischen Werte stetig gesunken, so dass sich dort nun die
zweitniedrigste bzw. sogar niedrigste Wahlbeteiligung aller demokratischer Staaten feststellen
lässt.274 Neben Uninformiertheit (Bürger mit höherem Bildungsstand gehen statistisch gesehen
häufiger zur Wahl) und allgemeinem Desinteresse sind auch die Tücken des amerikanischen
270
271
272
273
274
Zu diesem Umstand trägt auch bei, dass es in den USA viel weniger klar erkennbare politische Eliten gibt,
die eine einheitliche und sich vom Rest der Bevölkerung klar zu unterscheidende politische Linie verträte,
als es noch in den 1960er Jahren der Fall war. Vgl. Héritier, Adrienne: Politische Eliten, in: Jäger,
Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 315-329,
hier S. 315.
Kleinsteuber, Hans J. 1998: Massenmedien und öffentliche Meinung, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang
(Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 343-356, hier S. 354.
Vgl. Holsti, Ole 1992: Public Opinion and Foreign Policy: Challenges to the Almond-Lippmann Consensus,
in: International Studies Quarterly 36, S. 439-466, hier insbes. S. 442-445.
Holsti, Ole 1992: Public Opinion and Foreign Policy: Challenges to the Almond-Lippmann Consensus, in:
International Studies Quarterly 36, S. 439-466, hier S. 447. Problematisch erscheint hier auch, dass große
ethnische Gruppen innerhalb der USA noch immer nicht ausreichend in politischen Institutionen
repräsentiert sind (hier insbesondere Afroamerikaner und Latinos), was zur vielbeklagten
Politikverdrossenheit gerade unter diesen Gruppen führt.
Vgl. Schreyer, Söhnke 1998: Wahlsystem und Wählerverhalten, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang (Hg.):
Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 246-267, hier S. 249. In den letzten Jahren
lag die Beteiligung an Wahlen zu Senat und Repräsentantenhaus zum Teil deutlich unter 50%, bei
Präsidentschaftswahlen leicht darüber, wobei zumindest letztere nach 2001 leicht gestiegen ist, vgl. Daten
der Interparlamentary Union unter: <http://www.ipu.org/english/qksrch.htm> bzw. Angaben des U.S.
Census Bureau unter: <http://www.census.gov/population/www/socdemo/voting.html>, rev. 07.04.2006.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Wahl(männer)systems und die praktischen Schwierigkeiten bei der Stimmabgabe als Gründe
für diese keinesfalls rühmlichen Zahlen zu nennen.275
Dass aus solch ernüchternden Zahlen zur Informiertheit und Interessiertheit der USamerikanischen Öffentlichkeit am politischen Geschehen nicht geschlossen werden kann, dass
aus einer scheinbar passiven Bevölkerung nicht (wort)gewaltige Bürgerbewegungen entstehen
können, ist gerade in der amerikanischen Vergangenheit mehrfach unter Beweis gestellt
worden (s. o.). Aus diesem Grund und auch der hohen Wertschätzung, die der Volksmeinung
trotz allem entgegengebracht wird, gehört die Überprüfung von Präsident und Kongress, ob
Gesetzesvorhaben von der Bevölkerung begrüßt werden, mittlerweile zu den festen
Bestandteilen vieler Entscheidungsprozesse. Es ist allerdings fraglich, ob die Meinung des
Supreme Court, dass in den USA „[a]uthority (…) is to be controlled by public opinion, not
public opinion by authority ”,276 nicht nur de jure und de facto eingeschränkt richtig ist. Denn
nicht nur wird bei politischen Kontroversen seitens politischer Institutionen und Individuen
versucht, die öffentliche Meinung auf die eigene Seite zu ziehen, auch die Medien wirken bei
einem solchen going public als Meinungsmacher mit.
4.2.3 Medien
Die liberalen Grundsätze der US-Politik, die als Basis für eine beinah unregulierte Tätigkeit
von Lobbygruppen dienen und Einschränkungen der öffentlichen Meinungsfreiheit
auszuschließen scheinen, können auch als Grundlage dafür angesehen werden, dass die USamerikanische Medienlandschaft weitgehend ohne staatliche Einmischungen bleibt.277 Viel
mehr als staatlichen Vorgaben sind alle Medien den Prinzipien des freien Marktes
unterworfen, d.h. existentiell von Werbeeinnahmen und Einschaltquoten abhängig und damit
letztlich den (vermeintlichen) Bedürfnissen der Leser, Hörer und Zuschauer unterworfen.
Zwar existiert ein staatlich finanziertes Schulfernsehen (mit verschwindend geringen
275
276
277
Das the winner takes it all-Prinzip des amerikanischen Wahlrechts, nach dem alle Wahlmänner eines
Bundesstaates für einen Präsidentschaftskandidaten stimmen (sollen), wenn dieser auch nur wenige
Stimmen mehr auf sich vereinigen kann, als sein Gegenkandidat, machte es 2000 möglich, dass George
Bush zum Wahlsieger erklärt wurde, obwohl – auf nationaler Ebene gesehen – insgesamt weniger Bürger
für ihn gestimmt hatten, als für Al Gore. Zudem entbrannte im gleichen Jahr ein Streit über angeblich
verwirrende Abstimmungszettel und –maschinen, die v. a. in Regionen mit mehrheitlich demokratisch
gesinnter Bevölkerung zum Einsatz gekommen seien. Hinzu kommt, dass sich amerikanische Wähler, um
überhaupt zur Wahl zugelassen zu werden, zunächst selbst in Wählerlisten registrieren lassen müssen.
Fall West Virginia Board of Education versus Barnette aus dem Jahr 1943 (319 U.S. 624).
Das erste amendment zur US-Verfassung stellt bereits fest: „Congress shall make no law respecting an
establishment of (…) abridging the freedom of speech, or of the press”. Auch gibt es keine juristischen
Regelungen hinsichtlich möglicher staatlicher Zensur, was es z. B. Präsident Nixon 1971 unmöglich machte,
brisante Akten zum Vietnamkrieg unter Verschluss zu halten. Allerdings schränkte der Supreme Court seine
damalige Entscheidung im darauf folgenden Jahr wieder ein, indem er darauf hinwies, dass es auch kein
Recht auf Zugang zu und Berichterstattung über alle politischen Dokumente gäbe. Vgl. Hübner, Emil 2003:
Das politische System der USA. Eine Einführung, München, S. 98.
– 76 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Einschaltquoten), große öffentlich-rechtliche Rundfunk- oder Fernsehanstalten gibt es in den
USA jedoch nicht.278
Gerade aus deutscher Sicht mag es als Defizit erscheinen, dass vor diesem Hintergrund
„Journalismus in dem Verständnis des sogenannten ‚corporate journalism’ dafür da [ist], die
Marketing-Strategie des Medienunternehmens zu bedienen und nicht umgekehrt”.279 Dies
hindert eine Mehrheit der US-amerikanischen Bürger jedoch nicht daran, das im Kampf um
Einschaltquoten besonders unter Druck geratene Fernsehen als wichtigstes Medium
überhaupt (die durchschnittliche Einschaltzeit liegt bei ca. sieben Stunden pro Tag) und
überdies als wichtigste Informationsquelle anzusehen: Als solches bezeichnen es 2005
immerhin 66% der Bevölkerung, 55% nannten es darüber hinaus das glaubwürdigste
Medium.280 Möglicherweise sind diese Zahlen als später Widerhall der Entwicklung des typisch
amerikanischen investigativen Journalismus zu sehen.281 Heute erscheinen diese Zahlen
allerdings sehr problematisch, hält man sich vor Augen, dass Informations- und insbesondere
Nachrichtensendungen seit den 1970er Jahren auf ein Minimum gekürzt wurden – v.a., weil
das Publikum Meinungsumfragen zufolge viel weniger am politischen Geschehen interessiert
zu sein scheint.282 Neben der generellen Entpolitisierungstendenz der US-amerikanischen
Medienlandschaft
wurden
auch
die
Formate
der
Nachrichtensendungen
selbst
„markttauglicher“ gemacht: Gefragt sind v.a. kostengünstig zu beschaffende und leicht zu
visualisierende Informationen, die sich massentauglich vereinfachen lassen. Folglich machen
Meldungen aus dem Ausland – aufgrund nachzuliefernder Hintergrundinformationen und
evtl. teurer Auslandskorrespondenten – nur einen minimalen Bestandteil der Berichterstattung
aus, während die meisten politischen Berichte sich direkt auf das Geschehen in Washington
konzentrieren. Hinzu kommt ein hoher Personalisierungsgrad der Berichterstattung,
insbesondere was die Person des Präsidenten anbelangt, die in 80 Prozent der Meldungen im
Zentrum steht, während wesentlich seltener über Vorgänge im Kongress berichtet wird.
Letztgenannter Trend ist auch bei den US-amerikanischen Printmedien zu beobachten:
278
279
280
281
282
Im Folgenden wird ausschließlich auf das US-amerikanische Fernsehen und die Printmedien eingegangen.
Dem Rundfunk kommt weder im politischen Geschehen, noch in unserer Analyse eine bedeutende
Stellung zu.
Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der
Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 84.
Vgl. Angaben des Jahresberichts des Project for Excellence in Journalism der Columbia University: The
State of the News Media 2006 , online unter: <http://stateofthemedia.org/2006>, rev. 07.04.2006. S. auch
Kleinsteuber, Hans J. 1998: Massenmedien und öffentliche Meinung, in: Jäger, Wolfgang/Welz, Wolfgang
(Hg.): Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, München, S. 343- 356, hier S. 349.
Dieser ist auch als die wichtigste Ursache der Vertrauenskrise zu sehen, in die die politischen Eliten der
USA gerieten, als der Vietnamkrieg plötzlich im Wohlzimmer zu sehen war und die bis heute ein eher
misstrauisches Verhältnis zwischen Medien und Politik nach sich zieht.
Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der
Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 85.
– 77 –
Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
„There has been a de-emphasis in coverage of routine political and government news at
daily newspapers, too. (…) The end result often meant less attention to government by
daily newspapers, particularly, the hum-drum activities of agencies and legislative bodies
that once was the staple of news coverage.”283
Dahinter steht die veränderte Finanzierungsweise der Printmedien, die ihr Budget mittlerweile
zu 75 bis 85 Prozent aus Anzeigeneinnahmen beziehen. Die eigentliche Berichterstattung läuft
damit Gefahr, zum attraktiven (weil verkaufsträchtigen) Rahmen der Anzeigen zu
verkommen. Gegenüber der Popularität des Fernsehens sind die klassischen Printmedien in
den USA ins Hintertreffen geraten: Der Prozentsatz zeitungslesender US-Amerikaner sinkt
stetig der 50 Prozent-Marke entgegen, wobei die mit Abstand höchste Auflage noch immer
USA Today mit ca. 2 Mio. Lesern erzielt.284 Trotz starker Konkurrenz hat in den USA eine
Vielzahl größtenteils regionaler Zeitungen überlebt – allerdings nur durch den
Zusammenschluss in immer größer werdenden Medienkonzernen.285 Besonders großer
Meinungsmacht durch fundierte Berichterstattung, Kommentare und Analysen wird heute
insbesondere der Los Angeles Times, der New York Times, dem Wall Street Journal und der
Washington Post beigemessen, wobei uns die letzten drei als Quellen unserer Analyse dienten.
Die Gründung der New York Times und der Washington Post fiel noch ins 19. Jahrhundert,
beide gelten heute als eher linksliberal und gehören mit (wochentags) über einer Million bzw.
mehr als 700.000 Lesern zu den größten Zeitungen der USA. Als jüngste dieser drei Zeitungen
wurde 1889 das eher konservative und auf Wirtschaftsnachrichten ausgerichtete Wall Street
Journal gegründet, das bis vor wenigen Jahren noch mehr Leser verzeichnen konnte, als die
USA Today . Heute ist die Auflage auf ca. 1,8 Millionen Exemplare zurückgegangen.
Die oben skizzierten Entwicklungen könnten sicherlich mit dem Hinweis auf global zu
beobachtende ähnliche Tendenzen relativiert werden. Andererseits kommt gerade im Hinblick
auf die USA erschwerend hinzu, dass im gleichen Zug, wie die Medien ihr Interesse an der
Politik verlieren, die Politik immer stärker von der Medienberichterstattung geprägt wird. Dies
lässt sich letztlich auf die starke institutionelle Trennung von Präsident und Kongress
zurückführen, die mittlerweile weniger direkt, als über die Medien miteinander
kommunizieren, bzw. versuchen, die jeweils andere Seite mit Hilfe entsprechender
Berichterstattung und der daran anschließenden, gewünschten Resonanz in der Bevölkerung
unter Druck zu setzen. Dieser sogenannte going public-Mechanismus wurde zunächst nur
vom
US-Präsidenten
Kongressabgeordneten
283
284
285
genutzt,
mittlerweile
übernommen.
In
aber
letzter
auch
von
Konsequenz
einflussreichen
werden
wichtige
Underwood, Doug 1998: Market Research and the Audience for Political News, in: Graber,
Doris/McQuail, Denis/Norris, Pippa (Hg.): The Politics of News – The News of Politics, Washington:
Congressional Quarterly, S. 174.
Vgl. Angaben des Jahresberichts des Project for Excellence in Journalism der Columbia University : The
State of the News Media 2006 , online unter: <http://stateofthemedia.org/2006>, rev. 07.04.2006.
Hübner spricht von 80% der Zeitungen, die zu einem größeren Konzern gehören, wobei der größte die
Thompson-Gruppe mit allein 110 Zeitungen ist. Vgl. Hübner, Emil 2003: Das politische System der USA.
Eine Einführung, München, S. 97.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
Gesetzesvorhaben deshalb häufig der Presse vorgestellt, um für eine positive Grundstimmung
innerhalb der Bevölkerung zu sorgen, noch bevor sie im Kongress diskutiert werden.286 Auch
die fehlende Rückendeckung der Spitzenpolitiker durch Parteiapparate hat zur Folge, dass sie
durch eine mediengerechte Inszenierung ihrer Politik permanent versuchen, für das Vertrauen
der Bevölkerung, bzw. ihres Wahlkreises zu werben.
Aufgrund der enormen Bedeutung medialer Aufmerksamkeit für die US-Politik ist
insbesondere das Verhältnis von Medien und US-Präsidenten extrem reglementiert und
institutionalisiert worden: Neben dem White House Press Office bietet ein offizieller
Pressesprecher den Medien permanent eine feste Anlaufstelle im Weißen Haus. Das White
House Office of Communications dient dagegen einer gezielteren Beeinflussung der Medien
sowie als Auftrags- und Sammelstelle für Meinungsumfragen. Bis heute werden hier – jenseits
der Tagespolitik – auf den Präsidenten zugeschnittene politische Imagepflege betrieben und
große Medienkampagnen geplant, sowie Initiativen der Administration gegenüber dem
Kongress durch going public vorbereitet.
Gegenüber der Öffentlichkeitsarbeit des Weißen Hauses ist diejenige des Kongresses ins
Hintertreffen geraten. Unter anderem aufgrund dieser medialen Übermacht ist es für
Kongressabgeordnete schwer, sich kritisch gegenüber einem populären Präsidenten zu
positionieren. Auch die Administration hat zunehmend Probleme, alternative politische
Ansätze massenwirksam publik zu machen. Zumindest Außen- und Verteidigungsministerium
haben in den letzten Jahren jedoch eigene Informationsapparate aufgebaut.
4.3 Politische Kultur
Ohne weiter auf politikwissenschaftliches Gerangel um die Definitionsweise oder
Analysemöglichkeiten von politischen Kulturen eingehen zu wollen,287 sollen in diesem
Kapitel abschließend noch einige Grundprämissen und –einstellungen US-amerikanischer
Politik aufgezeigt werden. Teilweise sind sie in obigen Unterkapiteln bereits angeklungen, teils
werden sie in den folgenden Fallstudien weiter vertieft.
Möglicherweise lässt sich eine unterschwellige, spezifisch US-amerikanische politische
Kultur noch immer vergleichsweise einfach ausmachen – kann doch unterstellt werden, dass
spätestens seit dem 18. Jh. bewusst versucht wurde, eine politische Identität zunächst zu
286
287
Vgl. Pfetsch, Barbara: Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der
Bundesrepublik und den USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 71. S. für das Folgende: Pfetsch, Barbara:
Politische Kommunikationskultur. Politische Sprecher und Journalisten in der Bundesrepublik und den
USA im Vergleich, Wiesbaden, S. 76-81 und 95.
Das Problem wurde mit dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, verglichen, s. etwa Kaases
gleichnamigen Aufsatz: Kaase, Max 1983: Sinn oder Unsinn des Konzepts „Politische Kultur” für die
Vergleichende Politikforschung oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: Kaase,
Max/Klingemann, Hans-Dieter (Hg.): Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der
Bundestagswahl 1980, Opladen, S. 144-171. Für einen Standardtext zum Begriff der „politischen Kultur“ s.
Almond, Gabriel/Verba, Sidney 1963: The Civic Culture, Princeton.
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Pol i ti s c he s S ys te m de r U S A
kreieren und dann zu festigen.288 In der Harvard Enzyklopädie ethnischer Gruppen ist
entsprechend zu lesen: “ …a person did not have to be of any particular national, linguistic,
religious, or ethnic background. All he had to do was to commit himself to the political ideology
centered on the abstract ideals for liberty, equality and republicanism.” 289 Die hier genannten
Werte beschreiben nicht zufällig das genaue Gegenteil des politischen Alltags in den
Heimatländern der ersten Auswanderer. Diese Grundformel des „Amerikanismus“ ist häufig
auf enger gefasste Begriffe heruntergebrochen oder modifiziert worden.
Ebenfalls noch in der Frühzeit des „Projekts Amerika“ scheint die tiefe Überzeugung
(und der Stolz) zu wurzeln, ein mächtiges Land mit einer völlig neuen Gesellschaftsordnung
geschaffen zu haben, bzw. sogar God’s chosen people zu repräsentieren – und aus der
Erfahrung, neue Vorstellungen in die Tat umsetzen zu können, speist sich bis heute eine
optimistische Zukunftsorientiertheit US-amerikanischer Politik. Noch heute verfügen viele
Persönlichkeiten aber auch normale Bürger, die sich in der Tradition der puritanischen
Gründungsväter von God’s own country sehen, über ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein
für ihre Zivilreligion, mit dem freilich zunächst die Herrschaft über die Ureinwohner
Nordamerikas gerechtfertigt werden sollte.290 Andernfalls hätte man den Freiheitsentzug
ganzer Völker wohl kaum mit dem Dogma eines auf Freiheit beruhenden Staatswesens zu
begründen vermocht. Auch während des amerikanischen Bürgerkrieges, der sich
bekanntermaßen auch an der Kontroverse über die Zulässigkeit von Sklaverei entzündete,
wurde der Grundsatz, dass Freiheit eine elementare Voraussetzung menschlicher Existenz sei,
von keiner der beiden Parteien bestritten.291 Schließlich findet sich gerade die Freiheit von
politischer Unterdrückung an zentraler Stelle der Unabhängigkeitserklärung von 1776:
„[Men] are endowed by their Creator with certain inalienable Rights, that among these are
Life, Liberty (…) That whenever any Form of Government becomes destructive of these
ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it“.292
Die Grundprinzipien Freiheit und Würde sind hierbei in engem Zusammenhang zu sehen:
Die Freiheit, das Leben selbst zu bestimmen und die Würde, in dieser persönlichen Freiheit
respektiert zu werden bildeten schon früh einen Grundpfeiler der Debatten um die erste
amerikanische Verfassung, in der beide Werte schließlich als natürlich gegebene, also
vorstaatliche Grundprinzipien festgehalten wurden.
288
289
290
291
292
Vgl. Gleason, Philip 1980: American Identity and Americanization, in: Thernstrom, Stephan (Hg.): Harvard
Encyclopaedia of American Ethnic Groups, Cambridge, S. 31-58, hier S. 32.
Gleason, Philip 1980: American Identity and Americanization, in: Thernstrom, Stephan (Hg.): Harvard
Encyclopaedia of American Ethnic Groups, Cambridge, S. 31-58, hier S. 32.
Am augenscheinlichsten zeigt sich dies im Glauben an ein sog. Manifest Destiny , also die als schicksalhaft
empfundene „Zivilisierung“ durch Annektierung v. a. der westlichen Landesteile durch die „Anglo Saxon
race”. S. Stephanson, Anders 1995: Manifest Destiny. American Expansion and the Empire of Right,
New York.
Vgl. Timmermann, Marina 2000: Die Macht kollektiver Denkmuster. Werte, Wandel und politische Kultur
in den USA und Japan, Opladen, S. 77.
Absatz zwei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 04. Juli 1776.
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Auch, wenn sich die immer heterogener werdende Gesellschaft der Vereinigten Staaten
heute nicht mehr über einen „Grundprinzipienkamm“ scheren lässt, ist es doch erstaunlich,
wie kontinuierlich die grundlegenden normativen Überzeugungen, mit denen die
Gründerväter der USA einmal angetreten waren, über Generationen hinweg immer wieder
neu konstruiert wurden und bis heute nicht nur das Weltbild vieler US-Amerikaner, sondern
auch das Bild eines Großteils der Welt von den Vereinigten Staaten noch immer prägen.
Möglicherweise hängt das Überdauern dieser Identität auch mit dem Internalisierungsgrad für
die konstitutiven Normen zusammen, der sich mit Hofstadter folgendermaßen beschreiben
lässt: „It has been our fate as a nation not to have ideologies but to be one.”293
293
Hofstadter, Richard 1973 [1948]: The American Political Tradition and the Men Who Made It,
New York, S. 43.
– 81 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
5. Ausgangslage: Tabuentstehung und Internalisierung
5.1 Das internationale Folterverbot
Bevor wir uns den Diskussionen und Erosionsprozessen der letzten Jahre in den USA
zuwenden, sollen zunächst die beiden untersuchten Tabus sowie ihre Entstehung und
Wirkung vorgestellt werden, was uns letztendlich zu den Kriterien führt, anhand derer wir die
einsetzenden Erosionsprozesse festmachen können. Die folgenden Unterkapitel dienen also
als Folie, vor deren Hintergrund der Beginn, die Besonderheiten und die argumentativen
Strukturen der laufenden Erosionsprozesse erst deutlich werden.
Die verschiedenen Wirkungsweisen des Foltertabus sowie dessen frühere argumentative
Begründung erschließen sich am besten durch einen chronologischen Rückblick auf dessen
Entstehungsgeschichte, der im Zentrum dieses Unterkapitels steht (5.1.2). Eingeleitet wird es
jedoch durch einen kurzen Überblick über die heutigen, sich gegenseitig bestärkenden
Komponenten des Tabus (Punkt 5.1.1), während die abgeleiteten Kriterien zur Tabuerosion
im letzten Abschnitt (Punkt 5.1.3) vorgestellt werden.
5.1.1 Worin besteht das Foltertabu?
„Whatever one might say about torture, there appear to
be moral reasons for not saying it.” 294
Ebenso wie das nukleare Tabu weist auch das Folterverbot verschiedene Dimensionen auf,
deren sichtbarste Ausprägung jedoch seine rechtliche Komponente ist. Das Folterverbot ist,
neben dem der Sklaverei, eine der am stärksten kodifizierten Menschenrechtsnormen.295 Es
gilt absolut, da einschlägige Rechtstexte jegliche Ausnahmeregelungen ausdrücklich untersagen
und nahezu universell, da beinahe jeder Staat der Welt gleich mehrfach – auf internationaler,
regionaler und nationaler Rechtsebene – daran gebunden ist, wie im folgenden Unterkapitel
gezeigt wird.
Ein Blick in die Folterstatistiken von Amnesty International (AI) und anderen
Menschenrechtsorganisationen legt jedoch nahe, dass diese starke rechtlich Bindung
keineswegs mit einem hohen Maß an compliance einhergeht, denn in mehr als zwei Dritteln
aller Staaten wird gefoltert, in 70 davon systematisch und oftmals staatlich geduldet296 –
darunter allerdings nur in sehr wenigen Demokratien.297 Vielmehr als in der bloßen Befolgung
der Norm (so wünschenswert dies auch wäre) besteht der Kern des Foltertabus in der
294
295
296
297
Shue, Henry 2004: Torture, in: Levinson, Sanford (Hg): Torture. A Collection, Oxford, S. 47-60, hier S. 47.
Dies wird selbst von Menschenrechts-NGOs anerkannt. Vgl. etwa Lochbihler, Barbara 2005: Für eine Welt
frei von Folter, in: Psychosozial 28:2, S. 65-69, hier S. 66.
So kann eine Beteiligung der Polizei in 140 Ländern nachgewiesen werden. Vgl. Amnesty International
2000: Für eine Welt frei von Folter, Bonn, S. 8. Die Angaben beruhen auf Untersuchungen von Amnesty
International in 195 Ländern, die von 1997 bis 2000 durchgeführt wurden. Da beinahe jeder Staat versucht,
Folterungen auf seinem Territorium zu verschleiern, ist jedoch mit einer noch höheren Dunkelziffer
zu rechnen.
Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 17.
– 82 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Undenkbarkeit, das Folterverbot selbst in Frage zu stellen, indem Folter öffentlich als legitimes
Mittel dargestellt wird.298 Tatsächlich hat bisher kein Staat der Welt ein Recht auf Folter
eingefordert oder die auf seinem Territorium stattfindenden Folterungen zu legitimieren
versucht.299 Ähnlich dem internationalen Gewaltverbot wurde das Folterverbot bisher also
von staatlicher Seite her niemals rhetorisch unterlaufen.300 Darüber hinaus besteht auch ein
Verbot, im Fall eines Bruchs ernsthaft über die Gültigkeit der Norm zu diskutieren. Während
sich für einen Angriffskrieg, so er denn als humanitäre Intervention gedeutet werden kann, in
den letzten Jahren unterschiedliche argumentative Begründungsmuster herausgebildet haben,
kann dem Vorwurf, sich Folterungen schuldig gemacht zu haben, keine ernsthafte
Rechtfertigung entgegengesetzt werden. Ebensowenig bedarf es einer Erklärung der
KritikerInnen, warum diese Folter für falsch halten. Als etwa in den 1970er Jahren die USamerikanischen Geheimdienste beschuldigt wurden, im Rahmen ihrer unrühmlichen
Verstrickungen in Vietnam und Südamerika gefoltert zu haben, mussten weder die
aufgebrachten SenatorInnen Begründungen dafür vorbringen, warum sie Folter für etwas
Schlechtes hielten, noch wurden auf Seiten der Beschuldigten Argumente in Stellung dafür
gebracht, warum Folterungen in diesen Fällen doch angebracht seien, sondern von Seiten der
Verantwortlichen wortreich versichert, man werde die Anschuldigungen ernst nehmen und
das Übel umgehend abstellen.301 Das Tabu zu foltern ist also auch daran zu erkennen, dass
argumentative Begründungen auf Seiten seiner BefürworterInnen nicht nötig sind, da das
Tabu für alle selbstverständlich ist und Rechtfertigungen seitens der BrecherInnen des
Verbots nicht möglich sind, da sie den Schutzbereich des Tabus bereits verletzten und
deshalb als tabu gelten.
Dieses gesamtgesellschaftliche „Schweigetabu“ umfasst daneben eine psychologische
Komponente der Tabuisierung, nämlich die des Sprechens von Folterern und deren Opfern
über ihre Erfahrungen, der aufgrund ihrer Ausrichtung auf Individuen in dieser Arbeit
allerdings nur ein geringer Stellenwert zukommt. Interessant ist jedoch, dass eine Übertretung
des Foltertabus psychologisch gesehen nicht nur – wie von Freud beschrieben – den
298
299
300
301
Der Begriff „Foltertabu“ wird also nicht mit dem des Folterverbots synonym verwendet, da ersterer über
die rechtliche Komponente des zweiten weit hinausgeht. Das zusammengesetzte Wort „Foltertabu“ findet
im alltäglichen Sprachgebrauch zwar selten Verwendung, die Einstufung von Folter als Tabu ist jedoch
üblich. Als solches bezeichnen Folter nicht nur Vertreter von Menschenrechtsorganisationen (wie Kenneth
Roth, der Exekutivdirektor von Human Rights Watch (HRW) in einem Streitgespräch mit dem norm
challenger
Alan
Dershowitz
(online
unter:
<http://edition.cnn.com/2003/LAW/03/03
/cnna.Dershowitz>, rev. 19.07.2006), sondern auch Journalisten (etwa im special report des Economist vom
11.01.2003 unter dem Titel „Is torture ever justified? ”, S. 21), Juristen (z. B. Conor Geaty, Rechtsprofessor
an der London School of Economics: Geaty, Conor 2005: We must keep the last taboo, in: The Guardian,
19.04.2005) oder auch Politikwissenschaftler (etwa Allen, Jonathan 2005: Warrant to Torture? A Critique of
Dershowitz and Levinson, in: ACDIS Occasional Paper 2005:1, S. 1).
Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 1.
Auch der staatlichen Souveränität als einer grundlegenden Norm des internationalen Systems wird
rhetorisch Rechnung gezollt, da kein Staat in der Position des Angreifers gesehen werden möchte. Selbst
Hitler nahm für Deutschland in Anspruch, 1939 „nur“ zurückgeschossen zu haben.
Vgl. S. 151 der Arbeit.
– 83 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
BrecherInnen eines Tabus (hier also den Folterer) tabu werden lässt,302 sondern auch dessen
Opfer,
denn
beide
erfahren
häufig
eine
gesellschaftliche
Stigmatisierung.
Eher
selbstverständlich erscheint, dass es für ein soziales Umfeld schwierig ist, einen ehemaligen
Folterer wieder in die Gemeinschaft einzubinden, solange seine bzw. ihre Taten nicht
erfolgreich totgeschwiegen werden können. Auch Familien von Folteropfern fällt es aber
häufig ebenso schwer wie den Gefolterten selbst, zu akzeptieren, dass die (eigene) Person
physisch wie psychisch völlig der Gewalt einer anderen ausgeliefert war.303 Dieses
Verschweigen- und Weghören-Wollen des eigenen Umfeldes erschwert das Aufarbeiten der
eigenen Erfahrungen und damit eine Rehabilitierung ehemaliger Opfer wie TäterInnen
erheblich. Aufgrund des ewigen schlechten Gewissens „rächt sich” das Tabu deshalb häufig
„von selbst”, so liegen die Selbstmordraten auf beiden Seiten extrem hoch.
Die Frage, ob mit der Tabuisierung der Folter menschliche Triebe in Zaum gehalten
werden sollen, wie Freud es vermutete, ist schwerer zu beantworten. Einerseits gilt es zwar
aufgrund psychologischer Experimente als erwiesen, dass ein recht hoher Prozentsatz von
Menschen schnell zu Folterern gemacht werden kann (man denke nur an das berühmte
Milgram-Experiment), doch handelt es sich hier um die Ausbildung sogenannter „GehorsamsFolterer“, die aufgrund unreflektierter Autoritätshörigkeit handeln und nicht um die
„Sadismus-Folter“, zu der nur ein geringerer Teil der Menschheit fähig zu sein scheint.304
Andererseits basiert das Tabu eher auf der Vorstellung eines sadistischen Folterers als
Personifizierung ebenso triebhafter wie abgrundtief böser Motive. Auch wenn die Lust,
Menschen Schmerzen zuzufügen, sicherlich bei weitem nicht bei jeder und jedem ausgeprägt
ist, so lässt sich doch ein genereller Hang dazu, völlige Macht über andere zu erlangen und
auszuüben, schwer leugnen.
Im Gegenteil zum nuklearen Tabu liegt im Fall von Folterungen als einer bestimmten
Handlung kein zu ächtender (und zu achtender) Totem-Gegenstand äquivalent zu einer
Atombombe vor. Tatsächlich ist es besonders das Erschrecken über die Fähigkeit des
Menschen, diese Handlungen auszuüben, das uns eine Auseinandersetzung mit dem Thema
vermeiden lässt (und nicht etwa die Gefahr durch einen technischen Gegenstand, wenn dieser
auch erst vom Menschen geschaffen und aktiviert werden muss). So weist etwa Dershowitz
darauf
302
303
304
hin,
dass
Beschreibungen
von
Folterhandlungen
selbst
Menschen,
die
Vgl. Freud, Sigmund 1940: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und
der Neurotiker, London, S. 28. Interessanterweiseweise existiert zu dem Begriff „Folterer“, der ja eindeutig
auf einen männlichen Straftäter verweist, kein weibliches Pendant, obwohl sich bekanntermaßen auch
Frauen – allerdings erst seit kurzer Zeit – solcher Vergehen schuldig machen.
Vgl. zu den Schuldgefühlen des Opfers: Haas, Daniela 1997: Folter und Trauma – Therapieansätze für
Betroffene, Oldenburg, S. 73f. und zur Beziehung zu seinem sozialen Umfeld Ahmad, Salah/Müller Schöll,
Wiltrud 2002: Heilung durch Begegnung. Systematische Familientherapie mit Folterüberlebenden, in: Birck,
Angelika/Pross, Christian/Lansen, Johan (Hg): Das Unsagbare. Die Arbeit mit Traumatisierten im
Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin, Berlin, S. 95-106.
Vgl. Keller, Gustav 1991: Die Psychologie der Folter, Frankfurt am Main, S. 12ff. bzw. Milgram, Stanley
1995: Das Milgram-Experiment: zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Hamburg, S. 145ff.
– 84 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
selbstverständlich für die Todesstrafe Stellung beziehen, erschaudern lässt.305 Dies mag damit
zusammenhängen, dass mit Folterungen sofort archaische oder diktatorische Staatsformen
assoziiert werden (wie etwa mittelalterliche Gesellschaften oder Chile unter Pinochet) in denen
kein Bürger vor staatlicher Verfolgung sicher zu sein scheint, so dass sich der Zuhörerin –
weit häufiger als im Fall der Todesstrafe – automatisch in die Rolle des Opfers versetzt,
eventuell auch dessen Gefühl völligen Ausgeliefertseins nachvollzieht und so (zunächst) kaum
in der Lage ist, das Thema als abstraktes Problem aufzufassen. Zudem liegt die affektartige
Ablehnung von Folter und das Nichtwissenwollen um ihre Existenz in einem nicht nur in
westlichen Ländern vorherrschenden, diffusen Gefühl von Abscheu und Ekel begründet, das
allein die durch die Erwähnung des Themas aufkommt und ebenfalls an die gedankliche
Verbindung mit barbarischen „mittelalterlichen“ Praxen geknüpft ist – womit das Foltertabu
wiederum in zweierlei Hinsicht dem Freudschen Modell ähnelt: Erstens liegen die Wurzeln
des Tabus für die meisten Menschen tatsächlich im Dunkeln, bzw. irgendwo in den
Jahrhunderten nach der Inquisitionszeit und zweitens löst bereits der Gedanke an das
Verbotene negative Gefühle aus.306 Wie von Freud für die Kategorie des Totems beschrieben,
in die alle Gegenstände mit einer bestimmten Eigenschaft fallen, sind auch jegliche
Folterhandlungen tabuisiert, obwohl hier (wie auch im Fall des nuklearen Tabus)
Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten. Da die Frage, was bereits Folter und was „nur“
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt und ob in einem Fall ein Gefangener
erst gefoltert oder bereits für Verfehlungen bestraft wurde, in vielen Fällen nur schwer zu
entscheiden ist, verfolgen alle modernen einschlägigen Verträge einen umfassenden Ansatz,
der Folter wie auch unmenschliche Behandlung oder Strafe untersagt.307
Aufgrund der genannten Elemente der Tabuisierung von Folter ist es nahezu unmöglich,
ein positives Selbstbild zu entwickeln bzw. aufrechtzuerhalten und zugleich Folterungen offen
zu thematisieren. Dies gilt für Individuen wie für (VertreterInnen von) Staaten gleichermaßen;
auch auf internationaler Ebene stellt die Aufdeckung von Folterungen im eigenen Land einen
schweren Makel dar, der einer Verabschiedung aus dem Kreis der zivilisierten Nationen
gleichkommt. – Man denke nur an die schwierigen Verhandlungen der Europäischen Union
305
306
307
Dershowitz, Alan M. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge,
New Haven, S. 148.
„Alles, was die Gedanken auf das Verbotene lenkt, eine Gedankenberührung hervorruft, ist ebenso verboten
wie der unmittelbare leibliche Kontakt…”, Freud, Sigmund 1940: Totem und Tabu. Einige
Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, London, S. 37. Die Praxis der Folter
wird auch häufig mit der Inquisitionszeit in Zusammenhang gebracht, was insofern nachvollziehbar ist, als
in dieser Zeit besonders wahllos, brutal und häufig gefoltert wurde. Genau wegen der unkontrollierten
Ausbreitung und Anwendung dieser Methoden erscheint die Folter der Inquisitionszeit jedoch als krasse
Ausnahme vor dem Hintergrund vieler Jahrhunderte, in denen sie Teil „normaler“ Strafgesetzbücher und
Prozessordnungen war. Da sich die Diskussion um eine Abschaffung der Folter maßgeblich auf ihre
Anwendung im Rahmen alltäglicher Gerichtsverfahren bezog, wird hier auch nur auf diese
Verwendungsweise eingegangen. Vgl. aber für eine ausführliche Beschreibung des Stellenwertes von Folter
in der Inquisitionszeit Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller
Völker und Zeiten, Erftstadt.
So lautet auch die Bezeichnung der UN-Folterkonvention, s. S. 107 der Arbeit.
– 85 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
mit der Türkei, die auch mit dem Hinweis auf staatlich geduldete Folter immer wieder
verschoben worden sind. Ebenso wie die ersten Forderungen, Folter abzuschaffen, einem
neuen, auf die unbedingte Beachtung unveräußerlicher Menschenwürde bedachten
Gedankengut entsprangen, gingen auch die frühesten tatsächlichen Verbote Hand in Hand
mit der Durchsetzung einer modernen Staatsraison, die ganz auf die Beachtung des Wohls
jedes einzelnen Bürgers (zunächst noch nicht der Bürgerinnen) ausgerichtet war, wie im
Folgenden dargelegt wird. Aus heutiger Sicht erscheint ein Hinterfragen des Folterverbots
somit als Verrat am Gedankengut moderner Staatlichkeit – denn der Einsatz von Folter stellt
nicht
nur
eine
Missachtung
der
Menschenwürde
dar
(wie
es
bei
allen
Menschenrechtsverletzungen der Fall wäre), sondern zielt auf deren vollständige Negierung
ab: Durch die Folter soll der Willen des Opfers gebrochen und es so zur „benutzbaren Sache ”
herabgesetzt werden.308 Darüber hinaus stellt der Einsatz Folter auch die Grundlagen der
heutigen rechtsstaatlichen Ordnung in Frage, namentlich die generelle Unschuldvermutung
(wenn ein Schuldbekenntnis durch Folter erpresst werden soll) und die Möglichkeit des
Opfers, den Täter bzw. die Täterin innerhalb des Justizsystems zur Rechenschaft zu ziehen,
wie Reemtsma ausführt
„Warum hat – noch bin ich nicht genötigt zu schreiben: hatte – das Verbot der Folter
einen so zentralen Stellenwert in unserem modernen Verständnis von Sittlichkeit, dass es
zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass ein Verstoß dagegen zum
selbstverständlichen Skandal wird und dass eine Diskussion über ihre möglichte
Relegitimierung bisher eine Unmöglichkeit war? Deshalb, weil seine Suspendierung die
Idee des Rechtsstaats in ihrer Substanz beschädigte, auf der unsere moderne westliche
Kultur beruht. Rechtsstaat bedeutet, dass jede Maßnahme der Exekutive einer
unabhängigen rechtlichen Überprüfung – und zwar auch in Gang gesetzt durch den
Betroffenen – offen steht.“309
Welches Opfer würde nicht sein Vertrauen in ein Justizsystem verlieren, in dem Folterungen
legal angeordnet werden und das seine Menschenwürde derart missachtet? Eine Klage gegen
dieses System im Rahmen dieses Systems erscheint aus dieser Perspektive absurd.
Die skizzierten Dimensionen des Foltertabus – ungewöhnlich starke rechtliche
Kodifizierung, psychologische Tabuisierung, die mit einer generellen Verdrängung des
Themas einhergeht und gedankliche Verbindung mit den Wurzeln „zivilisierter Staatlichkeit“
– sind kaum voneinander zu trennen, sie haben im Zusammenspiel jedoch ein bis vor kurzem
unangreifbar scheinendes Tabu konstituiert, dessen Wirkung auf allen Ebenen vom
internationalen System bis zum Individuum hin deutlich wurde. Im Folgenden soll nun
umrissen werden, wie diese Ebenen sich – gegenseitig verstärkend – herausgebildet haben,
wobei im Vergleich zum „jungen“ nuklearen Tabu etwas weiter ausgeholt werden muss. Denn
zum Einen begannen die Diskussionen um ein Folterverbot lange vor der Gründung der
308
309
Bielefeldt, Heiner 2005: Folter und Recht. Ein Menschenrechtsprinzip in der Krise?, in: Psychosozial 28:2,
S. 19-26, hier S. 20.
Reemtsma, Jan Philipp 2004: Fratze im Spiegel. Zur Diskussion der Folter, in: Internationale Politik 59:6, S.
95-100, hier S. 98.
– 86 –
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USA, die diese Norm jedoch umgehend übernahmen, zum Anderen spielt die historische
Dimension für die Begründung des Tabus selbst (wie mit dem Hinweis auf das
„mittelalterliche“ dieser Praxis bereits angeklungen ist) eine wichtige Rolle.
5.1.2 Wie ist das Foltertabu entstanden, internalisiert und durchgesetzt
worden?
Das umfassende Foltertabu ist das Ergebnis eines Zusammenspiels rechtlicher Verbote und
gesellschaftlicher Stigmatisierungen, die bis heute fortbestehen. Sowohl die rechtliche
Absicherung der Norm als auch die soziale Ächtung von Folter fußen auf ethischen
Überlegungen, welche mit der Verselbstständigung des Tabus jedoch überflüssig wurden und
über Zeit verloren gegangen sind. Ein historischer Überblick über die Entstehungsgeschichte
der Folter erscheint kaum nötig, um die Entstehung, Durchsetzung und anschließende
Internalisierung des Folterverbots zu beleuchten310 und bereits die Rahmenbedingungen, in
denen sich die „Normkarriere“ des Folterverbots vollzog, können hier jedoch nur stark
verkürzt wiedergegeben werden, begannen die Diskussionen um ein solches Verbot doch
schon in der Antike. Genauere Betrachtung erfahren lediglich diejenigen Zeitabschnitte, in
denen Begründungen für ein Folterverbot aufkamen, welche für die Etablierung des
modernen Tabus eine wichtige Rolle spielten,311 nämlich in erster Linie die ethischphilosophischen Überlegungen der Frühaufklärung, deren rechtliche Umsetzung Ende des 18.
Jahrhunderts und die sich entwickelnde Tabuisierung von Folter im beginnenden 19.
Jahrhundert sowie – nach einem „Sprung“ von ca. 150 Jahren – die dem Wiederaufleben der
Folter zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschuldeten umfassenden internationalen
Folterverbote.
Frühe Normverfechter: Von der Renaissance zum ersten Folterverbot
„J’ose prendre le parti de l’humanité contre un usage
honteux à des chrétiens et à des peuples policés, et,
j’ose ajouter, contre un usage aussi cruel qu’inutile.” 312
In dem vorangestellten Auszug eines Briefs Friedrichs des Großen aus dem Jahr 1749 spiegelt
sich innerhalb eines Satzes die gesamte Bandbreite der Antifolterargumente zurückliegender
Jahrhunderte: Folter ist religiös betrachtet ebenso unzulässig wie einem modernen Staat
310
311
312
Vgl. hierzu aber die zwar auf widersprüchlichen Thesen basierenden, jedoch gleichermaßen interessanten
und umfassenden Überblicke von Peters (Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen
Befragung, Hamburg) und Schmoeckel (Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die
Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit
dem hohen Mittelalter, Köln) sowie für einen älteren Ansatz Helbing (Helbing, Franz 2004: Die Tortur.
Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten, Erftstadt).
Aus dem gleichen Grund wird auf die Darstellung der Folterdiskussion außerhalb des westlichen
Kulturkreises verzichtet, obwohl es insbesondere in China, Japan und Indien ähnliche
Einschränkungsprozesse gab.
Brief Friedrich des Großen aus dem Jahr 1749, abgedruckt in: Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und
Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und
Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 41.
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unangemessen und zudem grausam und unnütz. Sind die Vermutungen, dass der Brief an
einen französischen Philosophen (Voltaire?) gerichtet war, richtig, „wagt“ der König hier
jedoch weit weniger, als er vorgibt: Zwar hatte Friedrich II. acht Jahre zuvor als erster Regent
in Kontinentaleuropa ein Folterverbot gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt,313 doch
gehörte die hier zum Ausdruck gebrachte Ansicht in Kreisen nicht nur französischer
Intellektueller bereits seit Jahrzehnten zum common sense.
Rückblick: Kosten-Nutzen-Abwägungen antiker und mittelalterlicher Rhetoren
Die älteste Kategorie von Argumenten, die in Diskussionen über Folter eine Rolle spielten
und bei Friedrich mit dem Wort „inutile” zusammengefasst werden, sind rationale KostenNutzen-Kalküle hinsichtlich der Effizienz von Folter bei der Erlangung wahrer (!)
Geständnisse. Solche Überlegungen wurden bereits in der Antike angestellt. So wies
Aristoteles in seiner Ars Rhethorica darauf hin, dass Nützlichkeitsargumente sowohl wohl von
FolterkritikernInnen, wie auch –befürworternInnen verwandt werden konnten:
„Es besteht (…) keine Schwierigkeit, in Bezug hierauf [auf Folterungen, SoSchi] das
Passende zu sehen (…): wenn sie die eigene Sache begünstigen – sie seien unter allen
Zeugenaussagen die einzig wahren; wenn sie aber der eigenen Sache entgegen (…)
stehen, kann man ihren Wahrheitsgehalt zerstören, indem man gegen jegliche Art von
Folterung spricht; denn gezwungenermaßen sagt man ebenso gut die Unwahrheit wie die
Wahrheit, indem man dabei verharrt, die Wahrheit nicht zu sagen, während andere
leichter zur Lüge bereit sind, um schneller befreit zu sein.“314
Solchen Nützlichkeitserwägungen kam auch im Mittelalter ein hoher Stellenwert in der
Diskussion um die Anwendung von Folter zu – was heute, nach der Tabuisierung, per se
inhuman und damit illegitim erscheint, war aus damaliger Perspektive durchaus verständlich.
Die letzten Jahrhunderte des römischen Imperiums waren ebenso wie weite Abschnitte des
Mittelalters von hohen Verbrechenszahlen gekennzeichnet, denen eine recht geringe
Aufklärungsrate gegenüberstand. Dies war nicht nur dem Fehlen eines modernen
Polizeiapparates geschuldet, sondern auch dem Mangel an inzwischen selbstverständlichen
Beweismitteln wie etwa Fingerabdrücken. Um Angeklagte rechtskräftig verurteilen zu können,
waren die Richter auf Zeugenaussagen angewiesen und für den Fall, dass keine
Augenzeugenberichte oder freiwilligen Geständnisse vorlagen, lag es nahe, mögliche
ZeugInnen oder auch den bzw. die Angeklagte(n) selbst zu foltern.315 Die damalige
313
314
315
S. S. 92 der Arbeit. Kurzzeitige Aussetzungen bzw. starke Einschränkungen der Folterpraxis hatte es zuvor
bereits in Schweden und Aragon gegeben. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die
Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit
dem hohen Mittelalter, Köln, S. 55 ff.
Sieveke, Franz G. (Hg.) 1995: Aristoteles: Rhetorik, München, S. 80.
Über die Jahrhunderte gab es immer wieder Änderungen des Status von Folter im Rechtsprozess sowohl
hinsichtlich der betroffenen Personen (ZeugInnen/Angeklagte selbst), deren sozialer Herkunft
(SklavInnen/BürgerInnen/WürdenträgerInnen) sowie der Umstände, unter denen Folter erlaubt war (u.a.
Anzahl der Augenzeugen, Zulassen von Indizienbeweisen, Notwendigkeit von Voruntersuchungen oder
Einspruchsmöglichkeiten) und der Beweiskraft des eventuell erzielten Geständnisses, welches meist mit
zeitlichem Abstand zur Folterung wiederholt werden musste. Erstaunlich ist jedoch, dass die Einbettung der
Folter in den Rechtsprozess einer unkontrollierten Ausbreitung dieser Praxis entgegengewirkt zu haben
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folterkritische Literatur verweist insbesondere auf die dilemmatische Situation des Richters,
der oft keine andere Wahl als die Anordnung von Folter habe, um zumindest eine Chance auf
die Ermittlung der Wahrheit zu bekommen, obwohl auch ihnen durchaus bewusst sei, dass es
zur Folterung Unschuldiger und zu falschen Geständnissen kommen könne. So galt Folter
zwar spätestens zu Beginn des 16. Jahrhundert als res fragilis et periculosa, die nicht nur
Unschuldige treffen konnte, sondern auch zu einer Benachteiligung Schwacher durch eine auf
einem schnellen Geständnis basierende Verurteilung und einer Bevorzugung kräftigerer
Personen, die nach überstandener Folter ohne Geständnis freigelassen werden mussten,
führte.316 Dennoch wurde sie weiterhin unter der Annahme akzeptiert, dass es ohne die
zugleich abschreckende und aufklärende Funktion der Folter zu noch mehr Straftaten und
damit mehr Ungerechtigkeiten kommen würde. Um den Verbrechen in diesen Epochen Herr
zu werden und zu einer allgemeinen Konsolidierung und Durchsetzung staatlicher
Gewaltmonopole beizutragen, fielen die damals angestellten Kosten-Nutzen-Rechnungen also
noch für eine Beibehaltung der Folter als Rechtsmittel aus.
Unter heutigen Umständen macht eine Anwendung von Folter zumindest zur Erlangung
eines Geständnisses einer bereits begangenen Tat wenig Sinn, die Kosten-Nutzen-Abwägung
schien sich aber bereits im 18. Jahrhundert in Richtung einer Abschaffung der Folter zu
verschieben. (Mit)Verantwortlich dafür war das Aufkommen des modernen Beweisrechts und
eine durch die Einführung von Haftstrafen veränderte Strafpraxis: Zu Unrecht Verurteilte
konnten nun aus Gefängnissen entlassen werden, während sie früher hingerichtet worden
wären.
Moralische und naturrechtliche Argumentation der Frühaufklärung
Es ist fraglich, ob der Wandel hin zu den ersten Folterverboten in erster Linie von
Rechtsüberlegungen geleitet wurde oder nicht vielmehr moralische Überzeugungen
ausschlaggebend waren, wie sie vor allem in der Frühaufklärung populär wurden. Denn die
ersten beiden wichtigen Schriften für eine Abschaffung der Folter wurden schon in den
1620er Jahren vorgelegt und damit lange vor den ersten Justizreformen hin zu einem
modernen Beweisrecht.317 Wie von Aristoteles beinah vorhergesagt, begründeten die frühen
316
317
scheint. Folter blieb weitgehend eine Ausnahmeerscheinung, deren Ablauf und Härtegrad stark
reglementiert war und blieb. Hierzu trug auch bei, dass Richter für überzogene Folterungen zur
Rechenschaft gezogen werden konnten (vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen
Befragung, Hamburg, insbes. S. 86ff).
Schmoeckel gibt für die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts an, dass ca. zwei Drittel der auf richterlichen
Beschluss Gefolterten nicht gestanden hätten und deshalb freigesprochen wurden. Vgl. Schmoeckel,
Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des
gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 486.
Es handelte sich zum Einen um eine 1522 publizierte Fassung von Augustinus De Civitate Dei, die der
Herausgeber, Juan Luis Vives, mit kritischen Kommentaren versehen hatte. Vives Mentor, Erasmus von
Rotterdam, lehnte die Veröffentlichung des Werkes zwar ab, auf anderen Wegen publiziert gehörten Vives
Schriften jedoch Anfang des 17. Jahrhunderts zu den meistgelesenen in Europa (vgl. Schmoeckel, Mathias
2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des
gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S.112f.). Die erste Monographie
– 89 –
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Foltergegner ihre Forderungen ähnlich denen älterer Gelehrter, nur zogen sie daraus andere
Schlüsse – nämlich dass Folter nicht trotz ihres zweifelhaften Nutzens im Gerichtsprozess
beibehalten werden müsse, um die Gesellschaft als Ganze zu schützen, sondern sie aufgrund
der negativen Folgen abzuschaffen, die sie für das einzelne (möglicherweise unschuldig
gefolterte und verurteilte) Individuum habe. Deutlich spiegeln sich hier die Ideale der
Renaissance wider, die den Menschen und dessen irdische Existenz ins Zentrum ihrer von
einer humanistischen Moral geprägten Überlegungen (bzw. Kosten-Nutzen-Rechnungen)
stellen. Die revolutionäre Annahme, dass eine Gesellschaft weniger gottgegeben, als vielmehr
das sei, was ihre Mitglieder aus ihr machten, ermöglichte auch die Forderungen nach einer
Ausrichtung (vor)staatlicher Autorität auf den einzelnen Bürger und einer Vorbildfunktion der
Herrschenden, die durch harte und brutale Gesetzgebung wie Folterungen ein Klima der
Gewalt und eine Verrohung der Sitten heraufbeschwören würden318 – was vor dem
Hintergrund moderner Staatlichkeit noch immer aktuell wirkt. Allerdings konnten die
damaligen Autoren ihre Annahme, dass eine Welt ohne Folter möglich sei, kaum mehr als
durch vage Andeutungen auf andere Völker stützen, die ohne diese Praxis zurecht kämen,319
so dass neben diesen bereits humanistisch-moralisch unterfütterten Nützlichkeitsargumenten
andere Argumentationslinien an Relevanz gewannen.
Noch von Vives und Grevius stammt die Behauptung, dass Folter unchristlich sei, welche
sich (wie man an dem Brief Friedrichs sieht) über Jahrhunderte hinweg hielt und sich heute in
der Dichotomie zivilisierten und barbarischen Verhaltens wiederfindet. Möglicherweise liegt in
dieser Argumentationsweise humanistischer Neuerer, die sich (nicht immer ganz korrekt)
gegenüber dem auslaufenden spätmittelalterlichen Glaubens- und Gesellschaftsformen
abgrenzen wollten, der Kern unserer Assoziation von Folter mit „düsterem Mittelalter“ und
„Barbarei“ – also einer zunächst bewussten „Archaisierung“ dieser Praxis – begründet,
obwohl die Abschaffung der Folter erst ca. 200 Jahre später durchgesetzt wurde.
Viel stärker als in früheren Schriften traten nun auch moralisierende Argumentationen
gegenüber Kosten-Nutzen-Kalkülen in den Vordergrund, in denen dem humanistischen Ideal
des zivilisierten Umgangs aller miteinander die Figur des aus sadistischen Impulsen heraus
handelnden Folterers gegenübergestellt wurde. Montaigne und seine Nachfolger prägten einen
neuen, subjektiv gefärbten Stil, indem sie ihre Gefühle etwa bei öffentlichen Folterungen und
318
319
gegen Folter mit dem Titel „Tribunal reformatum”, die durch einen Abdruck in einer frühen Enzyklopädie
ebenfalls weit verbreitet war, verfasste zum Anderen der Kalvinist Johannes Grevius 1624 (vgl. Baldauf,
Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 186f.).
Diese Argumentation fand sich v.a. in den Essais von Montaigne, die 1580, also knapp 60 Jahre nach Vives
Kommentaren, erstmals publiziert wurden, vgl.: Enzensberger, Hans Magnus 2004: Michel de Montaigne:
Essais. Erste modernde Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt am Main, S. 537.
Angespielt wurde v.a. auf England, das jedoch ein anderes Rechtssystem entwickelt hatte (s. S. 96
der Arbeit).
– 90 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Hinrichtungen schilderten und ihre sachliche Argumentation so durch das beim Leser erregte
Gefühl des Mitleids bzw. des Ekels erfolgreich zu stützen vermochten.320
Das Verhalten eines rational und moralisch reflektierten honnête homme, der grausame
Folter selbstverständlich ablehnte, wurde darüber hinaus identitätsstiftend für die kommenden
Generationen französischer Intellektueller und prägt bis heute das Bild eines aufgeklärten
Mitglieds der Gesellschaft. Gleichzeitig mit stärker moralisierenden Argumentationsweisen
bildete sich also auch eine identitätsstiftende Wirkung der Gegnerschaft von Folter auf drei
Ebenen heraus, nämlich erstens christliche versus barbarische Zivilisation, zweitens eine auf
das Wohl der Bürger ausgerichtete versus veraltete mittelalterliche eher der Willkür des bzw.
der Herrschenden ausgelieferte Gesellschaft und drittens ein aufgeklärter und mitfühlender
honnête homme gegenüber sadistischem Folterer. Wer sich mit den positiv besetzen Gruppen
identifizieren wollte, musste quasi automatisch zum Foltergegner werden – damit war die
Ablehnung von Folter Anfang des 18. Jahrhunderts zumindest unter der aufgeklärten
Oberschicht zum Selbstläufer geworden. Übertragen in die Terminologie der Normtheorie
ergibt sich hier also der interessante Befund, dass für die Identifikation mit einer bestimmten
Identität (Humanismus) compliance mit einer für jene Gruppe konstitutiv wirkenden
Forderung nach der Einführung einer noch gar nicht kodifizierten regulativen Norm nötig
war und dies eine Art Norm-Forderungskaskade auslöste.
Dass ein weiter Kreis von Menschen Folter ablehnen müsse, war für die Nachfolger
Vives, Grevius und Montaignes eine Selbstverständlichkeit, gingen sie doch bereits davon aus,
dass Folter etwas zutiefst Unnatürliches sei, da solcherlei Gewaltanwendungen dem
menschlichen Wesen widerstrebten und sie die Persönlichkeit und Integrität der BürgerInnen
verletzen. Deutlich werden hier zum Einen die Parallelen zu frühen Staatstheoretikern, die
bereits in Richtung der Entwicklung eines Naturrechts wiesen, welches zunächst Leib und
Leben einer Person, später auch deren Würde als vorstaatlich gegeben und dem Willen der
Herrschenden nicht, bzw. nur in Ausnahmefällen unterworfen ansahen.321 Zum Anderen,
jedoch ebenfalls im Gedanken natürlich gegebener menschlicher Eigenschaften wurzelnd,
wuchs die Bedeutung des von Montaigne aufgebrachten Ekel- und Schamgefühls in der
320
321
Zentral sind hier die beiden Essays „Über die Grausamkeit“ (Buch II, XI) und „Feigheit ist die Mutter der
Grausamkeit“ (Buch II, XXVII), beide 1580 erschienen und aktueller abgedruckt in: Enzensberger, Hans
Magnus 2004: Michel de Montaigne: Essais. Erste modernde Gesamtübersetzung von Hans Stilett,
Frankfurt am Main, S. 210-217 bzw. S. 343-347.
Auf den Punkt gebracht wurde der Zusammenhang von Naturrecht und Folterfreiheit nicht von Hobbes,
der sich für Folter in Ausnahmefällen aussprach oder Locke, von dem keine solchen Aussagen bekannt
sind, sondern von Pierre Bayle, der vor dem Hintergrund der damals wütenden Religionskriege eine
Privatsphäre für jeden Bürger forderte, in der er vor Eingriffen des Staates geschützt sei. Das Gewissen und
die Würde, aber auch der Körper des Menschen seien gottgegebene Werte und müssten folglich der Gewalt
des Staates entzogen werden. Selbst zur Verfolgung legitimer Zwecke dürfe der Herrscher keine Mittel
anwenden, die in anderen Fällen als Verbrechen gelten würden. Vgl. insbesondere sein „Historisches und
kritisches Wörterbuch“ (Gawlick, Günter/Kreimendahl, Lothar 2003: Pierre Bayle: Historisches und
kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl, Hamburg) und seine „Philosophischen Kommentare“ (Tannenbaum,
Amie Godman 1987: Pierre Bayle’s ‚Philosophical Commentary’. A Modern Translation and Critical
Interpretation, New York.).
– 91 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Folterdiskussion, da sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts ein neues Körpergefühl eingestellt
hatte, mit dem offene Wunden und andere „Verunreinigungen“ des natürlich gegebenen
Körpers zunehmend als hygienisch unrein und somit scham- und ekelerregend empfunden
wurden. Es versteht sich von selbst, dass sich auch diese Komponente in der (Nicht-)
Diskussion von Folter bis heute gehalten hat. Tatsächlich tauchten parallel zur Entwicklung
dieses neuen Körpergefühls erste Belege einer Tabuisierung des Sprechens über die
Folterpraxis auf: Als 1670 eine neue Ordonnance criminelle für ganz Frankreich ausgearbeitet
wurde, schien bereits die Nennung einzelner Foltermethoden das Schamgefühl der
redigierenden Juristen zu verletzen, denn es galt als äußert indezent, die erlaubten Arten
aufzuzählen.322 Vermutlich auch weil die damaligen Richter in Frankreich bei der Anwendung
von Folter wie seit Jahrhunderten anwesend zu sein hatten, schränken sie deren Anwendung
in der Praxis stark ein.
Preußens Beweis der praktischen Umsetzbarkeit des Folterverbots
Als Friedrich II. 1740 das erste Folterverbot erließ,323 galt Folter, wie er selbst schrieb, also
weithin bereits als Instrument von zweifelhaftem Nutzen, war als unchristlich verschrien,
wurde als gleichzeitig mitleid-, scham- und ekelerregend empfunden sowie wesentlich seltener
angewandt, als in vergangenen Jahrzehnten. Wenn hiermit die Grundlagen eines Foltertabus
bereits gelegt waren, compliance mit der noch nicht verschriftlichten Norm bereits weitgehend
vorhanden sowie die Ablehnung der Folter zum Aushängeschild europäischer Intellektueller
geworden war, zu denen Friedrich sich selbst gern zählte, warum glaubte er dennoch, mit der
Einführung dieser regulativen Norm noch etwas Riskantes zu wagen?
Trotz der Seltenheit der Fälle, in denen Folter Mitte des 18. Jahrhunderts noch angewandt
wurde, liefen Preußens Juristen Sturm gegen das neue Gesetz. Sie fürchteten vor allem um die
abschreckende Wirkung der Folter, ohne die Schwere und Häufigkeit von Straftaten
sprunghaft ansteigen könnten sowie um den Einsatz der Folter als unverzichtbares letztes
Mittel zur Erlangung eines Geständnisses im Strafprozess, dem noch immer ein hoher
Stellenwert zukam. Schriften aus diesen Reihen für die Beibehaltung von Folter wiesen
entsprechend auf die Praxiserfahrung der Juristen hin, von denen einige meinten, Meinungen
der Foltergegner generell als Phantasien weltfremder Idealisten abtun zu können. Dass diese
Gruppe sich beinah geschlossen gegen eine Kodifizierung des Folterverbots stellte, ist umso
erstaunlicher, als einige andere Juristen auch in Preußen aus moralischen Gründen bereits
theoretisch gegen Folter eingestellt waren.324 Hieran zeigt sich, dass diese Gruppe weniger
322
323
324
Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 490. Zudem
bezeichnet die Ordonnance Folter als „un usage ancien.”
Die Ordre zur Abschaffung der Folter erließ Friedrich II. am 03.06.1740, also nur wenige Tage nach seinem
Amtsantritt. Ihr Wortlaut ist u.a. abgedruckt in: Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche
Rechtsgeschichte, Köln, S. 179.
Personifiziert wurde dieser Widerspruch in der Person des obersten Pariser Richters Lamoignon, der zu
Protokoll gab, dass er für die generelle Abschaffung von Folter, dies jedoch seine Meinung als Privatmann
– 92 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
durch einheitliche Moralvorstellungen zusammengehalten wurde, als durch ein grundlegend
anderes Staatsverständnis, als Friedrich II. es proklamierte: Während sie zum Teil zwar das
Leid Einzelner anerkannten und nun auch für moralisch ungerechtfertigt hielten, glaubten sie
noch, die Sicherheit der Gesellschaft als Ganzes durch eine generelle Abschaffung der Folter
aufs Spiel zu setzen. Nach Friedrichs Logik einer primär auf das Wohl jedes Einzelnen
ausgerichteten Staatlichkeit, die letztlich in einer besseren Gesellschaft aller resultieren würde,
machte es dagegen durchaus Sinn, mit einem Folterverbot die Freisprechung 20 Schuldiger zu
riskieren, wenn damit ein einziger Unschuldiger vor der grausamen Tortur geschützt werden
konnte.325 Da der Monarch schon zuvor alle Todesurteile und Folterungen persönlich hatte
genehmigen müssen, konnte er die Einhaltung seines Gesetzes recht gut überwachen,
gelegentliche Anfragen seiner Gerichte, ob nicht doch gefoltert werden könne, wies er
regelmäßig ab. Da die Richter weder den Anweisungen ihres Königs widersprechen, noch sich
gegen eine „breite gesellschaftliche Front” stellen wollten, „welche die Anwendung der Folter
als unschicklich und unzulässig empfand ”,326 stellte sich bei dieser Gruppe also eine Art
instrumentelle Anpassung ein. Dass es schließlich zu einem Mentalitätswandel auch innerhalb
dieser direkt für Folterungen verantwortlichen Gruppe kam, hing zum Einen damit
zusammen, dass Preußen nach 1740 bekanntlich nicht im Chaos versank, die Kosten-NutzenRechnung, nach der Folter zur Abschreckung und Aufklärung von Verbrechen als notwendig
eingestuft wurde, sich also als Fehlkalkulation entpuppte und zum Anderen mit der nun
forcierten Änderung des allgemeinen Strafrechts (wie etwa der Entwicklung der
Kronzeugenregelung), die sich in der Phase der europaweiten Ausweitung des Folterverbots
noch beschleunigte und vertiefte.327
Erleichtert wurde die Akzeptanz des neuen Gesetzes allerdings auch durch eine Reihe von
Einschränkungen: Erstens wurde Friedrichs Ordre zunächst nicht öffentlich, sondern nur den
betroffenen Justizbeamten zugänglich gemacht. Insbesondere aus heutiger Sicht bedenklich
ist, dass Friedrich, zweitens, Folter ausdrücklich als letztes Mittel zuließ, wenn er die Sicherheit
des Staates selbst in Gefahr sah. Das erste nationale Folterverbot galt, ähnlich wie die meisten
folgenden europäischen also noch nicht absolut – Fälle von Hochverrat (sog. crimen laesae
majestatis)
325
326
327
und
Landesverrat
sowie
einige
besonders
schwere
Straftaten
waren
sei. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und
die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 135.
Vgl. Friedrichs Essay „Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen“ von 1749, abgedruckt in:
Taureck, Bernhard 1986: Friedrich der Große und die Philosophie. Texte und Dokumente, Stuttgart, S. 91.
Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 481.
So wurde es zunächst in Deutschland, dann in ganz Europa geradezu Mode, Essays über die Reform des
Strafrechts zu schreiben, oft angeregt durch Preisausschreiben wie 1777 in Bern, für das Friedrich II. selbst
das Preisgeld sponserte, welches Voltaire, der selbst am Wettbewerb teilnahm (aber nicht gewann) zu
verdoppeln versprach. Vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der
Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen
Mittelalter, Köln, S. 75.
– 93 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
ausgenommen.328 Diese Art von Einschränkungen wurzelte zwar in der bereits im 13.
Jahrhundert bekannten Kategorie des crimes exeptum, also einer besonders schweren Straftat,
mit der weitreichende Abweichungen vom üblichen Rechtsverfahren gerechtfertigt wurden,
war jedoch insofern neu, als im 18. Jahrhundert nicht mehr der Verrat am Herrschenden
selbst im Vordergrund stand, sondern die abstrakte Bedrohung der Funktionsfähigkeit der
Institution Staat und seiner BürgerInnen. Drittens traten bereits kurz nach dem Erlass des
Gesetzes Probleme bei der Definition dessen auf, was als Folter zu gelten habe und was nicht:
So war u.a. zunächst unklar, ob ein Richter mit Folter drohen durfte, solange das Gesetz noch
geheim und ob das Schlagen von Angeklagten den sonst üblichen Foltermethoden
gleichzustellen war.329 Indem in den ersten Jahrzehnten nach der Einführung des
Folterverbots klar wurde, dass das Wegfallen dieses Instruments nicht die befürchteten
negativen
Auswirkungen
hatte,
erstarb
schließlich
auch
die
Forderung
nach
Ausnahmeregelungen. Zeitgleich wurde die Folter in vielen Nachbarländern Preußens
verboten.
Norm entrepreneurs der Aufklärung: Die Internalisierung des Folterverbots
„Tant d’habiles gens, et tant de beaux génies ont écrit contre
l’usage de la torture, que je n’ose parler après eux. J’allais dire
qu’elle pourrait convenir dans les gouvernements despotiques
[…] mais j’entend la voix de la nature contre moi. “ 330
Obwohl dem ersten Folterverbot über Jahrhunderte hinweg eine argumentative Grundlage
bereitet worden war, erstaunte die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Geltungsbereiches
dieser regulativen Norm auf ganz Europa und dessen Kolonien doch Zeitgenossen wie
Historiker:331 In den ersten vier Jahrzehnten nach Friedrichs Ordre war eine erste große Welle
neuer gesetzlicher Regelungen durch Europa gerollt, die letzten territorialen und sachlichen
Ausnahmeregelungen fielen bis 1820. Ein Grund für diesen für die damalige Zeit rasanten
Wandlungsprozess war sicherlich die Propagierung der preußischen Norm durch norm
entrepreneurs in Form europäischer Intellektueller, die sich zum Teil schon vor Friedrichs
Entscheidung gegen Folter ausgesprochen und nun auch ein praktisches Vorbild und
Rechtsbeispiel hatten, auf das sie rekurrieren konnten. So hielt Voltaire die Würfel nach der
erfolgreichen Durchsetzung des Verbots in Preußen für bereits gefallen, da mit dem Beweis,
dass eine Rechtsordnung ohne Folter praktisch umsetzbar war, die gerade auf dem Bonus
praktischer Erfahrungen basierende Argumentationslinie der FolterbefürworterInnen
328
329
330
331
Zu letzteren zählte vielfacher Mord und die denunziatorische Folter bereits überführter Täter zur
Aufdeckung krimineller Netzwerke. Vgl. Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte,
Köln, S. 179f.
Vgl. Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 181.
Montesquieu, Charles 1979 [1748]: De l’esprit des lois VI,17, Paris, S. 220.
Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 108.
– 94 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
zusammengebrochen war.332 Einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten neben den Schriften
Voltaires zur Folterfrage insbesondere diejenigen Montesquieus und des Mailänders Cesare
Beccaria, deren Werke zwar kaum neue Argumente enthielten, die älteren jedoch stilistisch so
geschickt formulierten und zusammenfassten, dass die Schriften Vives oder Montaignes bald
beinahe in Vergessenheit gerieten. So fand Beccarias gut strukturierte Kurzfassung der
bisherigen Antifolterargumentation LeserInnen bis in die höchsten Kreise und erregte auch in
den gerade gegründeten Vereinigten Staaten großes Aufsehen.333
Wie internalisiert die Ablehnung von Folter damals war, verdeutlicht dagegen das
Eingangszitat Montesquieus: Zum Einen gesteht er, der Anti-Folterdiskussion kaum noch
etwas hinzufügen zu können; die Bandbreite der Argumente für ein Verbot scheint also
bereits ausgeschöpft. Zum Anderen betont er, dass sich ein (originelleres) Nachdenken über
eventuelle Ausnahmen von selbst verbiete – dies widerstrebe seiner bzw. generell der Natur
des Menschen. Aufgrund seines eigenen Gewissens erteilt sich Montesquieu hier also selbst
und von vornherein ein Denkverbot über die Möglichkeiten eines legitimen Einsatzes von
Folter, was bereits deutlich in Richtung einer Tabuisierung des Themas weist. Da sich der hier
hervorgehobene Gedanke eines natürlichen Rechts bzw. einer natürlichen Moral auch in der
Bevölkerung weitgehend durchgesetzt hatte, konnten Folterverbote nach 1740 vermutlich
auch deshalb schnell in Form regulativer Normen durchgesetzt werden, da die
Internalisierung dieser Norm ihrer Kodifizierung scheinbar in vielen Ländern vorausging .
Gleichzeitig klingt mit Montesquieus Verweis auf despotische Staaten, in denen Folter
vielleicht noch am ehesten angewandt werden könne, wieder die Trennung in zivilisierte,
folterverbietende Nationen einerseits und Folter erlaubende „Barbarenstaaten“ andererseits
an. Zu diesen despotischen und archaischen Staaten wollten wohl insbesondere die
protestantischen Reiche in der Nähe Preußens nicht länger gezählt werden, denn ihre
Herrscher folgten als erste dem Schritt Friedrichs II.334 Erst auf Druck der Bevölkerung
schafften auch die ersten katholischen Herrscher Folter in ihren Reichen ab, wie etwa in der
Toskana, deren Großherzog dem französischen König Louis XVI. riet, dem Wunsch seines
Volkes nach einem Folterverbot zu entsprechen, unter dem sich ja mit am frühsten solche
Forderungen verbreitet hatten. Normtheoretisch kann also vom Einsetzen einer
Normkaskade um das Jahr 1770 gesprochen werden, wobei die jeweiligen RegentInnen
332
333
334
Vgl. Voltaire, François-Marie Arouet 1986 [1766]: Kommentar zu dem Buch „Über Verbrechen und
Strafen“ von einem Anwalt aus der Provinz, in: Mensching, Günther: Voltaire. Republikanische Ideen,
Frankfurt am Main, S. 33-88, hier S. 59.
Belegt sind u.a. die Lektüre Beccarias „Dei delitti e delle pene” durch Katharina die Große, Kaiser Leopold
II. und den ersten US-Präsidenten Thomas Jefferson. Vgl., wie auch für die zentralen Passagen des Textes,
Baldauf, Dieter 2004: Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, S. 198-200.
Dass viele protestantische Herrscher dem Beispiel Friedrichs schnell folgten, mag auch daran gelegen
haben, dass sie mit ihm verwandt waren. Die ersten dieser Staaten waren Mecklenburg, Dänemark und
Schweden. Für eine genauere und ausführliche Übersicht der ersten Folterverbote nach dem Friedrichs II.
vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 64-74.
– 95 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
teilweise gleich fünffach unter Druck gerieten, die nationale Gesetzgebung zu ändern: Zu den
Forderungen der Bevölkerung (1. bottom up -Prozess) kam das von jener als positiv erachteten
Beispiel von immer mehr Staaten (2. quantitative Kaskadenfunktion, s. S. 29 der Arbeit), deren
HerrscherInnen teilweise auf eine Übernahme ihrer Gesetze drängten (3. Einfluss
ausländischer Regierungen) sowie die Furcht vor einem schlechten Image, das ein Herrscher
bzw. eine Herrscherin für sich selbst und sein bzw. ihr Land durch die Beibehaltung der Folter
riskierte (4. frühes naming and shaming sowie 5. Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Gruppe als modern angesehener Staaten). Maßgeblich vorangetrieben und
zugleich am meisten gebremst wurden solche Vorhaben von Gruppen des gebildeten
Bürgertums bzw. des Adels, nämlich weiterhin von aufgeklärten norm entrepreneurs auf der
einen und konservativ gestimmten Justizbeamten auf der anderen Seite, wobei letztere durch
die anlaufenden generellen Strafrechtsreformen teilweise das Lager wechselten.
Das Antifoltergesetz Louis XVI. war der letzte souveräne Rechtsakt des Monarchen vor
der Französischen Revolution, in deren Verlauf das Recht auf Freiheit von Folter auch
während der Phase des terreur nicht eingeschränkt wurde. Im Gegenteil deutet Art. 9 der
Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen auf dieses Recht hin;335 die Ordonnance des
Königs von 1788 fand sich zudem in den Gesetzbüchern der Revolutionszeit und denen der
nachfolgenden Stabilisierung der politischen Verhältnisse wieder.336 Die Eroberungen
Napoleon Bonapartes taten ein Übriges, um diese Strafrechtsreformen auch in denjenigen
Ländern durchzusetzen, die sich der Folterverbotswelle noch nicht angeschlossen hatten, wie
etwa in Spanien.
Drei Wurzeln des Folterverbots in den Vereinigten Staaten
Dass Napoleon nach 1815 keine Gelegenheit mehr hatte, das französische Strafrecht in
England einzuführen, hatte hinsichtlich der Folterfrage keinerlei Relevanz, denn in
Großbritannien hatte sich mit dem common law ein völlig anderes Rechtssystem als auf dem
Kontinent etabliert, das in den meisten Fällen eine Urteilsfindung durch eine Jury aus
Laienrichtern vorsah, für welche die Zeugen- und Geständnisfolter keine Rolle spielte. Da das
common law zum Einen aus Gewohnheitsrecht, zu dem auch die Magna Charta gehörte,
abgeleitet und im dementsprechend Folter verbietenden Bürgerlichen Gesetzbuch
zusammengefasst wurde und zum Anderen aus königlichen Verordnungen bestand, mussten
Ausnahmen vom allgemeinen Folterverbot vom König/von der Königin bzw. seinem/ihrem
335
Die Formulierung „[d]a jeder solange als unschuldig anzusehen ist, bis er für schuldig befunden wurde,
muss, sollte seine Verhaftung für unumgänglich gehalten werden, jede Härte, die nicht für die
Sicherstellung seiner Person notwendig ist, vom Gesetz streng unterbunden werden,” weist darauf hin, dass
336
Folterungen zur Erlangung eines Geständnisses, welches später zu einer Verurteilung führen kann,
untersagt sind.
Es handelt sich hier allerdings nicht um den berühmten Code Civil, sondern um den Code des délits et des
peines, erlassen 1791, den Code d’instruction criminell aus dem Jahr 1808 und den Code pénal von 1810.
Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 127 bzw. S. 156 sowie
zu den Auswirkungen der napoleonischen Eroberungspolitik S. 127.
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En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Rat, der sog. Star Chamber, genehmigt werden.337 Als Anhaltspunkte dafür, dass das
Folterverbot in England schon lange vor dem Friedrichs II. nicht nur institutionalisiert,
sondern auch weitgehend internalisiert war, kann, erstens, die Seltenheit solcher Ausnahmen,
die größtenteils bei Fällen von Hochverrat durch die Star Chamber angeordnet wurden,
gewertet werden. Zweitens spricht auch die ablehnende Haltung des Parlamentes gegenüber
dem Versuch Heinrichs VI., Folter einzuführen, dafür wie auch, drittens, die heftigen Proteste
der Bevölkerung, als die Mitglieder Star Chamber unter Elisabeth I. immer eigenmächtiger zu
agieren begonnen und sich für eine Einführung der Folter nach dem Vorbild des
kontinentaleuropäischen Rechts ausgesprochen hatten, aufgrund derer schließlich alle
Ratsherren ihres Amtes enthoben werden mussten.338
Anders als in England, wurde das französische Strafrecht in einigen von Frankreich
dominierten Territorien außerhalb Europas eingeführt, wie zum Beispiel in Ägypten und
Mexiko sowie in den damals noch französisch kontrollierten Gebieten Nordamerikas. In den
bereits zu den Vereinigten Staaten zusammengeschlossenen Provinzen der Ostküste waren
teilweise zuvor schon Verfassungen erlassen worden, deren ausdrückliche Zusicherung einer
individuellen Privatsphäre, die natürlich auch den eigenen Köper vor staatlichen Zugriffen
schützen sollte, Folterverbote einschloss.339 Auf nationaler Ebene enthält insbesondere das
fünfte der ersten zehn unter dem Begriff bill of rights bekannt gewordenen amendments zur
US-Verfassung von 1789 ein Folterverbot:340 Mit dem Auskunftsverweigerungsrecht ist jeder
Person vor und während einer Inhaftierung wie auch vor Gericht garantiert, sich nicht selbst
belasten zu müssen – was zu dieser Zeit ja der Zweck gerichtlicher Folterungen war.341 Wie
auch diese Regelung entwickelte sich das US-amerikanische Recht aus dem des Mutterlandes
Großbritannien, das keinerlei Folterungen vorsah, ging in einigen Punkten jedoch noch
darüber hinaus – etwa, indem in einzelnen Bundesstaaten auch die in England üblichen
verschärften Bedingungen der Beugehaft (sog. peine forte et dure) untersagt oder vor der
337
338
339
340
341
So schrieb Wiliam Blackstone in seinem Gesetzeskommentar von 1769, Folter sei „ ein Werkzeug des
Staates, nicht des Gesetzes ”. Zitiert nach Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung,
Hamburg, S. 140. Blackstone interpretierte auch den Satz der Magna Charta „Nullus liber homo aliquo modo
destruatur, nisi per legale judicium parium suorim aut per legem terrae” als generelles Folterverbot.
Vgl. Brian, Innes 1998: Die Folter. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit, S. 88.
Vgl. etwa Art. 8 der Verfassung von Pennsylvania, in der auch das Recht, sich in einem Prozess nicht selbst
belasten zu müssen, besonders betont wird, Art. 1 der Verfassung von Virginia sowie die Präambel der
Verfassung von Massachusetts, abgedruckt und abgeglichen in: Jellinek, Georg 1996 [1904]: Die Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte, Schutterwald, S. 46-58.
Vgl. Brugger, Winfried 1987: Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von
Amerika, Tübingen, S. 304f. Der Zusatzartikel lautet: „No person shall be held to answer for a capital, or
otherwise infamous crime, unless on a presentment or indictment of a Grand Jury, except in cases arising in
the land or naval forces, or in the Militia, when in actual service in time of War or public danger; nor shall
any person be, subject for the same offence to be twice put in jeopardy of life or limb; nor shall be compelled in
any criminal case to be a witness against himself, nor be deprived of life, liberty, or property, without due
process of law; nor shall private property be taken for public use, without just compensation.”
Das seit den 1960er Jahren bei jeder Verhaftung zu verkündende sog. Miranda-Warning , nach dem
Angeklagte u.a. das Recht haben, zu schweigen, ist durch seine mediale Verbreitung heute nicht USAmerikanerInnen geläufig. Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung,
Hamburg, S. 130.
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Unabhängigkeit Anordnungen der Star Chamber zu Folterungen nicht ausgeführt wurden.342
Ebenso wie zunächst in Europa war die compliance-Rate mit diesen Regelungen in den USA
sehr hoch: Bis ins 20. Jahrhundert lassen sich – juristisch betrachtet – keinerlei Hinweise auf
ein Unterlaufen dieser Gesetze feststellen. Selbst der bekannte Fall der „Hexenjagd“ von
Salem 1692 lief wohl ohne Folterungen der Angeklagten ab, die allerdings größtenteils
hingerichtet wurden.343 Ähnlich widersprüchlich muss aus heutiger Sicht der brutale Umgang
mit SklavInnen in den amerikanischen Kolonien und später in den Vereinigten Staaten
anmuten, die beim geringsten Verdacht insbesondere des Verrats ihrer Herrschaft körperlich
bestraft oder gehängt wurden. Diese Handlungen wurden jedoch nicht als Folter, sondern als
Privatangelegenheiten gewertet, da sie weder im Rahmen eines juristischen Verfahrens noch
aufgrund staatlicher Anordnungen erfolgten. Eine andere Definition hätte sich mit dem
damals bereits sehr ausgeprägten Selbstbild der USA auch nicht vertragen, verstand sich die
Nation doch insbesondere in Menschenrechtsfragen als Vorreiter und allgemein als Prototyp
einer aufgeklärten Gesellschaft.344 Tatsächlich waren sie in Menschenrechtsfragen allen
kontinentaleuropäischen
Nationen
insofern
voraus,
als
sich
bereits
ihrer
Unabhängigkeitserklärung von 1776 das Konzept einer universellen Gültigkeit der
Menschenrechte fand, welches in Europa erst 13 Jahre später durch die Französische
Revolution verbreitet wurde. In der bereits oben angeführten Eröffnungsformulierung
„We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are
endowed by their Creator with certain inalienable Rights, that among these are Life,
Liberty and the pursuit of Happiness“
kommt darüber hinaus der Gedanke zum Ausdruck, dass die elementarsten Rechte des
Menschen keiner argumentativen Begründung bedürfen – sie sind (gott-) gegeben und
damit unhinterfragbar.
Aber auch die Strafpraxis der USA nahm einige Reformen vorweg, die in Europa erst
später zu rechtlichen Rahmenbedingungen einer konsequenten Durchsetzung des
Folterverbots wurden. Ganz im Sinne unveräußerlicher Menschenrechte und Menschenwürde
richtete sich das Augenmerk US-amerikanischer Reformer nicht mehr nur auf den Schutz
Unschuldiger (wie etwa durch die due process-Klausel),345 sondern auch auf den humanen
Umgang mit bereits verurteilten Schuldigen. Diese Einstellung wurde insbesondere durch die
Ausrichtung von Haftstrafen primär auf eine Besserung und nicht auf eine Bestrafung des
342
343
344
345
Vgl. Brian, Innes 1998: Die Folter. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit, S. 98.
Vgl. Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten,
Erftstadt, S. 482.
Über die Verbindungen der USA zur europäischen Aufklärung ist viel geschrieben worden – sowohl im 18.
und 19. Jahrhundert (vgl. z.B. Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ von 1835), wie auch in den
nachfolgenden Jahrhunderten (vgl. z.B. Jellinek, Georg 1996 [1904]: Die Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte, Schutterwald), so dass dieser Befund hier kaum wiederholt werden muss.
S. S. 68 der Arbeit.
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Verurteilten346 und das Verbot unangemessener und unmenschlicher Strafe im achten
amendment zur US-Verfassung praktisch umgesetzt.347 Aus heutiger Sicht mag ebenso
erstaunlich klingen, dass sich die jungen Vereinigten Staaten auch durch den Aufbau sehr
bürgernaher und –freundlicher Polizeieinheiten hervortaten.
Diese in humanistischen Idealen wurzelnden Regelungen sind besondere vor dem
Hintergrund der Geschichte der Vereinigten Staaten verständlich – hatten seit 1620 doch viele
frühe EinwohnerInnen gerade aufgrund der politischen Missstände, zu denen auch
Folterungen zählten, Europa den Rücken gekehrt bzw. waren vor ihrer Migration selbst
politisch und religiös verfolgt und gefoltert worden. Wie schon zuvor in Europa setzten sich
diejenigen, die direkt oder indirekt Folteropfer geworden waren, am lautesten für ein
generelles Verbot ein.348 Ihrer Forderung nach einer vor staatlichen Eingriffen geschützten
Sphäre der Bürger, die deren Leib und Leben, ihr Gewissen, ihre Würde, ihre
Religionszugehörigkeit wie auch ihr Eigentum umfasst, ist den Gesetzen der USA in
besonderer Weise entsprochen worden – so wurden gleich fünf Artikel der bill of rights dem
(Rechts-) Schutz der Einzelperson gewidmet,349 die bis heute das politische Grundverständnis
der Nation und deren individualistisches Konzept der Menschenwürde prägen.350 Die
Tatsache, dass in der Geschichte der USA niemals legal gefoltert werden durfte, ist also v.a.
auf drei Quellen zurückzuführen: Erstens auf das noch vom Mutterland Großbritannien
beeinflusste Rechtssystem, in dem Folter kein Bestandteil des Gerichtsverfahrens war,
zweitens auf die persönlichen Erfahrungen der frühen EinwohnerInnen der Vereinigten
Staaten, die ihre persönlichen Rechte in der neuen Gesetzgebung in besonderer Weise
berücksichtigt sehen wollten und drittens auf die enge Verbindung nicht nur der
346
347
348
349
350
S. zu diesem Einstellungswandel prominent Foucault, Michel 1994 [1976]: Überwachen und Strafen. Die
Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main.
Das achte amendment, das in der heutigen Folterdiskussion wie auch das fünfte häufig zitiert wird, lautet:
„Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments
inflicted.” Es wurzelt noch in den britischen sog. Habeas Corupus-Gesetzen (s. S. 68 der Arbeit) und
verbietet alle Strafen, die von der Gesellschaft abgelehnt, unangemessen und entwürdigend sind. In den
USA wurde bis vor kurzem das achte amendment als Verbot jeglicher Folterungen interpretiert. Dagegen
konnte sich ein generelles Verbot der Todesstrafe (die als akzeptiert sowie in manchen Fällen
verhältnismäßig und angemessen gilt) unter Hinweis auf diesen Zusatzartikel bekanntlich bisher nicht
durchsetzen, obwohl Gerichte die Verhängung der Todesstrafe in einzelnen Fällen häufig aufgrund dieses
Artikels ablehnen.
Vives und Montaigne gehörten ehemals jüdischen Familien an, die Opfer der spanischen Inquisition
geworden worden waren, Grevius wurde als Kalvinist selbst Opfer politischer Verfolgung und Folter. Vgl.
Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln,
S. 112 bzw. 123.
Es handelt sich hierbei um die amendments vier bis acht, in denen neben dem Recht, im Gerichtsprozess zu
schweigen, im achten Artikel auch das Verbot von „cruel and unusual punishments” auf das frühe
Verständnis menschlicher Würde verweist, vgl. Heller, Francis H. 1987: USA. Verfassung und Politik, Wien,
S. 41 sowie Brugger, Winfried 2002: Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der
USA, Berlin, S. 42.
Vgl. S. 80 der Arbeit bzw. zum Vergleich des eher gesamtgesellschaftlich ausgerichteten,
kontinentaleuropäischen Konzepts der Menschenwürde (wie es sich etwa bei Kant findet) mit dem auf die
Schutzsphäre des Individuums ausgerichteten, wie es in den USA vorherrscht Brugger, Winfried 2002:
Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, Berlin, S. 47 f.
– 99 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Gründungseltern der USA mit der europäischen Aufklärung, die Folterungen im Anschluss an
den Diskurs auf dem Kontinent „natürlich“ ablehnten, obwohl auf ihrem Territorium mit
britischer Rechtstradition dieses Mittel ja nie zum Einsatz gekommen war.
Mit Blick auf die gesamte westliche Welt scheint also letztlich das Zusammenspiel des
Engagements populärer Intellektueller, deren Forderungen von der breiten Bevölkerung
aufgenommen und in Form verstärkten Drucks an die Obrigkeit weitergegeben wurden,
genauso zur Auslösung einer Kaskade von Folterverboten beigetragen haben, wie der
geglückte Schritt Friedrichs II., mit dem der Preußenkönig ein politisches Symbol hatte setzen
können. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war eine entsprechende regulative Norm in fast allen
europäischen Staaten sowie in einigen europäischen Kolonien verschriftlicht worden, die
Intellektuellen und – soweit man dies beurteilen kann – wohl auch ein Großteil der
Bürgerschaft hatten eine ablehnende Haltung Folterungen gegenüber bereits zuvor
internalisiert und auch die nun mit neuen strafrechtlichen Methoden experimentierende
Gruppe der Juristen zeigte sich mehr und mehr von der Anwendbarkeit und moralischen
Richtigkeit des Verbots überzeugt. Einer vollständigen Tabuisierung der Folter stand nichts
mehr im Wege.
Scham und Ekel: Emotionalisierung und Tabuisierung der Folterdiskussion
„Die Folter hat für immer aufgehört zu existieren.” 351
Ebenso wie bei der schnellen Durchsetzung nationaler Rechtsnormen gegen Folter waren
norm entrepreneurs maßgeblich daran beteiligt, den Boden für eine gesamtgesellschaftliche
Tabuisierung von Folter zu bereiten. In der Klassik lebten die Ideale der Renaissance, nun
verbunden mit dem moderneren Gedankengut der Spätaufklärung, wieder auf, generelle
Ablehnung erfuhr damit nicht nur alles, was in irgendeiner Weise an das bereits als archaisch
und barbarisch geltende Mittelalter erinnerte, sondern auch die Grundeinstellungen und
Praktiken des ancien régime, die den Wert jedes einzelnen menschlichen Wesens
(insbesondere der nicht-adeligen darunter) verkannt habe. In einer nach der natürlichen
Reinheit Arkadiens strebenden Gesellschaft, deren Ideale der Einfachheit, Leichtigkeit und
Klarheit sich in Architektur, Mode und Prosa spiegelten, konnten selbst Gedanken an die
grausam-blutigen Praktiken in düsteren Folterkellern nicht anders als störend empfunden
werden. Spätestens jetzt wurde Folter nicht mehr als rationales Instrument einer
überkommenen Rechtsordnung aufgefasst, sondern als vor dem Hintergrund menschlichen
Einfühlungsvermögens völlig entartete und vor allem irrationale Praxis, die bereits einer
dunklen Vergangenheit anzugehören schien. Entsprechend fanden die drastischen
Schilderungen Montaignes, mit denen er ca. 230 Jahre zuvor erstmals Mitleid bei seinen
LeserInnen erwecken wollte, nun gar keine LeserInnen mehr, wie überhaupt nur noch wenige
Abhandlungen mit aktuellem Bezug über Folter erschienen. Publiziert wurden lediglich einige
351
Aussage Victor Hugos aus dem Jahre 1874, zitiert nach: Klingst, Martin 2004: Ein bisschen Folter gibt es
nicht, in: Die Zeit, 49.
– 100 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Werke von Historikern, die sich mit dem bereits als ad acta gelegten geschichtlichen
Abschaffungsprozess der Folter beschäftigen, wobei auch sie selten auf die juristische und
gesellschaftliche Problematik eingingen, die durch die Abschaffung der Folter in früheren
Jahrhunderten hätte entstehen können, sondern allein die moralische Überzeugungskraft
humanistischer und aufklärerischer Gedanken und Empfindungen als ausschlaggebend
hinstellten.352 Letztlich ist es für die Tabudiskussion im Rahmen dieser Arbeit also
unerheblich, ob die Abschaffung der Folter stärker durch juristische Reformen oder
moralische Überzeugungen begünstigt wurde – wichtig ist, dass der Abschaffungsprozess als
dem „Licht der Aufklärung“ geschuldet wahrgenommen wird und die damit verknüpften
moralischen Überzeugungen schon damals die rational geführte
Auseinandersetzung um einen potentiellen Nutzen von Folter vergessen ließen.
juristische
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand also endgültig keine Notwendigkeit mehr, die
Ablehnung von Folter argumentativ zu begründen: Foltergegnerschaft wurde als natürlich
gegeben angenommen, eine Rückkehr dieser Praxis nach dem Zeitalter der Vernunft wurde –
dem damaligen Fortschrittsglauben entsprechend – für unmöglich gehalten.353 Diese Ebene
einer internalisierten Norm, die zum Teil ja bereits im vorangegangenen Jahrhundert
anzutreffen war, wurde nun durch eine Tabuisierung von Folter überlagert. Es war nicht nur
nicht mehr nötig, gegen Folter zu argumentieren, Debatten um dieses Thema waren auch
kaum noch möglich, da eine Positionierung für Folter gesellschaftlich nicht mehr als rational
begründbare und damit legitime Meinung akzeptiert wurde und ein offenes Sprechen über
Folter generell als unangemessen und ekelerregend galt: „Die Grausamkeit der Folter wurde so
intuitiv empfunden, daß sie nicht mehr rational nachvollzogen werden mußte ”,354 wobei
„[g]erade die stereotype Wiederholung des Grausamkeitsarguments, welches nicht weiter
ausgeführt wurde, (…) auf die Sicherheit eines bis ins Unbewußte verhafteten Urteils und ein
352
353
Vgl. etwa die allerdings erst 1866 erschienene Abhandlung des US-amerikanischen Historikers Henry
Charles Lea (zitiert nach Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S.
109): „In der allgemeinen Aufklärung, welche die Reformation verursachte und begleitete, schwanden
langsam jene Leidenschaften dahin, die die strengen Institutionen des Mittelalters hatten entstehen lassen.
(…) Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit werden universale Liebe und Mitmenschlichkeit, die
die Grundlage des Christentums bilden, als Fundamente der menschlichen Gesellschaft angesehen. (…)
Angesichts der langsamen Evolution der Jahrhunderte können wir unseren Fortschritt nur durch den
Vergleich mit weit zurückliegenden Zeiten feststellen; aber nichtsdestoweniger gibt es einen Fortschritt, und
zukünftige Generationen werden vielleicht in der Lage sein, sich ganz von der grauen und willkürlichen
Herrschaft des Aberglaubens und der Gewalt zu befreien.”
Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 137. Schmoeckel weist
über den Einzelfall der Folter zu dieser Zeit hinaus darauf hin, dass „die basalen Rechtsüberzeugungen einer
Gesellschaft weniger logischer Natur sind, vielmehr ihre Kraft gerade daraus beziehen, daß sie rational nicht
weiter hinterfragt werden. (…) Der Mensch, der seine Empfindung und letztlich seine Natur zu beachten
lernte, handelte natürlicher, d.h. menschlicher.” Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison.
354
Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts
seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 572.
Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 499.
– 101 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
zugrunde liegendes Ekelgefühl hindeute[t].”355 Kurz nach dem Fall der letzten nationalen
Ausnahmeregelungen um 1820 waren Diskussionen um das Thema Folter tabu.
Vor diesem Hintergrund wirkt vielleicht weniger erstaunlich, dass der konservative
Umschwung, der weite Teile Europas im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erfasste und
vielerorts mit empfindlichen Einschränkungen der bereits erkämpften bürgerlichen
Freiheitsrechte, durchgesetzt durch massive Polizeipräsenz, einherging, nicht zu einem
Wiederaufleben der Folter führte. Tatsächlich sind aus dieser Zeit der Wächterstaaten keinerlei
Folterungen bekannt, so dass das Eingangszitat Hugos vor dem Hintergrund heutiger
historischer Kenntnisse als zutreffend eingestuft werden kann.356 Hinsichtlich der Lage in den
ländlichen Gebieten der neuen (süd-)westlichen Provinzen der USA gibt es jedoch
widersprüchliche Hinweise: Einerseits scheint die Annahme, dass sich die verantwortlichen
Beamten des „Wilden Westens“ zu jeder Zeit, auch der des Bürgerkrieges, an die hohen
Rechtsstandards der Ostküste gehalten haben, schwer begründbar und tatsächlich gibt es
Hinweise darauf, dass teilweise mit Gewalt erpresste Geständnisse sogar vor Gericht
Verwendung fanden, während einschlägige Quellen die Vereinigten Staaten auch für diese Zeit
als „folterfreie Zone“ ausweisen.357 Möglicherweise war die Einstellung, in den USA als
zivilisierter Nation habe Folter keinen Platz mehr, bereits so tief verwurzelt, dass man
zunächst keine Untersuchungskommissionen einrichten wollte (oder gar nicht an einen
solchen Schritt dachte), die gegenteilige Hinweise hätten liefern können. Denn Folter galt bis
in das 20. Jahrhundert hinein zumindest in Europa und Nordamerika als „Antithese der
Menschenrechte, als ärgster Feind einer menschlichen Rechtsordnung und des Liberalismus, als
größte Bedrohung für Recht und Vernunft, die im 19. Jahrhundert vorstellbar war.”358
Die Möglichkeit von Folterungen war soweit aus dem Bewusstsein verdrängt, dass man
keinen Anlass sah, sich im frühen Kriegsrecht vor der Zeit der beiden Weltkriege dagegen
abzusichern.359 Dies mag auch eine Erklärung dafür sein, dass das Wiederaufleben der Folter
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst nicht thematisiert wurde – mit der
Tabuisierung hatte das Nichtwissenwollen um Folter eingesetzt.
355
356
357
358
359
Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 572.
Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 158.
Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 14.
Vgl. Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung, Hamburg, S. 109.
Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 49.
– 102 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Tabuisierte non-compliance: Die universellen Folterverbote des 20. Jahrhunderts 360
„Tief betroffen, dass Folter immer noch in
verschiedenen Teilen der Welt praktiziert wird…” 361
Obwohl Versuche, Folter wieder zu legalisieren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in
(demokratischen wie totalitären) westlichen Staaten wieder auftraten, setzte sich nur wenige
Jahrzehnte später auch auf internationaler Ebene die Interpretation durch, dass die Ablehnung
von Folter zunächst ein „elementares Gemeingut […] der europäischen Zivilisation” gewesen
sei, welches erst später „zunehmend weltweit anerkannt” wurde und dass das gesetzliche
Verbot von Folter als „Spezifikum der europäischen Kultur unabhängig davon, inwieweit die
staatliche Praxis gegen das Verbot verstößt” verstanden werden müsse.362 Auf diese Lesart
verweist auch die eingangs zitierte erste Präliminarklausel einer Resolution der UNGeneralversammlung von 1973, mit der diese ihren Entschluss bekannt gab, eine AntiFolterkonvention ausarbeiten zu wollen.
In den ersten, noch stark von dem Schock über die Gräueltaten insbesondere des Zweiten
Weltkrieges geprägten internationalen Menschenrechtsdeklarationen taucht Folter dagegen
nur als ein Verbrechen unter vielen auf. So wurde die Anwendung von Folter in Kriegszeiten
gegen Kriegsgefangene wie Zivilpersonen in den vier Genfer Konventionen von 1949 als
„schwere Verletzung des Abkommens” untersagt.363 In Richtung einer Hervorhebung von
Folter als besonders schwerer Menschenrechtsverletzung wies allerdings bereits damals ihre
Einstufung als Kriegsverbrechen im Sinne des Status des Nürnberger Gerichtshofes, weshalb
diese Straftaten niemals verjähren.364 Im Vergleich zur schlichten Formulierung der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte , 365 die die neu gegründeten Vereinten Nationen
1948 erließen und die v. a. symbolischen Charakter hatte, beinhaltete der bereits über ein
(wenn auch wenig wirksames) Kontrollsystem verfügende Internationale Pakt über bürgerliche
und politische Rechte (kurz IPBPR) von 1966 erstmals ein rechtlich bindendes Folterverbot,
360
361
362
363
364
365
Die Wirkung und Ausgestaltung der in diesem Kapitel angesprochenen internationalen Dokumente und
Verträge sowie der daraus hervorgegangenen Institutionen kann hier nicht en detail diskutiert werden, s.
hierzu aber insbes. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich und Bank, Roland
1996: Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der
Vereinten Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation und Effektivität
der neueren Kontrollmechanismen, Freiburg.
UN-Resolution A/Res/3059 (XXVII) vom 02.11.1973, zitiert nach: Raess, Markus 1989: Der Schutz vor
Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 119.
Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die
Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 83. Da
Schmoeckel sich auf die Entwicklung der Folterdiskussion in Europa konzentriert, ist nicht verwunderlich,
dass er den Begriff „europäisch“ statt „westlich“ verwendet. Allerdings macht auch er an anderer Stelle
deutlich, dass die USA für ihn diesem Kulturraum angehören, vgl. Schmoeckel, Mathias 2000: Humanität
und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeßund Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln, S. 528.
Alle vier Konventionen enthalten einen identischen dritten Artikel, der u. a. Folter verbietet.
Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 69.
Art. 5 lautet: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
oder Strafe unterworfen werden.”
– 103 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
welches darüber hinaus als notstandsfestes Recht, das sowohl in Friedens- wie auch in
Kriegszeiten galt, etabliert wurde.366
Auffällig ist, dass nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, dessen Verbrechen
sich durch die Verabschiedung der oben genannten Dokumente nie wiederholen sollten,
Euphemismen zur Bezeichnung von Folter verwendet wurden. Neben dem bekannten Begriff
des „Verhörs dritten Grades“, wie Himmler Folterverhöre in seinem Erlass vom Juni 1942
bezeichnete, wurden solche auch am Vorabend der Russischen Revolution sowie im
faschistischen Italien und Spanien von denjenigen entwickelt, die Folter nach einer mehr als
100jährigen völligen Verbannung wieder als legale Praxis etablieren wollten und damit
zumindest dem Schweigetabu noch in gewisser Hinsicht Rechnung trugen.367
Interessanterweise trat Folter in genau den Staaten wieder auf, die den Wert des
Individuums im Vergleich zur Sicherung des Gesellschaftssystems als Ganzem wieder
herabsetzten, wo also der Staat zum Selbstzweck wurde, wie er es im ancien régime gewesen
war. Nicht nur diese Staaten sahen sich jedoch auch neuen Gefahren, wie zum Beispiel dem
Aufbau moderner Geheimdienstapparate, ausgesetzt, die Folter unter Sicherheitsaspekten
Erfolg versprechend erscheinen ließen. Die nun gebräuchlichen Formen von Folter waren
also
auch
insofern
neu,
als
sie
einer
geänderten
Zielsetzung
dienten:
Der
Informationsgewinnung mit Hilfe gefangener Gegner (seien diese Kriegsgefangene, Spione
oder Vertreter innenpolitischer Oppositionsgruppen) außerhalb eines Rechtsprozesses und zur
Verhinderung
(angeblich) gemeingefährlicher Handlungen, bzw. zum Durchkreuzen
feindlicher Kriegsstrategien. Erst jetzt wurde Folter zur „entfesselten Tortur moderner
Verhöre ”, mit der „die Wahrheit (…) um jeden Preis erpreßt werden soll” und dem Opfer
nicht mehr wie in früheren Gerichtsprozessen die Möglichkeit eingeräumt werden musste,
durch sein Schweigen unter der Folter gegen den Staat in Form der ermittelnden Justiz zu
„gewinnen”.368 Diese neue Zielsetzung erforderte auch die Entwicklung und den Einsatz
neuer Foltermethoden, die dem Opfer keine Chance mehr lassen sollten, zu gewinnen, also zu
schweigen.
Eine
psychologische
Verwissenschaftlichung
Techniken
und
den
von
Foltermethoden
Einsatz
angeblich
brachte
nicht
nur
geständnisfördernder
pharmakologischer Substanzen hervor, auch die physischen Methoden zielten noch weit
stärker als die reglementierten Praxen früherer Jahrhunderte auf stärkere Schmerzen
des Opfers ab.369
366
Das eigentliche Verbot beschreibt, ebenfalls noch recht vage, Art. 5: „No one shall be subjected to torture or
to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. In particular, no one shall be subjected without his
free consent to medical or scientific experimentation”, während Art. 4 festlegt, dass keinerlei Ausnahmen
367
368
369
zulässig sind.
Vgl. auch für das Folgende Mellor, Alec 1961: La torture. Son histoire – son abolition – sa réapparition au
XXe siècle, Paris.
Für alle drei Zitate Foucault, Michel 1994 [1976]: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt am Main, S. 54f.
Vgl. Haas, Daniela 1997: Folter und Trauma – Therapieansätze für Betroffene, Oldenburg, S. 22-27.
– 104 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Weniger „ausgefeilt“ dürften dagegen die Methoden einer anderen Quelle von
Folterungen gewesen sein, die insbesondere in den Vereinigten Staaten bekannt wurde und
auf scharfe Ablehnung stieß: Der brutale Umgang einiger Angehöriger der US-amerikanischen
Polizei mit Personen in ihrem Gewahrsam wurde in den 1930er Jahren in einigen nationalen
Untersuchungsberichten skandalisiert,370 der Supreme Court hob zudem einige Urteile auf, die
aufgrund erpresster Geständnisse zu Stande gekommen waren.371 Ähnlich wie die bereits 1902
bekannt gewordenen Folterungen durch US-amerikanische Offiziere auf den Philippinen
wurden
auch
diese
Fälle
bald
totgeschwiegen,
nachdem
sie
als
absolute
Ausnahmeerscheinungen gewertet worden waren, die von staatlicher Seite schnellstens
sanktioniert und abgestellt werden sollten.372
Das Wiederaufleben der Folter zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde also immer als
krasse Ausnahme angesehen – entweder auf der Ebene individueller Täter in „zivilisierten“
Gesellschaften oder der „abartiger“ Regime, während staatlich akzeptierte Folterungen
außerhalb totalitärer Staatsformen weiterhin für völlig undenkbar gehalten wurden.373 Ganz in
diesem
Sinne
wurde
Armeeangehöriger
im
auch
versucht,
algerischen
Berichte
Befreiungskrieg
über
zu
Folterungen
vertuschen
französischer
oder
zumindest
herunterzuspielen. – die Berichte seien übertrieben und wenn überhaupt ein „gewisser
Zwang“ ausgeübt worden sei, der noch keine Folter darstelle, so ginge dies auf Konto der
Fremdenlegion, in der ja keine Franzosen dienten.374 Deutlich wird die Ablehnung des
Gedankens, Franzosen hätten sich Folterungen zu Schulden kommen lassen seitens der
französischen Bevölkerung und Staatsspitze auch in dem Versuch, die Publikation der
Foltervorwürfe in Henri Allegs Buch „La question” von 1958 zu unterbinden. Das Thema
wurde derart tabuisiert, dass es erst vierzig Jahre später in Frankreich zu einer Diskussion in
Medien und Nationalversammlung sowie einer Öffnung der französischen Archive zum
Algerienkrieg kam.
Vor diesem Hintergrund erscheint wenig erstaunlich, dass der Anstoß zur Formulierung
einer allein Folter adressierenden Konvention der Vereinten Nationen in den 1970er Jahren
gerade nicht in den Verfehlungen Frankreichs oder totalitärer europäischer Staaten gesehen
370
371
372
373
374
Aufsehen erregte insbesondere der sog. Wikkersham Report, der auch für Theodore Roosevelt, damals noch
Polizeichef von New York, Anlass zu tiefgreifenden Polizeireformen darstellte.
Vgl. hierzu insbesondere den Fall Green vs. Mississippi von 1933.
Vgl. Helbing, Franz 2004: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten,
Erftstadt, S. 622.
Vgl. wie auch für den Fall Algeriens Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung,
Hamburg, S. 174-177.
Allerdings wurden die exzessiven Folterungen in Algerien nicht von der französischen Regierung selbst
legitimiert, die gerade für die Kolonien geltenden Folterverbote mehrfach wiederholte, sondern „nur“ von
Seiten des Militärs und des Geheimdienstes. Wie viele Kolonialmächte hatte auch Frankreich seit dem
Beginn des 19. Jahrhunderts im Gegenteil versucht, Folterungen in seinen Kolonien zu unterdrücken, vgl.
Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 14.
– 105 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
wurde, sondern in den Menschenrechtsverletzungen in Chile unter Pinochet.375 Auch viele,
vornehmlich westliche NGOs schlossen sich als im Vergleich zu denen der Spätaufklärung
noch junge Form von norm entrepreneurs der Forderung nach einer solchen Konvention an –
wiederum primär mit Verweisen auf die Zustände in Entwicklungsländern.376 Obwohl die
Erprobung moderner Foltermethoden wie auch Versuche, Folter wieder als legales
Instrument – wenn auch mit einem neuen Stellenwert – vor allem in westlichen Ländern
aufgetreten waren, wurde dieses Problem nach der Mitte des 20. Jahrhunderts (und der
Demokratisierung der meisten dieser Länder) vor allem in anderen Kulturkreisen verortet.
Vor dem Hintergrund der gewachsenen Anforderung an „zivilisierte“ Nationen schienen
Hinweise für Folterungen im eigenen Land nicht mehr mit der Identität westlicher Staaten
vereinbar – die unbedingte „Folterfreiheit“ dieser Staaten war zu einem Kriterium der
Gruppenzugehörigkeit (Inklusion) geworden, wobei folternden Staaten auch argumentativ der
Zutritt zur „westlichen Wertegemeinschaft“ verwehrt werden konnte (Exklusion). Neben der
öffentlichen Ablehnung von Folter, die nun von den meisten Staaten bekundet wurde, wurde
die tatsächliche Einhaltung der Norm insbesondere für „westliche“ Staaten zu einem
verschärften Zugehörigkeitskriterium – weshalb Fälle von non-compliance (wie in Algerien
oder Vietnam) unbedingt verheimlicht werden mussten.
Die Verhandlungen auf Ebene der Vereinten Nationen (UN) führten zunächst zur
Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung von 1975, die insofern außerordentlich wichtig war, als sie
erstmals eine umfassende Definition von Folter beinhaltete, die Versuche, die bestehenden
rechtlichen Hürden mit Hilfe von Euphemismen zu umgehen, unmöglich machte. Danach
ist Folter
„…any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally
inflicted by or at the instigation of a public official on a person for such purposes as
obtaining from him [sic!] or a third person information or confession, punishing him for
he has committed or is suspecting of having committed, or intimidating him or
other persons.”377
Einerseits ist diese Definition insofern offen, als sie keine vollständige Aufzählung der Ziele
von Folterungen, sondern nur Beispiele hierfür liefert. Andererseits ist sie sehr bestimmt,
indem sie private Gewaltanwendungen explizit ausschließt und den staatlichen Charakter von
375
376
377
Vgl. Bank, Roland 1996: Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf
den Ebenen der Vereinten Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation
und Effektivität der neueren Kontrollmechanismen, Freiburg, S. 9.
Insbesondere der erste Bericht der neu gegründeten Organisation Amnesty International über
Haftbedingungen in Südafrika schlug hohe Wellen. 1972 startete AI eine großangelegte Kampagne gegen
Folter, mehr als eine Million Unterschriften für die Verabschiedung einer eigenen Anti-Folterkonvention
wurden der UN-Generalversammlung vorgelegt. Im Hinblick auf die USA thematisierte der erste allein
diesem Thema gewidmeten Bericht von AI zwar unverhältnismäßige Polizeigewalt, kam jedoch zu der
Feststellung, dass es „keinen Beweis für eine behördlich gebilligte Verletzung dieses Gesetzes [des
nationalen Folterverbotes, SoSchi]” gab. Amnesty International 1975: Bericht über die Folter, Frankfurt am
Main, S. 199.
Resolution der Generalversammlung vom 09. Dezember 1975, A/Res/3452 (XXX).
– 106 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Folter betont, was zu dieser Zeit – und im Hinblick auf den allgemeinen Sprachgebrauch –
durchaus nicht selbstverständlich war.378 Allerdings war die Erklärung nicht rechtlich bindend,
weshalb mit dem Ziel einer solchen Konvention weiterverhandelt wurde.
Die Konvention gegen Folter und andere grausame und unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe wurde am 10.12.1984 von der UN-Generalversammlung per
Akklamation verabschiedet – eine für viele UN-BeobachterInnen auch deshalb überraschend
schnelle Einigung, weil die Anti-Folterkonvention weit über die meisten Verträge zur
Kodifizierung anderer Menschenrechte (ausgenommen dem Verbot der Sklaverei)
hinausgeht:379 So enthält sie eine präzise Definition des Gegenstandes, wobei die umfassende
Folter-Definition der Erklärung von 1975 in weiten Teilen übernommen wurde und
verpflichtet als bindendes Recht alle Vertragsparteien zu einem Maßnahmenpaket zur
innerstaatlichen Implementierung der Konvention.380 Tatsächlich findet sich daneben auch in
der Mehrzahl der Staatsverfassungen ein ausdrückliches Folterverbot oder ein Verbot von
Handlungen, die Folter gleichkommen (und selbst beim Fehlen solcher Klauseln lässt sich
dieses Recht aus dem jeweiligen Schutz persönlicher Integrität ableiten), wohingegen keine
einzige Staatsverfassung die Anwendung von Folter ausdrücklich zulässt.381 Besonders wichtig
im Hinblick auf eine weltweite Gültigkeit dieser Norm ist, dass Folter in dem Verpflichtungen
auf zwischenstaatlicher Ebene gewidmeten Part der Anti-Folterkonvention explizit als
Weltverbrechen bezeichnet wird, was eine universelle Rechtsprechung ermöglicht: Jeder
Folterer kann ungeachtet seiner Herkunft in jedem der Vertragsstaaten vor Gericht gestellt
und
nach
dessen
Maßstäben
verurteilt
werden.
Hinzu
kommt
ein
Implementationsmechanismus, dessen Einrichtung der für Menschenrechtserklärungen recht
lange und v. a. detaillierte Text der Konvention ebenfalls regelt: Die Überprüfung der
Einhaltung der Verpflichtungen obliegt in erster Linie dem UN Committee against Torture
(CAT), das hierzu entsprechende Berichte der Mitgliedsstaaten überprüft, die eigentlich
regelmäßig eingereicht werden sollten.382 Darüber hinaus kann das CAT aber auch unter
bestimmten Bedingungen eigene Untersuchungen einleiten und über Beschwerden von
Mitgliedsländern oder sogar einzelnen Individuen über andere Vertragsstaaten entscheiden,
378
379
380
381
382
Vgl. zur Frage, ob die alltagssprachlich sehr weite Verwendung des Begriffs nicht eher zur Verbreitung
dieser Praxis beigetragen hat Peters, Edward 2003: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung,
Hamburg, S. 194f.
Der Originaltext der Konvention findet sich online unter: <http://www.unhchr.ch/html/menu3/b
/h_cat39.htm>, rev. 25.08.2006.
Zu den Maßnahmen auf nationaler Ebene zählt u. a. der Schutz von Folteropfern, eine strenge
Gesetzgebung zur Ahnung der TäterInnen und eine entsprechende (Neu-)Ausrichtung der Ausbildung von
Polizei und Militär. Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 75.
Vgl. Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 75.
Vgl. zu Funktion und Aufbau des CAT sowie die Aufgaben der anderen, auf UN-Ebene mit dem
Folterverbot befassten Institutionen des (früheren) Human Rights Committee, des UNSonderberichterstatters über Folter und des Committee for the Prevention of Torture Bank, Roland 1996:
Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der Vereinten
Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation und Effektivität der
neueren Kontrollmechanismen, Freiburg, S. 19-134.
– 107 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
was im Vergleich mit anderen Komitees, die über die Einhaltung von Menschenrechten
wachen sollen, wiederum recht weitreichende Befugnisse sind. Ebenfalls anders als viele
andere Menschenrechte ist das Folterverbot auch in dieser Konvention als absolutes Recht
kodifiziert worden, das keinerlei Ausnahmen zulässt und auch in Notstandssituationen nicht
eingeschränkt werden darf. Besonders deutlich wird dies in Art. 2, welcher besagt, dass „[n]o
exceptional circumstances whatsoever, whether a state of war or a threat of war, internal
political instability or any other public emergency, may be invoked as a justification of torture.”
Obwohl das Folterverbot allein mit dieser Konvention eine der am stärksten kodifizierten
Menschenrechtsnormen ist und damit die Handlungsspielräume aller beigetretenen Staaten in
dieser Frage sehr deutlich einschränken soll, haben bis heute mehr als 140 Staaten dieses
Dokument gezeichnet. Auch diejenigen fünfzig Staaten, die diesen Schritt bisher nicht getan
haben, sie jedoch auf völkerrechtlicher Ebene an das Folterverbot gebunden, denn das
Folterverbot ist nicht nur einfacher Teil des Völkergewohnheitsrechts, das – ganz ähnlich wie
in der politikwissenschaftlichen Theorie zur Etablierung sozialer Normen – „durch
gleichförmige Übung mit allmählich hinzutretender Rechtsüberzeugung gebildet” wird,383 so
dass das Verbot unabhängig vom Ratifizierungsstand der einschlägigen Rechtsnormen
internationale Gültigkeit besitzt.384 Es gehört auch zum ius cogens, also zu den zwingenden
Normen des Völkergewohnheitsrechts, die zur ordre public der Völkergemeinschaft gezählt
werden und jegliche zwischenstaatlichen Verträge, einseitigen Erklärungen oder nationalen
Gesetzesänderungen zur Umgehung dieser internationalen Normen automatisch außer Kraft
setzen. Der Einschätzung von Folter als Weltverbrechen entspricht auch der ihres Verbots als
Verpflichtung erga omnes:
Über diese internationalen und völkerrechtlichen Regelungen hinaus ist das Folterverbot
(wie auch eine Reihe anderer Menschenrechtsnormen) durch eine Reihe regionaler
Abkommen ergänzt worden, so dass die meisten Staaten der Welt außer auf internationaler
Ebene (die sich in nationaler Gesetzgebung widerspiegeln muss) auch auf dieser dritten Ebene
an das Folterverbot gebunden sind – ein weiterer Beleg dafür, dass „über die Verwerflichkeit
der Folter ein breiter und zumindest auf konzeptioneller Ebene unerschütterlicher Konsens
besteht” ,385 selbst wenn es manchen dieser Verträge an Schärfe und Durchsetzungs-
383
384
385
Vgl. hierzu auch die Formulierung des Internationalen Gerichtshofes zum Vorliegen von
Völkergewohnheitsrecht im Continental Shelf Case: „The states concerned must therefore feel that they are
conforming to what amounts to a legal obligation.” [Herv. SoSchi] International Court of Justice 1969: Das
Urteil des Internationalen Gerichtshofes vom 20.02.1969 über den deutschen Anteil am Festlandsokel in
der Nordsee, in: Zeitschrift für ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht, 29/1969, S. 476-524,
hier S. 514f.
Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 74. Vgl. auch für das Folgende Raess
ausführliche juristische Herleitung und völkerrechtliche Begründung (S. 74-90).
Tomuschat, Christian 1989: Rechtlicher Schutz gegen Folter? Zum Verhältnis von nationalen und
internationalen Rechtsnormen, in: Schulz-Hageleit, Peter (Hg.): Alltag-Macht-Folter. Elf Kapitel über die
Verletzung der Menschenwürde, Düsseldorf, S. 95-118, hier S. 107.
– 108 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
möglichkeiten mangelt.386 Im Rahmen dieser Arbeit ist insbesondere auf die Amerikanische
Menschenrechtskonvention (AMRK) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) von
1969
hinzuweisen,
die
auf
der
bereits
1948
verabschiedeten
Amerikanischen
Menschenrechtserklärung basiert und ein notstandsfestes Folterverbot enthält. Dass die USA
das Dokument zwar 1977 unterschrieben, jedoch nicht ratifiziert haben, liegt an der
bekannten Abneigung des Landes gegen die Unterwerfung unter fremde Gerichtsbarkeit: Die
AMRK ermöglicht das Einreichen von Individual-, teilweise auch Staatenbeschwerden, die –
anders als bei den Vereinten Nationen – unter bestimmten Bedingungen vor dem
Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt werden können.
Rechtliche Situation in den USA: Öffentliche Vorbildfunktion und geheime non-compliance
Zwar haben sich die Vereinigten Staaten dem Interamerikanischen Gerichtshof für
Menschenrechte nicht unterworfen, auf nationaler Ebene aber immer wieder demonstriert,
dass sie nicht nur der Einstufung von Folter als Weltverbrechen zustimmen, sondern auch auf
internationaler Ebene ihrer Stellung u. a. im Hinblick auf Folterverbote als Vorreiter der
Durchsetzung internationaler Menschenrechte gerecht werden wollen: Nach dem Zweiten
Weltkrieg hatte insbesondere die Präsidentenfamilie Roosevelt den Grundstein für eine
Verschriftlichung universeller Menschenrechtsprinzipien zu legen geholfen, in deren Rahmen
auch und gerade Folter geächtet werden sollte: So hat sich Eleonore Roosevelt, die als Nichte
Theodores von der Diskussion um die Verfehlungen der New Yorker Polizei wissen musste,
in ihrer Funktion als UN-Botschafterin auch für das Festschreiben eines entsprechenden
Artikels in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eingesetzt. Bereits zuvor hatte ihr
Mann, Präsident Franklin D. Roosevelt, 1941 eine vielbeachtete Ansprache an den USKongress gerichtet, in der er (noch ohne von einer Menschenrechtserklärung im modernen
Sinn zu sprechen) die „Freiheit von Furcht“ und damit auch von der Furcht vor Folter als
eine der vier fundamentalen Freiheiten bezeichnet hatte.387 Nach dem Zweiten Weltkrieg
setzte er sich vehement für die Genfer Konventionen ein, welche die USA noch im Jahr ihrer
Verabschiedung ratifizierten.
Insbesondere gegen und nach dem Ende des Kalten Krieges und der sich lockernden
Supermachtblockade innerhalb der Vereinten Nationen, versuchten die USA zumindest
rhetorisch an ihre Vorreiterschaft in Sachen universelle Menschenrechte wieder anzuknüpfen.
386
387
Der in der Europäischen Antifolterkonvention niedergelegte Schutz gegen Folter geht sogar noch über den
der UN-Antifolterkonvention hinaus, die als „Banjul-Charta“ bekannt gewordene Afrikanische Charta der
Menschenrechte und Rechte der Völker enthält zumindest ein bindendes Folterverbot. 1981 wurde auch
eine Islamische Menschenrechtserklärung verabschiedet, nach der Folter ebenfalls geächtet wird, allerdings
konnte sich die Konferenz der Islamischen Staaten bisher nicht entschließen, den Text in Form einer
bindenden Deklaration zu verabschieden. Die Initiative ist dennoch von Bedeutung, da insbesondere
arabische Staaten auf internationaler Ebene immer wieder versucht haben, bestimmte Strafen (wie das
Abhacken von Gliedmaßen oder Steinigungen) explizit nicht unter die Definition von Folter zu fassen.
Vgl. Roosevelt, Franklin D. 1945 [1941]: Ansprache an den Kongreß am 6. Januar 1941, in: Baudisch, Paul
(Hg.): Roosevelt spricht. Die Kriegsreden des Präsidenten, St. Gallen, S. 124-130, hier S. 129.
– 109 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
So ratifizierten sie 1992 den bereis 1977 gezeichneten Internationalen Pakt über bürgerliche
und politische Rechte und traten bei der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 gegen
Versuche großer asiatischer Länder (lies: Handelspartner) ein, die Gültigkeit von
Menschenrechten von nationalen und regionalen Besonderheiten abhängig zu machen.388
Anlässlich der Unterzeichnung des War Crimes Act, der für SoldatInnen und ZivilistInnen, die
sich Kriegsverbrechen nach der Genfer Konvention und ihrer (von den USA ratifizierten)
Zusatzprotokolle zu Schulden haben kommen lassen, lange Haftstrafen bzw. sogar die
Todesstrafe vorsieht, betonte Bill Clinton 1996 die US-amerikanische „Führungsrolle in der
Entwicklung des Rechts zum Schutz von Kriegsopfern”.389
Hinsichtlich der UN-Anti-Folterkonvention, an deren Formulierung die USA aktiv
mitgearbeitet und deren Verabschiedung sie zugestimmt hatten, beschwor Reagan den USKongress, den Vertrag – wenn auch mit einigen Vorbehalten v.a. hinsichtlich der
Ermittlerrolle des CAT – zu ratifizieren und „unserem Wunsch, der abscheulichen Folterpraxis
ein Ende zu bereiten” Ausdruck zu verleihen,390 was aufgrund eben dieser Vorbehalte aber erst
1994 der Fall war. Allerdings erklärte der Senat bezüglich der Umsetzung der Konvention in
nationales Recht, dass Folterungen seit der Annahme der bill of rights mit der Verfassung des
Landes unvereinbar seien391 und auch das Außenministerium erklärte in seinem ersten Bericht
an das CAT:
„Torture is prohibited by law throughout the United States. It is categorically denounced
as a matter of policy and as a tool of state authority. (…) No official of the government,
federal, state or local, civilian or military, is authorized to commit or to instruct anyone
else to commit torture. Nor may any official condone or tolerate torture in any form. No
exceptional circumstances may be invoked as a justification for torture. U.S. law contains
no provision permitting otherwise prohibited acts of torture or other cruel, inhuman or
degrading treatment or punishment to be employed on grounds of exigent circumstances
(for example, during a ‚state of public emergency’) or on orders from a superior officer or
public authority.“392
Innenpolitisch gesehen sind die USA darüber hinaus einer der wenigen Staaten, in denen
tatsächlich Folterfälle aus Drittländern vor Gericht gebracht wurden. Eine spezielle nationale
Grundlage hierzu bietet der noch aus dem Jahr 1789 stammende Alien Tort Claims Act
388
389
390
391
392
Vgl. McCoy, Alfred W. 2005: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folter-Forschung und –praxis von CIA
und US-Militär, Frankfurt am Main, S. 88.
Bill Clinton zitiert nach: McCoy, Alfred W. 2006: A Question of Torture. CIA Interrogation, From the Cold
War to the War on Terror, New York, S. 102. An dieser Stelle kommt auch der aus europäischer Sicht
prekäre Spagat zwischen der Ablehnung von Folter, nicht aber der Todesstrafe zum Ausdruck.
Bill Clinton zitiert nach: McCoy, Alfred W. 2006: A Question of Torture. CIA Interrogation, From the Cold
War to the War on Terror, New York, S. 102.
Vgl. Parry, John T. 2004: Escalation and Necessity. Defining Torture at Home and Abroad, in: Levinson,
Sanford (Hg.): Torture. A Collection, Oxford, S. 145-164, hier S. 150.
U.S. Department of State 1999: Initial Report of the United States of America to the U.N. Committee
Against Torture, S. 4f. (Absatz 6).
– 110 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
(ATCA),393 nach dem sogar zivilrechtliche Schadensersatzansprüche aus einem Drittland
stammender, direkt oder indirekt betroffener Individuen gegenüber ebenfalls aus einem
Drittland stammende Folterer durch US-Gerichte beschlossen werden können, sobald sich
eine der beiden Parteien in den USA aufhält. Den ersten dieser Fälle, Filartiga versus PenaIrala, gewann 1980 ein Paraguayaner, der vor einem US-Zivilgericht den aus dem gleichen
Land stammenden Folterer seines Sohnes verklagte kannte.394 Um solche Klagen unter dem
ATCA weiter zu erleichtern, verabschiedete der US-Kongress 1991 zudem den US Protection
for Victims of Torture Act.
Bekanntermaßen
ging
mit
der
internationalen
Rhetorik
und
innenpolitischen
Gesetzgebung gegen Folter im 20. Jahrhundert nicht immer compliance aller gesellschaftlichen
Akteure der USA einher. Bei der Entwicklung immer neuer Foltermethoden mit zum Teil
hohem wissenschaftlichem und finanziellem Aufwand hat die CIA seit den 1950er Jahren
immer wieder eine unrühmliche Vorreiterrolle eingenommen – wobei peinlich auf die
Geheimhaltung dieser Forschungen geachtet wurde.395 Bis heute sind die meisten
einschlägigen Dokumente aus dieser Zeit geheim bzw. kaum systematisch aufgearbeitet
worden. Der Einsatz dieser Methoden insbesondere in den 1970er Jahren wurde in Teilen
jedoch zeitnah aufgedeckt, wobei Folterungen im Rahmen des sog. Phoenix-Programms in
Vietnam und in Uruguay den US-Senat schließlich veranlassten, insbesondere die USamerikanischen „Hilfen“ bei der Ausbildung der Polizeiapparate dieser Länder einer Revision
zu unterziehen. Obwohl der New York Times 1970 eine entscheidende Rolle bei der
Aufklärung der CIA-Praktiken in befreundeten Staaten zukam, spielten sich die
nachfolgenden Verhandlungen hauptsächlich innerhalb des Kongresses (und dort binnen
weniger Monate) ab – mit dem Hinweis, die CIA habe sich bereits reformiert, wurden weitere
Ermittlungen abgelehnt, eine Strafverfolgung der Täter wurde nicht eingeleitet. Offensichtlich
gab es keinerlei öffentlichen Druck, wie überhaupt auch im Hinblick auf die US-amerikanische
Öffentlichkeit „weiter ein tiefes, nahezu unerklärliches Schweigen über das Thema Folter”
herrschte und es bis Ende der 1980er Jahre „vollends in der Versenkung [verschwand].”396
393
394
395
396
Der Gesetzestext findet sich unter: <http://cyber.law.harvard.edu/torts3y/readings/update-a-02.html>,
rev. 07.07.2006. Vgl. für seine heutige Anwendung auch Bruha, Thomas/Steiger, Dominik 2006: Das
Folterverbot im Völkerrecht, Stuttgart, S. 37f.
Die Forderung des Gerichts belief sich auf ca. 10 Mio. US-Dollar.
Dass sich auch Ärzte und Psychologen des nationalsozialistischen Regimes in den Reihen der ersten
Folterforscher der CIA befanden und allein die Versuchsprogramme zu sog. „Gehirnwäsche“ in den 1950er
Jahren mehrere Milliarden Dollar verschlangen, ist mittlerweile belegt. Möglicherweise wurden auch die
Experimente Milgrams von der CIA in Auftrag gegeben. Vgl. auch für das folgende Kapitel eins bis drei, S.
31-94, aus McCoy, Alfred W. 2005: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folter-Forschung und –praxis von
CIA und US-Militär, Frankfurt am Main, hier insbes. S. 36, 38 und 44.
McCoy, Alfred W. 2005: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folter-Forschung und –praxis von CIA und
US-Militär, Frankfurt am Main, S. 82 bzw. 83. Auch die Ende der 1980er Jahre angestrengten
Untersuchungen über den Einsatz eines Buches zur Ausbildung von Folterern in Honduras verliefen sich
jedoch nach einigen Kongress-hearings im Sande.
– 111 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Das Totschweigen dieser Fälle der Normmissachtung ermöglichte es bis vor kurzem, dass
„[c]itizens of the United States do not usually consider torture to be a feature of the nation’s
heritage.” 397 Dieses allgemeine Nichtwissenwollen liegt wohl nicht nur in der Überzeugung
der US-amerikanischen BürgerInnen über die Eigenschaften ihrer auf das Wohl des
Individuums ausgerichteten Demokratie und Gerichtsbarkeit begründet, sondern auch in der
Angst vor einem Imageverlust nach außen, der für die selbsternannte Vorbildnation in Sachen
Menschenrechte natürlich besonders empfindlich ist. Ein prominentes Beispiel dafür, wie
wichtig die Aufrechterhaltung zumindest des Anscheines absoluter Einhaltung der
Folterverbote gerade für Demokratien ist, lieferte Amerikas engster Verbündeter,
Großbritannien, 1978: Damals hatte Irland das Nachbarland wegen angeblicher Folterungen
von IRA-Mitgliedern vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angeklagt, der
jedoch entschied, bei den verwendeten Praktiken handele es sich zwar um unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung, nicht aber um Folter. Die britische Regierung wie Presse
feierte dies als eindeutigen Sieg vor Gericht – obwohl mit
Menschenrechtsverletzungen im Sinne der EMRK festgestellt worden waren.
dem
Urteil
In der Angst vor naming and shaming bei denjenigen, denen die Verstöße der Vereinigten
Staaten wie auch Großbritanniens gegen das Folterverbot bewusst waren, verbinden sich die
rigiden juristischen Grenzen des Folterverbots auf internationaler, regionaler und nationaler
Ebene mit den moralischen Vorstellungen einer „natürlich“ folterfreien, zivilisierten und
demokratischen Nation, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat.
5.1.3 Wie wirkt das Foltertabu?
Im vorangegangenen Kapitel ist argumentiert worden, dass das Foltertabu, wie es sich heute
darstellt, auf zwei große Quellen zurückzuführen ist: Eine historisch gewachsene, moralische
und emotionale sowie eine rechtliche auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene.
Erstere führte nach einer argumentativen Auseinandersetzung über mehrere Jahrhunderte
hinweg zu einer affektiven, moralischen Ablehnung von Folter, die spätestens im 19.
Jahrhundert jegliche Diskussionen um die Wiedereinführung von Folterungen unmöglich
werden ließ – u.a., indem hier die Grundlagen für eine „Archaisierung“ von Folter und für die
Gefühle der Scham und des Ekels gelegt wurden, die bis heute allein der Gedanke an diese
Praxis hervorrufen kann. Dies spiegelt sich sowohl im Verhalten von Staaten, bei denen
naming and shaming in Bezug auf Folter deshalb immer wieder funktioniert, wie auch bei
einzelnen Individuen, insbesondere in den psychologischen Folgen, die Folterungen für
TäterInnen, Opfer und den Umkreis dieser Personen haben. Die zweite Ebene der
internationalen Ächtung von Folter durch geltendes Recht kann allerdings nicht ganz von der
erstgenannten getrennt gesehen werden, wie sich an der subjektiven Komponente der
Definition von Völkergewohnheitsrecht zeigt. Dabei sind die Bestimmungen des modernen
397
Skolnick, Jerome 2004: American Interrogation. From Torture to Trickery, in: Levinson, Sanford (Hg.):
Torture. A Collection, Oxford, S. 105-127, hier S. 105.
– 112 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s F ol t e r t a bus
Völkerrechts insbesondere deshalb bedeutend, weil sie – anders als die ersten nationalen
Folterverbote und entsprechend der moralischen Haltung einer absoluten Ablehnung ab dem
19. Jahrhundert – Folter als derart inhuman ausweisen, dass keinerlei Ausnahmeregelungen
mehr zulässig sind und Folter darüber hinaus als Weltverbrechen, der Folterer als Feind der
ganzen Menschheit angesehen wird.398 Mit der Entstehungsgeschichte dieser Rechtsnormen
ging gleichzeitig die Schaffung einer gefühlten geographischen Distanz zwischen folternden,
„barbarischen“ und Folter verbietenden, „zivilisierten“ Nationen einher. Foltergegnerschaft,
die zunächst für die Identität einer Gruppe von Intellektuellen konstitutiv war, gehört nun
zum positiven Selbstbild und Image nach außen (beinah) jeden Staates.
Beide Ebenen haben bewirkt, dass für die Ablehnung von Folter heute keine ernsthafte
argumentative Begründung mehr nötig ist: Folter wird per se und ausnahmslos als negativ und
undenkbar eingestuft. Dieses Verdienst der Aufklärung sehen wir auch im modernen
Völkerrecht verankert: So wird in der Präambel der UN-Anti-Folterkonvention lediglich
darauf verwiesen, dass Folter gegen die „inherent dignity and the equal and inalienable rights
of all members of the human family ” verstößt, die „the foundation of freedom, justice and peace
in the world” seien und diese wiederum auf der „inherent dignity of the human person”
beruhen – ein nicht weiter begründeter Zirkelschluss, der offen lässt, worauf Menschenwürde
eigentlich beruht, warum Folter gegen sie verstößt und wieso dieser Verstoß die Grundfeste
des internationalen Systems erschüttern sollte. Wie bereits im ersten Unterpunkt dieses
Kapitels dargelegt wurde, ging die Abschaffung der Folter tatsächlich mit der Entstehung
moderner Staatlichkeit und dem Gedankengut des Rechtstaates Hand in Hand. In den
folgenden Ausführungen zu den historischen Umständen der ersten Verbote sollte jedoch
deutlich geworden sein, dass Folter zuvor jahrhundertelang ein durchaus als rational
eingestuftes Instrument einer – auf anderen Kosten-Nutzen-Rechnungen basierenden –
Rechtsordnung war und bis ins 19. Jahrhundert hinein Ausnahmeregelungen auch in Folter
verbietenden Staaten als durchaus üblich eingestuft wurden – u.a. im Falle von Hochverrat
war die Menschenwürde auch juristisch nicht immer die überordnete Norm.
Eine (eventuell auch auf solche historischen Fakten verweisende) offene Befürwortung
von Folter ist heute dagegen nicht möglich, denn diese Position ist seit dem 19. Jahrhundert
„archaisiert“ und „irrationalisiert“ worden und auch juristisch heute nicht mehr begründbar.
Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass die Infragestellung der Gültigkeit eines Foltertabus –
unabhängig von compliance mit dieser Norm – sowohl aus historisch-moralischer als auch aus
juristischer Sicht völlig unmöglich ist, da dies außerhalb des denkbaren Rahmens der
Einwohner zumindest jeder „zivilisierten“ Nation liegen sollte.
Damit stehen auch die beiden Hauptkriterien fest, an denen sich eine Erosion des
Foltertabus festmachen lässt:
398
Raess, Markus 1989: Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, Zürich, S. 87.
– 113 –
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1. Rechtfertigung: Es wäre der Versuch einer Akteursgruppe oder einer Nation, eine
öffentliche und ernsthafte Diskussion über die Legalisierung von Folter zu beginnen –
etwa, indem bestehende Fälle von non-compliance mit dem internationalen Folterverbot zu
rechtfertigen versucht werden.
2. Rationalisierung: Zudem wäre das Tabu dann klar gebrochen, wenn eine solche
Diskussion auch von anderen DiskursteilnehmerInnen als rational zu beziehende Position
anerkannt würde – auch, wenn diese nicht der eigenen Anschauung entspräche. Somit
wäre auch die Suche nach Argumenten für eine Beibehaltung der absoluten Gültigkeit des
Folterverbots ein Indiz für dessen Schwächung, denn die Möglichkeit, dass Folter in
bestimmten Fällen angebracht sein könnte, wäre eine für alle DiskursteilnehmerInnen
denkbare Option.
Im Sinne eines nicht hinterfragbaren Tabus wären argumentative Rechtfertigung und
Rationalisierung von Folter klare Anzeichen dafür, dass sich der Denkrahmen eines Akteurs
stark verschoben hat und Folter – selbst, wenn sie argumentativ abgelehnt wird – nicht mehr
unthinkable ist. Dies kann, muss aber nicht notwendig mit einer Ausweitung des
Handlungsrahmens einhergehen, in dem Folter tatsächlich wieder angewandt wird. Dagegen
wäre es ein zusätzliches Indiz für die Schwäche des Tabus, wenn stattfindende Folterungen
nicht länger verheimlicht würden:
3. Ent-Distanzierung: Das Zugeben von non-compliance, also das öffentliche Sprechen (nicht
unbedingt Rechtfertigen) über stattfindende Folterungen wäre insbesondere in westlichen
Staaten ein Bruch mit dem bereits traditionellen Totschweigen von Folterfällen wie etwa
in Algerien oder Vietnam. Würden Folterfälle nicht länger verheimlicht, könnten sich
westliche schwerer von anderen folternden Staaten geographisch distanzieren, womit ein
wichtiges Abgrenzungskriterium (zwischen Staaten, die Folter nur ablehnen und solchen,
die die Verbote auch einhalten) verloren ginge.
4. Ent-Archaisierung: Auch eine Ent-Archaisierung von Folter ein Hinweis für eine
Tabuschwächung, denn die Diskussion um Folterfälle in der eigenen jüngeren
Vergangenheit würden die Vorstellung, dass das Unterlassen von Folterungen an das
Aufkommen moderner (demokratischer) Rechtsstaaten geknüpft ist, unterminieren.
5. Ausnahmeregelungen: Einen ähnlichen Effekt hätte das Eingeständnis, dass Folterverbote
zunächst nicht absolut galten, und Ausnahmen in einigen Fällen zugelassen waren – also
auch die Menschenwürde einer Güterabwägung mit anderen Rechtsstandards (z.B. der
Gefährdung des Staates) unterworfen wurde.
6. Ent-Universalisierung: Unter das Anzweifeln der absoluten Gültigkeit des Tabus könnte
neben dem Hinweisen auf Ausnahmeregelungen auch die Einschränkung seiner
universellen Gültigkeit für alle Menschen – eigene BürgerInnen wie Fremde und
Unschuldige wie Schuldige – fallen. Auch hier würde Menschenwürde nicht mehr länger
als natürlich gegeben und unveräußerlich angesehen.
Insgesamt wären also mehrere Indizien dafür denkbar, dass Folter als mit den moralischen
Vorstellungen und juristischen Standards eines modernen Rechtsstaates vereinbar angesehen
und damit normalisiert würde. Ob und wenn ja, welche dieser Kriterien sich tatsächlich in der
US-amerikanischen Diskussion der letzten Jahre um die Gültigkeit des Folterverbots finden
ließen, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein.
– 114 –
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5.2 Das nukleare Tabu
„What makes atomic weapons different is a
powerful tradition that they are different.“ 399
Die
im
August
1945
von
us-amerikanischen
Luftstreitkräften
ausgeführten
Atombombenabwürfe400 auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wurden nicht nur
als eine Revolution der modernen Kriegsführung erachtet401 und hatten die bedingungslose
Kapitulation Japans zufolge – dieses Ereignis führte der Menschheit das technisch mögliche
Ausmaß der Zerstörung in aller Grausamkeit vor Augen. Die Kenntnis von teilweise
vollständig verdampften 150.000 Toten, Bilder von zwei völlig ausgelöschten Städten, vor
unerträglichem Schmerz und Entsetzen verzerrten Gesichtern und durch Brandwunden bis
zur Unkenntlichkeit entstellten Körpern brannten sich nachdrücklich in das Gedächtnis der
weltweiten Öffentlichkeit ein. Nie zuvor und nie wieder danach hat sich ein Staat zu
militärischen Zwecken der Kraft nuklearer Sprengsätze bedient, selbst ihre friedliche Nutzung
wie z.B. für industrielle Sprengungen stößt auf rigorose Ablehnung,402 so grauenvoll sind mit
Nuklearexplosionen einhergehende Assoziationen und so absolut die in ihrer Stärke einer
religiösen Überzeugung gleichkommende universelle Verdammung von Nuklearbomben als
„peculiar monster“.403
Die inzwischen mehr als fünf Jahrzehnte dauernde Phase des Nicht-Einsatzes von
Nuklearwaffen wird im Rahmen von rationalistischen Abschreckungstheorien überwiegend
materialistisch
erklärt.
Als
Ergänzung
und
Herausforderung
letzterer
wird
auf
konstruktivistischer Seite mit dem Ziel, der emotionalen, moralischen und sozialen Grundlage
des außergewöhnlichen Stellenwertes von Nuklearwaffen gebührend Rechnung zu tragen, das
nukleare
Tabu als besonders stark internalisierte Norm konzeptionalisiert und als
Erklärungsansatz für das non-use-Phänomen entwickelt. Im Lichte der im theoretischen Teil
399
400
401
402
403
Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict,
Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 260.
Ich werde im Folgenden die allgemeine Bezeichnung „Nuklearwaffen“ verwenden und nur dann den
Begriff „Atombombe“, wenn tatsächlich Atombomben – also solche Waffen, deren Energie durch
Kern spaltung (Fissionsprinzip) freigesetzt wird – gemeint sind. Diese Technik wurde jedoch bald nach den
ersten Abwürfen durch das Fusionsprinzip abgelöst, weshalb heute die weitaus meisten Nuklearwaffen
Kernverschmelzungswaffen sind.
Z.B. Dies wurde bereits 1946 von Brodie et al. mit der Begründung ausgeführt, durch Atomwaffen werde
schlagartig sowohl die Effektivität von Verteidigungssystemen als auch die Bedeutung zahlenmäßiger
Überlegenheit einer der Parteien reduziert. S. Brodie, Bernard 1946: War in the Atomic Age, in: Ders. (Hg.):
The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order, S. 21-69.
Beispielsweise schildert Schelling seinen Eindruck einer „virtually universal rejection “, die in den 1970er
Jahren auf den Vorschlag, mittels kleiner thermonuklearer Detonationen ökologisch saubere Energie zu
produzieren, bei AbrüstungsexpertInnen und EnergieanalystInnen zu beobachten war. S. Schelling, Thomas
2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and
Public Policy 20:2/3 sowie Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear
and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and
Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 150.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 444.
– 115 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
vorangestellten Konzepte zu Normen im Allgemeinen und Tabus im Besonderen werden in
diesem Kapitel unter 5.2.1 die Kerncharakteristika dieses Phänomens herausgearbeitet, um im
Folgenden (5.2.2) seine Entstehung aus normtheoretischer Perspektive zu beleuchten. Daran
anknüpfend werden unter Punkt 5.2.3 beide zur Erklärung des nuklearen Nicht-Einsatzes
angebotenen Wirkungsmechanismen – rational und tabubasiert – und damit einhergehende
Handlungslogiken (logic of consequences und logic of appropriateness) im Verhältnis zueinander
diskutiert. Schließlich entwickle ich im Fazit (5.2.4), aufbauend auf einer kurzen
Zusammenfassung des Kapitels, die Kriterien, die eine Erosion des nuklearen Tabus
indizieren würden.
5.2.1 Inhuman, abscheulich und anders: das Fundament des nuklearen Tabus
Trotz unterschiedlicher Auffassungen über die Notwendigkeit und Richtigkeit des Phänomens
sowie hinsichtlich der ihm zugrunde liegenden Motivationen, konnte sich seit Beginn der
1950er Jahre sowohl in der Politikwissenschaft als auch bei politischen Entscheidungsträgern
die Überzeugung von der globalen Existenz404 eines nuklearen Tabus durchsetzen. Welche
Charakterzüge machen diese, auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft ebenso wie
besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika geteilte Nicht-Einsatz-Norm bzw. EinsatzVerbotsnorm,405 also die „jointly recognized expectation that they [nuclear weapons, ER] may
not be used “406 sowie den „normative belief about the behaviour [of non-use, ER]“407 zu einem
Tabu? Wie ist die Reichweite der oben vorgestellten, anderen wissenschaftlichen Disziplinen
entliehenen, Tabu-Konzepte in diesem Zusammenhang zu beurteilen?408
Angesichts nicht nur untereinander schon divergenter ursprünglicher Tabusysteme,
sondern auch der völlig anderen Kontextbedingungen, innerhalb derer das nukleare Tabu im
Vergleich zu traditionellen Tabus operiert (genannt sei beispielhaft als die Totemisierung von
Naturerscheinungen im Gegensatz zu Produkten modernster Technologien), ist eine
hundertprozentige konzeptionelle Übertragbarkeit nicht zu erwarten – und doch lässt sich
404
405
406
407
408
Die Ansicht von der weltweiten Gültigkeit der Norm, die z.B. von Jon Wolfsthal, dem Deputy Director of
the Non-Proliferation Project of the Carnegie Endowment for International Peace, in einem Zeitungsartikel
mit folgender Aussage auf den Punkt gebracht wird: „There is no such thing as a tactical nuclear weapon in
the eyes of 99 percent of the world’s population ”, könnte jedoch mit Verweis auf Staaten wie z.B. Israel und
Nordkorea angezweifelt werden. Zitiert nach: Adler, William M. 2004: News! Nukes are back. The Bush
administration plans for the next (little) nuclear Wars, in: Austin Chronicle, 16. Januar 2004.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 435f.
Die sich erst in den 1990er Jahren etablierte konstruktivistische Definition von Normen als kollektiven
Verhaltenserwartungen wird, wie hier ersichtlich, von Schelling schon 1960 formuliert. Schelling, Thomas
1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S.
257-266, hier S. 260.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 436.
In der Wissenschaft, darauf verweist z.B. Tannenwald, findet der Begriff jedoch nicht primär aufgrund der
vermuteten Ähnlichkeit Verwendung, sondern in erster Linie, weil er von politischen Entscheidungsträgern
gebraucht wird – erst dies stößt die wissenschaftlichen Systematisierungsversuche an.
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eine Reihe überraschender struktureller Ähnlichkeiten,409 verblüffend auch aufgrund ihrer
Anzahl, feststellen. So entfaltet das nukleare Tabu neben der regulativen, auf den Umgang mit
Nuklearwaffen zielenden, auch eine konstitutive, auf die Identität des Akteurs Einfluss
nehmende Wirkung: Die bereits an einigen Stellen dargestellten norm- bzw. tabubasierten
Inklusions- resp. Exklusionsmechanismen wirken hier gleich zweifach, indem einerseits auf
Basis des Besitzes von Nuklearwaffen neue Kategorien von Staaten als „Haves“ bzw. „Havenots“ kreiert werden – und entsprechend auch die Geltung und Anwendbarkeit einiger
Normen entlang dieser Identitäten variiert.410 Andererseits avanciert die (an den weitaus
älteren Diskurs über das Verhalten „zivilisierter“ Staaten im Krieg anschließende) gedankliche
und behaviourale Einhaltung des Tabus sowohl zu einem wichtigen Element des
Selbstverständnisses eines Staates als „civilized member“ der internationalen Gemeinschaft,
dessen Vertreter „just don’t do things like that“,411 als auch zur Bedingung der Anerkennung
von anderen Staaten als ein solches. Insbesondere in den Vereinigten Staaten als dem einzigen
Land, das jemals Atombomben abgeworfen hat, ist das nukleare Tabu aufgrund seiner
moralischen, aber auch technologischen Bestandteile zu einem konstitutiven, während der
letzten Jahrzehnte des non-use gewachsenen und stets bekräftigten Wert geworden: „A nuclear
taboo is a value. It is especially attractive as a value to American Culture, which loves the latter
technology, believes it enjoys a long lead in exploiting that technology“.412
Nuklearwaffen als Totem – heilig und verdammt
Die Konstruktion von Identitätsmerkmalen um Nuklearwaffen herum ist nur einer der
Gründe, weshalb ihnen der Status eines Totems bescheinigt werden kann: Sie sind außerdem
– erstens – unberührbar in dem Sinne, dass sie ihre Rolle als Mittel der militärischen
Kriegsführung nach zwei Einsätzen eingebüßt haben und nicht mehr verwendet, sondern
409
410
411
412
Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start
worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference,
Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 14.
Z.B. verpflichten sich die im – inzwischen 189 Parteien umfassenden – Nichtverbreitungsvertrag (NonProliferation Treaty, im Folgenden NPT abgekürzt) von 1968 (in Kraft getreten am 5. März 1970 mit der
Ratifikation der USA und der UdSSR) festgeschriebenen Nuklearmächte (Haves) China, Großbritannien,
Frankreich, UdSSR und die USA dazu, erstens gegen alle übrigen Staaten (Have-nots) keine nuklearen
Angriffe durchzuführen (negative Sicherheitsgarantien – gegenüber Haves wurde eine solche Verpflichtung
nie kodifiziert!), diese zweitens bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit Technologietransfers zu
unterstützen und drittens ihres nuklearen Sprengköpfe abzurüsten – im Gegenzug verzichten die
„Habenichtse“ vertraglich auf nukleare Aspirationen. Der Vertragstext ist online einsehbar unter:
<http://www.un.org/events/npt2005/npttreaty.html>, rev. 22.08.2006.
Price/Tannenwald zitieren diese Antwort eines Offiziers der US-Armee auf die Frage, warum
Nuklearwaffen im Zweiten Golfkrieg nicht in Frage kamen. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms
and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of
National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, hier S. 139, siehe dazu auch
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 437f.
Gray, Colin S. 2000: Nuclear Weapons and the Revolution in Military Affairs, in: Harknett, Richard
J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging
International Order, Michigan, S. 99-134, hier S. 120.
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lediglich bewahrt werden. Doch selbst dies steht, zweitens, nur sehr wenigen Akteuren zu,
wodurch ihr Status dem der Hohepriester gleichkommt:413 Der Besitz von Nuklearwaffen ist
bestimmten – und nur sehr wenigen – Staaten vorbehalten, denen ein rationaler Umgang mit
den Waffen, sprich ihre Verwendung nur in absoluten Notfällen, zugetraut wird;414 die
Verhinderung von Proliferation an andere (und damit, neben der Gewährleistung nuklearer
Sicherheit, auch die Beibehaltung der exklusiven Besitzprivilegien) ist erklärtes Ziel sowohl
internationaler als auch nationaler Politikanstrengungen. Neben dem staatlichen Besitz war/ist
auf individueller Ebene der bloße Kontakt mit ihnen ebenfalls nur für einen sehr kleinen, mit
einer besonderen Aura umgebenen Personenkreis möglich: Die hochtalentierte Physikelite der
Welt – aufgrund ihrer überragenden, als außerirdisch erachteten intellektuellen Fähigkeiten
„die Marsianer“ genannt – entwickelte und baute in völliger Abschottung von der Außenwelt
die ersten Bomben,415 wobei in den National Laboratories nach wie vor unter strenger
Geheimhaltung Nuklearwaffenprogramme durchgeführt werden. Überlegungen, die sich auf
das Schicksal der gesamten Menschheit auswirken können, stellt eine kleine Gruppe von
Nuklearstrategen an, die Letztentscheidung über einen Einsatz liegt schließlich einzig in der
Hand des us-amerikanischen Präsidenten.
Nuklearwaffen sind drittens, gleichzeitig geweiht und verflucht, wecken sie doch so sehr
die Angst vor vollständiger Vernichtung des Menschen durch sich selbst wie sie auch als
413
414
415
Siehe ausführlich zu diesem Vergleich: Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen
Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen
1/2003, S. 7-41, hier S. 23ff. Daase macht in diesem Artikel die These stark, es sei verkürzt, das nukleare
Tabu lediglich auf den Nicht-Einsatz zu reduzieren und nicht auf den Besitz auszudehnen, begründe doch
die durch ungleiche nukleare Besitzverhältnisse geschaffene Dichotomie zwischen Haves und Have-nots
eine Hierarchie – ebenfalls ein typischer Bestandteil von Tabus. Auch Quester spricht von einem in
Entstehung begriffenen Proliferationstabu, das sich auf die Ansicht stütze, die geächteten Waffen soll man
auch nicht besitzen wollen. Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College
Review 58:2, S. 71-91, hier S. 81. In dieser Arbeit bildet jedoch nur das Einsatztabu den Gegenstand der
genaueren Betrachtung, weil sich die Proliferationsfrage für die Vereinigten Staaten als Haves nur im
Hinblick auf andere, nicht jedoch auf sie selbst stellt.
Trotz des im NPT für alle anderen Staaten festgeschriebenen Besitzverbotes sind mit Indien, Israel und
Pakistan (als weltweit einzige Staaten waren alle drei niemals dem Vertrag beigetreten) sowie Nordkorea
(nach eigener Auskunft; wiederum der einzige Staat, der jemals seinen Austritt aus dem NPT verkündet
hat), inzwischen mindestens vier weitere – aus Sicht des Vertrages inoffizielle – über Nuklearwaffen
verfügende Staaten bekannt.
Der us-amerikanische Wissenschaftler Robert Oppenheimer leitete die Forschungen des 1934-1945 als
„Manhattan-Projekt“ bezeichneten, streng geheimen Atomprogramms, das vor allem aus Furcht vor der
Entwicklung einer Atombombe in Nazi-Deutschland ins Leben gerufen wurde; dem jüdischstämmigen
Oppenheimer haben sich mit Leo Szilard, Edward Teller, Eugene Wigner, Enrico Fermi und dem selbst
nicht aktiv am Projekt beteiligten Albert Einstein, der jedoch Präsident Roosevelt 1939 in einem Brief auf
die Notwendigkeit des Atomprogramms hinwies, weitere bedeutende, aus europäischen Staaten aufgrund
faschistischer Bedrohung immigrierte Kernphysiker angeschlossen, deren Motivation im Kampf gegen
Hitler lag. Die strengen Isolationsregeln des militärischen Projektleiters, General Leslie R. Groves, der die
Anlangen umgebende Stacheldrahtzaun sowie die Kompartimentierung der Forscher von der Außenwelt,
von ihren Familien und sogar voreinander, wurden besonders von den Europäern – angesichts ihrer
Assoziationen mit Konzentrationslagern – als ein hoher Preis für die Freiheit der Forschung erachtet.
Rhodes, Richard 1986: Physics and Desert Country, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 443-485
sowie Rhodes, Richard 1986: Men from Mars, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 104-133.
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Schutzgeist bestimmter Nationen, ja der ganzen Menschheit gelten können,416 wenn man
ihnen aufgrund ihrer abschreckenden Kraft eine bedeutende Rolle nicht nur in der
Beendigung des Zweiten, sondern auch in der Verhinderung eines dritten Weltkrieges
zugesteht und sie demgemäß als Friedenswahrerinnen betrachtet.417 Hinzu kommt, dass
ausgerechnet die Existenz dieser Waffen, deren Vernichtungskraft alle bisherigen um das
Tausendfache übersteigt,418 der „Todesspirale“ vergangener Kriege ein Ende setzte – während
vorher technologische Entwicklungen einen immensen Anstieg von Opferzahlen von Krieg
zu Krieg bedeuteten, zwangen Nuklearwaffen die mit ihnen ausgestatteten Staaten zum
„langen Frieden“, zum Konfliktaustrag ohne ihren militärischen Einsatz (jedoch unter seiner
Androhung).419
Außer ihrem Charakter als Dämon und Schutzgeist, sind diese Waffen gleichzeitig auch
das eindrucksvollste Symbol des im Geiste der Zeit liegenden technischen Fortschritts: Neben
Bildzeugnissen und Augenzeugenberichten von universellen und grauenvollen, für das
menschliche Auge kaum zu ertragenden nuklearen Zerstörungen stehen auch zahlreiche
Abbildungen des Atompilzes für die nukleare Faszination sowie beeindruckte Beschreibungen
der Ästhetik von Nuklearexplosionen, in denen die Gleichzeitigkeit von Anziehungskraft und
Angst offenkundig wird:
„Es war ein überwältigendes Erlebnis. Das Licht, das so ungeheuer stark war – wir
durften nur durch sehr dicke, rußige Gläser es anschauen. Und das von 30 Kilometer
Entfernung. Dann die Wolke von Staub, die sich da erhob, ganz sonderbar gespenstisch
gefärbt – violett, das waren die radioaktiven Strahlen, die die Luft ionisierten und
leuchten ließen. Die erste Reaktion war, dass wir stolz waren, dass wir es fertig gebracht
hatten. Die zweite Reaktion war: Um Gottes willen, was haben wir in die Welt
gesetzt?“420
416
417
418
419
420
Auch diese Funktion von Nuklearwaffen war Gegenstand einer moralischen Debatte, indem z.B. von
katholischen Bischöfen kritisiert wurde, dass schon die Ausrichtung der us-amerikanischen Nuklearwaffen
auf sowjetische Städte der Kriegsmoral zuwiderläuft, die eine Diskriminierung der Ziele gebietet. Die
Aufrechterhaltung des Friedens durch das Halten von Millionen von ZivilistInnen als Geisel, ihre
Herabsetzung zu einem bloßen Mittel der Politik könne mitnichten als moralisch gelten. S. Quester, George
H. 2000: The Continuing Debate on Minimal Deterrence, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul,
Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order,
Michigan, S. 167-188, hier S. 174.
So führt z.B. Mlyn die mangelnde Bereitschaft zu Reformen der US-Nuklearpolitik genau auf diese weit
verbreitete Überzeugung zurück. Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold War, in:
Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms
and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 206f.
Thermonukleare Bomben überstiegen wiederum die Explosionsstärke erster Atombomben um das
Tausendfache. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 1.
Gaddis, John Lewis 1989: Long Peace: Inquiries Into the History of the Cold War, Oxford, zitiert nach:
Wiegrefe, Klaus 2005: „Die Kräfte des Allmächtigen“, in: Der Spiegel 31/2005, S. 100-113, hier S. 102.
Der deutsche Physiker Hans-Albrecht Bethe, damaliger Chef der Abteilung für theoretische Physik in Los
Alamos, über die erste Testzündung der Atombombe im Juli 1945. Deutschlandfunk, 2. Juli 2006: Ein Vater
ohne jeden Stolz.
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Der Technikeuphorie ist viertens, der im Zusammenhang mit Nuklearwaffen betriebene Kult
geschuldet, der durchaus vergleichbar mit den zu Ehren von Totem veranstalteten Festen,
aufgeführten Tänzen und gebrachten Opfergaben ist:421
„Nuclear war games, nuclear alert exercises and nuclear test explosions are modern
versions of totemic ceremonial dances which are meant to help reinforce loyalty to the
totem (by making obedience to nuclear orders automatic) and to reinforce the power of
the totem (by reinforcing the credibility of conditional threats to use
nuclear weapons).”422
Das fünfte analoge Merkmal zwischen Nuklearwaffen und Totemgegenständen ist die bereits
getätigte Feststellung, dass Totemisierung sich auf alle einer Gattung zugehörigen Objekte
(z.B. alle Kühe oder alle Beeren) richtet:423 Entsprechend sind auch alle Nuklearwaffen
(unabhängig z.B. von ihrer Sprengkraft, Reichweite und Strahlung) mit dem Einsatzverbot
belegt.424 Um den besonderen Status der Nuklearwaffen aufrechterhalten zu können, müssen
sie sogar allein und automatisch aufgrund ihrer technischen (eben nuklearen) Beschaffenheit
in eine spezielle Kategorie fallen – eine natürliche, auf objektive Merkmale stützbare Grenze
zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Waffengattungen existiert nicht, weshalb
sie entlang willkürlicher Linien gezogen werden muss; die nukleare Technologie diene in
diesem Fall als eine solche.425
Andere Wahrnehmungen schaffen andere Fakten oder warum sich der Mythos
immer bewahrheitet
Beruhend auf der Feststellung, es gäbe per se nichts, was Nuklearwaffen zu andersartigen
Waffen mache,426 wird eben diese sozial konstruierte Klassifizierung von Nuklearwaffen als
Waffen einer besonderen Kategorie zu einem weiteren zentralen Bestandteil des nuklearen
421
422
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424
425
426
Z.B. wurden in Indien 1999 am Jahrestag des ersten erfolgreichen Nuklearbombenversuches große Paraden
veranstaltet. Der damalige indische Ministerpräsident wird mit folgenden Worten zitiert: „Vor einem Jahr
haben wir die Fesseln der Abhängigkeit von fremder Technologie abgeschüttelt.“ Rhein-Zeitung vom 28.
Mai 1999: Neue Gewalt im Kaschmir-Konflikt. Im Zusammenhang mit Indien finden sich auch Hinweise
auf die göttliche Kraft des Tabus, so wurde die erfolgreiche Durchführung der ersten indischen nuklearen
Testexplosion im Jahr 1974 mit dem Codewort „The Buddha smiled“ an die damalige Premierministerin
Indira Gandhi gemeldet. S. Perkovich, George 2005: From Hiroshima to Armageddon: A Reading List, in:
Washington Post, 31.07.2005.
Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start
worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference,
Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 18.
S. S. 32 der Arbeit.
Beispielsweise zielte die in den 1950ern vorangetriebene Entwicklung „kleinkalibriger“ Nuklearwaffen mit
geringer Sprengkraft sowie für den Luftkampf geeigneter nuklearer Raketen durch die Demonstration ihrer
Einsetzbarkeit ohne des Effekts großflächiger Verwüstung, auch auf die Aufhebung des absoluten
Einsatzverbotes – was bekanntlich (bis heute noch) nicht gelungen ist. Schelling, Thomas 1980 [1960]:
Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266,
hier S. 260.
Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict,
Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 261.
Siehe dazu auch Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the
Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual
Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 16ff.
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Tabus. Eine solche Kategorie wurde mit der 1948 in einer UN-Resolution427 vorgenommenen
Definition von „Massenvernichtungswaffen“ zur Verfügung gestellt, wodurch die Möglichkeit
eröffnet wurde, Nuklearwaffen mit einem uneingeschränkten Stigma als inakzeptables Mittel
der Kriegsführung zu belegen.428 In Abgrenzung zur Bezeichnung „konventionelle Waffen“
für diejenigen Waffen, die sich „by compact, by agreement, by convention“ als Kampfmittel
eignen, deren Einsatz in bestimmten Situationen erwartet und somit als im Einklang mit
bestehenden Normen, ergo auch nicht als Regel- und schon gar nicht als Tabubruch gewertet
werden würde, argumentiert Schelling, es gäbe eine „established convention that nuclear
weapons are different“429 und aus diesem Grund nicht einsetzbar. Für diese traditionell (und
nicht rational) begründete und zudem stark normativ aufgeladene Unterscheidung von
Nuklearwaffen und konventionellen Waffen spielt die Wahrnehmung eine zentrale Rolle: Es
sei demnach notwendig, anzuerkennen, dass „a distinction can exist between nuclear and other
weapons even though the distinction is not physical but is psychic, perceptual, legalistic or
symbolic“.430 Mit anderen Worten, gehören die an bestimmte Waffen geknüpften
Assoziationen genauso zu ihrem Wesen wie ihre physischen Eigenschaften. Waffen können
anders sein, weil die Menschen glauben, dass sie anders sind; weil sie „als einzigartig
wahrgenommen werden“.431 Die Konstruktion der Außergewöhnlichkeit dieser Waffen
vollzieht sich, wie durch den obigen Verweis auf die Schaffung einer neuen Definition
angedeutet, durch bestimmte diskursive Praktiken: In ihrem Rahmen werden mittels
Grenzziehungen sowohl zwischen unterschiedlichen Waffengattungen als auch potentiellen
Angriffszielen bestimmte Handlungen nicht nur als illegitim gebrandmarkt, sondern im
zweiten Schritt auf Basis dieser Stigmatisierung Handlungsoptionen sukzessive verdrängt,
womit der Entscheidungsspielraum des Akteurs verengt wird.432
So entsteht, wenn auch nicht zwangsläufig aufgrund der technischen Merkmale oder der
Destruktivität (die auch von anderen Waffen erreicht werden kann), dennoch eine zu Tabus
gehörende „bright line“433 – die Wahl einer delegitimierten Option wie des Gebrauches
427
428
429
430
431
432
433
Diese Resolution wurde von der dem Sicherheitsrat unterstehenden Commission for Conventional
Armaments am 12. August 1948 verabschiedet und legte als ihren Aufgabenbereich alle Waffen, mit
Ausnahme von Massenvernichtungswaffen wie Nuklear-, Bio- und Chemiewaffen bzw. solchen Waffen, die
ihrer Wirkung nach mit den genannten vergleichbar seien, fest.
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 18ff.
Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for
Philosophy and Public Policy 20:2/3 sowie Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited
War, in: Ders.: The Strategy of Conflict, Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 260.
Schelling, Thomas 1980 [1960]: Nuclear Weapons and Limited War, in: Ders.: The Strategy of Conflict,
Cambridge/London, S. 257-266, hier S. 257.
Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der
Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 10.
Eine detaillierte Darstellung dieses Prozesses in den USA und auf internationaler Ebene findet sich unter
Punkt 5.2.2, S. 127 der Arbeit.
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 8.
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einzigartiger Waffen würde auch einzigartige Konsequenzen nach sich ziehen. Was schon
allgemein im Zusammenhang mit Tabus als selbsterfüllende Prophezeiung beschrieben
wurde,434 kann also am nuklearen Tabu besonders deutlich demonstriert werden. „If men
define situations as real, they are real in their consequences“,435 bringt Tannenwald die
Annahme auf den Punkt, der die Nuklearwaffen umgebende Mythos würde sich in der Tat
infolge eines nuklearen Einsatzes bewahrheiten, weil unabhängig von den faktisch
angerichteten Schäden wie Todesopfern oder radioaktiver Kontamination die Reaktionen auf
einen als Tabubruch klassifizierten Nuklearangriff vermutlich – eben weil es sich bei ihnen
weniger oder zumindest nicht nur um die Vergeltung der Todesopfer, sondern ganz
wesentlich auch um die Vergeltung des Tabubruches selbst handelt – so verheerend ausfallen
würden, dass man „immediately in a new world with all the unimaginable consequences that
could follow“ wäre.436
Die Basis der Undenkbarkeit: apokalyptische Angst und absolute Amoralität
Die Erwartung „unvorstellbarer“ Einsatzfolgen deutet das Vorliegen eines weiteren zentralen
Tabucharakteristikums im Falle des nuklearen Tabus an: Die Undenkbarkeit eines
Tabubruches. Die Horrorszenarien, die sich beim bloßen Gedanken daran unmittelbar
entfalten, lösen das sofortige Abschmettern möglicher Zweifel an der Gültigkeit des Tabus
aus. Nicht nur wagt man es nicht, sich der „apocalyptic vision“ eines nuklearen Holocausts
hinzugeben und sich eine Welt nach einem Nuklearschlag auszumalen, schon der Gedanke an
einen solchen Angriff würde politischen Entscheidungsträgern gar nicht in den Sinn kommen,
und falls es dennoch geschähe, sollte sich sofort das Gefühl, man tue etwas völlig
Inakzeptables, indem man den Tabubruch auch nur gedanklich in Betracht ziehe, einstellen:
„[A]bhorrence at the thought (…) be such that the idea of using them [Nuklearwaffen, ER]
would be immediately dismissed without reaching the point of being considered a real
alternative “.437 Weil der Nicht-Einsatz selbstverständlich, die Option eines Einsatzes hingegen
„inconceivable“,438 „unthinkable“ und „simply out of the question“ erscheint439 und darüber
hinaus anzunehmen ist, dass, wer nach einer möglichen Begründung der non-option fragen
434
435
436
437
438
439
S. S. 34 der Arbeit.
So Tannenwald unter Rekurs auf das Soziologenpaar William and Dorothy Thomas, s. Tannenwald, Nina
2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49,
hier S. 8f.
Ob die Menschheit in der Welt danach überhaupt noch existiert hätte, darf angesichts der während des
Kalten Krieges zwischen den beiden Supermächten herrschenden „Mutual Assured Destruction (MAD)“Doktrin bezweifelt werden.
Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 320ff. sowie Paul, Thazha V.
1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S.
696-717, hier S. 702.
Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons
Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World
Politics, S. 114-152, hier S. 125.
Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91,
hier S. 80.
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würde, ohnehin nicht in der Lage wäre, die Antwort zu verstehen,440 wird eine öffentliche,
seine Kosten und Risiken sowie Nutzen und Vorteile abwägende Diskussion so unnötig wie
unmöglich. Eine ernsthafte Infragestellung der inhumanen, abscheulichen und wahllos
zerstörerischen Natur der Nuklearwaffen, das Leugnen ihrer „random, indiscriminate and
universal violence inflicting terrible pain“441 würde zu einem empörten Aufschrei der
Öffentlichkeit führen und – weil sie zu einer Relegitimierung der als höchst unmoralisch
erachteten Waffen führen könnte – selbst als höchst unmoralisch gewertet werden.
Diese dem nuklearen Einsatzverbot zugrunde liegenden Moralvorstellungen finden sich
überwiegend in den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts442 sowie den (davon nicht
trennscharf abgrenzbaren) Prinzipien des Gerechten Krieges,443 die ihrerseits zwei
Betrachtungsweisen auf Nuklearwaffen eröffnen: Während die erste Interpretation postuliert,
Technologien seien wertneutral, d.h. eine Waffe an sich könne gar nicht über einen
moralischen oder unmoralischen Charakter verfügen, sondern lediglich ihr Einsatz einem
moralischen Urteil unterzogen werden, stellen Nuklearbomben der zweiten Auffassung, wie
sie im nuklearen Tabu ihre Entsprechung findet, zufolge eine per se unmoralische
Waffengattung dar. Verboten sind von diesem Standpunkt aus nicht nur bestimmte Arten des
Waffeneinsatzes, sondern die Waffen selbst und zwar, weil sie fundamentalen Geboten wie
dem der Diskriminierung (von zivilen und militärischen Zielen) sowie der Verhältnismäßigkeit
der Mittel niemals gerecht werden könnten444 und geradezu „offensive to all morality “445 sind.
Es könne schlichtweg kein Verhältnis zwischen den mittels militärischer Nutzung von
Nuklearwaffen möglicherweise erreichten Zielen und der katastrophalen, massiven
440
441
442
443
444
445
Wir erinnern uns an Freuds Aussage (s. S. 35 dieser Arbeit), das Tabu erschiene nur den von ihm
Beherrschten selbstverständlich, allen anderen jedoch nicht einleuchtend. So argumentiert auch Schelling,
dass die Bemühungen, jemandem, dem das Tabu unbekannt ist, klar zu machen, warum eine nukleare
Bombe mit einer womöglich geringeren Sprengkraft als eine nicht-nukleare dennoch nicht als
konventionelle Waffe gelten könne, vergeblich seien, denn während die einen meinen, die Antwort darauf
intuitiv zu wissen, stellt sich bei den anderen dieses Gefühl einfach nicht ein. Schelling, Thomas 2000: The
Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public
Policy 20:2/3.
Rhodes, Richard 1986: Tongues of Fire, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 679-747, hier S. 719.
Festgehalten seit 1856 in zahlreichen Dokumenten, die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle
sind die bekanntesten, für eine Übersicht s. Website des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, online
unter: <http://www.icrc.org/ihl.nsf/INTRO?OpenView>, rev. 10.07.2006.
Für einen Überblick über die Lehre vom Gerechten Krieg sowie Verweise auf zentrale Monographien s.
Mayer, Peter 1999: War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien moralisch gerechtfertigt? Die Operation
„Allied Force“ im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen
2/1999, S. 287-321, insbesondere S. 291ff.
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 11.
So verlieh 1954 Paul Nitze, der damalige Direktor des Planungsstabes und der spätere Sicherheitsberater
Kennedys während der Kuba-Krise, in seiner Argumentation gegen massive nukleare Vergeltungsschläge,
aber auch gegen Präventivkriege, dieser Auffassung Ausdruck. Entscheidend ist für ihn, dass die auf der
Seite der Moral stehenden Vereinigten Staaten (in Abgrenzung zur auf der anderen Seite stehenden UdSSR),
durch den Verzicht auf die inhumanen Waffen als Kampfmittel auch auf dieser Seite bleiben und ein reines
Gewissen behalten. Zitiert nach: Talbott, Strobe 1988: The Master of the Game. Paul Nitze and the Nuclear
Peace, New York, hier S. 64.
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En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
Vernichtung von (unschuldigen) Menschenleben geben, das im Rahmen des Akzeptablen läge.
Die Zivilbevölkerung wird hierbei auf ein Mittel der Politik herabgesetzt, was barbarisch ist,
weil es gegen die Menschenwürde verstößt und der Mensch hier nicht mehr Selbstzweck,
sondern nur noch Mittel zum Zweck ist.446 Außerdem bedeuteten die kaum kontrollierbaren
und unkalkulierbaren Spätfolgen, (die, selbst wenn die Opferzahlen mit einem
konventionellen Einsatz vergleichbarer sind, nach wie vor relevant bleiben) ein untragbares
Risiko, so die Argumentation von FriedensaktivistInnen.447 Auch Präsident Truman bekräftigt,
rekurrierend auf das Verbot, Nicht-KombattantInnen zu militärischen Zielen zu erklären und
anzugreifen, nach den Nuklearschlägen gegen Japan nicht nur die oben bereits ausgeführte
Ansicht, man müsse Nuklearwaffen von anderen unterscheiden, sondern formuliert auch
seine Zweifel, ob sie aufgrund ihrer Grausamkeit jemals wieder militärisch eingesetzt
werden könnten:
„You’ve got to understand that this isn’t a military weapon… It is used to wipe out
women and children and unarmed people, and for not military uses. So we have got to
treat it differently from rifles and cannon and ordinary things like that."448
Von Vertretern der Theorie des gerechten Krieges wird außer den zwei bereits genannten
ebenfalls die Forderung nach einer angemessenen Erfolgswahrscheinlichkeit erhoben – in
Anbetracht der Tatsache, dass ein nuklearer Einsatz zu Zeiten der Blockkonfrontation einen
sofortigen Zweitschlag ausgelöst hätte, was niemals als Erfolg hätte gewertet werden können,
laufen Nuklearwaffen auch diesem Grundsatz zuwider. Ferner findet das Prinzip der ultima
ratio, das besagt, ein Krieg dürfe nur dann begonnen werden, wenn alle anderen Alternativen
ausgeschöpft wurden, auch Anwendung auf Nuklearwaffen: Sie gelten aufgrund ihrer
Besonderheit als „weapons of last resort“,449 die ein Staat ausschließlich als letzte Chance zur
Sicherung seines eigenen Überlebens begreifen und nutzen dürfe. Gleichzeitig deutet diese,
wenn auch nur als letzter Ausweg, so doch vorhandene Option, auf den ambivalenten
Charakter des nuklearen Tabus hin – einerseits sind Nuklearwaffen absolut verschmäht und
verboten, andererseits ist ihre militärische Nutzung jedoch die ganze Zeit zumindest „ein
bisschen denkbar“ und in manchen Situationen erscheint sie gar als letzte Rettung, als der die
Vernichtung der Gemeinschaft verhindernde Schutzgeist.450
446
447
448
449
450
Rhodes, Richard 1986: Tongues of Fire, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 679-747, hier S. 698.
Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict
Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 704.
Zitiert nach: Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms
and American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326, hier S. 315.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 448.
Das Verbot militärischer Nutzung und zugleich ihr politischer Gebrauch in der Abschreckungsstrategie
wird von Daase als ein weiteres Element der mehrfachen, zwischen den beiden Polen „Achtung und
Ächtung “ entstehenden Ambivalenz des nuklearen Tabus interpretiert. Ausführlich s. Daase, Christopher
2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in:
Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 18f.
– 124 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
Der Rechtsstatus – beinahe völkerrechtswidrig
Widergespiegelt wird diese Ambivalenz ebenso in der Rechtslage von Nuklearwaffen: Zum
Einen handelt es sich beim nuklearen Tabu um ein ungeschriebenes, d.h. nicht-verrechtlichtes
Verbot ihrer militärischen Nutzung, hat doch „niemand die Unterscheidung zwischen
nuklearen und konventionellen Waffen dekretiert“,451 genauso wenig wie jemand „eine Norm
erlassen [hat], die den Einsatz von Nuklearwaffen verbietet; und es gibt auch keine
Vereinbarung, in der sich Staaten generell zu einem Nichteinsatz verpflichtet hätten.“452 Zum
Anderen vertreten einige RechtsexpertInnen durchaus überzeugend die Ansicht, die Norm
ließe sich auch ohne eine Rechtsvorschrift, die explizit den Nuklearwaffeneinsatz verbietet
(wie es z.B. in der Chemiewaffenkonvention der Fall ist),453 auf Basis unterschiedlicher
Prinzipien des Völkerrechts, wie z.B. dem in Artikel IV der UN-Charta festgehaltenen
Gewaltverbot, dem Verbot von Verbrechen gegen die Menschlichkeit,454 dem Verbot, dem
Feind durch gezielte Tötung von Nicht-KombattantInnen schaden zu wollen, aber auch,
KombattantInnen unnötiges Leid zuzufügen, begründen.455 Dieser Ansicht schloss sich der
Internationale Gerichtshof (IGH) 1996 in einer Advisory Opinion zwar grundsätzlich an –
und konnte dennoch keine abschließende Feststellung, dass es unter allen Umständen illegal
sei, Nuklearwaffen abzuwerfen, tätigen. Zur Begründung wurden zwei mögliche Ausnahmen
angeführt:
Erstens
sei
(ebenfalls
den
gewohnheitsrechtlichen
Prinzipien
von
Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit unterliegende) Selbstverteidigung nach Artikel 51 der
UN-Charta ein jedem Staat zustehendes Recht und obwohl ein nuklearer Zweitschlag
aufgrund der nachhaltigen Zerstörung und des Eskalationsrisikos nur sehr unwahrscheinlich
als verhältnismäßige Reaktion aufgefasst werden könnte, wird damit nicht kategorisch
ausgeschlossen, dass eine nukleare Reaktion, die sowohl der Sicherung der weiteren Existenz
451
452
453
454
455
Wobei einschränkend argumentiert werden könnte, dass die oben zitierte Resolution der Kommission für
konventionelle Waffen Massenvernichtungswaffen als außerhalb ihrer Zuständigkeit definierte und dadurch
durchaus eine Unterscheidung zwischen ihnen und konventionellen Waffen „dekretierte“.
Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der
Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, hier S. 20.
Das explizite Einsatzverbot, aber auch das Entwicklungs- und Produktionsverbot sind bereits im Titel
dieses Übereinkommens enthalten „Convention on the Prohibition of the Development, Production,
Stockpiling and Use of Chemical Weapons and on their Destruction “.
Zum ersten Mal kodifiziert in der Haager Landkriegsordnung von 1907, wurde dieser völkerrechtliche
Straftatbestand in der Londoner Charta (zur Verfolgung der Kriegsverbrecher des 2. Weltkrieges) von 1945
und 2002 im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes bekräftigt.
Während die Überlegung, inwieweit die Inkaufnahme ziviler Opfer bei der Zerstörung relevanter
militärischer Ziele gerechtfertigt werden kann, ebenfalls nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten
durchgeführt werden sollte und der dabei erreichte militärische Vorteil gegen „Kollateralschäden“
abzuwägen ist, besteht Konsens darüber, dass es unter keinen Umständen gerechtfertigt sein kann, ganze
Städte und damit die Bevölkerung des feindlichen Landes zu Angriffszielen zu erklären. S. International
Court of Justice 1996: Legality of the threat or use of nuclear weapons. Dissenting Opinion of Judge
Higgins. Im Gegensatz zu einer „counterforce strategy “, die darauf abzielt, durch Bombardements
militärische Objekte zu zerstören, die dem Feind in der Kriegsführung nützen, werden mit einer gegen
Städte und andere zivile Ziele gerichteten „countervalue strategy “ Objekte ins Visier genommen, die der
Feind am meisten wertschätzt. S. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge,
S. 147ff. Für Verweise auf Rechtsmeinungen siehe Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation
in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 705.
– 125 –
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eines Staates dient als auch die genannten Prinzipien wahrt, legal sein könnte. Das zweite
Argument (auf das sich auch die USA beriefen), ein nuklearer Einsatz müsse nicht
zwangsläufig das humanitäre Völkerrecht brechen, denn es gäbe deutliche Unterschiede im
Destruktivitätspotential von Nuklearbomben, liege doch auch ein clean-use mit strahlungswie niederschlagsarmen Bomben in unbesiedelten Gebieten und somit ausschließlich gegen
militärische Objekte im Rahmen des Möglichen, wurde vom IGH – mit dem Verweis auf das
auch im Falle eines eventuellen clean-use unkalkulierbare Eskalationsrisiko – ausgesprochen
kritisch gesehen. Und dennoch konnten die RichterInnen, wie im Falle der Selbstverteidigung,
nicht klar schlussfolgern, dass selbst ein clean-use völkerrechtswidrig sein muss.456
Zusammenfassung: Sieben Gesichtszüge der Unberührbaren
Besonders interessant ist am IGH-Urteil, dass die Justiz hier, durch das Einbeziehen der selbst
bei einem clean-use fortbestehenden Eskalationsgefahr in ihre Argumentation, der bereits
erläuterten Eigenschaft des (nuklearen) Tabus Rechnung trägt, Reaktionen nicht ausschließlich
auf Basis der faktischen Schäden, sondern auch auf Basis des perzipierten Tabubruches zu
provozieren. Zusammenfassend können daneben
Kerncharakteristika des nuklearen Tabus gelten:
folgende
sieben
Elemente
als
1. Nuklearwaffen genießen einen Totem-Status: sie alle sind geächtet und geachtet,
gefürchtet und geweiht, Dämon und Schutzgeist.
2. Es existiert eine über die technische Unterscheidung dieser Waffengattungen
hinausgehende, scharfe moralische Trennung zwischen konventionellen und
nuklearen Waffen.
3. Letztere stellen eine besondere – mit Attributen wie „monströs“, „inhuman“ und
„besonders tödlich“ besetzte – Waffengattung dar, deren Gebrauch zwangsläufig zu
apokalyptischen Konsequenzen führen muss.
4. Sie sind deshalb nicht für den Ersteinsatz bestimmt, sondern ausschließlich
Abschreckungs-, ggf. Verteidigungswaffen, und selbst dann nur
5. weapons of last resort, deren Einsatz nur in zwei Fällen als denkbare Option in Frage
kommt: Entweder als Reaktion auf einen bereits erfolgten nuklearen Erstschlag oder als
letzte Möglichkeit, die Existenz des eigenen Staates zu retten.
6. Die Gültigkeit des Tabus ist selbstverständlich. Sie erlaubt keine Reflexion und bedarf
keiner Begründung (mehr): Der Kampf mit diesen Waffen verbietet sich quasi von selbst.
7. Das Tabu wurde seit seiner Entstehung kein einziges Mal gebrochen und wird durch die
lange und mächtige non-use-Tradition besonders gestärkt.
Wie die Nicht-Einsatznorm eine derartige Geltungskraft erlangen konnte, d.h. welche
Stationen sie im Laufe ihres Internalisierungsprozesses durchlaufen hat, welche Akteure in
diesem Prozess relevant waren und welcher Strategien sie sich bedienten, um die Norm zu
etablieren, wird im folgenden Kapitel erläutert.
456
Eine detaillierte Diskussion des Urteils aus konstruktivistischer Perspektive findet sich in: Farrell,
Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and American
nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326.
– 126 –
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5.2.2 Locking nukes in Pandora’s box: Entstehungsprozess des nuklearen Tabus
„Evidence for the taboo lies in discourse, institutions,
and behaviour. The most obvious evidence lies in
discourse – the way people talk and think about nuclear
weapons – and how this has changed since 1945.“ 457
Brachen die USA 1945 ein Tabu, als sie die bedingungslose Kapitulation des demoralisierten
Japan mit zwei atomaren Angriffen gegen seine Zivilbevölkerung erzwangen? War Präsident
Truman, als er den Einsatzbefehl gab, der Ansicht, unkonventionelle, barbarische, jeglichen
moralischen Grundsätzen zuwiderlaufende Waffen zu nutzen und damit das Ende der
Gemeinschaft zivilisierter Staaten, ja der ganzen Welt, zu riskieren? Die angesichts anderer
Greueltaten des vorausgegangenen Weltkrieges ohnehin entsetzte und schockierte
Öffentlichkeit war nach diesem Ereignis noch entsetzter und noch schockierter – wo aber
blieb die breite Empörung, die man infolge des Überschreitens einer „bright line“ erwarten
würde?
Anscheinend gab es deshalb keinen Bruch, weil es zu diesem Zeitpunkt noch kein Tabu
gab – Hiroshima und Nagasaki stellten zunächst nichts anderes als eine „natürliche“458
Fortsetzung
der
im
459
Städtebombardements,
Zweiten
Weltkrieg
ausgiebig
angewandten
Strategie
der
bloß mit neuen, effektiveren Waffen dar, die, während counterforce-
Bombardements zur Zerstörung militärischer Anlagen genutzt wurden, als countervalueTaktik460 den Kampfwillen des Gegners brechen und ihn durch Demoralisierung zum
Aufgeben bewegen sollten.461 Zunächst eher als Ausdruck der Kontinuität denn des Wandels
gewertet, wurden Hiroshima und Nagasaki sukzessive zu Präzedenzereignissen und sie
können, im Unterschied zu anderen Tabus, deren Ursprünge häufig im Verborgenen liegen,
als grauenvolle Kontrastpunkte gelten, die den Tabuisierungsprozess angestoßen haben.
Entscheidend waren in diesem Zusammenhang ausgerechnet die an der Entwicklung der
Atombomben beteiligten Wissenschaftler, wenn auch unter ihnen keine Einigkeit darüber
herrschte, wie erstens die Beurteilung des Geschehenen und zweitens der weitere Umgang mit
den von ihnen entfesselten Kräften aussehen sollte: Während Edward Teller, teils aufgrund
seines Pessimismus gegenüber der Sowjetunion, teils aufgrund seiner Überzeugung, man
könnte technische Entwicklungen ohnehin nicht verhindern, seine Nuklearforschungen
fortsetzte (und später die Wasserstoffbombe erfand) und Ernest Lawrence einen Tag nach
457
458
459
460
461
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 9.
Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start
worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference,
Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 15.
Zu Städtebombardements bzw. zum counter-city-targeting während des Kalten Krieges siehe ausführlich:
Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and
American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326, hier S. 318ff.
Zu den Begriffen counterforce und countervalue S. FN 455, S. 125 der Arbeit.
Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons
Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World
Politics, S. 114-152, hier S. 134ff.
– 127 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
Hiroshima seinen Beitrag am Bau der Atombombe stolz hervorhob und ihren Einsatz
befürwortete, weil er in der abschreckenden Kraft der Atombomben das Potential sah, Kriege
ein für alle Mal zu beenden, war ein Teil ihrer Kollegen gänzlich anderer Auffassung. So
bereuten Albert Einstein und Leo Szilard inzwischen, Roosevelt mit den Warnungen vor der
deutschen Atombombe überhaupt zum Start eines eigenen Programms bewogen zu haben.
Beide hatten bereits im Vorfeld Initiativen gegen einen Abwurf gestartet, nachdem ihnen
mögliche Konsequenzen des „opening the door to an era of devastation of an unimaginable
scale “ bewusst wurden – zahlreiche Wissenschaftler aus Los Alamos, z.B. auch Eugene Wigner,
schlossen sich ihnen an. Nachdem sie den ersten Angriff, der ihre schlimmsten Vermutungen
übertraf und den sie als „flagrant violation of our own moral standards“462 betrachteten, nicht
verhindern konnten, sahen sie ihre Aufgabe darin, Politik und Militär von der Grausamkeit
der Waffen zu überzeugen und sie von weiteren Einsätzen abzubringen. Robert Oppenheimer
verspürte angesichts der unfassbaren Zerstörungen tiefe Schuldgefühle, hatte er doch
geglaubt, mit der Entwicklung der Bombe der Menschheit zu dienen – seine vielzitierte
Aussage „Now I have become Death, destroyer of worlds” verleiht der besonderen Tragik
seiner Rolle Ausdruck.463 Wenig später weigerte er sich, zusammen mit Teller weiterhin an
Waffenentwicklungen zu arbeiten und war ein entschiedener Gegner der Wasserstoffbombe.
Szilard verließ die Physik gänzlich und wandte sich der Biologie zu.464
Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, die sehr früh den besonderen Charakter der
Waffen sowie ihre moralischen Implikationen thematisierten und vehement gegen ihren
weiteren Einsatz opponierten, erschienen in der ersten Zeit nach ihrem Einsatz Atombomben
den meisten Entscheidungsträgern in den Vereinigten Staaten nicht als Angehörige einer
anderen Waffengattung und waren für diese immerhin aus moralischer Sicht noch so
unproblematisch, dass auch weitere Abwürfe ernsthaft in Erwägung gezogen wurden. Auch in
der amerikanischen Öffentlichkeit war nicht die Rede von einem nuklearen Tabu,465 vielmehr
fanden die Einsätze in der Notwendigkeit zur Beendigung des Krieges ihre Rechtfertigung,
wobei Meinungsumfragen zufolge mehr als 80 Prozent der Bevölkerung diese Position teilten.
Unterdessen nahm die neugegründete UN-Generalversammlung am 24. Januar 1946 einen
von den USA zusammen mit anderen permanenten Sicherheitsratsmitgliedern eingebrachten
Entwurf einstimmig an und wies damit in ihrer ersten Resolution auf die Dringlichkeit zur
Kontrolle atomarer Energie, mit dem Ziel, sicherzustellen, dass diese ausschließlich zu
462
463
464
465
Rhodes, Richard 1986: Epilogue, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 749-788, hier S. 750.
Oppenheimer zitiert nach: A Dangerous Lid to Lift, Editorial der Los Angeles Times vom 13. März 2002.
Rhodes, Richard 1986: Epilogue, in: Ders.: The Making of the Atomic Bomb, S. 749-788, hier S. 749ff.
sowie Wiegrefe, Klaus 2005: „Die Kräfte des Allmächtigen“, in: Der Spiegel 31/2005, S. 100-113.
Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91,
hier S. 80.
– 128 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
friedlichen Zwecken Anwendung finden dürfe, hin.466 In den USA selbst bestand hingegen
weniger Einigkeit hinsichtlich des Verwendungszwecks und der Natur von Nuklearwaffen:
„Although many individuals, including some U.S. leaders, were clearly troubled by the
immense destructive power of the new weapon and its possibly revolutionary
implications, others viewed it as just another military weapon.“467
Für letztere habe gerade der Ausgang des Krieges das Potential der Atomwaffen offenbart,
erfolgreich gegen Feinde vorzugehen, so gab es z.B. in den Luftstreitkräften, die sie
letztendlich an ihren Bestimmungsort bringen würden, weder moralische noch strategische
Bedenken, ließen sich die Waffen doch problemlos in bestehende Pläne integrieren, und seien
sie nicht anders als konventionelle Bomben, wenn man ihre Radioaktivität reduzieren
könne.468 Mit dem letzten Hinweis sollte bewusst eine Abgrenzung zu sich zu diesem
Zeitpunkt aufgrund der schrecklichen Erfahrungen mit Giftgas im Ersten Weltkrieg bereits im
Stigmatisierungsprozess befindenden, also schon als anders interpretierten chemischen
Waffen469 gezogen werden – wenn Atombomben weniger oder keinen radioaktiven fallout
produzieren, sind sie nicht giftig, ergo auch nicht anders.470
Beginnende Stigmatisierung wenige Jahre nach Hiroshima
Die Bestrebungen, den Glauben an den konventionellen Charakter der Atomwaffen
aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, deuten die offensichtlich bereits sehr früh
vorhandenen Befürchtungen, die Waffen könnten doch für anders gehalten werden können,
an. Zur Entstehung dieser Befürchtungen haben auf internationaler Ebene zahlreiche
Aktivitäten der Vereinten Nationen, die sich – als Institution, die geschaffen wurde, um die
Menschheit „vor der Geißel des Krieges zu befreien“471 – seit ihrer Gründung prominent und
intensiv mit dem Thema Abrüstung im Allgemeinen und Nuklearwaffen im Konkreten
beschäftigt haben, beigetragen: Angefangen bei der oben erwähnten Resolution zur Kontrolle
der Atomenergie und zur Klassifizierung atomarer, biologischer, chemischer sowie „aller
anderen
Waffen
mit
einem
vergleichbaren
destruktiven
Effekt“
als
Massenvernichtungswaffen, über die Einrichtung der Internationalen Atomenergiebehörde
466
467
468
469
470
471
Resolution der Generalversammlung A/RES/1(1) vom 24. Januar 1946: Establishment Of a Commission to
Deal With the Problem Raised By the Discovery of Atomic Energy.
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 15f.
Zu Einstellungen der Air Force s. Cillessen, Bret J. 1998: Embracing the Bomb: Ethics, Morality, and
Nuclear Deterrence in the U.S. Air Force, 1945-55, in: Journal of Strategic Studies 21:1, S. 96-134, zitiert
nach: Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International
Security 29:4, S. 5-49, hier S. 16.
Zum Tabuisierungsprozess von Chemiewaffen sind die Arbeiten von Price einschlägig, s. Price, Richard
1995: The Genealogy of the Chemical Weapons Taboo, in: International Organization 49:1, S. 73-103,
Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons
Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World
Politics, S. 114-152 sowie die Monographie: Price, Richard 1997: The Chemical Weapons Taboo, Ithaca.
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 17.
Charta der Vereinten Nationen, Präambel.
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En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
(International Atomic Energy Agency, IAEA) im Jahr 1957 und des 1. Komitees der
Generalversammlung, das sich ausschließlich mit Abrüstungsfragen befasst und in dessen
Rahmen
der
NPT
verhandelt
wurde,
bis
hin
zur
Einberufung
zahlreicher
Spezialkommissionen, ist die UNO zu einem bedeutenden „forum for delegitimation
politics“472 geworden und hat sowohl dafür gesorgt, dass Rüstungskontroll- und -
Technologiefragen stets internationale Aufmerksamkeit zuteil wurde als auch dafür, dass der
Handlungsfreiheit im Umgang mit Nuklearwaffen Grenzen auferlegt wurden.473
Parallel dazu begann sich, auch als Reaktion auf die beginnende Organisation der
Hiroshima-Überlebenden und ihre Forderungen, Atomwaffen für immer abzuschaffen474
sowie auf die von der UdSSR vorgebrachten – im Lichte eigener nuklearer
Rüstungsanstrengungen zugegebenermaßen scheinheiligen – Forderungen nach einem Verbot
von Atomwaffen, in den frühen 1950er Jahren auch auf transnationaler Ebene eine breite
globale antinukleare Bewegung zu formieren, der sich unterschiedliche, vornehmlich westliche
Gruppen anschlossen.475 Geleitet von einem „general sense of revulsion regarding nuclear
weapons“ und der angesichts der sich zuspitzenden Supermachtkonfrontation verständlichen
Angst vor einem Nuklearkrieg, aber auch besorgt über mögliche negative Folgen der zahlreich
durchgeführten Nukleartests für Umwelt und Gesundheit, hat die Anti-Atombewegung durch
die Beeinflussung des framings, also die Schaffung bestimmter Interpretationsstrukturen im
Zusammenhang mit Nuklearwaffen,476 in dreifacher Weise zur diskursiven Tabuentwicklung
beigetragen:
Erstens
konnte
in
einem
agenda
setting -Prozess
der
bislang
auf
Sicherheitsthemen reduzierte Diskurs um Nuklearwaffen um die mit ihnen verbundenen
gesundheitlichen, humanitären und umweltpolitischen Aspekte erweitert werden – mögliche
Folgen der Atombombenentwicklung und –Nutzung wurden in aller Deutlichkeit durch
Verweise auf Hiroshima und Nagasaki publik gemacht. Es ist zweitens gelungen, die
Entwicklung, den Besitz und den Einsatz von Nuklearwaffen auch aus einer moralischen
Perspektive zu diskutieren: „The question of whether we arm ourselves with nuclear weapons
472
473
474
475
476
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 19.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 436.
Überlebende eines Angriffs werden im Japanischen hibakusha (wörtlich übersetzt: explosionsgeschädigte
Personen) genannt, heute leben noch schätzungsweise ca. 250.000 von ihnen in Japan – im Jahr 1986 wurde
ein Projekt durchgeführt, in dessen Verlauf Statements von hibakusha aufgezeichnet wurden.
Tragischerweise waren sie – als Opfer des Tabubruches – in der japanischen Gesellschaft ebenfalls
Jahrzehnte lang tabuisiert. (Eine Parallele zu tabu werdenden Folteropfern, s. S. 84 der Arbeit). Für
hibakusha-Berichte s. z.B. <http://www.inicom.com/hibakusha/>, rev. 10.07.2006.
Soweit nicht anders gekennzeichnet, vergleiche für den kommenden Abschnitt: Tannenwald, Nina 2005:
Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 20-23.
Tannenwald verwendet hier das unter 2.4.1 (S. 24) vorgestellte Spiralmodell, um das Zusammenspiel
zwischen verschiedenen nationalen, transnationalen und internationalen Akteuren zu illustrieren, das zur
Tabuisierung von Nuklearwaffen geführt hat.
Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons
Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World
Politics, S. 114-152, hier S. 123.
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is, perhaps, the supreme moral issue of our day.“477 Die moralische Bewusstseinsbildung wurde
durch Massendemonstrationen und andere Protestaktionen unterstützt, welche auf ein großes
mediales Echo stießen, und – drittens – zu einer hohen öffentlichen Mobilisierung führten,
wodurch der Druck auf Entscheidungsträger, ihre Nuklearpolitik zu reflektieren und zu
legitimieren, wachsen konnte.
Die US-Präsidenten und die Kraft des Tabus: nicht durchgehend konstitutiv
War ein derart starker öffentlicher Druck auf und unter Präsident Truman nicht notwendig, da
er sich, infolge seiner eigenen „post-Hiroshima abhorrence“478 mit Nachdruck gegen
Nuklearschlagsempfehlungen des Militärs im Korea-Krieg gewandt hat, und sich darüber
hinaus aufgrund seiner und der öffentlichen Skepsis gegenüber dem Militär mit Unterstützung
des Kongresses für einen Ausbau der zivilen Kontrolle über Nuklearwaffen einsetzte,479 wurde
die Kraft der öffentlichen Meinung für die Nuklearpolitik der Nachfolgeregierung zu einem
entscheidenden Faktor. So zollte ihr der Außenminister der Eisenhower-Administration John
Foster Dulles Tribut, als er 1953 seine MitarbeiterInnen auf die Notwendigkeit zur
Beseitigung des nuklearen Tabus hinwies, von dem er alles andere als überzeugt war, beruhe
es seiner Ansicht nach auf einer „false distinction“ zwischen verschiedenen Waffengattungen:
„Somehow or other we must manage to remove the taboo from the use of these weapons“.480
Die
durch
den
laufenden
Tabuisierungsdiskurs
als
eingeschränkt
empfundenen
Handlungsoptionen der Vereinigten Staaten sollten mittels der Redefinitionsstrategie der
conventionalization wieder erweitert werden und das „moral problem in the inhibitions on the
use of the A-Bomb“481 demnach dadurch umgangen werden, dass Atomwaffen erstens im
Diskurs so behandelt werden als seien sie konventionell; Vertreter militärischer und politischer
Eliten betonten hierbei ihren moralischen Charakter sowie die mit anderen Waffen
bestehenden Gemeinsamkeiten – statt Unterschiede. Zweitens sollte durch die Entwicklung
kleinerer, taktischer Atombomben mit dem Ziel, sie gegen militärische Ziele zu richten, ihre
Einsatzfähigkeit erhöht sowie das Argument gestärkt werden, eine diskriminierende
Verwendung ohne Folgekontamination sei sehr wohl möglich, die Waffen müssten folglich
nicht zwangsläufig inhuman sein. Sie sollten – drittens – ohne Sonderstatus in die
477
478
479
480
481
Wittner, Lawrence S. 1993: Resisting the Bomb. A History of the World Nuclear Disarmament Movement,
zitiert nach: Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in:
International Security 29:4, S. 5-49, hier S. 23.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 446.
Farrell, Theo/Lambert, Hélène 2001: Courting Controversy: international law, national norms and
American nuclear use, in: Review of International Studies 27:3, S. 309-326, hier S. 315.
Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of Conflict
Resolution 39:4, S. 696-717, hier S. 702. Diese Aussage ist zugleich die erste dokumentierte Verwendung des
Begriffs durch politische Praktiker.
Zitiert nach: Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in:
Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3.
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Militärplanung integriert und mögliche Einsatzoptionen in Konfliktfällen ohne Rücksicht auf
als irrational erachtete Barrieren uneingeschränkt erwogen werden.482
Doch Schranken fallen nicht zwangsläufig dadurch, dass man beschließt, sie zu ignorieren
und gerade gedankliche sowie unsichtbare sind, wie Schelling feststellt, noch schwerer zu
zerstören als andere: „[T]acit conventions are sometimes harder to destroy than explicit ones,
existing in potentially recalcitrant minds rather than on destructible paper.“483 Hatten weder
Präsident Eisenhower selbst noch die Mitglieder seiner Administration sonderlich starke
persönliche moralische Bedenken bezüglich Atomwaffen, so fühlten sie sich nichtsdestotrotz
gezwungen, auf die unzerstörbaren Hemmungen anderer Rücksicht zu nehmen.484 Nachdem
sich das Gefühl, Nuklearwaffen seien anders und durch ihren Einsatz überschreite man
besondere Schwellen, fast zehn Jahre nach Hiroshima vorrangig in der öffentlichen Meinung
etabliert hatte485 und diese Anschauung nicht nur nicht geschwächt werden konnte, sondern,
ganz im Gegenteil, stärker wurde, mussten sich Dulles und Eisenhower das Scheitern der
Konventionalisierungsversuche eingestehen und dem öffentlichen Druck nachgeben. Neben
der Entscheidung gegen den Einsatz von Nuklearwaffen in Konflikten, ratifizierten die USA
1958 und 1963 auch Teststoppabkommen – die Angst vor politischen Kosten führte dazu,
dass das nukleare Tabu instrumentellen Einfluss auf Militär und Politik nehmen konnte,486
sich also zumindest regulativ auf ihr Verhalten auswirkte.
Dass die Effekte des Tabus während seiner Zeit als Verteidigungsminister unter John F.
Kennedy (1961-1963) und unter Lyndon B. Johnson (1963-1969) mitnichten ausschließlich
instrumentell, sondern auch konstitutiv waren, haben wiederholt Robert McNamaras
Aussagen gezeigt – vergleichbar mit Trumans Einstellung, waren auch in diesen beiden
Regierungen Atombomben so tief verabscheut, dass „the United States chose to lose a
humiliating and destructive war against a small, non-nuclear adversary while all its nuclear
weapons remained on the shelf.“487 McNamara legte großen Wert auf die Feststellung, dass die
nukleare Zurückhaltung im Vietnam-Krieg, die sich nicht nur im Nicht-Einsatz, sondern auch
482
483
484
485
486
487
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 23ff.
Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for
Philosophy and Public Policy 20:2/3.
Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start
worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference,
Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 25.
Quester, George H. 2005: If The Nuclear Taboo Gets Broken, in: Naval College Review 58:2, S. 71-91,
hier S. 80.
Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons
Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World
Politics, S. 114-152, hier S. 149.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 451. Schelling argumentiert, dass auch die
Sowjetunion während des Afghanistan-Krieges offensichtlich ähnlichen tabubedingten Restriktionen
unterstand – auch sie nahm eher einen langwierigen Krieg mit anschließender Niederlage in Kauf, statt über
dessen Beendigung mittels Nuklearwaffen nachzudenken. Schelling, Thomas 2000: The Legacy of
Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3.
– 132 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
im Verzicht auf nukleare Drohungen äußerte, nicht der öffentlichen Meinung, sondern allein
der Überzeugung der jeweiligen Regierung geschuldet war:488 „It had nothing whatever to do
with what the world might have thought about it“, sondern „it was because it was neither
military desirable nor morally acceptable .“489
Während die non-use-Norm nach ihrer Entstehung von den drei ersten, von Demokraten
geführten Nachkriegsadministrationen nicht nur befolgt,490 sondern offensichtlich auch geteilt
wurde, wurde 1969 mit Richard M. Nixon wieder ein Republikaner Präsident, für den das
durch die Vorgängerregierungen weiter gestärkte nukleare Tabu vor allem eine lästige
Einschränkung us-amerikanischer Macht darstellte und ihn seinen Traum von einem
„knockout blow“ zur Beendigung des Vietnam-Krieges kostete. Die Entscheidung
„Nuklearwaffen oder nicht“ war für Nixon nach eigener Aussage eine zwischen Kopf und
Herz, doch im Gegensatz zu denjenigen, die unter der Wirkung des Tabus einen rational
gebotenen Einsatz aus emotionalen Gründen ablehnen würden, wünschte er sich im Herzen
so sehr den großen nuklearen Knall wie er sich im Kopf auch dessen Konsequenzen bewusst
war, die, außer in der nachhaltigem Schädigung der sich gerade bessernden Beziehungen zur
UdSSR und zu China, auch in einem weltweiten, öffentlichen Aufschrei der Empörung
bestanden hätten.491 Den geäußerten Einsatzwunsch wertet Tannenwald als bloßen Bluff,
konnte dieser überhaupt nur in dem Bewusstsein zur Sprache gebracht werden, dass seine
Ausführung wegen der aus den anti-nuklearen Überzeugungen anderer entstehenden
Beschränkungen ohnehin nicht möglich sei.492
488
Die dezidierte Darstellung McNamaras, Nuklearwaffen seien nie eine Option gewesen, wird jedoch durch
neu entdeckte Tonbänder in Zweifel gestellt, auf denen er im Gespräch mit Kennedy über den Konflikt
zwischen Indien und China Anfang der 1960 Jahre mit den Worten zu hören ist: „Before any substantial
commitment to defend India against China is given, we should recognize that in order to carry out that
commitment against any substantial Chinese attack, we would have to use nuclear weapons. Any large
Chinese Communist attack on any part of that area would require the use of nuclear weapons by the U.S., and
this is to be preferred over the introduction of large numbers of U.S. soldiers.“ S. Giridharadas, Anand 2005:
489
490
491
492
‘63 Tapes Reveal Kennedy and Aides Discussed Using Nuclear Arms in a China-India Clash, in: New York
Times, 26.08.2005.
Zitiert in: Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of
Nuclear Non-Use, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 455. Tannenwald führt ab Seite
453 aus, dass es hinsichtlich militärischer Nützlichkeit jedoch auch andere Auffassungen gab, so kamen
einige Militärstrategen nach Prüfung der nuklearen Option zu dem Schluss, dass z.B. die mehrere Monate
andauernde Belagerung der amerikanischen combat base in Khe Sanh durch einen Einsatz taktischer
Nuklearwaffen schnell und effektiv hätte beendet werden können. Allerdings wurde diese Überlegung
seitens der Regierung nicht nur sofort als „unverantwortlich“ abgelehnt, auch dass es sie überhaupt gab,
sollte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. In den zitierten Äußerungen, die McNamara 1997 getätigt hat,
scheint er immer noch diesem Verbot zu folgen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die USA im
Vietnam-Krieg keineswegs vor grausamen Bomben zurückschreckten – man denke nur an die durch
Napalm-Brandbomben verursachten Verstümmelungen oder die Vergiftungen sowie die schwere
Kontamination durch das zur Entlaubung eingesetzte Pestizid Agent Orange.
Dies gilt auch für Truman, denn, wie oben ausgeführt, existierte die Norm vor Hiroshima und Nagasaki
nicht, danach hielt er sich daran.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 455ff.
Tannenwald, Nina 2005: Stigmatizing the Bomb. Origins of the Nuclear Taboo, in: International Security
29:4, S. 5-49, hier S. 31.
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Herausforderung durch das Ende des Kalten Krieges?
Mit dem Ende des Kalten Krieges schien auch die in diesem Fall offenkundig gewordene,
jedoch insgesamt Jahrzehnte lang bestandene Widersprüchlichkeit zwischen der – sowohl
öffentlichem Druck als auch persönlichen Überzeugungen geschuldeten – de-facto-non-usePolitik und der Deklarationspolitik der Abschreckung ein Ende zu nehmen. Die Versicherung
der mutual assured destruction (MAD) wurde nach Beendigung der Blockkonfrontation
obsolet – aber was bedeutete die neue „Unwahrscheinlichkeit“ einer nuklearen Vergeltung für
das nukleare Tabu? Konnte sich der Glaube an die unmoralische, einzigartige Natur der
Waffen auch vor der Herausforderung, die die eben nicht mehr zu erwartenden
apokalyptischen Konsequenzen infolge eines Tabubruchs darstellten, noch behaupten?
Einen ersten Testfall stellte der zweite Golfkrieg (1991) dar, in dem sich die internationale
Gemeinschaft mit Irak nicht nur einem konventionell sehr stark gerüsteten Feind gegenüber
sah, sondern auch mit der Gefahr eines Einsatzes von WMD konfrontiert wurde, denn
Saddam Hussein legte nicht nur nukleare Ambitionen an den Tag, sondern verfügte zudem
über ein einsatzbereites Chemiewaffenarsenal. Die USA spielten die nuklearen Optionen
routinemäßig durch und setzten nach alter Manier auf Abschreckung, indem sie Saddam
Hussein mit einem nuklearen Angriff drohten, sollte er von seinen WMD Gebrauch
machen.493 Vom militärischen Standpunkt aus erschien ein derartiger Angriff durchaus
möglich und sogar gewissermaßen rational, waren doch zum Einen mit starken
Truppenkonzentrationen und von Städten weit genug abgelegenen sowie tief vergrabenen
militärischen Anlagen (deeply buried targets, DBT) erstens gut erreichbare Ziele vorhanden,
die, zweitens, sehr niedrige Kollateralschäden erwarten ließen und gab es zum Anderen
Kalkulationen, die in einem Nuklearwaffeneinsatz sogar die Möglichkeit sahen, Tote auf
beiden Seiten des Konflikts zu reduzieren.494 Nichtsdestotrotz hat nicht nur der Präsident so
einen Ansatz von Anfang an aus politischen Gründen ausgeschlossen,495 auch zahlreiche
andere, sowohl militärische als auch politische Entscheidungsträger brachten zum Ausdruck,
dass Nuklearwaffen weder in operationalen Kriegsplänen noch in Gedanken vorkamen,496
„the assumption was simply that conventional forces would be used.“ 497
Natürlich konnte diese Annahme nur deshalb bestehen, weil genügend konventionelle
Alternativen zur Verfügung standen – auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass
Nuklearwaffen nicht deshalb nicht eingesetzt wurden, weil sie zu zerstörerisch, sondern weil
493
494
495
496
497
Müller, Harald/Sohnius, Stephanie 2006: Intervention und Kernwaffen. Zur neuen Nukleardoktrin der
USA, HSFK-Report 1/2006, Frankfurt am Main, S. 12.
S. Gertz, Bill 1991: U.S. can do battle with „tactical nukes“, in: Washington Times, 29.01.1991.
So Barry, John 1991: The Nuclear Option: Thinking the Unthinkable, in: Newsweek, 14.01.1991.
Tannenwald zitiert von ihr interviewte Angehörige des Weißen Hauses und des Pentagons mit folgenden
Aussagen, dass Nuklearwaffen „were not part of our mindset“ sowie „the issue of our nuclear weapons use
never came up to my knowledge during the entire crisis.“
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 459.
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En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
andere Waffen inzwischen genauso zerstörerisch sind, aber im Vergleich zu Nuklearwaffen
weitaus geringere politische Kosten mit sich bringen.498 Die besondere Abwägung zwischen
nuklearen und konventionellen Strategien bringt zwei Implikationen mit sich: Das
Vorhandensein konventioneller Alternativen könne nicht schlicht vorausgesetzt werden,
sondern wird von Tannenwald auch auf die Nicht-Einsatzfähigkeit der stigmatisierten
Nuklearwaffen zurückgeführt, hätte sie doch zur Folge gehabt, dass die Erforschung und
Entwicklung konventioneller Rüstung überhaupt vorangetrieben worden ist.499 Darüber hinaus
tritt das nukleare Tabu auch insofern in Erscheinung, als automatisch zunächst die
Erfolgschancen anderer Kampfmittel erwogen werden, bevor der mögliche Nutzen von
Nuklearwaffen Gegenstand der Überlegungen wird. Auch dass sie auch ohne die Androhung
eines nuklearen Gegenschlags, wenn überhaupt, dann erst als ultima ratio in Frage kommen
und für ihren Einsatz besondere Notwendigkeiten vorliegen sowie besondere Begründungen
vorgebracht werden müssen, ist ein klarer Indikator für das Fortbestehen des Totemstatus
auch über den Ost-West-Konflikt hinaus.500
Gerade die Beendigung der Rivalität der Supermächte hatte ihrerseits bereits vor dem
Golfkrieg die Hoffnung auf eine Denuklearisierung der Weltpolitik und damit auf eine
Stärkung des bereits bestehenden Tabus geweckt, denn Nuklearwaffen schienen angesichts
des konstatierten Endes der Geschichte501 dramatisch an Bedeutung zu verlieren, so dass
weitreichende Abrüstungsschritte und verstärkte Nicht-Proliferations-Anstrengungen sowohl
auf der internationalen Agenda standen als auch Gegenstand nationaler Politiken wurden: Die
neue Beziehung zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten fand ihren
Ausdruck ebenso in vertraglichen Vereinbarungen zu Reduktionen nuklearer Arsenale wie
Kürzungen der Rüstungsbudgets.502 Dennoch war der vollständige Abschied von
Nuklearwaffen und das Brechen der sich ebenfalls über lange Zeit entwickelten Gewohnheit,
sie als integralen Bestandteil der Verteidigungspolitik zu betrachten oder gar die offizielle
Erklärung einer no-first-use-policy, aufgrund von Befürchtungen hinsichtlich der Proliferation
498
499
500
501
502
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 460f.
Dieses Argument illustriert deutlich die Schwierigkeit, die Normen selbst als unabhängige Variablen und
ihre Wirkung in one-way-kausalen Beziehungen erfassen zu wollen: Führt einerseits das Vorhandensein
anderer Kampfmittel dazu, dass die Norm eingehalten werden kann, stellt die Entstehung dieser Alternative
ihrerseits schon ein Produkt der Norm dar. S. Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and
Deterrence: The Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of
National Security: Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, S. 147ff. sowie allgemeiner zu diesem
Thema S. 46 der Arbeit.
Auch in anderen Konflikten – z.B. im mit hoher Wahrscheinlichkeit über Chemiewaffen verfügenden
früheren Jugoslawien – standen Nuklearwaffen nicht zur Debatte. Müller, Harald/Sohnius, Stephanie 2006:
Intervention und Kernwaffen. Zur neuen Nukleardoktrin der USA, HSFK-Report 1/2006, Frankfurt am
Main, S. 13.
Titel des berühmten Werkes von Fukuyama, Francis 1992: Das Ende der Geschichte: Wo stehen
wir?, München.
Gabel, Josiane 2004: The Role of U.S. Nuclear Weapons after September 11, in: The Washington Quarterly
28:1, S. 181-195, hier S. 182f. sowie Walker, William 2000: Nuclear Order and Disorder, in: International
Affairs 76:4, S. 703-724, hier S. 710f.
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an Drittstaaten, neuer Gefahren in der Dritten Welt sowie des Misstrauens gegenüber der sich
in einer instabilen Umbruchzeit befindenden alten Supermacht, immer noch nicht möglich –
das Beibehalten
vor funktional.503
der
Fähigkeit
zur
nuklearen
Abschreckung erschien
nach
wie
Offenkundig wurde diese Haltung noch 1991 in der Weigerung der Regierung George H.
Bushs (mit Unterstützung von Seiten der starken Lobby aus Kernwaffenlabors und
„Verteidigungsestablishment“, die sich die Option zur Entwicklung neuer Nuklearwaffen
offen halten wollten), die Verhandlungen zum Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT)
aufzunehmen. Entgegen der Regierungsposition verhängte der US-Kongress im Jahr 1992 ein
nationales Testmoratorium für Nuklearwaffen (nach den beiden maßgeblich beteiligten,
demokratischen Senatsmitgliedern John Spratt und Elizabeth Furse auch Spratt-Furse-ban
genannt) und verlieh damit seiner Zustimmung zur Intention des CTBT Ausdruck. Nach
vorausgegangenen heftigen Debatten und wiederum als Reaktion auf den Druck der
empörten, auf nukleare Abrüstung hoffenden und drängenden Öffentlichkeit, in der neben
den Medien auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen eine aktive Rolle spielten, gab der
Präsident die Beendigung aller laufenden Entwicklungsprogramme für Nuklearwaffen bekannt
und unterzeichnete nach langem Zögern schließlich das Teststoppgesetz, womit er einen
Wendepunkt in der offiziellen Nuklearpolitik der USA markierte.504
Dieser durch veränderte weltpolitische Realitäten ermöglichte Wandel sollte durch die
1993 von Präsident Bill Clinton in Auftrag gegebene, seit 1978 erste Nuclear Posture Review
nicht nur anerkannt, sondern aktiv vorangetrieben und manifestiert werden, indem alle
Bereiche der Nuklearpolitik – von der Streitkräftestruktur und ihres Bereitschaftsstatus über
Proliferationsverhinderung bis hin zur nuklearen Sicherheit und Sicherung des maroden
russischen Nukleararsenals – einer umfassenden Revision unterzogen werden sollten. Große
Hoffnungen wurden in die NPR gesetzt, sie wurde nicht nur als Gelegenheit zur Abschaffung
der strategischen Triade505 und Proklamation der no-first-use-Strategie (auch nicht als Reaktion
auf Einsätze mit biologischen oder chemischen Waffen) begriffen, sondern ebenso als
Chance, das nukleare Tabu zur offiziellen staatlichen Politik zu erheben. Schließlich war die
Gelegenheit zur Ächtung von Nuklearwaffen schon 1992 von Les Aspin, dem damaligen
Chairman des House Armed Services Committee und dem späteren Außenminister unter
503
504
505
Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James
J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International
Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 199.
Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report
3/2003, S. 15f.
Diese bestand zu Zeiten des Ost-West-Konflikts aus land-, luft- und seegestützten nuklearen
Trägersystemen, sprich aus Interkontinentalraketen ( intercontinental ballistic missiles, ICBMs), schweren
Bombern ( long-range bombers) und U-Boot-basierten ballistischen Flugkörpern ( submarine-launched
ballistic missiles, SLBMs), s. Russell, James/Wirtz, James J. 2002: A Quiet Revolution: The New Nuclear
Triad, in: Strategic Insight, 1. Mai 2002.
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Clinton erkannt worden: „[I]f we now had the opportunity to ban all nuclear weapons, we
would. This is how profound the change is that we have undergone.“506
Nach dem Erscheinen der NPR konnten jedoch auch die euphemistischen, sowohl neues
Denken über als auch die neue Rolle von Nuklearwaffen betonenden Statements der
offiziellen Seite nicht darüber hinwegtäuschen, dass keines der mit ihr verbundenen Ziele
erreicht werden konnte und sie vielmehr nur geringe Bestandsreduktionen und damit nur
marginale Veränderungen der Nuklearstrategie brachte.507 Zu prägend war anscheinend die
bereits zu diesem Zeitpunkt wahrgenommene Bedrohung durch „Schurkenstaaten“, zu groß
der bürokratische Hang zur Kontinuität und zu stark der Einfluss an ihrer Erstellung
beteiligter, im Kalten Krieg sozialisierter Abschreckungsstrategen.508 Auf der anderen Seite
trug die Schwäche der innovativen Kräfte (wie des ehrgeizigen Les Aspin), der abnehmende
Druck der – sich auf einen automatischen Bedeutungsverlust von Nuklearwaffen verlassenden
– Öffentlichkeit509 sowie das zu geringe Vertrauen in das Demokratisierungspotential
Russlands,510 auch unter neuen Umständen während der gesamten Präsidentschaft zum
Fortbestand der alten Ambivalenz der Verdammung der Waffen einerseits und der
vorgegebenen Dauerbereitschaft zu ihrer Nutzung andererseits.
Auch wenn die durch den Wegfall der sowjetischen Bedrohung stattgefundenen
strukturellen Veränderungen sich nicht proportional in den nuklearstrategischen Anpassungen
der Vereinigten Staaten niederschlugen, so herrschte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre
dennoch überwiegend Abrüstungsoptimismus – deuteten die politischen Zeichen doch
beständig in Richtung einer, wenn auch langsamen, nuklearen Marginalisierung. Neben der
Implementierung von START I und II, stellte insbesondere die unbegrenzte Verlängerung des
Nichtverbreitungsvertrages, mit der 1995 auch der no-first-use-Politik gegenüber Have-Nots
Nachdruck verliehen wurde, einen Meilenstein dar. Schließlich unterzeichnete die Clinton506
507
508
509
510
Aspin, Les 1992: From Deterrence to Denuking. A New Nuclear Policy for the 1990s, in: Shaping Nuclear
Policy for the 1990s: A Compendium of Views. Report of the Defense Policy Panel of the Committee on
Armed Services, 17. Dezember 1992.
So sollten die Abrüstung nuklearer Sprengköpfe die bereits 1993 im START-II-Vertrag (Strategic Arms
Reduction Treaty ) zwischen George Bush und Boris Jelzin festgeschriebenen Schwellen von 3.000 bis 3.500
nicht überschreiten, man konnte sich ferner weder zu einer Absage an die strategische Triade, noch zu einer
reinen Zweitschlagsstrategie durchringen. Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the End of the Cold
War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited.
Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 204, außerdem:
Deutsch, John 2005: A Nuclear Posture for Today, in: Foreign Affairs 84:1, S. 49-60, hier S. 49.
Müller, Harald/Sohnius, Stephanie 2006: Intervention und Kernwaffen. Zur neuen Nukleardoktrin der
USA, HSFK-Report 1/2006, Frankfurt am Main, S. 10 und Mlyn, Eric 2000: U.S. Nuclear Policy and the
End of the Cold War, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute
Weapon Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 189-212, hier S. 206.
So nahm nicht nur die Präsenz von Abrüstungsthemen in den Medien ab, sondern auch die finanzielle
Unterstützung für einschlägige NGOs; beides ging mit einem allgemein sinkenden Interesse der
Bevölkerung an der Außenpolitik einher. S. Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach
dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 22 sowie Gabel, Josiane 2004: The Role of U.S. Nuclear
Weapons after September 11, in: The Washington Quarterly 28:1, S. 181-195, hier S. 183ff.
Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report
3/2003, S. 23.
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Regierung – nach breiten öffentlichen Protesten gegen einen ursprünglich geplanten
Schwellenvertrag511 – im darauf folgenden Jahr das CTBT und schrieb hiermit die nationale
Absage an Nukleartests auch auf internationaler Ebene fort.512
In diesen „tentative first steps toward renouncing nuclear weapons as instruments of
warfare“513 nach Ende des Kalten Krieges kamen die Bestrebungen der Staaten, die grausamen
Waffen loszuwerden, gleich auf mehreren Ebenen zum Vorschein: So konnten erstens einige
Länder davon abgehalten werden, eigene Nuklearprogramme durchzuführen bzw.
Nuklearwaffen zu erwerben.514 Die Ansicht, dass die Anzahl ihrer Besitzer konstant bleiben
sollte, und die Waffen selbst einer besonderen Kontrolle unterliegen sollten, fand 1995 ihre
„triumphale“515 Bekräftigung – die „Hohepriester“ behielten also ihren (zumindest offiziellen)
Exklusivstatus.516 Zweitens schien man sich des Totems, das nun seine heilige Schutzfunktion
zu
verlieren
schien,
endgültig
entledigen
zu
wollen:
Die
eingegangenen
Rüstungskontrollverpflichtungen können als ein entscheidender Schritt zur Erfüllung der lang
gehegten Hoffnung, die schon existierenden Waffen restlos zu vernichten, gelten. Dank der
umfassenden Testmoratorien schien drittens die Gefahr gebannt, die Waffen dadurch zu
enttabuisieren, dass die Auffassung von ihrer besonderen Natur untergraben wird – vielmehr
wurde diese besonders unterstrichen, indem die Entwicklung neuer Waffen mit geringerem
fallout und geringerer Sprengkraft untersagt und damit dem von einigen verfolgten Ziel, ihre
Einsatzfähigkeit durch Senkung des Zerstörungspotentials zu erhöhen, ein Riegel
vorgeschoben wurde; das faktische Einsatzverbot wurde hier also durch formelle, lediglich das
Verbot von Tests festschreibende Verträge untermauert.517 Vor diesem Hintergrund
511
512
513
514
515
516
517
Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report
3/2003, S. 26f.
Zwar scheiterte die – zum Zeitpunkt der Unterzeichnung sicher geglaubte – Ratifikation des Vertrages 1999
im US-Senat, das Moratorium von 1992 wurde aber zunächst beibehalten und wird bis dato eingehalten,
obwohl der US-Kongress 2003, wie von der Regierung George W. Bushs gefordert, für seine Aufhebung
gestimmt hat. Den Demokraten ist es gelungen, immerhin das Verbot zur Entwicklung neuer
Nuklearwaffen aufrechtzuerhalten, Forschung hingegen ist nun erlaubt.
Manning, Robert 1998: Nuclear Age: The Next Chapter, in: Foreign Policy 109/Winter 1997-98, S. 70-84,
hier S. 70.
So einige ehemalige Republiken der Sowjetunion wie z.B. die Ukraine und Weißrussland, aber auch
Südafrika, das sein militärisches Nuklearprogramm vor seinem NPT-Beitritt 1995 stoppte.
Müller, Harald 2005: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des
Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, HSFK-Report 4/2005, S. 3.
Für eine kritische Diskussion der Folgen der Vertragsverlängerung siehe die kleine ZIB-Debatte, also
Daase, Christopher 2003: Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der
Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2003, S. 7-41, Dembinski,
Matthias/Müller, Harald 2003: Mehr Ratio als Charisma: Zur Entwicklung des nuklearen
Nichtverbreitungsregimes vor und nach 1995, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/2003, S. 333350, Wolf, Reinhard 2003: Tabu, Verrechtlichung und die Politik der nuklearen Nichtverbreitung. Eine
interessante Hypothese auf der Suche nach einem tatsächlichen Problem, in: Zeitschrift für internationale
Beziehungen 2/2003, S. 321-331, sowie schließlich Daases Replik: Daase, Christopher 2003:
Nonproliferation und das Studium internationaler Legitimität. Eine Antwort auf meine Kritiker, in:
Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/2003, S. 351-364.
Schelling, Thomas 2000: The Legacy of Hiroshima: A Half-Century Without Nuclear War, in: Journal for
Philosophy and Public Policy 20:2/3.
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En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
präsentierte sich das nukleare Tabu als stabiler denn je und ein nuklearer Einsatz blieb auch
ohne die permanente Zweitschlagsdrohung undenkbar bzw. schien gerade ohne sie in noch
weitere Ferne gerückt, fanden sich die Vereinigten Staaten nun nicht mehr in der Position
derjenigen, die eine massive nukleare Bedrohung aufrechterhalten müssen oder sich gar sich
zu einem nuklearen Gegenangriff gezwungen sehen könnten.
5.2.3 Tabu unter dem security umbrella der Abschreckung? Zum Verhältnis der
Handlungslogiken
Wenngleich die Frage nach der Beziehung beider non-use-Erklärungen, also dem
Einsatzverbot einerseits und der Einsatzdrohung und -befürchtung andererseits, aufgrund des
Zusammenbruches des nuklear gerüsteten Feindes nahe liegend ist, stellte sie sich zu diesem
Zeitpunkt freilich nicht zum ersten Mal – vielmehr existierte der augenscheinliche
Widerspruch zwischen Abschreckungspolitik und moralischer Nuklearwaffenächtung
besonders während des Ost-West-Konflikts und fand, wie bereits zu Beginn des Kapitels
angeführt, seinen Niederschlag auch im akademischen Diskurs: Den rationalistischen
Einwänden, die ständige nukleare Einsatzbereitschaft spreche gegen die Behauptung eines
breit geteilten, normativen Einsatzverbotes und außerdem könnten die dem letzteren
zugeschriebenen Effekte ebenso auf die Praxis der gegenseitigen Einschüchterung durch die
verfeindeten Supermächte zurückgeführt werden,518 stehen Hinweise auf Grenzen der
Abschreckungstheorie gegenüber, der es unter anderem an Erklärungen für den Verzicht auf
Nuklearwaffen in Konflikten ohne Vergeltungsdrohung, aber auch für die Fälle misslungener
Abschreckung fehle.519
Zwei unterschiedliche Handlungslogiken 520 scheinen hier aufeinander zu treffen, wobei
beide unterschiedliche Antworten auf die Frage bieten, auf welche Faktoren die ausgebliebene
Wiederholung von Hiroshima zurückgeführt werden kann. Auf der einen Seite findet sich die
konsequentialistische Erklärung von Staaten (als rationalen Akteuren) praktizierter nuklearer
Zurückhaltung, wie sie im Abschreckungskonzept postuliert wird:521 Grundlegend wird unter
(erfolgreicher) Abschreckung522 die Fähigkeit verstanden, den Gegner davon abzubringen,
etwas zu tun, was er sonst tun würde, indem ihm inakzeptable Kosten als Bestrafung für die
Tat angedroht werden (deterrence by punishment) und/oder vermittelt wird, dass er seine
Ziele mit einer bestimmten Strategie ohnehin nicht erreichen kann, sein erwarteter Nutzen
518
519
520
521
522
Gehring, Verna 2000: The Nuclear Taboo, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3.
Z.B. der Angriff Argentiniens auf die britischen Falkland-Inseln. Für detaillierte Ausführungen und weitere
Fälle siehe: Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of
Conflict Resolution 39:4, S. 696-717.
Siehe genauer Kapitel 2.3 (S. 12) der Arbeit.
Zu den Grundannahmen siehe z.B. Achen, Christopher/Snidal, Duncan 1989: Rational Deterrence Theory
and Comparative Caste Studies, in: World Politics 41:2, S. 143-169, hier S. 150.
Lee erklärt, dass „Abschreckung“ als Begriff bereits Erfolg impliziert. Wenn der Begriff verwendet wird, so
ist damit dagegen in der Regel eine „attempted deterrence“, also die Absicht, den Gegner abzuschrecken,
gemeint. Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons, Cambridge, S. 83.
– 139 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
wird ihm also verwehrt (deterrence by denial)523 – die Option, Nuklearwaffen einzusetzen,
wird folglich dann ausgeschlossen, „if the costs of a second strike retaliation exceed potential
benefits.“524 Demnach haben sowohl die UdSSR als auch die USA auf einen Erstschlag
verzichtet, weil das Drücken des roten Knopfes a) angesichts der deterrence by punishment
aufgrund des unmittelbar erfolgten massiven Vergeltungsschlages mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit
die
eigene
Vernichtung
bedeutet
hätte
und
unter
Rationalitätsgesichtspunkten diese untragbar hohen Kosten den zweifelhaften Nutzen bei
Weitem überstiegen hätten oder b) bei Aufrechterhaltung der deterrence by denial-Strategie
auch ohne die sofortige nukleare Vernichtung keine Aussicht darauf bestand, einen
eskalierenden Nuklearkrieg zu gewinnen (Verweigerung der Gewinnchancen). Neben solchen
materialistischen Erklärungen stand auf der anderen Seite die in diesem Kapitel bereits
ausführlich
dargelegte
Überzeugung,
dass
der
Einsatz
von
Nuklearwaffen
aus
Angemessenheitserwägungen nicht durchgeführt werden dürfe, weil er gegen sämtliche
moralischen Prinzipien verstoßen und der us-amerikanischen Identität zuwider laufen würde.
Der Versuch der Explizierung des Verhältnisses der beiden Handlungslogiken erscheint
nicht nur im Lichte dieses Kapitels, das bedingt durch die normtheoretisch inspirierte
Fallauswahl das nukleare Tabu sehr zentral, nukleare Abschreckung hingegen nur marginal
behandelt hat, notwendig. Auch und vor allem mit Blick auf den nachfolgenden Befund der
Normerosion, der als Ausgangspunkt der empirischen Auswertung dienen wird, gewinnt das
Verhältnis von Rationalität und Angemessenheit an Relevanz: einerseits zur Feststellung, ob
sich die Angemessenheitsvorstellungen tatsächlich gewandelt haben oder ob es sich bloß um
eine Fortsetzung alter Abschreckungsstrategien in neuer Qualität handelt, sowie andererseits
der Strukturierung des Argumentationsverlaufs unter anderem anhand dieser Kategorien.
Wohlwissend, dass am Ende nicht eine einzig richtige Logik gekürt werden und dass es
für den Nicht-Einsatz keine monokausale Erklärung geben kann, will ich im Folgenden
dennoch der Frage nachgehen, inwiefern es sich zwischen Abschreckung und nuklearem Tabu
tatsächlich um widersprüchliche Handlungslogiken handelt und wie sich mögliche
Verhältnisse der rationalistischen und konstruktivistischen Nicht-Einsatz-Erklärungen
zueinander – idealtypisch – konzipieren lassen. Angeleitet von der Frage nach der
Vereinbarkeit beider Erklärungen, wird zunächst die Möglichkeit der gegenseitigen
Bedingtheit beider Logiken erörtert. Anschließend werden – überspitzt und vereinfacht –
Überlegungen zur Dominanz der einen Logik über die andere angestellt.
Die ersten konstruktivistischen Arbeiten zum nuklearen Tabu wiesen noch ausdrücklich
darauf hin, dass sie sich – diagnostizierend, dass es sich bei Abschreckung um eine zu einfache
523
524
Zu den Konzepten vergleiche ausführlich: Lee, Steven P. 1993: Morality, prudence and nuclear weapons,
Cambridge, S. 82-109, eine knappe Darstellung findet sich in: Rajagopalan, Rajesh 1999: Nuclear Strategy
and Small Nuclear Forces: The Conceptual Components, in: Strategic Analysis. A Monthly journal of the
IDSA, XXIII:7.
James, Carolyn C. 2000: Nuclear Arsenal Games: Size does Make a Difference, Paper prepared for the
International Studies Association, 41st Annual Convention, 14.-18. März 2000.
– 140 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
Erklärung für das komplexe non-use-Phänomen handle – als ergänzende und erweiternde
Ansätze verstehen.525 So würde ein rein rationalistischer Zugang, neben den oben bereits
angeführten Abschreckungspuzzles auch leugnen, dass die Existenz des nuklearen Tabus von
politischen Strategen (auch von solchen, die Kosten-Nutzen-Kalküle zum einzigen
entscheidungsrelevanten Faktor erklärten)526 nicht nur anerkannt wurde, sondern sie sich
dadurch auch in ihren Handlungsoptionen beschränkt fühlten. Würden hingegen rationale
Handlungsmotivationen negiert und ausschließlich normative Beweggründe auf Basis des
nuklearen Tabus geltend gemacht werden, sei damit die Vehemenz und die Glaubwürdigkeit
jahrzehntelanger Abschreckungspolitik nicht zu erfassen. Der Nicht-Einsatz beruht
demzufolge sowohl auf rationalen als auch auf moralischen Erwägungen und die exklusive
Annahme jeder Logik ohne die Berücksichtigung der jeweils anderen würde das
Erkenntnispotential unnötigerweise beschneiden.
Daneben kann sich jedoch die Auffassung, das nukleare Tabu existiere und könne
innerhalb der dominanteren logic of consequences konzeptionalisiert werden, ebenfalls auf
plausible Argumente stützen, indem sein starker rationalistischer Kern hervorgehoben wird.
Die Nicht-Einsatz-Norm basiere demnach „on calculated reasoning of the costs and benefits of
nuclear warfare“527 – das Tabu sei gewissermaßen ein Produkt der Abschreckung,528 stelle sein
Fundament schließlich die Angst vor den Folgen seines Bruches dar, wobei hierbei
unerheblich ist, welcher Art diese sind: Die unmittelbar durch den Abwurf einer
Nuklearbombe
verursachten
massiven
und
nicht-diskriminierenden
Schäden
sowie
weitreichende wie langanhaltende radioaktive Kontamination (diese Schäden schlagen jedoch
nicht unbedingt auf der Kostenseite des Angreifers zu Buche), die strenge Verurteilung durch
andere Staaten, insbesondere aber ein zerstörerischer Gegenschlag lassen sich als enorme
Kosten betrachten. Die Angst kann auch aus einem weiteren Grund als ein klassischrationalistischer Mechanismus ausgelegt werden, nämlich nicht nur, wie eben geschildert,
wegen der (fast) sicher zu erwartenden Kosten, sondern ebenso aufgrund ihrer
Unkalkulierbarkeit. So kann die durch einen nuklearen Angriff ausgelöste extreme
Eskalationsgefahr
525
526
527
528
mit
unabsehbarem
Ausgang
(angesichts
der
eigenen
S. z.B. Paul, Thazha V. 1995: Nuclear Taboo and War Initiation in Regional Conflicts, in: Journal of
Conflict Resolution 39:4, S. 696-717, Price, Richard/Tannenwald Nina 1996: Norms and Deterrence: The
Nuclear and Chemical Weapons Taboos, in: Katzenstein, Peter (Hg.): The Culture of National Security:
Norms and Identity in World Politics, S. 114-152, Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how
we learned to Stop loving the Bomb and start worrying, Paper presented at the British International Studies
Association (BISA) Annual Conference, Leeds, unveröffentlichtes Manuskript.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 449.
Gehring, Verna 2000: The Nuclear Taboo, in: Journal for Philosophy and Public Policy 20:2/3.
Herring, Eric 1997: Nuclear Totem and Taboo: Or how we learned to Stop loving the Bomb and start
worrying, Paper presented at the British International Studies Association (BISA) Annual Conference,
Leeds, unveröffentlichtes Manuskript, S. 7.
– 141 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
Verteidigungsunfähigkeit
infolge
der
nuklearen
Revolution529 sowie
der
ständigen
Ungewissheit über die tatsächlichen militärischen Kapazitäten des Gegners und seine
Ausdauerbereitschaft) von risikoaversen Nutzenmaximierern schlichtweg nicht in Kauf
genommen werden. Hierin wird deutlich, dass der dyadischen Komponente in dieser NichtEinsatz-Erklärung eine besondere Bedeutung zukommt, denn während der bloße Einsatz vor
allem für den Feind sehr kostenintensiv wäre und daher nicht abschreckend wirken muss, wird
das Kosten-Nutzen-Verhältnis durch die gegnerische Zweitschlagsfähigkeit drastisch
verändert, indem nun auch seine antizipierte Reaktion ein essentieller, ja existenzieller
Bestandteil der Kalkulationen wird. Aus dieser rationalistischen Perspektive senkt das nukleare
Tabu durch seine moralische Komponente lediglich die ohnehin schon geringe
Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes, indem es seine Kosten noch stärker erhöht, es behält
jedoch einen bestenfalls katalytischen Wert – denn Abschreckung als Strategie existiert nicht
erst seit dem nuklearen Zeitalter und sie kann, wie man an anderen Waffengattungen sehen
kann, auch gänzlich ohne Tabus funktionieren. Des Weiteren dürfe man nicht den Fehler
begehen, das Scheitern der Abschreckungspolitik in manchen Fällen dem Scheitern der
Abschreckungstheorie gleichzusetzen, denn auch ersteres könne durchaus – z.B. unter
Einbeziehung neuer, mit dem Grundgerüst jedoch kompatibler Faktoren wie Perzeption und
Unvollständigkeit von Informationen – innerhalb der Theorie Erklärung finden.530
Demgegenüber würde eine von der Dominanz des nuklearen Tabus ausgehende
Sichtweise genau an diesem Punkt ansetzen:531 Wenn Abschreckung auch ohne Tabus
wirksam sein kann, so kann der abschreckende Charakter von Nuklearwaffen dennoch nicht
per se vorausgesetzt werden, vielmehr stellt sich die Frage, warum bestimmte Waffen als
abschreckend bzw. als besonders abschreckend empfunden werden – als alleiniger Faktor
reiche ihr Zerstörungspotential nicht aus, gäbe es doch auch Waffen, die in dieser Hinsicht
durchaus vergleichbare „Erfolge“ erzielen könnten.532 Eine derart wirksame und lang
anhaltende Abschreckung mit Nuklearwaffen sei vor allem möglich gewesen, weil sie mit
Charakteristika von Tabus belegt worden sind und die Angst vor den – gerade tabubedingt
529
530
531
532
Brodie, Bernard 1946: War in the Atomic Age, in: Ders. (Hg.): The Absolute Weapon. Atomic Power and
World Order, S. 21-69, hier S. 28ff. sowie Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. 2000:
Introduction: Understanding Nuclear Weapons in a Transforming World, in: Dies. (Hg.): The Absolute
Weapons Revisited. Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 1-15, hier S. 5.
Achen, Christopher/Snidal, Duncan 1989: Rational Deterrence Theory and Comparative Case Studies, in:
World Politics 41:2, S. 143-169, hier S. 152. Zur abschreckungstheoretischen Bedeutung von Psychologie
und Wahrnehmung siehe z.B. das Sammelband: Jervis, Robert/Ned Lebow, Richard/Gross Stein, Janice
1985: Psychology of Deterrence, Baltimore/London.
Hier scheint Tannenwald über ihren noch 1996 zum Ausdruck gebrachten, bescheidenen Standpunkt als
ergänzende Erklärung hinausgegangen zu sein, indem sie das Tabu wesentlich grundlegender als „ essential
to explaining the overall patterns of non-use“, wenn auch nicht als die einzige Erklärung charakterisiert.
Tannenwald, Nina 1999: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis of Nuclear NonUse, in: International Organization 53:3, S. 433-468, hier S. 439f.
So starben während des 2. Weltkriegs Hunderttausende japanische ZivilistInnen durch BrandbombenAngriffe, 80.000 allein in Tokio in der Nacht zum 10. März 1945. S. Rademacher, Cay 2005: Nagasaki ging
wegen Treibstoffmangels unter, in: Der Spiegel, 22.05.2005, online unter: <http://www.spiegel.de
/panorama/0,1518,366012,00.html>, rev. 22.08.2006.
– 142 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
unproportionalen – Folgen ihres Einsatzes eine über das Faktische weit hinausgehende
Eigendynamik entwickelt hat, die den Fortbestand des Tabus auch nach dem Ende des Kalten
Krieges sichert. Besonders diese neue Situation, in der durch den Wegfall des nuklearen
Kontrahenten ein entscheidender Erklärungsfaktor der dyadisch-rationalistischen Erklärung
ausgehebelt wird, lässt auf den (inzwischen?) monadischen Charakter des nuklearen Tabus
schließen – selbst ohne die Erwartung einer Gegenreaktion bleibt ein nuklearer Einsatz
undenkbar. Die jahrzehntelang im Rahmen der Abschreckungsstrategie vorgegebene
Denkbarkeit ist mit dem monadischen Ansatz durchaus vereinbar und wird vor dem
Hintergrund des Sicherheitsdilemmas der Supermächte nachvollziehbar: Selbst wenn das Tabu
auf beiden Seiten (jeweils unabhängig von der anderen)533 vorlag, so konnte dennoch keine der
zwei Mächte jemals sicher sein, dass dieses vom Gegner geteilt wird, weshalb die ständige
Androhung eines Bruches notwendig war, um sich, das Tabu (und dadurch wiederum sich), zu
schützen.534
5.2.4 Zusammenfassung und Erosionskriterien
Die Schutzfunktion des nuklearen Tabus ist einer der Hauptgründe für seine Stärke, die sich,
wie im Verlauf des letzten Kapitels herausgearbeitet, auf mehrere Pfeiler stützt: Wesentlich für
die Aufrechterhaltung des nuklearen Einsatzverbotes ist die Wahrnehmung von
Nuklearwaffen als anders- und einzigartig sowie die scharfe Trennung zwischen ihnen und
konventionellen Waffen. Dabei wird die nukleare Beschaffenheit von Waffen zum technischen
Unterscheidungsmerkmal der Waffengattungen, die dadurch entstehende Zweiteilung bietet
jedoch lediglich die Basis zur Konstruktion der bright line, die vor allem – und weit über die
Technik hinaus – mittels moralischer Zuschreibungen gezogen wird. In Abgrenzung zu
konventionellen Waffen, deren Einsatz bei Wahrung bestimmter Prinzipien im Einklang mit
der Moral steht und die ergo einen Status als legitime Kampfmittel genießen, unterliegen
erstens, ihrem Charakter als Totem entsprechend, alle Nuklearwaffen der Stigmatisierung als
unmoralisch und inhuman. Zweitens gründet sich auf diese Ächtung ein Einsatzverbot, dessen
Missachtung nicht nur zu apokalyptischen Konsequenzen führen muss, sondern auch nur in
einer absolut alternativ- und ausweglosen Situation denkbar und begründbar wäre –
Nuklearwaffen sind demnach nie „weapons of warfare“, sondern immer nur „weapons of last
resort“.
533
534
Dass sie unusable sind, steht außer Frage – Begründungen für ihren
Die Frage, inwiefern von der Existenz eines nuklearen Tabus in der UdSSR ausgegangen werden kann, ist
noch unbeantwortet und bietet ein interessantes Forschungsdesiderat.
Diese Annahme würde auch erklären, warum Abschreckungspolitik dem nuklearen Tabu zum Trotz ihre
Glaubwürdigkeit behielt – konfrontiert mit einem als unberechenbar eingestuften Feind, glaube man eher
das schlimmste. Hingegen wird z.B. von Morgan die Ansicht vertreten, dass Nuklearwaffen aufgrund ihrer,
durch die Zerstörungskraft bedingten Nutzlosigkeit, die Glaubwürdigkeit der Abschreckungspolitik eher
unterlaufen denn stärken, glaube doch ohnehin niemand, dass diese Waffen eingesetzt würden. S. Morgan,
Patrick M. 1985: Saving Face for the Sake of Deterrence, in: Jervis, Robert/Ned Lebow, Richard/Gross
Stein, Janice 1985: Psychology of Deterrence, Baltimore/London, S. 125-152.
– 143 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
außergewöhnlichen Stellenwert werden in Anbetracht seiner taken-for-grantedness obsolet, ein
Hinterfragen der Besonderheit unmöglich.
Diese Selbstverständlichkeit ist jedoch, wie aus der Darstellung des Entstehungs- und
Durchsetzungsprozesses der Norm hervorgeht, nicht von allen gesellschaftlichen Gruppen
und innerhalb dieser nicht von allen Akteuren gleichermaßen internalisiert: Konnte das
nukleare Tabu in der us-amerikanischen Bevölkerung sehr schnell eine breite und dauerhafte
Anerkennung erlangen, kann man auf der Ebene politischer Entscheidungsträger nicht von
einer linearen, von Regierung zu Regierung stärker werdenden Verinnerlichung sprechen,
während die Wissenschaft und das Militär in dieser Frage dauerhaft tief gespalten waren.
Dennoch wirkt die Nicht-Einsatz-Norm, ungeachtet ihrer uneinheitlichen Internalisierung,
allein durch ihre Existenz – so kann sie selbst von denjenigen, die nicht an ihre Richtigkeit
glauben, nicht negiert werden und wird zu einem zentralen Faktor, den es bei der
Entscheidungsfindung zu berücksichtigen gilt. Nicht nur die Handlungsoption „nuklearer
Angriff“ wird dementsprechend, wenn von Einzelnen auch nicht für falsch befunden,
unwählbar, ja nicht einmal öffentlich artikulierbar; auch mögliche Maßnahmen zur Erhöhung
der Einsatzfähigkeit von Nuklearwaffen stehen außerhalb des – durch die weitgehend geteilte
Gültigkeit
des
Tabus
und
die
dahinter
stehende
Öffentlichkeit
–
verengten
Entscheidungsspielraumes. Durch die Norm beschränkt, könnte letzterer ergo auch nur auf
Kosten der Norm ausgeweitet werden – woran wäre die eine solche Ausweitung
ermöglichende Erosion des nuklearen Tabus zu erkennen?
Ein Blick in seine Geschichte kann erste Anhaltspunkte liefern, gab es doch während der
letzten Jahrzehnte immer wieder (bislang erfolglose) Versuche seiner Beseitigung seitens
derjenigen, die sich durch das Verbot restringiert fühlten und die Einsatzfähigkeit von
Nuklearwaffen im doppelten – also moralischen und technischen – Sinne erhöhen wollten:
Konnte sich das Tabu vor allem aufgrund der herrschenden Auffassung etablieren,
Nuklearwaffen seien nicht wie andere Waffen und ihr Einsatz würde der Übertretung einer
besonderen Schwelle gleichkommen, ist es nahe liegend, erstens eine Konventionalisierung
von Nuklearwaffen, wie sie schon einmal Teil der politischen Strategie war,535 als ein
Kriterium der Erosion zu nehmen. Dem nuklearen Tabu würde die Basis entzogen werden,
wenn sich die Überzeugung, es gäbe keine grundsätzlichen moralischen Unterschiede zwischen
nuklearen und nicht-nuklearen Waffen, im Diskurs durchsetzen ließe. Hierbei kann der
argumentative Weg, der Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Waffengattungen
gegenüber den Unterschieden hervorhebt, durch das Vorantreiben technischer Entwicklungen
wesentlich gestützt werden, indem das Zerstörungspotential konventioneller Waffen erhöht,
das nuklearer Waffen wiederum gesenkt wird, indem sie, mit geringerer Sprengkraft
ausgestattet, auch weniger fallout verursachen. Solche neuartigen, theoretisch einsetzbaren
Nuklearwaffen würden den Totemstatus insofern untergraben, als nur noch ein Teil der
535
Vgl. S. 131 dieser Arbeit.
– 144 –
En ts te h un g un d W i r ku n g de s n u kl e ar e n T a bus
Gattung nuklearer Waffen geächtet bliebe – im Gegensatz zur vorherigen Tabuisierung der
gesamten Gattung wäre dies ein zweites Erosionskriterium. Durch die diskursive und
technische Herstellung der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Waffengattungen sowie
Differenzierungen innerhalb der Nuklearwaffen würden Begründungen für die notwendige
Aufrechterhaltung des nuklearen Tabus geäußert werden müssen, was angesichts seiner
bisherigen Selbstverständlichkeit als dritter Erosionsindikator gelten kann. Zum Ausdruck
kommen würde die Schwächung des Tabus – viertens – in einem reframing von nuklearen
Waffen als ultima ratio in zwei klar definierten Fällen hin zu einer gleichrangigen Option unter
vielen in nicht mehr genau benannten Situationen und damit die Aufhebung der
Beschränkung ihres Verwendungszweckes auf Verteidigung zur Überlebenssicherung
und Abschreckung.
Zusammengefasst könnte eine Erosion des nuklearen Tabus also aufgrund des Vorliegens
eines oder mehrerer folgender Kriterien festgestellt werden:
1. Es findet eine Konventionalisierung nuklearer Waffen statt.
2. Die ehemals absolut geltende Ächtung betrifft nur noch einen Teil der Nuklearwaffen.
3. Begründungen für die Gültigkeit des Tabus werden notwendig.
4. Nukleare Einsatzoptionen werden für eine Reihe von Situationen in Betracht gezogen.
Diese Basis wird im empirischen Kapitel als Folie dienen, um den argumentativen Verlauf der
Erosion des nuklearen Tabus nachzuvollziehen.
5.3 Zwischenfazit:
globaler Tabus
Gemeinsamkeiten
und
Unterschiede
zweier
Wie aus der bisherigen Lektüre vielleicht bereits deutlich geworden ist, weisen die beiden von
uns untersuchten Tabus erhebliche Unterschiede auf, die wir im Folgenden diskutieren
werden.
Die
daneben
vorhandenen
strukturellen
Gemeinsamkeiten
ergeben
sich
notwendigerweise aus den Kriterien, die wir der Fallauswahl zugrunde gelegt hatten: Beide
Normen sind (bzw. waren) in den Vereinigten Staaten besonders stark internalisiert und
konstitutiv für die Identität des Landes, sie weisen des Weiteren typische Tabu-Charakteristika
nach dem Konzept Freuds auf. Diesem entsprechend, regulieren beide Verbotsnormen vor
dem Hintergrund vorausgegangener oder auch andauernder negativer Erfahrungen bestimmte
Handlungspraxen (nämlich das Abwerfen von Nuklearwaffen sowie das Foltern von
Menschen). Beide zielen auf die Kontrolle des potentiell in jeder Person (auch der eigenen)
angelegten Begehrens ab, welches von der Faszination, (destruktive) Macht über andere
Menschen auszuüben, herrührt. Während in einem Fall die vorhandene Macht das
vollständige physische Ausradieren ganzer Städte bzw. sogar die Annihilation der gesamten
Menschheit bedeuten kann, steht im anderen die totale psychische Auslöschung eines
Individuums durch das Brechen seiner bzw. ihrer Persönlichkeit im Mittelpunkt. Dass diese
Handlungen als Ausdruck des absolut Bösen gelten, rührt einerseits von der ihnen
– 145 –
Zwi s che nf a zi t: Z we i gl ob al e T ab us
zugeschriebenen Irrationalität und andererseits von der kaum bestreitbaren unmenschlichen
Grausamkeit her, die sich in ihnen manifestiert.
Aus Angst vor der Möglichkeit der Ausführung dieser Handlungen, deren Ausführung
selbst sowie ihren Folgen, vor denen es die Gesellschaft durch Tabuisierung zu schützen gilt,
sind Folter und Nuklearwaffen geächtet, wobei im Falle der Nuklearwaffen mit dieser
Ächtung auch ihre Achtung als Totemobjekte einhergeht, für die es im Fall der Folter kein
Pendant gibt. Gründet sich also die Faszination der nuklearen Technologie auf die Ästhetik
der Waffen sowie insbesondere ihrer Explosionen und kann dem Totem nicht nur direkt
durch zeremonielle Zurschaustellung, sondern auch indirekt durch das Aufgreifen von
Bildmotiven wie dem Atompilz öffentlich gehuldigt werden, lässt sich für Folter das Gegenteil
feststellen: Weder liegt ein Totem vor noch sind Symbole oder Visualisierungen der Handlung
öffentlich präsentierbar und stilisierbar.536 Hier reicht die Tabuisierung des Themas soweit,
dass eine direkte Auseinandersetzung, z.B. mit Folterinstrumenten nur auf einer abstrakten,
historischen Ebene oder aus einer sicheren geographischen Distanz heraus erträglich zu sein
scheint. So ordnet der Besuch ehemaliger Folterkammern diese Praxis einer längst
vergangenen Epoche zu, während aktuelle Bilder sie mit dem Zweck von shaming und
blaming in eine fremde und (zumindest in dieser Hinsicht) rückständige Kultur verweisen. In
Abgrenzung zu dieser Skandalisierung und „Archaisierung“ von Folter werden Nuklearwaffen
– ebenfalls ausschließlich auf einer abstrakten Ebene – als ein Symbol militärischer,
technischer und wissenschaftlicher Progressivität angesehen, das unabhängig von der
tödlichen Wirkung der Waffe betrachtet werden kann und auf das nicht nur ForscherInnen,
sondern ganze Nationen stolz sein können. Die besondere Mystik des nuklearen Tabus wird
dabei durch die vorrangig strategischen Überlegungen geschuldete Verheimlichung des
eigentlichen
Forschungsprozesses
noch
erhöht,
wohingegen
das
Nicht-Publizieren
möglicherweise ebenso innovativer Foltermethoden eher dem Totschweigen des Themas
generell entspricht: Die Vorstellung eines Staates, der sich als mit modernster Foltertechnik
ausgestattet präsentiert, ist schlichtweg bizarr.
Folter eignet sich auch deshalb nicht als Statussymbol, weil ihr nicht die Funktion eines
Schutzgeistes zugeschrieben wird – obwohl dies im Hinblick auf die Informationsgewinnung,
z.B. über die Kriegsstrategie des Feindes, durchaus rational begründbar wäre – die der Aufbau
eines Nukleararsenals qua Abschreckungslogik tatsächlich erfüllt. Kann man bei der nuklearen
Nicht-Einsatz-Norm ihre rationale – eben abschreckungsbasierte – Komponente nicht von
der Hand weisen, scheint es sich beim Folterverbot zumindest zum Teil um eine nachträgliche
Rationalisierung zu handeln, indem der Verzicht auf Folter zum Bestandteil des Fundaments
536
Dies zeigt sich z.B. auch in der Bildsprache bekannter Filme: Während Atompilze häufiger auf der
Leinwand zu sehen sind und das Bild eines auf einer Nuklearbombe reitenden Soldaten aus „Dr. Seltsam
oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben” beinahe jedem geläufig ist, werden Folterungen meist allenfalls
angedeutet. So erregte kürzlich eine Szene des Films „Syriana“, in der dem Hollywoodschauspieler George
Clooney von Hisbollah-Mitgliedern gefoltert wird, großes Aussehen, mehrmals wurden Forderungen laut,
die Szene herauszuschneiden.
– 146 –
Zwi s che nf a zi t: Z we i gl ob al e T ab us
moderner Staatlichkeit erkoren wurde.537 Aus dieser Perspektive ist auch die im Vergleich mit
anderen Menschenrechtsnormen
ungewöhnlich starke
rechtliche
Kodifizierung des
Folterverbots zu verstehen – dass im Falle des nuklearen Tabus weder eine direkte
völkerrechtliche Festschreibung vorliegt noch eine eindeutige, uneingeschränkte Herleitung
aus anderen Rechtsnormen möglich war, macht einen weiteren bedeutenden Unterschied der
beiden Fälle aus.
Der unterschiedliche Rechtsstatus verhält sich interessanterweise genau umgekehrt zur
Einhaltung der Normen: So wurde das Einsatzverbot in den letzten 60 Jahren niemals
unterlaufen, Folterungen finden dagegen ständig statt. Auf der Ebene der diskursiven
compliance kehrt sich das Verhältnis erneut um, denn während es für die Aufrechterhaltung
des Folterverbots sowie für jeden Staat selbst zentral ist, uneingeschränkte Zustimmung zu
einschlägigen Völkerrechtsnormen öffentlich und nachdrücklich zu bekunden, war der
angedrohte Bruch des nuklearen Tabus jahrzehntelang ein bedeutender Teil offizieller
staatlicher Sicherheitspolitik. Ein gewisser Grad an Denkbarkeit von nuklearen Einsätzen als
last-resort-option
musste
schlichtweg
bestehen,
um
die
Glaubwürdigkeit
der
Abschreckungspolitik nicht zu untergraben und damit gleichzeitig die Einhaltung der Norm
sicherzustellen. Angesichts der absoluten Gültigkeit des Folterverbots, das rechtlich und
moralisch jede Ausnahme explizit untersagt, könnte eine solche Definierung von ultima ratioOptionen dagegen den Anfang vom Ende der Norm bedeuten.
Die beiden Normen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Absolutheit, sondern,
technisch bedingt, auch durch den Kreis ihrer Adressaten: Zwar ist das nukleare Tabu
natürlich auch von denjenigen (bzw. verständlicherweise besonders von ihnen) als legitim und
bewahrungswürdig anerkannt, denen die Option eines nuklearen Einsatzes mangels
Verfügbarkeit der dafür notwendigen Nuklearwaffen gar nicht offen steht, die aber
möglicherweise Ziel eines solchen Angriffs werden könnten. Unmittelbar gilt die Norm
jedoch nur für einen kleinen Teil der Staatengemeinschaft, nämlich für die fünf im Sinne des
NPT offiziellen und mindestens drei inoffiziellen Nuklearmächte, denn nur sie sind in der
Lage, tatsächlich gegen das Tabu zu verstoßen. Im Gegenteil dazu ist das Folterverbot für alle
Staaten von direkter Relevanz: Um zu foltern, muss man nicht notwendigerweise über
hochentwickelte Technik verfügen, so dass Folter in jedem Staat – im Sinne technischer
Machbarkeit – möglich ist. Möglich im Sinne der Legitimierbarkeit ist sie hingegen in keinem
Staat der Welt, würden entsprechende Rechtfertigungsversuche doch einer Verabschiedung
aus dem Kreis der zivilisierten Nationen gleichkommen. Genauso wird auch entlang der
Einhaltung des nuklearen Tabus eine Dichotomie zwischen Zivilisiertheit und Barbarei
konstruiert. Inhumanes Verhalten, wie beispielsweise das Foltern oder Töten von
537
Zum Teil deshalb, da nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob die frühen Folterverbote tatsächlich v.a.
dem Aufkommen einer neuen Staatsraison geschuldet waren und ob letztere nicht auch mit
Ausnahmereglungen von ersteren weiterbestehen könnte, wie es bis ins 19. Jahrhundert der Fall war.
– 147 –
Zwi s che nf a zi t: Z we i gl ob al e T ab us
Unschuldigen, ist mit dem Status eines Mitglieds der Gemeinschaft zivilisierter Staaten
genauso wenig vereinbar, wie mit dem positiven Selbstbild einer Nation.
Für die Identität der USA sind beide Normen – jedoch aus ganz unterschiedlichen
Gründen – von besonderer Bedeutung: Die Herausbildung des vergleichbar jungen nuklearen
Tabus steht in engem Zusammenhang mit der internationalen Vormachtstellung der
Vereinigten Staaten und ist gewissermaßen ein „Urprodukt“ des modernen Amerika, das die
Atombombe zuerst entwickelt und als einziges Land eingesetzt hat sowie noch heute die
größte Nuklearmacht ist. Im Gegensatz zu diesen inländischen Entwicklungen handelt es sich
beim Folterverbot um eine wesentlich ältere und in dreifacher Hinsicht „importierte Norm“ –
durch die Anlehnung an englisches Recht, die biographischen Hintergründe der frühen
Einwanderer sowie die Identifikation mit den Idealen der (kontinentaleuropäischen)
Aufklärung. Aufgrund der Übernahme zur Zeit der Staatsgründung wurde gerade diese Norm
zu einem Kernbestandteil der sich herausbildenden us-amerikanischen Identität, was sich
insbesondere in den Bestrebungen der politischen Elite des Landes nach dem Zweiten
Weltkrieg niederschlug, diese Norm zu universalisieren. Angesichts der sich im Bewusstsein
der Politik, der Wissenschaft, des Militärs und der Öffentlichkeit eingebrannten Präzedenzfälle
kann die Entstehung des nuklearen Tabus vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher
Ablehnung nur bedingt auf Leistungen einzelner norm entrepreneurs zurückgeführt werden.
Das jahrhundertelange Anschreiben von Normverfechtern gegen Folter war hingegen für die
Etablierung zunächst nationaler Verbote ausschlaggebend. Ihre Argumente sollten aber auch
Denken und Diskurs der Bevölkerung wie der Regierenden bis ins 20. Jahrhundert prägen,
was sich schließlich in der völkerrechtlich Ächtung von Folter niederschlug.
In Anbetracht der absoluten Geltung des Folterverbots, das keinerlei juristische
Ausnahmen kennt, würde diese bereits durch den Versuch der öffentlichen Legitimierung
eines Einzelfalls untergraben. Ein wichtiges Anzeichen für den Bruch des Foltertabus wäre
also ein argumentativer Austausch über die Möglichkeit einer Legalisierung dieser Praxis, in
dem auch Argumente für Folter als rational begründbar anerkannt würden. Da das nukleare
Einsatzverbot hingegen niemals rechtlich festgeschrieben wurde und als ultima ratio schon
immer – theoretisch – auch völkerrechtlich gerechtfertigt werden konnte, kann eine
Tabuschwächung also auch nicht an der Definierung von Ausnahmeregelungen festgemacht
werden (wobei eine Ausweitung der letzteren einen Hinweis darstellen könnte). Zentral wäre
in diesem Fall vielmehr eine Hinterfragung der besonderen Natur von Nuklearwaffen, das
Verwischen der bright line zwischen weapons of last resort und konventionellen Waffen,
indem, wie auch bei Folter, darauf verwiesen würde, dass neue Formen von Nukleareinsätzen
gerade im Vergleich zu anderen Waffen aus rationalen Überlegungen geboten werden.
Ernsthaft geführten Diskussionen über eine Legalisierung von Ausnahmeregelungen im einen
Fall stünde also die diskursive Konventionalisierung im anderen gegenüber. In beiden Fällen
brächten Debatten über solche Optionen sowohl eine Ausweitung der Denkräume der
beteiligten Akteure zum Ausdruck, für die das Hinterfragen des Tabus wieder denkbar
geworden wäre, als auch deren erweiterten Handlungsspielraum im Hinblick auf den Einsatz
von Folter und Nuklearwaffen.
– 148 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
6. Erosion zweier internationaler Tabus
6.1 Erosion des Folterverbots
Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Kapitels über die Entstehung und heutige
Wirkung des absoluten Folterverbotes soll den LeserInnen im Folgenden ermöglicht werden,
dessen rasche Erosion in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts nachzuvollziehen. Ebenso
wie bei der nachfolgenden Beschreibung der Erosion des nuklearen Tabus wird hierzu kein
vollständiger Überblick über die ausgewerteten Dokumente gegeben, sondern der
Erosionsprozess aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, wobei die einzelnen Unterkapitel
jedoch aufeinander aufbauen: Einer Übersicht über den ungefähren zeitlichen Ablauf der
Debatte, deren Fehlen in den 1990er Jahren und Höhepunkten nach dem 11. September 2001
(6.1.1), folgt eine über die wichtigsten Protagonisten, die den Diskussionsprozess maßgeblich
vorangetrieben haben – wobei hier kaum von geschlossenen Akteursgruppen die Rede sein
kann, da deren Vertreter in der Folterfrage oftmals konträre Positionen einnehmen (6.1.2).
Daran anschließend werden die häufigsten Argumente für und gegen den Fortbestand der
absoluten Gültigkeit der Norm vorgestellt sowie vor dem Hintergrund der beschriebenen
Akteure und theoretischer Überlegungen eingeordnet (6.1.3). Im Fazit dieses zweiten Teils der
Folterfallstudie (6.1.4) wird diskutiert, inwiefern der Erosionsprozess den zuvor beschriebenen
Kriterien für eine Schwächung des Tabus tatsächlich entspricht und welche Aspekte der
Diskussion besondere Anhaltspunkte dafür bieten können, wie die Erosion der Norm
möglich wurde.
6.1.1 Zeitraum und Ablauf der Debatte
Zunächst ist im Hinblick auf die Diskussion um das Folterverbot festzustellen, dass diese sehr
breit geführt wurde und in ihrem Verlauf nahezu alle Formen gesellschaftlicher
Gruppierungen – von Anwaltskammer und Ärztelobby bis zu Zeitungsverlegern und
Zeithistorikern – erfasste. Entsprechend umfangreich war die untersuchte Datenmenge: Von
den insgesamt 5330 Treffern der Jahrgänge 1995 bis 2004 der New York Times und der USA
Today wurden insgesamt 523 Artikel in die Analyse einbezogen, wobei die hohe Trefferzahl
eine Unterscheidung in besonders wichtige („direkt relevante“) Dokumente (240) und eher für
die Hintergründe der Argumentation bedeutende („indirekt relevante“) Artikel (273)
erforderlich machte, welche weniger aufwendig ausgewertet wurden. Aufgrund dieser
Unterscheidung und durch das Weglassen sämtlicher Jahrgänge der Washington Post und
einer nur sehr groben Auswertung der Treffer aus NYT und USA Today für das Jahr 2005
(aber unter Berücksichtigung von 37 Verweisdokumenten)538 ergab sich mit 650
538
Die Verweisdokumente waren unterschiedlichster Art: Neben einigen Artikeln nicht untersuchter Zeitungen
wurden u.a. einige hearings und Reden von Regierungsmitgliedern sowie offizielle Untersuchungsberichte
und Anklageschriften von Menschenrechts-NGOs ausgewertet. Besondere Beachtung verdienen die vier in
die Analyse einbezogenen Monographien der norm challenger Dershowitz (Dershowitz, Alan D. 2002: Why
Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge, New Haven) und Ignatieff
– 149 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
berücksichtigten Argumenten eine ähnlich hohe Anzahl wie bei der Untersuchung des
nuklearen Tabus (vgl. Excel-Tabelle im Anhang).539
Entsprechend der Ausweitung der Debatte stieg die Anzahl der veröffentlichten Artikel
zum Thema Folterverbot nach 2001 kontinuierlich an. Einen Eindruck von dieser
Entwicklung vermittelt die folgende Darstellung, deren Angaben zwar nicht als exakt
missverstanden werden sollten,540 anhand derer sich aber deutlich ablesen lässt, dass der
Verlauf der Debatte an einige zentrale Ereignisse geknüpft ist:
Abb. 1: Verteilung als direkt relevant eingestufter Dokumente zur Folterdiskussion
Vor dem 11. September 2001: Letzte Schritte bei der Internalisierung des Folterverbots
„Are you nuts?” 541
Auffällig, wenn auch unseren Annahmen entsprechend, ist zunächst, dass in der zweiten
Hälfte der 1990er Jahre kaum Treffer zu verzeichnen waren. In den wenigen Artikeln, die das
539
540
541
(Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh) auf der einen
sowie der Abu Ghraib-Aufklärer Danner (Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib,
and the War on Terror, New York) und Greenberg/Dratel (Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.)
2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge) auf der anderen Seite.
Hintergrund der nur groben Auswertung der Treffer aus dem Jahr 2005 war nicht nur der
unverhältnismäßig große Umfang der Datenmenge, sondern auch die Tatsache, dass die Diskussion in der
zweiten Hälfte des Jahres 2004 deutlich abebbte. Zwar flammte sie im Sommer des folgenden Jahres wieder
auf, doch traten hier weder neue Akteure innerhalb der USA auf den Plan (vielmehr wurde sie von der
Kritik europäischer Staaten erneut angestoßen), noch wurden neue Argumente auf beiden Seiten
vorgebracht. Anhand einiger Artikel über den Diskussionsverlauf selbst lässt sich jedoch schließen, welche
Gruppen sich neu positionierten und Argumentationsweisen – auch der Gegenseite – übernahmen. S. S.
179 der Arbeit.
Die Zahlen sollten deshalb nicht absolut genommen werden, da sich z.B. einige Argumente derart häufig
wiederholten, dass sie nicht mehr als direkt, sondern nur noch als indirekt relevant gezählt wurden. Darüber
hinaus wurden nach dem Losbrechen der Diskussion um die absolute Gültigkeit des Tabus selbst einige
Entwicklungen vernachlässigt, die für den Nachweis der Internalisierung der Norm vor dieser Zeit wichtig
gewesen waren (etwa Klagen über Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten), so dass die Trefferzahl
nach 2001 noch höher hätte ausfallen können.
Antwort eines US-amerikanischen Geheimdienstagenten auf die Frage eines arabischen Kollegen, ob man
einen Gefangenen mit Folter zum Reden bringen solle (im Juli 2001). Zitiert nach: Glanz, James 2004:
Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times, 09.05.2004.
– 150 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Thema Folter in oder durch die USA zum Thema hatten, wurde die Gültigkeit der Norm
nicht infrage gestellt, vielmehr hoben sie Schritte zu einer (noch) stärkeren Internalisierung der
Norm lobend hervor. So stand die Unterzeichnung des Torture Victim Protection Act 1992
durch George H. Bush im Einklang mit seinem „strong and continuing commitment to
advancing respect for and protection of human rights throughout the world ”, wobei die
Forderung, dass „[t]he United States must continue its vigorous efforts to bring the practice of
torture and other gross abuses of human rights to an end wherever they occur”542 damals wohl
kein Lippenbekenntnis war. Denn der Beginn des eigentlichen Untersuchungszeitraums Mitte
der 1990er Jahre ist von dem Streben geprägt, die letzten „institutionellen Sümpfe“ der
Geheimdienste sowie (kleiner) Teile von Armee und Polizei, in denen – verborgen vor den
Augen der Öffentlichkeit – noch Folterungen stattgefunden hatten, endgültig trockenzulegen.
Sowohl
das
Bekanntwerden
eines
Armeehandbuches,
welches
in
bestimmen
Verhörsituationen Folterungen nahe legte und bei der Ausbildung von Militärs in
„befreundeten“ lateinamerikanischen Staaten bis in die 1980er Jahre eingesetzt worden war
wie auch ein Fall besonders brutaler Misshandlungen eines verhafteten Einwanderers durch
die New Yorker Polizei lösten gleichzeitig heftige öffentliche Proteste und politische
Reformanstrengungen aus.543
Für eine internalisierte, affektive Ablehnung von Folterungen spricht auch, dass letztere
im Hinblick auf andere Staaten immer wieder kritisiert wurden und mehrfach zu einer
Kürzung oder Einstellung von Entwicklungshilfezahlungen führte. Selbst im Fall erster
islamistischer Terroranschläge wurde Folter nicht als Option wahrgenommen, sondern im
Gegenteil der verfassungsgemäße Umgang mit dem Drahtzieher des Oklahoma City
Bombings, Timothy McVeigh, den zu diesem Zeitpunkt in eine Folterdebatte vertieften
Israelis als Gegenbeispiel vor Augen geführt. Ebenso wurde auf die Folterungen der des
Anschlags auf die kenianische US-Botschaft Verdächtigten in Nairobi entsetzt reagiert – und
noch bis kurz vor „9-11“ schien diese Haltung selbst Geheimdienstagenten selbstverständlich,
wie das Eingangszitat zeigt.
542
543
Rede George H. Bushs bei der Unterzeichnung des Torture Victim Protection Act von 1991 am
12. März 1992.
Die auch vor dem Hintergrund von bekannt gewordenen Folterfällen während der 1980er Jahre in
Guatemala gemachte Ankündigung des neuen CIA-Chefs, John Deutch, er wolle dafür sorgen, dass jeder
seiner Mitarbeiter „American interests and American values at heart” habe, wurde ebenso ernst genommen,
wie die Vorschläge diverser Untersuchungskommissionen zum Verhalten der New Yorker Polizei
insbesondere im Umgang mit Minderheiten (zitiert nach Weiner, Tim 1995: New C.I.A. Chief Wants to
Revamp U.S. Spying Overseas, in: New York Times, 13.07.1995). Im Hinblick auf den ersten Fall wurden
keinerlei Rechtfertigungsversuche seitens der Geheimdienste vorgebracht, vielmehr die Vorwürfe, das
gezeigte Verhalten sei „unacceptable in the intelligence service of a democratic society ” widerspruchslos
„geschluckt“. Im zweiten Fall forderte ein Anwalt der beschuldigten New Yorker Polizeibeamten lediglich,
die Gerichtsverhandlungen außerhalb der Stadt abzuhalten, um trotz der großen öffentlichen Proteste ein
faires Verfahren für seine Mandanten garantieren zu können (Editorial der New York Times vom 18.
August 1996 unter dem Titel „Making the C.I.A. Accountable ” und Artikel der New York Times vom 17.
Februar 1999 mit dem Titel „Louima Case Jeopardized, Lawyers Say ”).
– 151 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Die Primärquellen unterstützen jedoch nicht nur die Annahme einer Internalisierung der
Norm innerhalb der USA, darüber hinaus spiegelt sich in vielen der Artikeln aus den 1990er
Jahren auch die Einstellung, mit dem Ende des Kalten Krieges sei nun weltweit das „Zeitalter
der Menschenrechte“ angebrochen,544 als dessen wichtigste Vorboten die Festnahme Augusto
Pinochets 1998 und auch die als humanitäre Intervention aufgefassten Angriffe auf
Jugoslawien gesehen wurden. Als besonderen Beitrag der USA zu dieser Entwicklung wurde
die Zunahme von Fällen gewertet, die gegen ausländische Menschenrechtsverbrecher unter
dem Alien Tort Claims Act verhandelt wurden:545 Im September 1996 gestand ein USamerikanisches Gericht einem Folteropfer erstmals zu, einen Staat (Argentinien) anklagen zu
können, im Herbst 2000 kamen u.a. zwei große Verfahren gegen Li Peng, der in seiner
damaligen Funktion als chinesischer Premierminister das Massaker auf dem Tinananmen-Platz
mitangeordnet hatte, und den früheren bosnischen Frührer Radovan Karadzic hinzu. Auch
wenige Stunden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bestand Außenminister Colin
Powell darauf, die Unterzeichung der Inter-American Democratic Charter, deren zweites
Kapitel ein Folterverbot enthält, auf einer Konferenz der OAS in Lima vorzuziehen, damit er
noch seine Unterschrift leisten konnte – dies sei „the most important thing I can do before
departing to go back to Washington, DC.”, so Powell.546
Insgesamt bestätigen also die Primärquellen aus der Zeit vor „9-11“ die bereits anhand
der Sekundärliteratur in Kapitel 5.1 gewonnene Vermutung, dass das Foltertabu in den USA
quer durch alle Gesellschaftsschichten internalisiert war, als positiver Bestandteil der eigenen
Identität gewertet und Fälle von non-compliance ebenso selbstverständlich skandalisiert
wurden, wie diese von Seiten der Täter nicht zu rechtfertigen versucht wurden.
Nach dem 11. September 2001: „Time to think about torture”
„It’s a new world, and survival may well require old
techniques that seemed out of the question.” 547
Die ersten Artikel, die die deutlichen Rufe nach einer Einschränkung der Gültigkeit des
Folterverbots wiedergaben, erschienen im Oktober und November 2001, wie das
Eingangszitat zeigt, wobei deren Autoren den Beginn der Debatte unter den US-BürgerInnen
noch einige Wochen früher – und damit direkt nach den Ereignissen vom 11. September –
verorteten. Diese (an der Anzahl veröffentlichter Artikel gemessen) noch recht beschränkte
544
545
546
547
So eröffnete David Rieff 1999 einen Gastbeitrag in der New York Times mit den Worten „The age of
human rights is upon us.” Rieff, David 1999: The Precarious Triumph of Human Rights, in: New York
Times, 08. August 1999.
Vgl. etwa Sullivan, John 2000: The World; American Justice Tackles Rights Abuses Abroad, in: The New
York Times, 03.09.2000.
Zitiert nach Amnesty International 2003: United States of America: Memorandum to the US Government
on the rights of people in US custody in Afghanistan and Guantanamo Bay, S. 34. Der Text der OASCharta findet sich online unter: <http://www.oas.org/OASpage/eng/Documents/Democratic_
Charter.htm>, rev. 16.07.2006.
Titel und Untertitel eines Gastbeitrags des Newsweek-Herausgebers Jonathan Alter in der New York Times
vom 05. November 2001.
– 152 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Debatte weitete sich insbesondere im März 2002 und 2003 zeitweise aus, nämlich jeweils nach
der Festnahme bedeutender Schlüsselpersonen des al-Qaida-Netzwerkes durch das USMilitär. Die Frage, ob man Folter vor dem Hintergrund der Ereignisse von „9-11“ wieder
erlauben sollte, wurde ab hier also nur noch teilweise abstrakt geführt und vielfach mit der
verknüpft, wie man Abu Zubaidah, den ab November 2001 angeblich höchsten
Militärstrategen der al Qaida und Khalid Shaikh Mohammed, den mutmaßlichen Architekten
der Anschläge am 11. September, sicherheitstechnisch wichtige Informationen abringen
könnte. Obwohl sich nun mehr Akteure an der Debatte zu beteiligen schienen, als direkt nach
„9-11“, blieb die Berichterstattung auf vereinzelte Artikel begrenzt, die noch nicht aufeinander
Bezug nahmen. Selbst die Eröffnung des ersten Gefangenenlagers in Guantanamo Bay auf
Kuba, Camp X-Ray, im Januar 2002 rief noch vergleichsweise wenige Kritiker auf den Plan.
Mehr Aufmerksamkeit zog dagegen die Veröffentlichung einer Monographie von Alan
Dershowitz, Rechtswissenschaftler an der Universität Harvard, mit dem Titel „Why Terrorism
Works” auf sich – insbesondere die Argumente des Autor für eine ernsthafte Erwägung des
Einsatzes von Folter im Kampf gegen den Terrorismus und die Vereinbarkeit dieser
Maßnahme mit dem Selbstverständnis einer modernen Demokratie erfuhr im Verlauf des
Jahres im Rahmen von
(kritische) Würdigungen.548
Rezensionen
über
die
untersuchten
Zeitungen
hinaus
Dennoch fiel die mit Abstand größte Anzahl relevanter Artikel (wie zu erwarten war) auf
die Zeit nach der Veröffentlichung erster Bilder aus dem Bagdader Abu Ghraib-Gefängnis,
welches die US-Truppen bereits kurz nach dem Fall Bagdads wiedereröffnet hatten (die Bilder
selbst stammen aus dem Herbst 2003). Wie so oft trug erst eine Visualisierung der Debatte zu
deren nunmehr rasanten Ausbreitung bei; nachdem die Fotos von Misshandlungen am 28.
April 2004 in der CBS-Sendung „60 Minutes” gezeigt worden waren, machten sie weltweit
Schlagzeilen – wobei in den USA sofort eine Debatte darüber aufflammte, ob man die
schockierenden Bilder überhaupt hätte zeigen dürfen.549
Die laufende Folterdiskussion kreiste nur noch um diese Aufnahmen, wobei in der
überwiegenden Mehrzahl der Artikel NormbefürworterInnen ihr Entsetzen zum Ausdruck
brachten, während andere Stimmen die Ereignisse als bedauerliche Einzelfälle oder gar als
normales Kriegsgeschehen einordneten. Offener wurde die nun zunehmend an Schärfe
gewinnende Diskussion in den folgenden beiden Monaten, die v.a. durch das Bekanntwerden
diverser, zunächst geheim gehaltener Memoranden aus den inneren Zirkeln der US548
549
S. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the
Challenge, New Haven, S. 162.
Selbst Donald Rumsfeld versuchte sein Versäumnis, auf bereits seit längerem vorliegende Berichte
insbesondere des Roten Kreuzes über die Zustände in Abu Ghraib zu reagieren, mit dem Hinweis zu
rechtfertigen, erst die Bilder hätten ihm das Ausmaß der Katastrophe vor Augen geführt, vgl. Bernstein,
Carl 2004: History lesson: GOP must stop Bush, in: USA Today, 24.05.2004. Aufgrund des vielfachen
Nachdrucks der Bilder auch in Deutschland kann auf eine Beschreibung im Rahmen dieser Arbeit – ganz im
Sinne des Tabus – wohl verzichtet werden. Der weitaus größere und (wahrscheinlich) noch weit
schockierendere Teil der Aufnahmen (Fotos und Videos) wird weiterhin unter Verschluss gehalten.
– 153 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Administration, in denen eine Reihe umstrittener Verhörmethoden zu legalen Mitteln im
Kampf gegen den Terrorismus erklärt, eine neue, extrem enge Definition von Folter
entwickelt und einschlägige internationale Abkommen in diesem Zusammenhang als irrelevant
eingestuft wurden. In diese Zeit fallen viele hearings sowie die Publikation mehrerer
detaillierter Berichte über die Ereignisse, die zu dem Skandal um Abu Ghraib geführt hatten
und über eventuelle. Zusammenhänge dieser Missstände mit den publizierten Memos.550
Dass die Debatte gegen Ende des Sommers 2004 in Medien und Politik recht schnell
abebbte, ist insofern erstaunlich, als in die letzten Monate des Jahres 2004 eine Reihe von
Klagen über die Zustände im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba fielen, die
jedoch weder Proteststürme auf Seiten der BefürworterInnen der Norm, noch
Rechtfertigungsversuche auf Seiten ihrer Gegner zur Folge hatten. Anfang 2005 erklärte die
NYT die Diskussion zunächst für tot.551 Erst als die europäischen Verbündeten der USA im
Kampf gegen den Terrorismus552 offen für die Schließung von „Gitmo” eintraten und dies in
der Bezeichnung des Lagers als „gulag of our times” durch die Generalsekretärin von
Amnesty International, Irene Khan, ihren Widerhall fand,553 lebte die Diskussion Ende Mai /
Anfang Juni des Jahres wieder auf, wobei zwar die Empörung über die Zustände in
Guantanamo nur wenig hinter der über die Abu Ghraib-Bilder zurückblieb. Anders als im Jahr
zuvor wurde jedoch rhetorisch weniger scharf geschossen und ein Teil der ehemaligen
BefürworterInnen einer Beibehaltung der absoluten Gültigkeit des Folterverbots laut über die
Notwendigkeit einiger „harter Verhörmethoden“ nachzudenken begann.554 Nach einer kurzen
Ruhephase mündete die Debatte schließlich in die Auseinandersetzung im US-Kongress um
ein neues nationales Gesetz zur Einschränkung von Verhörmethoden bei jeglichen
Gefangenen in US-Gewahrsam im Winter 2005, dem „Amendment on (1) the Army Field
550
551
552
553
554
Zu nennen sind hier insbesondere die beiden innerhalb des US-Militärs angefertigten Berichte, der sog.
„Taguba Report”, online unter: <http://news.findlaw.com/nytimes/docs/iraq/tagubarpt.html>, rev.
19.07.2006 und der sog. „Fay Report”, online unter: <http://news.findlaw.com/nytimes/docs/iraq
/tagubarpt.html>, rev. 19.07.2006. Einen wesentlich breiteren Fokus wählten die vom DOD unabhängigen
Autoren des sog. „Schlesinger Report”, online unter: <http://www.defenselink.mil/news/Aug2004
/d20040824finalreport.pdf>, rev. 19.07.2006), dessen Inhalt deshalb unten diskutiert wird, s. S. 176
der Arbeit.
Vgl. etwa einen Leserbrief in der NYT, der am 02. März 2005 unter dem Titel „Silence on Torture”
erschien: „Where is the outcry from the media regarding this despicable policy [Festhalten von Gefangenen
in Guantanamo, SoSchi]? Where are all the enlightened conservatives who decry America’s eroding values?
I would like to believe that they are sincere in their beliefs, but their silence on this matter speaks volumes
about where their true interests lie.”
Die Mehrzahl der US-amerikanischen Quellen fasst die Gegenmaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten
in Folge des 11. September 2001 unter dem Stichwort War on Terror zusammen, während sie in
Deutschland meist als „Kampf“ (und nicht „Krieg“) gegen den „Terrorismus“ (und nicht den auf die
Beteiligung von Staaten hinweisenden „Terror“) bezeichnet werden. Auch aus normativen Gründen haben
wir uns für die vom Originalbegriff abweichende deutsche Variante entschieden, ebenso wie für die
Einordnung der Ereignisse von „9-11“ als „Anschläge“ und nicht als „attacks”.
Zitiert nach einem Editorial der New York Times vom 06. Mai 2006 dem Titel „Un-American by
Any Name”.
Dies tat selbst der ehemalige Herausgeber der sonst gegen jegliche Form „verschärfter Verhörmethoden“
wetternden New York Times, Joseph Lelyveld, in einem mehr als 8000 Worte umfassenden Essay, der am
12. Juni 2005 unter dem Titel „Interrogating Ourselves” in der NYT veröffentlicht wurde.
– 154 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Manual and (2) Cruel, Inhumane, Degrading Treatment, amendment #1977 ”, das nach
dessen Initiator, Senator John McCain, auch etwas kürzer als McCain Amendment 1977
bezeichnet wird.
Im Hinblick auf dieses Gesetz sowie die Diskussionen um Guantanamo Bay ist darauf
hinzuweisen, dass die Debatten über angemessene Verhörmethoden sehr eng mit denen um
den Status der Inhaftierten als Kriegsgefangene (engl. Prisoners of War, kurz POWs) im Sinne
der Genfer Konventionen verknüpft waren und sind. Auch ein Großteil der Memos der USAdministration kreiste um die Frage, wie man die Einordnung der Gefangenen in diese
Kategorie juristisch umgehen könne. Ich habe versucht, hier so weit wie möglich eine
(künstliche) Trennung der Diskussion vorzunehmen, was nicht immer einfach war. In vielerlei
Hinsicht hat es sich auch als schwierig erwiesen, die Diskussion um eine Legalisierung von
Folter von den Reaktionen auf die Misshandlungen in Abu Ghraib zu trennen – da die
Debatte auch hier nicht abstrakt geführt, sondern mit der Frage, welchen Stellenwert die
Ereignisse in Abu Ghraib für die USA allgemein hätten, verknüpft wurde, war dies teilweise
unmöglich. Der Versuch, die Frage, wie es zur Praxis in Abu Ghraib kommen konnte ebenso
wie die juristischen Spitzfindigkeiten der Memos zur Anwendung des POW-Status so weit als
möglich zu umgehen, ist zwar bedauerlich, im Hinblick auf den Umfang einer Magistraarbeit
jedoch notwendig. Zudem erscheint eine genauere Beschreibung dieser Debatten für die
Beantwortung der Kernfrage – wie es zur Diskussion um eine Legalisierung, nicht zur
Anwendung von Folter kommen konnte – nur indirekt relevant. Wichtig erscheint also
insbesondere, welche Akteure Folter zuerst wieder als ein legitimes Mittel im Kampf gegen
den Terrorismus ansahen und welche Gruppen in diese Forderung einstimmten.
6.1.2 Akteurspositionen für und gegen eine Legalisierung von Folter
Die beiden erstaunlichsten Befunde aus der Analyse der nach dem 11. September
veröffentlichten Primärquellen im Hinblick auf die wichtigsten Akteurspositionen sind – um
das Wichtigste vorwegzunehmen – dass es, erstens, kaum Akteursgruppen gab, die sich
geschlossen für oder gegen eine Legalisierung von Folter positionierten und dass, zweitens, die
öffentliche Debatte um eine Wiedereinführung von Vertretern derjenigen Gruppen
angestoßen wurde, die die Norm schon früh internalisiert hatten, nämlich von seitens der
Bevölkerung und der Medien. Hingegen haben Mitglieder derjenigen Gruppen, die die Norm
bald in der Praxis vielfach brechen sollten (Geheimdienste und Militär) bzw. dieses Handeln
insgeheim billigten (Administration), ihre non-compliance gegenüber der Öffentlichkeit über
Jahre hinweg vehement dementiert. Überspitzt könnte man sagen, dass Regierung und
Administration damit ein sperrangelweit offen stehendes window of opportunity übersahen
oder bewusst ignorierten – und sich damit innenpolitisch wohl mehr schadeten, als wenn sie
die Anwendung „harter Verhörmethoden“ von Beginn an offen gelegt und als notwendig
hingestellt hätten.
– 155 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Winter 2001: Vom Stammtisch in die Medienlandschaft
Als Präsident Bush die BürgerInnen der USA am 10. Dezember 2001 (dem Jahrestag der
Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) dazu aufrief „to honor the
legacy of human rights passed down to us from previous generations and to resolve that such
liberties will prevail in our nation and throughout the world as we move into the 21st
century” ,555 hatten diese bereits eine Debatte über die Notwendigkeit einer Wiedereinführung
von Folter begonnen: „[T]orture is already a topic of discussion in bars, on commuter trains,
and at dinner tables” stellte die New York Times knapp sechs Wochen nach den Anschlägen
fest.556 Welcher Anteil der Bevölkerung eine Position für oder gegen Folter einnahm, lässt sich
leider nicht nachvollziehen, da aus dieser frühen Zeit keine Umfragen vorliegen. Die
Autorinnen und Autoren der Leserbriefe, die die New York Times insbesondere im November
zu dieser Frage veröffentlichte, positionieren sich häufiger gegen, als für Folter, was jedoch
auch der generell links-liberalen Grundausrichtung der Zeitung (und also auch eines Großteils
der Leserschaft) geschuldet sein kann – die Anzahl der Leserbriefe selbst lässt allerdings
vermuten, dass die öffentliche Diskussion das Tabu, über Folterungen zu sprechen, bereits
unterspült hatte.557
Nur aus dem Pflichtgefühl heraus, laufende Debatten zu begleiten und wiederzugeben,
hätten sich seriöse JournalistInnen dieses Themas angenommen, so der Autor des ersten
längeren Artikels der NYT zur Folterdebatte.558 CBS News lehne eine Berichterstattung über
die Diskussion gar rundweg ab – solange es keinerlei Anzeichen dafür gäbe, dass die
Regierenden solche Schritte in Erwägung zögen, sei das Thema an Stammtischen und bei
(weniger seriösen) Showmastern gut aufgehoben.559 Letzteres war eine klare Anspielung auf
Fernsehdiskussionen, deren Moderatoren weniger Skrupel hatten, die neu entbrannte
Folterdiskussion (positiv) zu kommentieren und dies nicht nur auf FOX News, sondern auch
auf CNN, das folgenden „Denkanstoß“ lieferte:
„A little food for thought, Bill. 1995. Filipino authorities arrest a guy named Abdul
Murad. They torture him. Under torture, he admits that he was planning to bring down
11 American airliners, blow up the CIA, kill the pope. Torture is bad. Keep in mind,
some things are worse. And under certain circumstances, it may be the lesser of two evils.
Because some evils are pretty evil.“560
555
556
557
558
559
560
Zitiert nach Amnesty International 2003: United States of America: Memorandum to the US Government
on the rights of people in US custody in Afghanistan and Guantanamo Bay, S. 8.
Rutenberg, Jim 2001: Torture Seeks into Discussion by News Media, in: New York Times, 05.11.2001.
Vgl. die Leserbriefe unter der Debattenüberschrift „In Desperate Times, Talking of Torture”, abgedruckt in
der Ausgabe vom 08. November 2001 sowie diejenigen vom 12. und vom 18. November mit den
Überschriften „Torture is Un-American ” und „Liberty and Security in the Age of Terror”.
Rutenberg, Jim 2001: Torture Seeks into Discussion by News Media, in: New York Times, 05.11.2001.
Wie oben beschrieben war es dann tatsächlich das Team von CBS News, dass die Bilder von Abu Ghraib als
erstes veröffentlichte.
CNN 2001: Target Terrorism: Forcing Suspects to Talk, Transkript der Sendung CNN Crossfire vom 25.
Oktober 2001.
– 156 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Zwar wirft der Gegenspieler des Moderators ein, die USA seien eben nicht die Philippinen,
doch hatten sich zu diesem Zeitpunkt auch bereits einige Kolumnisten mit der Frage
auseinander gesetzt, ob Folter in den USA selbst wieder erlaubt werden sollte. Wenn Folter im
Fall des philippinischen Islamisten gewirkt hätte, müsse man sich auch die Frage stellen, wie
man Informationen aus den Drahtziehern des 11. September herausbekommen könnte,
überlegten die Kolumnisten des Online Magazins Slate der Washington Post Group und auch
des Wall Street Journal im Oktober 2001 und damit noch vor dem eingangs zitierten
Jonathan Alter.561
Klar gegen jegliche Art von Folter positionierten sich dagegen jene Gruppen, die sich
erstaunlicherweise ab Januar 2002 überhaupt nicht mehr zu Wort meldeten, nämlich
Interessensverbände arabischstämmiger Amerikaner, die (zu Recht) eine Inhaftierungswelle
unter Mitgliedern ihrer ethnischen Gruppe befürchteten.562 Dagegen sahen Vertreter von
Menschenrechts-NGOs zunächst noch keinen Anlass, sich in die Diskussion einzuschalten –
dies würde man erst tun, wenn sich die Debatte ausweiten sollte. Ähnlich wie die Sendeleitung
von CBS gingen sie nicht davon aus, dass in der Regierung ähnliche Fragen aufgeworfen
würden wie in der Bevölkerung: „To the government’s credit, it’s not the government proposing this [Folter anzuwenden, SoSchi]. It’s various commentators”, stellte der Direktor von
Human Rights Watch (HRW), Kenneth Roth, im November 2001 fest.563
Die Unschuldsvermutung der Medien und des HRW für die Politik – gestützt auf
entsprechende Aussagen hinsichtlich der Bedeutung von Menschenrechten – ist also ein
Grund dafür, dass die Debatte nicht früher von mehr Akteuren ernstgenommen wurde.
Hieran wird deutlich, dass das Thema Folter zunächst eine zweifache Spaltung der
Medienlandschaft zur Folge hatte: Herausgeber von Zeitungen und Sendeleiter waren sich
ebenso uneins darüber, ob man die Forderung nach Folter überhaupt thematisieren wie
darüber, ob man diesen Überlegungen zustimmen sollte.
Ausweitung der Debattenteilnehmer 2002 und 2003: „There are ways to make
them talk”564
Vom Frühjahr 2002 bis in den Winter 2003 weitete sich die Debatte mehrfach kurzzeitig aus,
wobei eine stetige Zunahme von Diskursteilnehmern zu verzeichnen war. Dies hing
möglicherweise damit zusammen, dass die Debatte immer weniger abstrakt geführt wurde,
vielmehr machte sich ihr Verlauf an der Inhaftierung dreier prominenter Gegner fest, von
561
562
563
564
Vgl. Lithwick, Dahila 2001: Tortured Justice, in: Slate, 24.10.2001 sowie Winik, Jay 2001: Security Comes
Before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001.
Entsprechend äußerte sich Hussein Ibish der PR-Chef des American Arab Anti-Discrimination Committee
auf CNN: CNN 2001: Target Terrorism: Forcing Suspects to Talk, Transkript der Sendung CNN Crossfire
vom 25. Oktober 2001.
Zitiert nach Rutenberg, Jim 2001: Torture Seeks into Discussion by News Media, in: New York Times,
05.11.2001.
Überschrift eines Kommentars von Eric Schmitt in der New York Times vom 20. Juni 2002.
– 157 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
denen man sich wichtige Informationen erhoffte, nämlich der beiden al Qaida Kämpfer Abu
Zubaidah und Khalid Shaik Mohammed im Frühjahr 2002 und 2003 und Saddam Husseins im
Winter 2003.
Bereits zu Beginn des Jahres 2002 wurde klar, dass man der Debatte um Folter – bzw.
generell die Verhörmethoden (das Wort Folter fällt auffallend selten, s.u.) – kaum ausweichen
konnte. Es lagen zwar erst wenige Stellungnahmen der Regierung vor, doch machte sie durch
ihr Handeln – namentlich durch die Einrichtung von Gefangenenlagern auf Kuba – deutlich,
dass sie sich nicht aus der Debatte herauszuhalten gedachte, wie es auch NGOs zunächst
gehofft hatten.
Diese reagierten nun insbesondere heftig auf Vorwürfe von Misshandlungen, die zunächst
von in der Nähe des Kabuler Flughafen Bagram inhaftierten mutmaßlichen Kämpfern
erhoben wurden – die ersten Berichte aus einer langen Reihe Anklageschriften über USGefangenenlager in aller Welt, vornehmlich veröffentlicht von Amnesty International, Human
Rights Watch und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), wurden publiziert
und teilweise von den Medien aufgegriffen. Ab Januar 2002 wandten sich große
Menschenrechts-NGOs also regelmäßig und einhellig gegen den Einsatz jeglicher „harter
Verhörmethoden“ und skandalisierten den Umgang der USA insbesondere mit ihren
„unlawful combatants” – was sie zur einzigen Akteursgruppe macht, die in der Folterfrage
einheitlich einer Meinung war und blieb.
Auch, indem sie diesen Gruppen ein Forum gaben, durchgängig über ihre Aktivitäten
berichteten und ihre Standpunkte in Editorials teilten, positionierten sich die Herausgeber und
JournalistInnen der New York Times ebenfalls über weite Strecken der Debatte gegen das
Handeln der Regierung – wenn auch nicht mehr explizit gegen das Führen einer Diskussion
selbst. Demgegenüber berichteten die USA Today wie auch das Wall Street Journal nur sehr
vereinzelt (und dem Regierungshandeln gegenüber weniger kritisch) über die Vorwürfe und
ihre Hintergründe.565 Zumindest auf der Ebene der Frage, ob Folter angemessen sei (und
nicht der, ob man diese Frage überhaupt stellen dürfe) blieb die Zeitungslandschaft also
gespalten. Dies spiegelte sich auch in den veröffentlichten Leserbriefen, die zumindest einen
Einblick von den in der Bevölkerung laufenden Debatten ermöglichen: Anders als die zwar
zahlreichen, jedoch größtenteils gegen Folter eingestellten Leserbriefe, die an die NYT
gerichtet werden, brachten die in der USA Today und im Wall Street Journal publizierten
zeitweise viel Verständnis für „harte Verhörmethoden“ zum Ausdruck.
565
Diese Verteilung war für unsere Analyse natürlich problematisch, da wir in erster Linie an normfeindlichen
Argumentationsweisen interessiert waren, die durch die NYT größtenteils nur indirekt (durch Zitieren oder
Abgrenzen von Statements anderer Akteure) zu erfahren waren. Andererseits zeichnete sie sich gerade im
Fall der Folterdiskussion durch die bei weitem ausführlichste Berichterstattung aus; anhand eher
konservativer Blätter hätten sich der Verlauf der Debatte und die wichtigsten Ereignisse kaum
nachvollziehen lassen.
– 158 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Entsprechend fielen auch die Reaktionen auf das zweite (und letzte) wichtige Statement
einer Vereinigung von besonders betroffenen gesellschaftlichen Gruppierungen aus: Aly
Abuzaakouk, der Vorsitzende des American Muslim Council hatte sich darüber beklagt, dass
den ersten in Guantanamo Bay eingetroffenen Gefangenen die Haare und Bärte geschoren
und den afghanischen Kämpfern die Turbane weggenommen worden waren566 – und sich
damit in den Augen der meisten Autorinnen und Autoren von Leserbriefen wegen völlig
überzogener Kritik lächerlich gemacht.567 Offensichtlich stuften sie diese Handlungen nicht als
illegitime Demütigungen ein, erste kritische Stimmen der europäischen Alliierten bezüglich der
Verweigerung des Kriegsgefangenenstatus wurden hingegen durchaus ernst genommen.
Für die Bevölkerung waren die laufenden Folterdiskussionen noch rein theoretischer
Natur, zwar wurde die Verweigerung des POW-Status kritisiert, an staatlich gebilligte oder gar
angeordnete Misshandlungen jedoch noch nicht geglaubt. So wurde auch die Veröffentlichung
von Alan Dershowitz’ Monographie „Why Terrorism Works”, mit der sich der HarvardProfessor klar und öffentlich für Folter in bestimmten Fällen aussprach, teilweise als zu
abstrakt bezeichnet.568 Allerdings wurde die von Dershowitz beschriebene Notwendigkeit
einer Diskussion um das Thema von jedem der Rezensenten explizit geteilt, was wiederum
belegt, dass es innerhalb der Zeitungslandschaft keine größeren Diskussionen mehr darüber
gab, ob man eine (abstrakte) Debatte um das Thema Folter führen dürfe.569 Dershowitz’ Buch
rief allgemein großes Aufsehen hervor, da es sämtliche moralischen Gründe für eine
Legalisierung von Folter stilistisch geschickt und für jeden nachvollziehbar innerhalb eines
Kapitels abhandelte. Auch diejenigen Kritiker, die seine Forderungen letztlich nicht teilten,
zollten seiner logisch stringenten und moralisch herausfordernden Argumentationsweise
Rechnung – im Gegensatz zu den früheren norm entrepreneurs wie Beccharia und Voltaire,
die die bereits kursierenden Argumente elegant und verständlich zusammenfassten, könnte
Dershowitz also als prominentester intellektueller „norm challenger” bezeichnet werden, der
der entfachten Debatte um die Gültigkeit der Norm eine neue Qualität verlieh. Allerdings
566
567
568
569
Insbesondere letzteres war vor dem Hintergrund der einsetzenden Debatte um den POW-Status der
Inhaftierten ein besonders heikler Punkt, da einige Juristen argumentierten, die schwarzen Turbane der
Taliban-Kämpfer seien einer westlichen Uniform vergleichbar, die Kämpfer also als Kombattanten zu
erkennen gewesen, weshalb sie nach der Genfer Konvention als Kriegsgefangene hätten behandelt
werden müssen.
Vgl. die Leserbriefe, die unter dem Titel „Prisoners don’t deserve special handling ” in der USA Today vom
17. Januar 2001 veröffentlicht wurden.
Wie vielleicht vorherzusehen, wurde diese Kritik vom Rezensenten der USA Today geäußert, vgl.
Minzesheimer, Bob 2002: Dershowitz explains ‚Why Terrorism Works’, in: USA Today, 29.08.2003.
Vgl. etwa Gewen, Barry 2002: Thinking the Unthinkable, in: The New York Times, 15.11.2002:
„Dershowitz enjoys getting people angry at him, and the chapter of ‚Why Terrorism Works’ that discusses
torture seems explicitly designed to elicit outrage. But those who believe that they have principled objections
to torture should read it. (…) He is at his best when forcing us to confront difficult questions about freedom, to
think troubling, unpleasant thoughts.”, Minzesheimer, Bob 2002: Dershowitz explains ‚Why Terrorism
Works’, in: USA Today, 29.08.2002: „Dershowitz’s contribution is to (…) play the role of intellectual
provocateur.” oder Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.09.2002:
„Dershowitz’s book will anger unreconstructed civil libertarians, the government-phobes on the extreme
right, and Arafat’s European apologists. That is a considerable merit…”.
– 159 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
machte Dershowitz’ Forderung, man solle sich mit der heiklen Frage auseinander setzen,
bevor die Regierung Fakten schaffe, deutlich, dass auch er noch nicht an von Regierungsseite
angeordnete Misshandlungen glaubte.570 (Von der gleichen Grundannahme ging auch der erste
längere Artikel einer (öffentlich zugänglichen) Militärzeitschrift aus, der sich den Vor- und
Nachteilen von Folterverhören zuwandte.)571
Der erste laut geäußerte Vorwurf, die USA würden sich bereits Folterungen – und nicht
„Misshandlungen“, „harter Befragungen“ o.ä. – schuldig machen, kam aus einer vielleicht
unerwarteten Ecke, nämlich von dem französischstämmigen Mitglied der Hamburger alQaida-Zelle Zacarias Moussaoui, der im September 2002 mit der Forderung „free Abu
Zubaydah from C.I.A. torture chamber and bring him into my open court” den Gerichtssaal
betrat und im November 2003 erklärte, „torture is now part of the American way of life.”572
Ähnlich äußerte sich im Januar 2003 auch das aus den USA stammende mutmaßliche alQaida-Mitglied Richard Reid, der diese Vorwürfe während seiner Gerichtsverhandlung im
Januar 2003 erhob.573
Die Debatte, ob Gefangene in Drittländer verschickt werden sollten, um dort verhört,
nicht explizit gefoltert zu werden, war jedoch schon ein Jahr zuvor, nach der Festnahme von
Abu Zubaidah, aufgekommen, dessen Inhaftierungsort nicht bekannt gegeben wurde. Obwohl
zu dieser Zeit bereits einige Artikel nicht mehr nur die theoretische Möglichkeit thematisierten,
dass der Einsatz von Folter wieder notwendig werden könnte, sondern nun auf die
praktischen Schwierigkeiten verwiesen, die bei Verhören von fundamentalistischen Islamisten
wie Abu Zubaidah auftraten,574 die Diskussion über die Notwendigkeit eines Einsatzes von
Folter insgesamt zunahm und sogar bereits von Fernsehserien aufgegriffen wurde,575
positionierte sich die US-Administration nach außen klar gegen die Spekulationen, die
Regierung könnte diese Schritte ebenfalls in Erwägung ziehen oder gar bereits durchführen.
Mit der Aussage, diese Vermutungen seien „wrong, inaccurate, not happening, and will not
happen” gab Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eines der ersten absoluten Dementis zu
eventuellen Verstrickungen der Administration in Fälle von Misshandlungen ab und damit
570
571
572
573
574
575
Vgl. Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the
Challenge, New Haven, S. 162.
Vgl. Smith, Paul J. 2002: Transnational Terrorism and the al Qaeda Model: Confronting New Realities, in:
Parameters, Sommer 2002.
Gerichtsverhandlung gegen Zacarias Moussaoui, zitiert nach: Shenon, Philip 2003: Judge Bars 9/11 Suspect
From Being Own Lawyer, in: New York Times, 15.11.2003.
Zitiert nach Shenon, Philip 2003: The Terror Suspect; Man Charged in Sept. 11 Attacks Demands That
Qaeda Leaders Testify, in: New York Times, 22.03.2003 bzw. Transkript der Urteilsverkündung gegen den
„Schuhbomber“ Richard Reid vor einem Bundesgericht in Boston: CNN 2002: Reid: „I am at war with your
country“, Transkript der Urteilsverkündung gegen den „Schuhbomber“ Richard Reid vor einem
Bundesgericht in Boston am 30. Januar 2003.
Vgl. Shenon, Philip 2002: Intelligence: Officials Say Qaeda Suspect Has Given Useful Information, in: New
York Times, 26.05.2002 oder Schmitt, Eric 2002: There are Ways to Make Them Talk, in: New York Times,
20.06.2002.
Vgl. James, Caryn 2002: Critic’s Notebook; TV’s Take on Government In a Terror-Filled World, in: New
York Times, 30.04.2002.
– 160 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
eine Linie vor, die alle Mitglieder der Administration über den Zeitraum der gesamten
Folterdiskussion hinweg durchzuhalten bemüht waren.
Aus Stellungnahmen zu den später veröffentlichten Memos und den Texten selbst geht
jedoch hervor, dass gerade in der Zeit nach der Festnahme von Abu Zubaidah und anderen
hohen al Qaida- und Taliban-Kämpfern innerhalb der Administration ganz ähnliche
Diskussionsprozesse abliefen, wie in der Bevölkerung, diese jedoch nicht offen nach außen
getragen, sondern durchgängig dementiert wurden.576 Anhand der ab Mai 2004
veröffentlichten einschlägigen Memoranden wird deutlich, dass sich bereits kurz nach dem 11.
September 2001 Juristen aus verschiedenen Institutionen der US-Administration den Fragen
zuwandten, ob gegen Terrororganisationen Vergeltungsmaßnahmen sowie gegen diese
„beherbergende“ Staaten präventive Militäraktionen durchgeführt werden könnten und ob
den hierbei gemachten Gefangenen der Status von Prisoners of War zugesichert werden
musste oder nicht.577 Wie weit die Meinungen innerhalb der Administration in diesen Fragen
auseinander lagen, wird u.a. an einer Memo des damaligen Außenministers Colin Powell vom
26. Januar 2002 deutlich, in der er bereits auf die stark verkürzte und v.a. einseitige
Argumentation der sich äußernden Juristen sowie auf Möglichkeiten hinwies, auch Gefangene
mit POW-Status effektiv befragen zu können.578 Dass sich in den folgenden Jahren keine
Memoranden des damaligen Außenministers mehr finden, ist der Tatsache geschuldet, dass er
aufgrund seines „Störpotentials“ über die Entwicklungen nicht mehr auf dem Laufenden
gehalten wurde. Die Haltung Bushs in der Folterfrage ist noch immer nicht ganz geklärt.
Einerseits war er sicherlich über die Diskussionen innerhalb der Administration und erst recht
über eventuelle covert operations (s.u.), in deren Rahmen die Gültigkeit sämtlicher
Folterverbote faktisch außer Kraft gesetzt wurde, informiert. Andererseits sprach er auch
innerhalb der Administration deutlich aus, dass auch Inhaftierte ohne Kriegsgefangenenstatus
„humanely ” behandelt werden sollten, was bei den Autoren der Memos und der später
eingerichteten working group durchaus ernst genommen wurde. Die gleichen Autoren, die
bereits präventive Militärschläge und den POW-Status diskutiert hatten, wandten sich ab
Februar 2002 der Frage zu, welche Methoden in Verhören von Inhaftierten von wem
angeordnet und angewandt werden durften. Zu diesem Kreis gehörten insbesondere Jay
Bybee, damaliger wie heutiger stellvertretender Justizminister, Alberto R. Gonzales, damals
Mitglied des White House Council, seit 2005 Justizminister, William J. Haynes, damals wie
heute Rechtsberater im DOD.
576
577
578
Vgl. hierzu auch den bereits am 22. September 2002 erschienenen Artikel von Bill Keller in der New York
Times mit dem Titel „The Sunshine Warrior”, in dem er eine Quelle zitiert, laut der sich der damalige
stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz in einer Kabinettssitzung gegen den Einsatz von
Folter (ohne Umschreibung) gewandt hatte.
Alle angeführten Memoranden sowie eine Zeitleiste zu deren Entstehung und eine Beschreibung ihrer
Autoren finden sich in Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.) 2005: The Torture Papers. The Road to
Abu Ghraib, Cambridge.
Auch dieses Memorandum Powells findet sich abgedruckt in: Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.)
2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge, S. 122-125 (Memo Nr. 8).
– 161 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Bybee war der Autor der ersten beiden Memos zur Folterfrage vom Februar und August
2002, erst im Oktober 2002 wurden seine Anregungen jedoch von einer Reihe von
Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums, teilweise in Guantanamo stationiert, aufgegriffen
und erste Übersichten erlaubter und verbotener Verhörmethoden erstellt (welche wiederum
von anderen VerhörspezialistInnen gegenüber der höchsten militärischen Ebene, namentlich
General Myers, dem Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff auch kritisiert wurden). Hieran wird
zum einen deutlich, dass die Diskussion um die Notwendigkeit von Folterungen nach „9-11“
innerhalb der Administration erst ca. fünf Monate nach den Debatten in der Bevölkerung und
den Medien einsetzte und zunächst von einem extrem begrenzten Personenkreis (schriftlich)
geführt wurde. Offensichtlich reichte das Ereignis der Anschläge selbst also nicht aus, um die
Diskussion auf der politischen Ebene „von selbst“ zu entfachen und anzuheizen; dies war erst
der Fall, als im tatsächlichen Umgang mit inhaftierten Terrorverdächtigen immer
offensichtlicher wurde, dass die üblichen Verhörmethoden versagten:579 „People were trying
like hell how to ratchet up the pressure (…) We’d been at this for a year plus and got nothing
out of them so officials concluded we need to have a less-cramped view of what torture is and is
not.” Trotz dieser Schwierigkeiten waren aber nicht alle betroffenen MitarbeiterInnen der
Administration und des Militärs bereit, sich von früheren Anti-Folternormen loszusagen. Um
die rechtliche Grundlage der angezweifelten Verhörmethoden zu prüfen, ließ Donald
Rumsfeld von Januar bis März 2003 eine Arbeitsgruppe innerhalb des DOD tagen, die die
ranghöchsten Rechtsberater verschiedenster militärischer Institutionen (DOD Sekretariat,
Army , Navy , Air Force und Militärgeheimdienst) umfasste. Der im April 2003 vorgelegte
Bericht der Gruppe verwies nicht nur auf eine Reihe juristischer Schlupflöcher in
internationalen und nationalen Folterverboten (insbesondere in den Genfer Konventionen,
der UN Anti-Folterkonvention und der Verfassung der USA), sondern stellte auch einen
Katalog von Argumenten zur Verfügung, mit denen sich Mitglieder des Militärs und der
Administration im Falle eines Bekanntwerdens von Misshandlungen bedienen sollten.580 Dass
Donald
Rumsfeld
die
in
verschiedene
Härtegrade
unterteilten
Vorschläge
für
Verhörmethoden selbst genehmigen musste (und einige ablehnte), macht eine handschriftliche
Notiz des Verteidigungsministers deutlich, in der er sein Unverständnis darüber zum
Ausdruck brachte, dass die Gefangenen während der Verhöre maximal vier Stunden lang
stehen dürften, während er häufig viel länger stehen müsse.581
579
580
581
In Guantanamo stationiertes Mitglied des US-Militärs, zitiert nach: Bravin, Jess 2004: Pentagon Report Set
Framework for Use of Torture. Security or Legal Factors Could Trump Restrictions, Memo to Rumsfeld
Argued, in: Wall Street Journal, 07.06.2004.
Vgl. den Bericht der Working Group on Detainee Interrogations in the Global War on Terrorism vom 04.
April 2003 (freigegeben am 21. Juni 2004) mit dem Titel „Detainee Interrogations in the Global War on
Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy and Operational Considerations”, abgedruckt in:
Greenberg, Karen J./Dratel, Joshua L. (Hg.) 2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib,
Cambridge, S. 286-359 (Memo Nr. 26).
Vgl. Jehl, Douglas 2004: Files Show Rumsfeld Rejected Some Efforts to Toughen Prison Rules, in: New
York Times, 23.06.2004.
– 162 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Obwohl die internen und öffentlichen Debatten spätestens ab dem Frühling 2003 also
parallel liefen und der Administration ein umfangreiches Set von Argumenten zur Verfügung
gestanden hätte, um „coercive methods” bei der Befragung von Terrorverdächtigen
anzuwenden, versuchten die Regierenden nicht, die Meinung der schon länger in
Folterdebatten verstrickten Bevölkerung zu beeinflussen, so dass sich diese noch längere Zeit
über die Absichten der Regierung im Unklaren war. Vertreter des US-Militärs gaben zwar an,
ihre Häftlinge psychisch unter Stress zu setzen (etwa, indem sie Gefangene aus kalten
Klimazonen in möglichst warmen Räumen verhörten), Folterungen würden jedoch keine
Option darstellen. Jegliche Form physischen Kontaktes wurde öffentlich ebenso
ausgeschlossen wie der intern bereits von Vertretern der CIA geforderte Einsatz von
Wahrheitsserum:582 „That’s not how we do business.”583 Zudem gab die Regierung im Sommer
2002 auch Anweisungen an ihre Delegierten bei den Vereinten Nationen, diese sollten
Besuche von UN-Vertretern in US-Gefangenenlagern verhindern,584 während sie öffentlich
unvermindert ihre Unterstützung im Kampf der Vereinten Nationen gegen Folter betonten,
Präsident Bush an der Spitze:
„Today, on the United Nations International Day in Support of Victims of Torture, the
United States declares its strong solidarity with torture victims across the world. Torture
anywhere is an affront to human dignity everywhere. We are committed to building a
world where human rights are respected and protected by the rule of law. Freedom from
torture is an inalienable human right. The Convention Against Torture and Other Cruel,
Inhuman or Degrading Treatment, ratified by the United States and more than 130 other
countries since 1984, forbids governments from deliberately inflicting severe physical or
mental pain or suffering on those within their custody or control. (…) The United States
is committed to the worldwide elimination of torture, and we are leading this fight by
example.“585
Bereits hier wird deutlich, dass sich die Mitglieder der US-Regierung frühzeitig darauf
festlegten, alle Vorgänge in Guantanamo Bay und in anderen Gefangenenlagern zu vertuschen
und jegliche Form von Misshandlungen öffentlich abzustreiten bzw. nicht zu kommentieren,
obwohl immer mehr anderslautende Berichte ans Licht kamen586 und die Bevölkerung den
582
583
584
585
586
Insbesondere die CIA experimentiert vermutlich bereits seit den 1950er Jahren mit
bewusstseinsverändernden Drogen wie Sodium-Amytal und Natrium-Thiopental, die dazu führen sollen,
dass der bzw. die Verhörte die Kontrolle über das von ihm / ihr Gesagte verliert. Zwar werden solche
Mittel auch in den USA als „truth serum” bezeichnet, auch in der Folterdebatte wurde jedoch mehrfach
darauf verwiesen, dass sich über den Wahrheitsgehalt der „Geständnisse“ keinerlei Aussagen machen lassen,
da die Verhörten durchaus noch in der Lage seien, zu lügen.
Schmitt, Eric 2002: There are Ways to Make Them Talk, in: New York Times, 20.06.2002, vgl. ebd. auch für
die zuvor gemachten Angaben.
Vgl. Crossette, Barbara 2002: U.S. Fails in Effort to Block Vote On U.N. Convention on Torture, in: New
York Times, 25.07.2002.
Bush, George W. 2003: Statement on United Nations International Day in Support of Victims of Torture,
Ansprache des Präsidenten am 26. Juni 2003.
Vgl. etwa den umfassenden Überblick über angewandte Methoden in Gellmann, Barton/Priest, Dana 2002:
U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects
Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002 oder die Stellungnahmen erster
entlassener Häftlinge aus Guantanamo, in: Rohde, David 2002: Threats and Responses; Afghans Freed
from Guantanamo Speak of Heat and Isolation, in: New York Times, 28.10.2002.
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Einsatz bestimmter Befragungsmethoden „short of torture” zumindest bei wichtigen
Gefangenen – insbesondere nach der Gefangennahme des „terrorist master mind ” Khakid
Shaikh Mohammeds – wohl schon mehrheitlich gebilligt hätte (s. für die neuen
Sprachregelungen der Regierung S. 208f. der Arbeit).587
Zudem begannen Vertreter der Legislative und Judikative, die nationale Gesetzgebung der
USA zum Schutz vor Folter zunehmend infrage zu stellen: Zunächst wurde das (auch nach
der UN-Konvention gegen Folter bestehende) Verbot einer Abschiebung von Straftätern in
für Folterungen bekannte Heimatländer von mehreren republikanischen Abgeordneten
öffentlich als Hindernis im Kampf gegen den Terrorismus kritisiert,588 dann wurde von Seiten
einiger Gerichte und Vertretern der Administration eine starke Einschränkung des
Geltungsbereichs des ATCA gefordert, nach der US-amerikanische Gerichte keine Fälle mit
klarem außenpolitischen Bezug mehr entscheiden dürften.589 Der gesetzliche Rahmen, der den
Kern der nationalen und internationalen Folterverbote absichern sollte, geriet also von
Vertretern aller drei Parteien der checks and balances unter Beschuss.
Auf Seiten des Militärs lud im September 2003 das Pentagon seine Mitarbeiter zu
Vorführungen des Films „La Bataille d’Alger” ein, um zu einer Diskussion über den Nutzen
und die Gefahren von Folter bei der Auffindung und Zerstörung von Guerillagruppen
aufzurufen.590 Ein halbes Jahr später wurde der Schwarzweißfilm von 1966 aufwendig
restauriert und mit großem Erfolg in den öffentlichen Kinos der USA gezeigt – auch die
Bevölkerung sah in ihm nun eine Allegorie zur immer chaotischeren Lage im besetzen Irak.
587
Vgl. u.a. die Einleitung eines für diese Zeitung erstaunlich umfassenden Artikels der USA Today: „The men
and women whose job it is to extract information from captured al-Qaeda and Taliban terrorists do not shock
easily. But several say they can’t believe their ears when they hear TV pundits, talk show hosts and even
average Americans suggest that they should use torture to pry secrets from Khalid Shaikh Mohammed, an alQaeda leader caught in Pakistan on Saturday. For moral, legal and practical reasons, torture is wrong,
government interrogation specialists say. (…) But already, his capture has touched off a national discussion
about how interrogators go about their jobs. And about what techniques are not only legally and morally inbounds but also ultimately useful against hardened Islamic radicals.” Diamond, John/Locy, Toni/Willing,
588
589
590
Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003.
Vgl. Swarns, Rachel L. 2003: Lawmakers Attack Immigrants’ Use of Antitorture Law to Block Deportation,
in: New York Times, 12.07.2003.
Vgl. Liptak, Adam 2003: U.S. Courts’ Role In Foreign Feuds Comes Under Fire, in: New York Times,
03.08.2003.
Vgl. Kaufmann, Michel T. 2003: Film Studies; What Does the Pentagon See in ‚Battle of Algiers’?, in: New
York Times, 07.09.2003.
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Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Höhepunkt der Debatte: Herbst 2003 bis 2004
Mai 2004: Der Abu Ghraib-Skandal
„If this is not evil, then evil has no meaning.” 591
Es scheint, als hätte die Debatte immer mehr Diskursteilnehmer angezogen, je konkreter sie
wurde. Nach der abstrakten Diskussion aus dem Jahr 2001, ob man (namenlose) Terroristen
foltern lassen sollte und der – scheinbar – ohne direkten Bezug zum Regierungshandeln
geführten Debatte um den Umgang mit Abu Zubaidah und Khalid Shaikh Mohammed,
explodierte die Anzahl der JournalistInnen, AutorInnen von Leserbriefen und Personen des
öffentlichen Lebens sowie der Politik 2004, als durch die Fotos aus dem irakischen Abu
Ghraib-Gefängnis und die veröffentlichen Memoranden der US-Administration deutlich
wurde, dass tatsächlich bereits Folterungen stattgefunden hatten und die Regierung
Misshandlungen von Gefangenen innerhalb der Administration legitimiert hatte. Das
Bewusstsein, dass der wichtigste politische Akteur sich anders verhalten hatte, als nach außen
vorgegeben worden war, brachte die Debatte unter allen Akteursgruppen zum Kochen.
Interessanterweise waren aber auch nach den von der überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung als Skandal angesehenen Ereignissen in Abu Ghraib bis auf die anklagenden
Menschenrechts-NGOs keine geschlossenen Akteursgruppen zu beobachten. Stattdessen
wurde
immer
deutlicher,
wie
zerstritten
u.a.
Militärs,
ÄrztInnen,
JuristInnen,
Regierungsmitglieder und JournalistInnen über die Frage waren, ob die Misshandlungen in
Abu Ghraib als Folterungen eingestuft werden sollten oder nicht, ob sie zu wenig skandalisiert
oder gefährlich überdramatisiert und ob sie von einigen Einzeltätern begangen worden oder
auf krasse Fehlentscheidungen der höchsten politischen Ebenen zurückzuführen waren.
Für die Regierung, insbesondere den Präsidenten selbst, war das Bekanntwerden der
Misshandlungen irakischer Gefangener durch US-Militärs vor allem deshalb prekär, weil er seit
Januar 2003 die Beendigung der von Saddam Husseins Baath-Regime verübten
Menschenrechtsverletzungen als Begründung für die Notwendigkeit eines Krieges betont
hatte. In nahezu jeder seiner Reden mit außenpolitischem Bezug war explizit von den
Folterkammern Husseins die Rede;592 insbesondere die Gefangennahme des früheren
irakischen Diktators wurde zum Anlass genommen, darauf hinzuweisen, dass die Welt nun
von einem der brutalsten Folterer befreit sei. Nachdem immer offensichtlicher wurde, dass die
Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak keine Erfolge zeitigen würde, wurden
591
592
Präsident Bush in einer State of the Union Address vom Januar 2003 über die Folterungen Saddam
Husseins, abgedruckt in der New York Times vom 23. Januar 2003 unter dem Titel: „President’s State of
the Union Message to Congress and the Nation”.
Vgl. neben der eingangs zitierten State of the Union Address vom Januar 2003 etwa seine Rede vor dem
American Enterprise Institute in Washington vom 26. Februar 2003, abgedruckt in der New York Times,
den Bericht über ein Interview der USA Today mit Bush vom 02. April 2003, seine Stellungnahme im
irakischen Fernsehen gemeinsam mit Tony Blair, abgedruckt in der New York Times vom 11. April 2003
nach dem Fall Bagdads oder der darauf folgenden State of the Union Address vom 07. September 2003,
deren Text ebenfalls einen Tag später in der New York Times veröffentlicht wurde.
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Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Menschenrechtserwägungen sogar zum wichtigsten Kriegsgrund umdefiniert und an erster
Stelle darauf verwiesen, dass ohne die Intervention der Amerikaner „Iraq’s torture chambers
would
still
be
filled
with
victims
--
terrified
and
innocent.”593
Ganz
den
Unschuldsbeteuerungen der allermeisten Mitglieder der Administration entsprechend, wurde
diese Rhetorik auch nach der Veröffentlichung erster Bilder aus Abu Ghraib weitergeführt, ja
sogar noch von einigen Kabinettsmitgliedern übernommen.
Zu diesem Zeitpunkt lagen einigen Kabinettsmitgliedern, Militärs und Geheimdienstchefs
bereits weitreichende Informationen (inklusive Fotos und Videoaufnahmen) über die
Misshandlungen vor. Einzelne Beschwerden insbesondere seitens des IKRK im Irak waren
zwar von der Presse (sprich: der New York Times) bereits seit Anfang des Jahres
wiedergegeben worden, hatten jedoch – trotz der bereits laufenden Folterdebatte – kein
öffentliches Echo verursacht.594 Die Veröffentlichung der Bilder durch CBS News zwang
dagegen alle öffentlichen Akteure, sich zu den Geschehnissen zu positionieren. Ähnlich wie
zuvor bei der Angabe der Kriegsgründe zeigten sich Mitglieder der Regierung aber auch des
Militärs und der Geheimdienste nach außen als geschlossene Gruppe mit recht einheitlichen
Statements: Die Geschehnisse wurden öffentlich bedauert, man versprach schnelle
Aufklärung, wies aber im nächsten Atemzug darauf hin, dass es sich um Einzeltäter handele,
deren Taten nicht die Armee als ganze in Misskredit bringen dürften, welche im Irak gute
Arbeit leiste.595 Erst später wurde deutlich, dass man sich bereits zuvor auf diese
Argumentationsweise für den Fall geeinigt hatte, dass die Bilder von Abu Ghraib bekannt
werden sollten:596 „We’ve got a glitch in the program. (…) The cover story was that some kids
got out of control,” hatte Donald Rumsfeld bereits Monate vor der Veröffentlichung der Bilder
für den Fall eines Skandals klargestellt.
Allerdings übernahm auch Oppositionsführer John Kerry schnell diese Sicht der Dinge,597
während sich im Kongress Bushs ehemaliger Gegenspieler innerhalb der republikanischen
Partei, John McCain, der Forderung einiger demokratischer Senatoren nach Untersuchungen
593
594
595
596
597
State of the Union Address von Präsident Bush, abgedruckt in der New York Times vom 21. Januar 2004
unter der Überschrift „President’s State of the Union Message to Congress and the Nation ”. Vgl. zur
Umdeutung der Kriegsgründe Sanger, David F./Risen, James 2003: The Struggle for Iraq; Weapons Search;
President Says Report on Arms Vindicates War, in: New York Times, 04.10.2003.
So waren z.B. schon zuvor Folterfotos britischer Soldaten aufgetaucht, vgl. Alvarez, Lisette 2003: British
Troops: Photos Raise Allegations Of Torture, in: New York Times, 31.05.2003.
Vgl. etwa den Bericht von Tom Shaker und Jacques Steinberg über die erste Reaktion Bushs in der New
York Times vom 01. Mai 2004 mit dem Titel „Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners ” oder die
Aussagen Rumsfeld in einem ersten Kongress-hearing : US-Kongress 2004: Operations and Reconstruction
Efforts in Iraq, Hearing des Committee on Armed Services des Repräsentantenhauses, 07.05.2004.
Donald Rumsfeld im Januar 2004, zitiert nach geheimer Quelle in: Hersh, Seymour M. 2004: The Gray
Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004.
„…we cannot let the actions of a few overshadow the tremendous good work that thousands of soldiers are
doing every day in Iraq and all over the world.” John Kerry zitiert in: Shaker, Tom/Steinberg, Jacques 2004:
Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners, in: New York Times, 01.05.2004.
– 166 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
auch auf Regierungsebene anschloss.598 Das Senator McCain auch im späteren Verlauf der
Debatte immer wieder für eine vollständige Aufklärung und Abschaffung von Folterungen
gegen die Mehrheit seiner Parteigenossen eintrat, lag – wie auch bei vielen frühen
Normverfechtern des 17. und 18. Jahrhunderts – an seinem persönlichen Hintergrund:
Während seines Einsatzes im Vietnamkrieg war er in Kriegsgefangenschaft geraten und
gefoltert worden. Ganz im Sinne des Schweigetabus berichtete er vor dem Abu GhraibSkandal jedoch nur äußerst selten und ungern über seine Erfahrungen als Folteropfer.599
Insgesamt zeigte sich in den Häusern des Kongresses, bzw. deren Unterkomitees aber die zu
erwartende Spaltung in (einige) demokratische Mandatsträger, die eine Skandalisierung und
Aufklärung der Misshandlungen forderten und (einige) republikanische Vertreter, die die
Vorfälle insgesamt herunterzuspielen versuchten.600
Erstmals wurde in Bezug auf die Bilder aus Abu Ghraib seitens der Regierung und des
Militärs direkter Druck auf die Medien ausgeübt, um eine Verbreitung der Aufnahmen zu
verhindern. So strahlte CBS News auf Drängen von General Richard Myers, dem
Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, die dem Sender zugespielten Bilder zunächst zwei
Wochen lang nicht aus.601 Arabische Sender wie Al Jazeera gaben solchen Forderungen
dagegen von Anfang an nicht nach. Die US-amerikanische Presselandschaft zeigte sich in der
Frage, ob und wenn ja, in welchem Teil der Zeitung man die Bilder zeigen sollte, von selbst
gespalten. Ähnlich wie zu Beginn der Folterdebatte zeigten sich insbesondere die großen
Tageszeitungen zunächst vorsichtig, entschlossen sich jedoch mit dem Argument, die Bilder
seien bereits in anderen Medien zu sehen gewesen und man müsse aus journalistischer Sicht
Bilder, über die man schreibe, auch zeigen, teilweise sogar zu deren Publikation auf der
Titelseite. Innerhalb der Medienlandschaft führte also v.a. der Wunsch der Leserschaft bzw.
des Publikums dazu, Tabus hinsichtlich des offenen Zeigens von Folterungen zu ignorieren.
598
599
600
601
McCain hatte 2000 die primaries (vgl. S. 70 der Arbeit) gegen George Bush verloren. Vgl. für einen frühen
Artikel über die Haltung McCains etwa Stolberg, Sheryl 2004: Prisoner Abuse Scandal Puts McCain in
Spotlight Once Again, in: New York Times, 10.05.2004.
Vgl. Shaker, Tom/Steinberg, Jacques 2004: Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners, in: New York
Times, 01.05.2004.
Vgl. insbesondere den Schlagabtausch im Senat am 10. Mai 2004: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi
Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004.
Vor dem Hintergrund des ständigen Pochens der Medien auf politische Unabhängigkeit war dies ein recht
seltener Fall, vgl. S. 76 der Arbeit. Vgl. für den auf CBS ausgeübten Druck Danner, Mark 2004: Torture and
Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, S. 215 und zu den arabischen Sendern
Shanker, Tom/Steinberg, Jacques 2004: Bush Voices ‚Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners, in: New York
Times, 01.05.2004.
– 167 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Exkurs: Tabubrüche in Abu Ghraib
Im Vergleich zur Debatte um Guantanamo Bay (und dort gemachten, bekannten Aufnahmen
etwa von knienden Gefangenen in orangefarben Anzügen und mit verbundenen Augen hinter
Stacheldraht) erregten die Vorfälle in Abu Ghraib wohl deshalb eine viel größere
Aufmerksamkeit, weil sich hier offensichtlich gleich mehrere Tabubrüche manifestierten:
Rückblickend erscheint sicher, dass die Misshandlungen in Abu Ghraib gerade darauf abzielten,
nicht nur durch das Brechen des Foltertabus zu demütigen, sondern Gefangene gezielt dazu zu
zwingen, insbesondere im arabischen Raum tabuisierte (homo-)sexuelle Handlungen selbst
durchzuführen. Die Tatsache, dass die sonst kaum auf die kulturellen Besonderheiten ihres
Einsatzlandes vorbereiteten ReservistInnen in Abu Ghraib genau zu wissen schienen, womit sie
irakisch-arabische Männer am meisten demütigen konnten, ließen bald Zweifel an der These
aufkommen, dass es keinerlei Anweisungen höherer Verantwortlicher für diese Taten gegeben
hätte.602 Tatsächlich stammten die Informationen über arabisch geprägte Tabus wohl aus einer
bereits 1973 erschienenen Monographie des Kulturanthropologen Raphael Patai mit dem Titel
„The Arab Mind ”, die zur „bible of the neocons on Arab behaviour” geworden war.
Der Bruch einer zweiten Tabuebene ergab sich durch das Festhalten dieser Handlungen auf
Fotos und Videos und das Posieren der Täter neben ihren Opfern – ein eklatanter Bruch des für
bereits vollzogene Handlungen geltenden Schweigetabus, der darüber hinaus deutlich machte,
dass die durch ihre Handlungen selbst tabuisierten Täter offensichtlich keinerlei Empfinden für
das Ausmaß ihrer Tabubrüche besaßen und reine Sadismusfolter ausübten. Ob dies tatsächlich
der einzige Zweck der Aufnahmen war ist allerdings noch unklar, eventuell sollten sie selbst als
Grundlage weiterer Tabubrüche dienen, nämlich, die Opfer mit der Drohung unter Druck zu
setzen, die Aufnahmen ihren Verwandten und Bekannten zuzuspielen – was für die (auf diese
Weise ebenfalls tabuisierten) Opfer selbst aber auch für ihr Umfeld eine unerträgliche Belastung
gewesen wäre. Mit der Veröffentlichung der Bilder durch Medien in aller Welt trat dieser Effekt
teilweise ein, viele auf den Fotos zu erkennende Opfer leben mittlerweile völlig isoliert.
Durch die Publikation der Bilder selbst entschlossen sich auch US-amerikanische Medien, eine
dritte Tabuebene zu brechen, indem sie das Schweigetabu ignorierten, das nicht nur im Zeigen
von Folterungen begründet lag, sondern allgemein in der Zurschaustellung von Menschen als
hilflosen Opfern sowie der (in weiten Teilen der USA weit stärker als in Europa ausgeprägten)
Darstellung von Nacktheit und sexuellen Handlungen. U.a., weil hier zumindest keine sexuellen
Tabus verletzt wurden, wurde insbesondere das Bild eines mit einer schwarzen Kutte
bekleideten und offensichtlich durch Elektroschocks gefolterten Mannes zum Symbol der
Misshandlungen in Abu Ghraib.603 Auf eine andere Norm nimmt die US-Administration aus
strategischen Gesichtspunkten bis heute Rücksicht: Da Misshandlungen erwachsener Männer
als vergleichsweise weniger schlimm eingestuft werden, als die von Jugendlichen und Frauen,
hält die US-Regierung alle entsprechenden Bilder weiterhin unter Verschluss, um nicht einen
weiteren Aufschrei der Öffentlichkeit zu riskieren.
In der Frage, wie mit den bekannt gewordenen Ereignissen selbst umzugehen sei, zeigte sich
die Medienlandschaft stark gespalten: Während die Herausgeber und Mitarbeiter der New
York Times in zahllosen Editorials, Kommentaren und Berichten eine vollständige Aufklärung
der Ereignisse sowie die Übernahme von Verantwortung durch die Regierung (durch
602
603
Vgl. Hersh, Seymour M. 2004: The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in:
The New Yorker, 24.05.2004.
Zudem wurde darauf verwiesen, dass die Silhouette des Mannes leicht wiederzuerkennen und zu
reproduzieren ist und Assoziationen zu Jesus am Kreuz oder auch zur Gestalt der Freiheitsstatue weckt. Die
dem Mann übergestülpte Kapuze ähnelt dagegen sowohl einem Schleier, wie auch dem spitzen Maskenhut
eines Henkers – nur, dass dieser hier vom Opfer getragen wird. Als wäre das Foto entsprechend arrangiert,
steht das Opfer auch noch auf einer Kiste, die wie die Karikatur eines Podestes wirkt. Vgl. auch darüber
hinaus die Analyse des Bildes von Sarah Boxer mit dem Titel „Torture Incarnate, and Propped on a
Pedestal”, erschienen in der New York Times am 13. Juni 2006. Die Angst vor dem Bruch sexueller Tabus
durch die Veröffentlichung der Bilder führte in den USA teilweise so weit, dass zwar die Genitalien, nicht
aber die Gesichter der Gefangenen unkenntlich gemacht wurden.
– 168 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
deutlichere Entschuldigungen und personelle Konsequenzen, insbesondere den Rücktritt von
Verteidigungsminister Rumsfeld) forderten sowie schnell eine Verbindung zur Verweigerung
des POW-Status für die Gefangenen in Guantanamo durch die Regierung herstellten, ähnelten
die selteneren Artikel des Wall Street Journal stärker der Rhetorik der Regierung in dieser
Angelegenheit.604 Die begrenzte Berichterstattung der USA Today enthielt, wie üblich,
Elemente beider Perspektiven,605 was sich auch in den hier abgedruckten Leserbriefen
widerspiegelte, die teils von großem Misstrauen gegenüber der Regierung, teils von großem
Vertrauen auch gegenüber dem eigenen Militär zeugten.606
Sommer 2004: Die Veröffentlichung der Regierungsmemoranden
„Die ungeschminkte Wahrheit ist allemal besser als gefällige
Lügen, die am Ende wie ein Kartenhaus zusammenstürzen.
Vermeide es, der Darstellung eine ganz bestimmte
Richtung zu geben, die durch weitere Enthüllungen
diskreditiert werden kann (…). Sei darauf gefasst, daß ein
Vorfall von internationaler Tragweite unabhängig von
seiner wirklichen Bedeutung aus politischen Gründen
aufgebauscht oder heruntergespielt wird.” 607
Man hätte vermuten können, dass nach der Diskussion um Abu Ghraib die zuvor begonnene
„Kerndebatte“ um die Aufrechterhaltung eines absoluten Folterverbots verstummt wäre, da –
ähnlich wie nach dem Abwurf der ersten Atombomben, wenn auch mit einem viel kleineren
Kreis von Betroffenen – deutlich geworden wäre, dass hier eine bright line überschritten
worden war und man solchen Entwicklungen schon im Ansatz (sprich: in Guantanamo und
im lauten Nachdenken über die Notwendigkeit von Folter) Einhalt gebieten musste. Wären
diejenigen Akteure, die „harte Verhörmethoden“, „torture lite” oder Ähnliches gefordert
hatten, im Mai 2004 zurückgerudert oder zumindest verstummt, hätte man vielleicht auch die
vorhergehende Debatte als Tabubruch einer Ausnahmesituation werten, über die Debatte
schweigen und auf diese Weise das Tabu wieder stärken, bzw. wieder etablieren können.
Dieser Idealfall (aus Sicht der Autorin) trat jedoch nicht ein:
Nach ca. einwöchigem Schweigen veröffentlichten die Herausgeber des Wall Street
Journal unter dem vielsagenden Titel „Geneva for Demagogues” ein Editorial, das die
Botschaft eines ersten aufgetauchten Memos unterstützte, torture lite-Methoden wie
Schlafentzug oder das Verharren in „Stresspositionen“ sollten mit Genehmigung eines
befehlshabenden Generals weiterhin gegenüber Gefangenen angewendet werden. Ein großes
604
605
606
607
Vgl. etwa das Editorial der New York Times vom 05. Mai 2004 mit dem Titel “The Torture Photos” , in dem
erstmals der Rücktritt Rumsfelds gefordert wurde sowie das vom 07. Mai 2004 über den Zusammenhang
der Ereignisse mit denen in Guantanamo Bay unter dem Titel „The Military Archipelago”.
Vgl. etwa den Artikel der USA Today vom 04. Mai 2004 mit dem Titel „Pentagon too slow to decry shameful
U.S. acts in Iraq”.
Vgl. z. B. die Briefe von Jack Miller („Prisoner abuse scandal points to failure in U.S. leadership ”) und Mark
Overholser („Let military investigate”), die beide in der Ausgabe der USA Today vom 07. Mai 2005
abgedruckt wurden.
Colin Powell über die Leugnung Russlands, 1983 ein südkoreanisches Passagierflugzeug abgeschossen zu
haben. Powell, Colin 1996: Mein Weg, München, S. 302.
– 169 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
konservatives Blatt wagte also eine Woche nach Veröffentlichung der Folterfotos von Abu
Ghraib implizit die Aussage, eine begrenzte Anwendung von Folter oder folterähnlichen
Methoden (hinsichtlich des betroffenen Personenkreises und der Intensität der erlaubten
Methoden) sei grundsätzlich möglich.608 Die NYT ließ sich wenige Tage später erneut auf die
nun wieder generelle Folterdebatte ein, indem sie gegen die Ansicht ihrer Kollegen
argumentierte und am Tag darauf sogar einen Kommentar abdruckte, dessen Autor deutlich
machte, dass man auch nach Abu Ghraib nicht zur alten Form der Genfer Konvention zurück
könne:609 „Will we now allow the pendulum to swing back to ‚name, rank, serial number,’ as if
suspected terrorists planning the bombing of civilians were uniformed prisoners of war obeying
the rules of war?” Bereits Mitte Mai hatte sich in allen untersuchten Zeitungen die Diskussion
um Abu Ghraib wieder mit der Frage vermischt, ob und wenn ja, welche „coercive methods”
gegen „high valuable targets” eingesetzt wurden und werden sollten. Damit war eine neue
Runde der Debatte eröffnet.610
Diese wurde auch durch einige Memoranden zur Frage des Kriegsgefangenenstatus’ und
erlaubter Verhörmethoden angeheizt, die die Regierung wenige Wochen nach dem Abu
Ghraib Skandal freigab (s.o.) und Grundlage eines Enthüllungsberichtes des Starjournalisten
Seymour Hersh wurde, der 1969 das Massaker von My Lai aufgedeckt hatte.611 Hersh zufolge
hatte Donald Rumsfeld mit Billigung Bushs und Condoleezza Rices (damals National Security
Advisor des Präsidenten) nach anfänglichen Rückschlägen in Afghanistan noch im Jahr 2001
eine geheime black operation mit dem Decknamen „copper green” angeordnet, die den am
Kampf
gegen
den
Terrorismus
beteiligten
Geheimdiensten
nahezu
unbegrenzte
Handlungsfreiheit verschaffen sollte: „The rules are‚ Grab whom you must. Do what you
want.’”, gab eine der Quellen Hershs zu Protokoll. Zu Fehlern, die schließlich zum Abu
Ghraib-Skandal führten, sei es letztendlich gekommen, da die für die asymmetrische
Kriegführung im wenig bevölkerten Afghanistan entwickelten Methoden nach beginnenden
Unruhen auch im Irak – und von ungeschulten, „normalen“ Soldaten statt Mitgliedern von
Spezialeinheiten – angewandt worden waren. Interessant im Hinblick auf die Tabudebatte ist
besonders, dass die von Hersh befragten Geheimdienstagenten sich in aller Form von den
Vorfällen in Abu Ghraib distanzierten, so dass auch ein Bruch innerhalb der Gruppe
derjenigen Personen sichtbar wurde, die offensichtlich zur Anwendung von Folter autorisiert
waren: „You don’t keep prisoners naked in their cell and then let them get bitten by dogs. This
is sick. (…) We don’t raise kids to do things like that”.
608
609
610
611
Vgl. Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004.
Vgl. Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times,
09.05.2004, bzw. für das Zitat Safire, William 2004: Rumsfeld should stay, in: New York Times, 10.05.2004.
Vgl. in Bezug auf die Berichterstattung von USA Today insbesondere den umfassenden Hintergrundbericht
Richard Willing und John Diamond, erschienen am 13. Mai 2004 mit dem Titel „U.S. interrogators face
‚gray areas’ with prisoners”.
Vgl. für das Folgende Hersh, Seymour M. 2004: The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to
Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004.
– 170 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Abgesehen von der erwartungsgemäßen Positionierung der Printmedien (die NYT
skandalisierte Existenz und Inhalt der Memos, das Wall Street Journal versuchte, deren
Bedeutung herunterzuspielen) brach nun ein Streit über das Verhalten verschiedener
gesellschaftlicher Gruppen in der Folterfrage und bei tatsächlichen Misshandlungen aus,
wobei zunächst die Frage im Mittelpunkt stand, ob die Juristen der Administration jemals
Berichte über dieses Thema hätten anfertigen dürfen.612 Einige angesehene Rechtsprofessoren,
die der Reagan-Administration angehört hatten, verteidigten klar das Vorgehen ihrer Kollegen,
es sei deren Job, worst case-Szenarios durchzuspielen, während Kollegen anderer prominenter
Universitäten dies zurückwiesen.613 Ebenfalls durch Hershs Ermittlungen wurde bekannt, dass
die Leitung der US-amerikanischen Anwaltskammer bereits 2003 mehrfach von Militärjuristen
aufgefordert worden war, Ermittlungen hinsichtlich der internen Vorgänge zur Legitimierung
von Folter einzuleiten, was zwar geschah, zunächst jedoch folgenlos blieb.614 Beim jährlichen
Treffen der US-amerikanischen Anwaltskammer, der American Bar Association, 2004 wurde
zudem heftig über die Frage gestritten, ob alle Memos zur Frage der Legalisierung von Folter
offengelegt werden sollten oder ob diese aus Sicherheitsgründen unter Verschluss
bleiben sollten.615
Vor dem Hintergrund immer neuer Enthüllungen über Misshandlungen in USGefangenenlagern und über das Verhalten der Regierung sahen sich ab Juni 2004 neben der
American Bar Association auch andere gesellschaftliche Gruppen berufen, sich deutlich zu
dieser Frage zu positionieren. Den Anfang machte ein Zusammenschluss verschiedener
Religionsgemeinschaften (evangelische und katholische Christen, Moslems und Juden), deren
Würdenträger in von überregionalen arabischen Fernsehsendern ausgestrahlten Spots die
Geschehnisse in Abu Ghraib verurteilten.616 Zu diesem Zeitpunkt war bereits Kritik laut
geworden, die sowohl in Abu Ghraib wie auch in Guantanamo anwesenden Geistlichen
hätten sich schon früher an die Öffentlichkeit wenden müssen. Wenig später versuchten
einige Veteranen, die Geschehnisse zu banalisieren, u.a. indem sie auf ihre „Dummheiten“ in
612
613
614
615
616
Das Wall Street Journal bejahte auch diese Frage, etwa im Kommentar „The Torture Canard ” vom 11. Juni
2004, die NYT und die Mehrheit ihrer sich in Briefen äußernden Leserschaft verneinte sie, vgl. etwa den
Leserbrief von Denis Pelli, der am 13. Juni 2004 unter dem Titel “The Legal Memos about Torture”
veröffentlicht wurde.
Vgl. die Aussagen Charles Fried und Douglas W. Kmiec auf der einen und Stephen Gilles von der New
York University auf der anderen Seite in Liptak, Adam 2004: Legal Scholars Criticize Memos on Torture,
in: New York Times, 05.06.2004.
Vgl. neben Hershs Enthüllungsbericht auch Lewis, Neil A./Schmitt, Eric 2004: Lawyers Decided Bans on
Torture Didn’t Bind Bush, in: New York Times, 08.06.2004.
Rosen, Jeffrey 2004: The Struggle Over the Torture Memos, in: New York Times, 15.08.2004.
Es handelte sich um die ökumenische Gemeinschaft „Faithful America”, vgl. auch für den Text des Spots
Glassmann, Mark 2004: U.S. Religious Figures Offer Abuse Apology on Arab TV, in: New York Times,
11.06.2004. Die USA Today verfolgte wie gewöhnlich einen Mittelweg, indem sie einerseits einen
Kommentar abdruckte, in dem die Memos kritisiert wurden („How innocent Iraqis came to be abused as
terrorists ” vom 10. Juni 2004), andererseits aber in der gleichen Ausgabe mit Alberto Gonzales auch einen
der Autoren der Memos in einem längeren Gastbeitrag mit dem Titel „Terrorists are different” zu Wort
kommen ließ.
– 171 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
der Armee und an die Gewöhnung des Ausführens jeglicher Befehle verwiesen.617 Ebenfalls
an die Berufsethik ihrer in den US-Gefangenenlagern tätigen KollegInnen appellierten einige
Vertreter der Ärztelobby, wobei sich insbesondere Allen S. Keller, der Leiter des New Yorker
Bellevue-Programs
for
Survivors
of
Torture
–
einem
der
weltweit
größten
Rehabilitationszentren dieser Art – hervortat. Vor dem Hintergrund seiner praktischen
Erfahrung als Arzt im Umgang mit Folteropfern (meist Asylsuchende) aus aller Welt wies er
immer wieder auf die unerträglichen und schwer zu heilenden Folgen jeglicher
Misshandlungen hin und veröffentlichte Stellungnahmen, in denen er eine Unterscheidung in
lite torture und andere, meist physische Foltermethoden ablehnte, da Folter letztlich immer
darauf ausgerichtet sei, den Willen des Opfers zu brechen.618
Die Veröffentlichung der ersten Memos setzte natürlich in erster Linie die Regierung
unter Druck, deren Mitglieder sich in einer Reihe von hearings vor dem Senat verantworten
mussten. Justizminister John Ashcroft versuchte im Juni 2004 noch, die Verstrickung des
Präsidenten in die Affäre zu dementieren und die Weitergabe weiterer Memos an den Senat zu
verhindern, was das Misstrauen der Senatoren jedoch eher noch schürte und die
Angelegenheit schließlich auch zu einer Machtprobe der Regierung mit dem Kongress über
die Frage der Verheimlichung wichtiger Regierungsdokumente werden ließ,619 die letztendlich
zur Freigabe weiterer interner Dokumente führte.620 Zudem musste Ashcroft auf Druck
einiger Senatoren öffentlich bekennen, Folter persönlich für niemals gerechtfertigt und nicht
mit der US-Verfassung vereinbar zu halten, obwohl er die nach den Anschlägen vom 11.
September angestellten Rechtsüberlegungen weiterhin zu rechtfertigen suchte. Ashcroft kam
aber auch von einer anderen Seite unter Druck, nämlich von denjenigen Senatoren, die offen
für die Anwendung von torture lite eintraten, der Regierungslinie beipflichteten, wie etwa
Senator Inhofe, der mit seiner Aussage, er sei „more outraged by the outrage” über die Abu
Ghraib Bilder für Wirbel sorgte oder Senator Schumer, der Verständnis für den Wunsch des
Präsidenten äußerte, Folter zu legitimieren aber einen offensiven Umgang der Administration
mit diesen Überlegungen forderte:
617
618
619
620
Vgl. Welch, Liz 2004: Veterans Speak Out, in: New York Times, 30.05.2004.
Vgl. insbesondere die beiden Leserbriefe in der NYT von Allen S. Keller mit den Überschriften „Torture Is
Barbarism ” (erschienen am 10. März 2003) und “Cries of Outrage Over Guantanamo” (erschienen am 02.
Dezember 2004).
Dies widersprach aus Sicht vieler SenatorInnen dem Legislative Reorganization Act, vgl. S. 64 der Arbeit.
Zur aktuellen Diskussion vgl. insbesondere den Schlagabtausch von John Ashcroft mit Senator Kennedy in:
Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary
United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006.
Vgl. Keen, Judy 2004: White House responds to critics with policy disclosure, in: USA Today, 23.06.2004.
– 172 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„[I]t’s easy to sit back in the armchair and say that torture can never be used. But when
you’re in the foxhole, it’s a very different deal. And I respect -- I think we all respect the
fact that the president’s in the foxhole every day. (…) The problem is not in asking the
question [ob Folter legalisiert werden sollte, SoSchi]. The problem isn’t with the issues
being explored. The problem is there has to be very careful guidance, and it should be
made public. And most people are reasonable and would understand that.“621
Auch die Herausgeber des Wall Street Journal schlossen sich dieser Position an und kreideten
es Präsident Bush als Fehler an, mit seiner Folterpolitik nicht an die Öffentlichkeit
gegangen zu sein.
Von solchen Aussagen musste sich der Justizminister nun ebenfalls distanzieren, um seine
Glaubwürdigkeit zu wahren. Damit saß die Regierung rhetorisch zwischen allen Stühlen –
einerseits war die zunächst eingeschlagene Linie, jegliche Misshandlungen herunterzuspielen
und deren Zusammenhang mit dem Regierungshandeln unbedingt zu dementieren, spätestens
mit der Veröffentlichung der erstens Memos gescheitert, andererseits konnte man sich nun
auch nicht mehr plötzlich offen für die Legalisierung „harter Befragungsmethoden“ einsetzen,
ohne sich vollends unglaubwürdig zu machen.
Dessen ungeachtet begann der Kongress wenige Monate nach Abu Ghraib durch
gesetzliche Bestimmungen gegen Folterungen vorzugehen: Einem Gesetz zur Ausweitung des
Budgets für Militäroperationen in Afghanistan wurde die Klausel hinzugefügt, dass mit den
Geldern keine unter den Genfer Konventionen verbotenen Zwecke verfolgt werden durften.
Vor der Verabschiedung im Repräsentantenhaus war hoher Druck auf fünf republikanische
Abgeordnete ausgeübt worden, die für den Antrag stimmen wollten und dies letztendlich dem
Druck zum Trotz auch taten.622 Kurz zuvor hatten auch Repräsentanten der Judikative trotz
der sonst üblichen Zurückhaltung des Supreme Court in außen- und sicherheitspolitischen
Fragen (s. S. 68 der Arbeit) klar gemacht, dass sie das insbesondere durch die veröffentlichten
Memos bekannt gewordene Handeln der Regierung für unrechtmäßig hielten: In einer
Präzedenzentscheidung über die Notwendigkeit, auch den von der Regierung als „ enemy
combatants” eingestuften Gefangenen Zugang zu Gerichten zu verschaffen, die über die
Rechtmäßigkeit ihrer Haft entscheiden sollten, äußerten sich die Richter zwar nicht direkt zum
Abu Ghraib-Skandal (der ja nicht Thema der Gerichtsverhandlung war), rügten die Regierung
aber unmissverständlich in einer Nebenbemerkung, in dem sie darauf hinwiesen, dass
621
622
Website Senator Inhofe: Inhofe, James M. 2004: Transcript of Senator Inhofe’s Remarks at the
05/11/2004, Senate Armed Services Hearing on Iraqi Prisoner, Treatment (Panel 1), online unter:
<http://inhofe.senate.gov/pressapp/record.cfm?id=221389>, rev. 27.08.2006. bzw. Senator Schumer im
Gespräch mit John Ashcroft, in: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General,
before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice,
Terrorism and Other Topics, 08.06.2006.
Vgl. das Editorial der New York Times vom 02. Juli 2004 mit dem Titel „A Vote for Control”.
– 173 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„[e]xecutive detention of subversive citizens, like detention of enemy soldiers to keep
them off the battlefield, may sometimes be justified to prevent persons from launching or
becoming missiles of destruction. It may not, however, be justified by the naked interest
in using unlawful procedures to extract information. Incommunicado detention for
months on end is such a procedure. Whether the information so procured is more or less
reliable than that acquired by more extreme forms of torture is of no consequence. For if
this nation is to remain true to the ideals symbolized by its flag, it must not wield the
tools of tyrants even to resist an assault by the forces of tyranny.“623
Vor dem Hintergrund dieser für die Regierung äußerst unbequemen Lage erscheint es umso
verwunderlicher, dass der demokratische Herausforderer von George W. Bush, John Kerry,
die Folterdiskussion kaum jemals erwähnte, geschweige denn zum Thema des
Präsidentschaftswahlkampfes 2004 machte. Möglicherweise fiel diese Entscheidung im Lichte
mehrerer öffentlicher Umfragen, die im Sommer 2004 zur Frage der Legitimierung von
folterähnlicher Methoden durchgeführt wurden. Denn auch nach dem Abu Ghraib-Skandal
sprachen sich laut einer Erhebung von ABC-Poll im Juni 2004 noch 35% der Befragten in
manchen Fällen für den Einsatz von Folter aus, was angesichts der Tatsache, dass Folter zu
dieser Zeit nie beim Namen genannt, sondern meist von „abuses” oder „harsh interrogations”
die Rede war, recht viel erscheint.624 Immerhin 46% sprachen sich für die Notwendigkeit von
„physical abuse short of torture” aus.625 Ca. einen Monat später wurden noch einmal ähnliche
Zahlen publiziert:626 Nun sprachen sich 30% für den Einsatz „richtiger“, physischer Folter,
41% für die psychische Folter, 42% für die Anwendung von „humiliating or degrading
treatment” und 48% für eine Androhung physischer Folter aus, obwohl den Befragten
mitgeteilt worden war, dass sich die USA in einer Reihe internationaler Verträge zum
Verbieten solcher Handlungen verpflichtet hätten. Nach einigen lite torture-Methoden in
bestimmten Szenarien befragt (der Gefangene besitzt möglicherweise/sehr wahrscheinlich
wichtige Informationen über andere Mitglieder einer Terrorzelle/ über einen Anschlag auf die
Vereinigten Staaten), sprach sich durchgängig eine Mehrheit der Befragten für den Einsatz
von Schlafentzug aus, im letzten Szenario (Terrorist ist sehr wahrscheinlich im Besitz
wichtiger Informationen) galt dies auch für das Verhüllen des Kopfes, z.B. mit einem Sack
(„hooding ”), die permanente Beschallung mit lauten Geräuschen und das Verharren in
„Stresspositionen“. Auf der anderen Seite befürworteten noch mehr als ein Drittel der
Befragten Nahrungsentzug und das Bedrohen des Gefangenen mit Hunden selbst für den
Fall, dass nur eine „modest chance” dafür bestünde, dass der Inhaftierte über „some
information about a suspected member of a terrorist group ” verfüge. Aus einer dritten Umfrage
ging v.a. hervor, wie gespalten die eher demokratisch wählenden und eher republikanisch
623
624
625
626
Justice Stevens während der Verhandlung Rumsfeld vs. Padilla vor dem US-Supreme Court am 28. Juli
2004, zitiert nach: Greenhouse, Linda 2004: Access to Courts, in: New York Times, 29.07.2004.
Vgl. Harwood, John 2004: New Values Debate over Prisoner abuse could hurt Bush, in: Wall Street Journal,
23.06.2004.
Ignatieff, Michael 2004: Mirage in The Desert, in: New York Times, 27.06.2004.
Vgl. für das Folgende: Program on International Policy Attitudes 2004: Americans on Detention, Torture
and the War on Terrorism, in: Pipa Papers Juli 2004.
– 174 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
wählenden Bürger in dieser Frage waren:627 Während insgesamt (nur) eine knappe Mehrheit
von 53% der Befragten angaben, dass „torture should rarely or never be used to gain
important information from suspected terrorists”,628 hielten 58% der Bush-Wähler Folter für
rechtfertigbar, gegenüber nur 32% der Kerry-Wähler und 42% der Wechselwähler.629
Für die Frage, inwieweit das Folterverbot vor den 2001 beginnenden Folterdebatten eine
internalisierte Norm darstellte, ist äußerst bedauerlich, dass aus dieser Zeit keinerlei Umfragen
vorliegen. Vor dem Hintergrund der Tabuisierung von Folter hätte die Frage, ob man
Folterungen in manchen Fällen für gerechtfertigt halte, wohl bizarr angemutet, vermutlich
wären auch die Mitarbeiter von Umfrageinstituten nicht auf die Idee verfallen, sie überhaupt
zu stellen – was allerdings wiederum als Beleg dafür gewertet werden kann, dass die Norm
tatsächlich stark internalisiert war. Vor dem Hintergrund der früheren vollständigen
Tabuisierung von Folter nehmen sich die 2004 vorgelegten Zahlen in zweierlei Hinsicht
überraschend aus: Erstens wird an der Unterscheidung verschiedener als „richtiger“ oder als
„mild torture” eingestufter Methoden deutlich, dass die Bevölkerung, wie auch die
Umfrageinstitute, nun bereit waren, diese von der Regierung und deren Memoranden
aufgebrachte Einteilung nachzuvollziehen. In den Debatten während der letzten drei Jahre
hatte sich die US-amerikanische Bevölkerung offensichtlich damit angefreundet, über
verschiedene Arten von Misshandlungen an Gefangenen nachdenken zu dürfen. Nach dem
Bruch des eigentlichen Tabus, sich überhaupt nicht mit dem Thema Folter auseinander zu
setzen, wurde also auch ein Verständnis davon möglich, dass manche Methoden nicht
notwendigerweise vom Tabu gedeckt sein mussten, so dass eine „Ent-Totemisierung“ von
Folterhandlungen stattfand.630 Nachdem, zweitens, das Denkverbot über Folter in dieser
Weise gebrochen und Pandoras Kiste geöffnet worden war, erschien es nun auch der Hälfte
der Bevölkerung legitim, manche der zuvor „unhinterfragt mittabuisierten“ Praxen
herauszunehmen, zu normalisieren und zu legitimieren. Hieran zeigt sich, dass, wenn das
Tabu, über ein bestimmtes Thema nachzudenken, erst einmal gebrochen ist, auch die
internalisierten Verbotsnormen dahinter zu wanken beginnen können – so wurde das Handeln
der Regierung, die Reichweite des Folterverbots neu zu justieren und – aus ihrer Sicht – den
neuen Gegebenheiten nach „9-11“ anzupassen, von ca. 50% der Bevölkerung akzeptiert.
Diese Bereitschaft, zuvor von einem Tabu geschützte Normen einer Abwägung zu
unterziehen, forderte etwa zur gleichen Zeit der neben Alan Dershowitz zweite große norm
627
628
629
630
Vgl. für das Folgende: Pew Research Center/Council on Foreign Relations 2004: Eroding Respect for
America Seen as Major Problem. Foreign Policy Attitudes now Driven by 9/11 and Iraq, August 2004.
32% hielten Folter für niemals zu rechtfertigten, 21% in seltenen Fällen, 28% sahen den Einsatz von Folter
manchmal und 15% häufig als gerechtfertigt an.
Nach Parteizugeneigtheit befragt, gaben 52% der republikanischen Wähler an, Folter sei zu rechtfertigen
gegenüber jeweils 38% der demokratischen und ungebundenen.
Auch, wenn die Folterhandlung an sich kein Totem darstellen kann (s. S. 146 der Arbeit), fielen doch
ähnlich wie bei diesem alle Praxen einer Art (nicht alle Gegenstände) unter das Tabu.
– 175 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
challenger der Folterdiskussion, Michel Ignatieff, in seiner Monographie „The Lesser Evil”.631
Ganz ähnlich wie Dershowitz hatte er in einem bereits im Mai 2004 veröffentlichten Essay
gefordert, man müsse sich solchen unangenehmen Abwägungsfragen stellen, bevor die
Regierung eigenmächtig die Initiative ergreife und etwa nach einem zweiten großen
Terroranschlag die Rechte der Bürger in den USA (mit deren stillschweigender Zustimmung)
radikal einschränken würde.632 Im Unterschied zu Dershowitz lehnte Ignatieff „torture”
radikal ab – dies jedoch nur, weil auch er bereits eine Unterscheidung in Folter auf der einen
und vermeintlich weniger schlimmen Methoden bei „coercive interrogations” auf der anderen
Seite vornahm. Scheinbar wahllos greift er aus Pandoras Kiste, was er für angemessen hält,
Schlafentzug sowie zeitliche und räumliche Desorientierung auch durch „hooding ” etwa,
während jegliche Form physischer Misshandlung oder das Verabreichen von Wahrheitsserum
verboten bleiben sollte. Mit seiner Unterscheidung in „milde“ und „wirkliche“ Folter bereitete
Ignatieff damit den Weg zu einer neuen Debattenkultur unter den Intellektuellen der USA, die
v.a. im Frühjahr 2005 zu Tage trat, als der öffentliche Aufschrei über Abu Ghraib schon
längst verhallt war.633
Zunächst wurde im Sommer 2004 die Debatte, wie es zu Abu Ghraib hatte kommen
können, aber durch die Publikation erster Untersuchungsberichte weiter angeheizt. Zunächst
erschienen zwei innerhalb des Militärs in Auftrag gegebene und von solchen ausgeführte
Berichte: Der sog. Taguba-Report war bereits vor der Veröffentlichung der Bilder aus Abu
Ghraib in Auftrag gegeben worden und konnte dementsprechend bereits im Mai 2004
publiziert werden. Der sog. Fay Report, der zu dem Schluss kam, dass es sich bei den in Abu
Ghraib angewandten Methoden zum Teil eindeutig um Folter handelte, wurde im August
2004 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Schlussfolgerungen beider Berichte lagen recht nahe
an den Aussagen der Regierung, bei den folternden Soldaten hätte es sich um einige „faule
Äpfel“ im sonst recht gesunden System gehandelt. Erst der von einer vom Militär
unabhängigen
Kommission
erstellte
sog.
Schlesinger-Report
stellte
einen
klaren
Zusammenhang zwischen den Geschehnissen im Irak und dem Handeln der Regierung fest.634
Da (wie zu erwarten) keiner der Berichte auf das vorangegangene Hinterfragen von Tabus und
internalisierter Normen, sondern eher auf Führungsschwächen, die schlechte Ausbildung und
die allgemein gefährlichen Arbeitsbedingungen der Soldaten im Abu Ghraib Gefängnis
hinwiesen, sind im Hinblick auf die Tabudiskussion eher die Folgen interessant, die die
Veröffentlichung insbesondere des Schlesinger-Berichts hatte – nämlich v.a. der Ruf nach
einheitlichen Verhörstandards, da in Abu Ghraib deutlich geworden war, dass die
631
632
633
634
Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh. Ignatieff lehrte bis
zu seiner Wahl ins kanadische Parlament als Vertreter der Liberalen an der Harvard University und war
dort Leiter des Carr Center for Human Rights Policy .
Vgl. auch für das Folgende Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004.
Vgl. insbesondere Kaplan, Robert D. 2005: Hard Questions, in: New York Times, 23.01.2005.
Vgl. einen Artikel der USA Today mit dem Titel „Pentagon doesn’t get it: Buck stops higher up ”, der am
25.10.2004 erschien.
– 176 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Umklassifizierung von Methoden in verbotene, mit Genehmigung erlaubte oder erlaubte, wie
sie in einem Großteil der Memos vorgenommen worden waren, für Verwirrung gesorgt hatte.
Zudem war wiederum deutlich geworden, wie uneinheitlich die Standards für an Verhören
beteiligten Mitarbeiter verschiedener Institutionen waren: CIA-Beamten wurde mehr erlaubt,
als ihren Kollegen vom FBI und vom Militärgeheimdienst, diese wiederum hatten
Abstimmungsschwierigkeiten mit den „normalen“ Soldaten und zivilem Hilfspersonal (etwa
irakischen Übersetzern) einerseits und verdeckt operierenden Mitgliedern von Spezialeinheiten
des DOD (möglicherweise aus der Operation „copper green”?) andererseits.635 Bereits bevor
es zum Abu Ghraib Skandal kam, hatten sich Vertreter des FBI intern über die ihrer Ansicht
nach zu weitgehenden Methoden der CIA und des Militärgeheimdienstes beschwert, diese
würden die Moral ihrer Mitarbeiter bzw. Soldaten untergraben und bei ihnen den Eindruck
erwecken, dass bei Verhören alles erlaubt sei:
„The methods employed by the C.I.A. are so severe that senior officials of the Federal
Bureau of Investigation have directed its agents to stay out of many of the interviews of
the high-level detainees, counterterrorism officials said.“ 636
Möglicherweise geschah diese Distanzierung auch aufgrund der angesichts der Quellenlage
gerechtfertigten Befürchtung des FBI, das DOD würde seinen Mitarbeitern im Fall einer
öffentlichen Skandalisierung der Verhörmethoden in Guantanamo Bay den „schwarzen
Peter“ zuschieben.637
Trotz der aus Sicht der Regierung untragbaren Thesen des Schlesinger-Reports über eine
mehr oder weniger direkte Befehlskette von den Spitzen des Pentagon ins Abu GhraibGefängnis fand seine Veröffentlichung erstaunlich wenig Widerhall. In der Endphase des
Präsidentschaftswahlkampfes fand das Thema keine Beachtung; im Oktober 2004, fünf
Monate, nachdem die ersten Bilder aus Abu Ghraib über die Mattscheibe geflimmert waren,
war die öffentliche Debatte über die Verhörmethoden von Terrorverdächtigen tot.
Herbst 2004 bis Herbst 2005: Intellektuelle Auseinandersetzung vor schweigender Öffentlichkeit638
In den folgenden zwölf Monaten flaute die Debatte bei beinah allen Akteuren merklich ab,
was die New York Times als einer der wenigen weiterhin aktiven Debattenteilnehmer
mehrfach kritisierte.639 Es scheint, als habe sich die Debatte überhitzt und als sei die
635
636
637
638
639
Vgl. für eine Zusammenfassung dieses Punktes Jehl, Douglas/Johnston, David 2004: C.I.A. Expands Its
Inquiry Into Interrogation Tactics, in: New York Times, 29.08.2004.
Risen, James/Johnston, David/Lewis, Neil A. 2004: Harsh C.I.A. Methods Cited In Top Qaeda
Interrogations, in: New York Times, 13.05.2004. Vgl. auch Lewis, Neil A. 2004: F.B.I. Memos Criticized
Practices at Guantanamo, in: New York Times, 07.12.2004.
Vgl. Lewis, Neil A./Johnston, David 2004: New F.B.I. Files Describe Abuse Of Iraq Inmates, in: New York
Times, 21.12.2004.
Aufgrund der oben beschriebenen weniger aufwendigen Auswertung der Treffer für das Jahr 2005
beschränkt sich dieses Unterkapitel auf die Kernereignisse und groben Änderungen im Diskussionsverlauf
dieses Jahres.
Zuerst wurde diese Kritik im Anfang Oktober 2004 erhoben, vgl. Krugman, Paul 2004: America’s Lost
Respect, in: New York Times, 01.10.2004.
– 177 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Öffentlichkeit, aber auch ein großer Teil der Medien und der politischen Entscheidungsträger
der ständig neuen Enthüllungen und Anklagen überdrüssig geworden, obwohl die vermutlich
für die Misshandlungen von Gefangenen im Irak und in Afghanistan verantwortlichen
Politiker und hohen Militärs weder zur Verantwortung gezogen worden waren, noch
signalisiert hatten, ihr Verhalten grundlegend zu ändern. Nahezu unbemerkt von den Medien
gelang es der Regierung stattdessen, einen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen, mit dem es
möglich werden sollte, Personen aufgrund des bloßen Verdachts die Aufenthaltserlaubnis der
Vereinigten Staaten zu entziehen und sie in ihre für Folterungen berüchtigten Heimatländer
abzuschieben.640 Zudem erregte weder die Klage von vier bereits im März entlassenen Briten
gegen Donald Rumsfeld wegen Misshandlungen in Guantanamo, noch die heftige Kritik des
Vorsitzenden der UN-Antifolterkommission, Theo van Boven, auf einer eigens einberufenen
Pressekonferenz zum Verhalten der USA unter der Anti-Folterkonvention großes
Aufsehen.641 Auch die stockende juristische Aufarbeitung der Vorfälle in Abu Ghraib wurde
kaum noch öffentlich skandalisiert – was vor dem Hintergrund nun erscheinender
Monographien und Dokumentensammlungen zu dem Thema, für die ebenfalls kein großes
Interesse zu bestehen schien, umso leichter möglich gewesen wäre.642 Lediglich die nach dem
erneuten Wahlsieg Bushs erfolgte Nominierung eines der Autoren der kritisierten
Memoranden, Alberto Gonzales, zum Nachfolger Ashcrofts im Amt des Justizministers,
gegen die sich auch einige ehemalige Militärjuristen aussprachen, wurde auch über die New
York Times hinaus zum öffentlichen und kongressinternen Thema.643
Soweit sich anhand der ausgewerteten Empirie die gesamte Debattenlage einschätzen
lässt, scheint sich für die folgenden Monate im Winter 2004 und Frühjahr 2005 das Bild zu
ergeben, nach dem die Herausgeber der New York Times gemeinsam mit einigen
Menschenrechts-NGOs
versucht
haben,
die
öffentliche
Skandalisierung
Verhörmethoden, insbesondere in Guantanamo Bay, wieder anzukurbeln.
644
von
Dieses gelang
zumindest zeitweise in den Sommermonaten, nachdem Condoleezza Rice als neue
640
641
642
643
644
Vgl. das Editorial der New York Times mit dem Titel „Not in America” vom 01. Oktober 2004.
Vgl. Reuters 2004: World Briefing Europe: Britain: Ex-Guantanamo Inmates File Suit, in: New York Times,
28.10.2004 bzw. die Pressemitteilung der Vereinten Nationen vom 28.10.2004 mit dem Titel „Human
Rights Press Conference on Requests Visits to Detention Centers.”
Hier handelt es sich insbesondere um Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and
the War on Terror, New York, dessen Nichtbeachtung in der New York Times am 04. Dezember 2004 von
Peter Steinfels in seiner Rezension mit dem Titel „The ethical questions involving torture of prisoners are
lost in the debate over the war in Iraq” beklagt wurde.
Vgl. etwa Lewis, Neil A. 2004: Ex-Military Lawyers Object To Bush Cabinet Nominee, in: New York
Times, 16.12.2004. In seinen Schreiben hatte sich Gonzales v.a. gegen die Einhaltung der Genfer
Konventionen und für einen extrem engen Folterbegriff ausgesprochen, vgl. S. 201 der Arbeit sowie im
Original: Memo von Alberto Gonzales an Präsident Bush mit dem Titel „Decision re application of the
Geneva Convention on Prisoners of War to the conflict with al Qaeda and the Taliban“ vom 25. Januar
2002, abgedruckt in: Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror,
New York, S. 83-87, hier S. 84
So stellte etwa das IKRK in einem Bericht vom Dezember 2004 fest, die in Guantanamo angewandten
Methoden würden „tantamount to torture”, vgl. Internationales Komitee vom Roten Kreuz 2004: Iraq:
ICRC explains position over detention report and treatment of prisoners, Pressekonferenz, 08.05.2004.
– 178 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Außenministerin bei ihren Antrittsbesuchen in Europa von beinahe jedem Amtskollegen zur
Schließung der Gefangenenlager in Guantanamo aufgefordert worden war. Als zudem die
Generalsekretärin von Amnesty International, die Lager auf Kuba zudem als „gulag of our
times ” bezeichnete,645 schlossen sich auch bedeutende Personen der USA (u.a. Jimmy Carter)
dieser Forderung an.646 Die folgende Auseinandersetzung innerhalb der Bevölkerung erreichte
aber nicht mehr die Reichweite und Schärfe derer um Abu Ghraib.
Ebenso wie die Skandalisierung tatsächlich geschehener Misshandlungen war auch die
öffentliche und mediale Diskussion über den Nutzen und die Notwendigkeit „milder Folter“
stark abgeflaut – auch, wenn einige Politiker der wieder gewählten Regierung versuchten, ihr
Vorgehen stärker zu rechtfertigen, als dies einige Monate zuvor beim Abu Ghraib-Skandal der
Fall gewesen war. Hoffte man hier vielleicht bereits über die Apathie der Bürger nach der
Aufregung um die Vorfälle im Irak auf das stillschweigende Einverständnis der Bevölkerung,
die in Meinungsumfragen ja zumindest einige Methoden „milder Folter“ mehrheitlich gebilligt
hatte? In diese Richtung deuten zumindest der nun „routinemäßige Einsatz“ von Folter in
US-amerikanischen Krimi- und Agentenserien, deren Produzenten sich den Vorwurf der New
York Times gefallen lassen mussten, Folter in den Augen der Öffentlichkeit zu normalisieren647
– aber auch Leserbriefe an die NYT, diese würde mit ihrer ausführlichen Berichterstattung
zum Thema Folter über die Stränge schlagen:
„I suspect that we Americans may not be as conflicted about ‚torture lite’ as your writer
may imagine. (…) The actual rules are usually unspoken: we expect those on the front
line to take the necessary steps to protect us while maintaining community standards of
human decency and respect.“648
Vor dem Hintergrund der schweigenden Öffentlichkeit war nun jedoch umso deutlicher zu
hören, dass sich die Debatte um die Notwendigkeit von Folter unter einigen Intellektuellen
des Landes nicht nur fortsetzte, sondern auch drehte: Ganz anders als in den ersten Jahren der
Diskussion, in der auf die Essays von Dershowitz, Ignatieff und anderen Befürwortern „harter
Verhörmethoden“ mit aggressiver Polemik geantwortet und die Rechtsberater des Weißen
Hauses bestenfalls als skrupellose Rechtsverdreher gebrandmarkt worden waren, schien sich
im Frühjahr 2005 zwar noch kein Kompromiss herauszubilden – die Notwendigkeit einer
ernsthaften Debatte über dieses Thema wurde jedoch von immer mehr Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens anerkannt und die Positionen der norm challengers nun als rationale
(wenn auch nicht in allen Punkten geteilte) Argumentationsweise angesehen: „The wall
645
646
647
648
Zitiert nach einem Editorial der New York Times vom 06. Mai 2006 mit dem Titel „Un-American
by Any Name”.
Vgl. Associated Press 2005: Carter Says U.S. Should Close Detention Center at Guantanamo, in: New York
Times, 08.06.2005.
Vgl. Green, Adam 2005: Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time, in: New York Times,
22.05.2005.
Leserbrief von Robert Blount-Lyon mit der Überschrift „Interrogating Ourselves ” abgedruckt in der New
York Times vom 26. Juni 2005.
– 179 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
between the liberal campus and a conservative, utilitarian-minded military breaks down”. 649 In
Sandford Levinsons Sammelband mit Essays von Autoren verschiedenster fachlicher
Hintergründe und politischer Richtungen nimmt sich der Beitrag eines Chicagoer
Ethikprofessors, nach dem Folter vollständig „tabooed and forbidden” bleiben sollte, nun eher
als Einzelmeinung aus.650 Der Trend bestätigt sich, als im Juni sogar ein ehemaliger
Chefredakteur der New York Times in der NYT einen mehrseitigen Essay veröffentlichte, der
auf die nun „rationalisierte“ Debatte um torture lite hinweist („Meanwhile, torture lite has
been the subject of a little-noticed but intense debate involving rights groups, law professors,
ethicists, counterterrorism theorists and military lawyers”) und sie als notwendig hinstellte:651
Die nach Abu Ghraib eingekehrte Ruhe könne, ja müsse nun genutzt werden, um zum Kern
der Frage durchzudringen, wie mit der Frage von torture lite umzugehen sei und er selbst
halte mittlerweile weder die Extremposition, „milde Folter“ in jeder Situation abzulehnen
noch das Zulassen brutaler Verhörmethoden für gerechtfertigt, sondern schwanke – nach
einer Reihe von Interviews und Recherchen – zwischen der Notwendigkeit des Versuches,
bestimmte Methoden für bestimmte Fälle zu legalisieren oder aber die strikten gesetzlichen
Verbote aufrecht zu erhalten und im Ernstfall zu brechen.
Lelyveld zog für seinen Essay auch einen Bericht einer Gruppe renommierter
RechtswissenschaftlerInnen heran, die bei einem Treffen in Harvard 2005 einen Report über
den Einsatz „harter Verhörmethoden“ (highly coercive interrogation, kurz HCI) ausgearbeitet
und publiziert hatten.652 Dabei hatte nach eigenen Angaben nur einer der rund zwanzig
anwesenden ProfessorInnen Zweifel geäußert, ob man „HCI“ tatsächlich in den von seinen
MitdiskutantInnen geforderten Fällen (ähnlich dem ticking bomb scenario) anwenden sollte.653
Schließlich sei es unwahrscheinlich dass, wie im Abschlussbericht der Gruppe gefordert, der
Präsident sein Einverständnis für jede der genannten Extremsituationen geben könne.
So praxisfern die Vorschläge der Harvard-Gruppe auch waren, fanden sie doch Anklang
im Kongress – auch unter DemokratInnen: „If you’re serious about trying to get information
in advance of an attack, interrogation has to be one of the main tools. It has to be made to work.
I’m O.K. with it not being pretty.”, gab die demokratische Abgeordnete Jane Harman zu
Protokoll, während der entschiedene Foltergegner John McCain als einer der wenigen
Republikaner die Debatte, welche Methoden gerade noch angemessen und legal sein könnten,
649
650
651
652
653
Auch für das zuvor Gesagte insbesondere Kaplan, Robert D. 2005: Hard Questions, in: New York Times,
23.01.2004.
Elshtain, Jean Bethke 2004: Reflection of the Problem of ‚Dirty Hands’, in: Levinson, Sanford 2004:
Torture. A Collection, S. 77-89, hier S.79.
Es handelt sich um Lelyveld, Joseph 2005: Interrogating Ourselves, in: New York Times, 12.06.2005.
Heymann, Philip B./Kayyem, Juliette N. 2005: Long-Term Legal Strategy Project for Preserving Security
and Democratic Freedoms in the War on Terrorism, National Memorial Institute for the Prevention of
Terrorism, Harvard.
Zu diesen Fällen zählte die Befragung von Gefangenen, bei denen man „probable cause to believe that he is
in possession of significant information (…) about a specific plan that threatens U.S. lives ” habe.
– 180 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
endlich beendet sehen wollte: „You don’t need to get into questions of whether its O.K. to
break someone’s right arm but not his left foot.” 654
Tatsächlich bildete die Debatte des Kongresses um ein neues Foltergesetz im Winter 2004
unter der Beteiligung McCains den vorläufigen Schlussakt der Folterdebatte. Das Amendment
on (1) the Army Field Manual and (2) Cruel, Inhumane, Degrading Treatment, amendment
#1977 , neben McCain noch von vier weiteren republikanischen Senatoren eingebracht, sollte
endlich eine Vereinheitlichung der Verhörmethoden bringen, sowie alle über diese im
einschlägigen Armeehandbuch festgehaltenen Methoden hinausgehenden Praxen untersagen.
Nachdem das Gesetz nach hitzigen kongressinternen Debatten mit den Stimmen einiger
abweichender republikanischer Abgeordneter in beiden Häusern verabschiedet worden war,
weigerte sich Präsident Bush zunächst, das McCain Amendment zu unterschreiben und drohte
das erste Veto seiner Präsidentschaft an. Dass es schließlich doch noch zur Verabschiedung
des Gesetzes durch den Präsidenten kam, verdankt sich einem politischen Trick: Kurz vor der
Ausfertigung des amendments wurde ein neues Armeehandbuch herausgegeben – mit einem
geheimen Kapitel über Verhörmethoden, so dass bis heute nicht bekannt ist, von welchen
Methoden laut Gesetz nicht mehr abgewichen werden darf. Auf politischer Bühne fiel der
Vorhang also (zunächst) vor einer Reihe offener Fragen in der Folterdiskussion.
Im Rückblick erscheint die Debatte um die Legalisierung gerade im Vergleich zu der um
die Entwicklung neuer Nuklearwaffen (s.u.) als viel chaotischer: Es gibt kaum eine
gesellschaftliche Gruppe, die sich nicht irgendwann zu diesem Thema geäußert hätte, die
allermeisten Gruppen waren intern gespalten, einige „kippten“ insbesondere gegen Ende der
Debatte und nahmen in den verschiedenen Subdebatten (sollte es überhaupt eine
Folterdebatte geben? Wie sind die Misshandlungen in Abu Ghraib und in Guantanamo zu
bewerten? Ist torture lite eine angemessene Form von Verhörmethoden? usw.) teilweise
unterschiedliche Positionen ein.
Dabei ist auffällig, dass diejenigen Gruppen, denen man am ehesten eine Position klar für
die unbedingte Beibehaltung der Norm zugedacht hätte, nämlich die Lobbygruppen
arabischstämmiger und moslemischer US-Amerikaner sich erstaunlich ruhig verhielten. Die
Skandalisierung von Misshandlungen und der Versuch, die Debatte um eine Legitimierung
von Folter zunächst zu unterbinden ging vielmehr – wie zu erwarten – von
Menschenrechtsorganisationen aber auch von den Medien, insbesondere der NYT aus. Hier
veröffentlichten die Norm-Befürworter im Wesentlichen ihre Standpunkte, wobei die
Argumente großer norm challengers wie Dershowitz oder Ignatieff – als Abweichen von der
Normalposition – mehr Beachtung fanden, so dass sich zwar viele LeserInnen,
JournalistInnen und HerausgeberInnen äußerst kritisch auseinander setzen, sie aber keinen
wirklich „großen“ einzelnen Gegenspieler gehabt hätten.
654
Beide zitiert nach Lelyveld, Joseph 2005: Interrogating Ourselves, in: New York Times, 12.06.2005.
– 181 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Die aus der Sicht der Tabudiskussion wichtigsten Befunde mit Blick auf die
Akteurslandschaft sind zum einen, dass es ganz offensichtlich keinen Versuch der
Regierenden gab, die Debatten der Öffentlichkeit auszunutzen, geschweige denn in Richtung
einer Akzeptanz von Folter zu lenken. Möglicherweise hing dies damit zusammen, dass man
sich schon früh darauf festgelegt hatte, alles zu dementieren und von dieser Linie später nicht
mehr
abweichen
konnte,
möglicherweise
stand
auch
die
Aufdeckung
brisanter
Geheimdienstoperationen durch das Eingeständnis, Folterungen zuzulassen und / oder die
Unterstützung der (europäischen) Alliierten auf dem Spiel. Stattdessen verliefen die
Diskussionen innerhalb der Administration und in der Bevölkerung teilweise parallel, so dass
das Foltertabu letztlich in einer Art Zangenbewegung zerbrach: Von „ganz unten“ drängte die
Bevölkerung diskursiv auf die Aufhebung der absoluten Gültigkeit des Tabus – später
angeführt von prominenten norm challengers, die sich an die Spitze dieser Debatte setzten.
Genau spiegelverkehrt wurden Folterungen innerhalb der Administration zunächst von „ganz
oben” tatsächlich legitimiert, vermutlich zumindest im Einvernehmen mit dem USPräsidenten, während sich die nicht-öffentliche Legitimierungspolitik (teilweise unwissentlich)
durch die unteren Ränge der Administration und des Militärs fortsetzte bzw. vermehrt
gefordert wurde, bis es schließlich auf der Ebene einfacher Reservisten zur (bloßen?)
Ausführung der Misshandlungen im Abu Ghraib-Gefängnis kam.
Zum Anderen ist interessant, dass das Foltertabu schnell von ganz allein brach – ohne,
dass man der Regierung ein entsprechendes Handeln zunächst zugetraut hätte. Das Verbot,
über Folter nachzudenken, schien schon Ende 2001 gebrochen und Mitte 2004 bereits soweit
erodiert, dass selbst der öffentliche Aufschrei über die Folterungen in Abu Ghraib nicht zu
einer Beendigung der Debatten und einem Wiedererstarken der ursprünglichen Norm führte.
Ganz im Gegenteil wurde es nach dem Wegfallen des Tabus auf allen Ebenen möglich, ja von
vielen sogar als nötig erachtet, über erlaubte und verbotene Foltermethoden nachzudenken –
eine Frage, die sich zehn Jahre zuvor höchstens CIA-Verhörspezialisten gestellt hätten.
Dennoch zeigte sich am Ende des Untersuchungszeitraumes die Öffentlichkeit, Medien
und auch der Kongress weiterhin über die Frage gespalten, ob Folter in Verhören nun
eingesetzt werden sollte oder nicht, auch, wenn sowohl die Position der BefürworterInnen,
wie auch die der GegnerInnen als rational anerkannt wurde. Tatsächlich hätten viele
Diskursteilnehmer vermutlich gern den Argumenten beider Seiten zugestimmt, wie dies die
TeilnehmerInnen der zuvor angeführten Meinungsumfragen oftmals auch taten. Denn sowohl
Norm-Befürworter wie auch Norm-Gegner konnten mit guten Argumenten aufwarten, die
Gegenstand des folgenden Unterkapitels sein werden.
6.1.3 Argumentationsweisen im Streit um das Foltertabu
Nachdem bisher der Verlauf der Debatte um eine Legitimierung von Folter sowie die
Positionen ihrer wichtigsten ProtagonistInnen aufgezeigt wurden, werden im Folgenden die
von letzteren verwendeten Argumente vorgestellt. Anders als die Akteurspositionen änderte
– 182 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
sich die Argumentationsweise über den Zeitraum der Debatte hinweg kaum, so dass ich für
dieses Unterkapitel einen thematischen, statt einen chronologischen Zugriff gewählt habe. Vor
dem
Hintergrund
unseres
Forschungsinteresses
kommt
den
Argumenten
der
NormgegnerInnen mehr Gewicht zu, als denen der NormbefürworterInnen, weshalb ihre
Analyse hier auch breiteren Raum einnehmen wird. Nachdem die Umstände, unter denen die
neue Diskussion begann, skizziert worden sind, werden zunächst die FoltergegnerInnen, dann
wieder ausführlich die FolterbefürworterInnen zu Wort kommen.
Neue Bedrohung, neue Regeln: Folter als Notwendigkeit im Zeitalter des Terrorismus
„The date September 11, 2001, marked an historic juncture in
America’s collective sense of security. On that day our presumptions
of invulnerability was irretrievably shattered.” 655
Die auf den ersten Blick vielleicht trivialste Feststellung – dass die Diskussion um eine
Rechtfertigung von Folter vor dem Hintergrund des Global War on Terror geführt und
Folterungen auf diese Ausnahmesituation beschränkt bleiben sollten – ist nicht ganz so banal,
wenn man sich die dahinter stehenden Prämissen betrachtet: Mit dem 11. September waren
neue Akteure auf den Plan getreten (oder vielmehr: ins Bewusstsein gerückt), bei denen die
Anwendung von Folter nach Jahrzehnten der Tabuisierung zum Einen wieder notwendig und
aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften zum Anderen als weniger unmoralisch erschien.
Diese beiden Prämissen, die scheinbar gegebene Notwendigkeit zu foltern und das mit diesem
Standpunkt häufig verknüpfte Menschenbild eines „folterbaren“ Terroristen, bildeten die
Basis der untersuchten Diskussionen, welche das Foltertabu schließlich zu Fall bringen sollten.
Wie bereits angeführt, setzen die Debatten sehr schnell nach den Anschlägen des 11.
September ein und tatsächlich gibt es kaum ein Statement für Folter, das diesem Ereignis
nicht in irgendeiner Weise Rechnung zollt. Der Terroranschlag auf eigenem Boden wurde als
so einschneidendes Ereignis wahrgenommen, dass vor allem, aber nicht nur den
FolterbefürworterInnen ein völlig neues Denken insbesondere in Bezug auf die eigene
Sicherheit erforderlich schien. Dazu gehörte auch und gerade die Verabschiedung von einigen
alten Regeln der Kriegs- und Bürgerrechtskataloge, wie den Genfer Konventionen oder dem
Miranda-Warning, deren BefürworterInnen nun als „hopelessly ‚Sept. 10’ – living in a country
that no longer exists” angesehen wurden.656 Es wurde sogar argumentiert, die Einhaltung der
alten Regeln hätte „9-11“ erst möglich gemacht, so dass nun keinesfalls mehr „business as
usual” angesagt sei: „If we keep on doing the same thing, we cannot be surprised by the same
655
656
Schlesinger, James 2004: Final Report of the Independent Panel To Review DOD Detention Operations,
online unter: <http://www.defenselink.mil/news/Aug2004/d20040824finalreport.pdf>, rev. 19.07.2006.
Wie in diesem Eingangszitat wird auch in einigen weiteren Zitaten dieses Unterkapitels das Wort „torture ”
nicht vorkommen, da es an anderen, nicht zitierten Stellen des Dokuments fällt, deren Übernehmen die
Zitate größtenteils unnötig verlängern würde, vgl. aber die Dokumente auf der beigelegten CD-Rom.
Alter, Jonathan 2001: Time to think about torture. It’s a new world, and survival may well require old
techniques that seemed out of the question, in: Newsweek, 05.11.2001.
– 183 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
results.”657 Die gegenteilige Möglichkeit, dass eine mehr oder weniger häufige Verletzung der
rhetorisch gesetzten Standards in der eigenen Außenpolitik (bzw. deren Anwendung mit
zweierlei Maß) starke Ressentiments gegenüber den USA gerade im arabischen Raum
hervorgerufen haben könnte, wurde zumindest in dieser Debatte von Beginn an
nicht thematisiert.
Dagegen wurde mehrfach klargestellt, dass die Vereinigten Staaten nicht diejenigen
gewesen seien, die sich dazu entschlossen hätten, alte Standards über Bord zu werfen: „[T]he
old rules were being thrown out the window by our attackers.”658 Die FolterbefürworterInnen
machten also deutlich, dass der Diskurs über dieses Thema nicht gewollt, sondern ihnen
aufgezwungen worden war. Dementsprechend pochten sie zunächst darauf, dass die
einsetzende Debatte über Folter absolut notwendig sei – wobei noch nicht (explizit) gesagt
wurde, dass man sich am Ende der Auseinandersetzung klar für Folterungen aussprechen
müsse: „The search for an effective way to combat the very real threat of terrorism has forced
Americans to confront such uncomfortable questions“ (Herv. SoSchi), stellte selbst die New York
Times fest.659 Gerade auch die Regierung hätte sich unbedingt mit der Option einer
Legalisierung von Folter auseinander setzen müssen, wurde den Kritikern der 2004
veröffentlichten Memoranden entgegengehalten:
„White House and Justice Department lawyers did explore the limits of permissible
interrogation techniques – something it would have been irresponsible not to do
after 9-11.“ 660
Schließlich würden sich gerade die Liberalen des Landes als erste über das Versagen der
Regierung beschweren, wenn diese nicht alle Maßnahmen ergriffen und so einen zweiten
Anschlag nicht verhindert hätte.661 Von liberaler Seite wurde hingegen darauf verwiesen, dass
eine öffentliche Diskussion und diskursive Einigung über das Festlegen eventueller neuer
Standards nach dem ersten erfolgten Terroranschlag unbedingt notwendig sei, um eine
eigenmächtige und vermutlich extremere Ausweitung der Handlungsspielräume der Regierung
(und ein stillschweigendes Abnicken derselben durch die Bevölkerung) nach einem
eventuellen zweiten Terrorakt zu verhindern.662
657
658
659
660
661
662
Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York
City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov/archive
/ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006.
Editorial des Wall Street Journal mit dem Titel „The Torture Canard ” vom 11. Juni 2004.
Slackman, Michel 2004: What’s Wrong With Torturing a Qaeda Higher-Up?, in: New York Times,
16.05.2004. Vgl. für einen Standpunkt für eine Debatte aber gegen „wirkliche“ Folterungen im Gegensatz
zu lite torture etwa Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004: „thinking about
lesser evils is unavoidable. (…)The abuse we need to talk about is torture.”
Editorial des Wall Street Journal 2004: Tortured Arguments, in: Wall Street Journal, 25.06.2004.
Vgl. Griesman, Henry 2004: The Legal Memos About Torture, in: New York Times, 13.06.2004.
Vgl. insbesondere das Horrorszenario von Ignatieff noch in Unkenntnis der Regierungspolitik zur
Folterfrage: „Once the zones of devastation were cordoned off and the bodies buried, we might find ourselves,
in short order, living in a national-security state on continuous alert, with sealed borders, constant identity
checks and permanent detention camps for dissidents and aliens. Our constitutional rights might disappear
from our courts, while torture might reappear in our interrogation cells. The worst of it is that government
– 184 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
In den meisten dieser eher gegen die Norm gerichteten Aussagen manifestierte sich in
zweierlei Hinsicht noch die Stärke des allerdings bereits schwächelnden Tabus: Erstens wurde
es ganz klar als unangenehm empfunden, sich mit dem Thema Folter auseinander zu setzen,
bzw. auseinander setzen zu müssen, das, wie es selbst der norm challenger Dershowitz
formulierte „so horrible” sei, „that our mind rebels even at the notion of thinking about evil
options.”663 Auch die FolterbefürworterInnen stellten sich also so dar, als hätten sie nur allzu
gerne dem Schweigetabu weiterhin Rechnung gezollt. Zweitens wird allein an der Anzahl der
Hinweise auf die Wichtigkeit der Debatte selbst deutlich, wie wenig selbstverständlich es war,
diese führen zu können. Hier wurde ein Denkverbot aus dem Weg geräumt, das Foltertabu
damit direkt angegriffen und bereits die Grundlage für die später eintretende Umkehrung der
Zuschreibung illegitimer Argumentationspositionen gelegt: War es früher undenkbar, für
Folter zu argumentieren, wies die später allgemein anerkannte Notwendigkeit des Führens
einer neuen Debatte darauf hin, dass alte Standpunkte, die diese Diskussionen von vornherein
ausschlossen – nämlich, indem sie Folter als unter keinen Umständen zu rechtfertigen
darstellten – nun als Extremposition gewertet wurden, auf die man sich „rationalerweise“
nicht mehr zurückziehen konnte. Entsprechend wurde darauf hingewiesen, dass „only the
most doctrinaire civil libertarians (…) deny ”, dass es keinerlei Fälle geben könne, in denen
Folter gerechtfertigt sei.664
Bevor ich mich diesen Ausnahmefällen zuwende, ist die Frage zu klären, warum die
BefürworterInnen neuer Debatten vor dem Hintergrund einer neuen Weltlage gerade auf die
Idee des uralten Instrumentes der Folter verfielen. Noch im Oktober 2001 brachte es das Wall
Street Journal auf den Punkt:
would not have to impose tyranny on a cowed populace. We would demand it for our own protection.”
663
664
Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004.
Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge,
New Haven, S. 133.
Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.08.2002. Vgl. auch die Aussage
Senator Schumers bei einem hearing Ashcrofts im Hinblick auf den US-Senat: „I think there are probably
very few people in this room or in America who would say that torture should never, ever be used…”.
Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary
United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006,
online
unter:
<http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A25211-2004Jun8.html>,
rev. 27.08.2006.
– 185 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„It is commonly agreed that our greatest breakthroughs in this war will most likely come
not from military strikes or careful diplomacy – needed and important as they both are –
but from crucial pieces of information: a lead about a terrorist cell; a confession from a
captured bin Laden associate (…) Indeed, one small lead could potentially save thousands
of lives – perhaps millions.“665
Informationen waren nun aus zweierlei Gründen zur wichtigsten Waffe im Global War on
Terror geworden: Erstens war man sich darüber im Klaren, dass man beinah ausschließlich
mithilfe neu gewonnener Informationen neue Anschläge verhindern konnte: „I want to burn
three lessons in your conscientiousness about our new strategy for prevention: First, information
is the best friend of prevention”, hämmerte der damalige Justizminister Ashcroft seinen
Kollegen von der New Yorker Anwaltskammer ein.666 Ohne auf einen Krieg hindeutende
Signale wie etwa Truppenverlegungen, geschweige denn einer offenen Kriegserklärung, ohne
das Wissen, wann der neue Feind wo und mit welchem Mittel wieder zuschlagen würde,
wurden die von Mitgliedern des feindlichen Lagers tatsächlich genannten Informationen
(„human intelligence”) noch wesentlich wichtiger, als etwa diejenigen feindlicher AgentInnen
aus der Zeit des Kalten Krieges.667 Die Vorbereitung auf und ggf. die Verhinderung weiterer
Anschläge war jedoch auch deshalb ungleich schwieriger, weil zunächst (auch durch eigenes
Verschulden in den 1990er Jahren) völlig unklar war, mit was für einem Gegenüber man es
überhaupt zu tun hatte. Nun brauchte man, zweitens, nicht nur dringend Informationen
darüber, wer Verbindungen zur al-Qaida oder ähnlichen Terrornetzwerken hatte, wie die
Organisation Mitglieder rekrutierte und woher sie ihre finanziellen Mittel bezog, sondern
auch, welche politischen oder religiösen Ziele sie überhaupt verfolgte und wie ihre Mitglieder
„tickten“. Kurz, man musste mithilfe von Informationen erst einmal versuchen, dem
gesichtslosen Feind ein Gesicht zu geben, „to learn more of a shadowy empire of evildoers
about whom Americans know virtually nothing ”, um zu verstehen, nach welchen Logiken er
operierte und um ihn irgendwie einschätzen zu können.668 Zudem gingen Bevölkerung und
Regierung zumindest in den ersten Monaten nach „9-11“ davon aus, dass man nicht beliebig
viel Zeit habe, diese Informationen zu sammeln und zu analysieren, vielmehr war die Angst
vor erneuten Anschlägen allgegenwärtig, worauf Ashcroft wiederum eindrücklich hinwies:
665
666
667
Winik, Jay 2001: Security comes before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001.
Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York
City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov/archive
/ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006.
Vgl. insbesondere die Analyse von Schlesinger: „The need for human intelligence has dramatically increased
in the new threat environment of asymmetric warfare. Massed forces and equipment characteristic of the cold
war era, Desert Storm and even Phase I of Operation Iraqi Freedom relied largely on signals and imagery
intelligence. The intelligence problem than was primarily one of monitoring known military sites, troop
locations and equipment concentrations. The problem today, however, is discovering new information from
other sources. Information derived from interrogations is an important component of this human
intelligence.” Schlesinger, James 2004: Final Report of the Independent Panel To Review DOD Detention
668
Operations, online unter: <http://www.defenselink.mil/news/Aug2004/d20040824finalreport.pdf>,
rev. 19.07.2006.
Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004.
– 186 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„Reject the dusty old notion that it can’t happen in my backyard. It can.”669 Dabei standen
Regierung und Administration (samt Militär und Geheimdiensten) unter dem enormen Druck,
es möglichst nicht zu einem solchen Fall kommen zu lassen. Stellt man sich unter diesen
Umständen eine FBI-Agentin im neu errichteten Gefangenenlager Guantanamo Bay vor,
deren Gegenüber seit seiner Inhaftierung vor mehr als einem Monat beharrlich schweigt,
scheint die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum ausgerechnet wieder an Folter
gedacht wurde, auf der Hand zu liegen – zumindest traf dies auf einige der besagten
AgentInnen und einen Teil der US-amerikanischen Bevölkerung zu. Es ist also wenig
erstaunlich, dass das Wall Street Journal die Schlussfolgerung der Regierung nach dem 11.
September „that interrogation
„natürlich“ bezeichnet.670
should
be
thorough
and
aggressive ”
als
Die „Versuchung ”,671 Folter einzusetzen, um wichtige Informationen zu erpressen, war
umso größer, als den gefangenen radikalen Islamisten die Bedeutung ihres Wissens (wenn sie
es denn hatten und nicht aus Versehen aufgegriffen worden waren) über geplante
Überraschungsangriffe und geheime Organisationsstrukturen deutlich bewusst war, weshalb
sie einen großen Anreiz hatten, zu schweigen. Zudem konnte man ihnen schwerlich einen
Anreiz bieten, zu sprechen: Waren zu Zeiten des Kalten Krieges AgentInnen des KGB u.a.
noch mit dem Versprechen einer sofortigen Einbürgerung in die USA zur Preisgabe von
Informationen bewegt worden, erschienen solche Anreize bei eher dem Gedanken des
Märtyrertums verpflichteten Fanatikern zwecklos:672 „How do you deal with somebody who
may feel, truly, that there is nothing to lose? ”673 TabugegnerInnen wiesen zudem darauf hin,
dass die inhaftierten Kämpfer eine gute Ausbildung im Hinblick auf Verhörmethoden erhalten
hatten, was ein hochrangiges Mitglied der unter Bush eingesetzten Anti-Terroreinheiten
bestätigte:
669
670
671
672
673
Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York
City, October 1, 2002. Das Transkript der Rede findet sich online unter: <http://www.usdoj.gov
/archive/ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev. 17.07.2006.
Schlesinger, James 2004: The Truth About Our Soldiers, in: Wall Street Journal, 04.09.2004.
Vgl. Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York Times,
09.05.2004.
Vgl. Shenon, Philip 2002: Intelligence: Officials Say Qaeda Suspect Has Given Useful Information, in: New
York Times, 24.04.2002. Tatsächlich gibt es allerdings anderslautende Hinweise, so berichteten Wachen aus
Guantanamo Bay, die Gefangenen zeigten sich nach der Einführung von Belohnungssystemen wie
Fernsehstunden oder Ausflügen zum Strand erheblich kooperativer. Hier wird allerdings weder klar, ob die
hierdurch „gewonnenen“ Informationen wahr sind, noch, ob sie von fanatischen al-Qaida-Mitgliedern
stammen. Von Seiten der NormbefürworterInnen wurde auch auf die Möglichkeit verwiesen, ein spezielles
Zeugenschutzprogramm ähnlich wie bei der Aufdeckung der Cosa Nostra ins Leben zu rufen. Vgl. Earley,
Pete 2002: Witness protection can help destroy al-Qaeda, in: USA Today, 14.02.2002.
Vgl. Shenon, Philip 2002: Intelligence: Officials Say Qaeda Suspect Has Given Useful Information, in: New
York Times, 24.04.2002.
– 187 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„The interrogations of Abu Zubaidah drove me nuts at times (…) He and some of the
others are very clever guys. At times I felt we were in a classic counter-interrogation class:
They were telling us what they think we already knew. Then, what they thought we
wanted to know. As they did that, they fabricated and weaved in threads that went
nowhere.“674
Für unsere Analyse besonders interessant ist, dass einige NormgegnerInnen annahmen, das
gerade in den USA starke Foltertabu würde die Gefangenen vom Reden abhalten – denn diese
wüssten um die Skrupel und rechtlichen Bindungen der VerhörspezialistInnen und glaubten
sich deshalb in Sicherheit:
„The detainees were resistant. They knew we weren’t going to torture them. So we
needed to come up with a Plan B for the small group of people who wouldn’t talk and
who we thought did have intelligence.“675
Die Annahme, die Gefangenen wüssten um das bestehende Tabu in den USA und würden
deshalb schweigen, kam aber auch in der häufig angewandten Praxis zum Ausdruck, die
Inhaftierten durch das Aufstellen fremder Flaggen (oder auch Pflanzen und anderer
Utensilien) glauben zu machen, sie seien nicht in die „folterfreien“ USA gebracht worden,
sondern in ein Land, in dem brutale Folterungen an der Tagesordnung seien, wie etwa nach
Ägypten oder Syrien.676 Hier schien also durch die Existenz des Tabus selbst eine direkte
Notwendigkeit gegeben, das Folterverbot zu brechen.
Insgesamt betrachtet schienen die norm challengers also nicht nur gute Argumente dafür
zu haben, das Denkverbot über das Thema Folter zu brechen und wieder eine Debatte
anzustoßen, sondern auch eine Wiedereinführung für Folter in bestimmten Fällen zu fordern.
„Should the ticking bomb terrorist be tortured?” Enge Kosten-Nutzen-Rechnungen der
NormgegnerInnen und Gegenmoral der BefürworterInnen 677
„[I]t’s easy to imagine any U.S. cop turning into Dirty
Harry if he knew that tens of thousands of lives were on
the line. He’d be more than willing to answer for it
later, while they’re pinning the medal on his chest.” 678
Um dem von FolterbefürworterInnen beschriebenen Druck, durch Folter lebenswichtige
Informationen zu erlangen, etwas entgegenzusetzen, brachten die NormbefürworterInnen am
häufigsten das Kosten-Nutzen-Argument vor, Folter würde keine wahren Geständnisse
674
675
676
677
678
Wayne Downing, stellvertretender National Security Advisor for Combating Terrorism zitiert nach: Priest,
Dana/Gellman, Barton 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics
Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002.
Zitiert nach: Golden, Tim/Natta, Don van 2004: U.S. Said to Overstate Value Of Guantanamo Detainees,
in: New York Times, 21.06.2004.
Vgl. etwa Natta, Don van 2003: Interrogations: Questioning Terror Suspects In a Dark and Surreal World,
in: New York Times, 09.03.2003.
Kapitelüberschrift aus: Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat,
Responding to the Challenge, New Haven, S. 131.
Lithwick, Dahla 2001: Tortured Justice, in: Slate, 24.10.2001.
– 188 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
hervorbringen.679 Damit ließen sie sich nicht nur auf den oben skizzierten, schwer zu
entscheidenden aristotelischen Auslegungsstreit über den Sinn von Folterungen ein, der über
Jahrhunderte hinweg nicht für ein Verbot dieser Praxis ausgereicht hatte (s. S. 88 der Arbeit),
sondern gaben auch die Möglichkeit aus der Hand, ihre GegnerInnen unter Hinweis auf das
Schweigetabu „diskursiv ruhig zu stellen“, indem sie deren Überlegungen die Legitimation
entzogen, statt mit ihnen in einen argumentativen Wettstreit zu treten. Da sie sich eben nicht
auf die früher übliche „Extremposition“ (Folter ist unthinkable) zurückzogen, machten sie
ihre Position extrem angreifbar – denn durch Belege, die den Nutzen von Folter gezeigt
hätten, wäre ihr argumentativer Standpunkt leicht zu widerlegen gewesen. Weil solche Studien
bisher nicht vorgelegt wurden, blieb es jedoch beim Vorbringen von Beispielen von beiden
Seiten, wie insbesondere dem des bereits 1995 auf den Philippinen gefassten Terroristen
Abdul Hakim Murad680 aber auch aktueller Fälle aus Abu Ghraib oder Guantanamo auf Seiten
der FolterbefürworterInnen. FoltergegnerInnen beriefen sich darauf, einige Gefangene aus
eben diesen Haftanstalten hätten gestanden, Osama bin Laden zu sein (was offensichtlich
nicht zutraf) und erhielten Unterstützung seitens einiger Geheimdienst-Agenten, die meinten,
unter Folter würden die Gefangenen „not only going to tell you he’s al-Qaeda, he’s going to
tell you he was the other guy on the grassy knoll” in Dallas, von dem aus der zweite Schuss
auf Kennedy abgefeuert worden sein soll: „If you violate the process by jumping in and rubberhosing some SOB, you’re going to get bad information 100% of the time.” 681
Zumindest mit dem Hinweis auf das unter Folter erpresste Geständnis Abu Zubaidahs
schienen die FolterbefürworterInnen jedoch mehr als nur einen Beleg für ihre Sicht der Dinge
in der Hand zu haben, sondern gleichzeitig auch ein praktisches Gegenargument gegen die
häufig geäußerte Kritik, das sogenannte ticking bomb scenario sei ein so unwahrscheinlicher
Fall,
dass man
sich
darüber
keine
Gedanken
machen,
geschweige
denn
eine
Verfassungsänderung anstrengen sollte, die ihm Rechnung trüge: Abu Zubaidah hatte seine
Verhörer auf die Spur José Padillas gebracht, der angeblich mitten in Manhattan eine dirty
679
680
681
Die New York Times brachte zudem das sehr fragwürdige Argument auf, gerade bei Arabern hätte Folter
wenig Sinn, da sie besonders geschickt lügen würden, vgl. Maas, Peter 2003: The World: Torture, Tough or
Lite; If a Terror Suspect Won’t Talk, Should He Be Made To?, in: New York Times, 09.03.2003.
Wie schwierig eine Entscheidung in dieser Kosten-Nutzen-Frage ist, lässt sich gerade an diesem von
FolterbefürworterInnen häufig verwendeten Beispiel zeigen: Erstens wurde darauf hingewiesen, dass kaum
festgestellt werden kann, ob das von Abul Hakim Murad nach 67 Tagen in philippinischem Gewahrsam
abgelegte Geständnis, nach dem er beabsichtigte, den Papst zu ermorden und elf US-amerikanische
Linienflugzeuge zu entführen, tatsächlich der Wahrheit entspricht. Zweitens ist jedoch belegt, dass er
(obwohl man ihm u.a. bereits alle Rippen gebrochen hatte) erst nach der psychologischen Drohung gestand,
ihn dem Mossad auszuliefern, was an seine tiefsitzende Angst vor Juden appellieren sollte. Hier stellt sich
wiederum die Frage, ob die Androhung einer Überstellung an einen für seinen nicht gerade zimperlichen
Umgang mit (mutmaßlichen) islamischen ExtremistInnen berüchtigten Geheimdienst an sich bereits eine
Folterung darstellt und damit bereits verboten wäre.
Vgl. für beide Zitate von Verhörspezialisten Diamond, John/Locy, Toni/Willing, Richard 2003:
Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003.
– 189 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
bomb zur Explosion bringen wollte.682 Meist wird mit dem ticking bomb scenario eine noch
dilemmatischere Situation konstruiert, die zum häufig zitierten Herzstück einer von
FolterbefürworterInnen vertretenen „Gegenmoral“ wurde: Im Zentrum steht hier die Frage,
ob man einen Terroristen, von dem man weiß, dass er in der jeweiligen Stadt eine Bombe
gelegt hat, deren genauen Ort er nicht verraten will, die aber innerhalb der nächsten Zeit
unweigerlich detonieren wird, persönlich foltern, bzw. Folter anordnen oder für gut befinden
würde. Typischerweise wird das Szenario so lange variiert (z.B. hinsichtlich der Anzahl der
potentiellen Opfer, zuvor ausgeschöpften Möglichkeiten, dem Vorliegen einer Anordnung des
Präsidenten oder auch einer dermaßen großen Sprengkraft der Bombe, dass der Terrorist bei
der Explosion selbst ums Leben käme), bis sich auch der/die Letzte eingestehen muss, dass
Folter in diesem Fall vielleicht doch die bessere Alternative oder dies zumindest eine rational
begründbare Position sei.683 Dieses Eingeständnis zeigt für NormgegnerInnen letztlich, dass es
zum Einen keine Letztbegründung für das Verbot von Folter geben kann, da die
Verweigerung einer Abwägung zwischen dem Leben unschuldiger Opfer und der
Menschenwürde des Täters irgendwann selbst moralisch zweifelhaft wird. Zum Anderen
gingen meist diejenigen, die auf der „Extremposition“, Folter dennoch niemals zulassen zu
wollen, beharrten, doch davon aus, dass in einem solchen Fall tatsächlich gefoltert würde –
was für FolterbefürworterInnen eine zweite Ebene moralischer Argumentation eröffnete.
Insbesondere Dershowitz wies darauf hin, dass es sich bei der Diskussion des ticking bombFalles damit nicht um eine Abwägung zweier, sondern dreier Rechtsgüter handele, nämlich
neben dem Recht auf Leben und der Menschenwürde auch dem der öffentlichen
Verantwortlichkeit des Staates vor seinen BürgerInnen (einschließlich des Gefolterten, falls
er/sie US-BürgerIn ist): „In a democracy governed by the rule of law, we should never want
our soldiers or our president to take any action that we deem wrong or illegal.”684 Schließlich
sei es besser, den Handlungsspielraum der Regierung qua Gesetz auf bestimmte Fälle, in
denen Folter erlaubt sei, einzuengen, als ein der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogenes und
vermutlich weit häufiger brutales Vorgehen der eigenen Geheimdienste zu riskieren.685
Letztendlich, argumentierte Dershowitz (wohlgemerkt, bevor die Misshandlungen in Abu
682
683
684
685
Als gegen Padilla nach dreieinhalb Jahren „Untersuchungshaft“ in Guantanamo Bay aufgrund einer
Entscheidung des Supreme Court schließlich ein Gerichtsprozess eröffnet werden musste (s. S. 173 der
Arbeit) wurden Hinweise der Anklage hierauf jedoch vermieden.
Das ticking bomb scenario erinnert auch stark an die Situation des Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang
Daschner aus dem Jahr 2002, der dem Entführer Jakob von Metzlers, Magnus Gäfgen, Folter androhen
ließ, wenn jener den Aufenthaltsort des Jungen nicht bekannt gebe. Die erst bei dem Schuldspruch
Daschners 2004 in Deutschland aufflammende Debatte wies große Schnittmengen mit der in den USA
geführten auf, wenn auch hier (typisch kontinentaleuropäisch, s. S 67 der Arbeit) viel häufiger mit der im
Grundgesetz festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde argumentiert wurde und die
Diskussion in Kreisen politischer EntscheidungsträgerInnen wesentlich weniger prominent geführt wurde.
Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge,
New Haven, S. 151.
Wie oben bereits skizziert, variierte Ignatieff dieses Argument dahingehend, dass er seinen Befürchtungen,
nach einem eventuellen zweiten Anschlag in einer Folter erlaubenden Diktatur aufzuwachen, Ausdruck
verlieh. S. S. 184 der Arbeit.
– 190 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Ghraib und Guantanamo bekannt wurden) würden mit einer von der Bevölkerung
mitgetragenen Regelung, die Folter in einigen klar definierten Ausnahmefällen mit Vorliegen
des Einverständnisses eines bzw. einer hohen Vorgesetzten erlauben würde und deren
Verletzung auch von Gefolterten eingeklagt werden könne, höchst wahrscheinlich weniger
Menschen zu Folteropfern, als ohne ein solches Gesetz.686 Die Position, dass man im Kampf
gegen den Terrorismus zwar schmutzige Hände bekommen werde, aber „dirty hands need not
be lawless”687 und deshalb möglichst offen über Standards gesprochen werden sollte, die der
neuen Weltlage angemessen seien, wurde auch von einigen Regierungsvertretern
eingenommen, u.a. von Justizminister Ashcroft:
„America is a nation that guarantees political freedom, self-governance, and open, honest
debate. Even when our very way of life is challenged, the means and method of our
nation’s defense is an essential part of our ongoing democratic dialogue.“ 688
Offensichtlich hinderte dies den Justizminister jedoch nicht daran, geheime Memos zur
Legalisierung von Folter zu verfassen.
„What’s Wrong With Torturing a Qaeda Higher-Up?” Erweiterte Kosten-NutzenArgumentation der FoltergegnerInnen 689
„Wake up. The world is watching.” 690
Da der Logik des ticking bomb scenario auch aus Sicht der FoltergegnerInnen kaum etwas
entgegenzusetzen war, verlegten sie sich in ihrer Argumentation gegen eine Legalisierung
dieser Praxis auf die Betrachtung langfristiger Entwicklungen aus einer breiteren Perspektive:
Neben dem Nutzen von Folterungen wurde am häufigsten bezweifelt, dass es bei den etwa
von Dershowitz benannten, wenigen Fällen legitimierter Folterungen bleiben würde, denn
„[o]nce you open the door to torture, once you start legitimizing it in any way, you have
broken the absolute taboo.”691 – was auch Freuds Annahme einer „Ansteckungsgefahr“ im
Falle von Tabubrüchen entspricht.692 So würden sich, erstens, die Folterer selbst an ihr
Handeln gewöhnen und vermutlich von alleine immer häufiger zu immer brutaleren
686
687
688
689
690
691
692
Dabei verwies Dershowitz auf die Praktiken US-amerikanischer Geheimdienste in den letzten Jahrzehnten.
Aufgrund seiner Annahme, dass mit einer Folter erlaubenden Gesetzgebung (in US-Gewahrsam) weniger
und nicht mehr Menschen gefoltert würden, erscheint es eher richtig, Dershowitz als norm challenger, denn
als Folterbefürworter zu bezeichnen.
Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004.
Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York
City,
October
1,
2002.
Das
Transkript
der
Rede
findet
sich
online
unter:
<http://www.usdoj.gov/archive/ag/speeches/2002/100102agremarkstousattorneysconference.htm>, rev.
17.07.2006.
Überschrift eines Artikels von Michael Slackman, erschienen in der New York Times am 16. Mai 2004.
Forderung eines Leserbriefes an die USA Today nach einer schnellen Aufklärung des Abu Ghraib-Skandals:
Gary, Bruce 2004: World is watching, in: USA Today, 07.05.2004.
Kenneth Roth in einem Fernsehinterview, vgl. CNN 2001: Target Terrorism: Forcing Suspects to Talk,
Transkript der Sendung CNN Crossfire vom 25. Oktober 2001.
Vgl. S. 34 der Arbeit.
– 191 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Methoden greifen693 – und damit ihre eigene Identität verändern, wie es selbst ein CIA-Agent
umschrieb: „When you start using torture, it redefines who you are.” 694 Zweitens würde es zu
einer Ausweitung von Folterfällen innerhalb der USA kommen695 – vor allem, da ja selten vor
einem Geständnis klar sei, ob ein Gefangener über lebenswichtige Informationen verfüge, die
es sofort zu erpressen gelte, oder nicht und so höchstwahrscheinlich auch Unschuldige zu
Folteropfern würden. Drittens fürchtete man eine internationale Erosion der Norm, da
autoritäre Regime unter Hinweis auf ein ähnliches Verhalten der Vereinigten Staaten
Folterungen nur allzu gerne legitimieren würden:
„George W. Bush has thrown the Geneva Conventions, the only civilized aspect of war,
into the trash bin. Would it be surprising if the worst of dictators around the world
justified their own uncivilized acts of terror on the same basis?“696
Im Vergleich zur Anwendung dieser sog. slippery slope-Argumentation eines Dammbruchs
durch Ausnahmeregelungen vom Folterverbot auf internationaler Ebene zeigten sich
allerdings wesentlich mehr FoltergegnerInnen besorgt über die Sicherheit der SoldatInnen
ihres eigenen Landes, die Opfer eines tit for tat-Verhaltens feindlicher Nationen
werden könnten:
„The next time Americans are taken as prisoners of war and the Pentagon seeks decent
treatment the opposing nation will say, ‚What Geneva Convention? You ripped it up
at Guantanamo Bay.’“697
Senator Biden nannte diese Bedenken gegenüber Justizminister Ashcroft sogar als
Hauptgrund der Ratifizierung von Folterverboten durch die USA:
„I’ll conclude by saying – there’s a reason why we sign these treaties: to protect my son in
the military. That’s why we have these treaties. So when Americans are captured, they are
not tortured. That’s the reason, in case anybody forgets it. That’s the reason.“698
693
So etwa James Glanz: „One answer [auf die Frage, wie normale SoldatInnen zu Folterern werden könnten],
say psychologists, former intelligence officers and military analysts, may lie in the nature of torture itself:
Torture and humiliation is a landscape without boundaries, a terrible slope that even the most practiced
interrogators can slide down once they allow themselves to apply the slightest physical or psychological
pressure.”, Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York
694
695
Times, 09.05.2004.
Zitiert nach: Tom Malinowski, Rechtsberater bei Human Rights Watch , zitiert nach: Diamond, John/Locy,
Toni/Willing, Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003.
Dies sei beim Abu Ghraib-Skandal bereits deutlich geworden: „ While many Americans may see harsh
interrogation techniques used on detained operatives of Al Qaeda as justifiable, the current Iraqi prisoner
abuse scandal has demonstrated the slippery slope that the government, intelligence agencies and the
military find themselves on when such methods are used.” Minet, Thomas J. 2004: When Al Qaeda Is
696
697
698
Interrogated, in: New York Times, 14.05.2004.
Leserbrief an die NYT: Hyypia, Jorma 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times,
09.06.2004.
Kenneth Roth zitiert nach: Lichtblau, Eric/Liptak, Adam 2003: Questioning to Be Legal, Humane and
Aggressive, The White House Says, in: New York Times, 04.03.2003.
Zitiert nach: Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on
the Judiciary United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics,
08.06.2006.
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Ebenso wie die Misshandlungen in Abu Ghraib als Beleg der slippery slope-Argumentation
gewertet wurden, schien sich diese Vorhersage mit der Enthauptung des US-Amerikaners
Nicholas Berg im Irak vor laufender Kamera auf traurige Weise zu bewahrheiten.699
Daneben
wurden
in
erweiterten
Kosten-Nutzen-Rechungen
noch
andere
Sicherheitsrisiken einer solchen Praxis auf verschiedenen Ebenen ins Feld geführt: Zunächst
wurde hinsichtlich des individuellen Opfers argumentiert, dass dieses, wenn es unschuldig und
zuvor kein überzeugter Anti-Amerikaner gewesen sei, nachher mit Sicherheit zu einem
solchen werde: „Pain and humiliation will turn some innocent suspects into real terrorists and
turn real terrorists into more-determined monsters.”700 Darüber hinaus wurde insbesondere
nach dem Abu Ghraib-Skandal auf den verstärkten Widerstand der Gesellschaft hingewiesen,
deren Mitglieder gefoltert würden: „Brutality, even the not ‚excessive’ sort (…) is a recipe for
the resentment on which insurgency thrives. That is a lesson from Vietnam”.701 Dies verschaffe
wiederum Terrorgruppen größeres Ansehen und neuen Zulauf:
„Terrorists like Osama bin Laden have always intended to use their violence to prod the
United States and its allies into demonstrating that their worst anti-American propaganda
was true. Abu Ghraib was an enormous victory for them, and it is unlikely that any
response by the Bush administration will wipe its stain from the minds of Arabs.“702
Auf lange Sicht würden Folterungen die Sicherheit der Vereinigten Staaten also eher
bedrohen, denn fördern. Bereits in Richtung einer eher moralischen Argumentation wiesen
strategische Bedenken, der Erfolg des Kampfes gegen den Terrorismus würde durch die
Fortsetzung und Legitimierung dieser Praxis insgesamt gefährdet: „How can we advocate the
democratic ideal when the entire world sees our hypocrisy? ”703 Diesen Widerspruch erkannten
offensichtlich auch die europäischen Partner der USA: „Le Monde ran a front-page cartoon
yesterday showing an American military boot crushing the head of an Iraqi while its owner told
him, ‚Repeat after me: DE-MO-CRA-CY!’”. 704 Dies löste wiederum auf US-amerikanischer
699
700
701
702
703
704
An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, dass die im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus
eingetretenen Ereignisse tragischerweise beiden Seiten Recht geben können: Denn der befürchtete
Dammbruch hinsichtlich der Anwendung von Folter trat ja ein, nachdem sie insgeheim legitimiert worden
war. Die Frage, ob mit einer öffentlich bekannten Ausnahmeregelung Abu Ghraib hätte verhindert werden
können, bleibt also offen. Ähnlich schwierig ist eine Gesamteinschätzung der Sicherheitslage: Offensichtlich
haben die Handlungen der USA Empörung unter den Alliierten, befreundeten Staaten und v.a. innerhalb
der arabischen Welt ausgelöst, was sich sicherlich nachteilig auswirkt. Andererseits ist nicht bekannt, ob
durch Folter erpresste Geständnisse uns tatsächlich weitere Anschläge in den USA und darüber hinaus
erspart haben – VerhörspezialistInnen würden sich hüten, solch einen konkreten Beleg der Wirksamkeit
ihrer Methoden öffentlich zu machen, da das jeweilige Geständnis dann nicht mehr vor Gericht verwendet
werden könnte.
Maas, Peter 2003: The World: Torture, Tough or Lite; If a Terror Suspect Won’t Talk, Should He Be Made
To?, in: New York Times, 09.03.2003.
Leserbrief von Kenneth Roth an die New York Times mit der Überschrift „Brutality in Iraq: Don’t Feed the
Resentment”, erschienen am 23. November 2003.
Editorial der NYT 2004: The Nightmare at Abu Ghraib, in: New York Times, 03.05.2004.
Leserbrief an die NYT: Jones, Jaqueline: Foreign Policy And the Candidates, in: New York Times,
22.06.2004.
Beschrieben in: MacFarquhar, Neil 2004: Revulsion at Prison Abuse Provokes Scorn for the U.S., in: New
York Times, 05.05.2004.
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Seite – und durchaus nicht nur auf Seiten der FoltergegnerInnen – die Befürchtung aus, auch
die wichtigen europäischen Verbündeten könnten sich von den USA abwenden – nicht nur,
weil sie Folterungen für moralisch verwerflich hielten, sondern auch, weil ihnen der Umgang
der USA mit internationalem Recht zunehmend suspekt würde:
„This is international law a la carte, like multilateralism a la carte. (…) It annoys your
allies in the war against terrorism and it creates problems for our Muslim allies, too. It
puts at stake the moral credibility of the war against terrorism.“705
Neben der Sorge um das Image der Vereinigten Staaten im Ausland, die nicht immer nur
strategisch begründet wurde (so war von einem „damage to our reputation”706 und eines
notwendigen „effort to regain our good name” 707 sowie des „respect of the world”,708
gesprochen, denn „I have never known a time in my life when America and its president were
more hated around the world than today.”),709 brachten viele FoltergegnerInnen ihre Wut und
Enttäuschung über das Handeln der eigenen Regierung zum Ausdruck, was bereits darauf
hinwies, dass sie Folter als etwas ansahen, für das man sich weiterhin schämen müsse, was also
moralisch noch immer grundfalsch sei: „How much more shame can this country tolerate? ”,
fragte eine Leserin der NYT nach der Veröffentlichung der Memos,710 während in der
gleichen Debatte gefordert wurde, der Präsident sollte endlich personelle Konsequenzen aus
den Verfehlungen der Administration ziehen, denn nur dies „could help our country regain its
lost honor.”711 NormbefürworterInnen griffen also zu den klassischen Mitteln des naming ,
blaming und shaming gegenüber den Verantwortlichen in der Regierung, um ihrer Forderung
nach einer Rückkehr zur Einhaltung der Norm Ausdruck zu verleihen.
705
706
707
708
709
710
711
Zitat eines europäischen Diplomaten aus: Seelye, Katharine Q./Erlanger, Steven 2002: Captives: U.S.
Suspends the Transport Of Terror Suspects to Cuba, in: New York Times, 24.01.2002. Dieser Kritikpunkt
wurde bereits in Folter befürwortenden Memos angesprochen und auch von Colin Powell in seiner
Argumentation gegen Folter verwendet, vgl. Lewis, Neil A. 2004: Justice Memos Explained How to Skip
Prisoner Rights, in: New York Times, 21.05.2004.
Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004.
Krugman, Paul 2004: America’s Lost Respect, in: New York Times, 01.10.2004.
Minet, Thomas J. 2004: When Al Qaeda Is Interrogated, in: New York Times, 14.05.2004.
Friedman, Thomas L. 2004: Restoring Our Honor, in: New York Times, 06.05.2004.
Hyypia, Jorma 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004.
Leserbrief von Blum, Stephen 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004.
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„Does the Bush administration have a moral compass?” Moralische Argumentation der
FoltergegnerInnen 712
„Targeted use of murder (…) torture-lite; these are not the stuff of
democracy. I for one fear Ignatieff’’s rationalizations for eroding civil
liberties more than terrorism itself (having myself been present at the
World Trade Center at the moment of its attack). We are strong
enough as a people to cope with terrorist attacks; we can survive and
strengthen our democratic institutions in the face of modern-day
terrorism. We cannot, however, survive the stepped erosion of
democratic values. Death by a thousand cuts is nonetheless death.” 713
Beim gegen die eigene Regierung gerichteten shaming wurde ganz offensichtlich davon
ausgegangen, dass ihre Mitglieder die moralischen Grundeinstellungen der FoltergegnerInnen
teilten, dass Folter nämlich auch weiterhin – und ohne dies weiter zu begründen – als
moralisch falsch angesehen werden müsse. Tatsächlich finden sich einige Statements, in denen
Folter ohne Begründung verurteilt wird: So sei das Anfertigen der Memoranden bereits „a
moral failure that cannot be excused ” gewesen,714 ein Versuch, „to rationalize barbarity ”715 und
„to justify the unjustifiable”. 716 Auch hätten die Folterer in Abu Ghraib „by human instinct”
wissen müssen, dass „the things (…) were wrong ”,717 schließlich sei „torture (…) evil in any
circumstances”718 und könnte „never be justified because it impugns the very meaning of our
existence and precludes that which we aspire to be: human.”719
Ebenso erstaunlich, wie dass die hier angeführten Zitate beinahe die einzigen waren, in
denen Folter explizit als aus ethischen Gründen verwerflich bezeichnet wurde,720 ist, dass
kaum von einer unveräußerlichen Menschenwürde die Rede war – des Kerngedankens also,
auf den sich die naturrechtliche Argumentation der Frühaufklärung maßgeblich gestützt und
der in aller Deutlichkeit in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung als universeller
712
713
714
715
716
717
718
719
720
Leserbrief von Rinner, Robert 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004.
Leserbrief von Bierman, Mark 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 16.05.2004.
Leserbrief von Colyer, Dale 2004: Torture: Condemned or Condoned?, in: New York Times, 25.06.2004.
Leserbrief von O’Bryan, Felice 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004.
Liptak, Adam 2004: How Far Can a Government Lawyer Go?, in: New York Times, 27.06.2004.
Senator Durbin in der Senatsdebatte am 10. Mai 2004: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi Prisoners,
Senatssitzung am 10.05.2004.
Leserbrief von Rinner, Robert 2004: The Torture Memo, and the Outcry, in: New York Times, 09.06.2004.
Darüber hinaus vertraten gerade Mitglieder der Kirchen in den USA den Standpunkt, Folter sei eine Sünde,
was sich vor dem Hintergrund der Vergangenheit dieser Institution etwas seltsam ausnehmen mag. Vgl.
Glassman, Mark 2004: U.S. Religious Figures Offer Abuse Apology on Arab TV, in: New York Times,
11.06.2004.
Leserbrief von Iacopino, Vincent 2001: In Desperate Times, Talking of Torture, in: New York Times,
08.11.2001.
Zusammengenommen wurden solche Positionen etwa halb so oft vertreten wie allein das Argument, Folter
erbrächte keine wahren Geständnisse. Allerdings drückt die Sprache, mit der z.B. die Misshandlungen in
Abu Ghraib beschrieben wurden, vielfach moralisches Entsetzen aus, ohne diese Handlungen explizit als
moralisch falsch zu bezeichnen.
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Standard niedergelegt worden war. Nur dreimal wurde der Begriff explizit genannt, davon
einmal von einem norm challenger.721
Gegenüber der Betonung universeller Normen stand deutlich häufiger der Verweis auf
die Unvereinbarkeit von Folter mit den Grundwerten der eigenen Nation im Vordergrund:
„America is the land of the free and the home of the brave. Our country was founded on sacred
principles, and it’s time for us to remember that we are the good guys, not the butchers”. 722 Die
Referenz an die Grundwerte des Landes wurde teilweise sogar mit den Erfahrungen der
Gründungseltern der Vereinigten Staaten belegt:
„That is not America. That is not what we are all about. Our great country was founded
by people fleeing governmental repression. Our founders wanted to ensure that the
United States would not oppress its citizens even during time of war, and that is why they
included a prohibition on cruel and unusual punishment in the Bill of Rights of
the Constitution.“723
Deutlich trat hier die Grundeinstellung hervor, Folter sei mit der US-amerikanischen Identität
unvereinbar: Vor dem Hintergrund des Statements Ignatieffs „[c]ivil liberties are what
America is”724 nimmt sich die in Bezug auf die Legalisierung von Folter innerhalb der
Regierung gestellte Frage „Is that who we really are? ”725 also durchaus berechtig aus. Während
das Stichwort „westliche Wertegemeinschaft“ nicht ein einziges Mal fiel, wurden teilweise
jahrhundertealte Exklusionsmechanismen zitiert:
„[N]o other democracy is so exposed by these painful moral juxtapositions, because no
other nation has made a civil religion of its self-belief. The abolition of cruel and unusual
punishment was a founding premise of that civil religion. This was how the fledgling
republic distinguished itself from the cruel tyrannies of Europe.“726
Deutlich wird die Amerikazentriertheit der Anti-Folter-Argumentation auch, wenn es um die
Vorreiterrolle geht, die gerade die USA bei der Schaffung internationalen Menschenrechts
eingenommen hätten und auf die etwa Colin Powell hinwies: „ He said bluntly that declaring
the conventions inapplicable would ‚reverse over a century of U.S. policy and practice in
721
722
723
724
725
726
Nämlich einmal im US-Senat von Senator Gingrich, dessen Aussage erstaunlicherweise allein im Wall Street
Journal abgedruckt wurde (in: Harwood, John 2004: New Values Debate over Prisoner abuse could hurt
Bush, in: Wall Street Journal, 23.06.2004), vom norm challenger Ignatieff, der die Meinung vertrat, dass
„[a]n outright ban on torture, rather than an attempt to regulate it, seems the only way a democracy can keep
true to its ideal of respecting the dignity even of its enemies ” (Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New
York Times, 02.05.2004.) und mit ausführlicher Herleitung in der NYT (Green, Adam 2005: Normalizing
Torture, One Rollicking Hour At a Time, in: New York Times, 22.05.2002): „… torture goes against the
tenets of human community in two fundamental ways. Because torturers deny the basic humanity of their
victims, it’s a violation of the norms governing everyday society. At the same time, torture constitutes
society’s ultimate perversion, shaking or breaking its victim’s faith in humanity by turning their bodies and
their deepest commitments – political or spiritual belief, love of family – against them to produce pain
and fear.”
Leserbrief von Stillwater, Jame 2005: Case against Iraq overlooks U.S. values, in: USA Today, 06.02.2006.
Senator Durbin in der Senatsdebatte zum „ Abuse of Iraqi Prisoners ”: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi
Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004.
Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004.
James Ross, Rechtsberater bei Human Rights Watch zitiert nach: Diamond, John/Willing, Richard 2004:
U.S. interrogators face ‚gray areas’ with prisoners, in: USA Today, 13.05.2004.
Ignatieff, Michael 2004: Mirage in The Desert, in: New York Times, 27.06.2006.
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Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
supporting the Geneva Conventions.’”727 Auch, um ihrer Tradition zu entsprechen, müssten
gerade die USA im internationalen Kampf gegen Folter weiterhin ein „leuchtendes Vorbild“
sein, statt sich vom rechten Weg abbringen zu lassen: „To be a shining example of democratic
law, we should not exempt ourselves from the international law we fought for and helped
create.”728 Auch Senator Durbin betonte, dass „[i]n an era where we have emerged as a
superpower, the world looks to us for leadership, inspiration, and our values.” 729 Entsprechend
wurde mehrmals explizit darauf verwiesen, dass Folter „un-american”730 sei und sich die USA
niemals zu solchen Handlungen herablassen dürften:
„With every revelation of extra-legal abuse tolerated by the Bush administration,
America’s once sterling human rights reputation gets dragged down closer to the level of
some third-rate tinpot dictatorship.“731
Allerdings vertraten einige DebattenteilnehmerInnen auch den Standpunkt, dass Folterungen
generell nicht mit dem Wesen einer Demokratie vereinbar seien: „[T]here are certain things
democracies don’t do, even under duress, and torture is high on the list.”732Auch die
Einstellung, Folter sei unzivilisiert, kam häufiger zum Ausdruck: „[C]ivilized societies view
torture with revulsion”.733
Gerade aufgrund der engen Verbindung der US-amerikanischen Identität mit der
Folterfrage müsse man, so die FoltergegnerInnen, bedenken, was eigentlich ein Sieg im
Kampf gegen den Terrorismus bedeute: „If our fear of terrorism pushes us to abandon our
values, aren’t we sacrificing our soul to win the war?”734 Es sei also keine Option, sich dem
Kampfstil der Terroristen anzupassen, um den Krieg zu gewinnen, denn
„[p]ursuing wild geese, we could lose the war on terrorists, but by then it wouldn’t matter;
whatever was worth de-fending would have died, not at the hands of terrorists, but by
our own hand.”735
Letztlich sei der Kampf gegen den Terrorismus ein Krieg der Ideen, in dem die USA nur
durch überlegene Moral siegen könnten, indem sie innerhalb der arabisch-islamischen Welt ein
positives Bild hinterließen, um dem Terrorismus den Boden zu entziehen:
727
728
729
730
731
732
733
734
735
Colin Powell zitiert nach: Lewis, Neil A. 2004: Justice Memos Explained How to Skip Prisoner Rights, in:
New York Times, 21.05.2004.
Leserbrief von Jones, Jaqueline 2004: Foreign Policy And the Candidates, in: New York Times, 22.06.2004.
Senator Durbin in der Senatsdebatte zum „Abuse of Iraqi Prisoners ”: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi
Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004.
So lautete etwa die Überschrift eines Leberbriefes von Alan S. Keller an die NYT vom 10. November 2001.
Leserbrief von Mezoff, Carl 2004: Abu Ghraib And Guantanamo, in: New York Times, 10.05.2004.
Editorial der New York Times mit dem Titel „Diluting the Geneva Convention” vom 09. Februar 2002.
Editorial der USA Today mit dem Titel „Cruelty is never justified ” vom 13. Mai 2004.
Earley, Pete 2002: Witness protection can help destroy al-Qaeda, in: USA Today, 14.02.2002.
Leserbrief von Willment, A. C. 2001: In Desperate Times, Talking of Torture, in: New York Times,
08.11.2001.
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Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„Military action – minimally visible and carefully planned and implemented – may be
necessary to win today’s battles. But the tools required in the long run to win the war are
neither bombs nor torture chambers. We need a Manhattan Project-type effort –
involving the best and the brightest from all over the world – to develop an effective
strategy. The weapons required to win this war include tools for promoting dignity:
schools, hospitals and health care for women, respect for human rights and an
understanding that the law applies to everyone – including those who believe that God is
on their side.“736
Angesichts der insgesamt doch stark ausgeprägten Grundeinstellung, dass eine Legitimierung
von Folter nicht mit US-amerikanischen Werten und der Identität des Landes zu vereinbaren
sei, mag es verwundern, dass die Diskussion letztendlich auf eine Anerkennung der
Argumente der norm challengers als rational zu vertretende Position und die Suche nach
einem Kompromiss hinauslief, wie mit dem Thema Folter umzugehen sei.
Die Entmoralisierung von Folter: Eine neue juristische Balance und ein neues
Menschenbild
Wie konnte es den NormgegnerInnen gelingen, trotz der noch verbreiteten Überzeugung,
Folter würde gegen die Grundwerte der Nation verstoßen, ihre argumentative Position zu
halten und zu rechtfertigen? Hierfür scheinen – neben den eingangs erläuterten
Rahmenbedingungen der Debatte – verschiedene argumentative Figuren verantwortlich zu
sein, die Folter eben doch mit der Identität des Landes vereinbar erschienen ließen. Hierzu
gehörte erstens der Hinweis auf die Notwendigkeit der Abwägung verschiedener Grundwerte
(und damit von Teilidentitäten gegenüber der Gesamtidentität der Vereinigten Staaten), das
insbesondere in asymmetrischen Konflikten wichtig sei und das, zweitens, unter Hinweis auf
ähnliche Fälle in der eigenen Geschichte „normalisiert“ wurde. Bei der Vermittlung dieser
Ansätze spielten, drittens, Euphemismen eine wichtige Rolle – zum Einen, indem über sie ein
neues Menschenbild und die sprachliche Konstruktion eines „folterbaren“ Terroristen
geschaffen und zum Anderen, indem mit neuen Bezeichnungen für bestimmte
Foltermethoden eine „Ent-Totemisierung“ des Folterverbots erreicht werden konnte. Alle
diese Aspekte wurden, viertens, von einer rechtlichen Debatte, die hauptsächlich in den
Memoranden der Regierung festgehalten ist, begleitet und unterstützt. Fünftens wurde (zwar
seltener, für uns aber außerordentlich wichtig) das Tabu selbst als irrationales Konstrukt
erkannt und gebrandmarkt.
Das Absolute abwägen: The constitution is not a suicide pact
Die Kernbotschaft des ticking bomb scenarios wie auch des Aufhebens des Denkverbotes um
Folter war, dass Folter vielleicht barbarisch und schlimm, nicht aber niemals abwägbar sei.
Und von der Position, dass der Grundsatz der Folterfreiheit in einigen Ausnahmefällen gegen
das Recht auf Leben abgewogen werden könne, war es wiederum nur ein kleiner Schritt zu der
736
Stern, Jessica 2004: Terrorists’ own words can help us stop them, in: USA Today, 24.06.2004.
– 198 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Vorstellung, es sei ein Grundrecht wie jedes andere und könne damit einer „normalen“
Güterabwägung mit anderen Rechtsnormen legitim unterzogen werden (was aufgrund der
absoluten Gültigkeit des Folterverbots natürlich unzutreffend ist). Das Schlagwort einer neuen
Balance bei der Abwägung wichtiger Bürgerrechte, die nun gefunden werden müsse, machte
unter NormgegnerInnen wie auch –befürworterInnen die Runde:
„[O]ne of the most important decisions the nation faces is how we balance the security
measures we need to forestall future arracks with America’s much-cherished doctrine of
civil liberties.“737
Hatte die Frage, wie man abwägen sollte diejenige, ob eine solche Abwägung nicht eigentlich
indiskutabel und unmoralisch sei erst einmal in den Hintergrund gedrängt, war es möglich,
beiden Extrempositionen (einer Nichtabwägung von Folter gegen Sicherheit und umgekehrt)
die Gültigkeit abzusprechen:
„To stick to perfectionist commitment to the right to life when under terrorist attack
might achieve moral consistency at the price of leaving us defenseless in the face of
evildoers. Security, moreover, is a human right, and thus respect for one right might lead
us to betray another.“738
Die hinter diesen Abwägungsüberlegungen stehende Prämisse, dass Folter zumindest
kurzfristig die Leben unbescholtener US-BürgerInnen retten könne, wurde durch das
Einlassen auf diese Argumentation seitens der FoltergegnerInnen ebenfalls „geschluckt“.
Selbst nach dem Abu Ghraib-Skandal war diese Einstellung so breit akzeptiert, dass
Präsidentschaftskandidat Kerry es für besser hielt, das Thema Folter aus seiner
Wahlkampagne herauszuhalten, um als Kritiker US-amerikanischer Gefangenenlager und
dortiger Verhörmethoden nicht in den Verdacht zu geraten, er würde sich nicht genug für die
Sicherheit des Landes einsetzen.739 Auch im Regierungslager wurden offensichtlich schon früh
konkrete Grundrechtsabwägungs-Überlegungen angestellt:
„For the attorney general’s office, it is a delicate balancing act. The interests of national
security must be weighed against constitutional guarantees, the safety of 280 million
citizens squared against the rights of a few, or a few thousand, individuals – mostly
foreign nationals. The United States has not faced such a quandary since the attack on
Pearl Harbor, when it was deemed necessary to intern 110,000 Japanese and people of
Japanese descent, 70,000 of whom were United States citizens, to stop possible sabotage
or espionage.“740
In diesem Zitat aus dem Jahr 2002 deutet sich bereits an, dass diese NormabwägungsÜberlegungen zusätzlich legitimiert wurden, indem NormgegnerInnen sie in eine Reihe
historischer Abwägungsprozesse einreihten, die in Notfällen – verfassungsgemäß oder nicht –
vorgenommen worden waren (neben den Maßnahmen nach den Angriffen auf Pearl Harbour
wurde häufig auch das „Vorbild“ Lincolns angeführt, der zeitweise die Habeas Corpus-
737
738
739
740
Winik, Jay 2001: Security comes before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001.
Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh, S. 21
Vgl. Lelyveld, Joseph 2005: Interrogating Ourselves, in: New York Times, 12.06.2005.
Brzezinski, Matthew 2002: Hady Hassan Omar’s Detention, in: New York Times, 27.10.2002.
– 199 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Prinzipien außer Kraft gesetzt hatte). Der Hinweis darauf, dass all diese notwendigen
Ausnahmeregelungen später wieder zurückgenommen worden waren, sollte einerseits den
Aufgeregtheiten der FoltergegnerInnen die Grundlage entziehen, war andrerseits jedoch auch
Teil der generellen Vorstellung, es gäbe unterschiedliche oder zumindest unterschiedlich
strenge (Folter-)Regelungen für Kriegs- und Friedenszeiten, wobei in ersteren prinzipiell jedes
Recht einer Abwägung unterzogen werden dürfe:
„…we are at war. And for us to begin to discuss all the legal ramifications of the war is
not in our best interest and it has never been in times of war. This is a long understood
and long-established practice.“741
Schließlich sei es auch eine positive Besonderheit des US-amerikanischen Rechts, dass es
neuen Situationen flexibel angepasst werden könne, so etwa in Krisenzeiten.742 Dies spiegele
sich auch im Verhalten der Justiz wider, die z.B. im Fall der Folterung Abner Louimas in den
1990er Jahren durch die New Yorker Polizei (s. S. 151 der Arbeit) sehr hart geurteilt habe,
gegenüber Beamten, die arabischstämmige US-Amerikaner interniert und „hart verhört“
hatten, jedoch Milde habe walten lassen:743 „Perhaps the most outstanding characteristic of the
American system of justice is its flexibility. It keeps finding ways to reflect the public mood –
often helped along by pragmatism.” Deutlich kommt hier der Gedanke zum Ausdruck, dass
staatliche Institutionen die Rechte ausüben sollen, die ihnen das Volk zugesteht (s. S. 68 der
Arbeit). Dass Gesetze nicht in Stein gemeißelt und „the Constitution (…) not a suicide pact”
seien, wurden zum typischen Slogan der norm challengers.744
„Geneva for demagogues”:
der Regierungsmemoranden 745
Einblicke
in
die
Rechts(lücken)argumentation
„[D]etention operations must act as an enabler for interrogation.” 746
In
Schlagwörtern
wie
dem
vom
Selbstmordcharakter
der
Verfassung kam
ein
Rechtsverständnis zum Ausdruck, das sich von dem der meisten NormbefürworterInnen
insofern grundlegend unterschied, als Recht nicht als Schutz, sondern als gefährliche
Behinderung wahrgenommen wurde – eine Hürde, die es entweder auf der Suche nach
741
742
743
744
745
746
Ashcroft, John 2004: Statement of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary
United States Senate Oversight of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006.
Auch Militärs empfanden Hinweise auf die Einhaltung internationalen Kriegsrechts eher als lästig: „ ’We are
engaged in combat operations,’ Colonel Hilferty said. ‚It’s a war.’” Rohde, David 2004: U.S. Rebuked On
Afghans In Detention, in: New York Times, 08.03.2004.
Vgl. etwa Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004: „Abiding disagreement
about the trade-off between liberty and security is a permanent characteristic of any free society. The
founding fathers designed the Constitution to enable our institutions to adjudicate such fundamental
disagreements of principle.”
Prunick, Joyce 2002: Court System As a Mirror Of Public View, in: New York Times, 23.09.2002.
Deshalb machte man sich auch darüber Gedanken, welcher Supreme Court-Richter letztere Äußerung als
erster verwendet habe, s. Corn, David 2002: The ‚Suicide Pact’ Mystery Who coined the phrase? Justice
Goldberg or Justice Jackson?, in: Slate, 04.01.2002.
Titel eines Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004.
Umschreibung eines Folterverhörs von Major General Geoffrey Miller, zitiert nach: Hersh, Seymour 2004:
The Gray Zone: How a secret Pentagon program came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 24.05.2004.
– 200 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Rechtslücken zu durchlöchern oder aber niederzureißen galt. Es ginge nicht an, dass „a
democracy must (…) fight with one hand tied behind its back.”747 Insbesondere die Genfer
Konventionen seien der neuen Realität eines asymmetrischen Konfliktes nicht angemessen,
wie der damals noch im White House Council dienende Alberto Gonzales gegenüber
Bush betonte:
„As you have said, the war against terrorism is a new kind of war. In my judgment, this
new paradigm renders obsolete Geneva’s strict limitations on questioning of enemy
prisoners and renders quaint some of its provisions.“748
Die anachronistischen Regeln seien für die heutigen Anforderungen viel zu restriktiv. „[I]n
the war on terrorism, wouldn’t we be naive to limit ourselves to ‚name, rank, and serial
number’? ” fragte selbst James Schlesinger, indem er die einzigen drei Informationen benannte,
die ein Kriegsgefangener laut den Genfer Konventionen anzugeben verpflichtet ist (und die
bald zu einem weiteren Schlagwort der NormgegnerInnen wurden) und fuhr fort: „In the
conditions of today, aggressive interrogation would seem essential…”. Auch das Wall Street
Journal erklärte das Pochen auf die unbedingte Einhaltung der Konventionen zu einem Mittel
von „Demagogen“, schließlich sei es unter diesen Regeln nicht einmal erlaubt, einem
Gefangenen Süßigkeiten anzubieten, um ihn zum Reden zu bringen.749 Im Hinblick auf die
Anwendung „harter Verhörmethoden“ bei den Gefangenen in Guantanamo Bay, die ja nicht
als POWs im Sinne der Konventionen angesehen wurden und anderen unlawful combatants
schien es einfach zu begründen, dass die Standards der Genfer Konventionen nur „to the
extent appropriate and consistent with military necessity ” angewendet werden sollten: „We
suspect the U.S. public understands that terrorists (…), who wear no uniforms so as to more
easily murder innocent civilians, do not deserve the same status accorded legitimate prisoners of
war”, stellten etwa die HerausgeberInnen des Wall Street Journal fest. Um auch den
Gefangenen im Irak, die eindeutig unter die Dritte (KombattantInnen) bzw. Vierte
(ZivilistInnen im Krieg) der Konventionen fielen, den Schutz dieser Gesetze verweigern zu
können, musste dagegen ein rechtliches Schlupfloch ausgemacht werden, das sich schließlich
im fünften Part der Übereinkommen fand:750 „While the armed conflict continues, and where
747
748
749
750
Senator Durbin in der Senatsdebatte zum „Abuse of Iraqi Prisoners ”: US-Kongress 2004: Abuse of Iraqi
Prisoners, Senatssitzung am 10.05.2004.
Memo von Alberto Gonzales an Präsident Bush mit dem Titel „Decision re application of the Geneva
Convention on Prisoners of War to the conflict with al Qaeda and the Taliban“ vom 25. Januar 2002,
abgedruckt in: Danner, Mark 2004: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New
York, S. 83-87, hier S. 84.
Vgl. das Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004 mit dem Titel „Geneva for Demagogues”. Der
Mahnung der FoltergegnerInnen, US-amerikanischen Gefangenen könnte in Zukunft ebenfalls der Schutz
der Genfer Konventionen verwehrt werden, hielt das Wall Street Journal im gleichen Artikel das Argument
entgegen, US-amerikanische SoldatInnen würden – im Unterschied zu Taliban-Kämpfern und anderen
unlawful combatants – immer als Kriegsgefangene anerkannt und behandelt (d.h., nicht gefoltert), da sie ja
eine Uniform trügen und einer regulären Armee angehörten.
Ausschnitt eines Briefs des US-Militärs an das IKRK vom Dezember 2003, zitiert nach: Jehl, Douglas/Neil,
Lewis A. 2004: U.S. Military Disputed Protected Status of Prisoners Held in Iraq, in: New York Times,
22.05.2004.
– 201 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
‚absolute military security so requires,’ security detainees will not obtain full GC protection as
recognized in GCIV/5, although such protection will be afforded as soon as the security situation
in Iraq allows it”, stellte eines der Memoranden heraus – wobei sich, wie später von Seiten
Folter ablehnender JuristInnen betont wurde, der entsprechende Artikel auf die Inhaftierung
unmittelbar gefährlicher Personen, nicht auf solche mit interessanten Informationen für die
Besatzungsmacht, beziehe.751 Gerade solche Informationen seien jedoch wichtig, so die
FolterbefürworterInnen innerhalb der Regierung, um den Schutz der irakischen
Zivilbevölkerung sicherstellen zu können, wie er ebenfalls in den Genfer Konventionen
gefordert werde.752
Wenn die Genfer Konventionen als anachronistisch hingestellt und ihre Bestimmungen
zum Teil ins Lächerliche gezogen wurden, kann man dies für die einschlägigen Artikel der viel
älteren US-Verfassung nicht behaupten. Innerhalb der Regierung verlegte man sich darauf, die
Gültigkeit einschlägiger amendments selbst unangetastet zu lassen, betonte aber, dass es vom
Grad der Involvierung von US-BürgerInnen in Folterverhöre abhängig sei, ob diese Artikel zu
beachten seien oder nicht – ein Versuch, die Verschickung von Gefangenen in Drittländer zu
rechtfertigen.753 Allerdings brachte außerhalb der Administration Alan Dershowitz, der die
Verschickung in Drittländer auch zu „normalisieren“ versucht hatte, indem er darauf hinwies,
die würde schon seit Jahrzehnten praktiziert, das juristische Kunststück eines Vorschlags
fertig, wie die beiden wichtigsten amendments auszuhebeln seien: Mit dem fünften
Zusatzartikel werde nur der Zwang zur Selbstanklage untersagt, so dass Aussagen über andere
Täter legitim erpresst werden könnten – wie auch solche gegen sich selbst, wenn diese später
nicht vor Gericht verwendet würden und folglich dafür auch keine unangemessene oder
unmenschliche Strafe verhängt werden könnte, wie sie vom achten amendment
verboten werde.
Die juristischen Spitzfindigkeiten zur Frage der Gültigkeit der Genfer Konventionen und
US-amerikanischer Antifolter-Statuten hätten auch von Laien innerhalb und außerhalb der
Administration schnell als unerheblich abgetan werden können, wenn diese nachdrücklich auf
den umfassenden Schutz der UN-Antifolterkonvention verwiesen hätten, die schlecht als
751
752
753
So Prof. Scott L. Silliman, Rechtsprofessor an der Duke University , zitiert nach: Jehl, Douglas/Neil, Lewis
A. 2004: U.S. Military Disputed Protected Status of Prisoners Held in Iraq, in: New York Times,
22.05.2004.
Vgl. das Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004 mit dem Titel „ Geneva for Demagogues” : „The
U.S. holds some very dangerous people in Iraq, and it’s easy to forget that the point of interrogating them is to
better protect both U.S. soldiers and the Iraqi civilians that the Geneva Conventions oblige us to safeguard.”
Vgl. das Editorial des Wall Street Journal vom 07. Mai 2004 mit dem Titel „Geneva for Demagogues”. Bei
der Frage, ob die Gefangenenlager in Guantanamo Bay juristisch als In- oder Ausland zu betrachten seien,
verfingen sich die AutorInnen der Memos allerdings in Widersprüchen: „.. lawyers argued that any torture
committed at Guantanamo would not be a violation of the anti-torture statute because the base was under
American legal jurisdiction and the statute concerns only torture committed overseas. That view is in direct
conflict with the position the administration has taken in the Supreme Court, where it has argued that
prisoners at Guantanamo Bay are not entitled to constitutional protections because the base is outside
American jurisdiction.” Neil, Lewis A./Schmitt, Eric 2004: Lawyers decided Bans on Torture Didn’t Bind
Bush, in: New York Times, 08.06.2004.
– 202 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
veraltet eingestuft werden konnte, hatte man sie doch selbst erst vor etwa zehn Jahren
ratifiziert – wenn auch mit einigen Vorbehalten, die in der aktuellen Diskussion allerdings
kaum eine Rolle spielten. Erstaunlicherweise beriefen sich FoltergegnerInnen im Vergleich zu
den Hinweisen auf die wohl wesentlich bekannteren Genfer Konventionen nur äußerst selten
auf dieses Dokument; aufgrund der damit einhergehenden Schwierigkeiten versuchten die
FolterbefürworterInnen erst gar nicht, die UN-Konvention als insgesamt nicht einschlägig
abzulehnen, sondern verlegten sich darauf, den hier festgeschriebenen Folterbegriff bis zur
Unkenntlichkeit auszudehnen, was schließlich mit zu einer „Ent-Totemisierung“ ehemals
generell tabuisierter Folterhandlungen führte (s. S. 212 der Arbeit).
Allerdings wiesen einige NormbefürworterInnen darauf hin, dass es nicht der USamerikanischen Regierung oder generell den Vereinigten Staaten obliege, universell geltendes
Völkerrecht „à la carte” zu wählen oder nach Belieben umzudefinieren – auch, wenn die USA
einen entscheidenden Anteil an dessen Schaffung gehabt hätten:
„At Abu Ghraib, America paid the price for American exceptionalism, the idea that
America is too noble, too special, too great to actually obey international treaties like the
Torture Convention or international bodies like the Red Cross. Enthralled by narcissism
and deluded by servility, American lawyers forgot their own Constitution and its
peremptory prohibition of cruel and unusual punishment. Any American administration,
especially this one, needs to learn that in paying ‚decent respect to the opinions of
mankind’ – Jefferson’s phrase – America also pays respect to its better self.“754
Die hier angeführten Beispiele aus mehreren hundert Seiten mit ähnlichen Argumentationen
angefüllter Memoranden zum Umgang mit folterverbietendem nationalem und Völkerrecht
zeigen einerseits, dass innerhalb der Administration von einem Tabu, Folter zu legitimieren
bzw. überhaupt über Folterungen nachzudenken, keine Rede mehr sein konnte. Nur mit
einem unverstellten Blick ohne behindernde Denkverbote ist es möglich, gezielt solche
Rechtslücken zu suchen und ausfindig zu machen, deren „Aufbauschen“ dem generellen Geist
der jeweiligen Rechtsakte völlig zuwiderläuft. Andererseits lassen sich viele Memos aber auch
als krampfhafter Versuch lesen, Recht so zu wenden, dass es zwar für nötig befundene
Maßnahmen zur eigenen Sicherheit deckt, es aber dennoch (zumindest als Fassade)
aufrechtzuerhalten, um nicht in Widerspruch mit der eigenen rechtsstaatlichen Identität zu
geraten, die eine öffentliche Verabschiedung von sämtlichen grundlegenden Standards einer
Demokratie über eine bestimmte Ausnahmesituation hinaus weiterhin als unmöglich
erscheinen lässt. Darüber hinaus tragen zumindest einige der Memos dem Foltertabu insofern
Rechnung, als sie über Seiten hinweg Argumentationen bereitstellen, mit denen der
Bevölkerung der Gedanke eines Einsatzes „harter Verhörmethoden“ nahegebracht werden
sollte und einige Methoden (wie etwa, die Gefangenen über einen längeren Zeitraum ohne
Kleidung zu lassen) mit Blick auf die Reaktionen der Öffentlichkeit verworfen wurden.
Scheinbar schätzte die Regierung die Vorbehalte ihrer BürgerInnen jedoch als noch größer
ein, so dass sie alle Papiere als geheim einstufen ließ und die in den Memos vorgeschlagene
754
Ignatieff, Michael 2004: Mirage in The Desert, in: New York Times, 27.06.2004.
– 203 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Argumentation größtenteils gar nicht bzw. erst nach der rasanten Ausweitung des Abu
Ghraib-Skandals verwendete.
Wie bereits im vorangegangenen Unterkapitel zu den Akteuren der Debatte dargelegt, war
dies – aus Sicht der Regierung – vielleicht nicht die beste Strategie, denn auch außerhalb der
Administration hatte nicht nur der Standpunkt, die Genfer Konventionen seien veraltet, viele
BefürworterInnen gefunden, es wurde auch bezweifelt, dass die Regierung und Militär den
Mut hätten, auf die Guerillakriegsführung ihrer Feinde mit gleichen Mitteln zu antworten:
„Our military – which is court-martialing an Army lieutenant colonel who fired his pistol
into the air to scare an Iraqi suspect into divulging details of an imminent attack – may
simply be too Boy Scoutish for the rougher side of a dirty war. Iraqis who suffered under
Saddam Hussein’s tyranny likely feel no such compunctions.“755
Wie das oben angeführte Bild der mit einer Hand auf dem Rücken kämpfenden Demokratie
bereits zeigt, schienen viele BürgerInnen zu akzeptieren, dass die asymmetrische Form der
Kriegsführung, der sich die USA nun ausgesetzt sahen, die Opferung alter Werte notwendig
mache, „[f]or a liberal democracy may not be ideally qualified to fight this war.”756 So fasste
etwa Ignatieff zusammen:
„Indeed, the whole logic of terrorism is to exploit the rules, to turn them to their own
advantage. If we hesitate to strike a mosque because the rules of war designate it as a
protected place, then the smart thing for a terrorist to do is to store weapons and suicide
belts there. If our forces start from the presumption that civilian women should be
treated as noncombatants, then terrorists will train women to be suicide bombers. If all
existing codes of warriors’ honor forbid the desecration of bodies, then it is not just
mindless brutality but actually a sound terrorist tactic to drag contractors from a car in
Falluja, set them alight and display their severed and burned limbs from a bridge.“757
Dabei ließen viele norm challengers keine Zweifel daran, dass die Abwägungsentscheidungen,
die den kriegsführenden Vereinigten Staaten aufgezwungen worden seien, ein keinesfalls
begrüßenswerter Zustand seien. Vielmehr teilten sie häufig ausdrücklich die moralischen
Bedenken ihrer GegnerInnen:
„There is no easy answer to the thorny issue of interrogation involving the application of
torture. From a moral and legal perspective, the answer would seem to be a clear-cut no,
don’t do it. (…) But in the harsh world of transnational terrorism, the reality is far from
black and white. As one terrorism expert recently wrote, intelligence is the key weapon
against global terrorism, but intelligence does not come cheaply (…). Civilized or not,
states may be required to engage in such actions if the threat of transnational terrorism –
with its current predisposition for mass casualties – is to be contained or averted.“758
Der Zwang, abwägen zu müssen verbiete es, die Augen vor solch einer Abwägung zu
verschließen, die letztendlich eine zwischen einigen Werten der US-amerikanischen Identität
auf der einen und dem Überleben des gesamten politischen Systems und seiner Ideale auf der
755
756
757
758
Boot, Max 2003: The Lessons of a Quagmire, in: New York Times, 16.11.2003.
Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.08.2002.
Ignatieff, Michael 2004: Lesser Evils, in: New York Times, 02.05.2004.
Smith, Paul J. 2002: Transnational Terrorism and the al Qaeda Model: Confronting New Realities, in:
Parameters, Sommer 2002.
– 204 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
anderen Seite sei: „When our nation is again secure, so too will be our principles”, vermutete
das Wall Street Journal,759 während John Ashcroft deutlich machte, dass es manchmal nötig
sei, Werte einzuschränken, um sie insgesamt zu schützen:
„Those who believe Americans – and American liberties – had adequate protection on
September 11, 2001 are seeking to roll back our defenses of the past year. We cannot risk
damaging the security of the United States by publicizing the names of those detained in
our investigation, or by allowing the potential release of individuals (…). These actions
[die eben genannten Handlungen zu verbieten, SoSchi] may be advocated in the name of
American liberty; but they do not, in my judgment, advance the cause of liberty. For
liberty is not Abraham Lincoln’s feared ‚inherent weakness’ for which we must die, on
the contrary, liberty is the eternal strength for which we must fight and for which we
must prevail. And fight to secure liberty we will. In Congress, in the courts and in the
media, we must defend our ability to prevent terrorism, to preserve freedom, and to
protect the American people.“760
Der „folterbare” Terrorist als neues Menschenbild
„They (…) are led to believe that the people they are torturing
belong to an inferior race or religion. For the meaning of these
pictures is not just that these acts were performed, but that
their perpetrators apparently had no sense that there was
anything wrong in what the pictures show.” 761
Am Beginn dieses Unterkapitels stand die Feststellung, dass dem Folterdiskurs in den USA die
Prämisse zu Grunde lag, die Anschläge vom 11. September hätten den Beginn eines
Ausnahmezustandes markiert, währenddessen die Bürgerrechte neu justiert werden müssten.
Damit verknüpft ist auch die (selten explizierte) Annahme, dass lediglich ausländische
Terroristen gefoltert werden sollten, nicht jedoch andere Straftäter oder US-amerikanische
StaatsbürgerInnen:
„The image in the public’s mind was one of Osama bin Laden or his top henchmen in leg
irons and stubbornly withholding knowledge of future attacks. Few had in mind the
torture of innocent subjects.”762
Es ist auffällig, dass die von den USA Festgehaltenen gar nicht mehr als „Gefangene“
bezeichnet wurden:
„Those held in the extralegal American penal empire are ‚detainees’; ‚prisoners,’ a newly
obsolete word, might suggest that they have the rights accorded by international law and
the laws of all civilized countries.“763
Dass hier also keine normalen Gefangenen verhört wurden, sondern Menschen, deren
einziger Inhaftierungsgrund das „Gewinnen“ von Informationen war – was natürlich einen
anderen Umgang mit ihnen erforderlich machte – wurde auch von offizieller Seite zugegeben:
759
760
761
762
763
Winik, Jay 2001: Security comes before Liberty, in: Wall Street Journal, 23.10.2001.
Ashcroft, John 2002: Remarks of Attorney General John Ashcroft, U.S. Attorneys Conference, New York
City, October 1, 2002.
Susan Sontag über die Folterer von Abu Ghraib: Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in:
New York Times, 23.05.2004.
Lewis, Neil A. 2004: Ashcroft Says the White House Never Authorized Tactics Breaking Laws on Torture,
in: New York Times, 09.06.2004.
Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004.
– 205 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„Their detention condition is in the context of ongoing strategic interrogation [and ] under the
circumstances, we consider their detention to be humane.” 764
Auch in der öffentlichen Debatte hatte sich die Annahme durchgesetzt, man könne und
müsse zwischen normalen US-amerikanischen StraftäterInnen und „informationsbeladenen“
Terroristen unterscheiden, was insbesondere in der bereits ausführlich zitierten PIPAUmfrage zum Ausdruck kommt: Hier hatten sich ohne, dass ein spezielles Szenario vorgelegt
worden war, 30% der Befragten für physische, 41% für psychische und 48% für die
Androhung psychischer Folter ausgesprochen (s. S. 174 der Arbeit) – stellte man die gleiche
Frage mit dem Hinweis, dass US-amerikanische Verdächtige betroffen sein würden, sanken
die Zustimmungsraten rapide auf nunmehr fünf, sechzehn bzw. neunzehn Prozent ab.765
Diese Schieflage kann nicht nur als deutlicher Hinweis dafür gewertet werden, dass viele
Befragten islamistisch motivierte Gewalttaten (fälschlicherweise) ausschließlich als Bedrohung
von außen wahrnahmen, sondern auch darauf, dass sich hier die Konstruktion eines neuen
Menschenbildes abzeichnete: Das Erpressen wichtiger Informationen schien moralisch
unbedenklicher, wenn es sich bei den Opfern um ausländische Verdächtige handelte, deren
Hinwendung zum Terrorismus islamistischer Prägung Grund genug dafür war, ihnen nicht die
Rechte zugestehen zu wollen, von denen „normale“ US-amerikanische VerbrecherInnen
weiterhin profitieren sollten:
„The reality is that these ‚detainees’ [who kill and torture in the name of Allah] represent
nothing more than an army of conquered cowards who deserve only to be treated as
dangerous killers.“766
Letztlich steht hinter dieser Überlegung der (meist unausgesprochene) Gedanke, Menschen
könnten ihre natürlich gegebenen Rechte doch verwirken, indem sie sich zu Straftaten
herabließen, deren Logik allen fundamentalen Überzeugungen (westlichen) Rechts
zuwider lief:
„The authors of the Geneva Convention had no idea of future wars that could be
launched by people with no allegiance to legal norms and who are committed to
resuming their violent acts as soon as they are set free. A new definition will have to be
found.“767
764
So Colonel Marc Warren, einer der höchsten Militärjuristen des Pentagon, in einem Brief an das IKRK,
zitiert nach: Jehl, Douglas/Lewis, Neil A. 2004: U.S. Military Disputed Protected Status of Prisoners Held in
Iraq, in: New York Times, 22.05.2004 (Herv. SoSchi). Vgl. ähnlich Rumsfeld: „…there is a difference in this
sense that the high-value targets become much more interesting from the standpoint of the interrogation
process, whereas a simple low-level person is simply being kept off the street for a period.” US-Kongress
765
766
767
2004: Operations and Reconstruction Efforts in Iraq, Hearing des Committee on Armed Services des
Repräsentantenhauses, 07.05.2004.
S. Program on International Policy Attitudes 2004: Americans on Detention, Torture and the War on
Terrorism, in: Pipa Papers Juli 2004.
Leserbrief von Rizo, Tom 2002: Prisoners don’t deserve special handling, in: USA Today, 17.01.2002.
Mahmood, Elahi 2002: Change POW laws – or the designations, in: USA Today, 20.02.2002.
– 206 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
So erkannte auch ein Rezensent der NYT, dass „Dershowitz argues stridently against the
proposition that rights are God-given absolutes”. 768 Zwar fanden sich solche Aussagen primär
bezüglich der Gefangenen in Guantanamo („Let’s not forget the kind of people we have down
there. These are the people that don’t know any moral values.”),769 die Logik verwirkter
Menschenrechte gipfelte jedoch in der vielzitierten Aussage Senator Inhofes, auch die
offensichtliche Misshandlung der Gefangenen in Abu Ghraib dürfe nicht überbewertet
werden, die Insassen seien schließlich „probably guilty of something”:
„The idea that these prisoners – you know, they’re not there for traffic violations. If
they’re in cell block 1-A or 1-B, these prisoners, they’re murderers, they’re terrorists,
they’re insurgents. Many of them probably have American blood on their hands. And
here we’re so concerned about the treatment of those individuals.“770
Ebenfalls hauptsächlich mit Bezug auf die Geschehnisse in Abu Ghraib wurde versucht, die
Handlungen US-amerikanischer SoldatInnen zu relativieren, indem auf die weit häufigeren
und schlimmeren Menschenrechtsverletzungen in arabischen Staaten verwiesen wurde,771 die
gerade die irakischen Insassen von Abu Ghraib gewohnt seien, weshalb sie die
Misshandlungen als weniger schlimm einstufen würden, als die US-amerikanische
Öffentlichkeit.772 Hier steht also die Annahme, für BürgerInnen arabischer Staaten seien
Menschenrechtsverletzungen eher etwas Alltägliches im Zusammenhang mit der konträr zur
Argumentation der FoltergegnerInnen liegenden und ebenfalls selten direkt geäußerten
Einstellung, die USA müssten sich als westliche Demokratie nicht vom Handeln autoritärer
Nationen positiv abgrenzen und könnten sich durchaus wie eine „drittklassige
Westentaschendiktatur” verhalten.773
Letztlich, so bemerkten insbesondere einige AutorInnen von Leserbriefen, würde man
den Gefangenen auch so schneller zum gewünschten Märtyrertum verhelfen: „I say let them
768
769
Waldron, Jeremy 2002: The Great Defender, in: New York Times, 03.02.2002.
General Myers zitiert in einem Editorial der New York Times mit dem Titel „Abu Ghraib, Caribbean Style ”,
erschienen am 01. Dezember 2004. Vgl. ähnlich Ashcroft: „a significant number of the approximately 600 of
them [den Insassen in Guantanamo] are brutal terrorists. And because of the way they are working with them,
we’re getting a lot of very important and useful information.” Zitiert nach: Ashcroft, John 2004: Statement
770
771
772
773
of John Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight
of the Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006.
Editorial der New York Times vom 12. Mai 2004 mit dem Titel „The Abu Ghraib Spin ”. Für das folgende
Zitat: Inhofe, James M. 2004: Transcript of Senator Inhofe’s Remarks at the 05/11/2004, Senate Armed
Services Hearing on Iraqi Prisoner, Treatment (Panel 1).
Vgl. etwa Acaster, David V. 2004: The President and the War: American Voices, in: New York Times,
26.05.2004: „Nicholas D. Kristof (column, May 22) says that ‚we are as appalled by our own war crimes as by
Saddam’s.’ I am appalled that Mr. Kristof could possibly equate the cruel mischief inflicted by a dozen or so
misguided, poorly trained soldiers with the horrible torture, poison gas deaths and countless other murders
that Saddam Hussein is guilty of. Let’s get some sense of perspective on this issue.”
Vgl. etwa den Leserbrief von Mark Bierman mit dem Titel „Lesser Evils ”, erschienen am 16. Mai 2004 in
der New York Times: „There are a lot of Iraqis who are probably not shocked by this prisoner abuse scandal
nearly as much as we are. In their world, this is pretty much the way you do business.”
Vgl. das Zitat auf S. 197 der Arbeit.
– 207 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
(…) go to Allah as the emaciated, soulless killers that they are.”774 Auf diese Weise könne man
auch die Kosten der Lager in Guantanamo einsparen, bemerkte ein anderer Leser: „We should
have let them starve and granted them their martyrdom. It would have been a lot cheaper for
us.” Schließlich spiegelte sich die Annahme, Menschenrechte seien doch veräußerlich, auch in
der Forderung, die Bestimmungen etwa der Genfer Konventionen nur noch reziprok
anzuwenden und im Sinne eines tit for tat Bestimmungen des Kriegsrechts im Umgang mit
neuartigen Gegnern außer Kraft zu setzen:
„Instead of repudiating its own lawyers, Bush officials would be better off explaining that
what they are trying to do is the very difficult and complicated business of protecting a
free society that believes in the rule of law from terrorists who belief in neither.“775
In die gleiche Richtung wies die früh geäußerte Forderung eines ehemaligen
Geheimdienstagenten nach dem Einsatz von Spezialeinheiten statt Bodentruppen in
Afghanistan, da normale SoldatInnen auf die brutalen Kampfmethoden der Taliban nicht
vorbereitet seien, während solche mit spezieller Ausbildung „are fearless and not afraid to die.
Their justice is very quick and very brutal. Forget the rules of the Geneva Convention.”776
Wiederum gewann Alberto Gonzales dieser Argumentation eine weitere Wendung ab, indem
er darauf hinwies, eine Anwendung der Genfer Konventionen auf Terroristen würde diese
Rechtsakte entwerten:
„To confer the special privileges of POW status upon terrorists would reward those who,
by hiding among civilian populations, undermine the convention’s basic objective of
protecting innocent citizens, and it would only encourage terrorists to continue to violate
the laws of war.“777
Der Kerngedanke vieler FolterbefürworterInnen, bei den Gefolterten würde es sich nur um
ausländische Terroristen handeln, die ihr Anrecht auf Folterfreiheit durch ihre Taten bzw.
bösen Absichten verwirkt hätten, fand also insofern eine juristische Entsprechung, als das
Aussetzen des Rechts auf Folterfreiheit auch nur solche Personen betreffen sollte.
Euphemisms all the way down: Ent-Totemisierungspraxis und das Vernehmen von „high
value targets”
Beide bisher skizzierten Überlegungen – dass Folterungen aufgrund der Umstände ihrer
Anwendung wie auch der Personen, bei denen sie angewandt würden, weniger unmoralisch
seien – spiegelten sich in der beinah durchgängigen Verwendung verschiedenster
774
775
776
777
Leserbrief von Truskey, Mark 2002: Guantanamo turban strike sign of religious double standard, in: USA
Today, 07.03.2002. Andere Leser zeigten sich empört über Kritik, die von den Alliierten der USA an den
Haftbedingungen in Guantanamo geäußert worden war. So hatte der Economist diese als ”unworthy of a
nation which has cherished the rule of law from its very birth.“ bezeichnet: The Economist 2003: Why
America should shut down the Guantanamo prison camp, 08.05.2003.
Editorial des Wall Street Journal mit dem Titel „Tortured Arguments” vom 25. Juni 2004.
Zitiert nach: Hale, Ellen 2001: Ex-commando warns of Afghanistan perils, in: USA Today, 02.10.2001.
Gonzales, Alberto 2004: Terrorists are different, in: USA Today, 10.06.2004.
– 208 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Euphemismen, die denjenigen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Stichwort: „Dritter Grad“)
in nichts nachstanden.
Wie anhand der bisher angeführten Zitate vielleicht schon deutlich geworden ist, wurden
(potentielle) Folteropfer qua Sprache zum Einen „versachlicht“ und zum Anderen zu
Unmenschen erklärt – und damit doppelt torturable. Die erste Kategorie von Begriffen zur
Umschreibung von Terroristen findet sich hauptsächlich in Dokumenten der Regierung und
des Militärs, in denen v.a. von „high value targets”778 oder auch von Gefangenen mit „high
intelligence value ” die Rede war.779 Die zweite Kategorie, die im Gegensatz zur
Versachlichung eher auf eine Brutalisierung der Opfer ausgerichtet war, wurde meist in
Leserbriefen aber auch in der Kommunikation der Verantwortlichen in US-Gefangenenlagern
verwendet, wobei die Bezeichnung der Inhaftierten als „the worst of a very bad lot” oder auch
einfach als „SOBs” den Verhörenden auch eine Distanzierung von ihren Opfern und damit
vom grausamen Umgang mit ihnen erleichtert haben dürfte.780
Weit häufiger als die Verwendung von Euphemismen für Folteropfer lässt sich eine
Umschreibung der Folterpraxis als solcher feststellen, wobei auch hier versachlichende und
brutalisierende Begriffe unterschieden werden können. So wurde in Memos verlangt, „[to] set
favorable conditions for successful interrogation and exploitation of internees ”,781 was – schon
etwas deutlicher – hieß, dass „the gloves came off”782 und es AgentInnen und
VerhörspezialistInnen erlaubt wurde, „to soften prisoners up”783 bzw. „to exert pain control”,
wie im Falle Abu Zubaidahs, dem trotz mehrerer Schusswunden Schmerzmittel verwehrt
wurden.784 Dem stand wiederum eine eher von Verrohung geprägte Sprache gegenüber, mit
der z.B. ein Agent bezüglich der Verschickung der Gefangenen in Drittländern angab, dass
„[w]e don’t kick the (expletive) out of them. We send them to other countries so they can kick
778
779
780
781
782
783
784
So bezeichnete sie etwa Donald Rumsfeld in einem Kongress-hearing : US-Kongress 2004: Operations and
Reconstruction Efforts in Iraq, Hearing des Committee on Armed Services des Repräsentantenhauses.
So etwa ein Verhörspezialist im Irak: Vincent Cannistraro zitiert nach: Willing, Richard/Diamond, John
2004: U.S. interrogators face ‚gray areas’ with prisoners, in: USA Today, 13.05.2004: „That’s how we got
Saddam. High-value targets (…) get squeezed hard immediately. No broken bones (…) but just about
anything goes.”
Zitiert in: Golden, Tim/Natta, Don van 2004: U.S. Said to Overstate Value Of Guantanamo Detainees, in:
New York Times, 21.06.2004 bzw. in: Alter, Jonathan 2001: Time to think about torture. It’s a new world,
and survival may well require old techniques that seemed out of the question, in: Newsweek, 05.11.2001.
„SOB” steht für „ son of a bitch” .
Donald Rumsfeld in einem Kongress-hearing vom 05. Juli 2004: Ashcroft, John 2004: Statement of John
Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the
Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006.
Cofer Black, damaliger Leiter des Counterterrorist Center der CIA, zitiert nach: Priest, Diana/Gellman,
Barton 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress and Duress’ Tactics Used on
Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post, 26.12.2002.
Vgl. etwa Glanz, James 2004: Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works, in: New York
Times, 09.05.2004.
Vgl. etwa Natta, Don van 2003: Interrogations: Questioning Terror Suspects In a Dark and Surreal World,
in: New York Times, 09.03.2003.
– 209 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
the (expletive) out of them ”,785 während ein anderer zugab, ein „more assertive approach”786 in
Verhören bedeute für ihn „[to] kick them around a little bit in the adrenaline of the immediate
aftermath [ihrer Gefangennahme, SoSchi].”787 Auch die Regierung verwendete in öffentlichen
Statements alle erdenklichen Umschreibungen von Folterungen: „I’m not going to address the
‚torture’ word”, betonte etwa Donald Rumsfeld im Hinblick auf die Misshandlungen in Abu
Ghraib, die er – wie auch ein Großteil aller anderen DiskursteilnehmerInnen – als
„abuses” bezeichnete.788
Mit der Verwendung des Wortes „Misshandlungen“ sollte jedoch nicht nur klar gemacht
werden, dass es sich hier nicht um Folterungen handelte, sondern auch, dass die angewandten
Methoden nicht vom Katalog derjeniger Maßnahmen gedeckt waren, welche die Regierung im
Kampf gegen den Terrorismus (intern) als unabdingbar anerkannt hatte und die sie nach dem
Abu Ghraib-Skandal – wenn sich in einer Fragesituation überhaupt keine andere
Ausweichsituation mehr bot – auch öffentlich benannte. Das Umdefinieren bestimmter
Verhörmethoden als Nichtfolter hatte jedoch auch schon früh im öffentlichen
Diskurs eingesetzt:
„Gathering intelligence is clearly crucial to the entire war on terror. Long before the
invasion of Iraq, voices here and there began to ask about the legitimacy of torture,
sometimes treading a fine line where it is hard to tell whether the aim is to uphold a
moral precept or undermine it. It became imperative to define what constituted, in
government talk, ‚aggressive interrogation’ or ‚exceptional techniques’ and what was, in
blunt talk, torture.“789
Einige FoltergegnerInnen versuchten zwar, dieses Schaffen einer neuen Kategorie gedanklich,
sprachlich und moralisch ebenso wie juristisch zulässiger Verhörmethoden zu verhindern,
785
786
787
788
789
Zitiert nach: Umansky, Eric 2004: Only photos made story of abuse front-page news, in: USA Today,
17.05.2004.
Bravin, Jess 2004: Pentagon Report Set Framework for Use of Torture. Security or Legal Factors Could
Trump Restrictions, Memo to Rumsfeld Argued, in: Wall Street Journal, 07.06.2004.
Zitiert nach: Priest, Diana/Gellman, Barton 2002: U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations; ‚Stress
and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, in: Washington Post,
26.12.2002.
Zitiert nach: Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New York Times, 23.05.2004. Auch
in diesem Text ist in Bezug auf Abu Ghraib häufig von „Misshandlungen“ die Rede, was nicht nur auf den
Unwillen zurückzuführen ist, immer die gleichen Begriffe zu verwenden, sondern auch der Tatsache
geschuldet ist, dass noch nicht sicher festgestellt werden konnte, ob diese Handlungen tatsächlich unter eine
enge Definition von Folter fallen, d.h. staatlich angeordnet waren und dem Ziel der
„Informationsgewinnung“ dienten – auch, wenn dies nach den Recherchen Seymour Hershs sehr
wahrscheinlich erscheint.
Steinfels, Peter 2004: The ethical questions involving torture of prisoners are lost in the debate over the war
in Iraq, in: New York Times, 04.12.2004. Die Interpretation des Autors bezüglich des Ziehens dieser neuen
Linie verweist wiederum auf den Versuch dieser DiskursteilnehmerInnen, ihr positives Selbstbild zu
wahren: „In even the most morally unsophisticated forms of popular storytelling, it is certainly not violence
in itself, not even killing, that unmistakably separates good guys from evil ones. It is torture. Heroes may kill;
villains torture – Nazi commanders, soulless drug dealers, despots on this planet or in outer space. In debates
among contemporary ethicists about the notion of acts that qualify as ‚intrinsically evil’, torture has always
been a prime candidate. Within Roman Catholicism, the discussion of intrinsic evils has recently focused on
abortion and euthanasia. But when Pope John Paul II weighed in on the question in his 1993 encyclical ‚The
Splendor of Truth’, the list of other actions he described as evil ‚in themselves, independently of
circumstances’ included, along with genocide and slavery, ‚physical and mental torture.’”
– 210 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
indem sie darauf hinwiesen, dass jegliche solcher Praxen unmoralisch und rechtlich verboten
seien790 und entsprechende Wortspiele deshalb unterlassen werden sollten:
„…we are told, military police officers at Abu Ghraib were encouraged to treat the
prisoners so as to create ‚favorable conditions’ for interrogations. What does this mean?
Give the prisoners English lessons? New clothes? Come on. In any bureaucracy, orders
or clearance to do something beyond the law always comes in code.“791
Dies gelte auch für einzelne Foltermethoden, die unter die neu zu schaffende NichtfolterKategorie fallen sollten, wie etwa „Sleep management” („After being kept awake for a hundred
hours or so, almost anybody will confess to almost anything ”), „Water-boarding ” („This, as we
now know, does not involve water skis, but holding prisoners under water for long enough that
they think they are drowning “) oder das Verharren in „stress positions“,792 wie es von
offizieller Seite bezeichnet wurde: „The detainees were purposefully and carefully put under
stress, to include sleep deprivation, in order to facilitate interrogation; they were not tortured ”,
hatte ein militärinterner Bericht über den Umgang mit Gefangenen vor der Aufdeckung der
Misshandlungen in Abu Ghraib festgestellt.793 „Unfortunately ” notierte ein Verhörspezialist in
Abu Ghraib später in sein Tagebuch, „a prisoner can get too stressed out and die.”794
Bei ihrer Suche nach Lücken in rechtlichen Folterverboten hatten diverse Memo-Autoren
jedoch schon früh versucht, nur noch eine extrem begrenzte Kategorie von Methoden
wirklich als „Folter“ zu bezeichnen. So sei dieser Begriff z.B. nur einschlägig, wenn die
zugefügten Schmerzen „equivalent in intensity to the pain accompanying serious physical
injury, such as organ failure, impairment of bodily function, or even death ” seien.795 Vor dem
Hintergrund ernsthafter Versuche, juristische Definitionen bis zur Unkenntlichkeit zu
verdrehen wurde es zum Problem, dass u.a. in der UN-Antifolterkonvention gerade keine
abschließende Definition, sondern nur Beispiele gegeben werden, welche Methoden als
Folterungen eingestuft werden müssen (s. S. 106 der Arbeit), was wiederum den früheren
Chef der Counterterrorism-Abteilung der CIA zu der Aussage veranlasste, dass „Force and the
threat to use it have always been something of a gray area. The gray areas have expanded
since 9/11.” 796
790
791
792
793
794
795
796
Vgl. etwa den Leserbrief Roth, Kenneth 2004: Torture, Terror, and the Law, in: New York Times,
19.05.2004. „…the techniques authorized by the Bush administration – like stripping detainees naked and
subjecting them to prolonged hooding, sleep deprivation and painful positioning – are clearly
unconstitutional. These interrogation methods make a mockery of Mr. Gonzales’s vow of ‚humane’ treatment.”
Hochschild, Adam 2004: What’s in a Word? Torture, in: New York Times, 23.05.2004.
Hochschild, Adam 2004: What’s in a Word? Torture, in: New York Times, 23.05.2004.
Zitiert nach: Reuters 2004: Iraqi Journalists Report Abuse As Detainees in U.S. Hands, in: New York
Times, 18.05.2004.
Staff Sagent Ivan Frederick zitiert nach: Sontag, Susan 2004: Regarding The Torture Of Others, in: New
York Times, 23.05.2004.
Memo von Jay Bybee an Alberto Gonzales mit dem Titel „Re: Standards of Conduct for Interrogation
under 18 U.S.C. §§ 2340-2340A“ vom 01. August 2002, abgedruckt in: Danner, Mark 2004: Torture and
Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York, S. 115-166, hier S. 115.
Vincent Cannistraro zitiert nach: Willing, Richard/Diamond, John 2004: U.S. interrogators face ‚gray areas’
with prisoners, in: USA Today, 13.05.2004.
– 211 –
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Um Licht in diese Grauzonen zu bringen, erschien es schließlich auch vielen
NormbefürworterInnen wichtig, genau zu definieren, welche Verhörmethoden klar illegal
(sprich Folterungen) und welche rechtlich vertretbar (neue Zusatzkategorie) seien:
„…we need more discussion about where and by whom the line should be drawn
between permissible aggressive interrogation techniques, and when interrogation
becomes torture and whether torture is ever justified.“797
Zwar wiesen einige strikte FoltergegnerInnen darauf hin, dass die US-Regierung ebensowenig
ein Anrecht auf die Auslegung internationalen Rechts (wie etwa der Genfer Konventionen)
habe, wie auf die Entscheidung, was genau als Folter bezeichnet werden sollte und was nicht:
„The assumption in much of the rest of the world is that we are using torture. When we
wink about what we’re doing, or try to play games with definitions, we hurt ourselves in
the world. We know when what we’re doing is torture or not.“798
Aber trotz des Beharrens gerade auch vieler Menschenrechts-NGOs auf dem Grundsatz, dass
„[t]here is no such thing as acceptable torture”, bildete sich im Verlauf der Debatte doch eine
immer größere Akzeptanz dieser „Ausweichkategorie“ von Verhörmethoden kurz unter der
Folterschwelle heraus.799 Parallel zu den beiden Annahmen, man könne bzw. müsse zwischen
rechtlichen Standards in „normalen“ und Krisensituationen sowie „normalen“ Menschen und
gefährlichen Terroristen unterscheiden, bildete sich also ein dritte – und wohl am weitesten
akzeptierte – heraus, nach der es „wirkliche“ Folter und legale Methoden unterhalb dieser
Schwelle geben sollte.
Hierzu sei der Kommentar erlaubt, dass es tatsächlich schwierig erscheint, immer zu
unterscheiden, wann genau die Schwelle zu Folter oder auch „nur“ unmenschlicher
Behandlung überschritten wird. Allerdings sollte sich vor dem Hintergrund eines bestehenden
Tabus diese Frage normalerweise überhaupt nicht stellen bzw. als zynisch und unangebracht
erscheinen (wie es bereits im 17. Jahrhundert bei den Pariser Richtern der Fall war, die die
erlaubten Folterarten nicht aufzählen wollten, s. S. 92 der Arbeit). War das Denkverbot aber
erst einmal gebrochen, so dass man sich über möglicherweise angemessene Foltermethoden
ungestraft und laut Gedanken machen durfte oder dies sogar erwünscht war, wurde es nahezu
unausweichlich, einen Blick in die nun geöffnete Büchse der Pandora zu werfen und zu
entscheiden, welche Methoden man „herausnehmen“, also legalisieren und welche man darin
belassen, möglicherweise sogar weiterhin tabuisieren wollte. Letztlich war in den USA also
nicht nur der Bruch eines Schweigetabus und Denkverbotes zu beobachten, sondern auch
eine Ent-Totemisierung von Folterhandlungen, indem mit der Einführung neuer Kategorien
wie torture lite nicht mehr alle diese Praxen hinter dem Schleier des Tabus verborgen blieben
797
798
799
Senator Hatch in einem Kongress-hearing am 08. Juni 2003: Ashcroft, John 2004: Statement of John
Ashcroft, Attorney General, before the Committee on the Judiciary United States Senate Oversight of the
Department of Justice, Terrorism and Other Topics, 08.06.2006.
Tom Malinowski, Rechtsberater bei Human Rights Watch , zitiert nach: Diamond, John/Locy, Toni/Willing,
Richard 2003: Interrogation is tough but not torture, in: USA Today, 06.03.2003.
Vgl. Kaplan, Robert D. 2005: Hard Questions, in: New York Times, 23.01.2005.
– 212 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
und es als notwendig anerkannt wurde, sich über eine Enttabuisierung einiger dieser
Handlungen Gedanken zu machen.800
Frontalangriffe: Das Foltertabu als irrationale Konstruktion, die Folterdiskussion als
irrationale Antwort
Führte die Ent-Totemisierung von Foltermethoden und der damit weiter gestärkte Vorwurf
der FolterbefürworterInnen, man könne sich nicht mehr legitim auf die Extremposition einer
totalen Ablehnung von Folter zurückziehen, unbewusst zu einer weiteren Erosion des
Foltertabus, so gab es auch einige direkte Angriffe von NormgegnerInnen auf die
Tabuisierung von Folter. So wurde argumentiert, es sei unsinnig, das Foltern von Terroristen
strengstens untersagen zu wollen, wenn man diese legitimerweise bombardieren dürfe; auch
außerhalb des Kriegsrechts sei unverständlicherweise zwar als letztes Mittel die Tötung erlaubt
(Stichwort: finaler Todesschuss), nicht aber „nicht-letale“ Folter.801 Insbesondere Dershowitz
tat sich bei dieser „Irrationalisierung“ des Foltertabus hervor, indem er darauf hinwies, dass es
unlogisch sei, rechtlich angeordnete Folterungen affektartig abzulehnen, gleichzeitig aber die
Todesstrafe zu befürworten. Grund hierfür sei lediglich, dass „[r]aising the issue of torture
makes Americans think about a brutalizing and unaesthetic phenomenon that has been out of
our consciousness for any years”,802 woraus er wiederum schloss, dass „[i]n the end, absolute
opposition to torture – even non-lethal torture in the ticking-bomb-case – may rest on historical
and aesthetic considerations than on moral or logical ones.” Die Bevölkerung könne, ja müsse
sich also erst daran gewöhnen, Folter als positives Mittel anzusehen, das helfe, Leben
zu retten.803
Allerdings argumentierten nur recht wenige FolterbefürworterInnen auf diese Weise –
und ähnlich selten waren Vorwürfe auf Seiten der FoltergegnerInnen zu hören, die Diskussion
um die Legalisierung von Folter entbehre eines rationalen Kerns und sei nur den
vorherrschenden Gefühlen der Angst nach den Anschlägen, des Hasses auf die Täter sowie
der Frustration darüber geschuldet, sich vor den Angriffen eines gesichtslosen Feindes kaum
schützen zu können. Noch kurz nach den Anschlägen war vor solch blindem Aktionismus
gewarnt worden:
800
801
802
803
Im Unterschied zum Prozess der Ent-Totemisierung beim nuklearen Tabu ist im Fall des Folterverbots
jedoch erneut darauf hinzuweisen, dass, wie auf S. 212 der Arbeit bereits angeführt, das Foltertabu nicht um
einen Totem-Gegenstand gebildet wurde (wie es auch einige andere Eigenschaften eines Totems wie etwa
das Vorhandensein von Hohepriestern, nicht aufweist) sondern hier vielmehr alle Handlungen einer Art
tabuisiert wurden.
Vgl. Ignatieff, Michael 2004: The Lesser Evil. Political Ethics in an Age of Terror, Edinburgh, S. 139.
Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the Challenge,
New Haven, S. 149.
Dershowitz, Alan D. 2002: Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Responding to the
Challenge, New Haven, S. 148.
– 213 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„Two months into the war against terrorism, the nation is sliding toward the trap that we
entered this conflict vowing to avoid. Civil liberties are eroding, and there is no evidence
that the reason is anything more profound than fear and frustration. We trust the Bush
administration is not seriously considering torture – an idea that seems more interesting
to radio talk shows and columnists than to government officials.“804
Die hier noch geäußerte Hoffnung, die Normerosion könnte aufgehalten werden hat sich –
auch und gerade durch eine für die unbedingte Gültigkeit der Norm ungünstige
Debattenführung auf beiden Seiten – nicht erfüllt: „It is clear that this taboo has been
significantly eroded.” 805
6.1.4 Empiriefazit: Erosion ja, aber wie?
Vor dem Hintergrund der bisher gemachten Aussagen über Verlauf, Akteurspositionen und
Argumentationen soll nun zusammenfassend bewertet werden, inwiefern das Foltertabu – im
Sinne der zuvor aufgestellten Kriterien – „Opfer“ einer Normerosion geworden ist und
welches die wichtigsten Gründe für diesen Prozess waren.
Am Ende von Kapitel 5.1 wurden als tabutypische Hauptkriterien für eine Erosion zum
Einen der Versuch einer Akteursgruppe genannt, öffentlich eine ernsthafte Diskussion über
den Bruch des Tabus – in diesem Fall also die Legitimierung von Folterungen – zu beginnen
(1) und zum Anderen eine Veränderung der Debattenstruktur, nach der eine argumentative
Positionierung für den Bruch des Tabus als rationale Diskursposition anerkannt würde (2).806
Wie oben gezeigt, sind diese beiden Kriterien von der Debatte um das Foltertabu in den USA
in den letzten fünf Jahren klar erfüllt worden – allerdings in beiden Punkten mit durchaus
überraschenden Aspekten.
So hätte man bezüglich des erstgenannten Kriteriums erwarten können, dass gerade die
US-Regierung ein Interesse an einer solchen Diskussion gehabt, diese vielleicht sogar
angestoßen oder vorangetrieben hätte. Auf diese Weise hätte sie – öffentlich legitimiert –
ihren Handlungsspielraum im Umgang mit den ihr Land bedrohenden, neuen politischen
Akteuren auf Kosten der bestehenden Normen ausweiten können – denn dass viele
Regierungsmitglieder spätestens ab dem Jahr 2002 den dringenden Bedarf sahen, ihren
Handlungsspielraum (sprich: die Auswahl erlaubter Verhörmethoden) auf Kosten der Norm
auszuweiten, ist durch die internen Memoranden hinreichend belegt. Dafür, dass die
FolterbefürworterInnen innerhalb der Regierung und Administration ihre Bestrebungen
geheim hielten, sind mehrere Gründe denkbar: Erstens wäre es möglich, dass sie davon
ausgingen, ein Großteil der Bevölkerung würde den offensiven Umgang mit dem Thema
Folter, bzw. torture lite weiterhin als nicht akzeptabel empfinden. In diesem Fall hätte die
804
805
806
Editorial der New York Times mit dem Titel „Disappearing in America”, erschienen am 10.
November 2001.
Allen, Jonathan 2005: Warrant to Torture? A Critique of Dershowitz and Levinson, in: ACDIS Occasional
Paper 2005: 1, S. 1.
Vgl. S. 179 der Arbeit.
– 214 –
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Regierung die einsetzende Erosion des Tabus durch die bereits laufenden öffentlichen
Debatten unterschätzt und ein window of opportunity ungenutzt verstreichen lassen. Zweitens
ist denkbar, dass die Regierung negative Reaktionen ihrer europäischen und islamischgeprägten Alliierten befürchtete, welche die Auffassung einer notwendigen Einschränkung der
Norm vor dem Hintergrund neuer weltpolitischer Gegebenheiten offensichtlich nicht teilten.
Einerseits hätte die Regierung mit dieser Einschätzung zwar wahrscheinlich Recht behalten,
wie der Skandal um die vermuteten Gefangenenflüge und Geheimgefängnisse der CIA in
Europa gezeigt hat, andererseits ist hierbei unverständlich, warum sie auf solch absehbare
Reaktionen Rücksicht nehmen sollte, wenn sie gleichzeitig vor aller Augen und ungeachtet der
heftigen wie lautstarken Kritik eben jener Alliierten als unlawful combatants eingestufte
Gefangene nach Guantanamo Bay fliegen ließ.807 Schließlich ist es auch möglich, dass die
NormgegnerInnen
in
Regierung
und
Administration
davon
ausgingen,
ihren
Handlungsspielraum geheim in größerem Maße ausweiten zu können, als dies mit öffentlicher
Billigung möglich gewesen wäre (allerdings finden sich in den einschlägigen Memos keine
Hinweise darauf, dass solche Überlegungen angestellt worden wären) – in diesem Fall müsste
man tragischerweise dem norm challenger Dershowitz Recht geben, der genau diese
Entwicklung vorhergesagt hatte. Insgesamt bleibt in Bezug auf die Rolle der Regierung
festzuhalten, dass diese sich zum Einen vermutlich zumindest aus inneramerikanischer Sicht
geschickter verhalten hätte, wenn sie sich in den bereits laufenden Debatten einer gemäßigten
pro Folter-Position angeschlossen, also den (angeblich) begrenzten Einsatz von tortureliteMethoden offen befürwortet hätte, anstatt auf die (von AgentInnen als unwahrscheinlich
eingeschätzte) Geheimhaltung ihrer internen Regelungen und der Folterungen selbst zu
hoffen.808 Zum Anderen – und vor dem Hintergrund unserer Fragestellung wichtiger – war die
(eben geheime) non-compliance mit und interne Einschränkung der Norm letztlich nicht
ausschlaggebend für deren Erosion. Dieser Prozess wurde vielmehr von Debatten innerhalb
der Bevölkerung angestoßen, die die absolute Gültigkeit des Folterverbots als erste wieder in
Frage stellte und damit das mit dem Tabu einhergehende Denkverbot brach. Bei der EntTotemisierung von Folter stellen die hier bereits veröffentlichten Regierungsdokumente zwar
eine „Fundgrube“ für die Argumentation der FolterbefürworterInnen dar, wiederum spielte
sich jedoch die Debatte um die Akzeptierung einer neuen Kategorie von Foltermethoden v.a.
807
808
Da diese Überlegung jedoch auch immer wieder von den AutorInnen der Memos angestellt wurden, scheint
ihnen dennoch Beachtung geschenkt worden zu sein. Im Hinblick auf diese Frage hat es sich als Manko
erwiesen, allein US-amerikanische Quellen heranzuziehen und nicht auch Stellungnahmen der USamerikanischen Verbündeten zu berücksichtigen (was jedoch aus zeitlichen Gründen nicht möglich war).
Offensichtlich wurde auch innerhalb der Administration noch kurz vor dem Abu Ghraib-Skandal davon
ausgegangen, man könne die Geschehnisse tatsächlich verheimlichen, obwohl bereits einige
GeheimdienstagentInnen Zweifel geäußert hatten, dass dies im Irak möglich sei: „This was stupidity.
You’re taking a program that was operating in the chaos of Afghanistan against Al Qaeda, a stateless terror
group, and bringing it into a structured, traditional war zone. Sooner or later, the commandos would bump
into the legal and moral procedures of a conventional war with an Army of a hundred and thirty-five
thousand soldiers.” Zitiert nach: Hersh, Seymour 2004: The Gray Zone; How a secret Pentagon program
came to Abu Ghraib, in: The New Yorker, 25.05.2004.
– 215 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
in
der
Öffentlichkeit,
insbesondere
unter
RechtswissenschaftlerInnen
und
MedienvertreterInnen ab. Schließlich trug auch die öffentliche Diskussion maßgeblich zur
Verschiebung der Diskurspositionen hin zu einer Rationalisierung von Folter befürwortenden
und einer Entrationalisierung von Folter in jedem Fall verdammenden Standpunkt bei, wobei
im Verlauf der Debatte die insgeheim festgelegte Position der Regierung von Personen
außerhalb dieses politischen Kreises rationalisiert und legitimiert wurde (etwa von
SenatorInnen oder den HerausgeberInnen des Wall Street Journal). Im Sinn eines simplen
zweigeteilten Modells von Regierungssphäre und Öffentlichkeit wäre die Erosion des
Foltertabus also eher als bottom-up- denn als top-down-Prozess zu beschreiben.
Im Hinblick auf diese Verschiebung von als legitim angesehenen Diskurspositionen (und
damit (Punkt 2)) ist besonders interessant, dass im Verlauf der Debatte nicht nur
Argumentationen pro Folter als rational vertretbar anerkannt wurden, sondern auch die
Position einer ausnahmslosen und unbedingten Ablehnung von Folter (wie sie das
Völkerrecht
vorsieht)
zunehmend
irrationalisiert
wurde,
da
durch
argumentative
Konstruktionen wie das ticking bomb-scenario offen gelegt wurde, wie schwer es ist, eine letzte
Begründung für den Nichteinsatz von Folter aufrecht zu halten. Zu dieser Erkenntnis konnte
es jedoch überhaupt erst kommen, weil sich NormbefürworterInnen quer durch alle
Akteursgruppen auf eine Debatte mit ihren DebattengegnerInnen einließen, statt diese unter
Hinweis auf das Tabu abzublocken und zudem hauptsächlich letztendlich schwer
verifizierbare Kosten-Nutzen-Argumente gegen den Einsatz von Folter vorbrachten, statt auf
die Einhaltung grundlegender ethischer Standards zu pochen. So gesehen waren die
FoltergegnerInnen (natürlich unwissentlich und
Erosionsprozess des Foltertabus mitverantwortlich.
absichtlich)
für
den
schnellen
Können die beiden Hauptkriterien der Erosion des Folterverbots also klar als gegeben
eingestuft werden, fallen die Befunde bezüglich der (ebenfalls auf S. 114 der Arbeit
beschriebenen) Nebenkriterien gemischt aus: Insbesondere die hier beschriebene EntDistanzierung (Punkt 3) ist offensichtlich nicht in dem Sinne eingetreten, dass die Regierung
ihr Handeln offensiv gerechtfertigt hätte. Vielmehr wurde versucht, die Herausgabe weiterer
Memos unter Verstoß gegen den Legislative Reorganization Act zu verhindern und
insbesondere den Präsidenten gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen, er selbst hätte durch die
Annahme – eventuell auch Anforderung – entsprechender Papiere versucht, Folter zu
legitimieren. Die Begründung für die Distanzierungspraxis, nämlich der Versuch, sich ganz
klar vom Handeln anderer, „unzivilisierter“ Staaten abzugrenzen, war jedoch Gegenstand der
Diskussion sowohl auf Seiten der Regierung wie auch bei VertreterInnen anderer
Akteursgruppen: Sie forderten eine Angleichung der Kampfmethoden der USA an diejenigen
ihrer – allerdings größtenteils nicht-staatlichen – Gegner, also eine Verabschiedung von gerade
diesen grundlegenden Unterscheidungskriterien zwischen „zivilisiertem“ staatlichen Verhalten
und Guerillakriegsführung, wie der Einhaltung internationalen Kriegsrechts, um im Global
War on Terror mehr Handlungsfreiheit zu erlangen.
– 216 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
Eine Ent-Archaisierung war insofern festzustellen, als darauf verwiesen wurde, dass die
CIA schon früher Gefangene zum Verhör an Drittländer ausgeliefert habe. Allerdings forderte
nur Dershowitz explizit, die BürgerInnen der USA müssten es sich abgewöhnen, Folter mit
mittelalterlichen Grausamkeiten zu assoziieren und stattdessen akzeptieren lernen, dass Folter
Leben retten könne. Zudem wurden häufig Vergleiche mit anderen historischen
Krisensituationen (wie dem Außerkraftsetzen der Habeas Corpus-Prinzipien durch Lincoln)
angestellt, um Einschränkungen der Gültigkeit grundlegender Normen zu rechtfertigen. Diese
Argumentation ging mit der Annahme einher, dass es sich bei diesen Maßnahmen um
Ausnahmeregelungen (Punkt 4) handele, die zum Einen wieder rückgängig gemacht würden,
sobald die momentane Bedrohungslage nicht mehr gegeben und sie zum Anderen unter
Hinweis auf die bewusst angelegte Flexibilität US-amerikanischen Rechts auch juristisch zu
rechtfertigen seien. Der Notwendigkeit des Findens einer neuen Balance zwischen Sicherheit
und Freiheit wurde allgemein Rechnung getragen, eine Debatte darüber nicht nur akzeptiert,
sondern vielfach gefordert. Besonders deutlich kommt die Einstellung, Folterfreiheit sei ein
Grundrecht, das legitim gegen andere Rechte abgewogen werden könne, in den Memoranden
der Regierung zum Ausdruck, wobei die generelle Forderung, man müsse in Krisenzeiten zum
Teil Recht beschneiden, um dieses insgesamt erhalten zu können, auch öffentlich vertreten
wurde. Vor dem Hintergrund der Normtheorie drängt sich eine Interpretation dieser
Rechtsabwägungen als Gegenüberstellung von (durch Terrorismus bedrohter) Gesamtidentität
und außer Kraft zu setzenden Teilidentitäten geradezu auf.
Als in der Folterdebatte bedeutendstes Nebenkriterium hat sich die Ent-Universalisierung
des Foltertabus (Punkt 6) herausgestellt. Wiederum unter Rückgriff auf die Rede von einer
Ausnahmeregelung wurde durch die Verwendung vielfältiger Euphemismen das neue
Menschenbild eines Terroristen konstruiert, der aufgrund bestimmter Überzeugungen und
Handlungsintentionen seine Menschenwürde verwirkt hat und so legitimerweise gefoltert
werden kann. Dies stellt insbesondere einen krassen Bruch mit der Tradition der USA als
demjenigen Land dar, das sich um die Universalisierung von Menschenrechten Ende des 18.
Jahrhunderts und Mitte des 20. Jahrhunderts besonders verdient gemacht hat – schließlich
haben die Vereinigten Staaten den Grundsatz der „inalienable rights” im ersten Satz ihres
Gründungsvertrages niedergelegt und vor diesem Hintergrund als erstes Land anerkannt, dass
auch schuldigen StraftäterInnen noch Menschenrechte zugestanden werden müssen. Die
Definierung von Terroristen als menschenrechtslose Individuen kann jedoch nicht als
„Rückfall“ in die Zeit vor diesen Erklärungen gewertet werden, da heute Individuen im
Zentrum der Debatte stehen, deren Straftaten durch Folter verhindert, nicht aufgeklärt
werden sollen, was der Richter und Rechtsprofessor Richard Posner im (bewussten?)
Rückgriff auf die Argumentation Friedrichs des Großen auf den Punkt bringt:
– 217 –
Er os i o n de s F ol t e r ve r b o ts : De b a t te n un d A k te ur e
„The dogma that it is better for ten guilty people to go free than for one innocent person
to be convicted may not hold when the guilty ten are international terrorists seeking to
obtain weapons of mass destruction.“809
Folter wird, ganz nach der Lesart Foucaults, in ihrer modernen Variante zur
Informationserpressung außerhalb eines Gerichtsverfahrens angewandt, wobei der Hinweis
der FolterbefürworterInnen, diese Informationen seien unter den neuen Gegebenheiten noch
wesentlich wichtiger als etwa in früheren, „normalen“ Kriegen, schwer zu widerlegen ist. So ist
auch zu erklären, dass die Insassen in Guantanamo Bay nicht nur nicht als Kriegsgefangene
anerkannt wurden, sondern sich eher in einer Art „Informationsbeschaffungslager“ befinden,
als in einem „normalen“ Gefängnis. Ein die Ent-Universalisierung begünstigender Faktor war
sicherlich auch die unausgesprochene Annahme, es würden nur Angehörige einer anderen
Kultur und Religion gefoltert, so dass man selbst nie Opfer dieser Entwicklungen werden
könne (und sich somit vielleicht auch nicht automatisch in die Lage des Opfers versetzen
musste) im Speziellen und die erstaunlich starke Amerikazentriertheit der Debatte in beiden
Lagern der Diskussion, die sich nicht zuletzt in der Vorstellung niederschlug, die USA stünden
als Erfinder des Völkerrechts über diesem, so dass sie seinen Anwendungsbereich „à la carte“
wählen könnten, im Allgemeinen. Hand in Hand mit der Ent-Universalisierung des Tabus
ging eine Ent-Totemisierung von Folter, die dem Kriterium der Konventionalisierung beim
nuklearen Tabu ähnelt, jedoch nicht unter die Erosionskriterien des Foltertabus gefasst
wurde.810 Die Akzeptanz der Schaffung einer neuen Kategorie von Foltermethoden (im Sinne
des Völkerrechts) außerhalb des Tabus durch die meisten DiskursteilnehmerInnen war der
Sargnagel, der das Ende des Foltertabus besiegelte.
Zumindest ist momentan – trotz der Initiativen des Kongresses – kein Wiedererstarken
dieses Tabus in Sicht. Vielmehr scheint es, als hätte sich ein stillschweigender Konsens
herausgebildet, die Anwendung von torturelite-Methoden (in Notfällen) zu akzeptieren, dies
aber zugleich zu ignorieren und zu verdrängen. Knapp fünf Jahre nach den Anschlägen vom
11. September bleibt damit fraglich, ob und wann die Angst vor neuen Anschlägen bzw. der
Frust, solche nicht mit Sicherheit verhindern zu können und der auch psychologisch
motivierte Wunsch, den neuen Feinden durch mehr Informationen ein Gesicht zu geben,
wieder abnehmen, so dass eine Wiederherstellung der absoluten Gültigkeit dieser Norm allen
relevanten Gruppen wieder wünschenswert erscheint.
809
810
Posner, Richard A. 2002: The Best Offense, in: The New Republic, 02.08.2002. Für dieses Argument
Friedrichs vgl. S. 93 der Arbeit.
Rückblickend lässt sich jedoch insofern ein Anknüpfungspunkt feststellen, als auch in Preußen zunächst
unklar war, was als Folter zu gelten hatte und was nicht, vgl. S. 94 der Arbeit.
– 218 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
6.2 Erosion des nuklearen Tabus
Schloss das Kapitel zur Entstehung des nuklearen Tabus mit der Feststellung, dass die
Möglichkeit eines nuklearen Einsatzes angesichts der Mitte der 1990er Jahre herrschenden
Abrüstungseuphorie unwahrscheinlicher denn jemals zuvor schien, soll im Folgenden zum
Einen überprüft werden, wie lange sich die Stabilität des Einsatzverbotes aufrecht erhalten
konnte und zum Zweiten eine Rekonstruktion seines Erosionsprozesses vorgenommen
werden, wobei die am Ende des Kapitels 5.2 vorgeschlagenen Erosionskriterien hier als Folie
dienen werden. Im Zentrum wird dabei, neben der Chronologisierung der Ereignisse vor dem
Hintergrund US-amerikanischer sowie internationaler Entwicklungen, eine Darstellung der in
den Vereinigten Staaten (bis heute) geführten Debatte über die Rolle von Nuklearwaffen nach
Ende des Kalten Krieges und im Lichte neuer, zahlreiche Verschränkungen aufweisender
Bedrohungen wie internationaler Terrorismus, totalitäre Regime und Proliferation von
Massenvernichtungswaffen (WMD) stehen. Ich werde zunächst unter 6.2.1 einen Überblick
über das gesichtete und ausgewertete empirische Material geben, um im Folgenden den Ablauf
der Debatte sowie zentrale Ereignisse vor und nach dem diagnostizierten Erosionsbeginn zu
skizzieren (6.2.2), hierbei wird die Positionierung der für den Diskussionsprozess
maßgeblichen Akteure sowohl zu der Norm als auch zueinander herausgestellt. Nach einer
detaillierten Darlegung des Nukleardiskurses in Kapitel 6.2.3, werde ich schließlich im Fazit
(6.2.4) eine theoretische Reflexion tabuschwächender sowie zu seiner Verteidigung
vorgebrachter Argumentationsweisen vornehmen und aus der Perspektive der Frage, wie die
Erosion des nuklearen
Diskussion vorschlagen.
Tabus
möglich
geworden
ist,
Interpretationen
der
6.2.1 Zeitraum und Ablauf der Debatte
Materialübersicht
Anders als Folter, wie in Kapitel 6.1 zu sehen war, sind Nuklearwaffen nie aus der USamerikanischen öffentlichen Debatte verschwunden, was sich in den Trefferzahlen zu den
einschlägigen Stichworten zeigt811 – die Schwerpunkte der Diskussionen haben sich im Laufe
der Zeit jedoch verlagert: Abrüstungsabsichten sind heute zwar nach wie vor präsent, werden
jedoch parallel zum intendierten Aufbau neuer (Ersatz-)Waffensysteme vorgebracht,
unilaterale Strategien der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen gewinnen
gegenüber vertragsbasierten multilateralen Nicht-Proliferationsbemühungen immer mehr an
811
So hat die Suche nach den Stichworten bunker buster, nuclear taboo, nuclear posture, mini nukes, nukes in
den Basisdokumenten durchschnittlich ca. 114 Treffer pro Jahr erbracht, wobei das Jahr 2000 mit 72
Fundstellen die geringste, 2002 hingegen mit 179 die höchste Treffermenge aufweist. In den Jahren 19952001 betrug die durchschnittliche jährliche Treffermenge 92 Treffer, 2002-2005 waren es schon 151. Diese
Zahlen sollen in erster Linie einen Eindruck von der zu sichtenden Datenmenge vermitteln und nicht zu
dem Fehlschluss verleiten, das Ausmaß der Debatte ließe sich anhand von ihnen exakt bestimmen, wenn sie
auch eine Intensivierung andeuten.
– 219 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Gewicht und aus heutiger Sicht verklärt anmutende nukleare Abolitionismushoffnungen812
mussten der Artikulation neuer Einsatzerfordernisse für Nuklearwaffen weichen. In den von
uns als Basis gewählten Dokumenten wurden diese Veränderungen umfassend diskutiert:
Insgesamt 160 der über 1200 gesichteten Zeitungsartikel aus der New York Times (NYT),
USA Today (UST) und der Washington Post (WP) im Auswertungszeitraum von 1995-2005
erwiesen sich für den Argumentationsverlauf als direkt relevant (die restlichen stellten für
notwendige Hintergrundinformationen eine wichtige Quelle dar), zu diesen kamen 11 Artikel
des Wall Street Journal aus den Jahren 2002-2005.813 Ausgehend von dieser Basis wurden die
in 49 Referenzdokumenten enthaltenen Argumente berücksichtigt, wobei nicht nur die
tatsächlich genannten Pressemitteilungen, Strategiepapiere, Artikel aus anderen Zeitungen,
Transkripte von Fernsehsendungen sowie Ansprachen gesichtet wurden, sondern die
Recherche z.B. auf weitere Statements der prominent auftretenden Akteure, andere Policy
Papers der genannten Institutionen sowie die Stichwortsuche in den Referenzzeitungen
ausgeweitet wurde, sofern dies notwendig und durchführbar erschien.814
Zwar ist die Anzahl der Gesamtfundstellen seit 2001 angestiegen, man kann jedoch nicht
sagen, dass es sich um einen besonders steilen Anstieg handelt – im Gegensatz dazu steht die
Verteilung
der
internalisierungs-
bzw.
erosionsrelevanten
Dokumente
auf
den
Analysezeitraum: Während nur etwas mehr als ein Fünftel von ihnen aus den ersten 7
Untersuchungsjahren stammt, verteilen sich die übrigen 80% auf die letzten 4 Jahre, wie
folgendem Schaubild entnommen werden kann: 815
812
813
814
815
Abolitionismus als Begriff bezieht sich nicht konkret auf Nuklearwaffen – vielmehr gab es inzwischen einige
Bewegungen, die sich mit dem Ziel zusammengeschlossen hatten, einen bestimmten Missstand
abzuschaffen, etwa Sklaverei oder Prostitution. Ich verwende ihn in diesem Teil ausschließlich als
Bezeichnung für Forderungen nach vollständiger Abrüstung.
Zur Einbeziehung des Wall Street Journal s. FN 204 (S. 58) der Arbeit Arbeit.
So wurde z.B. auch die Los Angeles Times (LAT) in den Jahren 2002 und 2003 nach den bereits genannten
Stichworten durchsucht, da aus der Berichterstattung in den Basisblättern hervorging, dass sie die
Diskussion mit der Veröffentlichung geheimer Regierungspläne und -dokumente angestoßen hatte, in deren
Folge hier eine breite Debatte erwartet werden konnte.
Dieses „Übergewicht“ auf den Jahren 2002-2005 findet sich zu gleichem Anteil auch in der Verteilung der
712 ausgewerteten Argumente wieder. In diesem Zeitraum – der der Anzahl der Artikel nach als der
Haupterosionszeitraum gelten kann – wiederum erreicht die Diskussion im Jahr 2002 mit 220 Argumenten,
die fast 40% der Analyseeinheiten im Erosionszeitraum ausmachen, ihren quantitativen Höhepunkt und
wird in den folgenden Jahren mehr oder weniger konstant weitergeführt.
– 220 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Abb. 2: Verteilung der als relevant eingestuften Dokumente im Nukleardiskurs
Welche Entwicklungen kommen in dieser, zunächst ausschließlich quantitativen Darstellung,
zum Ausdruck? Die Ursache der raschen Intensivierung der Debatte im Jahr 2002 ist
unschwer zu erkennen: Die 2001 von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld angeforderte
und vom US-Kongress mandatierte Nuclear Posture Review (NPR) wurde am 8. Januar 2002
zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit dem Parlament vorgelegt, fast genau zwei Monate
später druckte jedoch die Los Angeles Times, deren Kolumnist William J. Arkin nach eigenen
Angaben in den Besitz einer Kopie der NPR gelangen konnte,816 Passagen des Dokuments ab
und brachte damit den Stein ins Rollen.817 Da die vorherigen Jahrgänge allerdings ebenfalls
nicht trefferfrei waren, sollen im Folgenden mit Fokus auf die Internalisierung des nuklearen
Tabus sowie auf eventuelle Erosionstendenzen die Schwerpunkte der US-Nukleardebatte vor
dem Erscheinen der NPR grob umrissen werden.
Abolitionismus, Abrüstung und Angst vor Proliferation: Diskussion der 1990er Jahre
Während zum 50sten Jahrestag der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki am
6. August 1995 Tausende JapanerInnen dieser Ereignisse gedachten, wurde dieses Datum
auch von US-amerikanischen KommentatorInnen zum Anlass genommen, an den
816
817
Arkins Rolle bei der Aufdeckung geheimer Regierungsdokumente und -pläne (Veröffentlichung der
weltweiten US-amerikanischen Nuklearwaffenpositionen Anfang der 1980er, mini-nuke-Studien 1993, NPR
2002) brachte ihm ein Porträt in der Washington Post ein, die ihn als „crossover analyst“ beschreibt und
seinen LA-Times-Chef mit den Worten zitiert, Arkin sei „hydra-headed “. Solche Einschätzungen beruhen
auf vielfältigen Aktivitäten des investigativ tätigen Arkin, der sich selbst nicht als Journalist bezeichnen will
und weder klar einem politischen Lager noch einer bestimmten Institution zuzuordnen ist: Außer für die
Los Angeles Times schreibt er regelmäßig für mehrere andere Tageszeitungen, engagiert sich bei Human
Rights Watch und einigen liberalen Think Tanks – und pflegt zugleich enge Verbindungen zum Militär.
Auch das Pentagon engagiert ihn zwar als Berater, ordnet ihn jedoch trotzdem in die „nonsupporter
category “ ein, weil er sicherheitsrelevante Informationen veröffentliche. Seine Informanten gibt Arkin nicht
preis, im Pentagon spricht man von „ stolen documents“ und ist sich darüber einig, dass die Personen, die
Informationen an Arkin weitergaben, „very likely broke the law “. S. ausführlich: Kurtz, Howard 2002:
Explosive Analyst, in: Washington Post, 24.05.2002.
Der erste Artikel zur nicht-öffentlichen Version von Paul Richter erschien unter dem Titel „U.S. Works Up
Plan for Using Nuclear Arms“ mit dem Untertitel „ Military: Administration, in a secret report, calls for a
strategy against at least seven nations: China, Russia, Iraq, Iran, North Korea, Libya and Syria“ am
09. März 2002.
– 221 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
apokalyptischen Charakter der aus dem Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückten
Nuklearwaffen zu erinnern und die Gültigkeit des nuklearen Tabus zu bekräftigen:
„Fifty years later, with at least eight nuclear powers and 20,000 nuclear bombs rattling
around the planet, the bomb is no longer a weapon. It is a doomsday machine. Today, if
the line between conventional and nuclear weapons is crossed, it is the end of civilization.
Today, atomic bombing is not strategic bombing by other means. It is an invitation to
apocalypse. Accordingly, we have developed an absolute taboo against the use of nuclear
weapons – its power evidenced by the amazing fact that both of the great superpowers of
our time, the United States and the Soviet Union, eschewed nuclear weapons even in the
face of agonizing, debilitating defeat in war (Vietnam and Afghanistan).“818
Ein halbes Jahrhundert nach den einzigen nuklearen Angriffen ließ die Macht des Tabus die
Frage, wie wahrscheinlich ein Nuklearkrieg vor dem Hintergrund der völlig anderen
weltpolitischen Lage sei, dennoch nicht obsolet werden. Dies zeigte auch die von der
Zeitschrift Bulletin of Atomic Scientists zu diesem Thema veranstaltete Diskussion, deren
Auszüge am 03. Dezember 1995 in der New York Times unter dem Titel „Word for Word: The
Doomsday Clock. How Many Minutes to Midnight 50 Years After The A-Bomb’s Birth? “
erschienen.819 Direktoren kleiner und großer Think Tanks, Angehörige von Regierungen und
des Militärs, prominente Professoren sowie Nuklearphysiker, aber auch LeserInnen gaben hier
ihre – erwartungsgemäß unterschiedlichen – Einschätzungen zum Besten, die sich als
treffender Ausblick auf die Entwicklung der Debatte(n) der nachfolgenden Jahre erweisen
sollten: Während ein nuklearer (Welt-)Krieg im Rahmen des Möglichen, aber als sehr
unwahrscheinlich angesehen wurde, erschien der nukleare Terrorismus bereits zu diesem
Zeitpunkt als akute Gefahr. Entsprechend beantwortete der Los Alamos-Physiker Theodore
Taylor die Frage nach dem Stand der doomsday clock: „If it’s the time remaining before nuclear
terrorists kill more than 100,000 people, I would set it at two minutes to midnight. If it means
a nuclear World War III, then back to 11:30.“ In diesem Zusammenhang wie auch mit Blick
auf die rogue states wurde die wachsende Bedeutung nationaler wie internationaler
Nichtverbreitungsmaßnahmen betont, ihre bereits erzielten Erfolge als Trend zur weltweiten
Absage an die grausamen Waffen interpretiert, gleichzeitig aber auch die Befürchtung
geäußert, die globale Abrüstungsbewegung werde sich gegenüber den Absichten der USAdministration nicht durchsetzen können. Neue Proliferationsrisiken wurden dagegen nicht
nur in der Möglichkeit zu eigenständigen Waffenentwicklungen durch feindliche Regime,
sondern vor allem auch in der Schwäche Russlands erkannt, seine loose nukes als „the world’s
most pressing security problem“ bezeichnet.
Wie hiermit angedeutet wird, wurde die Debatte in der ersten Hälfte des
Untersuchungszeitraumes tatsächlich vor allem von Auffassungen hinsichtlich der
Abrüstungschancen und gleichzeitig auch -schwierigkeiten auf Seiten der verbliebenen und der
818
819
Krauthammer, Charles 1995: The Strategic Logic of Hiroshima, in: Washington Post, 21.07.1995.
Das Bulletin of Atomic Scientists wurde im Dezember 1945 von ehemaligen Wissenschaftlern des
Manhattan-Projekts gegründet und druckte seitdem regelmäßig die doomsday clock ab, anhand der man die
Einschätzung der Zeitschrift ablesen konnte, wie nah die Welt an einem Nuklearkrieg stand.
– 222 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
ehemaligen Supermacht dominiert:820 Während die Clinton-Administration die Ansicht vertrat,
dass Nuklearwaffen auch in Zukunft eine wichtige Rolle als eine „necessary insurance against
an unexpected and disastrous reversal at the conventional level in some future, unspecified war,
and as important inhibitors for would-be [nuclear] proliferators“ spielen würden, schaute der
spätere Außenminister der ersten George W. Bush-Administration Colin Powell, der zu
diesem Zeitpunkt selbst als potentieller Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde, noch
hoffnungsvoll der Senkung der Nuklearwaffenzahlen „down to zero” entgegen, und damit
jenem Tag, an dem „die Welt zu einem viel besseren Ort” würde.821 Diese Hoffnung teilte er
nicht nur mit 84% der US-amerikanischen Bevölkerung, die 1997 erklärten, dass sie sich in
einer nuklearwaffenfreien Welt weitaus sicherer fühlen würden,822 sondern auch mit einer
Reihe anderer AbolitionistInnen, zu denen neben dem weltweiten Netzwerk „Abolition
2000“823 auch prominente Angehörige des US-Militärs zählten: So präsentierten Ende des
Jahres 1996 zwei Generäle a. D. – der ehemalige Befehlshaber des Strategic Air Command
und Vier-Sterne-General Lee Butler sowie General Andrew Goodpaster, der als Eisenhowers
rechte Hand galt – nach einem gemeinsamen Statement für eine nuklearwaffenfreie Welt eine
Liste von 70 weiteren Generälen aus den USA und der ganzen Welt, die ebenfalls, „for the
first time the prospect of restoring a world free of the apocalyptic threat of nuclear weapons“ in
Sicht glaubten – mit der Vernichtung des nuklearen Totems sollte offenbar ebenso die
Wahrscheinlichkeit
820
821
822
823
824
des
Tabubruches
auf
Null
gesenkt
werden.824
Von
einigen
Neben abrüstungsbedingten Sicherheitsbedenken wurden auch logistische Probleme diskutiert, wie etwa:
Wohin mit den Waffen, die von Militärschiffen abgebaut wurden? Was soll mit dem Überschuss an
radioaktivem Material geschehen, das nun nicht mehr in Bomben verarbeitet werden kann? Wo soll der
nukleare Müll gelagert werden? S. hierzu: Wald, Matthew L. 1995: Today’s Drama: Twilight of the Nukes,
in: New York Times, 16.07.1995.
Administration und Powell zitiert in: Rosenfeld, Stephen S. 1995: New Age Nukes, in: Washington Post,
10.02.1995. Dem Optimismus dieser Zeit verleiht auch ein Zitat Powells aus seiner 1995 verfassten
Biographie Ausdruck: „Während ich diese Zeilen schreibe, führt unser Staat nirgendwo Krieg. Wir sind
auch nicht mehr gezwungen, (…) widerwärtige Regimes zu stützen, die sich nicht an anerkannte
demokratische Grundsätze hielten. Und wir wollen nicht die gewaltige Errungenschaft des vergangenen
halben Jahrhunderts vergessen: unseren Sieg im Kalten Krieg. Die Gefahr der atomaren Vernichtung ist
abgewendet, diese schreckliche Bedrohung, der die Welt ausgesetzt war, solange Ost und West an ihrem
gegenseitigen Mißtrauen festhielten. (…) Diesen Sieg der Freiheit hinterläßt unsere Generation der Welt.
Ich empfinde es als ein außerordentliches Privileg, daß ich an einer historisch so bedeutsamen Ära teilhaben
durfte.“ Powell, Colin 1996: Mein Weg, München, S. 635.
Angabe nach: McGrory, Mary 1997: Poisoning the Atmosphere, in: Washington Post, 10.04.1997.
Für weitere Informationen siehe die Website der Organisation, online unter: <http://www.abolition
2000.org>, rev. 24.07.2006.
S. hierzu: McGrory, Mary 1996: Unofficial Leadership, in: Washington Post 12.12.1996 sowie Butler,
Lee/Goodpaster, Andrew J. 1996: Joint Statement on Reduction of Nuclear Weapons Arsenals: Declining
Utility, Continuing Risks. Zumindest bei Butler scheint sich in dieser Hinsicht ein fundamentaler
Sinneswandel, der auf eine späte Internalisierung der Nicht-Einsatz-Norm schließen lässt, vollzogen zu
haben, wie folgender Kommentar – etwas spöttisch – nahe legt: „As one of the allegedly sane ones who
spent a military career promoting the madness of nuclear war, retired Gen. George Lee Butler now proclaims
that U.S. nuclear policy is ‚fundamentally irrational.’ The onetime nuclear warrior, whose chores for the Air
Force included approving thousands of sites to be annihilated, earned four stars before retiring in 1994 at age
55. In a speech here on Dec. 4, the former commander in chief of the Strategic Air Command dropped his
bombshell: ‚Nuclear weapons are inherently dangerous, hugely expensive, militarily inefficient and morally
indefensible.’ Now he tells us.” McCarthy, Colman 1996: General’s Conversion a Non-Bombshell, in:
Washington Post, 17.12.1996.
– 223 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Kommentatoren als „drastic suggestion“825 gewertet, wurde die Idee einer vollständigen
Abrüstung nicht nur in der Administration für nicht realisierbar erachtet,826 sondern bereits
der Wunsch danach unter Verweis auf die zweite, schützende, weil friedenswahrende, Seite
des Doppelcharakters von Nuklearwaffen kritisch hinterfragt:
„Better a world with nuclear weapons but no major war than one with major war but no
nuclear weapons. (…) To designate now complete abolition as a goal for seriously
intended practical policy independently of massive other changes in the world will not
help the realistic agenda. [Abolition] is neither a physical nor a political possibility for
decades to come. Whether it is anyway desirable is an open question which we should
approach with our eyes on the real objective – the prevention of war.“827
Neben der hier geäußerten unbedingt notwendigen Beibehaltung eines Nukleararsenals zur
allgemeinen Kriegsverhinderung wurden auch konkrete Abrüstungsgefahren für die USSicherheit gesehen. So interpretierte z.B. der konservative Publizist Charles Krauthammer die
indischen und pakistanischen Nukleartests im Frühjahr bzw. Sommer des Jahres 1998 zum
Einen als Beweis der Grenzen der Nicht-Proliferationspolitik und zum Anderen als Argument
gegen die Unterzeichung des ABM-Vertrages (Anti-Ballistic-Missile Treaty ), wäre doch sein
„entire purpose (…) to ensure mutual American and Soviet defenselessness“ genau in solchen
Proliferationsfällen.828 Wurde die Nichtverbreitungsproblematik schon hinsichtlich der beiden
den USA eher freundlich gesonnenen asiatischen Staaten sehr kritisch bewertet, ist nur
natürlich,
dass sie
im
Zusammenhang mit den
üblichen
Verdächtigen
–
den
„Schurkenstaaten“ Irak, Iran, Libyen und Nordkorea – als noch um einiges bedrohlicher
eingeschätzt wurde. Die Angst vor libyschen unterirdischen Chemiewaffenanlagen führte
sogar zu Einsatzdrohungen mit dem sich durch besondere Durchschlagskraft auszeichnenden
„nuklearen Erdpenetrator“ B61-11 noch vor seinem Produktionsabschluss.829 Auch in
Reaktion auf die 1995 erfolgte Ankündigung Nordkoreas, die Plutoniumanreicherung mit dem
Ziel der Herstellung von Nuklearwaffen wiederaufzunehmen, drohte das Pentagon nicht nur
massive – konventionelle und nukleare – Vergeltung im Falle eines nuklearen Einsatzes an.
Aufgrund ernsthafter Zweifel, dass skrupellose Diktatoren wie Kim Il Sung überhaupt
abgeschreckt werden können, stand nach Aussagen des damaligen Verteidigungsministers
825
826
827
828
829
McGrory, Mary 1996: Unofficial Leadership, in: Washington Post, 12.12.1996.
Komarov, Steven 1996: Ex-generals declare war on nukes; ‚Risks run too great’ group says, in: USA Today,
05.12.1996.
So wird Michael Quinlan, der damalige Direktor der American Ditchley Foundation zitiert. S. Rosenfeld,
Stephen S. 1996: Nuclear Abolitionism, in: Washington Post, 16.12.1996.
S. dazu seinen Kommentar nachdem Indien bereits Tests durchgeführt hatte, Pakistan allerdings noch davor
stand: „Defenseless America“, in: Washington Post, 28.05.1998. Genauso argumentierte Krauthammer
knapp anderthalb Jahre später im Vorfeld der von ihm befürchteten CTBT-Ratifikation, dass dieser Vertrag
die USA entwaffne und neuen Gefahren ausliefere. S. Krauthammer, Charles 1999: A Test Ban That
Disarms Us; When it comes to nuclear testing, nations will act in their perceived self-interest, in:
Washington Post, 10.09.1999. Hiermit befand sich Krauthammer auf einer Linie mit den
RepublikanerInnen im Senat unter Führung des Senators von Mississippi, Trent Lott, die im umfassenden
Teststopp eine Gefährdung der US-Sicherheit sahen. S. Page, Susan/Koch, Wendy 1999: Clinton, GOP
trade shots over nuke treaty, in: USA Today, 15.10.1999.
S. Mello, Greg 1997: The Birth Of a New Bomb; Shades of Dr. Strangelove! Will We Learn to Love the
B61-11?, in: Washington Post, 01.06.1997.
– 224 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
William J. Perry schon vor 1995 sogar ein preemptive strike gegen den nordkoreanischen
Nuklearreaktor zur Debatte. Obwohl man zum Schluss kam, dass eine nukleare Option
tatsächlich zumindest technisch – ohne Folgekontamination – durchführbar wäre, entschied
man sich, vor allem aufgrund des als sehr hoch eingeschätzten Eskalationsrisikos, gegen sie
und setzte weiterhin auf diplomatische Mittel.830
Als der Irak 1998 als nächster „Schurkenstaat“ die Kooperation mit den
Waffeninspekteuren der UN aufkündigte, veranlasste Präsident Clinton mit Unterstützung der
britischen Regierung Bombardements irakischer Ziele, die schließlich im Dezember des
gleichen Jahres durchgeführt wurden. Erklärtes Ziel der „Operation Wüstenfuchs“ war es, die
USA und die Nachbarstaaten des Irak vor dessen Massenvernichtungswaffen zu schützen –
ein nuklearer Einsatz erschien hier jedoch genauso wenig wie im Fall Nordkorea als eine
gangbare Alternative. Zum Ausschluss der nuklearen Option haben mehrere tabubezogene
Faktoren beigetragen: Zum Einen wurden die politischen Kosten einer non-compliance mit
dem Einsatzverbot als zu hoch eingeschätzt; konkret befürchtete man, durch den Tabubruch
die Zugehörigkeit zur zivilisierten Staatengemeinschaft zu riskieren und zu einem
„international pariah“ zu werden – offensichtlich war den Entscheidungsträgern die für Tabus
typische Gefahr der Exklusion sehr bewusst. Zum Anderen erschienen die meisten
potentiellen Ziele „out of the question“, entweder weil im Falle eines Angriffs mit horrenden
Opferzahlen unter der irakischen Zivilbevölkerung zu rechnen war oder weil die Unsicherheit
darüber, wo genau sich die gefürchteten Waffen befinden, die nukleare Bombardierung
zahlreicher militärischer Ziele erfordert hätte – aufgrund der Stärke der Norm wiederum
undenkbar. Letztendlich führte die Kombination aus politischen, moralischen und praktischen
Erwägungen zur Entscheidung für eine konventionelle militärische Luftoffensive.831
Proliferationsherausforderungen wurden jedoch mitnichten ausschließlich von Seiten der
„Schurkenstaaten“ wahrgenommen. Nicht nur, dass die russische Regierung im März 1998
verkündete, einen nuklearen Ersteinsatz nicht mehr ausschließen zu können, sei doch ihr
„nuclear stick“ alles, was sie zur Kompensation ihrer schwachen konventionellen Streitmacht
vorweisen könne832 – schon sehr früh und immer wieder wurden zudem unter den
830
831
832
Neben der Angst vor nordkoreanischen – nicht unbedingt nuklearen – Vergeltungsangriffen auf seinen
südlichen Gegenpart (Kim Il Sung hatte 1994 angedroht, im Fall von Provokationen Seoul in ein „ sea of
fire “ zu verwandeln), auf Taiwan oder auf den US-Verbündeten Japan – alle drei Staaten sprachen sich aus
eben diesem Grund vehement gegen militärische Operationen gegen den Diktator aus – wurde ebenfalls
befürchtet, dass Kim Il Sung auch außerhalb der Nuklearanlagen Bomben gelagert haben könnte, die im
Falle einer militärischen Bedrohung zum Einsatz kämen. Befanden sich die Waffen, wie angenommen,
tatsächlich in einigen der zahlreichen, vorsorglich für den Kriegsfall gebauten unterirdischen Bunkern,
hätten sie nur mit einer Reihe nuklearer Schläge zerstört werden können – ein „unthinkable approach .“ S.
Ottaway, David B./Coll, Steven 1995: New Threats Create Doubt in U.S. Policy, in: Washington Post,
13.04.1995.
S. für eine knappe Wiedergabe der Diskussion der Optionen: Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in:
New York Times, 15.03.1998.
So der prominente russische Militärstratege Leo Volkov, der den Zustand Russlands außerdem wie folgt
charakterisierte: „ We’re naked. Can you imagine that?”, zitiert nach: Hoffman, David 1998: Downsizing A
Mighty Arsenal; Moscow Rethinks Role As Its Weapons Rust, in: Washington Post, 16.03.1998.
– 225 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Stichworten „know how in the wrong hands“ und „loose nukes“ weitere vom maroden
Nukleararsenal des einstigen Rivalen ausgehende Sicherheitsrisiken besorgt thematisiert.833
Solchen Bedenken zufolge hätten einerseits das unzureichend bewachte spaltbare Material,
fertige nukleare Sprengköpfe, aber auch technische Dokumente wie Bauanleitungen in
„unfriendly hands“ gelangen können.834 Andererseits bestünde in Anbetracht des desolaten
Zustands der russischen – wissenschaftlichen wie militärischen – Nuklearelite auch die Gefahr
eines brain drain in weniger USA-freundliche Staaten.835 So wurde offenkundig, dass Armut
und das Fehlen sinnvoller Aufgaben Forscher wie Offiziere demoralisieren und sie für
Korruption empfänglich werden lassen kann, sie infolge dessen ihre Kenntnisse und
Fähigkeiten in den Dienst von „wannabe-nuclear powers“ stellen oder Terroristen über den
Bau einer Nuklearbombe instruieren könnten836 – wie ernst diese Gefahr war und wie
grauenhaft die Folgen nuklearer Anschläge ausfallen könnten, wurde durch den „nur“ mit
Giftgas begangenen Anschlag auf die Tokioter U-Bahn und das von zwei US-Amerikanischen
Terroristen mit nicht-nuklearem Sprengstoff (Ammoniumnitrat und Nitromethan) im eigenen
Land ausgeführte Oklahoma City Bombing erschreckend deutlich.
Die ebenfalls von Russland ausgehende Gefahr eines „accidental launch“ wurde zu einem
weiteren Debattenfokus: Einerseits nährten gelegentliche Unsicherheiten darüber, wer in
Russland nun die Kontrolle über den roten Knopf habe bzw. in einer politisch instabilen
Situation erlangen könnte, die Angst vor einem irrtümlichen Nuklearschlag;837 andererseits
bereitete die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Fehleinschätzung der Situation aufgrund
technischer Mängel, wie z.B. veralteter Radargeräte, große Sorgen. So kam es 1995 beinahe zu
einem „unimaginable nuclear disaster“, weil die russische Luftraumüberwachung eine auf
ihren Radarschirmen registrierte amerikanisch-norwegische Forschungsrakete für eine
Nuklearrakete hielt – angeblich konnte der Alarm gerade einmal zwei Minuten vor der
deadline als falsch erkannt werden.838 An diese – so tod ernste und deshalb kaum als Anekdote
833
834
835
836
837
838
Dass die Wartungsstandards nicht eingehalten werden konnten und der Verfall zugelassen wurde, lag (und
liegt) schlichtweg an der prekären ökonomischen Lage Russlands. S. z.B. Nunn, Sam/Blair, Bruce G. 1997:
From Nuclear Deterrence to Mutual Safety; As Russia’s Arsenal Crumbles, It’s Time to Act, in: Washington
Post, 22.06.1997.
Ottaway, David B./Coll, Steven 1995: U.S. Focuses on Threat of Loose Nukes, in: Washington Post,
10.04.1995.
Berichten zufolge hatten allein im Jahr 1996 500 (!) Offiziere Selbstmord begangen, gegen mehr als 20
Generäle wurde wegen Korruptionsverdacht ermittelt, was den damaligen Verteidigungsminister Igor
Ivanov zu der Warnung veranlasste, das russische Militär könne außer Kontrolle geraten. S. Stern, Jessica
1997: Preventive Defense, in: Washington Post, 23.06.1997.
Gerade für russische Wissenschaftler, deren Gehälter Russland nicht mehr zahlen konnte, wurden aus
diesen Befürchtungen heraus offizielle Programme, wie das Nunn-Lugar-Programm, gestartet, im Rahmen
derer sie z.B. finanzielle Unterstützung sowie eine Beschäftigung im von zusammen mit Japan gegründeten
Internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrum erhalten sollten. Berichte hierzu finden sich u.a.
bei: Stern, Jessica 1997: Preventive Defense, in: Washington Post, 23.06.1997 sowie bei Friedman, Thomas
L. 1998: Madeleine’s Folly, in: New York Times, 17.02.1998, s. auch Müller, Harald/Schaper, Annette 2003:
US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFK-Report 3/2003, S. 17f.
S. z.B. Blair, Bruce G. 1996: Who’s Got the Button? The Slightly Shaky Control of Russia’s Nuclear
Weapons, in: Washington Post, 29.09.1996.
McGrory, Mary 1999: Back From the Brinkmanship, in: Washington Post, 12.12.1999.
– 226 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
zu bezeichnende – Episode, die zum Symbol der accidental-launch-Bedrohung wurde, ist in
der Diskussion über de-alerting vielfach erinnert worden. Neben den oben bereits genannten
AbolitionistInnen formierte sich aufgrund der Forderung nach einer Senkung der nuklearen
Bereitschaftsstufe eine weitere Gruppierung, die, wenn schon die vollständige Vernichtung der
Nuklearwaffen außerhalb des Machbaren schien, zumindest die Entfernung der Sprengköpfe
von ihren Trägerraketen verlangte, um dadurch den Entscheidungszeitraum bis zu einem
eventuellen Nuklearschlag zu vergrößern und auf diese Weise seine Wahrscheinlichkeit
zu senken:
„[D]e-alerting would create a judicious delay in the capacity for launch in order to assure
more reliable control over nuclear weapons, to reduce daily nuclear tensions, and to
strengthen mutual confidence in each other’s nuclear intentions.”839
Doch sowohl Notwendigkeit als auch Zweckmäßigkeit solcher Maßnahmen blieben
umstritten – so erklärte z.B. ein US-General – ungeachtet des soeben geschilderten
prominenten Vorfalls – er habe sich persönlich das russische Arsenal angesehen und könne
seine Zuverlässigkeit zusichern. Auch die generell von einem hohen Bereitschaftsstatus
ausgehenden Gefahren wurden angezweifelt, wie im folgenden Zitat eines Angehörigen der
Clinton-Regierung deutlich wird: „I don’t buy, if you will, the picture that we are on a
,dangerous hair-trigger’ today “.840 Außerdem sei fraglich, ob solche Maßnahmen überhaupt zu
der beabsichtigten nuklearen Entspannung führen können, seien sie doch jederzeit
umkehrbar. Ferner könne das bereits geschilderte loose nuke -Risiko durch den Abbau der
Sprengköpfe verschärft werden, schließlich seien Raketen immer noch der sicherste
Aufbewahrungsort dafür.841 Dagegen bewertete George W. Bush, der sich zum damaligen
Zeitpunkt im Präsidentschaftswahlkampf befand, auch noch im Jahr 2000 das Risiko eines
versehentlichen Abschusses als hoch:
„We need to show the world we are a peaceful nation, but I would never do anything to
put our nation at risk (…). Today, for two nations at peace, keeping so many weapons at
high alert may create unacceptable risks of accidental or unauthorized launch.“842
Die bisherigen Ausführungen zu den in der peaceful nation geführten Diskussionen um das
Thema
Nuklearwaffen
verdeutlichen
einen
tabutypischen
Umgang
mit
diesem
Kriegsinstrument: Vor allem Waffen im Besitz anderer (feindlich wie freundlich gesonnener)
Staaten, die nicht zu den bekannten nuclear High Priests zählten, ihre Waffenentwicklungen
und mögliche nukleare Einsätze gegen die USA nahmen breiten öffentlichen Raum ein. Der
839
840
841
842
So der demokratische Senator Sam Nunn in einem gemeinsamen Artikel mit dem WP-Autor und
Präsidenten des Center for Defense Information Bruce G. Blair. S. Nunn, Sam/Blair, Bruce G. 1997: From
Nuclear Deterrence to Mutual Safety; As Russia’s Arsenal Crumbles, It’s Time to Act, in: Washington Post,
22.06.1997.
Zitiert in: Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in: New York Times, 15.03.1998.
Zu diesen Argumenten siehe ausführlich: Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead, in: New York Times,
15.03.1998.
Zitiert nach: Keen, Judy 2000: Bush promises to reduce U.S. nukes even if Russians balk Plan includes
building shield against missiles, in: USA Today, 24.05.2000.
– 227 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Rückgriff auf das Totem zum eigenen Schutz wurde, ebenfalls in Übereinstimmung mit dem
nuklearen Tabu, nur in als äußerst gefährlich wahrgenommenen Situationen überhaupt in
Betracht gezogen und auch in diesen Fällen schnell wieder verworfen. War die NPR demnach
tatsächlich der schlagartige, ohne Vorzeichen eingetretene Beginn des Erosionsprozesses oder
lassen sich bereits vorab
Einsatzverbotes feststellen?
Hinweise
auf
die
Schwächung
des
nuklearen
Schwelende Erosionstendenzen bis 2002
Interessant ist, dass die Argumente, die in der Debatte nach 2002 auf beiden Seiten
Verwendung fanden und noch immer finden, nicht unbedingt neu sind, sondern seit Beginn
der 1990er Jahre bereits einige Male in ähnlicher Form ausgetauscht wurden; die Debatten
erreichten jedoch niemals auch nur eine annähernd vergleichbare Breite und Intensität seit
2002. So griff Präsident Bill Clinton 1997 mit dem Erlass der Presidential Decision Directive
(PDD-60) die bereits 1993 von den damaligen Joint Chiefs of Staff843 entwickelten Planungen
auf, die nukleare Reaktionen auch auf Angriffe mit anderen Massenvernichtungswaffen
vorsahen und erklärte letztere in seiner Richtlinie zur offiziellen Regierungspolitik, deren
wichtiges Ziel die bereits diskutierte Nicht-Proliferation war. Demnach fand also schon
damals eine gedankliche Ausweitung der Situationen, in denen zur nuklearen Verteidigung
gegriffen werden konnte, statt. Ebenfalls im Jahr 1997 wurde die Modifikation der
Nuklearbombe B61-7 zu B61-11 vorgenommen: Verbessert wurden ihre Fähigkeiten, sich in
den Boden zu bohren, sie konnte nun tiefer eindringen als ihre Vorgängerin und verfügte
zudem über eine verringerte Explosionskraft, die weniger fallout erwarten ließ – die
Forderung nach einem solchen (sauberen) bunker buster, um tief vergrabene Ziele mit einer
möglicherweise gehärteten Außenverkleidung zerstören zu können, war wiederum bereits
1991 in Los Alamos erhoben geworden.844 Die Reaktionen sowohl auf die neuen bunkerbuster-Waffen und die PDD-60 als auch auf die Doktrin der Stabschefs von 1993 fielen
ähnlich aus: Einerseits wurde sofort Kritik laut, Dr. Strangelove845 kehre zurück ins Weiße
Haus, solche Maßnahmen konterkarieren die jahrzehntelange US-Politik negativer
Sicherheitsgarantien für nicht-nukleare Staaten (weil diese nun auch nach einem Einsatz
chemischer oder biologischer Waffen Ziel eines nuklearen Angriffs werden könnten) und
neue Waffen senken durch die Schaffung der Möglichkeit des Angriffs auf bisher nicht
843
844
845
Die umfassen Army , Navy , Marine Corps, und die Air Force, s. hierzu S. 66 der Arbeit. Für weitere
Informationen s. Website der Vereinten Stabschefs: <http://www.jcs.mil>, rev. 24.07.2006.
Vgl. dazu den Bericht von Wald, Matthew M. 1997: U.S. Refits a Nuclear Bomb To Destroy Enemy
Bunkers, in: New York Times, 31.05.1997.
Dr. Strangelove (in deutscher Fassung: Dr. Seltsam) ist eine Figur aus Stanley Kubricks berühmter
Filmsatire auf die Strategie nuklearer Abschreckung „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying
and Love the Bomb“ – der deutsche Wissenschaftler arbeitet in dem Film angesichts der bevorstehenden
nuklearen Vernichtung der Welt an einem Plan zur Rettung eines kleinen Teils der US-amerikanischen Elite.
Im untersuchten Diskurs wurde der Name allerdings weniger als Anspielung auf die Rolle bestimmter
Personen, sondern vielmehr als eine vor der Rückkehr in eine Ära, in der die Menschheit am Rande eines
nuklearen Abgrundes stand, warnende Allegorie verwendet.
– 228 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
vorgesehene Ziele die nukleare Hemmschwelle. Auf der anderen Seite wurden diesen
Vorwürfen die Rechtfertigungen entgegengesetzt, es handle sich a) überhaupt nicht um neue
Waffen, sondern um Modifikationen der alten, b) entweder um eine längst überfällige
Strategieanpassung oder c) um gar keine, hätten die USA doch niemals einen nuklearen
Einsatz als Reaktion auf einen WMD-Angriff ausgeschlossen und d) solle die nukleare
Schwelle keineswegs gesenkt werden.846
Als im Herbst 1999 der Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT) dem Senat zur
Ratifikation vorgelegt wurde und das Gremium jene schließlich verweigerte, entflammte eine
Diskussion über die Bedeutung von Nukleartests für die Proliferation und die USamerikanische Sicherheit, die sich vorwiegend auf die Zuverlässigkeit des bestehenden
Arsenals konzentrierte – der Verzicht auf Testoptionen wurde als eine potentielle
Beeinträchtigung der Schutzfunktion des nuklearen Totems eingestuft. Die Notwendigkeit
von Tests für neue Waffenentwicklungen spielte in diesem Zusammenhang eine bestenfalls
marginale Rolle, doch schon im Jahr 2000 kam das letztgenannte Thema wieder auf die
Agenda des Kongresses.847 So wurden die oben knapp umrissenen Argumente auch
vorgebracht, als der Senat im Sommer die Aufnahme von Forschungen zum Robust Nuclear
Earth Penetrator (RNEP) forderte, im gleichen Jahr ein Strategiepapier der Los Alamos-Labors
und (noch vor dem 11. September) 2001 eines der Sandia Laboratories sowie des National
Institute for Public Policy (NIPP) erschienen, die allesamt umfassende Veränderungen der US-
Nuklearstrategie, die Entwicklung neuer Nuklearwaffen und Vorbereitungen auf neue
Einsatzszenarien als notwendig erachteten.848 Entscheidend war jedoch bei allen im letzten
Absatz geschilderten Fällen im Vergleich zur NPR-Debatte des Jahres 2002, dass es sich um
ein jeweils punktuelles und sehr begrenztes Aufflammen handelte, das sehr schnell wieder
abebbte, ohne zu einer breiten Diskussion zu führen,849 obwohl die Diskussionsanlässe ihrem
Inhalt nach mit der NPR vergleichbar waren. Grund hierfür ist vermutlich, dass sich die
846
847
848
849
S. für eine kritische Argumentation z.B. Tannenwald, Nina 1997: One Step Backward, Nukewise, für eine
befürwortende z.B. Keeny, Spurgeon M. Jr. 1997: One Step Forward. Folgende Berichte geben beide
Sichtweisen wieder: Mello, Greg 1997: The Birth Of a New Bomb; Shades of Dr. Strangelove! Will We
Learn to Love the B61-11?, in: Washington Post, 01.06.1997 sowie Hall, Brian 1998: Overkill is Not Dead,
in: New York Times, 15.03.1998.
Zum Scheitern des CTBT siehe ausführlich Deibel, Terry L. 2002: The Death of a Treaty, in: Foreign
Affairs 81:5, S. 142-161.
S. dazu den Bericht von: Pincus, Walter 2000: Senate Bill Requires Study of New Nuclear Weapon, in:
Washington Post, 12.06.2000. Folgende Studien sind oben aufgeführt: Younger, Stephen M. 2000: Nuclear
Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos; Younger war damals Associate Laboratory Director for
Nuclear Weapons der Los Alamos National Laboratory . Außerdem das Papier des Präsidenten und Direktors
der Sandia National Laboratories: Robinson, Paul 2001: A White Paper: Pursuing a New Nuclear Weapons
Policy for the 21st Century. Die Studie des NIPP: National Institute for Public Policy 2001: Rationale and
Requirements for U.S. Nuclear Forces and Arms Control.
Die Anzahl der Dokumente, die zu diesen Zeitpunkten veröffentlicht wurden indiziert die fehlende mediale
Beachtung: Fünf Artikel aus den Jahren 1997 und 1998, die sich der B61-11 widmeten, sowie jeweils zwei
aus 2000 und 2001, die die Aufnahme neuer Studien thematisierten. Die Strategiepapiere blieben zwar
zunächst weitgehend unbeachtet – als die Diskussion ab 2002 verstärkt in Gang kam, wurde ihnen mit
einiger Verspätung doch noch die öffentliche Aufmerksamkeit zuteil.
– 229 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Regierungen unter Clinton und Bush dem öffentlichen bzw. parlamentarischen Druck
beugten850 oder doch geschickt genug waren, Debatten zu umgehen, wobei auch die
Öffentlichkeit für dieses Thema anscheinend weniger empfänglich war. Welche Akteure dazu
beitrugen, dass sich dies ab März 2002 änderte und welchen Ereignissen in diesem
Zusammenhang
besondere
Unterkapitel dargestellt.
Beachtung
zuteil
wurde,
wird
im
folgenden
6.2.2 Wichtige Stationen des Erosionsprozesses und seine ProtagonistInnen
Einleitend sei festgestellt, dass sich an der Nuclear Posture Review tatsächlich die „nuklearen
Geister“ zu scheiden schienen – mit Ausnahme der nach außen Einigkeit ausstrahlenden
Regierung trat während des Untersuchungszeitraumes kaum eine Akteursgruppe geschlossen
auf, die Konfliktlinie verlief nur bedingt entlang der üblichen politischen Lager. So kamen z.B.
die DemokratenInnen im Senat zu anderen Schlüssen als ihre KollegInnen im
Repräsentantenhaus und einige Republikaner mussten sich dem Vorwurf stellen, die Politik
der falschen Partei zu vertreten. Darüber hinaus gaben nicht nur langjährige AnalystInnen der
Nuklear- und Sicherheitsstrategien gegensätzliche Politikbewertungen und -empfehlungen ab,
auch hochrangige Bedienstete des Militärs vertraten öffentlich unterschiedliche Standpunkte,
während sich die Wissenschaft ihrerseits in interne Debatten hinsichtlich des technisch
Machbaren, aber auch des politisch Wünschbaren verstrickte. Die gleiche Spaltung fand sich
in der Bevölkerung ebenso wie zwischen und auch innerhalb der VertreterInnen der einzelnen
Medien. Die Differenzen reichten von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen über
Meinungsverschiedenheiten
in
einigen
Aspekten
bis
hin
zu
völlig
konträren
Schlussfolgerungen. Im Laufe des analysierten Diskurses bewegten sich die Positionen kaum
aufeinander zu und ließen ebenso wenig Anzeichen für eine Verständigungsorientierung der
Akteure deutlich werden; auch die Bandbreite der Argumente blieb weitgehend unverändert.
Auffällig ist außer diesem Befund auch, dass sich das Akteursspektrum über die Jahre nicht
signifikant veränderte – so meldeten sich immer wieder die gleichen Personen und
Institutionen zu Wort, die entweder die Gefährdung des nuklearen Tabus durch die
Politikveränderung anmahnten oder aber letztere verteidigten. Von letztgenannter Seite wurde
jedoch – anders als von den VertreterInnen der Gegenposition – weder jemals den Begriff
„nukleares Tabu“ verwendet, noch sich explizit gegen diese Norm ausgesprochen und
öffentlich die Existenz des Tabus beklagt, wie es Eisenhower und Dulles in den 1950er Jahren
getan hatten. Vielmehr haben es zahlreiche norm challengers gezielt an einigen Punkten
angegriffen, dennoch häufig nicht ohne noch im gleichen Satz zu bekräftigen, dass seine
zentralen Komponenten nach wie vor Gültigkeit hätten (wie unter 6.2.3 zu sehen sein wird).
850
Z.B. hatte der Abrüstungsaktivist William Arkin, der auch in Zusammenhang mit der Veröffentlichung der
NPR eine entscheidende Rolle gespielt hatte, bereits 1993 Planungen von mini-nuke-Studien im Pentagon
aufgedeckt und öffentlich skandalisiert, woraufhin der Kongress einen Teststoppbeschluss erließ, dem sich
die Regierung anschloss, s. auch S. 136 und FN 816 (S. 221) dieser Arbeit.
– 230 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Wie bereits geschildert, kann das von der Regierung nicht vorgesehene öffentliche
Bekanntwerden der NPR als Anstoß der Diskussion gelten. Doch welche Inhalte dieses
Dokumentes erregten die Gemüter so sehr, dass eine Debatte losbrechen konnte, die die
Administration zwar vermeiden wollte, indem sie das Dokument zunächst unter Verschluss
hielt und nach seinem Bekanntwerden zumindest seine Bedeutung herunterspielte, die aber
andere Akteure, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, größtenteils begrüßten?851
Brisante Inhalte der Nuclear Posture Review
Ausgehend von der Feststellung, dass Russland nicht länger als Feind der USA angesehen
werden müsse und sich somit die Notwendigkeit erübrige, die US-Nuklearpolitik an dieser
Bedrohung auszurichten, verwies die NPR auf grundlegende Veränderungen im nationalen
wie internationalen Sicherheitsumfeld der USA. Anstelle der Gefahr durch einen Gegner mit
dem Potential, das Land völlig zu zerstören, sei nun „a broad spectrum of potential opponents”
getreten, die neuartige, „unpredicted security challenges” und „immediate, potential or
unexpected contingencies” mit sich brächten, wobei die zunehmende Anzahl von nach
Massenvernichtungswaffen strebenden Staaten eine besondere Bedrohung darstelle.852 In
Anbetracht dieser Veränderungen, v.a. der wachsenden Unsicherheit über drohende Gefahren
im Gegensatz zur vorherigen relativen Stabilität, sei eine Abkehr von einem „threat-based
approach“ hin zu einem „capabilities-based-approach “ vonnöten, worunter die Sicherstellung
der Fähigkeit, auf unvorhersehbare Bedrohungen nationaler Integrität flexibel, schnell und
angemessen zu reagieren, verstanden wurde.853 Entsprechend ergibt sich auch, dass die NPR
nicht nur Reduktionen des bestehenden Nuklearwaffenarsenals auf „the lowest levels
consistent with U.S. national security, as well as the security of U.S. friends and allies“ vorsah,
sondern im Rahmen einer neuen Abschreckungspolitik die bisherige nukleare Triade
(bestehend
aus
Interkontinentalraketen,
schweren
Bombern
und
U-Boot-basierten
ballistischen Flugkörpern) als ein Element in die „new triad “ integriert werden sollte: Die drei
genannten nuklearen Bestandteile sollten zusammen mit verbesserten konventionellen Waffen
zu einem der Eckpunkte dieser Triade („nonnuclear and nuclear strike capabilities“) werden, zu
der neben der Raketenabwehr854 und einer Flexibilisierung der militärischen Infrastruktur
851
852
853
854
Siehe hierzu ausführlich S. 240 der Arbeit.
Vgl. Nuclear Posture Review 2002, Auszüge, online unter: <http://www.globalsecurity.org
/wmd/library/policy/dod/npr.htm>, rev. 01.08.2006 sowie den für den Kongress erstellten Report zu
diesem Thema von Wolf, Amy 2002: The Nuclear Posture Review: Overview and Emerging Issues. Als
einen der ersten hierzu publizierten Artikel s. Arkin, William M. 2002: Secret Plan Outlines the Unthinkable,
in: Los Angeles Times, 10. März 2002.
S. hierzu auch: Sokolsky, Richard 2002: Nuclear Underachievers, Gastkommentar in: Washington Post,
17.01.2002.
Die Errichtung einer nationalen Raketenabwehr stand schon seit der Amtszeit Eisenhowers immer wieder
zur Diskussion, und erreichte 1983 mit dem „Star Wars “-Forschungsprogramm Ronald Reagans ihren
Höhepunkt: Der damalige Präsident hatte die Vision, sowjetische Raketen bereits im Weltraum mittels
Laser-Satelliten abwehren zu können. Wie so vieles im Nuklearsektor, erschienen diese Forschungen mit
dem Zusammenbruch des großen nuklearen Gegners zunächst obsolet – mit der verstärkten Wahrnehmung
neuer nuklearer Gefahren seitens der „Schurkenstaaten“ rückte der Aufbau eines Raketenschutzschildes
– 231 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
(worunter v.a. die Bereitstellung notwendiger Forschungs- und Produktionseinrichtungen
gefasst wurde) auch eine Verbesserung der sogenannten „command, control, communications
and intelligence “-Fähigkeiten zählten.855 Hierdurch sollte nicht nur die Glaubwürdigkeit der
Abschreckung erhöht, sondern auch den Alliierten der USA zugesichert werden, dass sie im
Fall der Fälle – ähnlich wie im Kalten Krieg – durch die Supermacht verteidigt werden
können. Im Mittelpunkt stand nach wie vor das Potential, mögliche Gegner „from challenging
the United States with nuclear weapons or other ‚asymmetrical threats’“ abzubringen und sie –
sollte die Abschreckung misslingen – zu besiegen. Nicht nur Russland und China wurden in
diesem Rahmen, trotz der verbesserten Beziehungen zu diesen Ländern, als potentielles Ziel
einer nuklearen Attacke genannt, das Pentagon sollte zusätzlich mit der Ausarbeitung von
Angriffsplänen für die Mitglieder der „Achse des Bösen“, nämlich Irak, Iran, Libyen,
Nordkorea und Syrien beginnen. Gerade im Zusammenhang mit „Schurkenstaaten“ wurde
immer wieder auf die von hard and deeply buried targets (HDBT) ausgehenden Gefahren
hingewiesen – so könnten sich die Führungen der Länder im Falle eines US-Angriffs
unerreichbar verstecken, zudem würden HDBTs als Lagerungs- und Produktionsstätten von
Massenvernichtungswaffen dienen. Angesichts dieser Risiken betonte die NPR die
Notwendigkeit zur Entwicklung neuer Nuklearwaffen mit einer geringeren Sprengkraft, die in
der Lage sein müssten
„to defeat emerging threats such as hard and deeply buried targets (…), to find and attack
mobile and relocatable targets, to defeat chemical or biological agents, [able to withstand
non-nuclear attack] and to improve accuracy and limit collateral damage.“
Vier Aspekte der NPR erscheinen im Hinblick auf das nukleare Tabu besonders relevant:
Erstens brachte sie zum Ausdruck, dass sich das Szenario einer nuklearen Apokalypse
gleichzeitig mit der UdSSR aufgelöst hatte. Zugleich lenkte sie die Aufmerksamkeit, zweitens,
auf neue Bedrohungen und neue potentielle Ziele, aufgrund derer eine reine
Abschreckungsbestimmung der Nuklearwaffen nicht mehr ausreichte und die folglich die
Übernahme einer offensiven Funktion des ehemals passiv schützenden Totems erforderlich
machten. Zuvor undenkbare Nuklearwaffeneinsätze sollten nicht nur ins Auge gefasst werden,
sondern auch drittens, eine gemeinsame Strategie mit konventionellen Kampfmitteln bilden,
wodurch die klare Trennung zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung verwischt
würde. Viertens kann das Bestreben, neue Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft zu
855
allerdings bereits unter Clinton wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, von der Nachfolgeregierung Bush
wurde die National Missile Defense (NMD) schließlich zu einem wichtigen Ziel erklärt. Von den
OpponentInnen dieses Verteidigungstechnologie wird neben ihren hohen Kosten und der zweifelhaften
Effektivität (das System könne leicht getäuscht werden) vor allem die Gefahr einer erneuten Rüstungsspirale
angeführt. Demnach könnten sich vor allem Russland und China dadurch animiert sehen, die eigenen
Waffenarsenale zu vergrößern, um das Schutzschild ggf. durchbrechen zu können. Für eine
Zusammenfassung dieser Kontroverse s. Newhouse, John 2001: The Missile Defense Debate, in: Foreign
Affairs 80:4, S. 97-109.
Vgl. hierzu ausführlicher: Russell, James/Wirtz, James J. 2002: A Quiet Revolution: The New Nuclear
Triad, in: Strategic Insight, 1. Mai 2002 sowie Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear
Operations, 15.03.2005.
– 232 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
entwickeln, als eine Senkung der nuklearen Hemmschwelle interpretiert werden, wie es
zahlreiche, um das nukleare Tabu besorgte Akteure taten.
Stimmen unmittelbar nach der Veröffentlichung
„Nuts about nukes” 856
Konnte die zuletzt genannte Forderung, den Bestand an Nuklearwaffen um mini-nukes und
bunker-buster zu erweitern, Anfang der 90er Jahre recht schnell als illegitim zurückgewiesen
werden und wurden die von der Regierung bereits zuvor angeforderten Studien kaum
beachtet,857 so sollte die Entwicklung neuer Waffen mit dem Abdruck geheimer Passagen der
Nuclear Posture Review im März 2002 doch zu einem wichtigen Leitmotiv des nun intensiv –
sogar mit speziell deklarierten Debattentagen858 – geführten Diskurses werden. Die
Einschätzung, welche Akteure sich in seinem Verlauf als norm challengers, welche hingegen
als VerteidigerInnen des Tabus einzustufen seien, konnte vergleichsweise selten anhand einer
offenen Positionierung für oder gegen nukleare Einsätze erfolgen, sondern vielmehr indirekt
anhand des genannten Leitmotivs, d.h. also aus der Befürwortung resp. Ablehnung neuer
Waffenentwicklungen gewonnen werden.
Schon im ersten Bericht der NPR-Debattenwelle wurden in der Los Angeles Times
alarmierte VertreterInnen von abrüstungsnahen Think Tanks wie der Nuklearwaffenexperte
John Cirincione vom Carnegie Endowment for International Peace und der Präsident des
Council for a Livable World, John Isaacs, zitiert, die den Wunsch nach kleineren Nuklearwaffen
als ein Zeichen dafür interpretierten, dass „the Bush administration is more willing to overlook
a long-standing taboo against the use of nuclear weapons except as a last resort“.859 Dieser
ablehnenden Haltung wurde jedoch zugleich die Aussage des Verteidigungsanalysten der
konservativen Heritage Foundation, Jack Spencer, entgegengesetzt, der die Review als „the
right way to develop a nuclear posture for a post-Cold War world “ bewertete. Erste Reaktionen
von Seiten der Administration verdeutlichten das Bestreben, die Debatte einzudämmen und
die Bedeutung des Dokuments herunterzuspielen. So erklärte Vizepräsident Dick Cheney, das
Papier gäbe lediglich „some idea of directions we’d like to move in the future“860 und der
damalige Außenminister Colin Powell betonte bei seinem Auftritt in der Fernsehsendung
„Face the Nation“ des Senders CBS am 10. März 2002, eine Prüfung unterschiedlicher
Handlungsoptionen sei völlig normal und würde permanent durchgeführt:861
856
857
858
859
860
861
McGrory, Mary 2002: Nuts about Nukes, in: Washington Post, 14.03.2002. Die Redakteurin lehnt ihren
Titel an das von ihr verwendete Zitat des Nuklearexperten Joseph Cirincione an, mit dem er seiner
Befürchtung, „nukleare Irren“ seien and die Macht gekommen, Ausdruck verlieh: „It means that the nuclear
nuts have seized control of the policy apparatus.“
S. FN 849, (S. 229) der Arbeit.
Z.B. USA Today: Today’s Debate: Nuclear Weapons, in USA Today, 13.03.2002.
Richter, Paul 2002: „U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“, in: Los Angeles Times, 09.03.2002.
Zitiert in: Gordon, Michael R. 2002: A Nation Challenged: Diplomacy, in: New York Times, 12.03.2002.
Mit der Betonung der Routine solcher Überlegungen reagierte die Regierung gänzlich anders als im Fall der
Folter, in dem sie – obwohl es zahlreiche Forderungen danach gab, die Option, zum Zwecke der
– 233 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
„We’re always reviewing our options – military options, conventional weapons, nuclear
weapons. We’re always reviewing our diplomatic and economic and political options. And
one of the things we’re required to by Congress is make a review of our nuclear
weapons posture.“
Des Weiteren bemühte er sich, klarzustellen, dass es keine Pläne zur Entwicklung neuer
Waffen gäbe, sondern die Administration lediglich an der Auslotung der Möglichkeiten
interessiert sei, bereits vorhandene Waffen zu modifizieren:
„[A]n aspect of this story saying we’re getting ready to develop new nuclear weapons. We
are not. What we are looking at and what we’ve asked the Pentagon to do is to see
whether or not within our lowered inventory levels, we might want to modify or update
or change some of the weapons in our inventory to make them more effective. But we
are not developing brand-new nuclear weapons…”862
Diese – auf die Betonung politischer Kontinuität zielende – Regierungsposition kam auch in
einem zeitgleich ausgestrahlten Interview mit der damaligen Sicherheitsberaterin und späteren
Amtsnachfolgerin Powells, Condoleezza Rice, zum Ausdruck, die darauf hinwies, es könne
keine Überraschung sein, dass die Regierung sich mit neuen Bedrohungen auseinandersetze –
sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, sei nichts Neues. Der Präsident selbst stimmte
einige Tage später ein: „The nuclear review is not new“.863 Nach Darstellung der Los Angeles
Times hatten zwei Mitglieder des Armed Services Committee des Senats, der Republikaner
John W. Warner sowie der Demokrat Joseph I. Lieberman,864 hingegen offen zugegeben, dass
eine Neuausrichtung der Politik an veränderten Anforderungen notwendig sei und dass
Militärstrategen „more broadly “ über Verwendungsmöglichkeiten von Nuklearwaffen
nachdächten. Gleichzeitig wurde hervorgehoben, dass Abschreckung nach wie vor das
nuklearpolitische Primat darstelle, worauf das Bekanntwerden der in der NPR geäußerten
Ziele laut Lieberman einen positiven Effekt haben könne:
„Frankly, I don’t mind some of these renegade nations who we have reason to believe are
working themselves to develop nuclear weapons – and I’m thinking of Iraq and Iran and
North Korea here – to think twice about the willingness of the United States to take
action to defend our people and our values and our allies.“865
862
863
864
865
Informationsgewinnung zu foltern, genauso durchzuspielen wie andere – dezidiert dementierte, dass eine
Überprüfung dieser Alternative überhaupt, geschweige denn routinemäßig stattfinde. S. genauer S. 172
der Arbeit.
CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on
terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002.
NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript
der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002; George W. Bush zitiert in: Milbank, Dana 2002: Policy
Changes? What Policy Changes?, in: Washington Post, 26.03.2002.
Lieberman ist für seine allgemein eher dem konservativen Rand des demokratischen Spektrums
zuzuordnende Einstellungen bekannt – letztere und seine Befürwortung des Irak-Krieges sollen ihn im
August 2006 die „primaries“ gekostet haben, so dass er nun, nach insgesamt 18 Jahren nicht mehr für die
Demokraten in den Senat einziehen kann. S. Nagourney, Adam 2006: Democrats reject key supporter or
Iraq war, in: International Herald Tribune, 10.08.2006 sowie Scheiber, Noam 2006: Rewriting the rules of
American politics; the Lieberman lesson, in: International Herald Tribune, 10.08.2006.
Savage, David D. 2002: Nuclear Plan Meant to Deter, Los Angeles Times, 11.03.2002.
– 234 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Obwohl sich neben den alarmierten Stimmen in den darauf folgenden Tagen weitere Akteure,
z.B. der Chairman der Vereinten Stabschefs, General Richard B. Myers sowie einige (Gast-)
KommentatorInnen der Los Angeles Times und der USA Today (z.B. Frank Gaffney Jr.,
Direktor des Center for Security Policy) zustimmend über die – offenkundig gewordene, doch
von ihr selbst verharmloste – Regierungslinie äußerten,866 beklagte der Direktor des Lexington
Institute , Loren B. Thompson, im Wall Street Journal am 13. März dennoch die Einseitigkeit
der Berichterstattung: Die „breathless media coverage“ würde fälschlicherweise nahe legen,
dass „Dr. Strangelove had taken control of the Pentagon“. Zum Durchatmen riet er nicht nur
den von ihm abwertend als „scribes“ bezeichneten RedakteurInnen der (bis dato) ausnahmslos
sehr kritisch berichtenden New York Times, nachdem diese die Vereinigten Staaten als
„Nuclear Rogue“ betitelt hatte, sondern auch den in der NPR genannten Zielländern, die
„quickly got their backs up“, um ihr Entsetzen über die Inhalte des Strategiepapiers zu
äußern.867 Auch der regelmäßig hierzu publizierende Reporter der Washington Post zu diesem
Thema, Walter Pincus, rief am gleichen Tag im Editorial zu einer sorgfältigen und besonnenen
Berichterstattung auf und ordnete die in der NPR enthaltenen Vorschläge als Fortsetzung der
bereits unter Clinton begonnenen Versuche, das Kalte-Kriegs-Denken zu überwinden, ein,
deren grundsätzliche Richtung „admirable“ sei – die Pläne zu neuen Waffenentwicklungen
bezeichnete er hingegen als „troubling“.868
Ebenfalls besorgt zeigte sich auch der ehemalige Verteidigungsminister Robert
McNamara, der der Regierung vorwarf, auf eine Politik der „unilateral assured destruction“ zu
setzen und WMD-Proliferation anzureizen.869 Ähnliche Bedenken hatten inzwischen einige
demokratische SenatorInnen wie der zukünftige Präsidentschaftskandidat John Kerry sowie
Dianne Feinstein (Mitglied des Senate Intelligence Committee), die auch in Zukunft
prominent als Regierungskritikerin zu diesem Thema auftreten sollte, geäußert. Sie und
weitere Senatsmitglieder grenzten sich damit nicht nur vom bereits zitierten Parteikollegen
Lieberman ab, sondern reagierten zudem anders als der demokratische Mehrheitsführer Tom
Daschle, der mit dem Hinweis, für Kritik sei es noch zu früh und man benötige weitere
Informationen, keine Position beziehen wollte.870 Gleichermaßen fanden sich in den zu
866
867
868
869
870
So führt z.B. James P. Pinkerton in der LA Times aus, militärische Planungen wie die NPR seien üblich und
notwendig, können aber nur ein erster Schritt sein – dass dieser getan wurde, erkannte auch Gaffney Jr. an,
indem er die NPR als eine längst überfällige sowie „ important – and laudable departure from recent policies
toward nuclear weapons“ charakterisierte. S. Pinkerton, James P. 2002: Unthinkable, but Not Unusual, Los
Angeles Times, 12.03.2002 und Gaffney Jr., Frank 2002: Nuclear Reform Overdue, in: USA Today
13. März 2002.
Thompson, Loren B. 2002: How To Stop Worrying and Love the Bomb, in: Wall Street Journal, 13.03.2002,
das erwähnte Editorial der New York Times vom 14. März 2002 mit einem Gastkommentar: Krepinevich,
Andrew 2002: The Real Problems With Our Nuclear Posture. Krepinevich ist Direktor des VerteidigungsThink-Tanks Center for Strategic and Budgetary Assessments.
Editorial der Washington Post vom 13. März 2002: The Nuclear Posture.
McNamara, Robert S./Graham, Thomas Jr. 2002: A Pretty Poor Posture For a Superpower, in: Los Angeles
Times, 13.03.2002.
Miller, Greg 2002: Democrats Divide Over Nuclear Plan, in: Los Angeles Times 13.03.2002.
– 235 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
diesem Zeitpunkt veröffentlichten Leserbriefen, wenig überraschend, sowohl NPRbefürwortende als auch -ablehnende Standpunkte, wobei im folgenden Zitat weniger die
Regierungspolitik als vielmehr das „verantwortungslose“ Anstoßen der Debatte durch die Los
Angeles Times auf Kritik stieß:
„What can you be thinking of with the screaming March 9 headline: ‚U.S. Works Up Plan
for Using Nuclear Arms’? Do you think the nations targeted, already unstable, do not
read newspapers? What do you think their reaction will be? Oh, dear? Or, fire up the
nukes and get in first. There are some things that should be kept within the purview of
Congress. This is one of them. You have chosen the path of irresponsible reporting
at its worst.“871
Nach der intensiven und, wie deutlich geworden ist, sehr hitzig und polemisch geführten
Auseinandersetzung in den ersten beiden Wochen seit Erscheinen der NPR flachte die
Nukleardebatte Ende März jedoch wieder ab, sollte im restlichen Jahr 2002, wie in den
folgenden Jahren auch, aber immer wieder aufkommen, wenn auch nicht mehr in einer
vergleichbaren Dichte. Die bereits am Diskursbeginn deutlich gewordene Spaltung dieser
Zeitungen sollte fortbestehen: So behielt die linksliberale New York Times ihren deutlichen
Widerstand gegen sämtliche Maßnahmen, die das nukleare Tabu gefährden könnten, bei und
druckte vornehmlich dieser Positionierung zustimmende Gastkommentare und Leserbriefe
ab. Die Washington Post und die USA Today blieben auf eine möglichst ausgewogene
Berichterstattung bedacht, während das Wall Street Journal auch im Folgenden die
Regierungsposition offensiver vertrat als sie selbst sowie in Leserbriefen entsprechende
Stimmen aus der Bevölkerung veröffentlichte und auf diese Weise eine Schwächung des
nuklearen Tabus zum Ausdruck brachte – und förderte.872
Budgetentscheidungen in Senat und Repräsentantenhaus als „Debatten-trigger”
Der noch im Jahr 2000 vom Kongress angeforderte und ihm im Dezember 2002 seitens des
Pentagons präsentierte bunker buster-Bericht blieb – angesichts der gerade einmal ein
Dreivierteljahr zurückliegenden NPR-Kontroverse überraschenderweise – medial weitgehend
unbeachtet,873 obwohl die Administration hierin zu dem Schluss kam, nukleare preemptive
strikes auf gegnerische unterirdische Massenvernichtungswaffendepots könnten notwendig
werden. Wiederum war es die Los Angeles Times (und zum wiederholten Male ihr Kolumnist
William Arkin), die im Januar 2003 – und damit im Vorfeld des Irak-Krieges – einen Skandal
provozierte, indem sie verkündete, die Militärplaner spielten nukleare Optionen für den
bevorstehenden Angriff durch.874 In der Tat entgegnete der Chief of Staff des Weißen Hauses,
871
872
873
874
So eine Leserin im Leserbrief-Sample: „Carrying Out a Nuclear Attack“, in: Los Angeles Times, 16.03.2002.
Es soll nicht der Eindruck vermittelt werden, die Zeitungen hätten selektiv nur LeserInnen mit einer
bestimmten Meinung zu Wort kommen lassen – es liegt vielmehr auf der Hand, dass die Leserschaft der
Blätter in der Tat mehrheitlich ihre generelle politische Ausrichtung teilte.
Für eine Ausnahme s. Pincus, Walter 2002: Nuclear Strike on Bunkers Assessed, in: Washington Post vom
20.12.2002.
Arkin, William 2003: The Nuclear Option in Iraq, in: Los Angeles Times, 26. Januar 2003.
– 236 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Andrew H. Card, in einem NBC-Interview auf die Frage, ob auch nukleare Mittel zur Debatte
stünden, er werde nichts ausschließen:
„I’m not going to put anything on the table or off the table, but we have a responsibility
to make sure Saddam Hussein and his generals do not use weapons
of mass destruction.“875
Auf die Bestätigung dieser Äußerungen, die offensichtlich an die schon einmal 1991 gegen
Hussein erfolgreich angewendete Abschreckungsstrategie anknüpften, durch Präsident Bush
und Verteidigungsminister Rumsfeld sowie die Bekanntgabe der Regierungspläne, der
Forderung der NPR nachzukommen und Forschungen zu low-yield-weapons aufzunehmen,
folgten wiederum einige aufgeregte Leserbriefe und Zeitungsartikel, die den beiden „madmen “
ein moralisches Bewusstsein absprachen.876 Davon unbeirrt, legte die Regierung für das Jahr
2004 dem Kongress einen Haushalt vor, der 15 Millionen USD allein für Forschungen zum
RNEP vorsah.877 Die Summe wurde im Mai nach einem Kongress-hearing des Senats gegen
den Widerstand der Demokraten bewilligt, womit auch das 1992 verhängte Testmoratorium
fiel.878 Während die Maßnahme vom Abrüstungsexperten Daryl Kimball (Direktor der Arms
Control Association) als Beginn einer „new era of a global nuclear arms competition“ und vom
demokratischen Senator Jack Reed als Ermöglichung einer „small apocalypse“ bewertet wurde
(beides Einschätzungen, die von anderen Akteuren in ähnlicher Weise bereits zur NPR
abgegeben worden waren), zeigte sich die Heritage Foundation vielmehr darüber bekümmert,
der vom Kongress eingeschlagene Weg könnte ein schnelles Ende finden, was aus ihrer Sicht
ein großer Fehler wäre.879 Diese Befürchtung ihres Experten Jack Spencer erwies sich als nicht
unbegründet, wie die im Juli 2003 mit einem Stimmenverhältnis von 377 zu 26 erfolgte
Kürzung der RNEP-Finanzierung im republikanisch dominierten Repräsentantenhaus zeigen
sollte. Es handelte sich hierbei jedoch nur um einen vorübergehenden Erfolg für die
GegnerInnen der neuen Forschungen, denn bereits im September wurden die bewilligten
Mittel nach einer Vermittlung zwischen den beiden Kammern wieder auf ihre ursprüngliche
Höhe aufgestockt.
Dieses mittels des Budgetierungsrechts ausgetragene Tauziehen um die Ausrichtung der
US-Nuklearpolitik, in dem die große Unsicherheit über die in Zukunft einzuschlagende
875
876
877
878
879
NBC 2003: Andrew Card discusses the State of the Union, the situation in Iraq, affirmative action and Title
IX, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 26.01.2003.
Leserbrief „Dr. Strangelove Is Living in the White House“, in: Los Angeles Times, 28.01.2003 sowie
Kristof, Nicholas D. 2003: Flirting With Disaster, in: New York Times, 14.02.2003.
Angabe nach: Federal Document Clearing House Congressional Testimony, FISCAL 2004 DEFENSE
AUTHORIZATION: STRATEGIC FORCES, 08.04.2003.
S. zum Teststopp S. 136 der Arbeit, zu den Vorgängen im Frühjahr 2003 u.a.: Pincus, Walter 2003: Future
of U.S. Nuclear Arsenal Debated, in: Washington Post, 04.05.2003, Squitieri, Tom 2003: Senate OKs ending
ban on nuclear research, in: USA Today, 21.05.2003, Dewar, Helen 2003: Nuclear Weapons Development
Tied to Hill Approval, in: Washington Post, 22.05.2003, Hulse, Carl/Dao, James 2003: Cold War Long
Over, Bush Administration Examines Steps to a Revamped Arsenal, in: New York Times, 29.05.2003.
S. Spencer, Jack 2003: Congress’s Vital Role in Building a Strong National Defense, „backgrounder” der
Heritage Foundation, Juni 2003.
– 237 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Richtung der Sicherheitspolitik der USA zum Ausdruck kam, sollte sich in den nächsten zwei
Jahren fortsetzen: Im Sommer 2004 verweigerte zwar das Repräsentantenhaus die Fortsetzung
der Finanzierung entsprechender Forschungsprogramme vollständig. Weil der Senat in dieser
Frage jedoch dem Regierungsantrag stattgab, kam es im September zu einer Abstimmung im
Kongress, in deren Rahmen ein Finanzierungsstopp beschlossen wurde. Somit stellte sich das
mehrheitlich republikanische Parlament gegen die Administration – was auch ein Erfolg der
Bemühungen des Republikaners David L. Hobson, Chairman des House Appropriations
Subcommittee , war, der aus der Befürchtung heraus gegen den RNEP kämpfte, dass „some
idiot might try to use it“880 und die Entscheidung als ein deutliches Zeichen an die
Administration gewertet sehen wollte:
„The Bush administration, Hobson said yesterday, ‚should read this as a clear signal from
Congress’ that any attempt to revive the funding in next year’s budget ‚would get the
same reaction.’ He added that he had not heard any threat of a veto and ‚nobody has
come to me and said we can’t have this.’”881
Die von neuen Waffenentwicklungen ausgehende Gefährdung des nuklearen Tabus schien zu
diesem Zeitpunkt mit der gleichen Maßnahme wie schon 1993 abgewendet – zwar sollte
Hobson mit seiner Vorhersage, der Kongress würde nächstes Jahr eine mögliche
Finanzierungsforderung erneut ablehnen, Recht behalten, allerdings für diese Entscheidung
im Unterschied zu den 1990er Jahren auch umfangreiche Kritik von Seiten der Administration
wie von einigen MedienvertreterInnen und diversen Think Tanks ernten: Außer, dass er die
Vereinigten Staaten zur unilateralen Abrüstung verdammt (Center for Security Policy) und sein
„confused picture of the post-Cold War world “ (National Institute for Public Policy) offenbart
habe, sei es auch eine Anmaßung, über die Nuklearpolitik der Vereinigten Staaten entscheiden
zu wollen, ohne Präsident zu sein:
„The Congressman is within his rights as representative to try and quash this or that
budget item through the power of the purse. And if Mr. Hobson wants to run for
president, he can do that, too. Until then (…) [h]is colleagues and party leaders might be
surprised to learn that a subcommittee chairman wants to determine the nuclear posture
of the United States.“882
Diese Anmahnung des Status des High Priests traf nicht nur auf Hobson zu, denn die
Regierung hat es im Hinblick auf die Kongressentscheidung anscheinend ähnlich gesehen:
Anders als Anfang der 90er Jahre, als sich Präsident Bush Senior dem Druck des Parlaments
beugte und das Testmoratorium unterzeichnete, machte die Regierung seines Sohnes keinen
Hehl aus der Absicht, Studien zu den neuen Waffen, ungeachtet des Kongressbeschlusses,
880
881
882
Zitiert nach: Kimball, Daryl 2005: Congress Cuts Nuclear Bunker Buster. „Proliferation Analysis“ des
Carnegie Endowment for International Peace.
Pincus, Walter 2004: Funds for Atomic Bomb Research Cut From Spending Bill, in: Washington Post,
23.11.2004.
So das Editorial des Wall Street Journal vom 03. März 2005 mit dem Titel „Hobson’s Choice ”. Es handelt
sich bei der Überschrift um ein englisches Wortspiel – Hobson’s Choice bedeutet demnach, „no choice at
all“, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, welche Optionen die Kongressentscheidung für die
Verteidigung der USA offen lasse.
– 238 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
fortzusetzen. Nachdem sich Rumsfeld im Februar 2005 in einer Memo an Energieminister
Spencer Abraham dafür ausgesprochen hatte, die „nukleare Infrastruktur zu revitalisieren“,
fand sich der RNEP-Posten auch in der Budgetvorlage für das Fiskaljahr 2006 wieder.883 Nach
der im April erschienenen Studie des angesehenen National Research Council, die den Inhalten
der kurz zuvor veröffentlichten Nukleardoktrin der Joint Chiefs of Staff sowie einigen anderen
Kapazitäts- und Strategiestudien widersprach, indem sie neben den technischen Fähigkeiten
auch einen möglichen clean use neuer Waffen anzweifelte sowie davor warnte, dass sie
ebenfalls „massive casualties at ground level“ verursachen würden, wiederholte sich das
„Budget-Spiel“ des letzten Jahres:884 Im September 2005 strich der Kongress die
Forschungsgelder, nachdem diese vorher erneut im Repräsentantenhaus abgelehnt und im
Senat genehmigt worden waren. Wenn die Administration auch einzulenken schien und der
RNEP im Haushaltsentwurf 2007 nicht mehr vorkam, so ist dennoch alles andere als sicher,
ob der ungradlinig verlaufende Weg der nuklearpolitischen Wende hiermit beendet wurde
oder die Forschungen lediglich unter anderen Bezeichnungen fortgesetzt werden.885
Wie in diesem Teil deutlich gezeigt wurde, ist die US-Regierung, durch die überraschende
Veröffentlichung der Nuclear Posture Review zunächst überrumpelt und zurückhaltend
reagierend, im Laufe der Debatte bezüglich der eigenen Pläne offensiver geworden. Dies lag
sicherlich nicht zuletzt an der systembedingten Einschränkung, eine Finanzierung der Studien
nicht ohne Zustimmung des Kongresses durchsetzen zu können, so dass öffentliches
Interesse für diese Angelegenheit in Kauf genommen werden musste und eine Positionierung
in der Öffentlichkeit nicht vermieden werden konnte. Ein weiterer, nicht zu
vernachlässigender Faktor ist jedoch auch die von verschiedenen Seiten entgegengebrachte
Unterstützung der Regierungspläne: Insbesondere die Think-Tank-StrategInnen schienen die
Anwaltschaft für die angestrebten politischen Veränderungen übernommen zu haben – ohne
dem öffentlichen Druck und der Rechenschaftspflicht, unter denen eine Regierung
naturgemäß steht, ausgesetzt zu sein, war es ihnen möglich, die Debatte zu verschärfen und
den argumentativen Weg für die politischen Maßnahmen zu bereiten.
883
884
885
Pincus, Walter 2005: Rumsfeld Seeks to Revive Burrowing Nuclear Bomb, in: Washington Post, 01.02.2005.
S. hierzu: Broad, William J. 2005: Panel Finds Flaws in Plan For Weapon, in: New York Times, 28.04.2005,
Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington Post, 28.04.2005, außerdem:
Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005; Defense Science Board 2004:
Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces. Für ältere Studien zu neuen Nuklearwaffen s.
Verweise in FN 848 (S. 229) der Arbeit.
So wurden für das Jahr 2007 z.B. Forschungsgelder für das Hard and Deeply Buried Target Defeat System
(HDBTDS) beantragt; nukleare bunker busters werden darin nicht explizit erwähnt, dennoch sind einige der
Ansicht, dass auch nukleare Komponenten von diesem Forschungsprogramm gedeckt seien. S. Bruno,
Michael 2006: RNEP funds not requested for FY ‘07, but similar program boosted, in: Aerospace Daily &
Defense Report, 10.02.2006.
– 239 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
6.2.3 Diskursive Schwächung des nuklearen Tabus
Während der vorherige Teil dieses Kapitels besondere Zeitpunkte des Diskussionsprozesses
beleuchtete
sowie
einen
Überblick
über
die
DiskursteilnehmerInnen
und
ihre
Positionierungen zueinander bot, die Argumente selbst allerdings nur angedeutet werden
konnten, stehen im Folgenden Argumentationsweisen, die die Erosion des nuklearen Tabus
nicht nur offenkundig werden ließen, sondern sie aktiv vorantrieben (bzw. vorantreiben
sollten), im Mittelpunkt. Da sich, wie schon auf Seite 230 festgestellt, das Spektrum der
Argumente im Laufe der Zeit kaum veränderte, werde ich eine thematisch (und nicht
chronologisch) gegliederte Rekonstruktion des Diskurses vornehmen und hierbei wie folgt
vorgehen: Wie in den Vorüberlegungen zur Tabuerosion ausgeführt (s. S. 42), kann bereits der
Ausbruch einer Debatte als Teil der Enttabuisierung gelten, weshalb zunächst dargestellt wird,
inwiefern das bloße Führen der Diskussion von den Akteuren thematisiert wurde. In Folge
darauf werde ich aus der Perspektive der Akteure Veränderungen im Sicherheitsumfeld der
Vereinigten Staaten beschreiben und hierbei ihre Bedrohungswahrnehmung fokussieren, um
anschließend daran die gezogenen Schlüsse für die Aufrechterhaltung der nationalen
Sicherheit – entlang der Punkten Abschreckung, Verteidigung und Proliferationsverhinderung
– auszuführen. Hieran anknüpfend werde ich betrachten, wie die Akteure sich in der Frage
„Kontinuität oder Wandel der Nuklearpolitik“ positionierten. Von besonderer Bedeutung
werden hier explizite Referenzen zum nuklearen Tabu und zur nuklearen Schwelle sein, sowie
die Debatte um militärische nukleare Forschung, Entwicklung und Herstellung – es ist nahe
liegend, dass in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Wissenschaft berücksichtigt wird.
Schließen wird dieses Kapitel mit den im Diskurs geäußerten moralischen Überlegungen.
Führen der Debatte – aus unterschiedlichen Gründen begrüßt
„[A] national debate on nuclear strategy might be healthy” 886
Schon die semantische Verknüpfung zwischen „healthy “ und „nuclear“, wie sie sich im
Eingangszitat findet, mutet seltsam an, und umso befremdlicher wirkt es, wenn man sich vor
Augen führt, dass diese Aussage sich auf die Debatte einer Strategie bezog, die das
Überdenken des unthinkable nahe legte und beabsichtigte, mittels neuer nukes nukleare
Einsätze politisch und technisch durchführbarer werden zu lassen. Dass jemand, der das
nukleare Tabu als unangemessene Restriktion empfand, eine solche Auffassung vertrat und in
einer Debatte die Chance erkannte, das Verbot zu schwächen, ist nicht weiter überraschend,
sondern (möglicherweise unwissend) klug. Was – vor dem Hintergrund der Beschaffenheit
von Tabus – hingegen sehr wohl überraschte, ist, dass diejenigen, die neue nuklearpolitische
Tendenzen kritisch bewerteten und das nukleare Tabu dadurch als gefährdet ansahen,
ebenfalls eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema verlangten. Aussagen, die
bereits im Diskurs selbst ein Unterlaufen des Tabus erkannten, waren hingegen nur vereinzelt
886
Nicht namentlich benannte Regierungsangehörige, zitiert in: McManus, Doyle 2002: Nuclear Use as
‚Option’ Clouds Issue, in: Los Angeles Times, 12.03.2002.
– 240 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
zu finden: „Surely nukes won’t be used in Iraq. But by noisily weighing their options, officials
are undermining the taboo against such arms“, so der New York Times Kommentator
Kristof.887 Während auch John Isaacs vom Council for a Livable World feststellte, dass es sich
bei der Erörterung neuer Einsatzoptionen um „very, very dangerous talk“ handele,888 sah
Rose Gottemoeller vom Carnegie Endowment for International Peace in der Öffentlichkeit die
Chance, die militärisch-technisch dominierte Diskussion um moralische Gesichtspunkte zu
erweitern – eine ähnliche diskursive Strategie wurde bereits zu Zeiten der Tabuentstehung
Anfang der 1950er Jahre von der antinuklearen Bewegung angewendet, die gesundheitliche
und ökologische Aspekte in den sicherheitszentrierten Diskurs einbrachte.889 Gottemoeller
erinnerte in ihrem aussagekräftig überschriebenen Gastkommentar „On Nukes, We Need to
Talk“ an den in den 1970er Jahren ausgetragenen „good fight over nuclear weapons“, der
EuropäerInnen wie AmerikanerInnen dazu gebracht hätte, den grausamen Realitäten
nuklearer Kriegsführung ins Auge zu sehen und damit zu einem wichtigen Schritt auf dem
Weg nach „today, when virtually no day-to-day capability for using nuclear weapons on the
battlefield exists“ wurde.890 Neben der Forderung nach einer öffentlichen Bekräftigung des
Tabus durch die Regierung und den Kongress, wie sie z.B. in der Los Angeles Times geäußert
wurde, vertraten McNamara und Graham in der gleichen Ausgabe die Ansicht, Nuklearpolitik
sollte ein öffentlicher – und kein den offiziellen EntscheidungsträgerInnen vorbehaltener –
Gegenstand sein:
„These matters are far too important for the administration to decide on its own. There
must be a full public debate, in Congress, on the future of our nuclear deterrent and the
nuclear nonproliferation regime.“891
Wurde der Debatte in dieser Argumentation der Zweck einer demokratischen
Entscheidungsfindung zugewiesen, so existierte daneben offensichtlich auch ein anderes
Demokratieverständnis, aus dem heraus der Debatte eine andere Funktion zukam: Nach
Auffassung Loren B. Thompsons vom Lexington Institute sollte die Regierung die Chance
nutzen, ihre Politik nicht nur zu ändern, sondern auch der Bevölkerung und dem Parlament
die Dringlichkeit solcher Änderungen zu vermitteln, damit eventuelle affektive Reaktionen im
Fall der Fälle nicht die militärische Notwendigkeit eines first-use konterkarierten:
„[T]he will to act (…) means investing time in explaining the Congress and the public
why first strikes will be required, so that when the time comes to act popular sentiment
does not get in the way of military necessity.“892
887
888
889
890
891
Kristof, Nicholas D. 2003: Flirting With Disaster, in: New York Times, 14.02.2003.
Zitiert in: Richter, Paul 2002: „U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“, in: Los Angeles Times,
09.03.2002.
S. S. 130 der Arbeit.
Gottemoeller spricht hier von der Diskussion über die Neutronenbombe, einer Wasserstoffbombe, die 1958
von Samuel T. Cohen entwickelt und als mögliche Einsatzwaffe gegen konventionelle sowjetische
Streitkräfte in Europa gehandelt wurde. Sie ist für Menschen tödlich, lässt aber Gebäude unbeschädigt. S.
Gottemoeller, Rose 2002: On Nukes, We Need to Talk, in: Washington Post, 02.04.2002.
McNamara, Robert S./Graham, Thomas Jr. 2002: A Pretty Poor Posture For a Superpower, in: Los Angeles
Times, 13.03.2002 sowie Editorial der Los Angeles Times vom 13. März 2002: Dangerous Lid to Lift.
– 241 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Während Thompson hier implizit die Kraft des nuklearen Tabus als politisches Hindernis, das
es zu beseitigen gelte, herausstellte, kritisierten weitere Debattenbefürworter, wie Frank
Gaffney Jr. vom Center for Security Policy, dass nach Ende des Kalten Krieges mangels
öffentlicher wie politischer Aufmerksamkeit wichtige Anpassungen der Nukleardoktrin
versäumt worden seien und eine Diskussion hiermit überfällig geworden sei.893
Über
den
„Gesprächsbedarf“
in
nuklearen
Angelegenheiten
stimmten
also
TabubefürworterInnen, wie auch seine AngreiferInnen größtenteils überein – zu vermuten ist
hierbei, dass letztere das sich durch die Debatte eröffnete window of opportunity erkannten
und dieses sehr bewusst nutzten, während ihren OpponentInnen kaum eine Alternative blieb,
sahen sie sich doch angesichts des Regierungsdokuments vor vollendete Tatsachen gestellt:
Skandalisieren schien im Vergleich zum Totschweigen insbesondere rückblickend auf die
bereits im Zusammenhang mit dem nuklearen Tabu erzielten öffentlichen Erfolge die weitaus
lohnendere Strategie.
Face it – die Welt hat sich verändert!
„[H]ere’s a news flash: We are at war with large
numbers of covert groups that do indeed want to do us
harm. If we can develop any weapons that can destroy
their capabilities before they do us the harm they wish
to inflict, then I say let’s build them and quickly!“ 894
Wenn auch die Ansicht, die Vereinigten Staaten befänden sich „in time of war“,895 im Rahmen
der Nukleardebatte selten derart explizit formuliert wurde, war doch der gesamte Diskurs
durchzogen von Bedrohungsanalysen und Kriegsszenarien. Hierbei wurde eine deutliche
Kontrastierung zur Stabilität und zu der „predictable (…) balance of terror“896 des Kalten
Krieges vorgenommen, nach deren Ende sich die USA mit einer neuen Weltordnung,
gekennzeichnet vor allem durch einen „irreducible level
of
uncertainty “ 897
und
unvorhersehbare Bedrohungen, konfrontiert sahen. Nun müsse man ständig auf
Überraschungen gefasst sein, wie etwa Vize-Verteidigungsminister J.D. Crouch betonte: „We
expect to be surprised and so we have to have capabilities that would deal with a broad range of
892
893
894
895
896
897
Thompson, Loren B. 2002: The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002.
Zitiert in: Pincus, Walter 2005: Pentagon May Have Doubts in Preemptive Nuclear Moves, in: Washington
Post, 19.09.2005.
Reaktion einer WSJ-Leserin auf einen Kommentar der Senatorin und RNEP-Gegnerin Dianne Feinstein
(Demokratin). Leserbrief-Sample „Wrong Song, Sung by the Wrong Senator“, in: Wall Street Journal,
02.11.2004 sowie Feinstein, Dianne 2004: Bunker Buster Take Us Down a Dangerous Path, in: Wall Street
Journal, 27.10.2004.
Der vollständige Satz aus dem Editorial mit dem Titel „Nuclear Posturing“ des Wall Street Journal vom 14.
März 2002 lautet: „Preparing for extreme contingencies is nothing more than common sense, especially in
time of war.“ Zwar wurde nicht gesagt, dass der Krieg aktuell stattfindet, vor dem Hintergrund jedoch, dass
hiermit die Regierungspläne gerechtfertigt werden sollen, liegt es nahe, dass durch diesen Artikel genau
dieser Eindruck vermittelt werden sollte.
Energieminister Spencer Abraham in seinem Gastkommentar „Facing a New Nuclear Reality “, in:
Washington Post, 21.07.2003.
Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for Public
Policy (NIPP). Payne ist Direktor des Instituts.
– 242 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
threats.“898 Auch der ehemalige Direktor der Arms Control and Disarmament Agency, Berry
Blechman sprach von einem hohen Grad an Unsicherheit und verwies hierbei auf das
berühmte Zitat Rumsfelds, der das ständige Überraschtsein weitaus erstaunlicher fand als die
Überraschungen selbst, so sei „the only surprise (…) that we’re surprised when we’re
surprised “.899 Daneben wurde der Eindruck vermittelt, die USA seien angesichts der neuen
Sicherheitsstrukturen in eine Zwangslage geraten, in der sie sich, mit dem Ziel der
Schadensbegrenzung vor allem reaktiv verhalten könnten und ihnen darüber hinaus nur eine
eingeschränkte – und häufig lediglich eine Reihe von „bad choices“ umfassende – Auswahl von
Handlungsoptionen zur Verfügung stünde.900
Für das neue Sicherheitsdilemma sei, nachdem man „seinen besten Feind verloren“
habe,901 vor allem die Bedrohung durch neue Akteure verantwortlich – einerseits führten
„lunatics“ wie Saddam Hussein „Schurkenstaaten“ an, andererseits hätten terroristische
„fanatics“ und „religious zealots, who never experienced a reformation“ den Beginn eines „age
of catastrophic terrorism“ eingeläutet.902 Verstärkend wurde im Diskurs die Vorstellung
konstruiert, dass beide Gruppen keineswegs nebeneinander existierten, nicht selten wurden
ihnen enge Verbindungen und ähnliche Ziele unterstellt, wie der folgende Interviewausschnitt
mit Chief of Staff Andrew H. Card zeigt:
“MR. RUSSERT: So the administration can demonstrate convincingly that Saddam
Hussein is linked to Osama bin Laden and al-Qaeda?
MR. CARD: Saddam Hussein has had a long history of relationships with terrorist
organizations, and those terrorist organizations include the al-Qaeda network.
MR. RUSSERT: And you have the evidence?
MR. CARD: I’m confident that there’s no doubt that Saddam Hussein has had a
relationship with terrorist organizations, including the al-Qaeda network.”903
Im Hinblick auf beide Gruppen bestehe die Problematik weniger in veränderten Rationalitäten
der Gegner selbst, sondern vielmehr darin, dass man diese nicht einschätzen könne:
898
899
900
901
902
903
Zitiert in: Pincus, Walter 2002: U.S. Aims for 3,800 Nuclear Warheads, in: Washington Post, 10.01.2002.
Siehe Blechman, Barry 2002: New Nuclear Policy Makes For a Safer World, Gastkommentar in: Los
Angeles Times, 18.03.2002.
So wird z.B. die Pentagon-Proliferationsexpertin Michele Flournoy zitiert in: Ricks, Thomas E./Loeb,
Vernon 2002: Bush Developing Policy of Striking First, in: Washington Post, 10.06.2002, außerdem:
Thompson, Loren B. 2002: How To Stop Worrying and Love the Bomb, in: Wall Street Journal, 13.03.2002;
Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post,
15.03.2002 (beide Autoren sind senior research fellows am Institut für National and Strategic Studies,
National Defense University ) sowie Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans
to Update Nuclear Weapons Policy and Forces, „backgrounder “ der Heritage Foundation, 28.10.2005.
Powell, Colin 1996: Mein Weg, München, S. 446.
Siehe Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths, das LeserbriefSample des Wall Street Journal vom 03. November 2005: How Can We Threaten A Fearless Enemy sowie
den Leserbrief des Direktors des Western Policy Center, John Sitilides: Carrying Out A Nuclear Attack, in:
Los Angeles Times, 16.03.2002.
NBC 2003: Andrew Card discusses the State of the Union, the situation in Iraq, affirmative action and Title
IX, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 26.01.2003.
– 243 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
„[F]ar less is known about several potential challengers (…) than was known about the
Soviet Union. Consequently, the scope is much greater for potential challengers’
unfamiliar or idiosyncratic factors to shape responses to U.S. deterrence policies in
surprising directions. This is not to suggest that deterrence will be more difficult in the
post-Cold War period because so called rogue states will be “irrational,” whereas Soviet
leaders were rational. It should not be assumed that rogue states’ leaderships, for
example, will be any more or less rational than were Soviet leaders. Their decisionmaking, nevertheless, may be very difficult to anticipate.“904
Was das National Institute for Public Policy hier 2001 mit Blick auf rogue states formulierte,
gelte für Terroristen umso mehr. Zusätzlich würde die Schwierigkeit, dass sie „too committed,
or too accident-prone, or too irrational, or simply to obscure“ seien, als dass man ihnen mit
gewohnten Mitteln begegnen könnte, dadurch potenziert, dass sie keinem Territorium
zugeordnet werden könnten und somit keine attackierbaren Ziele darstellten – im Gegensatz
zur ehemaligen Kontrahentin UdSSR und möglicherweise auch anders als die „leastresponsible rogue states“ hätten sie auch keine Bevölkerung, gegenüber der eine Loyalität
bestehen könnte.905 Gleichzeitig wurde davon ausgegangen, dass die staatlichen wie nichtstaatlichen
Akteure
den
Besitz
von
biologischen,
chemischen
und
nuklearen
Massenvernichtungswaffen anstreben (wenn man sie nicht bereits im Besitz solcher
Kampfmittel glaubte). Die hier zum Ausdruck kommende diskursive Triade aus
„Schurkenstaaten“, Terroristen und Massenvernichtungswaffen wurde zu einem zentralen,
häufig als Einheit verwendeten Element des Bedrohungsdiskurses – die gemeinsame Nennung
der drei Elemente verfestigte sich dermaßen, dass auch, wenn nur einer der Aspekte genannt
wurde, die anderen beiden immer mitschwangen.906 Dementsprechend rückten neue Ziele vor
dem Hintergrund des wachsenden Druckes der Terror- bzw. Proliferationsbekämpfung in den
Vordergrund militärischer Planungen: Zum Einen verbunkerte Waffenproduktions- und
Lagerungsstätten, zum Anderen aber auch schwer zugängliche Terroristenverstecke wie die
Berghöhlen von Tora Bora.907
904
905
906
907
National Institute for Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and
Arms Control.
S. beispielsweise die Ansprachen des US-Präsidenten: Bush, George W. 2001: Remarks by the President to
Students and Faculty at National Defense University, 01.05.2001 und Bush, George W. 2002: Remarks Of
the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy, West Point, 01.06.2002
sowie diese kommentierend: Thompson, Loren B. 2002: The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal,
13.06.2002, aber auch Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?,
Strategiepapier des Sandia-Direktors.
So wurde beispielsweise in einem Artikel zur Proliferation an „Schurkenstaaten“ auf die Ereignisse vom 11.
September rekurriert oder die Frage, ob rogues wie Nordkorea abgeschreckt werden könnten, mit der
Bezeichnung dieser Staaten als Terroristenunterstützer verknüpft (wobei diese Verbindung gerade bei
Nordkorea alles andere als wahrscheinlich ist). Ebenso wurden bedrohliche WMD-Lagerungsstätten im
gleichen Zug mit Terrorcamps genannt. S. u.a. Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm,
Strategiepapier des National Institute for Public Policy ; Payne, Keith B. 2004: NPR Moves U.S. Beyond
“Balance of Terror”, in: Defense News, 15.03.2004; Meldung der USA Today: Candidates point to nuclear
danger. Will they rein it in?, in: USA Today, 04.10.2004.
So behalte sich der Präsident nach Aussage seiner Sicherheitsberaterin die Option vor, kleine Nuklearwaffen
gegen „tougher caves in Afghanistan “ zu verwenden. Das Mitglied des Orthodox Speakers Bureau, Chris
Banescu, argumentiert in einem Kommentar, dass bunker buster „could have killed Osama bin Laden as he
hid in the caverns of Tora Bora, with zero loss of American military force.“ S. NBC 2002: Condoleezza Rice
– 244 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Ein weiteres bedeutendes semantisches Feld wurde um die argumentative Figur der
„Verantwortung“ gebildet: So könnten neben US-AmerikanerInnen selbst auch Freunde und
Verbündete des Landes sowie die Bevölkerungen der Nachbarstaaten von „Schurken-„ oder
Terroristen beherbergenden Staaten zu Opfern werden. Dies zu verhindern, läge in der
Verantwortung des weltpolitisch herausragend positionierten Landes: „No other nation has the
global responsibilities the United States bears, and we must take the actions needed to meet
them“ stellte US-Navy-Admiral Robert R. Monroe fest und Außenminister Powell ergänzte
„to defend the nation and defend our interests and our allies around the world “ – womit sich
beide in eine Reihe ähnlicher Statements einordneten.908 Diese Verantwortungsrhetorik wird
seitens der Administration in Verbindung mit Verteidigungszusicherungen im Falle möglicher
(WMD-) Angriffe an den Tag gelegt, demnach trage der US-Präsident „[t]he responsibility
(…) to make certain that that doesn’t happen“ (Condoleezza Rice). Die empfundene
Verpflichtung, Sicherheit zu garantieren ginge mit Bestrebungen einher, anderen Völkern die
Freiheit zu bringen, agierten die USA doch im Lichte einer „long history of helping people to
find the opportunities of liberty and freedom”, so Andrew H. Card.909
Die in dieser Form diskursiv vermittelte Bedrohungsanalyse veränderte den
Operationsrahmen des nuklearen Tabus auf mehreren Ebenen: Strukturelle Instabilität löste
ein bekanntes und relativ stabiles System ab, (teils unbekannte) Akteure mit kaum
nachvollziehbaren Handlungsmotivationen traten an die Stelle eines Gegners, dem man eine
der eigenen ähnliche Rationalität unterstellt hatte, die ehemals primär durch Nuklearwaffen
konstruierte Bedrohung hatte sich diversifiziert und umfasste nun auch andere
Massenvernichtungswaffen. In solch einer Welt, in der jederzeit mit einem Angriff
unbekannter Akteure mit unbekannten Mitteln zu rechnen ist, wurde eine Ausweitung der
eigenen Handlungsspielräume als eine unumgängliche Notwendigkeit präsentiert: Man könne
es sich nicht mehr leisten und es sei schlichtweg unvernünftig, sich bestimmte
Handlungsmöglichkeiten zu verschließen – in Anbetracht solcher Überlegungen ist es nahe
liegend, dass durch (inter)nationale Normen auferlegte Handlungsbeschränkungen als Hürde
zum Bedürfnis nach einem
Optionsspektrum erschienen.910
908
909
910
breiten,
größtmögliche
Flexibilität
gewährenden
discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“
vom 10.03.2002 sowie Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy ,
06.10.2004.
Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington
Post, 16.11.2004.
NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript
der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002, CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the
violence in the Middle East and the war on terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom
10.03.2002 sowie NBC 2003: Andrew Card discusses the State of the Union, the situation in Iraq,
affirmative action and Title IX, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 26.01.2003.
So stellte z.B. der republikanische Senator James Inhofe, der ähnlich die Foltermemos der Regierung
rechtfertigte, heraus, dass „[w]ith many of the new and emerging threats in the world, we cannot afford to be
ill-prepared “, zitiert in: Squitieri, Tom 2003: Senate OKs ending ban on nuclear research, in: USA Today,
– 245 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Sicherheitsstrategische Schlussfolgerungen
„What we want to deter is different. Those we want to deter are
different. How we’re able to deter is different. And the contexts
within which our deterrent must operate are different.” 911
Ausgehend von der eben geschilderten – in weiten Teilen der USA konsensualen –
Bedrohungsanalyse, die einen breiten Rahmen für den Nukleardiskurs bot, wurden,
Abschreckung, Verteidigung und Verhinderung von Proliferation als (voneinander nicht
trennscharf abgrenzbare) sicherheitspolitische Handlungsziele formuliert, die ebenfalls auf
breite Zustimmung stießen. Ein Dissens bestand hingegen bezüglich der zur Zielerreichung
vor- wie eingeschlagenen Strategien und der hierfür eingesetzten bzw. vorgesehenen Mittel,
wobei die Standpunkte derart polarisiert waren, dass beide Seiten die Politik der anderen im
Hinblick auf die Zielsetzungen als völlig kontraproduktiv erachteten – und sich entsprechend
auch mit gleichen Vorwürfen begegneten: Die wichtigste, in diesem Diskurs auf Seiten der
VerfechterInnen
wie
GegnerInnen
nuklearstrategischer
Änderungen
zu
findende
Unterstellung, ist die einer Gefährdung der nationaler Sicherheit, nicht selten begleitet von der
Anmerkung, dass die Denkmuster des Kalten Krieges anscheinend nach wie vor nicht
überwunden worden seien und die Rede von Neuerungen diese lediglich überdecken solle.
Besonders gut nachzuvollziehen ist der letztgenannte Vorwurf im Zusammenhang mit David
L. Hobsons Finanzierungsstopp-Aktivitäten:912 So wurde ihm einerseits kritisch vorgehalten,
er habe mit seiner Positionierung gegen den RNEP
„demonstrated how, more than a decade after the end of the Cold War, outdated axioms
still have a lock on thinking about nuclear policy. Even though dressed up as new think,
Mr. Hobson’s arguments are wholly Cold War vintage.“913
Dagegen hinterfragte Hobson in einer Rede vor der Arms Control Association, ob es
notwendig sei, ein umfangreiches Nukleararsenal mitsamt hoher Bereitschaftsstufen
aufrechtzuerhalten und sich, wie im Kalten Krieg darauf vorzubereiten, „to fight the last war“,
womit er an die bereits in den 1990er Jahren geäußerte Kritik anknüpfte, die Strategen einer
vergangenen Ära seien nicht in der Lage, ihre Denkgewohnheiten zu überwinden.914
21.05.2003. In diesem Sinne äußerte sich Energieminister Abraham: „[A] sensible course (…) meets our
national security requirements by restoring our capabilities and ensuring that we have the flexibility to
respond quickly to any potential problems in the current stockpile, or to new threats that require immediate
attention“, in: Ders.: Facing a New Nuclear Reality, in: Washington Post, 21.07.2003. Siehe außerdem den
deputy assistant des Pentagons, Fred S. Celec: „I don’t know that we ought to eliminate any tools in our
inventory “, zitiert in: Hulse, Carl/Dao, James 2003: Cold War Long Over, Bush Administration Examines
911
912
913
914
Steps to a Revamped Arsenal, in: New York Times, 29.05.2003.
Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for
Public Policy.
S. detaillierter S. 238 der Arbeit.
Payne, Keith B. 2005: Forum: Cold War Thinking on Nuclear Policy, in: Washington Times, 16.01.2005,
NIPP-Direktor Payne kommentiert hier folgenden Artikel: Hobson, David L. 2005: Forward Thinking On
Nuclear Policy, in: Washington Times, 10.01.2005.
Hobson zitiert in: Pincus, Walter 2005: Bush Request to Fund Nuclear Study Revives Debate, in:
Washington Post, 09.02.2005.
– 246 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Für unsere Untersuchung ist hierbei besonders interessant, dass die nun von beiden Seiten
negativ besetzten Denkstrukturen des Ost-West-Konfliktes natürlich auch diejenigen des aus
dieser Epoche stammenden nuklearen Tabus waren – und damit einhergehend auch der
nuklearen Ambiguität aus deutlich demonstrierter Einsatzbereitschaft und gleichzeitiger
Hoffnung,
es
könne
immer
bei
bloßer
Abschreckung
bleiben.
Während
die
TabuverteidigerInnen der zum Vorwurf machten, sie würde ihre Einsatzbereitschaft zu
deutlich demonstrieren, wurde an ihnen im Gegenzug kritisiert, zu viel Vertrauen in die
veraltete Strategie der Abschreckung zu setzen. Offenbar registrierten beide Parteien ein
neuentstandenes,
geradezu
dilemmatisches,
Missverhältnis
zwischen
den
beiden
Komponenten – was sich, unabhängig davon, der Argumentation welcher Seite man folgte, als
nachteilig für das nukleare Tabu erweist: Setzt man weiterhin einseitig auf klassische
Abschreckung mit alten Waffen, ohne deren reduzierte Effektivität anzuerkennen, könnte ein
deshalb nicht-verhinderter fataler Terroranschlag oder Angriff mit WMD auf die USA einen
nuklearen Gegenschlag auslösen. Jedoch könnten eine nicht nur klar signalisierte, sondern
auch
zusätzlich
mit
technischen
Weiterentwicklungen
unterstrichene
nukleare
Einsatzbereitschaft oder gar tatsächlich ausgeführte Nuklearschläge, die auf diesem Gebiet
keineswegs ebenbürtigen Gegner stattdessen zur Fortsetzung der asymmetrischen
Kriegsführung führen bzw. sie erst dazu veranlassen.
Eine ähnliche argumentative Konstellation fand sich in der Proliferationsdebatte, in der
die Regierung sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, durch neue Waffenentwicklungen nicht nur
als Nicht-Verbreitungs-Agentin ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, sondern andere Akteure
geradewegs zu provozieren, sich Massenvernichtungswaffen anzueignen, um gegenüber den
Weiterentwicklungen des US-Nuklearpotentials über ein effektives Abschreckungsinstrument
zu verfügen: „[A] lot of countries would conclude that there is no reason they shouldn’t have
their own nukes“.915 Die Argumentation der Gegenseite lässt sich in mehrere Stränge
unterteilen: Erstens könnte gerade nicht die Weiterentwicklung, sondern im Gegenteil der
Abbau oder schon die technologische Stagnation des US-amerikanischen nuklearen Bestandes
proliferationsfördernd wirken, würden feindliche doch Staaten hierin die Chance wittern,
aufgrund einer so bedingten Schwäche der Supermacht ungestraft aufrüsten zu können.
Zudem könnten auch bei befreundeten, unter dem Schutzschild der USA stehenden Nationen
Zweifel an deren Verteidigungsfähigkeit aufkommen, was sie zum Ergreifen eigener
Rüstungsmaßnahmen bewegen könnte.916 Drittens werde die Fähigkeit der Vereinigten Staaten
915
916
So der Politikwissenschaftler Richard K. Betts, zitiert in: Schmemann, Serge 2003: Nuclear War Strategists
Rethink the Unthinkable, in: New York Times, 19.01.2003, außerdem siehe beispielsweise: Savage, David D.
2002: Nuclear Plan Meant to Deter, Los Angeles Times, 11.03.2002, Miller, Greg 2002: Democrats Divide
Over Nuclear Plan, in: Los Angeles Times 13.03.2002, Editorial der Washington Post vom 13. März 2002:
The Nuclear Posture, Dewar, Helen 2003: Nuclear Weapons Development Tied to Hill Approval, in:
Washington Post, 22.05.2003.
Zu dieser defense-assurance-Strategie der Proliferationsverhinderung siehe Editorial des Wall Street Journal
vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths, sowie Payne, Keith B. 2005: Forum: Cold War Thinking on
Nuclear Policy, in: Washington Times, 16.01.2005.
– 247 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
völlig
überschätzt,,
mit
ihren
eigenen
Nuklearentscheidungen
–
von
Abschreckungsgesichtspunkten freilich abgesehen – die Proliferationskalküle anderer
Nationen zu beeinflussen, indem sie als positives Vorbild dienten. Dass diese Hoffnung
schlichtweg absurd sei, sollte das karikierende Zitat einer Leserin des Wall Street
Journal verdeutlichen:
„I have yet to hear a public announcement from a terrorist group that says, ‚Hey the
United States has decided not to develop new weapons that could hurt our cause. Great
idea! Think we’ll do the same!’“917
Des Weiteren wurden der als „faktenlos“ titulierten Behauptung, „Only if we set a good
example (…) will the mullahs in Iran and the gangsters in North Korea give up their nuclear
programs “, Abrüstungszahlen entgegengesetzt. Demnach habe die Reduktion der US-
Sprengköpfe um zwei Drittel von 6.000 auf 2.200, welche „unprecedented in scope and
breath “ sei, doch unübersehbar nicht dazu geführt, dass die genannten „Schurkenstaaten“ von
ihren nuklearen Absichten abrücken.918 Das Faktum zur Kenntnis nehmend, dass „the world
is proliferating (…) without any studies by us“, gelte es, drittens, sich mit den Konsequenzen
der Proliferation, die man nicht verhindern könne, auseinanderzusetzen.919 Hierbei müsse die
Rolle als „the world’s leader in advancing [nonproliferation]“ weiterhin entschieden
wahrgenommen werden – jedoch bei gleichzeitigem Ausbau eigener nuklearer Kapazitäten.
Denn somit könnten bunker buster zu einer wichtigen Säule der Nichtverbreitungspolitik
werden, indem sie verbunkerte Agenzien zerstören und außerdem dazu beitragen könnten,
dass die feindlichen Führer in dem Wissen, ihre kostspieligen Produktionsanlagen könnten
jederzeit restlos vernichtet werden, solche Investitionen als nicht lohnenswert erachten und
somit erfolgreich abgeschreckt werden könnten.920
Solche neuen Abschreckungsanforderungen wurden vor allem entlang zweier Fragen
diskutiert – erstens, inwiefern die USA noch abschreckend wirkten und welche Schritte hierfür
zu unternehmen seien und zweitens, ob neue Akteure überhaupt abschreckbar seien – und
wenn ja, mit welchen Mitteln. In Zusammenhang mit dem Abschreckungspotential kam dem
(für das Konzept ohnehin zentralen) Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit mit ihren beiden
Bestandteilen Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in der Debatte besondere
Bedeutung zu, da einige DebattenteilnehmerInnen genau diese als nicht mehr gegeben oder
zumindest gefährdet ansahen. So gäbe es nach Auffassung des demokratischen Senators Bob
917
918
919
920
Leserbrief-Sample „Wrong Song, Sung by the Wrong Senator“, in: Wall Street Journal, 02.11.2004.
Huessy, Peter 2005: Nukes For Peace, Kommentar des Center for Security Policy , 14.02.2005, siehe ferner
auch: Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post,
15.03.2002.
Donald Rumsfeld zitiert in: Struck, Doug 2003: U.S. Focuses On N. Korea’s Hidden Arms, in: Washington
Post, 23.06.2003, siehe außerdem: Center for Security Policy 2004: Hobson’s Choices, 03.01.2005.
Zitat von Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in:
Washington Post, 16.11.2004, siehe u.a. auch: Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on
Future Strategic Strike Forces; Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting
Myths und Payne, Keith B. 2005: Forum: Cold War Thinking on Nuclear Policy, in: Washington Times,
16.01.2005.
– 248 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Graham inzwischen „nations and groups adversarial to U.S. interests that have gotten the
mind set that the United States is a paper tiger “, weshalb auch einige Demokraten
Zustimmung zu einer „more aggressive nuclear posture“ aufbauen könnten.921
Als eine wichtige und häufig genannte Erklärung für das Entstehen dieses Eindruckes
führten unterschiedliche DiskursteilnehmerInnen an, dass das alte nukleare Arsenal deshalb
seine Abschreckungskraft verloren habe, weil die Feinde um wichtige Identitätsaspekte der
Vereinigten Staaten wüssten. So sei ihnen die nukleare self-deterrence der Vereinigten Staaten
bekannt: „The old nukes built during the cold war to roast millions of Russians are probably too
destructive to use before Doomsday, and our potential enemies know that.“922 „Zu
zerstörerisch“ seien diese Waffen vor allem in Anbetracht der „appropriate priority (…) on
avoiding civilian casualties“ bei militärischen Angriffen seitens der US-Planer:923
„The United States finds itself in a unique historical position where it actually cares more
about the local populations of adversarial states then its own leaders do. The result is that
any threat to retaliate with a strategic nuclear weapons loses credibility because the (…)
enemy leader may calculate that the United States would not kill millions of innocent
civilians do to his actions.“924
Damit dem Gegner die Einsatzbereitschaft überzeugend vermittelt werden kann, werde es in
erster Linie notwendig, neue, mit der eigenen Identität im Einklang stehende
Einsatzkapazitäten zu entwickeln, zu deren Markenzeichen die „precise capability to destroy
their high-value assets“ werden soll und die darüber hinaus Zuverlässigkeit bieten.925 Genau
diese Anforderungen sollen von low-yield nukes erfüllt werden können – mit Blick auf das
Ziel der Abschreckung sei nur folgerichtig, dass sie auch usable erscheinen müssen, denn
genau dieser Mangel sei das Hauptproblem der „very large, very dirty, big nuclear
weapons“.926 Hierin werde auch deutlich, dass es nicht möglich sei, die strikte Trennung
zwischen „Abschreckungswaffen“ und „Kampfwaffen“, deren Aufhebung mini-nukeAblehnerInnen scharf kritisierten, zu bewahren – die Einsetzbarkeit von Waffen müsse immer
vor dem Hintergrund der durch die Bedrohung gestellten Erfordernisse betrachtet sowie an
letzteren ausgerichtet werden und könne ferner nicht als Absicht interpretiert werden, Kriege
zu führen, wie Robert R. Monroe, Admiral der US-Navy durch eine Analogie zur
Abschreckungspolitik des Kalten Krieges verdeutlichen wollte:
921
922
923
924
925
926
Zitiert in: Miller, Greg 2002: Democrats Divide Over Nuclear Plan, in: Los Angeles Times 13.03.2002.
Crowley, Michael 2003: The 3rd Annual Year in Ideas; Bite-Size Nukes, in: New York Times, 14.12.2003.
Payne, Keith B. 2004: Precise and Powerful. Low-Yield Nukes May Be the Deterrent We Need, in: National
Review Online, 17.02.2004.
So der Verteidigungsanalyst Spencer in einer „webmemo“, s. Spencer, Jack 2003: A Strong National Defense
Commands New Nuclear Research Funding, Heritage Foundation, 12.08.2003.
Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington
Post, 16.11.2004 sowie der Republikaner Jon Kyl, zitiert in: Dewar, Helen/Pincus, Walter 2003: Senate
Retains Nuclear Research Funds, in: Washington Post, 17.09.2003.
Donald Rumsfeld, zitiert in: Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington
Post, 28.04.2005.
– 249 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
„Our Cold War arsenal deterred because it was ‚tuned’ to our adversaries, their value
systems and the threats they posed. These key determinants have changed drastically.
Deterrence, not war-fighting, is still our objective, and we must change our nuclear
arsenal to be effective against future adversaries and their value systems. Low-yield
weapons are not all that ‚usable.’ U.S. and Soviet Cold War arsenals included many
thousands of low-yield weapons, yet none were ever used, even though there were many
crises.“927
Neben dem Hinweis darauf, dass sehr wohl für einen potentiellen Einsatz geeignete
Nuklearwaffen zur Verfügung stünden, solle die Abschreckung auch dadurch glaubwürdig
bleiben, dass die Umstände, in denen ein solcher Einsatz in Erwägung gezogen würde, nicht
definiert werden – nach dem Kalkül dieser Strategie der Ambiguität werde der Feind generell
von Angriffshandlungen Abstand nehmen, sofern ihm glaubhaft versichert würde, dass
jegliche „hostile actions“ (und eben nicht erst solche ab einer bestimmten Intensität) zu
schrecklichen, wenn im Vorfeld auch nicht näher ausformulierten, Konsequenzen führen
werde. Die nukleare Schwelle hänge damit weniger von den Entscheidungsträgern selbst als
vielmehr von den Wahrnehmungen der Feinde ab – eine Festlegung der Umstände, unter
denen ein Nukleareinsatz Gegenstand der Überlegungen würde, bedeute, dass der Feind ex
negativum diejenigen Handlungen ermitteln könnte, die unterhalb dieser Schwelle liegen, was
zur Folge haben kann, dass er dies ohne Angst vor einer nuklearen Vergeltung zu haben,
ausnutzen könnte.928
Doch selbst wenn die USA ihre Gegner davon überzeugen können, dass sie willig und
fähig sind, mit (nuklearer) Zerstörung auf (jegliche) Zerstörung zu reagieren, bleibt die zweite
große Abschreckungsfrage – ob eine solche Strategie bei neuen Akteuren überhaupt den
gewünschten Erfolg hätte – immer noch offen.929 So erhöhe sich hier aufgrund „kultureller
Unterschiede,“ aber auch aufgrund der kurzen Dauer der Konfrontation, die Gefahr der
gegenseitigen Fehlwahrnehmung:930 Nicht nur die Vereinigten Staaten könnten sich im
Hinblick auf die „values“ des Gegners, deren holding at risk ihn von bestimmten Handlungen
abhalten sollte, irren, sondern auch aus Sicht des Feindes kann es zu falschen Interpretationen
des US-Verhaltens kommen, was ihn schlimmstenfalls zu einem Angriff veranlassen könnte.931
927
928
929
930
931
Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington
Post, 16.11.2004. Auch Sokolsky und Rumer vertreten in ihrem Artikel die Ansicht, es finde eine inadäquate
Dichotomisierung zwischen Kampfmitteln und Abschreckungsmitteln statt. So wie Nuklearwaffen im
Kalten Krieg nur deshalb abschrecken konnten, weil der Gegner geglaubt hat, die USA seien bereit, sie
einzusetzen, so muss dieser Glaube auch heute hergestellt werden. S. Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B.
2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002.
Die Notwendigkeit einer ambigen Sicherheitsstrategie wird u.a. begründet in: Defense Science Board 2004:
Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces sowie: Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for
Joint Nuclear Operations, 15.03.2005.
Ausführungen zum öffentlichen Bild dieser Akteure finden sich auf S. 243 der Arbeit.
Welche kulturellen Unterschiede hierbei gemeint sind und welche Situationen dem Autor vorschweben, in
denen es durch sie zu Fehlwahrnehmungen kommen könnte, die einen Angriff auslösen könnten, wird nicht
weiter ausgeführt.
Payne, Keith B. 2003: Deterrence – A New Paradigm, Strategiepapier des National Institute for Public
Policy , das NIPP wies auf diese Problematik schon Anfang des Jahres 2001 hin, s. National Institute for
Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and Arms Control.
– 250 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Solche Fehlperzeptionen sind jedoch nicht das einzige Problem, haben doch die Anschläge
von
„9-11“
grundsätzliche
Zweifel
daran
geweckt,
ob
man
sich
mit
der
Abschreckungsstrategie vor selbstmordbereiten Akteuren, scheinbar ohne territoriale oder
nationale Loyalitäten, schützen kann. Das Wall Street Journal druckte vier Jahre danach immer
noch Leserbriefe, die sich der nach wie vor ungelösten Frage „How Can We Threaten a
Fearless Enemy? “ widmeten, ab. Wie auch anderweitig zu vernehmende Expertenmeinungen
waren die veröffentlichten
pessimismus gekennzeichnet:
Antworten
von
Ratlosigkeit
und
Abschreckungs-
„When your enemy is comprised of an amorphous federation of geographically dispersed,
fanatical cells rather than a nation state and when there is no tangible target to attack, the
threat of deterrence, of any nature, carries little weight.“
Während ein Leser darauf hinwies, man wisse sehr wohl, was den „islamo-fascists“ am Herzen
liege und den Vorschlag des Republikaners Tom Tancredo aufgriff, deren heilige islamische
Stätten wie Mekka und Medina zu bedrohen sowie als tit-for-tat-Reaktion auf in westlichen
Zentren verübte Terroranschläge gegen sie Vergeltung zu üben,932 sah ein anderer die
Vernichtung der Terroristen selbst als einzige Chance: „Where the Cold War had its policy of
‚containment’, we need a policy of excision” und bekräftigte damit die – aus der Befürchtung
des Scheiterns der Abschreckung heraus – notwendig gewordene Neubewertung der
Verteidigungspolitik.933 Umfrageergebnisse brachten ähnliche Tendenzen zum Vorschein:
Einen nuklearen Ersteinsatz im Falle einer „ernsthaften Bedrohung“ für das eigene Land oder
für einen der US-Verbündeten hielten über 40% der befragten opinion leaders für
gerechtfertigt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung sprach sich im Januar 2005 in einer
Umfrage der Gallup Organization dafür aus, terroristische Lager mit Nuklearwaffen
anzugreifen – einige Wochen nach der Veröffentlichung der NPR hätte sogar mehr als die
Hälfte der Befragten einen Angriff mit Nuklearwaffen auf größere Städte derjenigen Länder,
die vermutlich Terroristen beherbergten, befürwortet, wobei 36% der Ansicht waren, man
dürfe legitimerweise Nuklearwaffen auch dann gegen einen Gegner richten, wenn er selbst
keine eingesetzt hätte.934
Durch neue Akteure errichteten Abschreckungsgrenzen schienen demnach ein
Umdenken von nuklearen Drohungen hin zu nuklearen Einsätzen zu fördern: Hatte man sich
bei einem abschreckbaren Gegner auf die passiv ausgeübte Schutzfunktion des nuklearen
Totems, das Einsätze verhindern konnte und daher selbst nicht eingesetzt werden musste,
932
933
934
Tancredo antwortete am 14. Juli 2005 in einem Radio-Interview auf die Frage, wie die USA reagieren
sollten, wenn muslimische Fundamentalisten Nuklearwaffen gegen US-amerikanische Städte einsetzen
würden, man könnte im Gegenzug islamische Stätten bombardieren und löste mit seiner „Idee“ einen
Sturm der Entrüstung in den USA und besonders in islamischen Ländern aus. S. Kamen, Al 2005: Brave
Nuke World, in: Washington Post, 20.07.2005.
Leserbrief-Sample „How Can We Threaten A Fearless Enemy?“, in: Wall Street Journal, 03.11.2005
Vgl. Gallup-Umfrage „January Wave 1“, 07.01.05-09.01.05, „March Wave 4“, 22.03.2002-24.03.2002 sowie
die Umfragensammlung des Pew Research Center 2005: America’s place in the world. An investigation of
the attitudes of American opinion leaders and the American public about international affairs, S. 30.
– 251 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
verlassen können, hat es in Konfrontation mit einem furchtlosen Gegenüber seine Kraft
verloren – da von diesem Angriffe ungeachtet des Totems zu erwarten sind, muss nun auch
das Totem aktiviert, d.h. ebenfalls eingesetzt werden.
Dieses Fehlen des ehemals durch Abschreckung gewährleisteten Schutzes nationaler
Sicherheit sollte zum Einen durch neue Reaktionsfähigkeiten sowie Verteidigungs- und
Vergeltungsmaßnahmen nach bereits erfolgten Angriffen kompensiert werden, was besonders
deutlich als Begründung für die Dringlichkeit eines Raketenabwehrschildes vorgebracht
worden ist. Der überkommene ABM-Vertrag müsse diesem Erfordernis zum Opfer fallen, wie
Sicherheitsberaterin Rice formulierte: „The ABM Treaty is an artifact of a different period of
time (…) ABM was designed to prevent national missile defense. (…) It’s a new world.“935
Doch auch das Vergeltungskonzept selbst wurde zum Anderen als den neuen
Sicherheitsanforderungen nicht angemessen kritisiert, könnten doch die Folgen eines einzigen,
mit Massenvernichtungswaffen durchgeführten Angriffes derart katastrophale Ausmaße
erreichen, dass es höchst unverantwortlich wäre, nicht alle denkbaren Schritte zu seiner
Vermeidung zu ergreifen – das klassische Verteidigungsverständnis wandelte sich in
Anbetracht dessen zu einer preemptive strike-Doktrin, deren Grundzüge George W. Bush in
seiner vielzitierten Rede vor den Absolventen der Elite-Militärakademie West Point im Juni
2002 umriss.936 Die Zustimmung zu seiner Auffassung, „[i]f we wait for threats to fully
materialize, we will have waited too long “, wurde von zahlreichen anderen Strategen
bekräftigt – z.B. auch mit dem Hinweis, dass Präemptivschläge, von ihrer Notwendigkeit
abgesehen, auch problemloser durchgeführt werden könnten, weil man ungleich schwächere
Kontrahenten als die UdSSR vor sich habe, deren Gegenschlagsfähigkeiten sehr beschränkt
seien.937 Das Erstschlagskonzept wurde schließlich in der im September 2002 vom Weißen
Haus herausgegebenen National Security Strategy (NSS) offiziell festgehalten, wenn auch
ohne explizit nukleare Reaktionen zu benennen.938 Dass man sich jedoch auch auf nukleare
935
936
937
938
Zitiert in: Mufson, Steven 2000: Threat of ‚Rogue’ States: Is It Reality or Rhetoric?, in: Washington Post,
29.05.2000.
S. Bush, George W. 2002: Remarks Of the President at 2002 Graduation Exercise of the United States
Military Academy, West Point, 01.06.2002, sowie kommentierend: Ricks, Thomas E./Loeb, Vernon 2002:
Bush Developing Policy of Striking First, in: Washington Post, 10.06.2002 und Thompson, Loren B. 2002:
The Bush Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002.
So der Direktor des Lexington Institute, Loren Thompson in: Thompson, Loren B. 2002: The Bush
Doctrine, in: Wall Street Journal, 13.06.2002
Die NSS stellte fest, dass mit konventionellen Angriffen von „Schurkenstaaten“ und Terroristen kaum zu
rechnen sei, seien sich diese doch über ihr vorprogrammiertes Scheitern im Klaren; WMD-Einsätze
hingegen seien im Vergleich zum Kalten Krieg deshalb weitaus wahrscheinlicher, weil die neuen Feinde sie
nicht mehr als last-resort-Option erachten, wie es die Sowjetunion tat. Ohne eine Unterscheidung zwischen
konventionellen und nuklearen Waffen zu ziehen, wird in der NSS angekündigt, sich zu
Präemptionszwecken der „ full advantage (…) of innovation in the use of military forces [and, ER] modern
technology “ zu bedienen. Siehe White House 2002: National Security Strategy. Deutlicher wird die National
Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction (CWMD) vom Dezember 2002: „The United States will
continue to make clear that it reserves the right to respond with overwhelming force – including through
resort to all of our options – to the use of WMD against the United States, our forces abroad, and friends and
allies “, wobei der Einschub „all options“ gezielt klarstellt, dass die nukleare nicht ausgeschlossen wird.
Siehe White House 2002: National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction.
– 252 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Verteidigungsfälle vorbereiten müsse und Nuklearwaffen nicht mehr als ausschließlich
abschreckende „ultimate defense of the nation“ dienen könnten, hatte der damalige Los
Alamos-Direktor Steven M. Younger bereits zwei Jahre zuvor konstatiert; seinen hierauf
aufbauenden Vorschlag, so früh wie möglich mit der Entwicklung neuer, zur taktischen (und
nicht nur strategischen) Verteidigung geeigneter Nuklearwaffen zu beginnen, die die
Zerstörungsgrenzen konventioneller Sprengsätze überwinden werden, charakterisierte er als
ein „departure from conventional thinking on nuclear forces“:
„Nuclear weapons are one component of an integrated defense strategy that includes
diplomacy and conventional forces. The principal role of nuclear weapons was and
continues to be that of deterring any potential adversaries from an attack on America or
our vital interests. This role is expected to continue for as long as nuclear weapons hold
the appellation of ‚supreme’ instruments of military force. However, this does not mean
that their role in military planning will not change at all. (…) there are still limits on the
amount of damage that can be caused with a given quantity of high [conventional, ER]
explosive. For these and other reasons, nuclear weapons are expected to continue to play
a role in strategic doctrine, independent of their role as a psychological deterrent
to aggression.”939
Nicht nur hätten die Vereinigten Staaten das Recht, die besten Technologien mit dem Ziel des
Selbstschutzes zu entwickeln – eine solche Verteidigungsoption werde zu einem „necessary
step toward strengthening American and world security “. Ihre Verfügbarkeit sei ferner nicht
nur im Hinblick auf die US-amerikanische, sondern auch auf die gegnerische Zivilbevölkerung
unverzichtbar und könnte zudem die Verluste auf Seiten eigener Truppen stark reduzieren.940
Solche Möglichkeiten aus Gründen der „political correctness“ und aus Angst vor einer „bad
reputation“ nicht wahrzunehmen, sei nicht nachzuvollziehen und höchst unverantwortlich, sei
doch die aufgezwungene Verteidigungsunfähigkeit „a path to enormous danger“.941 Außerdem
bliebe dadurch den EntscheidungsträgerInnen in Politik und Militär im Verteidigungsfall nur
die Wahl, „ either backing down from confrontation with a rogue regime, or using an airborne
nuke that would risk killing millions of civilians or a huge conventional raid that risked the lives
of American soldiers.“942 Auch als im April 2005 die Ergebnisse der RNEP-skeptischen Studie
des National Research Council aussagten, mit den erhofften Vorzügen sei kaum zu rechnen –
zwar würde die neue Waffe die angestrebten Ziele zerstören können, aber wenn nicht durch
ihre Explosionskraft, so doch durch die Folgeradiation hohe Verluste an Menschenleben
einfordern – argumentierte Donald Rumsfeld (auf die Frage der Senatorin Feinstein
939
940
941
942
Einschränkend führt der Autor an, dass er Terroristen bei seinen Überlegungen außen vor lässt und sich
lediglich auf zwischenstaatliche Konfrontationen bezieht. Younger, Stephen M. 2000: Nuclear Weapons in
the Twenty First Century, Los Alamos.
Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003, Republikaner Gingrich war als
Sprecher des Repräsentantenhauses der Anführer der Opposition gegen die Clinton-Regierung.
Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003; das political-correctnessArgument bringt Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004
über die Hemmungen aus Angst vor einem schlechten Ruf beschwert sich Jack Spencer (Heritage
Foundation), zitiert in: Struck, Doug 2003: U.S. Focuses On N. Korea’s Hidden Arms, in: Washington Post,
23.06.2003.
So das Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths.
– 253 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
reagierend, warum die Regierung von ihren Plänen angesichts dieser Forschungen nicht
Abstand nehme) vor dem Kongress nach dem ultima ratio-Prinzip und stellte klar, dass es zu
ihnen schlichtweg keine bessere Alternative gäbe: „So … do we want to have nothing and only
a large, dirty nuclear weapon, or would we rather have something in between? “943
Die im letzten Absatz geschilderten Äußerungen deuten auf eine Konkurrenz
verschiedener identitätsrelevanter Angemessenheitsvorstellungen hin: Wie in den Hinweisen
auf den schlechten Ruf und die politische Korrektheit zum Vorschein kommt, sind sich die
Akteure nicht nur ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten, ihr Handeln kritisch beäugenden
Wertegemeinschaft bewusst, sondern nehmen diese auch als restringierend wahr. Neben der
durch diese Restriktion erforderlich werdenden Abwägung zwischen der nationalen Sicherheit
und der äußeren Identität (Reputation), konfligieren zwei weitere zu einem „zivilisierten“ Staat
gehörende Normen (der Nicht-Einsatz nuklearer Waffen versus das ausdrückliche Bestreben,
zivile Opfer um jeden Preis zu vermeiden) – so kann ausgerechnet der Bruch der ersten Norm
notwendig werden, um die zweite einhalten zu können.
„Policy Changes? What Policy Changes?”944
„There’s nothing new in that.” 945
Vor dem Hintergrund der auf den letzten Seiten dargestellten Fokussierung des Nuklear- und
Sicherheitsdiskurses auf neue Bedrohungen durch neue Akteure und der daraus erwachsenden
neuen Erfordernissen an Strategien wie auch der soeben beschriebenen Absichten, neue
Waffen zu entwickeln und herzustellen, mag der Befund überraschen, dass parallel hierzu der
Betonung politischer, militärischer sowie technologischer Kontinuität in dieser Debatte ein
bedeutender Stellenwert zukam. So sehr weltpolitische Veränderungen zu einer fast schon
beliebigen, nach Bedarf eingesetzten Begründung für alles Mögliche wurden, so sehr scheuten
sich die norm challengers, in der Öffentlichkeit Brüche mit alten Traditionen einzugestehen:
Demnach seien zum Einen small nukes und bunkers busters alles andere als „brand new
weapons“, sondern lediglich Weiterentwicklungen und Modifikationen alter.946 Zum Anderen
sei
noch
nie
eine
no-first-use-policy
deklariert
worden
und
negative
nukleare
Sicherheitsgarantien seien schon immer nur unter der Voraussetzung des Nicht-Einsatzes von
Massenvernichtungswaffen gültig gewesen, weshalb die von TabubefürworterInnen häufig
geäußerte Kritik, es hätte eine grundlegende Neuausrichtung der Nuklearpolitik gegeben,
ungerechtfertigt sei.947 Die Kontinuitäts-Argumentation gipfelte in der Anmerkung, dass sogar
943
944
945
946
947
Zitiert in: Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk Cited, in: Washington Post, 28.04.2005.
Milbank, Dana 2002: Policy Changes? What Policy Changes?, in: Washington Post, 26.03.2002.
Kommentar der Sicherheitsberaterin Rice zur NPR. NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on
terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002
CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on
terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002.
Z.B. Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy.
A Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century.
Die Gewährung von Sicherheitsgarantien im Jahr 1978, auf die in diesem Zusammenhang rekurriert wird,
– 254 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
die Veränderungen und Anpassungen (sollte es sie tatsächlich geben) als ein Zeichen der
Beständigkeit zu werten seien, da auch sie in der Vergangenheit stets stattgefunden hätten.948
Solche Versuche, den Erhalt alter Traditionen zu demonstrieren, können ebenfalls als der
Identität geschuldet aufgefasst werden.
Insbesondere in Bezug auf die nukleare Schwelle wurde die Wahrung der Kontinuität
häufig und mit Nachdruck versichert, nicht selten mit dem Hinweis darauf, dass strategische
Veränderungen nicht etwa, wie von KritikerInnen behauptet, deren Senkung dienen, sondern
sie ganz im Gegenteil erhöhen sollen oder zumindest anstreben, „to keep the nuclear threshold
high “, was ein langjähriges Ziel der US-Politik sei.949 Dieser falsche Eindruck entstünde bzw.
würde vor allem deshalb erweckt, weil die Debatte über die Vorschläge der NPR sowie um
militärische Reformen insgesamt – absichtlich oder aufgrund von Fehlinterpretationen – mit
einer falschen Schwerpunktsetzung geführt würde. So würde die Absicht, mehr
Unabhängigkeit von Nuklearwaffen zu erreichen und konventionelle Kapazitäten (zum
Beispiel im Rahmen der Revolution in Military Affairs, RMA)950 auszubauen, ignoriert:
„The criticism – that the new policy lowers the bar for use of nuclear weapons – is
misplaced. In fact, by linking U.S. nuclear and conventional precision strike capabilities,
the policy narrows the role of nuclear weapons in U.S. defense policy, reduces the
circumstances in which they might be used and sets the stage for even deeper cuts in
nuclear forces.“951
Die norm challengers unterstellten den „nuclear alarmists“, unberechtigterweise selektiv einen
Strategieaspekt herauszugreifen, der ihnen dabei helfe, sensationslustig „the first step on a
wurde vom damaligen Außenminister Cyrus Vance auf der ersten UN-Sondersitzung zur Abrüstung
vorgetragen. Sie lautete wie folgt und war in der Tat mit Einschränkungen formuliert worden: „The US will
not use nuclear weapons against non-nuclear weapon states party to the Nonproliferation Treaty except in the
case of an invasion or any other attack on the United States, its territories, its armed forces or other troops, its
allies, or on a state toward which it has a security commitment, carried out or sustained by such a nonnuclearweapon state in association or alliance with a nuclear-weapon state.“ Zitiert nach: Joint Chiefs of Staff 2005:
948
949
950
951
Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005.
Huessy, Peter 2005: Nukes For Peace, Kommentar des Center for Security Policy , 14.02.2005.
S. z.B. Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces oder
Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington
Post, 16.11.2004.
Für eine Zusammenfassung von Rumsfelds Zukunftsvorstellungen über neue militärische Entwicklungen s.
Rumsfeld, Donald 2002: Transforming the Military, in: Foreign Affairs 81:3, S. 20-32. Zur RMA und
Nuklearwaffen siehe außerdem: Gray, Colin S. 2000: Nuclear Weapons and the Revolution in Military
Affairs, in: Harknett, Richard J./Wirtz, James J./Paul, Thazha V. (Hg.): The Absolute Weapon Revisited.
Nuclear Arms and the Emerging International Order, Michigan, S. 99-134, für eine Diskussion der
Auswirkungen solcher Militärinnovationen auf die Kriegsneigung der Demokratien, s. Müller,
Harald/Schörnig, Niklas 2002: Mit Kant in den Krieg? Das problematische Spannungsverhältnis zwischen
Demokratie und der Revolution in Military Affairs, in: Die Friedens-Warte 2002/4, S. 353-374.
Blechman, Barry 2002: New Nuclear Policy Makes For a Safer World, Gastkommentar in: Los Angeles
Times, 18.03.2002, genauso Dao, James 2002: Pentagon Study Urges Arms Shift, From Nuclear to HighTech, in: New York Times, 09.01.2002 (noch vor der Veröffentlichung der unter Verschluss gehaltenen
Passagen und basierend auf den Informationen, die nach dem hearing zur NPR am 08. Januar bekannt
wurden) sowie Gaffney Jr., Frank 2002: Nuclear Reform Overdue, in: USA Today 13.03.2002 und
Krepinevich, Andrew 2002: The Real Problems With Our Nuclear Posture, Gastkommentar in: New York
Times, 14.03.2002.
– 255 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
path to nuclear Armageddon“ zu verkünden,952 dabei sei doch gerade die von ihnen
propagierte Abschaffung resp. Beibehaltung des alten Arsenals, ohne notwendig gewordene
Anpassungen vorzunehmen, der sicherste Weg dorthin. So würde eine durch das „ill-suited
stockpile “ unwirksam gewordene Abschreckung dazu führen, dass „the adversary’s
provocations would proceed, and the use of nuclear weapons would be more likely .“953
Unter solchen Positionen, die das Gebot propagieren, mithilfe von Strategieanpassungen
die nukleare Schwelle zu erhalten, also bereits das Eintreten von contingencies, unter denen
ein nuklearer Einsatz als notwendig erachtet werden müsste, möglichst zu verhindern, bildete
der NIPP-Präsident Keith B. Payne insofern eine Ausnahme, als er es für gefährlich hielt, der
nuklearen Schwelle im Diskurs überhaupt solch eine prominente Behandlung zu gewähren,
denn genau das mache ihr Überschreiten seiner Ansicht nach wahrscheinlicher. Zwar teilte er
die Auffassung, dass auch in der NPR eine strikte Unterscheidung zwischen konventionellen
und nuklearen Waffen zum Tragen komme und dass die NPR keineswegs beabsichtige, das
Überschreiten der Schwelle zu erleichtern, jedoch merkte er kritisch an, dass dies auf Kosten
der Abschreckung ginge (und somit andere sich veranlasst sehen könnten, über die Schwelle
zu treten):
„If the United States really were to blur the distinction, that is, if it treated nuclear
weapons as it did conventional weapons, the credibility of the nuclear deterrent might be
less open to question. Nuclear deterrence presumably would be as credible as
conventional deterrence if the United States acknowledged no distinction.“954
Nach Feststellung dieser negativen Nebenwirkung auf die Sicherheit des Landes – obgleich
ohne explizit zu fordern, die mit Gefahren verbundene Unterscheidung von Waffengattungen
aufzuheben – brachte er zum Ausdruck, dass es sich bei der nuklearen Hemmschwelle um ein
überkommenes Konstrukt handelt: „There is no such thing as a single, objective nuclear
threshold to be lowered or raised mechanistically. That notion, like others, is a construct of the
Cold War’s balance of terror.“955 Die nukleare Schwelle nicht explizit festzulegen und nicht mit
einem Absolutheitsanspruch zu belegen, sei indes entscheidend, um den Status von
Nuklearwaffen als Abschreckungswaffen aufrechtzuerhalten und gar nicht erst in die Situation
zu kommen, sie einsetzen zu müssen.956
952
953
954
955
956
Editorial des Wall Street Journal vom 14. März 2002: Nuclear Posturing, sowie Sokolsky, Richard/Rumer,
Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post, 15.03.2002.
Monroe, Robert R. 2004: New Threats, Old Weapons, Gastkommentar des Navy -Admirals in: Washington
Post, 16.11.2004.
Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington
Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 142. Paul Robinson führt das gleiche Argument für no-first-useErklärungen an – auch wenn er glaubt, dass die USA die letzten sind, die Nuklearwaffen einsetzen würden,
dürfe man dies nicht zu einer deklaratorischen Politik erheben, weil es sonst die Abschreckungsstrategie
konterkariere. S. Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?,
Strategiepapier des Sandia-Direktors.
Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington
Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 144f.
Wir begegnen hier erneut dem auf Seite 250 erläuterten Argument der Ambiguitätsnotwendigkeit.
– 256 –
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Dass der Zweck von Nuklearwaffen nach wie vor Abschreckung sei und neue
Entwicklungen auf diesem Gebiet immer noch die Kontinuität wahrten, sie als weapons of last
resort zu betrachten, wurde im Diskursverlauf von verschiedenen ProtagonistInnen
hervorgehoben, von „uninformed or uncaring critics“957 erhobene Vorwürfe, welche das
Gegenteil behaupteten, vehement abgewehrt. Beispielsweise antwortete Sicherheitsberaterin
Rice auf die Frage, ob richtig sei, dass Nuklearwaffen in Zukunft eine neue Aufgabe als
Instrument der Kriegsführung und nicht mehr der Kriegsverhinderung erhalten: „The
American policy on this score has not changed.“ 958 Aus den Reihen des Pentagon verlautete
nach der Bekanntgabe der first-strike-policy, dass „nuclear first strikes would be considered
weapons of last resort, especially against biological weapons“.959 Eine ähnlich lautende
Erklärung gab auch Sandia-Direktor Robinson ab – „We do not maintain nuclear weapons for
war-fighting purposes, but as ‚weapons of last-resort’“.960 Dass Nuklearwaffen immer noch „as
occupying a special category “ angesehen werden, wurde in etwas anderer Formulierung in
einem Artikel des Präsidenten des NIPP getroffen: „[N]uclear employment is plausible only in
the most extreme circumstances“.961 Laut dem Bericht des Defense Science Board sei es nach
wie vor „American policy (…) to pursue non-nuclear attack options wherever possible“,
Nuklearwaffen würden also erst nach Ausschöpfung konventioneller Alternativen in Betracht
gezogen, dennoch könne es unter extremen Umständen dazu kommen, dass der Präsident
„[n]evertheless, (…) may have no choice but to turn to nuclear options.“962
In Anbetracht solcher Zusicherungen, Nuklearwaffen seien nach wie vor kein
Kampfmittel und ihr Einsatz komme ausschließlich als ultima ratio in ausweglosen
Situationen in Betracht, tanzte der ehemalige Sprecher des Repräsentantenhauses Newt
Gingrich völlig aus der Reihe, hatte er doch kein Problem damit, in seinem Plädoyer für neue
low-yield nukes und bunker buster die Bestimmung der Waffen für den Ersteinsatz zuzugeben:
„This would be a weapon designed to be used. It would not simply be a weapon of
deterrence, as current nuclear weapons are. Yet after Sept. 11, 2001, and after all of the
public threats of Osama bin Laden, Kim Jong Il and others, how can we not be prepared
to defend ourselves if necessity requires it? Such a weapon with its potential to save
millions of innocent lives should not be seen as a threat but as a necessary step toward
strengthening American and world security.“963
957
958
959
960
961
962
963
Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?, Strategiepapier
des Sandia-Direktors.
NBC 2002: Condoleezza Rice discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript
der Sendung „Meet the Press“ vom 10.03.2002.
Ricks, Thomas E./Loeb, Vernon 2002: Bush Developing Policy of Striking First, in: Washington Post,
10.06.2002.
Robinson, Paul C. 2004: Is There a Purpose for Deterrence After the Cold War?, Strategiepapier des
Sandia-Direktors.
Payne, Keith B. 2004: Precise and Powerful. Low-Yield Nukes May Be the Deterrent We Need, in: National
Review Online, 17.02.2004.
Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces.
Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003.
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Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Das von Gingrich angeführte Argument der Notwendigkeiten, denen man sich stellen müsse,
weil keine anderen Optionen bestünde, war in der Nukleardebatte wesentlich – dass
Nuklearpolitik sich nicht ausschließlich von normativen Überlegungen leiten lassen könne und
Sachzwängen unterliege, war bereits 2001 als Erwiderung auf abrüstungseuphorische,
abolitionistische Forderungen vorgebracht worden:
„The priorities that constitute the focus for these proposals – nuclear non proliferation,
safe-handling practices, and ‚anti-nuclear’ norms – are indeed worthy of consideration.
But force posture recommendations based on these priorities alone, that do not also
carefully consider current and potential future security requirements, are wholly
inadequate because those requirements may or may not permit nuclear ‚abolition,’ ‚dealerting,’ and/or deep reductions.“964
Die TabugegnerInnen legten großen Wert auf die Feststellung, dass nach wie vor niemand
Nuklearwaffen einsetzen wolle (Condoleezza Rice: „The fact is, no one wants to use nuclear
weapons.” ), es sei sogar „no one anxious to think about the employment of tactical nuclear
weapons“ (Herv. ER).965 Dies allein ändere dennoch nichts an den Tatsachen, nämlich, dass es
Situationen gäbe, in denen man Einsätze erwägen und ggf. vielleicht sogar durchführen müsse.
Da solche contingencies weitaus wahrscheinlicher geworden seien als früher, müsse man
sicherstellen, für den Fall der Fälle über geeignete Einsatzmittel zu verfügen.966 Das Argument,
die Verfügbarkeit solcher Waffen allein erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen
Einsatzes, sei laut Keith B. Payne ein unzutreffender „technischer Determinismus“ und dieser
aus zwei Gründen zweifelhaft: Zum Einen ignoriere diese Behauptung die Tatsache, dass der
Präsident nicht auf Basis von technischen, sondern ausgehend von situativen und politischen
Bedingungen über den Gebrauch von Nuklearwaffen entscheide. Technische Anpassungen
würden, zum Anderen, nichts daran ändern, dass die Waffen, so wie in den vergangenen
fünfzig
Jahren
auch,
nur
in
Ausnahmefällen
in
Frage
kommen
würden.
Die
EntscheidungsträgerInnen seien sich darüber hinaus immer noch dessen bewusst, dass eine
nukleare Operation „would be an act with extraordinarily high political consequences“, eine
neue Technik würde es längst nicht möglich machen, darüber hinwegzusehen.967 Auch ein
Blick in die Geschichte untermauere diese Argumentation, werde doch hier deutlich, dass die
bloße Verfügbarkeit von Sprengköpfen mit geringer Explosionskraft keineswegs zu einer
erleichterten pro-nuklearen Entscheidungsfindung geführt habe:
964
965
966
967
National Institute for Public Policy 2001: Rationale and Requirements for U.S. Nuclear Forces and
Arms Control.
„Anxious“ wird in diesem Zusammenhang nicht, wie üblich, im Sinne von „ängstlich“, sondern im Sinne
von „bestrebt“ verwendet.
Editorial des Wall Street Journal vom 12. April 2004: Rethinking Armageddon, s. auch Younger, Stephen
M. 2000: Nuclear Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos, sowie NBC 2002: Condoleezza Rice
discusses the war on terrorism and violence in the Middle East, Transkript der Sendung „Meet the Press“
vom 10.03.2002 und Donald Rumsfeld, zitiert in: Scott Tyson, Ann 2005: ‚Bunker Buster’ Casualty Risk
Cited, in: Washington Post, 28.04.2005.
Payne, Keith B. 2004: Precise and Powerful. Low-Yield Nukes May Be the Deterrent We Need, in: National
Review Online, 17.02.2004
– 258 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
„In fact, throughout virtually the entire course of the Cold War, from acute crises in
Berlin, the Taiwan Strait, the Caribbean and the Middle East through shooting wars in
Asia, when low-yield weapons were available to U.S. presidents, no evidence suggests that
the availability of these weapons made any president less cautious about employing
nuclear weapons.“968
„Wir entwickeln nicht, wir forschen nur und wir bauen nicht, wir entwickeln nur”
„We don’t know. That’s why we want to study it (…) It is a
study. It is nothing more and nothing less. (…) And it is not
pursuing. And it is not developing. It is not building. It is not
manufacturing. And it’s not deploying. And it is not using.” 969
Obwohl neue Waffen nach den obigen Ausführungen die Nicht-Einsatz-Kontinuität nicht
gefährden müssen, wurden die Fragen rund um ihre Entwicklung, genauer, die
Unterscheidung von Entwicklungsstadien (Forschung, Entwicklung, Bau),970 dennoch zu
einem bedeutenden Teil der Diskussion. In Bezug auf neue Sprengköpfe haben sich nur
wenige so unmissverständlich wie William Odom, General a.D. positioniert: „We absolutely
need new ones. (…) You want to keep a nuclear weapons development program, get rid of old
big ones, and have the flexibility to investigate new ones“, so Odom 2001.971 Hingegen haben
sich andere Akteure, wie z.B. Energieminister Abraham, erstens von der Behauptung
distanziert, überhaupt neue Waffen zu entwickeln und lediglich von Modifikationsabsichten
gesprochen: „This is a modification of a weapon (…) not the development of a new
warhead “.972 Zum Zweiten ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass man von einer
Entwicklung, geschweige denn vom Bau neuer Waffen noch weit entfernt sei, und lediglich
zur Forschungsphase gehörende Machbarkeitsstudien durchgeführt werden, um das Potential
der Waffen, HDBTs zu zerstören, zu erkunden und Entscheidungen auf Basis von
Informationen statt von Vermutungen treffen zu können.973 An diesen feasibility studies
968
969
970
971
972
973
Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington
Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 144.
Donald Rumsfeld im Mai 2003 in Zusammenhang mit der Beendigung des nationalen Teststopps im Senat,
zitiert in: Squitieri, Tom 2003: Senate OKs ending ban on nuclear research, in: USA Today, 21.05.2003,
Editorial des Wall Street Journal vom 03. März 2005: Hobson’s Choice. Für Hinweise auf die
Machbarkeitsstudie s. Republikaner James Inhofe, zitiert in: Hulse, Carl 2004: Senate Backs New Research
On A-Bombs, in: New York Times, 16.06.2004.
Dies ist eine grobe Einteilung, wie sie von den Akteuren im Diskurs vorgenommen wurde. Das
Verteidigungs- und das Energieministerium unterscheiden insgesamt sieben Entwicklungsphasen, von
denen die ersten drei, Concept Assessment, Feasibility Study & Option Down-select und Design Definition
zum Forschungsstadium, Development Engineering
und
Production
Engineering
zum
Entwicklungsstadium und First Production sowie Full-Scale Production zur Bauphase gehören. S.
ausführlich: Department of Defense and Department of Energy 2000: Procedural Guideline For The Phase
6.X Process, 19.04.2000.
Diese Anforderungen seien auch der Grund, „why the Comprehensive Test Ban Treaty was so stupid .“
Zitiert in: Pincus, Walter 2001: U.S. Nuclear Proposals Envision Sharp Cuts in Missiles, Bombers, in:
Washington Post, 25.05.2001.
Zitiert in: Pincus, Walter 2002: Nuclear Warhead Study Aims at Buried Targets, in: Washington Post,
13.03.2002, s. auch S. 254 der Arbeit.
Office of Management and Budget des Weißen Hauses als Reaktion auf die Mitte des Jahres 2003 im
Repräsentantenhaus beschlossenen Forschungsbudgetkürzungen, zitiert in: Hulse, Carl 2003: House Trims
Bush Plan For Research on Weapons, in: New York Times, 19.07.2003.
– 259 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
bestehe vor allem deshalb Bedarf, weil in der Wissenschaft konkurrierende Ansichten über die
Zerstörungskapazitäten, Präzisionsfähigkeiten und mögliche Reduktionen der fallout-Menge
herrschten, wie Donald Rumsfeld nicht müde wurde, zu betonen:
„I don’t believe there is anything currently underway by way of developing new nuclear
weapons, (…) [the notes, Pincus] referred not to the development of specific weapons,
but the analysis that would go into determining whether or not something might or might
not make sense.“974
Gegner der neuen Waffenprogramme haben offen bezweifelt, ob man angesichts der Höhe
der angeforderten Beträge der Regierung Glauben schenken könnte, sie wolle tatsächlich nur
eine Machbarkeitsstudie durchführen, sei doch allgemein bekannt, dass „the military
procurement tap is hard to wrench closed once the research money flows“.975 Überdies
bezeichneten sie diese Investition als Verschwendung von Steuergeldern,976 wohingegen von
den BefürworterInnen neuer Waffen ein gegenteiliges Kostenargument gebracht wurde: Mit
den – wohlgemerkt entwickelten bzw. bereits angefertigten – neuen Waffen ließen sich
Kosten sparen, weil sie in der Produktion wie in der Instandhaltung nicht so teuer seien, wie
das alte Arsenal. Zudem sei eine „standing nuclear force (…) far less costly, than a standing
conventional force. That is many times truer when the conventional force finds itself
continuously engaged.“ Wenn neue Nuklearwaffen (wieder) für eine wirksame Abschreckung
sorgen könnten, würden auch kostspielige konventionelle Operationen in geringerem Maße
nötig, so das Kalkül.977
Neben denjenigen, die den Wunsch nach neuen Waffen sowie Entwicklungsabsichten
verneinten, gab es eine dritte Gruppe, die diese zwar zugestand, jedoch von der Produktion
Abstand nahm. Hierzu gehörte u.a. Pete Domenici, der republikanische Senator von New
Mexico (dem Bundesstaat, in dem sich zwei mit Nuklearforschungen befasste National
Laboratories, nämlich Sandia und Los Alamos befinden), der vor dem Senat darauf aufmerksam
machte, dass in dem Haushaltsentwurf für 2004 „not one single word that says we are going to
build a new nuclear weapon“ zu finden sei und dass das Nachdenken über und das
Konzipieren von neuen Waffen in den Labors erlaubt sein müsse.978
Wenn infolge der gescheiterten Ratifikation des CTBT im Oktober 1999 argumentiert
worden war, dass diese Entwicklung zur Sicherheit und Verlässlichkeit des bestehenden
Arsenals beitrage, weil man es durch Tests einer Überprüfung unterziehen könne, wurde die
damit sowie mit der Beendigung des Spratt-Furse-bans im Mai 2003 gewonnene Flexibilität
974
975
976
977
978
Zitiert in: Pincus, Walter 2004: U.S. Explores Developing Low-Yield Nuclear Weapons, in: Washington
Post, 20.02.2003.
Editorial der New York Times vom 06. März 2005: Destabilizing Bit Of Research.
So der demokratische Abgeordnete Edward Markey, zitiert in: Pincus, Walter 2005: Setbacks On Hill For
Bunker Buster, in: Washington Post, 14.05.2005.
Leserbrief-Sample „How Can We Threaten A Fearless Enemy?“, in: Wall Street Journal, 03.11.2005,
außerdem: Younger, Stephen M. 2000: Nuclear Weapons in the Twenty First Century, Los Alamos.
US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment
#1655, 15.09.2003, S. S11441.
– 260 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
auch hinsichtlich neuer Waffenentwicklungen als Vorteil empfunden.979 Zwar wurde auch hier
aus Los Alamos wie von Seiten der Administration wiederholt eingeschränkt, dass Tests für
modifikatorische Arbeiten an den Waffen nicht zwingend erforderlich sein würden und man
versuchen werde, sie zu umgehen – jedoch haben andere Parteien darauf hingewiesen, dass es
höchst zweifelhaft sei, inwiefern man für modifizierte, jedoch ungetestete Sprengköpfe mehr
Zuverlässigkeit und Abschreckungskraft beanspruchen könne als für ihre lang erprobten
„Artgenossen“ aus dem alten Arsenal.980 Aus genau solchen Überlegungen heraus müsse man
die Wahlfreiheit schützen und dürfe die möglicherweise in Zukunft zur Durchführung von
Tests benötigten Kapazitäten nicht abbauen.981
Akteure, die den Tests kritisch bis ablehnend gegenüber standen, sahen dies
erwartungsgemäß anders, so erkannte der Abrüstungsexperte und Präsident des Center for
Defense Information, Bruce G. Blair zwar durchaus die „self-bureaucratic interests“ der
Nuklearwaffenlabors wie auch die Begründung des Kapazitätenerhalts an, weswegen er
Grundlagenforschung zu Nuklearwaffen befürwortete. Dennoch war er der Meinung, dass die
Vereinigten Staaten „should forgo designing, building, testing and fielding new weapons.“982
Greatest brains of the world: Die Rolle der Wissenschaft
„[W]e should keep our nuclear scientists – the greatest in
the world, excited about their work, living at one of three
great laboratories – engaged and thinking about what the
nuclear stockpile of the future should look like.” 983
Was Bruce Blair nüchtern als bürokratisches Eigeninteresse charakterisierte, ist, wie am
Eingangszitat erkennbar, von anderen DiskursteilnehmerInnen mit weitaus mehr Pathos
formuliert worden; dementsprechend begrüßt wurde von ihnen auch die Absicht der NPR,
nuklearwissenschaftlichen Kapazitäten wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen.984 Die
979
980
981
982
983
984
S. S. 237 der Arbeit. In diesem Zusammenhang gab es einen interessanten medialen Zwischenfall: Der als
Abrüstungsaktivist bekannte William Arkin (s. auch S. 221 der Arbeit) gestand im Januar 2002 in der
Washington Post, dass er nicht sicher sei, ob er Tests tatsächlich ablehne, wenn man auch in Zukunft auf
Nuklearwaffen setze – in dem Artikel wurde er als Mitglied des National Resources Defense Council, einer
renommierten Umweltschutzorganisation und als Mitarbeiter der Federation of American Scientists (von
ehemaligen Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts gegründete Abrüstungsorganisation) bezeichnet.
Daraufhin distanzierten sich beide Organisationen in einer Richtigstellung umgehend von dieser Aussage
und von Arkin selbst, der keineswegs mit ihnen „affiliated “ sei. Siehe Pincus, Walter 2002: U.S. to Seek
Options on New Nuclear Tests, in: Washington Post, 08.01.2002 sowie Correction to: U.S. to Seek Options
on New Nuclear Tests, in: Washington Post, 09.01.2002.
So z.B. der Stanford-Physiker Sidney Drell, zitiert in: Robbins, Carla Anne 2005: U.S. Weighs Whether to
Build Some New Nuclear Warheads, in: Wall Street Journal, 14.12.2005.
Z.B. Defense Science Board 2004: Report of the Task Force on Future Strategic Strike Forces,
Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy. A
Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century.
Blair, Bruce G. 2003: We Keep Building Nukes For All The Wrong Reasons, in: Washington Post,
25.05.2003.
Zitat des Republikaners Pete Domenici in einem hearing , s. US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water
Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655, 15.09.2003, S. S11441.
Vgl. Nuclear Posture Review 2002, Auszüge, online unter: <http://www.globalsecurity.org/wmd
/library/policy/dod/npr.htm>, rev. 01.08.2006.
– 261 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Auswirkungen der nuklearen Marginalisierung auf die russische in diesem Bereich tätige Elite
und die US-amerikanischen Reaktionen darauf sind bereits erläutert worden985 – dass man
auch im eigenen Nuklearsektor mit einem „aging cadre of Cold Warriors who are heading
toward retirement and taking the USA’s nuclear weapons knowledge with them “ konfrontiert
sein würde, war der Politik während der „decade of neglect“ jedoch offenbar nicht bewusst.
Das
Statement
des
im
kalifornischen
Lawrence-Livermore-Labor
beschäftigten
Waffenentwicklers, Tom Thomson, dass „Nobody wants to work here“ brachte die
demotivierte, um nicht zu sagen demoralisierte Einstellung der Beschäftigten auf den Punkt
und deutete gleichzeitig ein weiteres Problem an – das Fehlen des wissenschaftlichen
Nachwuchses, an den das über Jahrzehnte erworbene know-how tradiert werden könnte.986
Bereits jetzt gäbe es nach Angabe eines Programmdirektoren des Los Alamos-Labors gerade
einmal zwei Wissenschaftler, die Erfahrungen mit echten unterirdischen Tests hätten, alle
anderen MitarbeiterInnen würden aufgrund des 1992er Testmoratoriums nur noch – im
Rahmen des Stockpile Stewardship Program durchgeführte987 – Computersimulationen
kennen. Weil die Vereinigten Staaten schon seit Jahren keine Nuklearwaffen mehr entworfen,
entwickelt, geschweige denn gebaut haben, fehle, zusätzlich zu den wissenschaftlichen
Kapazitäten, auch die nukleare Infrastruktur, die früher für die Herstellung der benötigten
Materialien und Waffenbestandteile gesorgt hätte. Diese Problematik entschärfen zu wollen,
war eine der von den Republikanern John W. Warner und Wayne Allard vorgebrachten
Begründungen, als sie vor dem Kongress im Jahr 2000 ihr amendment zur Aufnahme von
RNEP-Forschungen durchsetzen konnten.988
Die beschriebenen Zustände gelte es zu ändern, weil sie ernsthaft die – für das USSelbstverständnis außerordentlich wichtige – technologische Vorreiterschaft der Supermacht
gefährdeten. Zudem sei Fortschritt auf diesem Gebiet kein Selbstzweck, vielmehr seien die
Labors auch mit einer wesentlichen Funktion – nämlich mit der „national security mission“ –
ausgestattet, weshalb eine eventuelle Rückständigkeit nicht verantwortet werden könne. Von
Staaten, die keine unmittelbare Gefahr darstellen und die, wie „India, Pakistan, China, and
Russia, have maintained or improved their nuclear weapon infrastructures and continued their
nuclear weapon development programs, making great progress“, eventuell technologisch
985
986
987
988
S. Seite 226 der Arbeit.
S. Weisman, Jonathan 2002: Nuclear Arms Scientists may lack „sense of mission“, in: USA Today,
18.03.2002.
Das 1994 gegründete Programm sollte mittels umfangreicher Experimente Nukleartests ersetzen. S.
ausführlich: Müller, Harald/Schaper, Annette 2003: US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, HSFKReport 3/2003, S. 27.
Bericht von: Pincus, Walter 2000: Senate Bill Requires Study of New Nuclear Weapon, in: Washington Post,
12.06.2000. Der Präsident des Center for Security Policy begrüßte die NPR, beinhalte sie doch auch ein
„restoring the critically important nuclear industrial base “, s. Gaffney Jr., Frank 2004: Global test …
nuclear nonsense, in: Washington Times, 05.10.2004; siehe des Weiteren: Robbins, Carla Anne 2005: U.S.
Weighs Whether to Build Some New Nuclear Warheads, in: Wall Street Journal, 14.12.2005.
– 262 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
überholt zu werden,989 sei nicht hinnehmbar, weshalb es gelte, ihren eventuell erzielten
Vorsprung in jedem Fall auszubauen, wie der Under Secretary of Energy for Nuclear Security
Linton Brooks in einem an die drei Labordirektoren gerichteten Memo anlässlich der
Teststoppbeendigung erklärte:
„We must take advantage of this opportunity to ensure that we close any gaps that may
have opened this past decade in our understanding of the possible military applications of
atomic energy – no novel nuclear weapons concept developed by any other nation should
ever come as a technical surprise.“990
Insbesondere der von illegal nach Nuklearwaffen strebenden „Schurkenstaaten“ und
Terroristen erzielte Fortschritt könne existenzbedrohlich werden. Wenn der Kongress
nuklearen Forschungseinrichtungen, die nationale Sicherheit als „ihr Geschäft“ betrachten,
und folglich alles täte, „to help our nation and allies detect, repel, defeat, or mitigate national
security threats“,991 das Budget kürze, entstünden Zweifel, ob er tatsächlich bereit und in der
Lage sei, seine „most important duty to the American people” zu erfüllen.992 Zudem hätten die
USA ohnehin das Recht, die besten Technologien zu ihrer Verteidigung zu entwickeln.993
Dieses sicherheitspolitische Argument wurde des Weiteren durch allgemeinere, mit der
Identität der USA assoziierte Hinweise auf die Freiheit der Forschung und der Wissenschaft,
aber auch auf die Gedankenfreiheit untermauert, welche nicht mittels rechtlicher oder
finanzieller Hürden gehemmt werden dürften:
„[O]ur scientists should remain flexible (…) we should not have to have them worried all
the time whether thinking about certain aspects of a nuclear weapon of the future is a
violation of the law or not. They should be permitted to think about [a new weapon] –
based upon what we have learned, what we know about both our friends and our
enemies and war so far, and what people are creating in the world – they should be able
to think and design and posture.“994
Senator Domenici pflichtete hier Energieminister Abraham bei, der einige Monate vorher
kritisierte, die „Denkverbote“ für die Wissenschaft hätten nun lange genug bestanden und es
989
990
991
Z.B. Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy.
A Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century.
Brooks, Linton 2003: Memorandum to Pete Nanos, Director Los Alamos National Laboratory, Michael
Anastasio, Director Lawrence Livermore National Laboratory, Paul C. Robinson, President Sandia National
Laboratory, Subject: FY 2004 National Defense Authorization Act, 05.12.2003.
Vollständiges Zitat aus der Selbstdarstellung des Sandia-Labors im Jahresbericht: „National Security is Our
Business. Sandia National Laboratories applies advanced science and engineering to help our nation and
allies detect, repel, defeat, or mitigate national security threats.“ Vgl. Sandia National Laboratories 2004:
992
993
994
Annual Report 2003-2004.
S. hierzu das policy paper von Baker Spring: Anlässlich der im Oktober 2005 verkündeten Streichung des
Postens bunker buster aus dem Haushalt, fordert der Heritage-Analyst den Kongress auf, sich mit nuklearen
Realitäten auseinanderzusetzen, und zwecks Modernisierung den „ scientific and engineering communities “
die Freiheit zu geben, „to explore advanced concepts for strategic and nuclear forces“ und sämtliche
Barrieren „to researching, developing, testing, and ultimately deploying new weapons” fallen zu lassen.
Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy
and Forces, „backgrounder” der Heritage Foundation , 28.10.2005.
Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003.
Pete Domenici in einer Senatssitzung, s. US-Kongress 2003: FY2004 Energy & Water Development
Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655, 15.09.2003, S. S11441.
– 263 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
würde endlich Zeit, den „best thinkers“ der Nation zu ermöglichen, „to fully shift their focus
from winning the Cold War to meeting new challenges “.995
Moralische Relativitäten
„That is an easy term to throw around – a moral issue.” 996
In Abgrenzung zu denjenigen, die sich aufgrund moralischer Bedenken gegen eine Bewilligung
der RNEP-Forschungsgelder aussprachen, argumentierte Senator Domenici, das über
rechtliche und finanzielle Restriktionen erzwungene Verbot, darüber nachzudenken, was für
die Zukunft der Vereinigten Staaten am besten sei, habe für ihn mehr moralische
Implikationen und erschrecke ihn mehr als die Möglichkeit der Herstellung neuer Waffen
(zumal diese gar nicht im Raum stünde). Dass die Frage der Moral sich in Verbindung mit
Nuklearwaffen stellte und insbesondere von denjenigen aufgeworfen wurde, die um das
nukleare Tabu fürchteten, ist nicht weiter verwunderlich, doch wie sind mini-nuke und
bunker-buster-BefürworterInnen damit umgegangen?
Der in Frage-Antwort-Form aufgebaute „Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review
and The Role of Nuclear Weapons in the 21st Century ” des Nuclear Strategy Forum
verzichtete darauf, die selbst aufgeworfene Frage „Are nuclear weapons immoral? ” explizit zu
verneinen resp. zu bejahen, und führte stattdessen aus, dass während des Kalten Krieges
häufig argumentiert worden sei, Nuklearwaffen seien mit der jüdisch-christlichen Tradition
ebenso wenig vereinbar wie mit der Theorie des Gerechten Krieges – diese Begründung sei
der Eskalationsgefahr zwischen den beiden damaligen Supermächten geschuldet und den
hohen anzunehmenden Verlusten in der Zivilbevölkerung, da von beiden Seiten Städte zum
Ziel von Nuklearangriffen gewählt worden wären. Nach der Feststellung, dass diese Situation
nicht mehr aktuell sei, erinnerten die Autoren daran, dass die Atombombenabwürfe auf
Hiroshima auf Nagasaki erstens den Zweiten Weltkrieg beendet hätten und dabei einer halben
Million eigener Soldaten sowie doppelt so vielen japanischen Zivilisten das Leben gerettet
hätten, weshalb auch heute noch die meisten US-AmerikanerInnen Trumans Entscheidung
guthießen. Doch die Waffen hätten nicht nur Frieden geschaffen, sondern zudem mit ihrem
Abschreckungspotential die nächsten 50 Jahre bewahren können – eine Fähigkeit, die ihnen
auch unter neuen strategischen Bedingungen erhalten bleiben müsse.997
Diese zum Schluss des Absatzes zu „Nuklearwaffen und Moral“ geäußerte Auffassung,
dass das Potential von Nuklearwaffen, für Frieden zu sorgen, nach wie vor grundsätzlich
995
996
997
Abraham, Spencer 2003: Facing a New Nuclear Reality, in: Washington Post, 21.07.2003
Replik des Senators Pete Domenici in einem hearing auf die Aussage der Senatorin Feinstein, die
Entscheidung, ob man neue Nuklearwaffen baue oder nicht, sei eine moralische. S. US-Kongress 2003:
FY2004 Energy & Water Development Appropriations Bill, Feinstein Amendment #1655,
15.09.2003, S. S11447.
Trachtenberg, David/Pry, Peter 2005: Understanding American Nuclear Weapons Policy and Strategy. A
Citizen’s Guide To the Nuclear Posture Review and The Role of Nuclear Weapons in the 21st
Century, S. 10f.
– 264 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
bestehe, fand sich in ähnlicher Form bei anderen VerteidigerInnen neuer taktischer Waffen.998
Allerdings würde das alte Nukleararsenal seinem moralischen Zweck nicht mehr gerecht, weil
es
seine
abschreckende
Wirkung
999
Forschungsprogramme erforderlich.
verloren
hätte,
dies
wiederum
mache
neue
Während die strategischen Waffen aus dem Kalten
Krieg nur als moralisch bezeichnet werden könnten, solange sie Kriege beendeten oder
verhinderten, komme bei den an veränderten Anforderungen angepassten neuen Waffen ein
zweiter Gesichtspunkt hinzu: So könnte die bestehende Tradition der Friedenssicherung mit
ihnen nur dann fortgesetzt werden, wenn sie sich zur Abschreckung eigneten. Auch böten sie
noch einen weiteren Vorteil gegenüber den „self-deterrent dirty bombs“, die wahllos
vernichteten – sie sollten diskriminieren können. Über diese Eigenschaft verfügten bunker
buster aus zwei Gründen: Sie seien a) präzise und b) strahlungs- bzw. niederschlagsarm, wobei
letzteres sich durch ihre technologische Modernisierung bedinge. Diese ermögliche nämlich
einerseits Tiefenexplosionen und verhindere auf diese Weise das Austreten des fallouts an die
Oberfläche. Andererseits könne es gelingen, die absolute Menge des radioaktiven
Niederschlages sowie seinen Verteilungsradius zu begrenzen.1000 Zu ihrer Präzision sollen im
Rahmen der RMA erzielte Fortschritte beitragen, etwa, indem durch verbesserte
Aufklärungskapazitäten die Lage der Ziele sicherer bestimmt werden soll, es aber auch
möglich werde, Zielgenauigkeit und Treffsicherheit zu erhöhen. Somit entstehe eine neue
Klasse von Nuklearwaffen, mit denen – konventionell unerreichbare – kriegswichtige Ziele
wie die feindliche Führung, als Terroristenverstecke genutzte Felshöhlen, verbunkerte
Munitionslager und Massenvernichtungswaffenlabors wie -depots zerstörbar würden.1001 Im
998
999
1000
1001
So ziehen z.B. Sokolsky/Rumer eine Analogie zur NATO-Ersteinsatzdoktrin (die einen
Nuklearwaffeneinsatz gegen konventionelle Streitkräfte des Warschauer Pakts vorsah): Auch sie habe
damals Empörung und Befürchtungen um die nukleare Schwelle ausgelöst, aber letztendlich den Frieden in
Europa gesichert. Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in:
Washington Post, 15.03.2002.
Zu Änderungen der Abschreckungswirkung s. ausführlich S. 248 der Arbeit.
Bspw. Spencer, Jack 2003: Congress’s Vital Role in Building a Strong National Defense, „backgrounder ” der
Heritage Foundation, Juni 2003. Auch im Bericht des Defense Science Board (DSB) ist von „low-to no-fallout
weapons“ die Rede: Solche „ low-fission-designs“ seien bereits entwickelt und getestet, würden jedoch noch
nicht produziert. Diese vom DSB veröffentlichten Forschungsergebnisse wurden jedoch von der Brookings
Institution für überaus zweifelhaft befunden: So seien die Bedingungen, unter denen die zitierten
Testergebnisse ermittelt worden sind, nicht vergleichbar mit den reellen, weil der DSB erstens verschwiegen
habe, dass die Eintrittslöcher der Testbomben anschließend sorgfältig versiegelt worden seien, was das
Austreten der Radioaktivität in diesen Fällen natürlich verhindert bzw. reduziert habe, aber nach einem
echten Einsatz wohl kaum zu bewerkstelligen wäre. Zweitens hänge es auch von der Beschaffenheit der
durchdrungenen Oberfläche ab, inwiefern sie fallout tatsächlich zurückhalten kann – die Nevada-Felsen mit
ihrem geringen Wassergehalt könnten vermutlich weitaus mehr abfangen als weniger wasserhaltige. S. Levi,
Michael A. 2004: Dreaming of clean nukes. Can the Pentagon defend its plans for new nuclear bombs?, in:
Nature 428/29, April 2004.
Das Adjektiv „precise ” wurde in Verbindung mit low-yield nukes von der pro-Seite sehr häufig benutzt,
während die Gegner darauf pochten, dass die Bunkerzerstörer keine „chirurgische“ Genauigkeit werden
erreichen können und die intelligence-Möglichkeiten längst nicht so weit fortgeschritten seien wie
behauptet (z.B. Cirincione: „ What if we’d detonated one on what we thought were weapons of mass
destruction in Iraq? “). Ferner wird argumentiert, dass bestenfalls die Gebäude selbst, nicht jedoch die
enthaltenen Agenzien vernichtet werden könnten und diese nach dem Angriff zusammen mit dem
nuklearen Niederschlag die Umgebung verseuchen würden. Zudem würde es ausgesprochen schwierig
– 265 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Gegensatz zu alten Waffen, deren erneuter Einsatz – wie in Japan – Abertausende unschuldige
Menschenleben gekostet hätte, was sich einer moralischen Rechtfertigung entziehe, böten
neue Waffen in bestimmten Situationen die einzige Chance, das Leben US-amerikanischer
Soldaten und der eigenen, wie auch der sich auf dem angegriffenen Territorium befindenden,
Zivilbevölkerung zu schützen.1002 Entscheidend ist auch, dass die Zerstörungskapazitäten von
bunker busters – völlig konträr zu ihrer Bestimmung im Kalten Krieg – in erster Linie an
Objekten und nicht an Personen ausgerichtet werden. Der besondere Wert der neuen
Nuklearwaffen, bemesse sich demnach daran, „how little [damage to the opponent’s society is
threatened]“ (weil ihr Einsatz dadurch glaubwürdiger würde), wohingegen die Cold-War-nukes
mit steigender Zerstörungskraft immer wertvoller geworden waren: Die Umkehrung der
Gleichung
„je
unmoralischer,
desto
abschreckender“
in
„je
moralischer,
desto
abschreckender“ bedeute, dass „moral considerations and the efficacy of deterrence
may now merge.“ 1003
Die moralische Dimension kommt auch in Argumenten, die sich nicht auf die
Waffenmerkmale beziehen, zum Tragen: So wurde z.B. der damalige Bush-Herausforderer
John Kerry aufgrund seiner Ankündigung, im Falle seines Sieges die neuen Waffenprogramme
sofort zu stoppen, da man nicht einerseits Nicht-Proliferations-Forderungen stellen und
andererseits selbst einsatzfähige Waffen entwickeln wollen könne, scharf angegriffen. Mit
solchen Aussagen demonstriere er sein Misstrauen gegenüber der militärischen Stärke und der
moralischen Führungskraft seines eigenen Landes und lege im Übrigen nahe, dass die Moral
der Vereinigten Staaten vergleichbar mit der ihrer Feinde sei – solch eine „moral equivalency
rhetoric“ beweise nur, dass er „apparently cannot tell the difference between totalitarian and
radical regimes, and democratic governments.“1004 Wer wie Kerry glaube, dass die USA ein
(schlechtes) Vorbild für die Regierungen in Pjöngjang und Teheran darstellen könnten, ginge
an dieser Stelle fälschlicherweise von ähnlichen Handlungsmotivationen aus; im
Zusammenhang mit Nuklearwaffen könne man hingegen nicht für alle gleiche Maßstäbe
anlegen, denn dies ignoriere die Tatsache, das „the problem isn’t the weapons themselves but
1002
1003
1004
werden, nach einem solchen Angriff Informationen aus der betroffenen Region zu beziehen, da man eigene
(Aufklärungs-)Streitkräfte zu ihrem Schutz werde abziehen müssen. S. Kristof, Nicholas D. 2003: Flirting
With Disaster, in: New York Times, 14.02.2003, Tauscher, Ellen 2003: Reinventing the arms race,
Leserbrief der kalifornischen Abgeordneten, in: Washington Post, 26.07.2003, Joseph Cirincione vom
Carnegie Endowment for International Peace zitiert in: Crowley, Michael 2003: The 3rd Annual Year in
Ideas; Bite-Size Nukes, in: New York Times, 14.12.2003.
Die technische Machbarkeit und die positiven Folgen solcher Waffen wurden vom National Research
Council bezweifelt, aber auch von prominenten RNEP-Skeptikern wie dem Princeton-Physiker Robert W.
Nelson immer wieder bestritten. S. eine Auswahl seiner Publikationen zu diesem Thema: Nelson, Robert W.
2001: Low-Yield Earth-Penetrating Nuclear Weapons, in: Journal of the Federation of American Scientists,
54:1, S. 1-5; Nelson, Robert W. 2003: Nuclear Bunker Busters, Mini Nukes, and the US Nuclear Stockpile,
in: Physics Today 56:11, S. 32-37 sowie Nelson, Robert W. 2004: Nuclear ‚Bunker Busters’ would more
likely disperse than destroy buried stockpiles of biological and chemical agents, in: Science and Global
Security 12, S. 69-89.
Payne, Keith B. 2005: The Nuclear Posture Review. Setting the Record Straight, in: The Washington
Quarterly 28:3, S. 135-151, hier S. 144.
Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004.
– 266 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
who has them“ 1005 – ein Argument, das im Einklang mit der Vorstellung der alleinigen
Kontrolle des Totems durch die high priests steht. Ferner wurde die polemische Unterstellung
erhoben, der demokratische Präsidentschaftskandidat interessiere sich offensichtlich mehr für
das Leben der Terroristen als für das seiner eigenen Soldaten, denn einerseits lasse er ersteren
die Möglichkeit, sich unerreichbar in Höhlen und Bunkern zu verstecken andererseits „would
[he] rather sacrifice our troops, than change his politically correct view of nuclear weapons“.1006
Die Polemik dieses Zitates und die vorangestellten Ausführungen unterstreichen nur allzu
deutlich die Abwertung tabukonformer, moralisch begründeter Positionen als hohle und
unreflektierte, lediglich um politische Korrektheit bemühte Lippenbekenntnisse.
Auch andere Kommentatoren betonten, dass der Schutz nationaler Sicherheit und
amerikanischer Menschenleben oberste Priorität habe und griffen dabei gerne auf das
sogenannte ticking-bomb-scenario zurück:
„Suppose, for example, that the United States had just suffered the loss of 100,000 lives
in a biological warfare attack, that it not only knew the identity of the rogue state attacker
but also had reliable intelligence it was preparing additional attacks on U.S. territory – and
that these weapons could be destroyed only with nuclear weapons. Under these
conditions, why shouldn’t the president have the option of limiting further American
deaths?“1007
Während hier die Nuklearwaffen nach einem bereits erfolgten Angriff zum Einsatz kämen,
um weitere Verluste zu verhindern, gibt es das Argument auch in einer preemptive-Version:
„Imagine an enemy of the United States that has developed a chemical or biological
weapon. Now imagine that we knew conclusively its precise production and storage
locations. However, because our enemy has studied us and has learned our capabilities
and our vulnerabilities, he has located the facility two stories deeper than any weapon in
our arsenal can penetrate. The president would be told that we know what it is and where
it is but that we have no capability to stop it.“1008
Dieser Rechtfertigung potentieller Nuklearschläge in ausweglosen Situationen (der
Selbstverteidigung) unter Rückgriff auf das moralische Prinzip der ultima ratio konnte von
GegnerInnen neuer Waffen kaum etwas entgegengesetzt werden; die sonst in solchen Fällen
gern bezogene Position, anhand von derartig konstruierten Extrembeispielen könne man
keine Regeln aufstellen, wurde spätestens nach „9-11“ kaum noch vertretbar, ist hier doch in
aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden, dass Extrembeispiele noch an „Extremität“
überboten werden können, wenn sie denn wahr werden.
Zusätzlich zum in ticking-bomb-Situationen greifenden ultima-ratio-Prinzip und der oben
bereits erläuterten Fähigkeit, dem
Diskriminierungs gebot
zu genügen, stellte die
Verhältnismäßigkeit den dritten moralischen Grundsatz dar, der als Argument für die
1005
1006
1007
1008
Editorial des Wall Street Journal vom 20. Oktober 2004: Bunker Busting Myths.
Banescu, Chris 2004: Pro-Osama Nuclear Policy, Center for Security Policy , 06.10.2004.
Sokolsky, Richard/Rumer, Eugene B. 2002: Nuclear Alarmists, Gastkommentar in: Washington Post,
15.03.2002.
Gingrich, Newt 2003: Consider Enemy Threat, in: USA Today, 13.08.2003.
– 267 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Entwicklung neuer Waffen verwendet wurde – so würden sie insbesondere mit dem Ziel,
diese Anforderung erfüllen zu können, benötigt:
„As with the use of other weapons, nuclear weapons may be used only under
circumstances in which it is necessary to achieve legitimate military objectives and ensure
military advantage. Inherit in this limitation is the principle of proportionality, which
seeks to limit unnecessary suffering and protect noncombatants. The implication of this
limitation for Congress is that the U.S. needs to modernize its nuclear arsenal in a way
that precisely meets U.S. military objectives in today’s world.“1009
Während moralische Eigenschaften neuer Waffen recht prominent diskutiert wurden, kam ihr
Rechtsstatus kaum zur Sprache – das Ausbleiben eines umfassenden Rechtsdiskurses ist im
Zusammenhang mit dieser nicht-kodifizierten Norm jedoch nicht weiter verwunderlich.1010
Eine Ausnahme bildeten die Chiefs of Staff, die in ihrer Doktrin aus dem Jahr 2005
ausdrücklich feststellten, dass, obgleich die mit Nuklearwaffen kämpfende Kriegspartei mit
einer weltweiten Verurteilung zu rechnen habe, unter Einhaltung der genannten Prinzipien
nichtsdestotrotz „no customary or conventional international law prohibits nations from
employing nuclear weapons in armed conflict.“1011 Die Heritage Foundation formulierte es, auf
diese Erklärung bezugnehmend, positiv: „The Law of Armed Conflict permits the use of
nuclear weapons in war.“1012
6.2.4 Empiriefazit: Erfolgreiche Herausforderung des nuklearen Tabus und
seine naive Verteidigung
„This was probably the most important
taboo in the history of warfare“ 1013
Bevor ich mich zusammenfassend der Frage zuwende, wie die Erosion des Tabus, das wohl
eines der wichtigsten Tabus in der Geschichte des Krieges – und für die Menschheit
vermutlich überlebenswichtig – war, möglich geworden ist, sollen zuerst einige Überlegungen
dazu erfolgen, wie stark dieser Prozess bereits fortgeschritten ist. Dies wird entlang der
Erosionskriterien geschehen, die am Schluss des Kapitels zum Wesen und zur Entstehung der
Norm formuliert wurden (s. S. 143) und im Folgenden reflektiert werden:
Konventionalisierung: Dass die Bush-Administration eine (bewusste?) Strategie der
1009
1010
1011
1012
1013
Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy
and Forces, „backgrounder” der Heritage Foundation , 28.10.2005.
Die rechtliche Position der USA zu Nuklearwaffen vergleicht der NYT-Kommentator Keller mit einem
Aufkleber der National Riffle Organization (einer Vereinigung, die sich für das Recht auf Waffenbesitz
einsetzt): „The logic at times resembles the tautology of an N.R.A. bumper sticker: If nukes are outlawed, only
outlaws will have nukes.“ Keller, Bill 2003: The Thinkable, in: New York Times, 04.05.2003.
Joint Chiefs of Staff 2005: Doctrine for Joint Nuclear Operations, 15.03.2005.
Spring, Baker 2005: Congress Should Back Bush Administration Plans to Update Nuclear Weapons Policy
and Forces, backgrounder der Heritage Foundation, 28.10.2005. Siehe zu diesem Thema auch: Eviatar,
Daphne 2003: Civilian Toll: A Moral and Legal Bog, in: New York Times, 22.03.2003. Diese Position hatten
die Vereinigten Staaten schon 1996 im Zusammenhang mit dem Urteil des IGH eingenommen, s. S. 126
der Arbeit.
Der Direktor des Henry L. Stimson Center, Michael Krepton, zitiert in: Schmemann, Serge 2003: Nuclear
War Strategists Rethink the Unthinkable, in: New York Times, 19.01.2003.
– 268 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
conventionalization verfolgt, wird primär an der nuklearen Triade ersichtlich, in der nukleare
wie konventionelle Waffen einen gemeinsamen Eckpunkt als „active and passive defenses“
bilden und in deren Rahmen bei Bedarf ein Zusammenspiel beider Waffentypen in
militärischen Operationen vorgesehen wird. Ferner wird die klare Linie zwischen den
Waffengattungen verwischt, indem konventionelle Waffen mit nuklearen Elementen
aufgerüstet werden (so bauen z.B. RNEP-Studien auf Forschungen zu nicht-nuklearen Earth
Penetrating Weapons (EPW) auf) und potentielle nukleare Einsätze wiederum stark durch
neue, im Rahmen der Revolution in Military Affairs entwickelte Technologien unterstützt
werden sollen.
Aufhebung der absoluten Ächtung : Ein zentraler Bestandteil des nuklearen Tabus ist die
Annahme, dass es klare Unterschiede zwischen nuklearen und konventionellen Waffen gibt
und nukleare Waffen als Gattung , d.h. unabhängig von ihrer Größe, Sprengkraft oder
Einsatzfähigkeit totemisiert und tabuisiert werden. Im Diskurs der letzten Jahre geht mit der
Konventionalisierung eine (partielle) Ent-totemisierung einher, zwar wird immer noch
begründungslos bekräftigt, dass man die Unterschiede zwischen nuklearen und nichtnuklearen Kampfmitteln anerkenne, jedoch wird gleichzeitig auch innerhalb des nuklearen
Bestandes differenziert, was zu einer Verschiebung der bright line führt: So stehen sich nicht
mehr konventionelle und nukleare Waffen gegenüber, sondern die alten, großen, dreckigen,
wahllos zerstörenden und deshalb inhumanen Nuklearbomben des Kalten Krieges und die
neuen, kleinen, sauberen, diskriminierenden und eben deshalb moralisch weniger
bedenklichen Waffen der Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Stigma soll
hiermit nur auf einen Teil der nuklearen Gattung beschränkt werden – wenn man bedenkt,
dass gerade dieser Teil zukünftig abgerüstet werden soll und zugleich beabsichtigt wird, den
Großteil des Arsenals aus neuen Waffen (sofern es tatsächlich zu ihrer Entwicklung und
Produktion kommt) zu bilden, liegt die Annahme nahe, dass nicht nur die absolute Ächtung
ein Ende nehmen wird, sondern die Ächtung von Nuklearwaffen insgesamt.
Begründungen für die Gültigkeit der Norm: Auffällig ist, dass der Begriff „nukleares
Tabu“ nur von denjenigen verwendet wurde, die um seine Existenz fürchteten, bei seinen
Herausforderern fehlten solche expliziten Referenzen. Die Debatte dreht sich weniger darum,
ob man das Tabu noch einhalten sollte, sondern vielmehr um die Frage, ob dies noch getan
wird: Hierbei behaupten KritikerInnen der Regierungspläne, das Tabu sei in Gefahr, die
Regierung dementiert ihrerseits, dass die Bereitschaft, die nukleare Schwelle zu überschreiten,
sich erhöht habe. Der Einzigartigkeit von Nuklearwaffen wird ebenfalls deklaratorische
Anerkennung gezollt – etwa, indem betont wird, dass man sich ihrer Besonderheit bewusst sei
und indem niemand eine Begründung ihres Sonderstatus fordert. Zugleich wird diese
besondere Kategorie, wie eben beschrieben, diskursiv und technisch aufgeweicht. Daneben
werden die Einsetzbarkeit einiger Waffen dieser Kategorie rechtfertigende Argumentationen
ins Feld geführt, was wiederum Gegenargumente notwendig werden lässt. Auch unter Rekurs
auf die entsprechend konstruierten ticking-bomb-Szenarien werden sehr wohl – ausgesprochen
schwer zu liefernde – Begründungen dafür eingefordert, warum man in diesen speziellen
– 269 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Fällen nicht zu einer nuklearen Verteidigung oder gar zu Präemptivschlägen greifen könne
bzw. aussichtsreiche und durchführbare Alternativen hierfür verlangt. Analog zum
besonderen Status der Nuklearwaffen findet des Weiteren hinsichtlich der Einsätze keine
abstrakte Diskussion darüber statt, ob sie moralisch verwerflich bzw. völkerrechtswidrig seien
– der Rechtshinweis der Chiefs of Staff bleibt eine Ausnahme und zieht keine weiteren
(Rechts-)Meinungen nach sich, und somit auch keinen Widerspruch seitens der
TabubefürworterInnen, die es versäumt haben, ihre Position durch völkerrechtliche Hinweise
zu untermauern.
Ausweitung nuklearer Einsatzoptionen: Selbst wenn man die Androhung einer nuklearen
Reaktion auch auf mit biologischen und chemischen Waffen ausgeführte Angriffe immer noch
als modifizierte Fortsetzung der Zweitschlagsdoktrin (Zweitschläge infolge vom WMDEinsätzen) begreifen will, nimmt die reine Zweitschlagpolitik spätestens mit der preemptivestrike -Doktrin ein Ende, wobei bereits in der NPR eine Reihe von Situationen bestimmt
wurde, in denen Nuklearwaffen Verwendung finden könnten. Obwohl in diesem
Zusammenhang immer wieder beteuert wird, der Status als „weapons of last resort“ bleibe
erhalten, so ist dennoch eine Änderung gegenüber dem vorherigen Verständnis zu
verzeichnen: Während Nuklearwaffen im Kalten Krieg in nur zwei Fällen (nach einem
erfolgten nuklearen Erstschlag und/oder zur Sicherung der Existenz des Landes) als letzte
Alternative in Frage kamen, bleiben sie heute zwar immer noch ultima ratio, wenn der Einsatz
anderer Mittel aussichtslos erscheint, aber diese Option wird nun auch in Situationen
vorgesehen, die eben nicht existenzbedrohlich sind. Entscheidend für das nukleare Tabu wird
somit nicht die Frage, ob diese Waffen noch als letzte Chance gesehen werden, sondern wann
und unter welchen Umständen sie in Erwägung gezogen werden – letzteres ist unübersehbar
immer häufiger der Fall.1014
Die Analyse der Nukleardebatte hat jedoch nicht nur Erosionsanzeichen deutlich werden
lassen, sondern gleichzeitig gezeigt, wie stark die Wirkung des nuklearen Tabus immer noch
ist: Bei seinen VerteidigerInnen wirkt es eindeutig konstitutiv – mit Ausdrücken wie
„Apokalypse“, „undenkbar“ und „nuklearer Holocaust“ verwendeten sie einerseits das
tabutypische Vokabular, andererseits zollen sie auch der US-amerikanischen Identität Tribut,
im Rahmen derer man die Nicht-Einsatz-Tradition nicht brechen sowie die Moral der rogues
übernehmen könne. Doch auch bei ihren Herausforderern/Herausforderinnen greift die
Norm zumindest instrumentell: Obwohl sie dem Tabu zuwiderlaufende Strategien anwenden,
scheinen sie nichtsdestotrotz ihre Absichten (größtenteils) nicht offen formulieren zu können,
selbst wenn sie durch die empfundenen Einschränkungen in Widersprüche geraten. Besonders
prägnant kam dieses Problem in Verbindung mit der NPR zum Ausdruck: Erst wurden ihre
Inhalte unter Verschluss gehalten, was darauf schließen lässt, dass ihre Brisanz der
1014
Ein fiktives Beispiel zur Verdeutlichung, warum der immer wieder angebrachte „weapons-of-last-resort“Hinweis wenig aussagekräftig ist: Wenn man ein Land dazu bewegen wollte, seine Zollschranken zu senken,
und nach dem Scheitern aller diplomatischen Versuche nukleare Drohungen aussprechen würde, so wäre
auch in diesem Fall die Argumentation möglich, Nuklearwaffen seien eine „last-resort-option“, weil alle
anderen Alternativen, um das Ziel zu erreichen, ausgeschöpft seien.
– 270 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Administration durchaus bewusst war. Nachdem dies misslungen war, hat die Regierung –
auch mit Blick ins Ausland – versucht, ihre Pläne zu verharmlosen, indem sie einerseits davor
warnte „den paar Ideen“ zu viel Gewicht beizumessen und die Bedeutung des Dokuments
herunterspielte. Colin Powells Befürchtung, die Pläne könnten „get the international
community upset“,1015 aber auch weitere Erwähnungen internationaler Reaktionen, offenbaren
nicht nur wiederholt den universellen Charakter der non-use-Norm, sondern auch das
Bestreben der US-Regierung, trotz ihres Umganges mit eben dieser, nicht die Zugehörigkeit
zur internationalen Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen. Wohl ebenfalls, um die Situation zu
entschärfen, versuchten Mitglieder des Kabinetts andererseits, ein framing der NPR als
Abschreckungsdokument nach alter Tradition zu kreieren. Die letzte Behauptung ist im
Rahmen der Abschreckungslogik in zweifacher Hinsicht paradox: Erstens kann eine Drohung
nur dann abschrecken, wenn sie bekannt ist – hier wurde sie jedoch geheim gehalten.
Zweitens kann eine Drohung nur dann abschrecken, wenn sie glaubwürdig ist – eben diese
Glaubwürdigkeit hat die Regierung mit ihren Warnungen, man solle das Dokument doch bitte
nicht allzu ernst nehmen, konterkariert.
Es hat sich jedoch auch gezeigt, wie sich die instrumentellen constraints schon nach den
ersten Tagen lockerten: Zwar hielt sich die Administration im Vergleich zu anderen Akteuren
bedeckt, jedoch gab es außerhalb der Regierungskreise nicht wenige sehr offensive
normbezogene Standpunkte, die nukleare Einsatzforderungen zugegebenermaßen im Regelfall
nicht offen formulierten, diese allerdings zumindest suggerierten oder die Möglichkeiten
nuklearer
Verwendung
perspektivisch
eröffneten
–
ihre
Argumentationen
zeigen
unmissverständlich, dass mit Nuklearwaffen durchgeführte Kriegsoperationen inzwischen
alles andere als unthinkable waren.
Unbeabsichtigte Debatte – wer verschuldete die Erosion?
Obwohl ein Regierungspapier zum Anlass der Debatte wurde, scheint es aus mehreren
Gründen schwierig, die Erosion des nuklearen Tabus als einen klassischen top-down-Prozess
zu betrachten. Das Dokument bringt zwar zum Ausdruck, dass das nukleare Einsatzverbot in
der Administration selbst keineswegs (mehr) als internalisierte Norm gelten konnte, dennoch
ist es schwierig, der Regierung eine breite Erosionsabsicht zu unterstellen, weil nicht bekannt
ist, ob eine Veröffentlichung der NPR (eventuell zu einem späteren Zeitpunkt) geplant war.1016
1015
1016
CBS 2002: Secretary of State Colin Powell discusses the violence in the Middle East and the war on
terrorism, Transkript der Sendung „Face the Nation“ vom 10.03.2002.
Ob das gelegentlich laut gewordene Argument, die Regierung reagiere nicht auf Bedrohungen, sondern
nutze sie, um neue Waffenentwicklungen zu legitimieren (und damit die Erosion voranzutreiben), zutrifft,
ist schwer zu beurteilen, genauso wenig, ob neue Feinde „tatsächlich“ auf den Plan traten, oder „gesucht“
worden sind. Für das Argument, die Regierung suche nach Einsatzmöglichkeiten siehe: Richter, Paul 2002:
„U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms“, in: Los Angeles Times, 09.03.2002, für die
Bedrohungskonstruktion siehe Rosenfeld, Stephen S. 1996: The Menace of Rogue States, in: Washington
Post, 07.06.1996, Mufson, Steven 2000: Threat of „Rogue” States: Is It Reality or Rhetoric?, in: Washington
Post, 29.05.2000.
– 271 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Letzteres erscheint eher unwahrscheinlich, da erstens die unter Clinton angefertigte review
ebenfalls geheim blieb und das Pentagon sich zweitens nur gezwungenermaßen auf die
Diskussionen einließ – das Durchsickern der NPR scheint auf Regierungsseite nicht als ein
willkommenes window of opportunity zur Beseitigung des nuklearen Tabus wahrgenommen
worden zu sein. Fast paradox – und tragisch – erscheint, dass das window of opportunity
gerade von denjenigen Akteuren „geöffnet“ und „offen gehalten“ wurde, die das nukleare
Tabu schützen wollten und die Pläne der Administration als skandalös empfanden. Durch ihre
rege Beteiligung an der Auseinandersetzung und ihr Einlassen auf rationale (Effektivitäts-)
Argumentationen haben sie einen Fortgang der Diskussion gesichert und sind damit
unfreiwillig selbst zu entrepreneurs der Erosion geworden. Das Bestreben, das Handeln der
Politik in einem derart wichtigen, ja essentiellen Bereich zu thematisieren, kritisch zu
hinterfragen und ggf. hierdurch den politischen Entscheidungsspielraum zu begrenzen, ist
sicherlich unschwer nachzuvollziehen; allerdings sind hierin zweierlei mögliche Implikationen
im Hinblick auf die Funktionsweise von Tabus enthalten: Erstens ist es denkbar, dass die
tabubefürwortenden DiskursteilnehmerInnen tatsächlich im – tabugemäßen – Schock über
von der Regierung geplante Tabubrüche in shaming -Form affektiv reagiert haben, ohne die
Folgen ihrer Reaktionen zu bedenken bzw. sich der Tatsache bewusst zu sein, damit eventuell
das Tabu zu gefährden.1017 Doch auch wenn sie sich, zweitens, darüber im Klaren waren, dass
die Debatte eine Gefahr für das Tabu darstellen könnte, haben sie anscheinend das Risiko
unterschätzt und wahrscheinlich darauf gehofft, dass der durch die Skandalisierung aufgebaute
öffentliche Druck, wie schon 1993 nach dem Bekanntwerden der mini-nuke-Studien, die
Regierung dazu bewegen würde, von ihren Plänen abzurücken.
Zwar blieb die hiermit geschaffene Gelegenheit von der Regierung zunächst ungenutzt,
jedoch haben vor allem StrategInnen unterschiedlicher policy-Institute wie auch die
Direktoren der Nationallabors sehr wohl die Chance erkannt, eine sich ankündigende
nuklearstrategische Wende zu unterstützen. Ob sie die Norm vorher internalisiert hatten und
hier tatsächlich ein Einstellungswandel hinsichtlich der Gültigkeit der Norm stattgefunden hat,
ist schwer zu beurteilen, da zum Einen davon ausgegangen werden kann, dass solche Akteure,
aufgrund der unbestrittenen Stärke des nuklearen Tabus in den Jahren vor der Erosion, selbst
dann zumindest instrumentelle compliance an den Tag gelegt hätten, wenn sie es auch nicht
(uneingeschränkt) teilten. Entscheidend ist, dass sie nun überhaupt öffentlich normkritische
Standpunkte einnehmen konnten, denn letzteres deutet darauf hin, dass sie die Gültigkeit des
Tabus auch bei anderen Akteuren bereits als geschwächt betrachteten oder zumindest
meinten, das Potential zu erkennen, dieses diskursiv zu unterlaufen, ohne mit hohen
politischen Kosten rechnen zu müssen.
1017
Solch einen Schockzustand erachte ich bei William Arkin, der mit der NPR bereits das zweite Dokument
aufdeckte, das die Entwicklung neuer Nuklearwaffen vorsah, als sehr unwahrscheinlich. Er hat vielmehr
schon vor 2002 des Öfteren alarmierende Artikel zu diesem Thema verfasst und den Mangel an öffentlicher
Aufmerksamkeit beklagt, erst mit der NPR ist es ihm jedoch gelungen, tatsächlich eine breite
nuklearstrategische Debatte auszulösen und das bislang verdeckte Handeln der Regierung mit der
Öffentlichkeit zu konfrontieren.
– 272 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Neue
Rationalität,
neue
zweitschlagsunfähige Feinde
Angemessenheit:
fortschrittliche
Technik
und
Hiermit lagen sie, wie gesehen, nicht falsch: Nachdem die NormbefürworterInnen, wenn auch
ungewollt, das Tabu zur Disposition gestellt hatten und gegen ihre Positionen seitens der
norm challengers Einwände formuliert worden waren, sahen sie sich gezwungen, sich auf
einen argumentativen Austausch einzulassen und tatsächlich Begründungen gegen nukleare
Einsätze
zu
liefern.
Ab
dem
Punkt,
an
dem
die
Tabuherausforderer
bzw.
Tabuherausforderinnen die unbedingte Grausamkeit und Amoralität von Nuklearwaffen mit
unterschiedlichen Argumenten und konstruierten Entscheidungssituationen infragegestellt
hatten, hatten tabuschützende Argumentationsweisen, wie „Nuklearwaffen sind einfach
grausam und unmoralisch“ nicht mehr überzeugt, sondern mussten durch Argumente gestützt
vorgebracht werden. Während die eine Seite also glaubte, das Tabu argumentativ zu
verteidigen, hat genau diese Rationalisierung des Diskurses das Tabu in zweifacher Hinsicht
zusätzlich geschwächt: Erstens, weil sich auch diejenigen, die weiterhin für ein Einsatzverbot
eintraten, gezwungenermaßen mit unterschiedlichen Einsatzszenarien auseinandersetzen
mussten und sie nicht mehr, wie vorher, verdrängen konnten – z.B. mussten die Physiker, die
Gegenstudien zum RNEP anfertigten, einem nuklearen Angriff Denkraum einräumen, um
mögliche Opferzahlen, die Menge des radioaktiven Niederschlages sowie der Strahlung und
die Eindringtiefe kalkulieren zu können, dieser musste für sie also thinkable werden. Zweitens
sind
Begründungen
nicht
Effektivitätsgesichtspunkten
immun
gegen
argumentiert
und
Einwände,
entsprechend
wer
folglich
behauptet,
dass
mit
eine
Nuklearwaffe nicht eingesetzt werden darf, weil sie ihr Ziel gar nicht zerstören kann, den Tod
von untragbar vielen Unschuldigen verursachen sowie die Umgebung auf unbestimmte Zeit
radioaktiv verseuchen wird, bietet der Gegenseite mehrere Angriffspunkte, deren Widerlegung
der behaupteten Grausamkeit nuklearer Einsätze die Grundlage entziehen könnte.
Ebendies ist durch den – vermeintlichen, tatsächlichen oder erhofften – technischen
Fortschritt möglich geworden, denn dieser bietet ein „Aber“ auf die anti-nuke -Position, indem
er entscheidende Veränderungen an der grausamen Natur der Waffen verspricht: Sie werden
gegen militärische Ziele sehr wohl „tödlich“ und verbreiten wenig fallout, bei gleichzeitiger
Schonung der gegnerischen und bei Rettung der eigenen Zivilbevölkerung. Obwohl die
Technik heute noch nicht dazu in der Lage zu sein scheint und das Grausamkeitsargument
somit noch Gültigkeit besitzt, wäre durch neue Forschungen dennoch Tor und Tür geöffnet,
die Behauptung, Nuklearwaffen seinen grausam, in Zukunft auf genau diese Art und Weise zu
widerlegen. Wenn die Verhältnismäßigkeit hergestellt und die Diskriminierungsfähigkeit
gewährleistet werden kann, werden zwei gegen Nuklearwaffen sprechende Hauptargumente
ausgehebelt – nukleare Einsätze zum Schutz von Menschenleben können auf diese Weise als
angemessenes Handeln profiliert werden.
Neben der Beseitigung der Auffassung, dass Nuklearwaffen inhuman sind, wird ein
zweiter Kernbestandteil des Tabus vor eine mehrfache Herausforderung gestellt, nämlich die
– 273 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
apokalyptischen Assoziationen. Nicht nur, dass das Grauen der Atombombenabwürfe im
Laufe der Zeit ohnehin in Vergessenheit gerät1018 – das Ende des Kalten Krieges und damit
das Ende der permanenten Bedrohung hat diese Entwicklung zusätzlich beschleunigt, indem
Nuklearwaffen im öffentlichen Bewusstsein eine Marginalisierung erfahren haben. Die
gefürchteten apokalyptischen Konsequenzen eines Nuklearschlages sind ohne einen
gleichwertigen nuklearen Gegner eher unwahrscheinlich, auch das inhumane counter-citytargeting scheint ein Ende zu nehmen. Gleichzeitig treten mit Terroristen (vermeintlich) neue
Akteure auf den Plan, die erstens die Angst vor der Apokalypse – ganz ohne Nuklearwaffen –
erwecken und zweitens kaum in der Lage sein werden, auf einen Nuklearschlag mit einem
ebensolchen zu reagieren. Durch diese Veränderungen verliert das Argument, man könne
keine Nuklearwaffen einsetzen, weil dies – aufgrund der Eskalationsgefahr und der
zugesicherten Vernichtung – in eine Apokalypse münden würde, ebenfalls schlagartig an
Gewicht. Vielmehr eröffnet sich hier der Raum für die Argumentation, man könnte gerade
mit Nuklearwaffen die Apokalypse verhindern, ohne die Gefahr einer sofortigen Vergeltung
zu provozieren.1019 Während also früher galt, dass der Nicht-Einsatz von Nuklearwaffen vor
Krieg schützte, gilt nun, dass der Einsatz von Nuklearwaffen im Krieg schützen soll.
Das Tabu zerstört sich selbst
Solange es der Supermacht gelungen war, das nukleare Tabu bei gleichzeitiger permanenter
Androhung seines Bruches aufrechtzuerhalten, die vom ebenfalls nuklear gerüsteten Gegner
für glaubwürdig befunden wurde, solange hat das nukleare Tabu die Sicherheit des Landes
geschützt – die auf deklaratorischer Ebene stets proklamierte Denkbarkeit der Überschreitung
hat somit verhindert, dass das starke Tabu zu stark wurde. Nach dem Kalten Krieg wurde es
zum Einen obsolet, ständige nukleare Einsatzbereitschaft zu signalisieren. Im Gegensatz zur
vorherigen,
jahrzehntelangen
Instrumentalisierung
und
Gefährdung
von
Millionen
ZivilistInnen aus sicherheitspolitischen Gründen ist zum Anderen im „Zeitalter der
Menschenrechte“ die Verhinderung von Kollateralschäden in militärischen Konflikten zu
einem bedeutenden Ziel der Vereinigten Staaten erklärt worden. Doch gerade die Identität der
USA als einer Demokratie, für die der Schutz von eigenen und (zivilen) fremden
Menschenleben oberste Priorität hat und für die, wie für andere „zivilisierte“ Staaten auch, das
nukleare Tabu zum Bestandteil dieser Identität gehört, wird nun als sicherheitsrelevanter, ja
sicherheitsgefährdender Faktor wahrgenommen, wie in der Debatte deutlich wird. Dies hat
zwei Gründe: Erstens sieht man durch die neuen Akteure, die der Supermacht als Hauptfeind
und dem westlichen System als Ganzes den Krieg erklärt haben, die eigene Identität
1018
1019
Siehe hierzu auch: Quester, George H. 2005: If the nuclear taboo gets broken, in: Naval War College
Review 58:2, S. 71-91, S. 80.
Man bedenke an dieser Stelle die unterschiedlichen Ausmaße der als apokalyptisch dargestellten Szenarien:
Während im Kalten Krieg sich das Überleben der gesamten Nation oder gar der Menschheit permanent
bedroht war, erscheint nun „nur“ ein Anschlag mit einer „dirty bomb“ im Zentrum einer Metropole als
genauso grauenerregend.
– 274 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
herausgefordert und das Leben der eigenen Bevölkerung in unmittelbar drohender,
unbekannter Gefahr. Zweitens wisse der Feind um diese Identität, was zufolge habe, dass die
neuen Gegner sich nicht durch alte Waffen abschrecken lassen, weil ihnen klar sei, dass die
Vereinigten Staaten sie, aus Rücksicht auf die zivilen Opfer, niemals einsetzen würden – dieses
Argument hat als eine der wichtigsten Begründungen für die Entwicklung neuer, einsetzbarer
Waffen gedient. Die Stärke des nuklearen Tabus wird an diesem Punkt zu seiner Achillesferse:
Da eine derart starke Norm das eigene Überleben zu gefährden scheint, müssen dringend
Möglichkeiten geschaffen werden, sich selbst zu schützen – die Schwächung des nuklearen
Tabus wird hierbei zu einem zentralen Moment und nicht etwa „bloß“ gezwungenermaßen in
Kauf genommen.
Ferner kommt im Diskurs die US-amerikanische Identität als „nukleare Priester“
wiederholt zum Ausdruck: Nicht nur, dass eine scharfe moralische Trennlinie zwischen ihnen
als legitimen, über einen moralischen Führungsanspruch verfügenden Haves, die
Nuklearwaffen nur zu höheren Zwecken besitzen sowie einsetzen würden, und den illegale
nukleare Aspirationen an den Tag legenden wannabe-Haves, für die Nuklearwaffen (wie
andere WMD auch) vor allen Dingen ein Mittel zum „mass murder” seien, gezogen wird.
Proliferationsverhinderung wird vor diesem Hintergrund erstens zu einem der Hauptziele USamerikanischer Sicherheitspolitik, zweitens sehen sich die USA als den weltweit wichtigsten
non-proliferator: Das Einsatzverbot nimmt gegenüber diesem Anspruch sowie der
Verantwortung, sich und die Verbündeten durch Nichtverbreitung zu schützen, an Bedeutung
ab – um die Zahl der „Hohepriester“ konstant zu halten, müssen Totemgegenstände in Hand
der unberechtigten anderen notfalls mithilfe des eigenen Totems zerstört werden. Ebenfalls
mit der eigenen nuklearen Sonderstellung hängt wohl auch die Inanspruchnahme der
Definitionshoheit über die nukleare Hemmschwelle zusammen – sie hat sich in erster Linie in
den USA herausgebildet und kann dementsprechend hier neujustiert werden.
Während ein Teil der am „Manhattan-Projekt“ beteiligten Physiker einst durch seine
offene Verzweiflung über die Folgen der eigenen Innovation zur Entstehung des nuklearen
Tabus beitrug, haben ihre heutigen Nachfolger eine nicht unwesentliche Rolle in seinem
Erosionsprozess gespielt: Die „Hohepriester“ der Wissenschaft waren nicht nur
beschäftigungslos geworden, sondern fürchteten auch ein Aussterben ihres „Standes“, weil
das nukleare Totem an Bedeutung verloren hat – die Reaktivierung des Totems schien als ein
naheliegender Weg aus der eigenen Überflüssigkeit. Dass die Wissenschaftler der National
Laboratories wieder an Prestige gewinnen konnten, ist neben der sicherheitspolitischen Lage –
wenn Nuklearwaffen neue Funktionen erhalten, ist es gleichbedeutend mit neuen Funktionen
für die Nuklearelite – einem weiteren essentiellen Bestandteil der US-Identität geschuldet: dem
Selbstverständnis als technologische Avantgarde. Es könne nicht hingenommen werden, dass
die Position als nuklearer Schrittmacher durch den Progress anderer in Gefahr gerät, weshalb
neue Forschungen im nuklearen Bereich geboten scheinen; während andere also nach dem
Besitz des tabuisierten Totems als Ausdruck technologischer Macht streben, brechen die
– 275 –
Er os i o n de s n u kl e ar e n T a bus : D e b a tte n u nd A k te u r e
Priester die Einheit dieser Gattung auf und planen, ihr angehörige Waffen unterhalb der
Tabuschwelle zum neuen Fortschrittssymbol werden zu lassen. Sowohl die positiven
sicherheitspolitischen Effekte solcher Forschungen als auch das Image der auf allen Ebenen
überlegenen Supermacht scheinen hier wichtiger zu werden als die (anfangs noch
hochgeschätzte) Reputation eines „politisch korrekten“, Nuklearwaffen mit uneingeschränkter
Ächtung begegnenden Mitglieds der internationalen Gemeinschaft.
6.3 Zwischenfazit: Empirische Ergebnisse zweier diskursiver Tabubrüche
6.3.1 Datenmenge und Diskursverläufe
Wie in den vorangegangenen Kapiteln zur Erosion der beiden Tabus vielleicht schon deutlich
geworden
ist,
variieren
beide
Debatten
erheblich
hinsichtlich
der
Anzahl
der
DiskursteilnehmerInnen und der von ihnen publizierten Dokumente. Obwohl für die
Fallstudie zur Erosion des Foltertabus die Washington Post gar nicht und die Treffer des
Jahres 2005 nur kursorisch ausgewertet wurden, ergab sich eine insgesamt höhere Anzahl zu
sichtender Quellen. Als Erklärung hierfür liegt der Umstand nahe, dass die Debatte insgesamt
weniger abstrakt geführt wurde: Während sich die Diskussion im Fall des nuklearen Tabus
ausschließlich um hypothetische Überlegungen zu non-compliance drehte (weder wurde eine
neue Nuklearwaffe der Öffentlichkeit präsentiert noch eingesetzt), war in der Folterdebatte
spätestens ab dem Auftauchen der Memoranden ein klarer Normbruch durch die Regierung
nicht mehr zu leugnen. Seit der Festnahme wichtiger Köpfe des al-Qaida-Netzwerkes, die
beharrlich schwiegen, hatten die politischen Verantwortlichen auch unter unmittelbarem
Entscheidungsdruck gestanden, während sie im Zusammenhang mit der durchgesickerten
NPR die Gelegenheit ergriffen, die Öffentlichkeit prophylaktisch auf eventuelle in Zukunft zu
treffende Entscheidungen vorzubereiten.
Bedingt durch die Fallauswahl und daher wenig überraschend, überschneiden sich die
Zeiträume der Debatten in hohem Maße – allerdings mit einem interessanten Unterschied:
Nachdrückliche Befürchtungen einer Schwächung des nuklearen Tabus wurden erst im März
2002 anlässlich des Bekanntwerdens ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmter
Abschnitte der im ersten Amtsjahr der Bush-Administration – also in großen Teilen noch vor
dem 11. September – angefertigten Nuclear Posture Review geäußert. Im Gegensatz dazu
setzten die Diskussionen um die Legitimation von Folter unmittelbar nach den
Terroranschlägen ein, was einen krassen Bruch zu den 1990er Jahren darstellte, während derer
diese Frage nicht ein einziges Mal aufgeworfen worden war (obwohl sich etwa mit den
Verantwortlichen für die Anschläge auf US-Botschaften in Ostafrika bereits wichtige al-Qaida
Mitglieder in US-Gewahrsam befunden hatten).
Vereinzelte Normverstöße innerhalb der USA wurden zwar öffentlich thematisiert, lösten
jedoch neben der Skandalisierung der Vorfälle keine argumentative Auseinandersetzung über
die Gültigkeit des Folterverbots aus. Anklagen bekannter Menschenrechtsverbrecher vor US– 276 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
amerikanischen Gerichten wurden zudem als Anzeichen eines anbrechenden „Zeitalters der
Menschenrechte“ gewertet und „unzivilisierte“ Staaten für auf ihrem Territorium
stattfindende Folterungen regelmäßig kritisiert. Eine Parallele hierzu bildeten im
Nukleardiskurs die mit großer Sorge zur Kenntnis genommenen WMD-Programme auf der
„Achse des Bösen“, aber auch die tabutypisches Entsetzen hervorrufende nukleare
Eskalationsgefahr zwischen den inoffiziellen Atommächten Indien und Pakistan. Während
diese nuklearen Bedrohungen durch fremde Staaten große öffentliche Aufmerksamkeit
erregten, schien die Möglichkeit eines nuclear use durch die USA in der (auf die eigenen
Arsenale bezogenen) abrüstungseuphorischen Stimmung so fern zu liegen, dass erste deutlich
werdende Anzeichen für eine mögliche Redefinition der zukünftigen Rolle von Nuklearwaffen
nur sehr vereinzelt aufgegriffen und kritisch kommentiert wurden. Obwohl neue
Waffenentwicklungen und eine Ausweitung nuklearer contingencies eindeutig vor „9-11“ ins
Auge gefasst wurden, wurde die nach den Anschlägen allgemein wahrgenommene
terroristische Bedrohung zu einem wesentlichen Teil der argumentativen Strategie, so dass
dieses Ereignis als zentraler Referenzpunkt beider Diskussionen gelten kann.
6.3.2 Uneinheitliche Akteursgruppen
In Bezug auf die im Verlauf der Debatte vertretenen Positionen lässt sich ein großer
Unterschied
feststellen,
bildete
sich
doch
in
der
Folterfrage
zum
Ende
des
Untersuchungszeitraumes zumindest ein Konsens über die Notwendigkeit der Debatte selbst
heraus, deren TeilnehmerInnen einen Kompromiss mit ihren Gegnern nicht mehr von
vorneherein ausschlossen. Hingegen blieben die Standpunkte bezüglich neuer nuklearer
Strategien nicht nur unverändert,
Forschungsergebnissen unbeeinflusst.
sondern
auch
(auf
beiden
Seiten)
von
Dennoch lässt sich eine vergleichbare Debattenstruktur ausmachen: Insbesondere auf
Seiten der Normverfechter ergab sich eine in beiden Fällen recht ähnliche Konstellation aus
jeweils einem investigativen Journalisten, der die Vorgänge innerhalb der Regierung
aufzuklären versuchte und die Debatten damit entscheidend vorantrieb bzw. sogar auslöste
(namentlich
Seymour
Hersh (Newsweek)
und William
Arkin
(LAT)),1020 großen
Tageszeitungen, die sich in beiden Fragen ganz klar positionierten (hier die New York Times),
einigen Experten, die wissenschaftlich fundiert Gegenpositionen vertraten (PrincetonPhysiker Robert W. Nelson sowie der Direktor des Bellevue-Zentrums für Folteropfer, Allen
S. Keller) sowie – wenig überraschend – einschlägigen NGOs und Denkfabriken. Zugleich
distanzierte sich auch die Regierung in beiden Angelegenheiten nach außen geschlossen von
Vorwürfen eines Normverstoßes, wobei unübersehbar zuvor festgelegte Sprachregelungen
1020
Zwar scheinen im Zusammenhang mit den von uns untersuchten Debatten keine Verbindungen zwischen
den beiden Journalisten bestanden zu haben, jedoch ist bekannt, dass Arkin und Hersh in der
Vergangenheit zusammengearbeitet haben. S. Kurtz, Howard 2002: Explosive Analyst, in: Washington Post,
24.05.2002.
– 277 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
eingehalten wurden. Im Fall des nuklearen Tabus drangen eventuelle Differenzen zumindest
nicht an die Öffentlichkeit, hingegen wurden in der Folterfrage ein Zwist in der Regierung
durch die veröffentlichten Memoranden belegt und innerhalb der Administration herrschende
Streitigkeiten teilweise auch nach außen getragen.
Bisher kann, da keine weiteren einschlägigen Regierungsdokumente freigegeben wurden,
in der Auseinandersetzung über das nukleare Tabu nur vermutet werden, woher die Impulse
für neue Entwicklungen in der Nuklearstrategie kamen. Dagegen gibt es mittlerweile starke
Indizien dafür, dass das Außerkraftsetzen von folterverbietenden Regeln innerhalb der
Regierung direkt von Verteidigungsminister Rumsfeld ausging, es aber auch von
Rechtsberatern auf anderen Ebenen der Administration vorangetrieben wurde. Schon vor
diesen Entwicklungen (und später in Unkenntnis derer) hatte eine ähnliche Diskussion
innerhalb der Bevölkerung begonnen, die von prominenten norm challengers gepusht wurde,
so dass sich eine Zangenbewegung ergab, an der das Foltertabu letztendlich zerbrach. Die
verhältnismäßig geringe Beteiligung der BürgerInnen an den Auseinandersetzung um das
nukleare Tabu hing vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass es sich hierbei um eine
stark militärstrategisch und technisch dominierte (Machbarkeits-)Debatte handelte, und
hypothetische moralische Fragen schwerlich von diesen Gesichtspunkten losgelöst betrachtet
werden konnten, wodurch sich wiederum das Übergewicht auf Seiten der Think TanksStrategInnen und der Wissenschaft erklärt. Das Pendant zur Auseinandersetzung um
physikalische Probleme außerhalb der Administration bildete der Rechtsdiskurs namhafter
ProfessorInnen über die Gültigkeit des Folterverbots – allerdings (noch) nicht vor Gericht, so
dass der Judikative in beiden Debatten kaum eine Rolle zukam. Bezüglich der Legislative gab
es dagegen eine auffällige Gemeinsamkeit: Zwar positionierten sich die Demokraten
tendenziell für die, Republikaner eher gegen die Beibehaltung der beiden Normen, es waren
jedoch in beiden Fällen kleine Gruppen republikanischer Senatoren, die sich (anders als zuvor
die DemokratInnen) letztendlich erfolgreich gegen die Regierung durchsetzen konnten und
denen somit als Normverteidiger eine wichtige Rolle zukam.
Besondere Beachtung verdient die der instrumentellen Wirkung beider Verbote
geschuldete argumentative Strategie der Regierung, die sie schließlich in die Sackgasse führte
bzw. leicht als widersprüchlich zu erkennen war: Durch das Leugnen jeglicher Überlegungen
zum Einsatz von Folter gegenüber Gefangenen am Anfang der Debatte – wobei die
Regierungsmitglieder ein window of opportunity ungenutzt verstreichen ließen – war es ihnen
unmöglich, sich später den BefürworterInnen des Tabubruchs anzuschließen; das klare
Widerlegen der zunächst verfolgten Linie durch den Abu Ghraib-Skandal machte die
Regierung schließlich rhetorisch manövrierunfähig. Im nuklearen Diskurs wurde ihr Versuch,
die nicht zur Veröffentlichung vorgesehene NPR als Instrument der Abschreckung zu
verkaufen, mit der Sprachregelung, das zum Abschreckungsdokument umdefinierte Papier
zugleich als bloße Ideensammlung, die es nicht allzu ernst zu nehmen galt, zu präsentieren,
vollends ad absurdum geführt.
– 278 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
6.3.3 Argumentation
Wie für beginnende Enttabuisierungsdiskurse bereits im Vorfeld angenommen werden
konnte, war neben dem Gegenstand auch das Führen der Debatte an sich ein eigenständiger
von Akteuren thematisierter Punkt. Hierbei ist jedoch überraschend, dass kaum jemand
bereits das Führen der Debatte als Problem erachtete, sie wurde im Gegenteil sowohl von
NormverteidigerInnen
als
auch
von
-angreiferInnen,
begrüßt,
wenn
auch
aus
unterschiedlichen Gründen: Sahen einige bunker-buster-GegnerInnen nach dem Durchsickern
der NPR in der öffentlichen Auseinandersetzung die Chance, die Regierung unter Druck zu
setzen, fassten sie manche FoltergegnerInnen als Möglichkeit auf, den Aktionsspielraum der
Regierung schon vor einem eventuellen weiteren Terroranschlag prophylaktisch zu begrenzen.
Hier spielte die Befürchtung liberaler DiskursteilnehmerInnen eine Rolle, nach dem Eintreten
dieses Falles in einer Diktatur ohne handlungsbeschränkende checks and balances aufzuwachen
– dieser Bedrohung der Werte eines demokratischen Staatswesens stand in der Nukleardebatte
die Bedrohung der Existenz gegenüber, also die verkündete Gefahr, aufgrund einer
verschlafenen Nukleardebatte überhaupt nicht mehr aufzuwachen. Auf Seiten der
Herausforderer bzw. Herausforderinnen des nuklearen Tabus wurde der Diskurs zudem als
Gelegenheit befürwortet, in den 1990er Jahren versäumte, längst überfällig geglaubte
nuklearstrategische Anpassungen durchzuführen und endlich eine Auseinandersetzung mit der
einen veränderten, Handlungsdruck erzeugenden post-Cold-War-Realität zu wagen, während
im Falle des Folterverbots das demokratiespezifische Argument im Vordergrund stand,
öffentliche Angelegenheiten auch öffentlich zu regeln, statt geheime Praktiken wie das
Verschicken von Gefangenen in Drittstaaten (wissentlich) zu ignorieren. Darüber hinaus
wurde es in beiden Fällen als unverantwortlich hingestellt, aus normativen Gründen
sicherheitsrelevante Sachzwänge nicht zu thematisieren. Ebenfalls aus Sicherheitsbedenken
sprachen sich aber auch norm challengers gegen die Debatte aus. So bestehe die Gefahr, dass
Strategien öffentlich diskutiert bzw. ans Tageslicht befördert würden, auf die sich Terroristen
und/oder „Schurkenstaaten“ einstellen könnten, indem sie z.B. ihre Ziele anderweitig
sicherten oder sie ihre Mitglieder gezielt auf bestimmte Verhörmethoden vorbereiten. Das
folgende Schaubild soll die eben dargestellten Positionen der für oder gegen die Norm
eingestellten Akteure in Bezug auf die Debatte verdeutlichen:
– 279 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
Debatte
pro
pro
contra
Norm
contra
• Naming und shaming
gegenüber Regierung
• In Übereinstimmung mit dem
Tabu, jedoch selten  Debatte
selbst schon Gefahr für die Norm
• Sachzwänge erfordern Debatte
• Öffentliche Regelung politischer
Entscheidungen statt geheime
Praktiken/prophylaktische
Einengung des
Handlungsspielraumes
der Regierung
• Sicherheitsrisiken: geheime
Strategien werden bekannt 
Feinde können sich
dagegen schützen
Abb. 3: Positionen zum Führen der Debatte
In Bezug auf die thematische Diskussion stimmten in beiden Fällen TabugegnerInnen und befürworterInnen zumindest in der Problemdefinition überein: Es galt, die Vereinigten
Staaten vor neuartigen und bisher nahezu unbekannten Feinden zu schützen, wobei innerhalb
der Debatten die Meinungen darüber auseinander gingen, wie dies zu gewährleisten sei. Hier
ähnelten sich die Argumentationsstrategien sowohl im Folter- als auch im Nukleardiskurs
insofern, als die norm challengers ihre Argumentation an konkreten Situationen festmachten
und die Ausweglosigkeit in solchen Lagen als Begründung für notwendig gewordene oder
möglicherweise unvermeidlich werdende Normbrüche anführten, um überlebenswichtige
Informationen zu erhalten bzw. in jeder denkbaren Situation reaktionsfähig zu bleiben. Da der
rhetorisch aufgeworfenen Frage der Normgegner, welche Handlungsalternativen denn in
entsprechend konstruierten ticking-bomb-Situationen zur Verfügung stünden, kaum etwas
entgegengesetzt werden kann, ohne fatale Folgen in Kauf zu nehmen, nahmen die
NormbefürworterInnen in beiden Fällen eine breitere Perspektive ein: So sollten die USA
einerseits als Abrüstungsvorbild dienen und damit den Wert des Besitzes von Nuklearwaffen
(und anderen WMD) schmälern sowie entsprechende Vertragsmechanismen stärken, denn nur
auf diesem Weg könnten sie glaubwürdig gegen die die nationale Sicherheit gefährdende
Proliferation eintreten. Andererseits wurde der Global War On Terror als langfristiger Kampf
der Ideen aufgefasst, der nur zu gewinnen sei, wenn die USA ihre hohen moralischen Werte
und Menschenrechtstandards aufrechterhielten. Der Verrat der eigenen Ideale würde den
Terrorgruppen nicht nur mehr Zulauf verschaffen, sondern sei darüber hinaus auch ihr
eigentliches Ziel – zwei Gründe, weshalb man mit Folter den Krieg nur verlieren könne.
Hinsichtlich der Vorbildfunktion der USA vertraten die NormgegnerInnen im Vergleich
der beiden Debatten jedoch unterschiedliche Ansichten: So stellten die AngreiferInnen des
nuklearen Tabus heraus, dass die Vorstellung, die USA könnten als moralisches Vorbild ihrer
Feinde gelten, geradezu absurd sei, da Staaten wie Nordkorea niemals ihre Politik am
positiven Beispiel der Supermacht ausrichten würden. Darüber hinaus könne man die
Nuklearpolitiken von Demokratien und totalitären Regimen nicht mit gleichen Maßstäben
messen, seien und blieben erstere doch immer moralisch überlegen, weshalb es von ihnen
– 280 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
auch nicht scheinheilig sei, für sich bestimmte Vorrechte in Anspruch zu nehmen. Im
Gegenteil zu dieser diskursiven Abgrenzung von den neuen Feinen forderten die norm
challengers im Fall des Folterverbots eine Angleichung der eigenen Methoden an die der
Kontrahenten: Mit einer strikten Einhaltung aller „September 10th”-Standards – wie etwa der
Genfer Konventionen – auch in Kriegszeiten sei dieser asymmetrische Konflikt nicht zu
gewinnen. Gleichzeitig wurde es im Sinne eines tit for tat-Denkens häufig als legitim
hingestellt, diese eigentlich universell gedachten Standards nur noch reziprok anzuwenden.
Hingegen besetzen VertreterInnen einer tit for tat-Strategie bei eventuellen Nuklearschlägen
(etwa der Bombardierung islamischer Stätten) auch gegenüber der unter den TabugegnerInnen
weitestgehend konsensualen Forderung nach einem Vermeiden ziviler Opfer eine
diskursive Randposition.
Mit der Überlegung, als Vergeltungsmaßnahme Mekka zu bombardieren, schien der
einzige wunde Punkt gefunden, an dem man die sonst völlig auf das Jenseits ausgerichtete
Ideologie radikaler Islamisten im Diesseits aushebeln könnte. Davon abgesehen bereitete der
Umgang mit dem „fearless and faceless enemy“ den StrategInnen Kopfzerbrechen – deren
nicht nachvollziehbare, häufig als irrational angesehene Beweggründe boten darüber hinaus
einen Anlass, nicht nur eine neue Kategorie von Angreifern, sondern von gänzlich
andersartigen Menschen zu bilden. Zentral wurde diese Kategorie im Folterdiskurs, da mit der
neuen Klassifizierung eine Verabschiedung vom Gedanken unveräußerlicher Rechte jedes
Menschen qua Menschsein einherging. Dementsprechend wichtig wurden auf die
Entmenschlichung
des
Gegners
gerichtete
sprachliche
Konstruktionen.
Da
die
BefürworterInnen von Nuklearschlägen den Diskurs gezielt auf die Zerstörung militärischer
Objekte einzuengen versuchten (obwohl auch die Tötung von Personen, z.B. feindlicher
Führungsriegen wie Terroristen thematisiert wurde), spielten solche Euphemismen hier eine
untergeordnete Rolle. Vielmehr lässt sich hier die Konstruktion eines semantischen Feldes
ausmachen, in dem „Schurkenstaaten“, „Terroristen“ und „weapons of mass murder” immer
gemeinsam diskutiert werden konnten – auch, wenn nur eine Kante dieser Triade im
Vordergrund einer Äußerung oder eines Dokuments stand.
Ins Zentrum eines weiteren semantischen Feldes wurde die mannigfaltige Verantwortung
der US-Regierung für die nationale wie die internationale Sicherheit, die eigene wie die
feindliche Zivilbevölkerung sowie der Selbstschutz wie der Schutz der Alliierten gestellt. Zu
dieser Figur gibt es in der Folterdebatte erstaunlicherweise kein Pendant: Dass die
Verbündeten von in Verhören erpressten, sicherheitsrelevanten Informationen ebenfalls
profitieren könnten, wurde nicht ein einziges Mal erwähnt. Dies entspricht der generellen
Amerikalastigkeit dieser Debatte, die sich einerseits um die Gefährdung us-amerikanischer
BürgerInnen und SoldatInnen durch Terroristen mit US-amerikanischem Blut an den Händen
und andererseits um die Einhaltung vornehmlich us-amerikanischen Rechts drehte. Die
Alliierten wurden nur insofern in die Überlegungen einbezogen, als NormbefürworterInnen
wie -gegnerInnen eine Abwendung insbesondere ihrer europäischen Partner im Kampf gegen
– 281 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
den Terrorismus befürchteten, was dessen Erfolg ernsthaft gefährden könnte. Genau
umgekehrt wurde in der Nukleardebatte argumentiert: Man riskiere eine noch größere
Gefährdung, wenn die eigene Reputation im Ausland als wichtiger bewertet würde, als
Erwägungen des Einsatzes von Nuklearwaffen zu (präemptiven) Verteidigungszwecken.
Überhaupt wurden die (Rechts-)Normen, deren Bruch einen Reputationsverlust nach sich
zu ziehen drohte, nunmehr in beiden Fällen eher als Hürde, denn als Schutz wahrgenommen:
Konfrontiert mit feindlichen Staaten, für die die Unterzeichnung internationaler
Rüstungsverträge wenig mehr als ein Täuschungsmanöver sei, würde die Rechtsbindung an
multilaterale Abrüstungs- und Nichtverbreitungsinstrumente die USA entwaffnen und der
Gewalt
anderer
schutzlos
ausliefern.
Entsprechend
wurden
internationale
Menschenrechtsverträge wie auch einschlägige nationale Regelungen zum Schutz der eigenen
BürgerInnen nun als Hürde angesehen, die es entweder vollständig aus dem Weg zu räumen
(generelles Aussetzen der Genfer Konventionen) oder aber durch die gezielte Suche nach
Gesetzeslücken zu durchlöchern galt (Schlupflöcher der amendments zur US-Verfassung).
Letzteres kann vor allem als Versuch einiger Akteure gewertet werden, die rechtliche und
normative Fassade zu wahren, um nicht eingestehen zu müssen, dass man mit der
Unterhöhlung dieser Standards gleichzeitig auch die Grundfesten der eigenen Identität in
Frage stellte. Dem gleichen Zweck diente das Ziehen neuer Linien innerhalb der ehemals
unterschiedslos tabuisierten Handlungen und Objekte, nämlich die sprachlich konstruierte
Trennung in „wirkliche“ Folter und „light torture“ auf der einen sowie „richtige“
Nuklearwaffen und „mini-nukes“ auf der anderen Seite – mittels dieser argumentativen
Hilfskonstrukte soll ebenfalls die Illusion genährt werden, die alten Tabus blieben bestehen.
Wenn das Bilden solcher Kategorien auch auf Widerspruch stieß, so gelang es dennoch, diese
vor dem Hintergrund bestehender Tabus sowie Rechtnormen in ein framing einzubetten, in
dem sie eher als neuen Sicherheitserfordernissen angemessen und innovativ, denn als illegitim
erschienen. Die Vermutung liegt nahe, dass durch das Beanspruchen „geistiger
Eigentumsrechte“ auf beide universellen Normen auch Handlungsspielräume im Umgang mit
ihnen wahrgenommen und ausgenutzt wurden. Ein weiterer argumentativer Kniff, der die
Vereinbarkeit der neuen Maßnahmen mit der eigenen Identität verdeutlichen sollte, war das
Leugnen eines Bruches mit der Tradition unter Hinweis auf politische Kontinuität und das
Verhalten in früheren Ausnahmesituationen: So habe kein US-Präsident jemals bestimmte
Einsatzoptionen von vorneherein ausgeschlossen, dagegen aber immer in Anspruch
genommen, auch Grundrechte außer Kraft zu setzen, wenn dies unbedingt nötig und
erfolgversprechend erschien.
Das Anzweifeln der Effektivität der neuen Mittel nahm in der rationalisierten
Argumentation der NormbefürworterInnen schon sehr früh breiten Raum ein, womit sie diese
angreifbar machten: Über die Frage, ob mit Folter wahre Geständnisse zu erpressen seien, ließ
sich ebenso gut streiten, wie darüber, ob mit dem RNEP verbunkerte chemische oder
biologische Agenzien restlos zerstört und die sich innerhalb des Explosionsradius
– 282 –
Zwi s che nf a zi t: Er os i ons ve r l ä uf e
befindenden ZivilistInnen vor ihren Folgen geschützt werden konnten. Daneben wurde von
FoltergegnerInnen aber auch der Vorwurf erhoben, ihre Gegenseite würde versuchen, die
Debatte um eine per se inhumane Praxis zu rationalisieren. Tatsächlich hatten
FolterbefürworterInnen das Tabu direkt angegriffen, indem sie die Absolutheit des
Folterverbots
angesichts
der
erlaubten
Tötung
von
Terroristen
und
legitimen
Notwehrmaßnahmen wie dem finalen Rettungsschuss als irrational hinstellten. Solche
Relativierungen blieben interessanterweise im Zusammenhang mit dem nuklearen Tabu aus –
so haben die norm challengers in diesem Fall (naheliegende) Hinweise auf die Zerstörungskraft
anderer (konventioneller) Waffen unterlassen.
6.3.4 Argumentative Auseinandersetzung als Einfallstor
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ganz ähnliche Faktoren die Erosion der beiden Tabus
ermöglicht haben: In beiden Fällen begingen die TabubefürworterInnen den Fehler, sich auf
die Debatten einzulassen statt eine argumentative Auseinandersetzung unter Hinweis auf die
Gültigkeit der Tabus dezidiert abzublocken – wobei fraglich ist, ob diese Strategie unter den
als radikal gewandelt empfundenen Umständen hätte Erfolg haben können. Daneben gab es
jedoch auch fallspezifische Besonderheiten der beiden Tabus: Hierbei erscheint uns für die
Erosion des nuklearen Tabus seine gewachsene Stärke am bedeutendsten, die letztendlich zu
seiner Selbstzerstörung führte. So war die Fortsetzung der nuklearen Ambiguität unmöglich
geworden, weil Tabubrüche nicht mehr glaubhaft angedroht werden konnten, was zu einer
Existenzbedrohung für die Vereinigten Staaten deklariert wurde – um die nationale Sicherheit
zu gewährleisten, erschien eine Schwächung der Norm unumgänglich, die Möglichkeit hierzu
durch technischen Fortschritt gegeben. Das Foltertabu fiel dagegen in erster Linie, weil die
jahrhundertelang als irrational und unvertretbar angesehene Position der Befürwortung von
Folter im Verlauf der Debatte von immer mehr Akteuren als rational begründbar anerkannt
wurde, während sich umgekehrt die unbedingte Einhaltung der Norm in jeder Situation bei
genauem Hinsehen als kaum haltbare Extremposition entpuppte. Das Aufheben der früher
selbstverständlichen Denkverbote um beide Tabus führte letztendlich unübersehbar vor
Augen, dass es für sie keine Letztbegründung gibt.
– 283 –
C o ncl us i o
7. Conclusio: Theoretisierungsansätze unserer Ergebnisse
Die im vorherigen Kapitel präsentierten empirischen Ergebnisse unserer Fallstudien
ermöglichen es uns, vor dem Hintergrund der zu Beginn der Arbeit vorgestellten Annahmen
der Theorie internationaler Normen auf drei Ebenen weiterführende Überlegungen
anzustellen: Erstens können wir – zumindest, soweit es die Reichweite unserer Fälle erlaubt –
die eingangs diagnostizierten Lücken der Normtheorie aus einer neuen, empirisch fundierten
Perspektive betrachten. An dieser Stelle ist es uns nun nicht nur möglich, normtheoretische
Aussagen über die von uns untersuchten Erosionsprozesse und die hierfür relevanten Akteure
zu machen, sondern auch, bisherige Annahmen über das Stadium internalisierter Normen aus
empirischer Sicht zu problematisieren.
Die Frage, wie die Erosion der von uns untersuchten Tabus möglich geworden ist, kann
selbstredend nicht von diesen generellen auf die Theorie rekurrierenden Schlussfolgerungen
losgelöst betrachtet werden, jedoch lassen sich, zweitens, aus einer fallspezifischen Perspektive
zum Einen Schlüsse über das Verhältnis von agency und structure in den beiden
Erosionsprozessen ziehen und zum Anderen jeweils v.a. in den Besonderheiten der beiden
Tabus begründete erosionsermöglichende Bedingungen identifizieren. Aus der Analyse dieser
Bedingungen können wir schließlich – drittens – weitergehende Schlüsse über den Stellenwert
und die Schwächen von Tabus in den internationalen Beziehungen ziehen, indem wir unsere
Ergebnisse vor dem Hintergrund einschlägiger IB-Literatur sowie im Lichte der von uns aus
psychoanalytischen und anthropologischen Schriften übernommenen Konzepte einordnen
und interpretieren.
7.1 Komplexer Internalisierungsprozess und norm challengers
Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen stellten zwei von uns identifizierte „blinde
Flecken“ der Normtheorie dar – die theorieinhärente Fortschrittsbias, die zum Einen darin
zum Ausdruck kommt, dass ausschließlich aus (westlich geprägter) normativer Sicht
wünschenswerte Normen zum Untersuchungsgegenstand erkoren werden und zum Anderen
anhand der „einbahnstraßenartigen“ Fokussierung auf voranschreitende Normentstehungsund –durchsetzungsprozesse deutlich wird. Dass wir uns entschieden haben, durch die
Untersuchung von Erosionsprozessen eine Gegenspur in die Einbahnstraße einzubauen und
somit den zweiten Aspekt der von uns festgestellten Fortschrittsbias zu bearbeiten, impliziert
selbstverständlich, dass unser erster Kritikpunkt – das Untersuchen ausschließlich „guter“
Normen auch auf uns selbst zutrifft. Entstehungs- und Durchsetzungprozesse als negativ
erachteter Normen (wie etwa der Sharia) bleiben hiermit ein wichtiges Forschungsdesiderat,
während sich unsere zweite fortschrittsskeptische Vorannahme, dass auch internalisierte
Normen ihre Qualität der „taken-for-grantedness“ – d.h. automatischer compliance und
diskursiv unangetasteter Gültigkeit der Norm –verlieren und in eine Abwärtsbewegung
geraten können, als richtig erwiesen hat. Dementsprechend lautet unser erster Befund, den wir
den bisherigen Forschungen zu Normen entgegensetzen: Internalisierte Normen können
– 284 –
C o ncl us i o
erodieren. Mit dem nuklearen Tabu und dem Folterverbot befinden sich sogar zwei
universelle Normen im Erosionsprozess, die als besonders stark internalisiert galten und
konstitutiv für die Identität „zivilisierter“ Mitglieder der internationalen Gemeinschaft im
Allgemeinen und der Vereinigten Staaten von Amerika im Besonderen waren bzw.
immer noch sind.
Wie aus der letzten Bemerkung hervorgeht, wollen wir keineswegs bestreiten, dass eine
Phase der Norminternalisierungen existiert, sich die von uns untersuchten Normen in einer
solchen befanden und ein deutlicher qualitativer Unterschied zwischen dieser und anderen
Phasen der Normkarriere besteht (sofern man den Grundgedanken einer Aufwärtsspirale der
Normdurchsetzung denn akzeptieren will – es erscheint uns, wie im einleitenden Kapitel zur
Normtheorie angeführt, sehr zweifelhaft, dass Phasen der Normentwicklung durch immer
gleiche Kausalmechanismen aneinander gekoppelt sein sollen). Die Unterspezifizierung der
Theorie im Hinblick auf diese letzte Phase der „Normkarriere“ und des Begriffes
„Internalisierung“ hat uns, wie erwartet, Schwierigkeiten bereitet. So scheint hierbei die
implizite Annahme zu bestehen, dass sich Antworten auf entscheidende Fragen intuitiv
ergeben und keiner Operationalisierung bedürfen: Bereits unsere Fallauswahl wäre erleichtert
worden, wenn wir klare Kriterien dafür hätten anlegen können, welche Akteure eine Norm
internalisieren müssen, ab wann eine Norm als internalisiert gilt und woran eine solche
besondere Qualität zu erkennen ist. Entsprechend wird die Einordnung unserer Ergebnisse
dadurch erschwert, dass wir auf die für eine Internalisierung relevanten Akteursgruppen
innerhalb eines Staates bestenfalls aus Andeutungen und Nebenbemerkungen der
einschlägigen Werke schließen können. Weder wird expliziert, ob und in welchem Maße
(neben der Regierung) einzelne innenpolitische Akteure wie Bevölkerung, Wissenschaft oder
Militär eine Norm verinnerlicht haben müssen, um in Bezug auf einen Staat in seiner
Gesamtheit von einer internalisierten Norm sprechen zu können, noch werden – mit
Ausnahme der Feststellung, internalisierte Normen verschwänden aus dem öffentlichen
Diskurs – weitere Hinweise darauf gegeben, was die Internalisierung einer Norm bei solchen
Gruppen indiziert.
Der Stellenwert anderer Akteure als der Regierung, die hier möglicherweise vorliegenden
divergierenden Internalisierungsgrade und die unterschiedlichen Rollen, die sie bei einer
Normerosion einnehmen können, wurden jedoch anhand unserer Fälle deutlich: So vermuten
wir, dass die Erosion des nuklearen Tabus top-down und zwar von Akteuren (z.B. einigen
Angehörigen der Bush-Administration, des Militärs und der Nationallabors) vorangetrieben
wurde, die diese nie „wirklich“ internalisiert hatten, so dass man zumindest auf dieser
individuellen Ebene nicht unbedingt von veränderten Einstellungen gegenüber der Norm
ausgehen muss.1021 Vielmehr stellte die Veröffentlichung der NPR ein willkommenes window
1021
Dies zu überprüfen, ist nicht nur aus dem oben bereits genannten Grund (fehlende
Internalisierungskriterien) schwierig, sondern auch, weil es den Akteuren in der Vergangenheit aus
instrumentellen Überlegungen heraus aufgrund der Stärke des Tabus gar nicht möglich gewesen wäre, dieses
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of opportunity dar, um das vermutlich von einigen Gruppierungen bereits lange Zeit als
störende Einschränkung der eigenen Handlungsoptionen wahrgenommene nukleare Tabu zu
unterlaufen. Im Gegensatz dazu positionierten sich im bottom up-Prozess der beginnenden
Folterdebatte interessanterweise gerade diejenigen gesellschaftlichen Gruppen – nämlich
Bevölkerung, Medien und insbesondere einige Rechtswissenschaftler – als erste öffentlich für
eine Einschränkung des Folterverbots, bei denen von einer starken Internalisierung
ausgegangen werden muss, denn gerade diese Akteursgruppen waren es schließlich gewesen,
die in den Jahren zuvor jede Übertretung dieses Tabus skandalisiert bzw. deren sofortige
Sanktionierung gefordert hatten.1022
Neben der vernachlässigten Akteursqualität innenpolitischer Gruppen bleibt auch das
Verhältnis zwischen der Gültigkeit einer Norm (validity ) und ihrer Einhaltung (compliance) in
der Internalisierungsphase ungeklärt, was sich im Hinblick auf beide Tabus als problematisch
erwiesen hat. So waren in den USA während des gesamten Zeitraumes der
Norminternalisierung durchaus von Teilen der US-Administration geduldete Fälle von noncompliance trotz validity der Anti-Folter-Norm zu verzeichnen. Auch global wird ihr auf der
deklaratorischen Ebene eine sehr hohe Gültigkeit bescheinigt, jedoch ohne diese proklamierte
Überzeugung auch in die Tat umzusetzen. Für das nukleare Tabu lässt sich ebenfalls ein –
wenn auch umgekehrtes – Spannungsverhältnis zwischen den beiden Komponenten
Gültigkeit und Einhaltung konstatieren: Der seitens der US-Regierungen niemals
uneingeschränkt bestätigten validity steht mehr als ein halbes Jahrhundert der absoluten
Einhaltung der Einsatzverbotsnorm gegenüber.
Die Hinweise auf die Relevanz unterschiedlichster Gruppen und das mögliche
Auseinanderklaffen zwischen Normeinhaltung und Normgültigkeit sowie das Ausbrechen der
tabuschwächenden Debatten verdeutlichen, dass die Phase der Internalisierung von Normen
einen komplexen, keineswegs immer linear und bei allen Akteuren synchron verlaufenden
Prozess darstellt. Dementsprechend wird am Verlauf dieses Prozesses vor allem Zweierlei
ersichtlich: Erstens scheinen Akteure auch in dieser Phase in der Lage zu sein, als Reaktion auf
bestimmte Ereignisse „aus eigenem Antrieb“ die Gültigkeit der für sie lange Zeit
selbstverständlichen Überzeugungen zu hinterfragen. Zweitens liegt die Vermutung nahe, dass
unterschiedliche Internalisierungsgrade bei unterschiedlichen Akteuren ebenfalls zu einer
Gefahr für die Norm werden können, da Akteure miteinander in Interaktionen treten.
Entsprechend können Normen auf dem Weg zu einem – vermutlich empirisch niemals
erreichbaren – Endpunkt ihrer Internalisierung 1) potentiell durch jeden gesellschaftlich
1022
öffentlich in Frage zustellen. Wiederum sind diejenigen Dokumente (z.B. interne Sitzungsprotokolle,
Telefonate), die über die tatsächliche Einstellung Aufschluss geben könnten, sofern sie überhaupt existieren,
nicht zugänglich.
Dabei ist natürlich nicht auszuschließen, dass z.B. ein Teil der US-Bevölkerung Folter schon immer
befürwortete, da aus der Zeit vor der Erosion keinerlei Umfragen oder ähnliche Hinweise vorliegen. Dass
diese Frage niemals gestellt wurde und in den Medien nie thematisiert wurde, weist andererseits auf eine
Internalisierung hin.
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relevanten Akteur oder 2) durch diejenigen Akteure, die bei der Internalisierung langsamer
(oder gar nicht?) voranschritten, im Diskurs in Frage gestellt werden, sobald diese meinen, ein
window of opportunity zu erkennen, um ihre (normschwächenden) Ansichten vorzubringen –
solche Handlungen seitens der norm challengers können wiederum Zweifel bei denjenigen
auslösen, die die Norm bereits internalisiert hatten. Schließlich kann 3) das Handeln von
Akteuren außerhalb des innenpolitischen Internalisierungsbereichs (Terroristen, nach
Massenvernichtungswaffen strebende Staaten), eine diskursive Normschwächung notwendig
erscheinen lassen.
Zumindest im Fall des Folterverbotes scheint überdies eine Erosionskaskade eingetreten
zu sein – ganz im Sinne eines rationalistischen Verständnisses dieses Konzepts reagieren die
Akteure bei Erreichen einer kritischen Masse1023 von TabugegnerInnen nicht mehr nur auf die
Überzeugungskraft ihrer Argumentation, sondern allein die (steigende) Anzahl der
TabukritikerInnen wirkt als Anstoß, die Norm wieder in Zweifel zu ziehen.1024 Fasst man die
Internalisierungsphase
als
einen
durch
Uneinheitlichkeit,
Ungleichzeitigkeit
und
Umkehrbarkeit gekennzeichneten Prozess auf, erscheint eine in diesem Stadium befindliche
und damit vermeintlich stabile Norm als noch immer fragil.
7.2 Agency-structure-Verhältnis und dessen sprachliche Vermittlung
Unsere Ausgangsfrage, wie die Erosionen der beiden Tabus möglich geworden sind, lässt sich
durch die Hinweise auf die asynchrone Internalisierung sowie Akteursinteraktionen nur zum
Teil beantworten, da nach wie vor offen bleibt, was die Akteure zum Anlass nahmen, ihre
Überzeugungen zu hinterfragen bzw. wie das window of opportunity entstanden ist, das die
öffentliche Artikulation der norm challengers ermöglichte. Der in allen Spielarten des
Konstruktivismus hoch bewerteten gegenseitigen Konstituiertheit zwischen Akteuren und
Strukturen Rechnung tragend, liegt es nach der Betrachtung der Akteure nahe, die strukturelle
Ebene bzw. die Wechselwirkungen von agency und structure ebenfalls in die
Überlegungen miteinzubeziehen.
Bisher haben wir uns darauf beschränkt, Strukturen aus der Perspektive der Akteure in
den Blick zu nehmen und in ihnen ausschließlich aufgrund der diskursiven Referenzen
erosionsermöglichende Bedingungen zu sehen. An dieser Stelle wollen wir einige darüber
hinausgehende, allgemeinere Schlussfolgerungen zum Akteur-Struktur-Norm-Verhältnis im
Falle des Folterverbots und des nuklearen Tabus vornehmen. Unsere Ergebnisse weisen
darauf hin, dass zwar in beiden Fällen die gleichen strukturellen Faktoren gewirkt haben,
letztere
jedoch
unterschiedliche
Funktionen
ausübten.
Das
Verhalten
der
TabubefürworterInnen war hingegen in beiden Fällen vergleichbar – und mit vergleichbar
negativen Folgen für die Norm verbunden.
1023
1024
Wir gehen aber weder davon aus, dass diese bei jedem Erosionsfall erreicht werden, noch, dass es eine für
alle Fälle ähnliche Anzahl von Akteuren geben muss.
Zum Modell solch einer „Informationskaskade“ S. 29 der Arbeit.
– 287 –
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Es hat sich gezeigt, dass das – sich auf die Strukturen des internationalen Systems
auswirkende – Auftreten neuer Akteure sowie ihre Wahrnehmung in den Vereinigten Staaten
in beiden Erosionsprozessen eine entscheidende, wenn auch ihrer Gewichtung nach
unterschiedliche Rolle gespielt haben. Demgemäß scheint es sich bei dem externen, durch die
Terrorakte vom 11. September ausgelösten Schock tatsächlich um den zentralen Faktor zu
handeln, der ein (obgleich von der Regierung ungenutztes) window of opportunity für die
Debatte über die Wiedereinführung von Folter schuf – folglich kann letztere als Reaktion auf
die grausam demonstrierte Zerstörungsmacht der neuen staaten- und furchtlosen Akteure
gesehen werden. Im Gegensatz dazu spielte der „9-11-Schock“ für den Nukleardiskurs
unserer Einschätzung nach lediglich eine katalysierende Rolle, da die Bedrohung durch
Terrorismus und dadurch bedingt, die Erosion bewährter Sicherheitsmechanismen wie
Abschreckung, Verteidigung, aber auch Vertragsverhandlungen, bereits während der gesamten
1990er Jahre sehr präsent war. Im Unterschied zu Folter war in diesem Fall nicht nur das
bereits ausgeführte permanente und diffuse Bedrohungsgefühl von Bedeutung, sondern auch
der Wegfall der absoluten Bedrohung (durch die UdSSR) und damit der apokalyptischen
Konsequenzen von Nukleareinsätzen. Im Zusammenspiel schufen diese Faktoren vielmehr
einen „fruchtbaren Boden“ für die Debatte als ein window of opportunity.1025
Dennoch haben wir die Vermutung, dass sich die auf dem Territorium der Vereinigten
Staaten verübten Terroranschläge trotz ihrer unterschiedlichen Relevanz für die konkreten
Fälle Folter und Nuklearwaffen auf einer höheren Ebene in einer Form ausgewirkt haben, die
wir als „Dominoeffekt der Unthinkables“ bezeichnen möchten. Dieser These zufolge hätte die
Tatsache, dass solche Ereignisse, deren Durchführung und Ausmaße zuvor außerhalb des
Vorstellbaren lagen, möglich waren, unserer Ansicht nach generell zu einer schlagartigen
Ausweitung der Denkräume geführt, die ihrerseits Tabubrüche ermöglicht hat – dies geschah
sehr direkt im Fall des Folterverbots und mittelbar im Fall des nuklearen Tabus, als hierdurch
nun ein gut instrumentalisierbarer Referenzpunkt bereit stand. Die Konfrontation mit einem
Unthinkable scheint somit weitere Unthinkables (und andere „einfache“ Normen, wie z.B.
Pressefreiheit und Bürgerrechte) angreifbar bzw. angreifbarer gemacht zu haben.
Letztlich können wir freilich kaum feststellen, bei welchen Akteuren diese schlagartige
Ausweitung des Denkraums zuerst einsetzte (hier stellt sich das übliche Problem, Akteuren
nicht in die Köpfe blicken zu können). Wichtiger erscheint uns allerdings die Feststellung,
dass sich die Grenzen dieser Denkräume und die Verschiebung ihrer Grenzen nicht nur
sprachlich manifestierte , sondern eine (Neu-)Konstruktion derselben sich ebenso im Medium
der Sprache vollzog . So wurde in der Fallstudie zum Folterverbot deutlich, dass das
1025
Wie bereits im Zwischenfazit des Kapitels 6.2 auf Seite 272 ausgeführt, ist letzteres mit der Veröffentlichung
der Nuclear Posture Review ausgerechnet von solchen Akteuren kreiert und anschließend offen gehalten
worden, die an der