Jugendliche und junge Erwachsene aus
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Jugendliche und junge Erwachsene aus
11 Vorbildlich! Schriftenreihe der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen Niedersachsen Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien Foto: Hoppenrath Impressum Februar 2007 Herausgeberin und Redaktionsanschrift (ViSdP) Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI) – Ausländerbeauftragte – Postfach 2 21 30002 Hannover Verantwortlich: Marianne Winkler E-Mail: [email protected] Internet: www.auslaenderbeauftragte.niedersachsen.de Titelfoto sputnike <jungeKultur> im CJD Nienburg/SWK Redaktion Anett Schweitzer, Marianne Winkler Produktion Anette Hoppenrath, Marianne Winkler Gestaltung set-up design.print.media, Hannover Druck Landesvermessung und Geobasisinformation Niedersachsen (LGN), Hannover Erscheinungsweise unregelmäßig Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin (wird gern erteilt). Alle Rechte vorbehalten. © Die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeberin und der Redaktion wieder. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Material. ISSN 0340-3718 Vorbildlich! Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien Inhalt Grußwort Marianne Winkler 5 Geleitwort des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff 7 Jugendberufshilfe und Migration – die zentralen Arbeitsbereiche der LAG JAW Dimitra Atiselli Von Barrieren und Karrierechancen Anett Schweitzer 8 9 Die Übung „Ich – Ich nicht“ Oliver Trisch 11 „Es macht Spaß, etwas Neues dazuzulernen“ Stephanie Billib 13 Vorbilder aus Schule und Hochschule Abdel-Latif Arouna Katharina Ditte Angelina Frank Linda Moreschi 15 16 17 18 „Wer etwas wirklich erreichen möchte, schafft es auch“ 19 Mirjana Ilić Vorbilder in der Ausbildung und im Beruf Andrej Karri Olga Zimmermann Murat Sünnetci Sevgi Ayes Bilal Zeyno Bedriye Özden Samiullah Achmed Naciye Çelebi-Bekta¸s 21 22 23 24 25 26 27 28 Durch ehrenamtliches Engagement zu mehr Selbstbewusstsein Thomas Böhme Vorbilder im Ehrenamt Gül¸sen Özçelikli Rasim ¸Sengül Melda Ate¸s Von Träumen und harter Arbeit Marina Kormbaki Vorbilder im Bereich Kunst, Kultur und Medien Juri Schmidt Seyhan Derin Natella Santadze Alexander Brunner Fatma Mohamed-Taha „Sport erleichtert die Integration“ Oliver Trisch Vorbilder im Sport Artur Stark Lasher Kurun Viktor Reimchen 29 30 31 32 33 36 37 38 39 40 41 43 44 45 Schlusswort der Niedersächsischen Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit Mechthild Ross-Luttmann 46 Kontaktadressen 50 Verzeichnis der Referent/innen, Moderator/innen und Journalistinnen 51 von Marianne Winkler Foto: Max Grußwort Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jugendliche, ich begrüße Sie zu der Tagung „Vorbildlich! – Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien“, die mit einer HipHop-Präsentation durch die Gruppe „New Limits“ eröffnet wurde. Durch die gelungene sportlich-tänzerische Darbietung konnten Sie bereits einen ersten Einblick in vorbildliche Fähigkeiten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bekommen. Vielen Dank an die jungen Damen um Dilek Boztüy aus Bad Pyrmont, die gerade Beachtliches geleistet haben und gegen Mittag noch einmal auftreten werden. Für den Nachmittag kann ich mit der Breakdance-Gruppe von „sputnike <junge Kultur> im CJD Nienburg“ einen weiteren tänzerischen Höhepunkt ankündigen. Die jungen Männer werden Sie mit ihrer sportlich-akrobatischen Darbietung sicher beeindrucken. Sehr geehrte Damen und Herren, für die Tagung „Vorbildlich! Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien“ sind Anmeldungen in so großer Anzahl eingegangen, dass wir gut und gerne zwei Veranstaltungen hätten durchführen können, was aber leider nicht möglich war. Ich bin sehr froh über die überwältigende Resonanz, weil mir das Thema dieser Tagung ein besonderes Anliegen ist. Ihnen, die Sie selbst einen so genannten Migrationshintergrund haben oder als Lehrkräfte an Schulen, als Sozialpädagogen in der Integrationsarbeit oder als Multiplikatoren in verwandten Bereichen tätig sind, berichte ich nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass in den Diskussionen über Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien die Wahrnehmung von Problemen und Defiziten überwiegt. Sicher, es gibt diejenigen – und ihr Anteil ist im Vergleich zu denen ohne Migrationshintergrund auf jeden Fall zu hoch –, • die in der Schule wenig erfolgreich sind, • die keinen Ausbildungsplatz finden, • die kaum eine Lebensperspektive für sich entwickeln können, • die der Unterstützung und der Förderung bedürfen. Doch daneben gibt es auch die anderen, • die sich durchbeißen durch das Dickicht der Einwanderungsgesellschaft, • die sich von Vorurteilen, die ihnen möglicherweise entgegenschlagen, nicht beirren lassen, • die erfolgreich ihren Weg gehen – und dabei nicht einmal auffallen. Sie möchten wir mit der heutigen Veranstaltung ein wenig ins Licht rücken, • um unsere auf Defizite fixierten Blicke in eine andere Richtung zu lenken und unsere Augen für Ressourcen und Kompetenzen zu öffnen, • um Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch die Berichte von Vorbildern Mut zu machen. Der DJ und in der internationalen Musikszene bekannte Musikproduzent aus Hannover mit türkischem Hintergrund Mousse T. – der eigentlich Mustafa Gündogdu heißt – sagte in einem Interview in der ZEIT vom 4. Mai 2006: „Wenn ich Deutschland wäre, würde ich mir die Erfolge der Einwanderer an die Brust heften“. In dem Beitrag heißt es weiter: „Die deutsche Öffentlichkeit hat bisher versäumt, beeindruckende Aufsteigergeschichten gebührend zu feiern und ihrem Selbstbild einzu- verleiben. In Ländern, die mit Einwanderung mehr Erfahrung haben, wie etwa die Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien, werden solche Erfolgsgeschichten an die große Glocke gehängt. Aufsteiger unter den Migranten werden als Vorbilder gepriesen.“ Hier haben wir einiges nachzuholen. Wenn wir erst einmal einen Blick für die Wahrnehmung erfolgreicher Migrantinnen und Migranten entwickelt haben, werden sie uns auch in Deutschland jeden Tag begegnen. Im Oktober 2006 war in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Frischer Wind für das NIW“ zu lesen, dass das Niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung mit Professor Revilla Diez einen neuen Leiter bekommen hat, der als Sohn spanischer Arbeitsmigranten in den sechziger Jahren im Kleinkindalter nach Deutschland gekommen ist. Anfang November war der preisgekrönte Kinofilm „Gegen die Wand“ des türkischen Filmemachers Fatih Akin mit der bekannten Schauspielerin Sibel Kekilli im Fernsehen zu sehen und im Schauspielhaus Hannover stand eine Lesung mit dem aus Russland stammenden Schriftsteller Wladimir Kaminer auf dem Programm. An den niedersächsischen Universitäten werden immer mehr Stellen mit Wissenschaftlern mit Migrationshintergrund besetzt – kürzlich habe ich einen Vortrag von Frau Dr. Ayca Polat gehört – einer Dozentin der Universität Oldenburg. Achten Sie einmal bewusst darauf, wo und wie oft Ihnen erfolgreiche Menschen mit Migrationshintergrund begegnen! Wir haben uns bemüht, für das recht junge Publikum der heutigen Veranstaltung die „richtigen“ Vorbilder zu finden und ebenfalls junge Menschen aus Zuwandererfamilien eingeladen, die demzufolge noch kein Institut für Wirtschaftsforschung leiten können – jedenfalls im Moment noch nicht. Die Auswahl habe ich zusammen mit meiner Kollegin Dimitra Atiselli von der Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit getroffen. Ohne die ausgesprochen produktive Kooperation mit der LAG JAW hätte sich diese Tagungsidee wahrscheinlich nicht realisieren lassen. Deshalb geht mein Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit. Darüber hinaus danke ich auch dem Niedersächsischen Sozialministerium für seine Beteiligung an dieser Veranstaltung. Zurück zu den Vorbildern – genauer gesagt zu den „richtigen“ Vorbildern: Auf die Prominenten haben wir ebenso verzichtet wie auf die absolut hoch begabten Überflieger, die schon in der Grundschule auf Grund herausragender Leistungen eine Klasse locker überspringen und diese Übung am Gymnasium gekonnt fortsetzen. Doch auch sie gibt es übrigens, wobei hoch begabte Migrantenkinder noch häufiger als Kinder ohne Migrationshintergrund das Schicksal erleiden, als Begabte nicht erkannt und mitunter fälschlicherweise als verhaltensauffällig eingestuft zu werden. Aber das nur als Zwischenbemerkung. Wir haben Vorbilder ausgewählt, denen andere Jugendliche mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit – unterstützt durch Förderung von wem auch immer – nacheifern können, ohne dass die Messlatte in nebulösen Höhen verschwindet. Wir haben Vorbilder ausgewählt, deren Kompetenzen sich in verschiedenen Bereichen entfalten – • in der Schule bzw. Hochschule, • in der Ausbildung bzw. im Beruf, • im ehrenamtlichen Engagement, • im Bereich Kunst, Kultur und Medien sowie • im Sport. Wir haben Vorbilder ausgewählt, die bereit sind, aktiv an dieser Tagung mitzuwirken, die bereit sind, sich auf die Methode des biografischen Erzählens einzulassen und auf diese Weise Einblicke in ihren bisherigen Lebensweg gewähren. Die meisten von ihnen haben auf meinen Wunsch hin bereits ein kurzes Lebensbild in schriftlicher Form verfasst. Sie haben nach der Angabe ihrer persönlichen Daten ihren Werdegang daraufhin reflektiert, was für ihren bisherigen Erfolg entscheidend war, wo mögliche Stolpersteine lagen, was sie anderen jungen Menschen mit Migrationshintergrund „empfehlen“, was sie sich wünschen. Wir haben Vorbilder ausgewählt, die in der Schülervertretung mitarbeiten, die mit Bravour ihre Examensprüfungen bestehen, die mitunter nach einem etwas längeren Weg doch noch den für sie richtigen Ausbildungsplatz gefunden haben, die in ihrer Freizeit einheimische oder zugewanderte Menschen ehrenamtlich unterstützen, die beruflich einen künstlerischen Weg gehen oder die hobbymäßig Theater spielen, die sich in ihrer Freizeit sportlich engagieren und in diesem Bereich später möglicherweise berufliche Ambitionen entwickeln werden. Es sind 24 vorbildliche Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien, denen ich herzlich dafür danke, dass sie bei der heutigen Tagung den wichtigsten Part übernehmen. Ich freue mich sehr darüber, dass Sie hier sind. Ich danke außerdem allen Referenten bzw. Moderatorinnen und Moderatoren für ihr Mitwirken an der heutigen Tagung, den Journalistinnen für die zugesagten Berichte aus den Arbeitsgruppen, Anett Schweitzer für die Redaktion der Tagungsdokumentation und allen weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kolleginnen und Kollegen, die sich heute ganz besonders einbringen. Wenn ich eingangs erwähnte, dass in der Diskussion über Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien meistens die Wahrnehmung von Problemen und Defiziten überwiegt, freue ich mich heute umso mehr, dass sowohl auf NDR 1 als auch in der HAZ und vom Hannoverschen Lokalfernsehen h1 über die Tagung bzw. die jungen Vorbilder und somit über gelungene Beispiele von Integration berichtet werden wird. Sehr geehrte Damen und Herren, Ihnen danke ich für Ihr Interesse an der Tagung „Vorbildlich! Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien“. Ich wünsche Ihnen einen informativen Vortrag, eine ebenso bewegungs- wie erkenntnisreiche Übung, spannende Gespräche in den Arbeitsgruppen und zwischendurch und nebenbei die eine oder andere interessante und nette Begegnung. Geleitwort des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff Foto: Nds. Staatskanzlei Liebe Mitwirkende, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, meine sehr geehrten Damen und Herren, in Niedersachsen leben Menschen aus 195 Nationen. Zuwanderer und die ihnen nachfolgenden Generationen sind aus unserem Alltag – aus unseren Schulen und Kindergärten, aus den Firmen, den Sportvereinen oder den Musikschulen – nicht mehr wegzudenken: Ohne sie wäre unser Land ärmer. Sie bereichern unser Leben mit ihrem Engagement, ihren Talenten und Traditionen. Die überwiegende Mehrheit der Migrantinnen und Migranten ist gut integriert. Sie haben ihren Platz in unserer Gesellschaft gefunden. Daneben gibt es allerdings auch diejenigen, die unserer Unterstützung bedürfen und von denen wir persönliche Integrationsanstrengungen nachdrücklich einfordern müssen. Die aktuelle politische Diskussion richtet sich im Wesentlichen auf die Bereiche, in denen gehandelt werden muss. Sie wird deshalb von den notwendigen Aspekten des Forderns und Förderns dominiert. Positive Integrationsverläufe geraten dabei mitunter etwas aus dem Blick. Dies gilt insbesondere für die Medienberichterstattung. Doch natürlich wissen wir, dass es viele in Niedersachsen lebende Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die vorbildlich integriert sind. Ich freue mich deshalb sehr, dass die Ausländerbeauftragte der Landesregierung mit der Tagung „Vorbildlich!“ einen etwas anderen Blick auf das Thema Integration richtet. In den Arbeitsgruppen werden heute Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien zu Wort kommen. Sie werden von eigenen Anstrengungen berichten und von Menschen, die ihnen auf ihrem bisherigen Lebensweg unterstützend zur Seite gestanden haben. Sie engagieren sich erfolgreich in der Schule, in der Ausbildung, in den Bereichen Sport oder Tanz und Theater – wie zum Beispiel die Jugendlichen von „sputnike <junge Kultur> im CJD Nienburg“. Andere haben das bürgerschaftliche Engagement für sich als bereichernde Tätigkeit entdeckt – wie zum Beispiel die Jugendlichen türkischer Herkunft, die sich im Projekt „gEMiDe“ ehrenamtlich engagieren und auch einheimische Mitmenschen unterstützen. „gEMiDe“ ist ein Modellprojekt zur Förderung des gesellschaftlichen Engagements von MigrantInnen und eingebürgerten Deutschen. Durch die Tagung „Vorbildlich!“ werden die Qualitäten und Kompetenzen der als Vorbilder eingeladenen jungen Menschen aus Zuwandererfamilien sichtbar. Ich wünsche mir viele weitere Veranstaltungen dieser Art – oder Projekte, durch die erfolgreiche Zuwanderer stärker ins Licht gerückt werden, damit sie auf andere als Vorbilder wirken können. Wenn Sie dazu Ideen haben, dann lassen Sie mich das wissen. Den Organisatorinnen der Veranstaltung „Vorbildlich!“ danke ich dafür, dass sie dem einen oder anderen Vorurteil die erfolgreichen Lebensläufe von Migranten und Spätaussiedlern sowie ihrer Nachkommen entgegensetzen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Zuwandererfamilien, die im Mittelpunkt der Tagung „Vorbildlich!“ stehen, sind die besten Beispiele dafür, dass Integration gelingen kann. Ihre Anstrengungen und ihre Zielstrebigkeit in Schule, Beruf oder Freizeit sind es, die anderen Mut machen können, sich den Herausforderungen der Integration zu stellen. Dafür spreche ich den eingeladenen Vorbildern – stellvertretend für viele andere Zugewanderte mit erfolgreichen Integrationsverläufen – meinen Dank und meine Anerkennung aus. Jugendberufshilfe und Migration – die zentralen Arbeitsbereiche der LAG JAW Foto: LAG JAW Dimitra Atiselli Die Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen (LAG JAW) ist ein Zusammenschluss verschiedener freier Träger, die sozialpädagogische und berufsbezogene Hilfen zur Integration und Verselbstständigung Jugendlicher und junger Erwachsener in Ausbildung, Beruf und Gesellschaft anbieten. Sie hat dabei immer die gesamte Lebenssituation der jungen Menschen im Blick und umfasst und verbindet Leistungen unterschiedlicher Art. Dabei ist sie in erster Linie Teil der Jugendhilfe gemäß § 13 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII). Die Jugendsozialarbeit unterstützt und fördert zugewanderte Jugendliche mit eigenständigen Integrationshilfen sowie mit Angeboten der Jugendberufshilfe, der schulbezogenen und geschlechtsspezifischen Jugendsozialarbeit und des Jugendwohnens. Im Folgenden werden insbesondere die Arbeitsbereiche Jugendberufshilfe und Migration beschrieben. Jugendberufshilfe und Jugendberufshilfe-Programme Die Jugendberufshilfe ist ein Handlungsfeld der Jugendsozialarbeit an der Schnittstelle von Jugendhilfe, Bildungs- und Sozialpolitik (Bildungsarbeit) und Arbeitsmarktförderung. Sie ist eine Verbindung aus sozial-, schulund berufspädagogischen Ansätzen und Methoden zur ganzheitlichen Förderung und zur beruflichen Qualifizierung. Sie wendet sich an alle jungen Menschen, die Schwierigkeiten beim Zugang zu Ausbildung und Erwerbsarbeit haben. Die Jugendberufshilfe ist dabei auf die Kooperation mit allen für die Ausbildung und Beschäftigung relevanten Akteuren angewiesen. Sie agiert in sozialräumlich vernetzten Strukturen und bildet einen traditionellen Schwerpunkt der Landesregierung innerhalb der niedersächsischen Jugendsozialarbeit. In den vergangenen Jahren ist das Konzept des Pro-Aktiv-Jugendprogramms zur Förderung der beruflichen Eingliederung benachteiligter junger Menschen in Niedersachsen entwickelt und umgesetzt worden. Die LAG JAW wurde vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit beauftragt, die dazu gehörenden 45 Pro-Aktiv-Centren und die über 100 Jugendwerkstätten im Land themenbezogen zu begleiten und bei ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen. Bis Ende 2006 haben insgesamt 44 niedersächsische Kommunen ein Pro-Aktiv-Center eingerichtet, so dass in Niedersachsen ein flächendeckendes Angebot für benachteiligte junge Menschen zur Verfügung steht. Bei der Umsetzung des Pro-Aktiv-Konzeptes spielen die Jugendwerkstätten eine wesentliche Rolle. Sie unterstützen die Eingliederungsaktivitäten der Pro-Aktiv-Centren, indem sie eine Brückenfunktion zur Eingliederung in Ausbildung und Beschäftigung oder weiterführende Qualifizierung wahrnehmen. Das Angebot der Jugendwerkstätten wird genau auf die Bedürfnisse der in den Pro-Aktiv-Centren betreuten jungen Menschen ausgerichtet. Ziel ist es, jeder und jedem Einzelnen eine erreichbare berufliche Perspektive zu eröffnen. Die jungen Menschen erhalten somit die Chance zu lernen, zu arbeiten und für die Zukunft leistungsfähig zu werden. Schwerpunkt Migration in der LAG JAW Nicht nur im Pro-Aktiv-Jugendprogramm bildet der Bereich Migration einen Schwerpunkt der Arbeit der LAG JAW. Insgesamt ein Drittel aller Jugendlichen, die von den Projekten der Landesregierung beraten, begleitet und qualifiziert werden, sind junge Menschen mit Migrationshintergrund. Die aus dem Migrationshintergrund junger Menschen resultierenden besonderen Potenziale, wie Zweisprachigkeit, erhöhte Flexibilität und Mobilität sowie Erfahrungen in interkulturellen Kontexten, sind wichtige Ressourcen im Integrationsprozess. Diese gilt es zu erkennen und für die Gesellschaft positiv nutzbar zu machen. Oft aber werden jugendliche Migrantinnen und Migranten ausschließlich als ein sozialpolitisches Problem wahrgenommen. Dabei wird meist übersehen, dass es bereits zahlreiche Integrationskarrieren in Niedersachsen gibt. Sie müssen nur deutlicher herausgestellt werden. Besonders für die jungen Migrantinnen und Migranten ist es wichtig, Vorbilder aus den eigenen Reihen und damit auch eine positive Orientierung für die eigene berufliche Zukunft zu haben. Die Zielsetzung des Arbeitsbereichs Migration im Rahmen des ProAktiv-Jugendprogramms beruht auf diesem Wissen und setzt den Schwerpunkt auf die Information und Qualifizierung von Fachkräften. Die LAG JAW sichert den Erfahrungsaustausch, bietet Fachberatung, informiert, stellt Arbeitsmaterialien zur Verfügung und gibt Impulse für die Weiterentwicklung von Konzepten und in der Beratungsarbeit. Die im Niedersächsischen Jahr der Jugend 2006 in Kooperation mit dem Büro der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen sowie dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit veranstaltete Tagung „Vorbildlich! Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien“ ist dafür ein Beispiel. Von Barrieren und Karrierechancen Anett Schweitzer Dem Motto der Tagung entsprechend kann auch der Werdegang Cemalettin Özers als „vorbildlich“ bezeichnet werden: Mit fünf Jahren aus der Türkei nach Werther in NRW eingereist, absolvierte er nach dem qualifizierten Hauptschulabschluss eine Ausbildung zum Elektroinstallateur, legte das Fachabitur ab und beendete sein Ingenieurstudium in der Regelstudienzeit mit dem Prädikat „sehr gut“. Im Mai 1998 gründeten er und sein Partner Fuat Atasoy ein Institut zur beruflichen Qualifizierung von Migrant/innen. Die MOZAIK gemeinnützige Gesellschaft für interkulturelle Bildungs- und Beratungsangebote mbH hat bereits zahlreiche innovative Ideen und interkulturelle Projekte erfolgreich umgesetzt und dafür bundesweite Auszeichnungen erhalten. Basierend auf seiner mehrjährigen Erfahrung entwickelten Özer und seine Mitarbeiter/innen ein Konzept, das sich an unterschiedliche Zielgruppen richtet und dabei verschiedene Angebote kombiniert. Einen Schwerpunkt bilden die Existenzgründungsund Unternehmensberatung für kleine und mittelständige Zuwandererbetriebe. Darüber hinaus bietet die MOZAIK gGmbH interkulturelle Kurse, interkulturelles Management sowie Unterstützung in Ausbildungsfragen an. Das zweite Tätigkeitsfeld der Consulting-Firma liegt in der Integrationsarbeit – besonders für arbeitslose Migrant/innen. Das Spektrum reicht von Qualifizierungsmaßnahmen, Bewerbungscoaching, Karriereberatung bis hin zur Vermittlung in Ausbildung und Arbeit. Als Good-Practice-Beispiel hierfür führt Özer eine Qualifizierungsmaßnahme zur EDV-Bürokraft für arbeitslose Mädchen und Frauen unter 25 Jahren aus zugewanderten Familien an. Diese wurde zwischen 1999 und 2003 fünfmal durchgeführt. Voraussetzung für die Teilnahme an den sieben- bzw. neunmonatigen Kursen war mindestens ein Hauptschulabschluss. Zu den Lerninhalten gehörten neben der EDV-Schulung unter anderem Deutschunterricht, Büroorganisation, Rechnungswesen sowie Zehn-Finger-Schreibtraining. Darüber hinaus erhielten die Teilnehmerinnen sozialpädagogische Begleitung und ein Bewerbercoaching. Insgesamt nahmen 104 Frauen aus 15 Herkunftsländern an der Qualifizierungsmaßnahme teil, von denen 61 danach einen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz fanden oder eine weiterführende Schule besuchten. Die Gründe für den Erfolg sieht Cemalettin Özer vor allem im Einsatz eines interkulturellen Konzepts und in der heterogenen Zusammensetzung der Gruppen mit Teilnehmerinnen unterschiedlicher Sozialisation sowie verschiedener Herkunftsländer und Schulabschlüsse. Somit liegt der kleinste gemeinsame Nenner auf der Verständigungssprache Deutsch. Des Weiteren sei es wichtig, für diese Kurse Lehrer/innen und Dozent/innen mit interkulturellen Kompetenzen – wie Kenntnis der Migrationshintergründe, Mehrsprachigkeit und besondere Sensibilität – zu gewinnen. Das berufliche Integrationskonzept muss auf den individuellen Potenzialen der Teilnehmerinnen – wie Sprach- und Kulturkenntnissen – aufbauen und nicht auf den bereits bekannten Defiziten, was meist nur zur Demotivation führe. Besonders positive Wirkung zeigt die Arbeit mit konkreten Vorbildern als Unterstützungselement. Barrieren gibt es nach Einschätzung Özers sowohl auf Seiten der Migrant/innen selbst als auch in der Mehrheitsgesellschaft. Hauptgrund für die meist schlechteren Schulabschlüsse und damit geringeren Chancen seien die Sprachdefizite. Hier mangele es grundsätzlich an geeigneten Schulkonzepten, die auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgerichtet sind. Ein weiteres Hindernis liege in der verstärkten Nutzung von muttersprachlichen Medi- en. Diese seien weder inhaltlich noch sprachlich gut gemacht; außerdem fehle darin oft der direkte gesellschaftliche Kontext, wie kommunale und regionale Informationen. Aber auch in den deutschen Medien gebe es wenig geeignete Formate für Migrant/innen. Die größten Hindernisse für Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund sieht Cemalettin Özer in den aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen, aber auch in den ungenügenden migrantenspezifischen Bildungsangeboten. Es fehle an interkulturellen Gesamtkonzepten von Kommunen und Schulen sowie an der interkulturellen Kompetenz der dortigen Berater/innen, Lehrer/innen und Personalverantwortlichen. Trotzdem gebe es sowohl national als auch international ganz konkrete Karrierechancen für junge Menschen mit Migrationshintergrund. Diese liegen beispielsweise in der Globalisierung und der damit verbundenen Mehrsprachigkeit. Auch die EU-Osterweiterung biete viele Möglichkeiten – zum Beispiel für zweisprachige Aussiedler/innen. National werden die beruflichen Aussichten für junge Migrant/innen vor allem durch die demographische Entwicklung bestimmt. In Deutschland leben 15,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die in nahezu allen Bereichen an Bedeutung gewinnen: Sie sind Wähler, Kunden für Produkte und Dienstleistungen, aber auch potenzielle Fachkräfte im derzeitigen Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Nicht zuletzt sind Migranten selbst Arbeitgeber. Bereits jetzt gibt es ungefähr 280.000 Zuwandererunternehmen mit ca. einer Million Mitarbeiter/innen. Sie stellen inzwischen einen eigenen Wirtschaftsfaktor mit weiterem Bedarf an zwei- bzw. mehrsprachigem Personal sowie ein Reservoir für die duale Berufsausbildung dar. Um Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund bessere Karriere- und Zukunftschancen zu bieten, bedarf es interkultureller Ansätze und Konzepte in allen gesellschaftlichen Bereichen: „Interkulturelle Kompetenz ist keine neuartige Qualifikation oder Fähigkeit, sondern eine Kombination sozialer, kognitiver und kommunikativer Kompetenzen gepaart mit Wissen und Reflexion über die eigene und andere Kultur/en“, so Özer. Als zukunftsorientierte Leitansätze empfiehlt er: vorheben der spezifischen Potenziale • verbesserte Teilnehmer/innenorientierung bei Angeboten 2. Interkulturelle Öffnung aller staatlichen, regionalen und kommunalen Handlungsfelder • wie Verwaltungen, Kammern, Unternehmen, Beratungs- und Bildungseinrichtungen • in der Personalentwicklung/Erhöhung des Fachpersonals mit Migrationshintergrund • verstärkte Förderung von Projekten für den interkulturellen Dialog von Zuwanderern und „Einheimischen“ 3. Interkulturelle Gremien • stärkere Partizipation von Migrant/innen und interkulturellen Expert/innen in fachlichen und politischen Gremien • inhaltliche und personelle Verankerung von Migration und interkultureller Kompetenz als Querschnittsthema 4. Implementierung des Potenzialansatzes • Förderung interkultureller Potenziale bei Bewerbungen • Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen von Jugendlichen und Eltern (u. a. mit Hilfe von Pat/innen, Vorbildern) • verstärkte Öffentlichkeitsarbeit bei Good-Practice-Beispielen 1. Einsatz interkultureller Konzepte in Bildungseinrichtungen • für Zugewanderte und „Einheimische“ • verstärkter Einsatz von Fachkräften mit interkultureller Kompetenz • Perspektivwechsel: Kompetenzstatt Defizitorientierung! Her- Foto: MOZAIK 5. Interkulturelle Fort- und Weiterbildung • u. a. für Lehrer/innen, Ausbilder/ innen, Berater/innen und Personalverantwortliche • durchgängige sowie berufsorientierte Sprachförderung und Einsatz von Lehrer/innen mit Kompetenz für „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) 10 Mit der Umsetzung dieser Leitsätze wäre auf dem Weg zur Integration Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund viel erreicht. Die Barrieren in Schule, Ausbildung und Beruf sowie allen anderen gesellschaftlich relevanten Bereichen würden abgeflacht und die Karrierechancen demzufolge größer, ist sich Cemalettin Özer sicher. Die Übung „Ich – Ich nicht“ Foto: Hoppenrath Oliver Trisch „Ich – Ich nicht“ ist der Titel einer Übung zum gegenseitigen Kennen lernen und zur Thematisierung von Gruppenzugehörigkeiten. Die Übung setzte bei der Tagung „Vorbildlich! Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien“ 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Bewegung: Tische und Stühle wurden an den Rand des Vortragssaales gestellt, es wurde je ein Schild mit der Aufschrift „Ich“ bzw. „Ich nicht“ angefertigt und links bzw. rechts des Raumes angebracht. Die in der Mitte der frei geräumten Fläche versammelten Tagungsgäste ordneten sich als Antwort auf vom Übungsleiter gestellten Fragen jeweils dem Schild „Ich“ oder „Ich nicht“ zu, das heißt, sie suchten die entsprechende Raumhälfte auf. Die Fragen waren im Vorfeld der Veranstaltung hinsichtlich der Zielgruppe und bestimmter Auswertungsaspekte zusammengestellt worden. Sie lauteten: 1. Wer ist Einzelkind? 2. Wessen Eltern leben zusammen? 3. Wer lebt in der Stadt in der er/sie geboren ist? 4. Wer spricht mehr als drei Sprachen so, dass er/sie sich verständigen kann? 5. Wer hat schon einmal auf einem Pferd gesessen? 6. Wer beschäftigt sich beruflich mit dem Thema Migration? 7. Wer besucht regelmäßig ein Gotteshaus? 8. Wer hat einen deutschen Pass? 9. Wer spielt gerne Fußball? 10.Wer hat gute Freunde, die einer anderen Religion angehören? 11.Wer hat in seinem Bekanntenkreis oder seiner Familie Menschen die lesbisch, schwul oder bisexuell sind? 12.Wer ist gerade verliebt? 13.Wer fühlt sich in irgendeiner Weise behindert? 14.Wer war schon mal Klassensprecher/in? 15.(Wer hat hier mal gelogen?) Die Fragen mussten durch entsprechende Zuordnung klar beantwortet werden. Die Möglichkeit, sich zwischen den beiden Polen „Ich“ und „Ich nicht“ zu platzieren, war ausgeschlossen. Allerdings: Fragen, bei denen sich jemand unwohl fühlte, durften im „Notfall“ auch mal falsch beantwortet werden. Nach den einzelnen Fragen war es wichtig, die sich immer wieder neu bildenden Gruppen eine kurze Zeit bestehen zu lassen und die Teilnehmenden von Zeit zu Zeit aufzufordern, sich zu vergegenwärtigen, wer jeweils in ihrer 11 Foto: Hoppenrath 12 Zum Abschluss gab es einige sehr gute Rückmeldungen von Seiten der Teilnehmenden, wie etwa: „In der Regel werden solche Dinge leider nicht gefragt“ (z. B. die Frage nach den Sprachkompetenzen) oder „Es ist ein gutes Gefühl zu erkennen, dass man bei bestimmten Dingen doch nicht alleine steht.“ Foto: Nitsch Gruppe ist, wer gegenüber steht und wie sich dies jeweils anfühlt. Die Übung „Ich – Ich nicht“ möchte verdeutlichen, wie viele verschiedene Gruppen innerhalb einer Gruppe bestehen. Dazu ist es nötig, den Blick aus unterschiedlichen Perspektiven auf eine vermeintlich homogene Gruppe zu richten. Je nachdem, mit welcher Fragestellung gearbeitet, mit welcher Brille geschaut wird, werden neue Gemeinsamkeiten und andere Differenzen sichtbar. Die Vielfalt innerhalb von Gruppen sowie die verschiedenen Zugehörigkeiten einer Person werden im Alltag, in Diskursen und in gesellschaftlich vorherrschenden Erklärungsmustern oft ausgeblendet. Vielfach sind es aber gerade diese Zugehörigkeiten, die dem Einzelnen viel bedeuten und eng mit der eigenen Identität verknüpft sind. Die Übung dient außerdem dazu, Kompetenzen herauszuarbeiten, die sonst eher unsichtbar bleiben. Am Ende bekamen die Teilnehmenden selbst die Möglichkeit, den anderen Fragen zu stellen, wurden dabei aber darauf hingewiesen, diese vorsichtig und sensibel für die Gruppe auszuwählen. Trotz der enormen Beteiligung von nahezu allen 200 Tagungsgästen war die Übungsphase von guter und konzentrierter Stimmung gekennzeichnet. Die Auswertung im Plenum war anregend und beinhaltete alle Aspekte, die die Übung aufzeigen wollte. Unterstützend dafür wurden folgende Fragen gestellt: • Wie war es alleine auf einer Seite zu stehen? • Wie war es auf der Seite mit vielen anderen? • Was ist euch aufgefallen? • Was hat euch überrascht? • Wie war es selber Fragen zu stellen? • Hatten die Fragen alle gleich viel Bedeutung für euer Leben? „Es macht Spaß, etwas Neues dazuzulernen“ Claudia Schanz, Referentin im Niedersächsischen Kultusministerium, stellt vier junge Vorbilder aus dem Bereich Schule und Hochschule vor: Katharina Ditte, Abdel-Latif Arouna, Angelina Frank und Linda Moreschi. Sie schildern zunächst kurz ihren persönlichen Werdegang. Angelina und Linda sind angehende Lehrerinnen und stehen kurz vor bzw. nach dem Abschluss ihres Studiums. Beide strahlen Selbstsicherheit aus und man spürt, dass sie sich in der Wahl ihrer Lebenswege bestätigt fühlen, zufrieden mit ihrem Platz im Leben sind. Katharina und AbdelLatif besuchen jeweils den gymnasialen Zweig einer Gesamtschule und werden dabei vom START-Programm der Hertie-Stiftung unterstützt. Katharina ist eher zurückhaltend und erinnert sich an die Unsicherheit, die sie zeitweilig über ihre Identität empfunden hat. Abdel-Latif gewinnt die Zuhörer sofort mit seiner offenen Art. Lebhaft schildert er die schwierigen Schritte, die er benötigte, um ein sinnvolles Lebensziel für sich zu erkennen. – Nach diesem ersten Eindruck bekommen die Zuhörer die Gelegenheit, sich mit Angelina, Linda, Katharina oder Abdel-Latif im kleineren Kreis intensiver zu unterhalten. Abdel-Latif hat zahlreiche Zuhörer um sich geschart und berichtet von negativen Erfahrungen, die er immer wieder aufgrund seiner Hautfarbe machte und von der rebellischen Aufsässigkeit, mit der er darauf reagierte. Die komplizierte Situation in seiner Familie war für ihn nicht leicht und es brauchte viel Selbstdisziplin und Energie für Abdel-Latif, um sich aus diesem Kreis von Rebellion und Ablehnung herauszukämpfen. Er stellt bildhaft dar, wie enttäuschend es war, auch von anderen Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgegrenzt zu werden, von denen er Verständnis und Hilfe erwartet. Erst seit er selbst die Initiative ergriffen Foto: Nitsch Stephanie Billib und an sich gearbeitet hat, ist jeder Kontakt leichter. Katharina erzählt vor allem von dem Jahr in Japan, das für sie eine große Hilfe war, ihre Identität zu begreifen. Die Erfahrung einer vollkommen anderen Kultur hat dazu beigetragen, dass Katharina die verschiedenen Bereiche ihrer Herkunft nicht als konkurrierend und sich ausschließend auffasst, sondern als sich ergänzende Teile ihrer Persönlichkeit. Neben dem Auslandaufenthalt empfindet sie auch das Konzept der Gesamtschule mit seiner guten Betreuung der einzelnen Schüler als wichtige Hilfe für ihre Entwicklung. Angelina wirkt gelassen, als sie erzählt, wie die Familie schon lange Zeit vor der Einreise nach Deutschland ihr Leben darauf ausgerichtet hatte. Wie das „gelobte Land“ sei Deutschland auch seither immer wieder empfunden worden. Die bewusste Ausrichtung auf ein deutsches Leben neben der Weltoffenheit der Eltern hat ihre Integration vielleicht erleichtert, überlegt sie. Vermehrte ablehnende Haltung mit Hinweis auf ihre Herkunft hat Angelina dazu gebracht, ihren Berufswunsch zu ändern und das Lehramtsstudium mit dem Schwer- 13 Vorbilder aus Schule und Hochschule: Foto: Nitsch 14 punkt Grundschule zu wählen. Damit folgt sie nun ihrem eigenen früheren Vorbild, ihrer Grundschullehrerin. Aus Lindas Schilderungen ist zu erkennen, dass sie sich bereits während ihres Politik- und Geschichtsstudiums intensiv mit ihrer eigenen Herkunft auseinandergesetzt hat. Als prägend empfindet sie die Begabung ihrer Mutter für Sprachen und deren Belesenheit, die dazu führte, dass Linda bereits früh regelmäßig in die Bücherei ging und viel gelesen hat. Sie scheint ihre Studienfächer aufgrund der eigenen Situation sehr bewusst gewählt zu haben und konnte den Studienwunsch trotz des anfänglichen Widerstands der Eltern durchsetzen. Inzwischen hat Linda sich entschieden, als Lehrerin andere Menschen mit den Erfahrungen verschiedener Kulturen zu unterstützen und zu fördern. Sie strahlt das unerschütterliche Bewusstsein aus, dass die Vielfältigkeit ihrer Familie durchaus positiv ist und sogar ein Vorteil sein kann. Bei allen vier Vorbildern wird deutlich, dass ein stabiles familiäres Umfeld wichtig ist, um eine eigene Identität zu entwickeln, die auch für andere eine prägende Ausstrahlung hat. Im abschließenden Plenum wird durch die Zuhörer zusammengetragen, was jeder einzelne für sich von diesen Vorbildern lernen und mitnehmen kann. Vielen sind die Bedeutung der eigenen Sprache und die Wichtigkeit interkultureller Bildung bewusst geworden. Auch die Erfahrung, dass man mit bestimmten Problemen nicht allein ist, wird deutlich. Die vier jungen Leute strahlen Mut aus und zeigen, dass mit einem festen Willen sehr viel erreicht werden kann. Aber dies betrifft nicht nur die Integration der Zuwanderer, sondern in gleichem Maße die übrige Bevölkerung. Schließlich bleibt der Wunsch, dass mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund dies erkennen und ihre Chancen nutzen. Ich wurde am 2. März 1990 in Lomé, Togo (Westafrika) geboren und lebte zunächst mit meiner Mutter und ihrer Großfamilie in einem Dorf in Ghana an der Grenze zu Togo. Dort sprach man Kokoli, so zu sagen meine Muttersprache. Mit zweieinhalb Jahren kam ich zu meinem Vater, zu dem ich bis dahin keinen Kontakt hatte. Er lebte mit seiner Großfamilie in Songo bei Lomé in Togo, wo die Sprache Hausa gesprochen wurde, meine „Vatersprache“. 1993 ging mein Vater zum Studium nach Deutschland, heiratete später eine deutsche Frau und holte mich 1995 nach. Ich wurde wieder mit einer neuen „Familiensprache“ konfrontiert und musste nun deutsch lernen. Ich besuchte den Kindergarten, die Grundschule, die Orientierungsstufe und absolviere zurzeit den gymnasialen Zweig der KGS StuhrBrinkum. Mein Vater und seine Frau haben sich vor einigen Jahren getrennt. Seitdem lebe ich bei meiner Stiefmutter, die inzwischen auch meine Pflegemutter ist. Zu meinem Vater habe ich regelmäßig Kontakt, zu meiner leiblichen Mutter nur sehr selten. In meiner Kindheit hatte ich viele traumatische Erlebnisse, die mich sehr prägten. Aus den negativen Erfahrungen habe ich aber auch viel gelernt und eine Kraft entwickelt, die mich positiv stimmt und stark macht. Ohne die Hilfe meiner Stief- und Pflegemutter hätte ich aber niemals die Chance gehabt, hier in Deutschland das zu werden, was ich jetzt bin. Sie war die Person, die mir die nötige Sicherheit gegeben hat und alles andere, was ich für meine Entwicklung brauchte. Nachdem ich meine psychischen und familiären Konflikte bewältigt hatte, unter denen ich bis zu meinem 14. Lebensjahr litt, war ich in der Lage, mich endlich ganz auf das Lernen zu konzentrieren. Ich habe in den letzten drei Jahren so viel gearbeitet, wie nie zuvor in meinem Leben, was dazu beitrug, dass ich inzwischen konstant gute Leistungen erbringe. Durch Wettbewerbe im sozialpolitischen Bereich sowie soziales Engagement in der Schule habe ich meinen Wirkungskreis vergrößert. Meine Foto: Arouna Abdel-Latif Arouna Abdel (rechts) mit Freunden in der Schule Motivation stieg mit meinem Wissen. Als mich meine Deutschlehrerin auf das START-Programm der Hertie-Stiftung für begabte Zuwandererschüler aufmerksam machte, bewarb ich mich und war erfolgreich. Jetzt erhalte ich ein Stipendium, das mich in meinem Bestreben wieder ein Stück weiter bringt. Für mich bedeutet Schule, mein Wissen gemeinsam mit meinen Freunden zu teilen und zu vermehren. Schule kann Spaß machen, ist aber oft auch stressig; doch dafür gibt es keine Langeweile. Meine Hobbys – Sport, Musik, Tanz – und mein soziales Engagement – Big Band, Schülervertretung, Wettbewerbe usw. – sind schöne Aktivitäten, die Spaß machen. Meine Willenskraft und meinen Mut einzusetzen, um meine Talente zu entwickeln, das ist mein Weg. Wobei mein Wille, etwas zu schaffen, die treibende Energie war und ist, mich in Deutschland zu integrieren. Für junge Leute habe ich folgende Empfehlung: Verliert in schwierigen Lebenssituationen nicht den Mut und die Lust am Lernen. Arbeitet immer weiter an eurem Ziel. Nutzt alle Chancen, die euch geboten werden und eignet euch Wissen an, wo immer es möglich ist. Gebt niemals auf! Mein persönlicher Wunsch ist es, mein Ziel geradlinig zu erreichen und mein Wissen weitergeben zu können, damit auch andere eine Chance haben. Vor allem wünsche ich mir jedoch eine bessere politische und wirtschaftliche Lage in meinem Heimatland Togo. 15 Katharina Ditte Ich besuche seit 1998 die Integrierte Gesamtschule Franzsches Feld. Diese Schule hat einen sehr guten Ruf – und ich habe großes Glück, denn den Lehrern liegt viel an der individuellen Entwicklung der Schüler. In der Ganztagsschule stehen außerdem spezielle Stunden für das Erledigen von Hausaufgaben unter der Aufsicht von Lehrern zur Verfügung. Dadurch konnte ich, ungeachtet von finanziellen Mitteln oder Kenntnissen meiner Eltern, meine Fähigkeiten weiterentwickeln. Meine Eltern haben mir immer genügend Liebe gegeben und Vertrauen geschenkt, mir aber auch Verantwortung für mich selbst übertragen. Dabei haben sie mich nie überfordert und immer versucht, mich so gut wie möglich zu unterstützen. Meine Schwester hat mich jederzeit an ihren Erfahrungen teilhaben lassen und meine intellektuelle Entwicklung gelenkt. Seit Oktober 2006 bin ich Stipendiatin der Hertie-Stiftung. Das STARTStipendium richtet sich an Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien und beinhaltet neben einem monatlichen Bildungsgeld auch ideelle Förderung in Form von Seminaren und Fortbildungen. Ich hatte bereits mehrere Gelegenheiten, von den Angeboten zu profitieren. So habe ich zum Beispiel an einer Rhetorik- und einer Computerschulung teilgenommen sowie an einem Assessment-Center-Training. Meine Ausbildung ist mir sehr wichtig, da dies der einzige Weg für mich ist, sozial aufzusteigen. Aber auch für die Entwicklung meiner Persönlichkeit ist die Aneignung von Wissen von großer Bedeutung. Die 16 Foto: Ditte geboren am 29. Oktober 1986 in Nikolaew, Ukraine, seit 1992 in Deutschland Kenntnis und Auseinandersetzung mit Literatur kann mir zum Beispiel Anregungen geben, mit Problemen im persönlichen Umfeld umzugehen oder in Diskussionen zu argumentieren. Außerdem macht es Spaß, Neues dazuzulernen und keinen Tag ungenutzt verstreichen zu lassen. Durch meine ehrenamtliche Arbeit bei der Jugendaustauschorganisation „AFS Interkulturelle Begegnungen e. V.“ sowie durch die Teilnahme an Wettbewerben und Seminaren (z. B. Economic Summer Camp) hatte ich die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Menschen zusammenzukommen, Wissen zu sammeln und mich weiterzuentwickeln. Auch mein Austauschjahr in Japan wurde mir vom AFS e. V. und von der Mercator-Stiftung, die mich mit einem Teilstipendium unterstützte, ermöglicht. Der Zufall spielte dabei aber keine unerhebliche Rolle. Zum einen hatte ich über Jahre hinweg, ohne es zu wissen, genau die Summe gespart, die trotz des Stipendiums für das Programm noch nötig war. Zum anderen begünstigte die Möglichkeit, in der Schule Japanisch zu lernen, meine Entscheidung für dieses Land. Am Ende war es eine großartige Erfahrung, die mich nachhaltig geprägt hat und für die ich heute sehr dankbar bin. Die Beschäftigungen im Bereich Kunst, Kultur oder Sport können sehr bedeutsam für eine erfolgreiche Integration sein, da sie nicht von Herkunft oder Sprachvermögen abhängen. Während meines Aufenthaltes in Japan war mir der japanische Schwertkampf (Iaido und Kendo) sehr wichtig, obwohl ich ihn erst während meines Austauschjahres kennen gelernt hatte und in Deutschland eher unsportlich war. Er hat mich von Anfang bis zum Ende meines Austauschjahres begleitet, mir Kraft gegeben und mir eines der wichtigsten Erfolgserlebnisse verschafft. Dank Unterstützung meiner Freunde und durch tägliches Training konnte ich den 1. Dan im Kendo bereits nach acht Monaten in Japan erreichen. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass der größte Gewinn aus den schwierigsten Lebensabschnitten kommt. Eine „Empfehlung“, die ich anderen jungen Menschen mit Migrationshintergrund geben kann, ist: Glaubt an euch selbst und verfolgt konsequent eure Ziele. Lasst euch nicht unterkriegen und hört nie auf, an euch selbst zu arbeiten. Mein Wunsch ist es, niemals die Menschen enttäuschen zu müssen, die an mich glauben. Angelina Frank Ich bin im September 1987 mit meinen Eltern und meiner Schwester als so genannte Russlanddeutsche aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik eingewandert. Einen Sprachkurs oder eine Sprachschule habe ich (wie damals üblich) nicht besucht. Stattdessen schickten mich meine Eltern in den normalen Schulunterricht, von wo aus ich anschließend immer in den Hort gegangen bin. So habe ich sehr schnell Deutsch gelernt, weil ich gleich von vornherein „ins kalte Wasser geworfen“ worden bin. Meine Grundschullehrerin hatte sehr viel Verständnis für meinen Migrationshintergrund. Das war gerade in den ersten Jahren in Deutschland eine sehr wichtige Erfahrung für mich, die mir zeigte, dass ich willkommen bin. Von da an wollte ich auch Lehrerin werden. Allerdings habe ich diesen Wunsch im Laufe meiner Schulzeit wieder verworfen. Nach dem Abitur hatte ich vor, eine Ausbildung als Mediendesignerin zu absolvieren. Da diese Branche jedoch sehr überlaufen ist, musste ich lange auf einen Platz warten. Das war eine harte Erfahrung. In dieser Zeit habe ich viele Jobs gemacht und mich weiterhin parallel um Ausbildungsstellen (auch in anderen Branchen) bemüht. Eines Tages erzählte mir eine Freundin, dass sie sich für einen Studienplatz zum Lehramt beworben habe. Das erinnerte mich an meinen Berufs- Foto: Hoppenrath geboren am 20. Mai 1980 in Almaty, Kasachstan wunsch aus der Grundschulzeit. Da ich nichts zu verlieren hatte, probierte ich das Gleiche. Und es hat wider Erwarten geklappt! Mittlerweile verfüge ich auch über Praxiserfahrung und weiß, dass ich genau das Richtige tue, dass dies mein Traumberuf ist. Meine Eltern haben mich nach ihren Möglichkeiten immer gefördert und mir geholfen, wo sie konnten. Ich habe mich von ihnen nie im Stich gelassen gefühlt. Meine ältere Schwester besuchte vor mir das Gymnasium, und mein Schwager hat ebenfalls studiert. Dadurch wurden diese Bildungswege auch für mich zu etwas Erreichbarem, das in meiner Alltagswelt einen festen Platz hat. Studieren zu dürfen ist für mich ein großes Privileg und eine Herausforderung zugleich (auch in Anbetracht der eingeführten Studiengebühren). Manchmal kann ich es selbst kaum fassen, dass ich mittlerweile fast 20 Jahre in Deutschland lebe und wie gut es mir geht. Ich bin glücklich und sehr dankbar für mein Leben und dafür, dass ich hier leben darf!!! Wenn ich trotzdem mal das Gefühl habe, mir wächst alles über den Kopf, erinnere ich mich daran, dass es mir auch schlechter gehen könnte. Wir sollten öfter dankbar sein und man sollte sich häufiger im Leben Ziele setzen und diese verfolgen. Nur so erreicht man etwas. Ich wünsche allen jungen Menschen, dass sie solchen Menschen begegnen wie meiner Grundschullehrerin. 17 Foto: Hoppenrath (2) Linda Moreschi 18 Ich wurde am 8. Juli 1977 in Prag geboren. Meine Mutter stammt aus der Tschechischen Republik, mein Vater aus Italien. Er arbeitete seit 1964 bei VW in Wolfsburg. Meine Eltern hatten 1976 in Prag geheiratet; zwei Jahre später folgten meine Mutter und ich ihm nach Wolfsburg. Dort besuchte ich später auch die Schule bis zum Abitur. 1997 begann ich an der TU Braunschweig ein Magisterstudium in den Fächern Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte. Das Thema meiner Magisterarbeit lautet: „Die Integrationspolitik der Stadt Wolfsburg – zwischen Sonderfall und integrationspolitischem Paradigma“. Nach dem Studium arbeitete ich zunächst als freie Mitarbeiterin im Stadtmuseum Wolfsburg und später als Projektleiterin der Ausstellung „A CASA A WOLFSBURG – BI WATANI FI WOLFSBURG – ZU HAUSE IN WOLFSBURG“ für das Ausländerreferat der Stadt Wolfsburg in Kooperation mit der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Im Anschluss daran entschloss ich mich, noch ein Lehramtsstudium in den Fächern Politik und Geschichte zu absolvieren. Die Examensprüfungen habe ich gerade abgeschlossen.* Bisher hatte ich in meinem Leben immer das Glück, Menschen zu treffen, die mich auf verschiedene Art unterstützten. Diese Menschen haben glücklicherweise meine Fähigkeiten erkannt, mich motiviert und mir weitergeholfen. Mit dieser Kraft „im Rücken“ sowie meinen erworbenen Qualifikationen ist es mir nun möglich, meinen Weg selbst bestimmt zu gehen. In besonderer Weise sind vor allem meine Lehrer auf der Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule eine große Unterstützung gewesen, aber auch die Schulform war sehr förderlich für meinen Lebens- bzw. Lernweg. Das diskursive Miteinander der SchülerInnen und LehrerInnen sowie die kontinuierliche Unterstützung durch meine Lehrer haben damals das Bewusstsein in mir geweckt, unbedingt studieren zu wollen – auch wenn dies nicht den Vorstellungen meiner Eltern entsprach. Sie wünschten sich für mich eine „solidere“ Ausbildung bei Volkswagen. In einer Stadt, in der viele ItalienerInnen und ihre Familien Arbeit und damals noch Sicherheit durch den Arbeitgeber Volkswagen fanden, konnten es meine Eltern zunächst nicht verstehen, dass ich Politik und Geschichte studieren wollte. Doch ich setzte mich durch, und sie respektierten letzten Endes meine Entscheidung. Es war nicht immer einfach, zwischen den Kulturen, in denen ich lebte und die meine Erziehung und Entwicklung prägten, eine Brücke zuschlagen. Zu Hause hieß Italien: italienisch sprechen, italienisch essen und italienische Erziehung, die ich immer als strenger erlebt habe, als die meiner deutschen Mitschüler. Auch in der Schule war ich die Italienerin, aber in Deutschland und auf einer deutschen Schule. In den Schulferien war ich dann für wenige Wochen die „Italienerin aus Deutschland“, die in ihrem Geburtsland der Tschechischen Republik die Familie besucht. Inzwischen haben mir Schule, Studium und Beruf die Möglichkeit gegeben, mich selbst zu verwirklichen. In Zukunft will ich als Lehrerin auch andere Jugendliche und junge Erwachsene gerade aus Zuwandererfamilien auf ihrem Weg unterstützen. Die Multikulturalität und die vielfältige Sprachkompetenz in meiner Familie empfinde ich als besondere Fähigkeit und einen wunderbaren Schatz. Diesen gilt es bei allen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund zu finden und zu heben. Dann können sich die besonderen Qualifikationen entfalten, die uns auszeichnen. Neben kompetenten Schatzsuchern bedarf es einer viel stärkeren Präsenz positiver Beispiele junger Menschen mit Migrationshintergrund, die es sozusagen „geschafft“ haben. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es nicht immer einfach ist, [s]einen Weg mit unterschiedlichen Kulturen und über die Hürden der Kulturen hinweg zu gehen. Ich hätte mir solche Vorbilder gewünscht. *Die Redaktion gratuliert zum Examen mit der Note 1,5. „Wer etwas wirklich erreichen möchte, schafft es auch“ Mirjana Ilić Junge Zuwanderer haben es auf dem ohnehin hart umkämpften Ausbildungsmarkt oft doppelt schwer. Doch ein Migrationshintergrund verurteilt nicht von vornherein zum Scheitern. Die Vorbilder aus dem Bereich „Ausbildung und Beruf“ haben gezeigt, dass dies auch ein Vorteil und Ansporn sein kann. Unter der Moderation von Gerhard Wienken von der Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen erzählten acht junge Erwachsene über ihren mitunter steinigen Weg bis zur Ausbildung und dem späteren Beruf. Eines hatten alle gemeinsam: Wenige von ihnen hatten echte Vorbilder, aber alle haben – in verschiedener Form – Unterstützung erhalten. Andrej Karri war bereits 16, als er mit seiner Familie aus Kasachstan in die Bundesrepublik übersiedelte. Das Schulsystem war ihm vollkommen fremd, auch mit der Sprache haperte es. Er wiederholte die neunte Klasse und lernte parallel dazu Deutsch. Danach entschied er sich für ein Studium bei der Polizei in Niedersachsen. Sein Vorbild war ein Onkel in Kasachstan, der ebenfalls Polizist ist. Er arbeite gern mit Menschen und seine Russischkenntnisse seien schon oft von Vorteil gewesen, berichtet Andrej Karri. Obwohl es anfangs schwer für ihn war, hat er seine Ziele mit Hilfe seines Ehrgeizes, seiner Deutschlehrerin und seiner Eltern erreicht. Seine Kollegin Olga Zimmermann hatte es da etwas einfacher. Sie kam im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie aus Tadschikistan nach Deutschland und sprach bereits durch das Elternhaus deutsch. Nach dem erweiterten Realschulabschluss machte sie eine Ausbildung zur Bauzeichnerin, arbeitete einige Jahre in diesem Beruf. Danach kam sie auf gleichem Wege zur Polizei wie Andrej. Für sie war es wichtig, sich nicht nur in die Gesellschaft von Spätaussiedlern zurückzuziehen. Für zugewanderte Jugendliche wünscht sie sich mehr Förderprogramme und Projekte. Der große Traum vom Profisportler erfüllte sich für Murat Sünnetci aus Melle nicht. Nach einem Unfall kann der Sohn türkischer Gastarbeiter keine schwere körperliche Tätigkeit mehr verrichten. Nach dem Hauptschulabschluss jobbte er, machte verschiedene Praktika. Schließlich fand er mit der Unterstützung von Kristina Möller von der kommunalen Arbeitsvermittlung „MaßArbeit“ eine Festeinstellung bei „Starbucks“. Die Arbeit gefällt dem aufgeweckten 22Jährigen; doch damit begnügt er sich nicht. Er möchte sich zum Schichtführer hocharbeiten und später Assistent der Filialleitung werden. Sein Optimismus hat ihm über schlechte Zeiten hinweggeholfen. Auch Sevgi Ayes hat sich ihren eigentlich Berufswunsch – Kosmetikerin – nicht erfüllen können. Nach dem erweiterten Hauptschulabschluss suchte die junge Frau türkischer Herkunft jahrelang nach einem Ausbildungsplatz. Mit Hilfe von Monika Thölking von „MaßArbeit“ in Melle fand sie eine Ausbildungsstelle zur Friseurin. Der Beruf sagt der 22-Jährigen zu. Sie ist sehr ehrgeizig und möchte „so 19 gut wie möglich sein“. Ohne Unterstützung von außen hätte sie es nicht geschafft, sagt sie. Ihr starker Wille habe zum Erfolg beigetragen. Aufgrund ihrer herausragenden Leistungen wird ihre Ausbildungsdauer verkürzt werden. Bilal Zeyno ließ sich von Rückschlägen ebenso wenig aufhalten, wie die anderen Vorbilder. Der gebürtige Wilhelmshavener türkischer Abstammung suchte nach dem Realschulabschluss und zwei Berufsbildenden Schulen lange Zeit erfolglos nach einem Ausbildungsplatz im Informatik-Bereich. Dass so viele Absagen kamen, führt der 22-Jährige auf seine mittelmäßigen Noten, aber auch auf seine ausländische Herkunft zurück. Schließlich fand er eine Ausbildungsstelle als Einzelhandelskaufmann in einem Rasiererfachbetrieb und ist froh darüber. Bei seiner Suche war er meist auf sich alleine gestellt und hat sich dennoch nicht entmutigen lassen. Jungen Menschen mit Migrationshintergrund legte er ans Herz, an sich zu glauben und zielstrebig zu sein. Ganz andere Voraussetzungen hatte die 27-jährige Bedriye Özden. Sie ist in der Süd-Ost-Türkei geboren und hat dort nur fünf Jahre lang eine Schule besucht. Die Eltern flüchteten vor politischer Verfolgung nach Deutschland. Bedriye reiste nach, als sie 15 Jahre alt war. Nach einem Sprachkurs war es ihr möglich, den Realschulabschluss zu schaffen. Bei der schwierigen Suche nach einem Ausbildungsplatz in ihrem Traumberuf Krankenschwester halfen ihr neben ihrer Familie vor allem die Mitarbeiter von Migra-RABaZ in Celle. Diese Anlaufstelle für langzeitarbeitslose Jugendliche mit Migrationshintergrund habe sie sehr unterstützt, als sie nicht mehr weiterwusste. Schließlich fand sie eine Ausbildungsstelle im Celler Krankenhaus, wo ihre Türkisch- und Kurdischkenntnisse oft von Nutzen sind. An die Anwesenden appellierte sie, die Möglichkeiten zu nutzen, die gegeben sind und niemals aufzugeben. Wer etwas wirklich erreichen möchte, schaffe es auch. „Wenn du bleiben willst, musst du die Sprache können und Arbeit haben“, sagt Samiullah Achmed. Er kam 1999 aus Pakistan nach Deutschland, wo sein Vater als anerkannter Flüchtling lebte. In Pakistan hatte Samiullah die zehnte Klasse abgeschlossen 20 und war mit 17 Jahren zu alt für die deutsche Hauptschule. Nach einem Deutschkurs fing er ein Berufsvorbereitungsjahr an, wechselte aber schnell ins Berufsgrundbildungsjahr Metalltechnik – aufgrund hervorragender Leistungen. Danach erhielt er prompt einen Ausbildungsplatz zum Kfz-Mechaniker. Während der gesamten Zeit betreute ihn die Regionale Arbeitsstelle zur beruflichen Wiedereingliederung junger Menschen in Niedersachsen (RAN). Samiullah wurde als einziger Azubi von seinem Ausbildungsbetrieb übernommen. Er versteht sich ausgezeichnet mit den Kollegen. Nebenher fungiert er als Peerworker bei der RAN und unterstützt ehrenamtlich junge Migranten. Er spricht bemerkenswert gut deutsch und fasst am Ende zusammen: „Ich fühle mich hier sehr wohl. Wo man sich wohlfühlt, ist man zu Hause“. Auf ihrem Berufsweg hart hochgearbeitet hat sich Naciye ÇelebiBekta¸s. Die Kurdin kam mit elf Jahren nach Deutschland und musste aufgrund fehlender Deutschkenntnisse die fünfte Klasse wiederholen. Nach dem Hauptschulabschluss wurde Naciye Friseurin und arbeitete fünf Jahre in diesem Beruf. Später studierte sie an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, an der man auch ohne Abitur studieren kann, und schloss ihr Studium als DiplomSozialökonomin in weniger als der Regelstudienzeit ab. Ihre Eltern motivierten sie immer wieder, vor allem ihre Mutter. Naciye Çelebi-Bekta¸s stieg nach dem Studium als Sozialarbeiterin in einer Beratungsstelle für Zuwanderer ein und machte sich bald selbstständig. „Ich finde es wichtig, als Frau mein eigenes Geld zu verdienen“, betonte die 28-Jährige. Gleichzeitig verlangte sie nach mehr Vorbildern. Ihre seien Politikerinnen kurdischer Herkunft gewesen. Die vorbildlichen Referentinnen und Referenten haben den anwesenden jungen Zuwanderern durch ihre beeindruckenden Lebensgeschichten gezeigt, dass die Erfüllung des Berufswunsches kein Traum bleiben muss. Unterstützung von außen, Ehrgeiz, ein unerschütterlicher Glaube an sich selbst und nicht zuletzt gute Deutschkenntnisse und Noten sind die Mischung, die zum beruflichen Erfolg führen. Vorbilder in der Ausbildung und im Beruf: Andrej Karri Ich bin am 24. Februar 1997 mit meiner Familie nach Deutschland eingereist. Die ersten beiden Monate habe ich einen Intensiv-Sprachkurs besucht und bin danach in Berlin auf die Gesamtschule in die 9. und 10. Klasse gegangen. Dort erhielten Spätaussiedler zusätzlichen Unterricht in Deutsch bzw. Englisch. Dieses intensive Lernen der deutschen Sprache hat mir sehr geholfen, meine weitere schulische und berufliche Laufbahn zu meistern: Von 1999 bis 2002 habe ich in Berlin das Abitur gemacht und war danach in Hagenow-Land als Mörserschütze bei der Bundeswehr. Im Anschluss daran begann ich ein Studium bei der Polizei in Niedersachsen, das ich in diesem Jahr abgeschlossen habe. Am 1. Oktober 2006 wurde ich in die Verfügungseinheit der Polizeiinspektion Garbsen versetzt. Meine Eltern leben und arbeiten noch immer in Berlin; meine Schwester ist inzwischen in München. Am wichtigsten für meine Integration in Deutschland war das eigene Interesse, alles für mich Neue hier kennen zu lernen und möglichst schnell gute schulische Ergebnisse zu erzielen. Dabei war mir vor allem meine Deutschlehrerin, Frau Nina Sohr, eine große Hilfe. Aber auch meine Eltern haben mich immer unterstützt, insbesondere bei der Entscheidung, zum Studium nach Niedersachsen zu gehen. Der Weg in Deutschland war nie einfach. Es gab immer Schwierigkeiten, sowohl im privaten als auch im schulischen Leben – die Sprache musste erst erlernt und ein Freundeskreis aufgebaut werden. Am wichtigsten war für mich dabei das eigene Engagement. Man muss sich immer über das aktuelle und das zukünftige Leben Gedanken machen. Deutschland bietet unbegrenzte Möglich- Foto: Hoppenrath geboren am 9. Dezember 1980 in Bolschaja Wladimirowka, Kasachstan keiten, sich eine „schöne“ Zukunft aufzubauen und dies sollte man immer als Hauptziel im Kopf haben. Es ist nirgendwo auf der Welt einfach. – Außerdem sollte man sich nicht alles zu sehr zum Herzen nehmen. Mein Motto lautet: Man muss auch noch Spaß am Leben haben! 21 Foto: Zimmermann Olga Zimmermann geboren am 21. Dezember 1978 in Duschanbe, Region Tadschikistan, Russland Wir – meine Eltern, meine zwei Brüder, meine Großmutter und ich – sind am 19. März 1989 auf Grund der deutschen Herkunft meiner Familie nach Hannover eingereist. Meine Kindheit sowie mein Schul- und Ausbildungsweg sind im Großen und Ganzen ohne Schwierigkeiten verlaufen, man könnte sagen „sehr glatt“. Entscheidend für meine persönliche Entwicklung, war die insgesamt sehr klassische und eher strenge Erziehung durch meine Eltern und meine Oma. Meinen Geschwistern und mir wurden immer Grenzen und Richtlinien aufgezeigt, an die wir uns zu halten hatten, was ich damals nicht immer als gerecht empfand. Rückblickend gesehen war es jedoch das Beste, was mir passieren konnte. Von Vorteil für meine Integration in Deutschland war sicherlich, dass meine ganze Familie bei der Einreise in die Bundesrepublik keine Sprachschwierigkeiten hatte, da meine Brüder und ich schon in Russland zweisprachig aufgewachsen sind. Somit 22 waren Sprachkurse oder andere Förderprogramme nicht notwendig. Rückschläge und ernsthafte Schwierigkeiten aufgrund meiner Integrationsgeschichte kann ich in meinem bisherigen Lebensweg nicht verzeichnen. Es ist eher so, dass ich in meinem jetzigen Dienst Vorteile durch meine Russischkenntnisse habe. Das einzige Mal, dass in meinem Leben etwas nicht „nach Plan“ lief, war die Kündigung in meinem ersten Beruf. Ich hatte zunächst eine Ausbildung als Bauzeichnerin absolviert und arbeitete in einem Architektenbüro. Mein Arbeitgeber musste mich jedoch nach ca. zwei Jahren entlassen, weil die Auftragslage so schlecht war. Es gab aber kaum andere Stellen für Bauzeichner und auch alle anderen Bewerbungen, die ich geschrieben hatte, kamen zurück. So entschloss ich mich, bei der Polizei einen neuen Berufsweg einzuschlagen. Ich habe sehr gerne als Bauzeichnerin gearbeitet und bin mir sicher, dass ich immer noch in diesem Beruf arbeiten würde, wenn mir nicht gekündigt worden wäre. Im Nachhinein erweist sich dies aber als ein glücklicher Zufall! Heute empfinde ich einen gewissen Stolz, das Studium zur Polizeikommissarin an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege bestanden zu haben, obwohl ich beim Lernen sehr oft am Verzweifeln war und nicht immer daran glaubte, es wirklich zu schaffen. Jetzt bin ich sehr zufrieden, meinen Traumberuf gefunden zu haben und genieße auch ein wenig die soziale Sicherheit als Beamtin. Neuzuwanderern empfehle ich, unbedingt Deutsch zu lernen. Das Beherrschen der Landessprache ist das Wichtigste auf dem Schul- und Berufsweg. Auch die Gewinnung deutscher Freunde und Kollegen ist von großer Bedeutung. Man sollte sich nicht nur unter seine „Landsleute“ verkriechen. Außerdem ist es wichtig, immer ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, das man im Leben erreichen möchte. Damit dies gelingt, wünsche ich mir mehr und bessere Förderprogramme, Sprachkurse und Präventionsprojekte für Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien. Murat Sünnetci geboren am 9. Dezember 1984 in Dortmund, Deutschland beit bei Starbucks läuft sehr gut und macht Spaß. Es gefällt mir, ständig mit Menschen in Kontakt zu sein. Inzwischen habe ich mich so gut eingearbeitet, dass ich zum Schichtleiter aufsteigen möchte und mich danach gern zum Assistenten der Geschäftsleitung weiterqualifizieren würde. Der größte Rückschlag in meinem Leben war der Unfall. Trotzdem darf man niemals aufgeben. Mein Motto lautet: „Wenn eine Tür zugeht, dann öffnet sich auch irgendwo wieder eine“. Foto: Thölking Seit dem 1. Juni 2006 arbeite ich als Barista (im Servicebereich) der Starbucks Coffee Deutschland GmbH in Osnabrück. Damit habe ich nach langem Suchen meinen Traumberuf gefunden. Der Weg dorthin war alles andere als leicht. Ich bin der älteste von vier Geschwistern. Meine Eltern kamen Anfang der 1980er Jahre aus der Türkei in die Bundesrepublik, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Inzwischen ist mein Vater arbeitslos. Auch meine Schwester findet trotz abgeschlossener Ausbildung zur Verkäuferin keine Arbeit. Die beiden jüngeren Geschwister gehen noch zur Schule. Momentan bin ich der Alleinverdiener und muss viel Verantwortung für die Familie tragen. Eigentlich wollte ich Profisportler werden, konnte mich aber lange nicht entscheiden, ob als Fußball- oder als Tischtennisspieler. Diese Gedanken erübrigten sich nach einem schweren Unfall im Jahre 2002. Seitdem ist meine Lunge nicht mehr voll funktionsfähig, und ich darf mich körperlich nicht allzu sehr anstrengen. Ich begann zunächst eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, die ich jedoch abbrach, weil ich damit nicht zurechtkam. Eigentlich wollte ich lieber gleich „richtig“ arbeiten und Geld verdienen, möglichst ohne Ausbildung. So übernahm ich zahlreiche Helfertätigkeiten bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen, die ich jedoch meistens nach relativ kurzer Zeit wegen gesundheitlicher Probleme wieder beenden musste. Ab Mai 2005 wurde ich von Frau Möller von der MaßArbeit Außenstelle in Melle betreut. Wir überlegten erst einmal gemeinsam, was überhaupt für mich in Frage kommt. Denn nach meinem Unfall gibt es nicht mehr viele Bereiche, in denen ich arbeiten kann. Trotzdem habe ich nie aufgegeben und immer wieder versucht, mich zu motivieren. Die Ar- 23 Meine Großeltern kamen in den 1970er Jahren mit meinem Vater und seinen fünf Brüdern aus der Türkei in die Bundesrepublik, um sich eine bessere Lebensgrundlage zu schaffen. Sie kehrten zehn Jahre später mit ihrem jüngsten Sohn wieder in ihre Heimatstadt Samsun im Schwarzmeergebiet zurück. Die anderen Söhne, unter ihnen mein Vater, blieben in Deutschland – meinem Geburtsland. Ich kam am 6. Oktober 1984 in Itzehoe zur Welt. Von 1991 bis 2002 besuchte ich verschiedene Schulen im Meller Raum und beendete die Allgemeinbildende Schule mit dem Sekundarabschluss. Anschließend ging ich von 2002 bis 2004 auf die Berufsfachschule Wirtschaft und schaffte dort den Realschulabschluss. Danach bekam ich lange Zeit keine Lehrstelle. Am liebsten wäre ich Kosmetikerin geworden, was leider nicht klappte. Aber Frau Thölking von der Beschäftigungsinitiative MaßArbeit in Melle half mir, zunächst ein Praktikum und ab 1. August 2005 sogar einen Ausbildungsplatz als Friseurin zu finden. Die Arbeit macht mir viel Spaß. Mein Ausbilder sagt, ich sei sehr begabt. Er möchte, dass ich auf Grund meiner guten Leistungen die Ausbildungszeit um ein halbes Jahr verkürze. Seit mein Vater unsere Familie verlassen hat, halten meine Mutter, meine Geschwister und ich noch mehr zusammen. Wir tragen gemeinsam zum Lebensunterhalt bei. Mein älterer Bruder Mohammed ist 25 und hat gerade bei einer Meller Firma einen unbefristeten Arbeitsvertrag als Holzmechaniker bekommen. Muhammer hat trotz guter Noten erst nach zweijähriger deprimierender Suche einen Ausbildungsplatz zum Industriemechaniker gefunden. Seyban, meine jüngste Schwester, ist zehn und geht zur Schule. Ich versuche so gut es geht, ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. Meine Mutter wuchs in der Türkei auf und wurde als Mädchen von ihrer Familie nicht in ihrer persönlichen und schulischen Entwicklung unterstützt, eher behindert. Sie ist 24 Foto: Thölking Sevgi Ayes Analphabetin und wurde jung verheiratet. Deshalb hat sie bei uns immer großen Wert auf eine gute Ausbildung gelegt. Zurzeit absolviert sie einen Deutschkurs, der sie hoffentlich weiter bringen wird. Ich bin sehr stolz auf meine Mutter. Sie ist ein sehr kluger und selbstständiger Mensch und für mich ein großes Vorbild. – Auf Grund ihrer und meiner eigenen Erfahrungen hat das Lernen einen hohen Stellenwert für mich, prägte mein Bedürfnis, mich beruflich und auch persönlich weiterzuentwickeln. Ich wünsche mir, selbstständig und stark zu sein. Anderen jungen Leuten mit ähnlichen Erfahrungen kann ich nur empfehlen, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen und diese in jedem Fall anzunehmen. Man muss trotz aller Widerstände und Rückschläge weitermachen und darf sich nicht „hängen lassen“. Bilal Zeyno Meine Eltern sind vor 40 Jahren als Gastarbeiter in die Bundesrepublik gekommen, haben jedoch – wie viele Einwanderer dieser Generation – nie richtig Deutsch gelernt. Auf Grund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse waren sie nicht in der Lage, mir bei schulischen Problemen Hilfestellung zu leisten und wussten auch nichts von den Möglichkeiten wie Nachhilfe oder ähnlichem. Sie versuchten aber, mich und meine fünf Geschwister durch Motivation zum Lernen zu bewegen. Dies fiel mir nicht immer leicht. Aus dieser Situation heraus bin ich es gewohnt, meinen Weg eigenständig zu bestreiten. In der Grundschule nahm ich – wie die anderen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund auch – am Förderunterricht teil, der jedoch in der Orientierungsstufe nicht fortgesetzt wurde. Später bekam ich durch den Kurs „Textverarbeitung“ die Möglichkeit, mit dem Computer zu arbeiten. Diese Erfahrung weckte in mir das Interesse an Technik. An der BBS wählte ich deshalb Fächerkombinationen, in denen ich mein diesbezügliches Wissen vertiefen konnte. Nach Abschluss der schulischen Laufbahn gestaltete sich meine Suche nach einem Ausbildungsplatz recht problematisch. Ich gehe davon aus, dass meine ausländische Herkunft und meine nur durchschnittlichen Leistungen dazu beigetragen haben. Glücklicherweise ließ sich mit Hilfe der GAQ (Pro-Aktiv-Center) letztendlich ein Betrieb finden, der mir eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann im Rasiererfachbetrieb ermöglicht. Damit gewinne ich sowohl wirtschaftliche als auch technische Kenntnisse. Durch die Ausbildung befinde ich mich nun in einer Phase des beruflichen Fortschritts. Jungen Menschen mit Migrationshintergrund rate ich, sich von Rückschlägen nicht negativ beeinflussen zu lassen. Entmutigung legt einem nur noch einen weiteren Stein in den Foto: Zeyno geboren am 29. Juli 1984 in Wilhelmshaven, Deutschland Weg. Vor allem ist auf die schulische Ausbildung und Qualifikation zu achten, möchte man in den erwünschten Beruf einsteigen. Zentral ist auch die Stabilisierung des sozialen Umfelds, denn nur durch psychische Ausgeglichenheit lässt sich beruflicher Erfolg verwirklichen. Ich wünsche mir mehr Zielstrebigkeit und Ehrgeiz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und weniger vorurteilsbehaftetes Handeln und Denken von jedermann. GAQ = Gesellschaft für Arbeitsvermittlung und Qualifizierungsförderung 25 Foto: Hoppenrath Von links: Andrej Karri, Bedriye Özden und Bilal Zeyno Bedriye Özden Ich bin am 25. Mai 1979 in Besiri, Türkei geboren. Mein Bruder und ich sind im Oktober 1994 nach Deutschland eingereist und leben in Celle. Die Grundschule habe ich in der Türkei besucht. Nach meiner Einreise habe ich in Celle zunächst die Förderklasse der Neustädter-Hauptschule, dann die Berufsschule sowie die Berufsfachschule besucht, die ich mit dem Realschulabschluss beendete. Von 1996 bis 1999 absolvierte ich sechs verschiedene Praktika – unter anderem als Erzieherin in einer Kita, als Altenpflegerin und Arzthelferin, aber auch als Raumgestalterin und Floristin. Im August 2001 begann ich meine dreijährige Ausbildung im Allgemeinen Krankenhaus Celle, wo ich seit September 2004 als Krankenschwester in der Unfallchirurgischen Abteilung arbeite. Meine privaten Interessen sind Musik hören, kochen und Fahrrad fahren. Außerdem lese ich gern Literatur zu den Themen Migration und Gesundheit. Wir sind mit zehn Geschwistern eine große Familie. Meine Eltern wa- 26 ren in der Türkei überwiegend in der Landwirtschaft tätig. Ich aber wollte schon immer Krankenschwester werden. Dieses Ziel habe ich nun am Ende eines langen Weges erreicht. In diesem Prozess habe ich neben meiner Familie von der ehemaligen Migra-RABaZ-Stelle (jetzt PACE) in der Arbeiterwohlfahrt in Celle sehr viel menschliche und fachkompetente Unterstützung erhalten. Die Hilfestellung war nicht nur auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz beschränkt, sondern hielt auch während und nach meiner Ausbildung an. Mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort konnte ich über schulische und berufliche Dinge und vieles mehr sprechen. Sie hören einem zu und helfen, wo es nötig ist. Beratungsstellen wie zum Beispiel RABaZ, Migra-RABaZ, PACE sind genau das Richtige für Jugendliche, die etwas schaffen wollen und dabei Hilfe brauchen. Mein Wunsch wäre, dass es solche Angebote – besonders für Jugendliche wie mich, die erst relativ spät nach Deutschland gekommen sind und mehr Unterstützung brauchen – in allen Städten gibt. RABaZ = Regionale Arbeits- und Bildungsangebote für die Zukunft langzeitarbeitsloser Jugendlicher Migra-RABaZ = s. o., speziell für Migrantinnen und Migranten RAN = Regionale Arbeitsstelle zur beruflichen Eingliederung junger Menschen in Niedersachsen PACE = Pro-Aktiv-Centren Samiullah Ahmed laufen“ anhört. Der Zusammenhalt der Familie und Verwandtschaft ist hier anders als in Pakistan. Ich bzw. wir als Familie waren sehr auf uns gestellt und mussten uns durchkämpfen. Deshalb hatte ich schon frühzeitig viel Verantwortung für die Familie. Aber letztlich habe ich immer Unterstützer gefunden und mir auch die Unterstützung geholt, die ich brauchte. Ich bin der Meinung, dass da, wo ich wohne, auch meine Heimat, mein Zuhause ist. Aus diesem Grunde muss ich mich hier in Deutschland einlassen und mitmachen. Mein Wunsch ist, dass meine Familie glücklich ist und wir hier vernünftig leben können. RAN = Regionale Arbeitsstelle zur beruflichen Eingliederung junger Menschen in Niedersachsen Foto: LCV Oldenburg Ich wurde am 22. März 1982 in Gurjat, Pakistan geboren und bin der Zweitälteste von fünf Geschwistern. In Pakistan habe ich die Government High School besucht und mit dem Sekundarabschluss nach Klasse 10 beendet. Wir gehören der Religionsgemeinschaft der Ahmady an, die in Pakistan nicht geduldet wird. Deshalb ist mein Vater bereits Anfang der neunziger Jahre nach Deutschland geflohen, wo er als Flüchtling anerkannt wurde. Im November 1999 sind wir – meine Mutter und meine Geschwister – im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen. Damals war ich 17 Jahre alt und sprach kein Wort Deutsch. Über Herrn Beermann von der RAN-Stelle im Landkreis Vechta bin ich in einen Sprachkurs gekommen. Wir haben dann auch gemeinsam die weiteren Schritte für meine berufliche Integration besprochen und geklärt: Zunächst war ich im Berufsgrundbildungsjahr Metalltechnik an der Berufsschule in Lohne. Dort habe ich den Abschluss zwar nicht geschafft, mich aber trotzdem um Ausbildungsplätze als Kfz-Mechaniker und als Metallbauer beworben. Ich habe nur fünf Bewerbungen geschrieben, hatte drei Vorstellungsgespräche und war am Ende erfolgreich. Nach einem Praktikum beim Autohaus Anders konnte ich dort im August 2001 meine Ausbildung beginnen. Im Januar 2005 habe ich diese dann erfolgreich abgeschlossen und konnte als einziger Lehrling in der Firma bleiben. Die RAN-Stelle und Herr Beermann waren in den vergangenen Jahren immer Ansprechpartner für mich. Ich konnte mit allen Fragen und Problemen dort hingehen, und wir haben versucht, diese zu lösen. Auch in der Firma bin ich immer gut angenommen worden und habe in allen Situationen die Unterstützung meines Chefs, meines Meisters und der Kollegen erfahren. Weiterhin wichtig ist für mich unsere Religionsgemeinschaft der Ahmady, wo ich Halt und Unterstützung finde. Die ersten Jahre in Deutschland waren nicht immer einfach für mich, auch wenn es sich bisher so „glatt ge- Von links: Hauke Anders vom gleichnamigen Autohaus in Vechta, Samiullah Ahmed und Ansgar Beermann vom „Projekt RAN“ des Vechtaer Caritas-Sozialwerks. 27 Foto: Hoppenrath (2) Naciye Çelebi-Bektaş 28 Vielfalt und Anderssein sind positive Ressourcen. Eigenschaften wie Mehrsprachigkeit oder Multikulturalität können im Integrationsprozess vorteilhaft sein und in der „neuen Heimat“ auf unterschiedliche Weise genutzt werden: zum besseren Verständnis der Migranten und als positiver Baustein für eine multikulturelle Gesellschaft. Ich bin als Kurdin in der Türkei aufgewachsen und mit elf Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung zu meinem Vater eingereist. Er war bereits in den sechziger Jahren als Gastarbeiter in die Bundesrepublik gekommen und hat viele Jahre seines Lebens einen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland geleistet. Die Grundschule absolvierte ich in der Türkei und wurde hier zunächst in eine „Ausländerklasse“ an der Hauptschule eingeschult. Der Unterricht war zweisprachig. Dies gefiel mir persönlich sehr gut, aber mit einem Hauptschulabschluss hatte man damals wie heute keine große Berufswahl. So entschied ich mich für einen handwerklichen Beruf und wurde Friseurin. Bei dieser Entscheidung dachte ich auch immer ein wenig daran, mich im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort beruflich leichter selbstständig machen zu können. Denn so richtig habe ich mich damals mit meiner „neuen Heimat“ Deutschland nicht identifiziert und mich hier auch nicht so schnell heimisch gefühlt. Wir haben immer so gelebt, als würden wir jederzeit die Rückreise antreten und unsere Koffer quasi erst nach mehreren Jahren ausgepackt. Ich habe mich in meinen jungen Jahren in politischen Kreisen bewegt und beobachtete die Frauen in der Politik sehr genau. Sie faszinierten mich bereits damals, spielten eine große Vorbildrolle und lenkten mein Leben in eine gewisse Richtung. Mir wurde klar, dass der Beruf der Friseurin meinen persönlichen Erwartungen nicht mehr entsprach und ich suchte nach Möglichkeiten, mich beruflich umzuorientieren. Über den zweiten Bildungsweg bekam ich dann die Chance, an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg das Fach Sozialökonomie zu studieren. Mit dem neuen Beruf legte ich die Schere zur Seite und nahm gewissermaßen den Stift in die Hand. Für mich begann eine anstrengende, aber auch positive Zeit. Ich entdeckte neue Welten und war bereit, mich in diese hinein zu begeben. Durch das Studium erwarb ich nicht nur das Diplom, sondern auch eine Portion Selbstbewusstsein. Inzwischen beschäftige ich mich sowohl ehrenamtlich als auch hauptberuflich mit den Themen Migration und Integration sowie mit Frauenthemen allgemein. Die aus meinen früheren Lebensumständen resultierende Benachteiligung wurde für mich zum entscheidendem Beweggrund, mich beruflich weiter zu entwickeln. Natürlich darf ich dabei die Rolle einiger Vorbilder und die Motivation durch meine Familie nicht unerwähnt lassen. Heute lautet mein Motto: „Leben ist Vielfalt, Vielfalt ist Leben.“ Durch ehrenamtliches Engagement zu mehr Selbstbewusstsein Thomas Böhme Als Vorbilder für die Arbeitsgruppe „ehrenamtliche Engagement“ waren Melda Ate¸s, Gül¸sen Özçelikli und Rasim ¸Sengül eingeladen worden. Sie berichteten anhand der eigenen Lebenswege, wie sie zur freiwilligen Mitarbeit in verschiedenen Projekten fanden. Alle drei wiesen darauf hin, dass zunächst die Begegnung mit anderen Zugewanderten in der eigenen Muttersprache dabei geholfen hat, Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache wahrzunehmen. Dort fanden sie dann Kontakt zu anderen Menschen, die ihnen bei der Integration in die für sie fremde Gesellschaft die nötigen Hilfestellungen gaben. Aber auch Eltern und Lehrer waren wichtige Bezugspersonen, die einen positiven Einfluss ausübten. Die gewonnene deutsche Sprachkompetenz ermöglichte es den ReferentInnen, ihre Kontakte über die eigenen Landsleute hinaus auszubauen. Damit erschlossen sich ihnen neue mitmenschliche Beziehungen, die zur Beschäftigung mit anderen Themenfeldern führten. Das positive Erleben von Integrationsangeboten trug bei allen drei Vorbildern wesentlich dazu bei, sich selbst auf diesem Gebiet ehrenamtlich zu engagieren. So begann Melda Ate¸s im „Rucksack-Projekt“ mitzuarbeiten. Die wesentlichen Zielsetzungen dieses Programms sind die Förderung der Mehrsprachigkeit bei Migrantenkindern, die Stärkung der Elternkompetenz sowie des Selbstwertgefühls der zugewanderten Mütter und deren Kinder durch das eigene Lernen und die Übernahme von Aufgaben. Gül¸sen Özçelikli und Rasim ¸Sengül arbeiten ehrenamtlich im Projekt gEMiDe in Hannover. Die Abkürzung steht für „gesellschaftliches Engagement von Migrantinnen, Migranten und eingebürgerten Deutschen durch ehrenamtliche Tätigkeit“ – gEMiDe bildet eine Schnittstelle zwischen an ehrenamtlicher Tätigkeit interessierten Migrantinnen und Migranten und bedürftigen, einsamen oder einfach aufgeschlossenen Einheimischen. Einige der zugewanderten Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter, wie die Ehrenamtlichen bei gEMiDe genannt werden, erlebten so, dass zum Beispiel ein deutscher Haushalt nicht so sehr viel anders aussieht als der ihrige. Sie genießen es, nicht mehr in erster Linie als „AusländerIn“, sondern vielmehr als Mensch, der etwas tut, beurteilt zu werden. Sowohl Gül¸sen Özçelikli als auch Rasim ¸Sengül haben für ihre ehrenamtliche Mitarbeit an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen. Die dort gewonnenen Fähigkeiten geben sie nun an andere MigrantInnen und Einheimische weiter. Die Wertschätzung und Anerkennung, die sie dabei erfahren, trägt immer wieder zur Fortsetzung des freiwilligen Engagements bei. Außerdem bemühen sich beide, in ihrem persönlichen Umfeld weitere Mitmenschen zur Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit zu bewegen. In der Diskussion mit den Teilnehmern wurde Rasim – der jüngste unter den Vorbildern – gefragt, wie seine Alterskameraden auf die ehrenamtliche Tätigkeit reagieren, schließlich sei es nicht alltäglich, dass sich Heranwachsende wie er für ältere Menschen engagieren. Rasim erwi- derte, Freunde und Bekannte würden sein Engagement auf jeden Fall verstehen und ihn gelegentlich sogar dabei unterstützen. Darüber hinaus helfe es ihm auch persönlich, sich auf die Arbeitswelt vorzubereiten. Denn so könne er Qualifikationen erlangen, die ihm auf seinem weiteren beruflichen Weg sicher von Nutzen sein werden. Abschließend wurde aus dem Kreis der DiskussionsteilnehmerInnen der Wunsch geäußert, dass in den Schulen mehr über freiwilliges Engagement informiert wird. Es sei schade, dass so wenig über die tollen Projekte, wie sie die drei Referenten durchführen, bekannt sei. Bestimmt würden sich auch mehr (ältere) Schülerinnen und Schüler an solchen Initiativen beteiligen, wenn sie davon Kenntnis hätten. Vorbilder im Ehrenamt: 29 Gülşen Özçelikli am 27. August 1979 in Sivas, Türkei geboren Ich habe drei Söhne: Die Zwillinge kamen am 23. November 1996 in Istanbul, Türkei zur Welt, der jüngste am 27. August 2004 in Hannover, Deutschland. Als ich im Januar 1998 ganz allein mit meinen beiden kleinen Söhnen zu meinem Mann nach Deutschland kam, war ich noch sehr jung und in der Kindererziehung völlig unerfahren. Auch sonst hatte ich hier anfangs große Probleme. Alles war neu für mich: das Land, die Umgebung, die Mentalität der Menschen und natürlich die Sprache. Mein Mann und meine Schwiegereltern wollten nicht, dass ich Deutsch lerne. Erst nachdem ich mich von meinem Mann getrennt hatte, lernte ich andere Leute kennen, die meine Freunde wurden. Ich begann, alleine mit meinen Kindern zu leben und brachte sie auch in den Kindergarten. Dort konnte ich mich aber mit den Erzieherinnen und den anderen Eltern kaum verständigen, da ich nicht richtig Deutsch sprach. Foto: gEMiDe (2) Gül¸sen Özçelikli (Mitte) mit Freundinnen 30 Eines Tages erzählte mir eine Freundin von einem Internetkurs, den ich dann besuchte. Während des Kurses lernte ich Hülya Feise kennen. Sie erzählte mir von gEMiDe und den Aktivitäten des Projekts. Unter anderem gab es dort auch einen Deutschkurs, an dem ich teilnahm und damit meine Deutschkenntnisse wesentlich verbesserte. Nach einiger Zeit habe ich begonnen, selbst bei gEMiDe mitzuarbeiten. Als erstes betreute ich eine deutsche Frau, die 15 Jahre älter war als ich. Sie hatte nach der Trennung von ihrem Mann Schwierigkeiten, sich in ihrer neuen Situation zurechtzufinden. Wohnung, Freundeskreis und finanzielle Unterstützung – alles musste neu geregelt werden. Ich besuchte auch einen deutschen Mann im Altersheim. Er war körperlich schwer behindert. Ich habe mich mit ihm unterhalten, kleine Spiele gespielt und ihn nach draußen zum Spazieren gehen gebracht. Er ist leider nach einiger Zeit gestorben. Dann habe ich noch eine alte deutsche Frau im Altersheim besucht, die nach einem Autounfall im Rollstuhl sitzen musste. Sie konnte nur leise und langsam sprechen. Mit ihr bin ich meistens nach draußen gegangen, weil es niemanden gab, der sie besuchte und die Pflegekräfte meist keine Zeit hatten, mit ihr raus zu gehen. Die ehrenamtliche Arbeit hat mir sehr geholfen, mich persönlich weiter zu entwickeln. Bevor ich gEMiDe kennen lernte, hatte ich überhaupt kein Selbstbewusstsein. Inzwischen geht es mir viel besser und die ehrenamtliche Arbeit macht mir großen Spaß. Man kann dabei sogar berufliche Wege finden. So habe ich bei ProJudo e. V. zunächst ehrenamtlich und später auf Honorarbasis mit deutschen und muslimischen Mädchen zusammen Sport gemacht. Dadurch bekam ich wiederum die Chance, beim LandesSportBund eine Übungsleiterinnen-C-Ausbildung zu absolvieren als erste Grundlage zur Sporttrainerin. Rasim Şengül geboren am 23. Juli 1988 in Hannover, Deutschland Mein größtes Vorbild ist meine Mutter. Sie kam 1974 mit ihren Eltern in die Bundesrepublik; 1986 heiratete sie meinen Vater. Bis Anfang der 90er Jahre hat sie zusammen mit anderen türkischen Frauen in verschiedenen Fabriken gearbeitet, meistens an einer Stanzmaschine. Außer zum Arbeiten und zum Einkaufen ist sie nicht viel raus gekommen und konnte auch nicht gut Deutsch. Sie war sehr schüchtern und hatte wenig Selbstbewusstsein. Außerdem war sie ein wenig dick und fürchtete, die Leute könnten sich über sie lustig machen. Eines Tages klingelte es an der Tür und Hülya Feise von gEMiDe kam zu Besuch. Wir kannten sie vorher nicht. Sie hat mit meinen Eltern zusammen gesessen und Tee getrunken. Dabei haben sie sich unterhalten. Hülya erzählte von gEMiDe und fragte, ob meine Mutter ehrenamtlich mitarbeiten wolle. Anfangs war mein Vater aus traditionellen Gründen dagegen. Doch Hülya, die selbst in der Türkei nach den dortigen Gepflogenheiten aufgewachsen ist, überzeugte meinen Vater, dass die Mitarbeit bei gEMiDe nicht gegen die Tradition verstoße. Bald darauf begann meine Mutter ihre ehrenamtliche Tätigkeit. Sie besuchte regelmäßig eine ältere Dame, die keine Verwandten hat und gab dieser Frau wieder neuen Lebensmut. Meine Mutter fing an, sich zu verändern, selbstbewusster zu werden. Sie hat abgenommen, spricht und versteht wesentlich besser Deutsch und hat sogar angefangen, deutsche Bücher zu lesen. Sie kann sich jetzt viel besser mit den Menschen unterhalten und ihre Erfahrungen an andere Frauen weitergeben. Inzwischen ist sie sogar Gruppenleiterin bei gEMiDe geworden. Auch bei uns zu Hause hat sich einiges geändert. Meine Eltern reden jetzt mehr miteinander, und wir haben regelmäßig Familientreffen, bei denen wir alle Probleme, die wir zum Beispiel in der Schule oder mit unseren Freundinnen und Freunden haben, gemeinsam besprechen. Durch das Engagement meiner Mutter begann ich ebenfalls, ehrenamtlich zu arbeiten. Wenn gEMiDe Veranstaltungen durchführt, helfe ich bei den Vorbereitungen und beim Abbau. Ich habe auch ehrenamtlich Computer-Grundlagen-Kurse gegeben, um älteren Frauen beizubringen, wie man mit dem Computer umgeht, Briefe schreibt usw. Manchmal unternehmen mein Bruder und ich auch Spaziergänge mit einsamen älteren Deutschen, die im Rollstuhl sitzen müssen. Durch diese Aufgaben hat sich mein Selbstbewusstsein verbessert. In der Schule habe ich freiwillig an einem Streitschlichter-Projekt teilgenommen und gelernt, wie man ohne Gewalt Konflikte unter Schülern lösen kann. Dieses Wissen kann ich auch außerhalb der Schule anwenden und mir dadurch eine respektierte Stellung in meinem Bekanntenkreis sichern. Nach dem Streitschlichter- Projekt machte ich im Bethlehem-Keller-Treff einen Jugendgruppenleiterschein. Ich kann allen Jugendlichen nur raten, sich eine ehrenamtliche Arbeit zu suchen, weil man dadurch Lebenserfahrung und Menschenkenntnis sammelt. Außerdem bin ich sicher, dass man durch den Nachweis ehrenamtlichen Engagements auch bessere Chancen hat, einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz zu finden. 31 Foto: LAG Soziale Brennpunkte Nds. e. V. Melda Ateş 32 Ich wurde am 18. Juli 1970 in Ödemis– Izmir, Türkei geboren, wo ich bis 1987 das Gymnasium besuchte. Zur gleichen Zeit lernte ich meinen Ehemann kennen. Ein Jahr später bin ich durch Familienzusammenführung zu ihm nach Deutschland gekommen. Es gibt vor allem drei Gründe, die sich positiv auf meine Entwicklung hier auswirkten: Den stärksten Halt im Leben geben mir meine Lebensfreude und mein Ehrgeiz. Zudem haben mich meine Eltern immer gefördert und unterstützt. Und dann ist da noch meine beste Freundin Yildiz Demirer, die ebenfalls in Deutschland lebt. Sie ist ein ganz besonderer Mensch und immer für mich da, wenn ich sie brauche. Ich nenne sie manchmal meine „Ersatzmutter“. Mit ihrer Unterstützung habe ich hier sehr viel geschafft. Yildiz ist Sozialarbeiterin. Sie koordiniert das „Rucksack-Projekt“, das Eltern mit Migrationshintergrund Unterstützung bei der Kindererziehung bietet. Daher war es auch kein Zufall, dass sie mich fragte, ob ich dort als Elternbegleiterin mitarbeiten möchte. Nachdem ich mich etwas näher informiert hatte, war ich überzeugt, wie wichtig und sinnvoll das Projekt ist. Denn die Kinder sind unsere Zukunft. Deshalb sagte ich zu, im „RucksackProgramm“ mitzuarbeiten. Bereits 15 Minuten pro Tag genügen, um Eltern in ihrer Erziehungsrolle zu stärken und den Kindern spielerisch und mit Spaß das Lernen zu erleichtern. So versuchen wir, bereits im Kindergartenalter das Erlernen ihrer Muttersprache und der deutschen Sprache zu fördern. Außerdem geben wir den Eltern Anleitungen und Arbeitsmaterialien mit nach Hause. Ich selbst habe in Deutschland keine Schwierigkeiten gehabt, außer dass ich erst mit 18 Jahren die deutsche Sprache erlernen musste. Eine gute Schulbildung ist für mich sehr wichtig. Denn man lernt dort nicht nur Lesen und Schreiben, sondern für das Leben überhaupt – wie beispielsweise über das gegenwärtige Weltgeschehen oder über andere Länder und Kulturen sowie das Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen und Freunden. Mit einem Schulabschluss gibt es verschiedene Wege: Natürlich wäre danach ein Studium sehr gut. Da dies aber nicht alle schaffen, muss man andere Möglichkeiten suchen und nutzen, zum Beispiel eine Ausbildung. Damit ergeben sich auch bessere Aufstiegsmöglichkeiten. Ich kann nur sagen, dass man alle Chancen nutzen sollte, die einem offen stehen. Dies trifft meiner Meinung nach besonders für Frauen zu. Nur so können sie unabhängig und selbstständig auf eigenen Beinen stehen und ihr Leben gestalten, wie sie es möchten. Meine wichtigste Empfehlung an andere Menschen mit Migrationshintergrund ist, niemals aufzugeben und auch nicht aufzuhören zu fragen, wenn man nicht weiterkommt. Man darf die Hoffnung, die einem Stabilität gibt, nicht verlieren und muss weiter auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bleiben. Dabei ist es besonders wichtig, die Augen und Ohren auch für neue Dinge offen zu halten; denn es gibt immer einen Weg, sich weiter zu entwickeln. Außerdem würde ich mir wünschen, dass Zuwandererfamilien die Chancen, die man ihnen wie mit dem „Rucksack-Programm“ bietet, besser nutzen. Nur so können die Kinder bereits im Kindergarten und später in der Schule die Förderung erhalten, die es ihnen ermöglicht, im Leben Erfolg zu haben. Ich finde es sehr wichtig, dass die Eltern den ersten Schritt machen und ihren Kindern mehr Möglichkeiten bieten, sich zu entfalten – auch wenn sie selbst in Deutschland meist bei Null anfangen mussten. Von Träumen und harter Arbeit Mit leuchtenden Augen erzählt Natella Santadze, wie sie vor sechs Jahren von einem Casting des Nienburger Musical-Theaters „sputnike <jungeKultur> im CJD Nienburg“ gehört hatte und prompt dort zum Vorsprechen erschien. Seitdem ist Natella festes Ensemblemitglied und nicht nur das: Im aktuellen Stück „Go go to America“ spielt sie die Hauptrolle. „Ich mag es einfach, mich als Mensch zu präsentieren und auf der Bühne zu stehen“, erklärt die 20-Jährige ihre Motivation. Zu ihrer derzeitigen Rolle hat Natella ein besonderes Verhältnis: „Im Prinzip ist es meine eigene Geschichte, deswegen kann ich die Rolle glaubwürdig rüberbringen.“ Das Musical „Go go to America“ handelt von Rivalitäten zwischen ehemals befreundeten Gruppen Deutscher und Russlanddeutscher. In Nationalitäten gespalten, liefern sich die Jugendlichen im Stück einen erbitterten Kampf um die Platzierungen in einem Band-Casting. Schließlich finden die Mädchen und Jungen doch wieder zueinander. „Die Botschaft des Musicals lautet, dass alle Menschen gleich sind, und das möchte ich auch vermitteln“, bekräftigt Natella. Über hundert gefeierte Aufführungen vor tausenden Zuschauern haben die jungen Laienschauspieler von „sputnike“ bereits hinter sich. Da ist die Frage der Moderatorin Dimitra Atiselli, ob für die Jugendlichen Foto: sputnike/SWK Marina Kormbaki der ihnen entgegengebrachte Ruhm noch etwas Besonderes ist, nahe liegend. „Daran haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Früher hatten wir vor jedem Auftritt großes Lampenfieber und weiche Knie. Heute freuen wir uns einfach, wenn wir auf der Bühne sind“, sagt Natella und ihre Kollegin Fatma Mohamed-Taha stimmt ihr zu: „Unser Erfolg ist für uns nichts Besonderes mehr, aber wir sind sehr stolz.“ Auch die Tatsache, dass Fatma von tausenden Postkarten lächelt, die die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen hat drucken lassen, macht die 17-Jährige nicht nervös. Zum Ensemble ist sie über ihre Zwillingsschwester gekommen. „Ich bin vor vier Jahren mal zu einer Probe mitgegangen und fand das gleich so toll, dass ich in das Projekt eingestiegen bin“, so Fatma. Vorher hatte sie nur getanzt, aber die Kombination von Tanz und Gesang hat ihr auf Anhieb großen Spaß gemacht. Über seine Schwester hat auch Alexander Brunner zu „sputnike“ gefunden. „Eigentlich hatte ich nie Lust auf tanzen und schauspielern“, sagt Alexander. „Aber meine Schwester, die schon bei ,sputnike’ war, hat mich immer dazu gezwungen, mit ihr zu üben“, fährt er fort. Die Aufnahme in die junge Musical-Gruppe war nicht schwierig: „Männliche Darsteller sind sehr gefragt“, stellt Alexander fest und lächelt verschmitzt unter sei- 33 ner weißen Schirmmütze. In „Go go to America“ spielt er die männliche Hauptrolle und damit auch eine Liebesszene mit Natella. „In Wirklichkeit sind wir aber kein Paar“, stellt Natella klar. Die Anfänge von „sputnike“ reichen schon zehn Jahre zurück. Hans Klusmann-Burmeister, der Leiter von „sputnike“, stellte damals als Mitarbeiter im Jugendmigrationsdienst massive Vorurteile gegenüber Russlanddeutschen fest. „Diese Situation wollte ich auf die Bühne bringen. Ich wollte den Einheimischen die Augen für die Lebenssituation der Migranten öffnen“, erklärt Klusmann-Burmeister. Nachdem er sich erfolgreich um finanzielle Unterstützung bemüht hatte, begann er mit der Arbeit an dem ersten Stück. „Das Musical ‚On the road’ war ein Riesenerfolg, die Funktion der jungen Migranten bei ‚sputnike’ war damals schon klar: „Als Botschafter sind sie Vorbilder für Jugendliche“, so der Leiter. Bei jungen Russlanddeutschen kämen die Aufführungen besonders gut an, sagt Klusmann-Burmeister und Natella pflichtet ihm bei: „Viele Jugendliche kommen zum ersten Mal ins Theater, sitzen mit verschränkten Armen da und denken sich: ‚Theater, so ein Blödsinn!’ Aber nach der Show gehen sie raus und sagen sich: ‚Hey, toll, dass ich dazu gezwungen wurde!’ Es ist schön zu sehen, dass wir die jungen Leute erreichen.“ Der Unterstützung ihrer Eltern können sich Natella, Fatma und Alexander gewiss sein. „Meine Mutter hat mir immer die freie Wahl gelassen. Ich habe viel Zeit in den Kampfsport investiert, war sogar norddeutscher Meister im Ringen – meine Mutter hat immer zu mir gehalten. Problematisch wird es nur, wenn die Ausbildung unter dem vielen Touren für ‚sputnike’ leidet“, erzählt Alexander. „Unsere Eltern und Verwandten freuen sich jedes Mal, wenn sie uns auf der Bühne sehen, auch wenn sie schon etliche Male dabei waren“, lacht Fatma. Aber nicht alle Eltern sind so tolerant: „Viele Eltern setzen das Engagement ihrer Kinder bei ‚sputnike’ leider als Druckmittel ein, zum Beispiel in Bezug auf schulische Leistungen. Dabei ist das das 34 Foto: Hoppenrath Die „New Limits“ Schlimmste, was sie tun können, zumal die Jugendlichen bei ‚sputnike’ soziale Schlüsselkompetenzen erlernen, die ihnen keine Schule beibringen kann“, meint Klusmann-Burmeister. Das Ensemble von „sputnike“ setzt sich hauptsächlich aus Russlanddeutschen und Deutschen zusammen. Die Rollenverteilungen werden jedoch unabhängig von der Herkunft der Schauspieler vorgenommen: Deutsche spielen Russlanddeutsche, Russlanddeutsche spielen wiederum Deutsche. „Die Herkunft der Schauspieler ist nicht entscheidend. Wichtiger ist das Verfolgen eines gemeinsamen Interesses“, sagt Klusmann-Burmeister. Juri Schmidt hat über Umwege sein künstlerisches Interesse entdeckt. „Während meiner Zeit auf der Realschule habe ich mich sehr für Technik begeistert. Deswegen habe ich im Anschluss daran eine Ausbildung zum Kommunikationselektroniker absolviert“, berichtet Juri. Schon bald wurde dem 26-Jährigen, der damals bereits einen Großteil seiner Freizeit der Fotografie widmete, jedoch klar, dass dieser Beruf nicht der richtige für ihn ist. Juri holte die Fachhochschulreife nach und bewarb sich in der Fachhochschule Hannover für das Studienfach Kommunikationsdesign. Beim dritten Anlauf wurde seine Mappe akzeptiert und Juri konnte nun seine Vorliebe für das Fotografieren professionell ausleben, beispielsweise bei einer Fotoreportage über das Osterfest der russisch-orthodoxen Gemeinde in Hamburg. „Irgendwann hat mir aber das Fotografieren nicht mehr gereicht, Ton und Bewegung fehlten mir, da begann ich, Filme zu drehen“, schildert Juri seine künstlerische Entwicklung. „Mittlerweile mache ich so ziemlich alles, was mit visuellen Medien zu tun hat“, fährt Juri fort. Der Erfolg gibt seiner Entscheidung, kreativ zu arbeiten, Recht: Von 40 Entwürfen für die Schiffgestaltung der Maschseeflotte gewann sein Entwurf den ersten Preis. Juris Antriebsmotor war stets der Glaube, dass es Arbeit gibt, die Spaß machen kann. „Ich habe in Deutschland die unterschiedlichsten Jobs gemacht, ich weiß, wie lang ein Achtstundentag sein kann. Deswegen versuche ich meine Vision von einem Beruf zu verwirklichen, mit dem ich mich voll und ganz identifizieren kann.“ Auch die Filmemacherin Seyhan Derin hat sich ihren Traum erfüllt. Schon im Kindesalter hatte sie ihre Vorliebe für Filme entdeckt. Ihr Vater, der als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war, hat seinen Teil zum Aufkommen dieser Leidenschaft beigetragen. „Mein Vater hat sonntags immer Filmvorführungen für türkische Bekannte organisiert. So war ich schon mit fünf Jahren im Kino“, erzählt Seyhan. Wegen ihres Interesses an der Schauspielerei vermittelte sie ein Grundschullehrer als Kinderdarstellerin an das saarländische Staatstheater und den saarländischen Rundfunk. Lange Zeit war das Schauspielern nur ein Hobby für Seyhan. „Wie alle türkischen Eltern wollten auch meine, dass ich Medizin oder sammeln, ohne sich von Rückschlägen beirren zu lassen“, sagt sie. Vorbilder, von denen man lernen kann, sind dabei wichtig. „Früher hatte ich niemanden gehabt, mit dem ich mich austauschen konnte. Ich war die einzige Türkin im Theater, die einzige Türkin auf dem Gymnasium. Erst später habe ich Menschen kennen gelernt, die Ähnliches erlebt haben wie ich“, erzählt Seyhan. Sie will Jugendlichen Mut machen. „Junge Menschen sollen sich von Lehrern oder Eltern nichts ausreden lassen, es gibt immer Wege. Und auch wenn sie mal lang sind, sind sie doch spannend“, so die Filmemacherin. Juri, der viele Bemühungen unternommen hatte, bevor er an der Fachhochschule angenommen wurde, gibt ihr Recht. Nach seinen Zukunftsplänen gefragt, sagt Alexander, dass er derzeit nach einem Ausbildungsplatz zum Veranstaltungstechniker sucht. „Mein Traum ist es aber, Schauspieler zu werden“, fügt er an. „Und warum bewirbst du dich nicht?“, fragt Seyhan ihn. Alexander entgegnet, jemand habe ihm erzählt, dass er für die Aufnahme an einer Schauspielschule das Abitur benötigt, was er nicht hat. „Das stimmt nicht. Zum Vorsprechen brauchst du kein Abitur, son- dern Talent“, erwidert Seyhan. Fatma verfolgt ihren Traum. Sie möchte als Tänzerin und Choreographin arbeiten. Die nötigen Kontakte dafür hat sie bereits geknüpft: „Bekannte raten mir, zu ihnen in die USA zu kommen“, sagt Fatma. Natella, die eine Ausbildung zur Erzieherin macht, hat beschlossen, ihr künstlerisches Interesse weiterhin in ihrer Freizeit auszuleben. „Ich kann mir gut vorstellen, mit Jugendlichen Projekte wie ‚sputnike’ durchzuführen.“ Damit sich die Besucher des Workshops ein Bild von „sputnike“ machen können, zeigen die Darsteller eine Filmsequenz. Spätestens jetzt wird deutlich, dass die Laienschauspieler alles andere als laienhaft sind. Die Erfüllung von Träumen ist aufs engste mit harter Arbeit verbunden, davon zeugt der Filmausschnitt. Das Wichtigste jedoch, darin sind sich die eingeladenen Vorbilder einig, ist der Glaube an die eigenen Fähigkeiten. Vorbilder im Bereich Kunst, Kultur und Medien: Foto: Schmidt Jura studiere“, schmunzelt die 27Jährige. Wäre da nicht ein Besuch in der Kasseler Kunstausstellung documenta gewesen, hätte Seyhan wohl tatsächlich das Jurastudium angetreten. „Bei dieser Ausstellung wurde mir aber schlagartig klar, dass es mein eigentlicher Wunsch ist, zum Film zu gehen“, so Seyhan. Ihre Ausbildung absolvierte sie an der renommierten Filmhochschule München. Für ihren ersten Film engagierte Seyhan ihre Familie. Das lag nahe, da der Film eine Dokumentation derselben ist. „Eigentlich sollte der Film 30 Minuten lang sein, aber da meine Familie so komplex ist, sind es schließlich anderthalb Stunden geworden“, sagt Seyhan. Den interessierten Workshop-Teilnehmern zeigt Seyhan einen Ausschnitt aus „Die Tochter meiner Mutter“. Inhaltlich befassen sich viele Filme Seyhans mit Migrations-Biografien. „Ich würde gerne mehr Spiel- und Dokumentarfilme drehen, aber leider kann ich nicht ausschließlich davon leben“, bedauert Seyhan. Den Großteil ihres Lebensunterhalts bestreitet sie durch die Mitarbeit an Fernsehserien. Die jungen Zuhörer im Raum horchen auf und fragen nach den Serien. Als Seyhan „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ erwähnt, schauen sie Seyhan mit großen Augen an. Die ersten Autogramm-Wünsche werden geäußert. Auf Dimitra Atisellis Frage, was sie Jugendlichen empfiehlt, die sich für Tanz und Musik interessieren, antwortet Natella: „Es ist wichtig, dass sie in einem Verein sind, in dem sie sich entfalten können.“ Energisch stellt sie im selben Atemzug fest: „Ein Verein, in dem Jugendliche verschiedener Nationalitäten zusammenkommen und ein gemeinsames Ziel verfolgen, ist doch die beste Integrationsarbeit.“ Juri hält es für sehr wichtig, dass Jugendliche die Initiative ergreifen und ihren Interessen nachgehen. „Sie sollten bloß nicht aufgeben, auch wenn es nicht gleich beim ersten Mal klappt.“ Seyhan stimmt ihm zu. „Man sollte sich klarmachen, was man wirklich will und auf diesem Gebiet Erfahrungen 35 Juri Schmidt Foto: Schmidt geboren am 12. April 1980 in Uljanowsk, Russland Als wir im Februar 1994 nach Deutschland kamen, zogen wir in einen Ort, in dem meine Mutter bereits Freunde und Bekannte hatte. Dadurch hatten wir das große Glück, von unseren deutschen Freunden in vielen Dingen Unterstützung zu erhalten. Ich wurde gleich mit den einheimischen Jugendlichen bekannt gemacht, ging mit ihnen in die Schule und hatte die Möglichkeit, fast täglich etwas mit ihnen zu unternehmen. Parallel dazu waren mein Bruder und ich im Sportverein aktiv. Zwei bis drei mal die Woche haben wir Judo, Leichtathletik und Kraftsport trainiert. All dies beschleunigte das Erlernen der deutschen Sprache. Innerhalb von einem bis anderthalb Jahren konnte ich ganz gut Deutsch sprechen und verstehen. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Integration waren mein eigener Integrationswunsch und der Wunsch, mich selbst zu verwirklichen. Meine beruflichen Interessen galten zunächst der Technik. Während der Ausbildung zum Kommunikationselektroniker entdeckte ich meine kreative Seite. Parallel zu dieser Ausbildung brachte ich mir die Grundlagen der Gestaltung, Malerei, Fotografie und des Films bei. Nach dem Abschluss der Ausbildung setzte ich den kreativen Weg fort, traf mich 36 mit Fachleuten aus der Branche und sprach mit ihnen über meine Arbeit. Mein Antrieb war und ist der Glaube daran, eine Arbeit ausüben zu können, die mir Freude macht und meine Neugier befriedigt. Wichtig bei allem, was ich tue, ist, mein Herz mit einbringen zu können. Gegenüber sich selbst und anderen offen und unvoreingenommen zu sein, war schon seit meiner Kindheit für mich wichtig. Die Überzeugung, in jeder Situation von einander zu lernen, gestaltet mein Leben so gut wie stressfrei. In der Allgemeinbildenden Schule habe ich mich wunderbar mit den Lehrern verstanden, weil ich das russische Schulsystem und seine Disziplin noch miterlebt habe. Deshalb waren mir bestimmte Respekt-Verhaltensmuster gegenüber Erwachsenen schon vertraut. Ich mochte meine Lehrer einfach und wollte von ihnen etwas lernen. In der Familie hatte ich immer Rückhalt und Unterstützung. Die Beziehung zu meinen Eltern ist offenherzig. Selbstständiges Denken, Handeln und Verantwortung zu übernehmen wurde in der Familie geprägt. Die künstlerischen und sozialen Seiten in mir hat überwiegend meine Mutter geprägt, während mein Vater die sportlichen und organisatorischen Aspekte förderte. Personifizierte Vorbilder wie Hollywoodschauspieler, Musiker und andere bekannte Persönlichkeiten hatte ich bis zum Alter von 16 - 17 Jahren, stellte aber fest, dass ich sie eigentlich nicht brauche. Mein Lebensweg erscheint mir wie eine wellenförmige Linie, die von der Struktur einer Melodie ähnelt. Ich nehme diese Musik mit allen Sinnen wahr und assoziiere meine Handlungen mit einem Tanz zu dieser Musik. Natürlich gab es Rückschläge und Erfolge in meinem Leben, aber ich empfinde jede Erfahrung als liebenswert. Das Studium gibt mir die Möglichkeit, mich auf die Selbstständigkeit gründlich vorzubereiten. Ich bin sehr froh, dass ich einen Studienplatz in den Fächern Multimedia, Kommunikationsdesign und Fotografie an der FH Hannover bekommen habe. Hier habe ich das Gefühl, mich frei entfalten zu können, und das genieße ich sehr. Meine Empfehlung an junge Menschen ist, an sich zu glauben und aktiv zu sein. Wenn du an dich selbst glaubst, glauben auch die anderen an dich – dann kannst du alles Erdenkliche erreichen und dich selbst verwirklichen. Ein glücklicher Mensch ist aus meiner Sicht jemand, der seine Ideen verwirklichen kann. Seyhan Derin Ich wurde am 14. Juni 1967 in Caycuma, einem türkischen Dorf geboren. Mein Vater war zu dieser Zeit beim Militär und meine Mutter ist wegen der Geburtsurkunde nicht extra in die Stadt gefahren. Als auffiel, dass ich noch nicht gemeldet bin, war ich bereits zwei Jahre alt. Meine Familie wollte keine Strafe riskieren und hat so getan, als ob ich neu geboren wäre. Deshalb ist mein offizielles Geburtsdatum der 1. Juli 1969. 1972 bin ich mit meiner Mutter und meinen drei Geschwistern ins Saarland gekommen, wo mein Vater als Gastarbeiter im Bergbau tätig war. Für meinen Lebensweg war ein Grundschullehrer von Bedeutung, der uns die verschiedenen Künste, besonders das Theater, nahe gebracht hat. Er vermittelte mich als Kinderdarstellerin an das Staatstheater und an den Saarländischen Rundfunk, wodurch ich schon sehr früh mit dem Film in Berührung kam. Überhaupt hatte ich viele Lehrer, die an mich glaubten, auch wenn ich selbst an mir zweifelte. Mein Vater organisierte früher einmal pro Woche eine Filmvorführung, wodurch ich häufig ins Kino kam. Da meine Eltern und viele der anderen türkischen Erwachsenen nur schlecht Deutsch konnten, musste ich oft dolmetschen, was bei mir zu einem ausgeprägten Organisationstalent führte. Hinzu kam, dass wir mehrere Geschwister waren und viele Nachbarskinder hatten, mit denen wir oft zusammen spielten und unserer Kreativität freien Lauf lassen konnten. Als ich 15 Jahre (inoffiziell) alt war, wollten meine Eltern mich und meine jüngere Schwester zurück in die Türkei schicken. Das haben wir verhindert, indem wir gegen sie vor Gericht gegangen sind und den Fall gewonnen haben. Danach wurden wir vom Jugendamt in einem Inter- men, zu denen ich auch die Drehbücher schreibe, über Dokumentarfilme bis hin zu Serien für das Fernsehen. Anderen jungen Leuten mit Migrationhintergrund kann ich nur raten herauszufinden, wofür sie sich wirklich interessieren und sich dabei von niemandem irritieren zu lassen. Wichtig ist, seine Vorlieben zu leben – also wenn man Filme machen möchte, sollte man oft ins Kino gehen, Geschichten schreiben, filmen. Keinesfalls darf man sich von der eigenen Herkunft abschrecken lassen – nach dem Motto: „Meine Eltern waren Arbeiter, also muss ich auch Arbeiter werden!“. Wir können alles erreichen im Leben, wenn wir uns nur stark genug dafür einsetzen. Das Wichtigste ist jedoch, nie die Lebensfreude und den Lebensgenuss zu verlieren – ohne dies macht alles keinen Sinn. Foto: Hoppenrath nat untergebracht. Auch dort wurde unsere kreativ-künstlerische Seite gefördert. Beruflich gesehen mag mein Weg geradlinig erscheinen, weil alles auf das Ziel, Filme zu machen, hinauslief: Grundschule, Gymnasium, Abitur, Studium an der Filmhochschule München, Spielfilmregie, Regisseurin, Autorin. Genauer betrachtet gab es aber viele Jahre, in denen ich sehr um die Projekte kämpfen und ausharren musste, was auch heute noch zutrifft. Doch das gehört zum Künstler-Dasein. Die Schule besucht und studiert zu haben, ist für mich wichtig, weil ich dadurch auf spielerische Weise fundiertes Wissen vermittelt bekam. Außerdem reagieren die meisten offener, wenn sie hören, dass ich auf einer der besten Filmhochschulen war. Heute mache ich als Regisseurin alles Mögliche – von eigenen Spielfil- 37 Natella Santadze Der glücklichste Zufall für meine Integration war sicher, dass ich 1994 mit meiner Familie nach Nienburg gekommen bin. Für andere Menschen mögen es andere Orte sein, für mich ist es Nienburg, weil es hier „sputnike <jungeKultur> im CJD“ gibt. Ich glaube, so etwas ist einzigartig in Deutschland. Aber auch meiner ersten Klassenlehrerin habe ich sehr viel zu verdanken. Sie war Deutschlehrerin und hat sich in ihrer privaten Zeit sehr intensiv um mich und einen anderen Jungen, der zeitgleich mit mir in Deutschland ankam, gekümmert. Es waren ganz viele Dinge, die sie mit uns unternommen hat, zum Beispiel gemeinsam schwimmen gehen (sogar den Eintritt hat sie damals für uns bezahlt). An einen Ausflug erinnere ich mich noch ganz genau: Wir sind zu einer Burg mit einem Burggraben und einem Museum gefahren. Bei allem, was sie mit uns machte, ging es darum, dass wir so schnell wie möglich die deutsche Sprache lernen. Ich war damals sieben oder acht Jahre alt. Sie hat Bilderbücher besorgt. Dort waren dann ein Auto oder Obst abgebildet und darunter stand das deutsche Wort dafür. Dank ihrer Hilfe habe ich in nur drei Monaten Deutsch gelernt. Natürlich gab es auch Rückschläge, Schwierigkeiten und Umwege! Sehr schlimm war die Erfahrung, NUR auf Grund meiner Herkunft ausgeschlossen zu werden. Das hat schon sehr weh getan! Meine erste Reaktion war dann Resignation, Verzweiflung und Trauer. Nicht angenommen zu werden, war eines meiner bittersten Erlebnisse. Dies führte bei mir zu einer richtigen Trotzphase, so nach dem Motto: „Dann eben nicht! Wenn 38 Foto: sputnike/SWK (2) geboren am 1. März 1986 im Kaukasus, Russland ‚die’ nichts von mir wollen, mich nicht mögen …“. Zum Glück habe ich dann „sputnike <jungeKultur> im CJD Nienburg“ kennen gelernt. Dadurch erkannte ich: „Na gut, es gibt eben solche und solche!“. Es war zu diesem Zeitpunkt sehr wichtig für mich, diese Erfahrung zu machen. Das hat mir Kraft gegeben und geholfen, mein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Es ist so viel, was ich bei „sputnike“ gelernt habe. Unabhängig vom Theaterbetrieb gibt es viele andere Dinge, die mir in meiner jetzigen Ausbildung zur Erzieherin sehr helfen, zum Beispiel Improvisation und Flexibilität oder spontan kreativ zu sein. Aber auch selbstständig handeln und meine eigene Geschichte erzählen zu können, Ausdrucksformen dafür zu finden. Mittlerweile bin ich in meiner Ausstrahlung sicherer geworden. Es macht mir sogar Spaß, über meine Herkunft zu erzählen. Durch „sputnike“ habe ich viele Stilmittel gefunden, um dies auch umsetzen zu können. Die Menschen schenken mir dann auch ihre Aufmerksamkeit. Vorbilder habe ich nicht. Ich hatte immer meinen Kopf und weiß, dass ich mir selbst immer neue Ziele stecken muss und nicht aufgeben darf, wenn ich diese nicht gleich erreiche. Darum möchte ich mein eigenes Vorbild sein. Anderen jungen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen wie meinen möchte ich sagen: „Gute Menschen gibt es doch!!!“ Ich hatte natürlich Glück, aber man darf auf keinen Fall aufgeben. Wenn sich irgendwo eine Tür schließt, öffnet sich auch irgendwo wieder eine. Ich würde mir wünschen, dass es ganz, ganz viele Projekte wie „sputnike <jungeKultur> im CJD Nienburg“ gibt, wo junge Menschen einfach zusammen kommen können und wo es egal ist, ob ich aus der Türkei, Russland oder sonst wo herkomme. Auch die Hautfarbe, Religion oder Sprache dürfen keine Rolle spielen. Wenn ich mich verständigen will und gemeinsame Ziele habe, verstehe ich mich auch. Ich fühle mich dadurch reich, so viele verschiedene Menschen, Sprachen, Kulturen zu kennen. Wir könnten noch viel, viel mehr erreichen, wenn alle so denken und auch danach handeln würden. Alexander Brunner geboren am 19. Juni 1988 in Prokopjewsk, Russland; 1995 nach Deutschland eingereist Die wichtigsten Bezugspersonen in meinem Leben sind meine Mutter, mein Trainer im Ringen und das Team von „sputnike <junge Kultur> im CJD Nienburg“. Dabei war die Begegnung mit „sputnike“ eher ein Zufall. Man könnte sogar sagen, dass ich von meiner Schwester „gezwungen“ wurde, einmal mitzugehen. Heute bin ich ihr dafür sehr dankbar, denn ich habe dort tanzen, singen und schauspielern gelernt und auch erfahren, was ein Team ist und dass man alles schaffen kann, wenn man zusammenhält! – Wir haben gemeinsam ein Musical inszeniert. Das ist eine sehr komplexe Arbeit. Die Leute von „sputnike <junge Kultur> im CJD Nienburg“ haben mir echten Teamgeist vorgelebt, mir gezeigt, was möglich ist, wenn wir alle „Hand in Hand“ arbeiten. Darüber haben wir mit unserem Musiker sogar einen Song gemacht, der „Reich mir die Hand“ heißt. Natürlich gab es zwischendurch Schwierigkeiten. Aber was klappt schon sofort und ohne Probleme? Ich glaube, das Leben ist nie ein gerader Weg. Wichtig ist nur, dass die Rückschläge einen nicht dauerhaft demotivieren, sondern man einen anderen Weg findet. Das muss nicht unbedingt ein Umweg sein, sondern eben nur ein „anderer Weg“, verglichen mit einem Fluss, den man überqueren will: Wenn die Brücke, die ich nehmen will, kaputt ist, muss ich eben den Fluss weiter entlang gehen, bis die nächste kommt! Das größte Problem ist wohl, dass es ganz viele junge Menschen gibt, die mittlerweile keine Perspektive haben. Von allen Seiten hören wir, ihr müsst euch anstrengen, einen Beruf finden usw. Aber gibt es denn tatsächlich noch für alle eine berufliche Zukunft?! Wenn sich unsere Lebensperspektive jedoch „nur“ mit dem beruflichen Werdegang verknüpft, verlieren wir (wenn wir zunächst keinen Job finden) schnell den Glauben an uns. Das heißt, man muss sich neue Perspektiven schaffen, das Selbstwertgefühl durch andere Tätigkeiten aufbauen, zum Beispiel als Trainer arbeiten oder Jugendgrup- penleiter werden. Dann bekommt man auch wieder ein gutes Gefühl und den Mut, den man braucht, um seinen Weg zu gehen. Die Beschäftigung mit Kunst, Kultur und Sport ist meine Leidenschaft! Dadurch wird meine Lebensbatterie immer wieder neu aufgeladen. Anfangs habe ich bei „sputnike“ nur dazu gelernt, sei es im fachlichen Bereich wie Gesang, Tanz oder Rollenspiel, aber auch auf der zwischenmenschlichen Ebene, in meinem Verhalten während einer Diskussion oder wie ich auf Menschen reagiere, die nicht meine Sprache sprechen bzw. ich nicht ihre. Mittlerweile unterrichte ich selbst eine BreakdanceGruppe und kann jetzt alles, was ich gelernt habe, weitergeben. Das ist sehr hilfreich, denn ich kann mich sehr gut in meine zu betreuenden Teilnehmer hinein versetzen, weil ich es selbst ja schon erlebt habe. Einer von den Jungs zum Beispiel verzweifelt immer, wenn etwas nicht sofort klappt. Dieses Gefühl kenne ich von mir selbst und kann es dem Jungen dann auch so sagen. Er glaubt mir, und wir suchen zusammen einen an- deren Weg, machen mit neuem Mut weiter. Ich gebe ihm Kraft – und das wiederum gibt mir Kraft. Es ist ein sehr schönes Gefühl, jemandem helfen zu können, ihm Kraft und Mut zu geben! Eine „Empfehlung“, die ich anderen jungen Leuten mit auf den Weg geben möchte, ist: Behandelt jeden gleich! Es gibt viele verschiedene Menschen und jeder hat gute und schlechte Eigenschaften. Wenn wir uns gegenseitig akzeptieren, gibt es weniger Streit. Habe Mut und Kraft, deinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn er nicht immer gerade ist! Versuche, dich mit deinen Interessen und Wünschen einzubringen, ob im Sport oder im kulturellen Bereich, in der Politik oder in gesellschaftlichen Bereichen – nur so hast du auch die Möglichkeit, etwas zu bewegen und Dich persönlich weiter zu entwickeln. Ich glaube, alle Menschen lernen ihr ganzes Leben lang, was eine tolle Bereicherung ist! Mein persönlicher Wunsch ist, dass die Schauspielerei möglichst mein Beruf wird. Das ist seit vielen Jahren mein Traum! 39 Fatma Mohamed-Taha geboren am 8. April 1989 in Bremen, Deutschland mussten uns mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen, um diese anderen Menschen näher bringen zu können. Bei „sputnike“ sind einheimische und zugereiste Jugendliche. Dadurch habe ich viel von anderen Kulturen erfahren, zum Beispiel ein anderes Umgehen mit Kummer oder in Streitsituationen. Ich glaube, dies ist sehr wichtig, um andere Menschen zu verstehen. Inzwischen habe ich einen ganz anderen Zugang zu Menschen gefunden und viele neue, mir jetzt sehr wichtige Freunde! Durch das Tanzen habe ich eine nette Choreografin kennen gelernt. Sie will mich zukünftig unterstützen. Wenn ich es irgendwie schaffe, möchte ich später anderen Menschen das Tanzen beibringen und eigene Choreografien entwickeln. Dies ist ein sehr, sehr langer Weg, aber ich arbeite hart dafür, dass aus dem Tan- zen als Hobby mein Beruf wird. Ich kann jedem nur raten, sich ebenfalls etwas zu suchen, für das man Interesse entwickelt. Und man sollte offen auf andere Menschen zugehen, auch wenn es mal Streit gibt. Nicht alle Menschen sind gleich. Wenn ich einmal schlechte Erfahrungen gemacht habe, muss dass beim nächsten Mal nicht genauso sein. Außerdem ist die Verschiedenheit der Menschen etwas Schönes. Dadurch können wunderbar bunte Bilder entstehen. Es wäre doch schrecklich, wenn wir alle dasselbe essen oder anziehen würden, alle das gleiche Auto fahren oder es nur eine Lieblingsfarbe geben würde. Die Welt wäre dann zum Beispiel nur rot! Also formuliere deine eigenen Ziele und Wünsche und bringe alle Kraft dafür auf, damit sie Wirklichkeit werden. Auch wenn nicht alles klappt, steh wieder auf! Foto: sputnike/SWK (2) Oft werde ich gefragt, wieso ich so gut Deutsch spreche. Dabei bin ich in Deutschland aufgewachsen. Ich denke, die Frage hat damit zu tun, dass ich eine dunkle Hautfarbe habe. Trotzdem finde ich das merkwürdig, da es doch mittlerweile sehr viele Menschen mit dunkler Hautfarbe gibt, die in Deutschland geboren wurden. Selbst in der Fußballnationalmannschaft ist ja ein Spieler, der keine helle Hautfarbe hat! Meine Eltern sind 1983/84 während des Bürgerkrieges aus Eritrea geflüchtet, weil meine Mutter schwanger war und ihre Kinder in Frieden aufwachsen sollten. Der Familienzusammenhalt ist für mich sehr wichtig. Dort habe ich mein Rückzugsgebiet. Besonders von den Erfahrungen meiner großen Schwester konnte ich sehr viel lernen. Sie ist ein Vorbild für mich, gibt mir Mut und Tipps für meinen Lebensweg, findet bei Problemen immer eine Lösung. Bevor ich zu „sputnike <jungeKultur> im CJD Nienburg“ kam, habe ich im Sportverein Turnen und Leichtathletik trainiert. Über das Turnen bin ich mit dem Tanzen in Berührung gekommen. Das Team von „sputnike“ ist wie eine richtige Familie. Wir können über alles reden. Wenn wir uns etwas für die Shows ausdenken, geschieht dies immer gemeinsam. Wir bekommen alle Hilfe und Unterstützung, die wir benötigen, um das Ausgedachte auf der Bühne umzusetzen. Anfangs hatte ich eigentlich gar keine Lust mitzumachen. Ich wollte nur tanzen, aber irgendwie kam dann alles zusammen: Wir haben tanzen, singen, schauspielern gelernt und 40 „Sport erleichtert die Integration“ Foto: Stark Oliver Trisch Mitte vorn Artur Stark Artur Stark, Ayse Darama, Lasher Kurun und Viktor Reimchen waren als Vorbilder für den Bereich Sport eingeladen. Über die Form des biografischen Erzählens und einer anschließenden Frage- und Diskussionsrunde sollte beantwortet werden, welche Stolpersteine und welche unterstützende Faktoren sie auf ihrem Lebensweg begleitet haben und welche Rolle der Sport in ihrem Leben spielte bzw. spielt. Das erste Kurzreferat hielt Artur Stark, zurzeit Student der Fahrzeuginformatik. Er berichtete ausführlich von seiner Sportart Volleyball. Darüber hinaus sprach er über seinen Glauben, der für ihn ebenfalls ein sehr unterstützender Faktor im Leben war und ist. Den zweiten Input gab Ayse Darama, die sich in der Ausbildung zur Erzieherin befindet. Sie spielt ebenfalls Volleyball. Zuvor hat sie längere Zeit Fußball gespielt, musste aber verletzungsbedingt die Sportart wechseln. Lasher Kurun, Schüler eines Wirtschaftgymnasiums war der dritte Referent. Er informierte über die Selbstverteidigungstechnik Ju-Jutsu, die er trainiert. Im Mittelpunkt seines Berichts stand die positive Auswirkung des Sports auf sein Selbstbewusstsein. Als letzter berichtete Viktor Reimchen über Bodybuilding und über das Fitnessstudio, das er gemeinsam mit Freunden zusammen betreibt. Alle Energie und Freizeit stecken sie in ihr gemeinsames Projekt, für das Viktor gerade eine Ausbildung zum Fitnesstrainer absolviert. Die anschließende Diskussionsrunde befasste sich zu Beginn mit der Frage nach den Auswirkungen des Sports auf die Persönlichkeitsentwicklung und das damit verbundene Verhalten gegenüber anderen Personen. Von Seiten der Bodybuilder – in der AG war eine Gruppe des Fitnesscenters anwesend – und des JuJutsu-Vertreters wurde mehrfach der Aspekt der Selbstsicherheit hervorgehoben, der in konkreten Situationen dazu geführt hat, sich entweder argumentativ oder körperlich angemessener verteidigen zu können. Darüber hinaus wurde von allen betont, dass Sport den Willen und die Fähigkeit, persönliche Ziele ausdauernd verfolgen zu können, stärkt und über das Erreichen selbst gesteckter Ziele Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein aufgebaut bzw. gefördert wird. Ein weiterer Aspekt berührte den Zusammenhang zwischen Identitätsbildung und Sport. Zum einen ging es hier um die Frage nach Rollenbildern, zum anderen wurde auch nach Sporttraditionen in verschiedenen Ländern gefragt: Etwa, ob in einzelnen Ländern bestimmte Sportarten vorherrschend sind und ob dies auch im Zusammenhang mit der heutigen Sportwahl steht. Von den anwesenden Mitgliedern des Fitnessstudios, die alle russische Aussiedler sind, wurde betont, dass in Russland Kraftsport eine lange Tradition hat und auch sehr angesehen ist. Dies sei der Grund, weshalb viele Jungendliche und junge Erwachsene mit russischem 41 Migrationshintergrund diese Sportart wählten. Ähnliche Sporttraditionen wurden auch in Bezug auf Tischtennis festgestellt. Dabei ging es beispielsweise um die Nation China, die in diesem Bereich sehr viele Erfolge aufzuweisen hat. Jedoch gab es in diesem Punkt keine abschließende Klärung, da es nicht möglich war, die einzelnen Sportarten ausschließlich bestimmten Ländern, Gruppen und Eigenschaften zuzuordnen. Ein weiterer diskutierter Aspekt befasste sich mit weiblichen und männlichen Rollenbildern. Ayse Darama berichtete von ihren wegen Verletzung abgebrochenen Fußballaktivitäten. Obwohl sie ohne größere familiäre Auseinandersetzungen Fußball spielen durfte, wurden ihr auch andere Sportarten nahe gelegt, die angeblich besser zu ihr passten. Ähnliches berichtete eine andere Teilnehmerin der AG. Inwieweit das Ausüben bestimmter Sportarten bewusst zum Aufbrechen von weiblichen und männlichen Rollenbildern genutzt werden kann, blieb eine offene Frage. Einig waren sich alle darin, was Sport einem geben kann: Ein positives Selbstbild und starke Gemeinschaft. Sport erleichtert die Integration, er verbindet – sowohl Menschen als auch Nationen. Mit Blick auf die gesamte Tagung „Vorbildlich!“ wurde zusammengefasst: • „Man hat viele Menschen mit verschiedenen Integrationshintergründen kennen gelernt.“ • „Man konnte sehen, welche Gemeinsamkeiten man mit anderen hat, zum Beispiel bei der Übung ICH – ICH NICHT.“ • „Es konnten viele Erlebnisse und Erfahrungen ausgetauscht werden.“ • „Ich habe gelernt, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland erfolgreich sind.“ Foto: sputnike/SWK Es wurden mehr Informationen zur Unterstützung von Migrantinnen und Migranten gefordert und es wurde der Wunsch formuliert: „Stärken statt Defizite sehen!“ bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Zuwandererfamilien. 42 Vorbilder im Sport: Artur Stark geboren am 24. Dezember 1982 in Lenina, Kasachstan; im Oktober 1990 mit den Eltern nach Deutschland eingereist Ich habe die Schule in Kasachstan nur drei Monate besucht, dann sind wir nach Deutschland übergesiedelt. Hier bin ich in die erste Klasse gekommen, musste diese wegen meiner sprachlichen Schwierigkeit jedoch wiederholen. Sonst verlief die Schule bei mir bestens. Ich musste mich nicht sonderlich anstrengen und hätte nach der sechsten Klasse aufs Gymnasium gehen können, wusste aber nicht, ob ich dies schaffe und habe meinen Erweiterten Realschulabschluss als einer der Besten in der Klasse gemacht. In der Schule habe ich mich meistens als Außenseiter gefühlt. Bis zur dritten Klasse sind wir dreimal umgezogen. Dadurch musste ich immer neue Freunde finden, was ich bedaure, da die alten Kontakte gänzlich verloren gingen. Nach der 10. Klasse durfte ich eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker anfangen. Nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte, begann ich ein Studium als Fahrzeuginformatiker. Anfangs hat es mir sehr viel Spaß gemacht, doch das Hauptstudium liegt mir nicht so sehr, aber jetzt bringe ich es zu Ende. In der 5. Klasse habe ich mit dem Sport begonnen. Ich trainiere eine Jugendmannschaft und spiele selbst aktiv Volleyball. Hier kann ich mich körperlich verausgaben und fit bleiben. Ich kann mit Freunden lachen, toben und mich „auspowern“. Durch den Sport erlebe ich viele schöne Momente und habe sehr viel Spaß. Am besten ist es, gegen andere Mannschaften zu spielen, dabei den eigenen Leistungsstand zu überprüfen und zu verbessern. Wenn man lange gemeinsam Sport treibt, bleiben die Freundschaften erhalten und brechen nicht so schnell auseinander, auch wenn man später andere Freunde und Wege findet. Am meisten in meinem Leben hat mich jedoch der Glaube geprägt, nicht der Sport, nicht die Schule und nicht das Studium. Durch den Glauben habe ich gelernt, wer ich bin und welchen Stellenwert das Leben hat. Foto: Stark Ayse Darama und Artur Stark Ich weiß jetzt, woher ich komme und wohin ich gehe. Dieses Leben ist zu kurz um es zu vergeuden. Man sollte es zu jeder Zeit lebenswert gestalten. Anderen helfen und ihnen einen besseren Weg aufzuzeigen, ist mir wichtig. Leider haben sehr viele Menschen den Glauben verloren, nur wenige finden in einer Gemeinde ein Zuhause und ihren Seelenfrieden. Obwohl meine Oma an Gott glaubte, gehörten wir in Russland keiner Gemeinde an und auch in Deutschland haben wir erst eine besucht, als ich zwölf war. Mit 16 Jahren habe ich eine bewusste Entscheidung für Jesus getroffen. Ich habe erkannt, dass es nur einen Gott gibt und nur er kann mir ein erfülltes Leben geben. Als ich 17 war, habe ich mich taufen lassen. Ich bin frei evangelisch. Der Glaube hilft mir und gehört zur meiner Identität. Allen zugewanderten Menschen kann ich nur empfehlen, zunächst die deutsche Sprache zu lernen, damit sie die Regeln, Kultur, Tradition und die Menschen in diesem Land verstehen und ihre Bedürfnisse ausdrücken können. Ich empfehle auch, sich irgend- wo zu engagieren, um anderen zu helfen und auch selbst ein freudiges und erfülltes Leben zu haben. Ich wünsche allen, hier ein Zuhause zu finden. Das bedeutet nicht, sich in ein „gemachtes Nest“ zu setzen, sondern dass man dieses Zuhause durch Worte und Taten selbst errichtet. Nur so kann man eine neue, glückliche und sinnvolle Existenz in diesem Land aufbauen. 43 Lasher Mahir Doud Kurun Foto: LAG JAW geboren am 5. August 1989 in Göttingen, Deutschland Fulya und Lasher Kurun Meine Eltern stammen aus der Türkei. Meine Mutter ist Türkin und mein Vater Kurde. Deshalb habe ich sowohl türkische als auch kurdische Vornamen. Meine Mutter wurde in Istanbul geboren und ist als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert. Mein Vater kam als Student nach Göttingen. Dort haben sich die beiden an der Universität kennen gelernt. Meine beiden Brüder und ich sind Deutsche. Als Ältester musste ich oft auf sie aufpassen. Seit meinem sechsten Lebensjahr mache ich Ju-Jutsu und trainiere seit einigen Jahren die Sechs- bis Zehnjährigen. Da ich durch meine Brüder gewöhnt bin, mich um Jüngere zu kümmern, fällt mir diese Aufgabe nicht schwer. Ich mache dies wirklich sehr gern. Vor zwei Jahren habe ich begonnen, einmal pro Woche nachmittags als Betreuer in unserer Grundschule zu arbeiten. Dort biete ich ebenfalls Ju-Jutsu-Training an. Der Schulleiter war anfangs etwas skeptisch, ob es gut sei, in unserem BrennpunktStadtteil einen Kampfsport zu trainie- 44 ren. Nachdem ich ihm die fernöstliche Philosophie und den Grundgedanken der Selbstbeherrschung und Verteidigung von Ju-Jutsu erklärt hatte und meine Lehrerin Frau Ruß für mich sprach, bekam ich den Betreuer-Job. Hierbei kam mir zu Gute, dass ich mich schon mit Kindern auskannte und an der vorherigen Schule ein Schülerpraktikum absolviert hatte. Dass ich türkisch und etwas kurdisch kann, ist in diesem ehrenamtlichen Job ebenfalls von Vorteil, denn an der Erich-Kästner-Grundschule sind viele Migrantenkinder. Da ich selbst einen Migrationshintergrund habe, werde ich von den anderen akzeptiert und sogar oft als Vorbild gesehen. Ich bin nie ein Musterschüler gewesen und weiß wovon ich spreche. Die Schüler können mich nicht für dumm verkaufen. Manchmal kommt es vor, dass ich von den Lehrern gebeten werde, bei Elterngesprächen zu dolmetschen. All diese Aufgaben machen mir sehr viel Spaß und ich habe schon viel im Umgang mit Kindern gelernt. Diese Erfahrungen kann ich gut gebrauchen, denn ich möchte eventuell Lehrer für Philosophie, Mathe und Sport werden. Auf der Realschule war ich zwei Jahre Klassensprecher und habe 2006 meinen erweiterten Abschluss gemacht. Danach bin ich auf das Wirtschaftsgymnasium gegangen, habe dort aber festgestellt, dass diese Schule nichts für mich ist. Nun mache ich ein freiwilliges Praktikum und werde ab Sommer 2007 auf einem Regelgymnasium in die Oberstufe gehen. Meiner Erfahrung nach gibt es gute und schlechte Lehrer, beides habe ich kennen gelernt. Die guten haben mich stets motiviert, nach einer Niederlage weiter zu machen. Hier möchte ich besonders meinen Ju-Jutsu Trainer Lenner Scharwächter, Frau Ruß, unseren Direktor Herrn Drykluft und meine Klassenlehrerin Frau Ehrental nennen. Außerdem wurde ich immer von meiner Familie unterstützt. Mein Motto ist, sich selbst treu und „sauber“ zu bleiben – auch wenn das mitunter sehr schwer fällt. Viktor Reimchen geboren 1985 in Omsk, Russland, 1993 Einreise nach Deutschland halb besitzen die Schule, der Beruf, das Studium und auch die Freizeitbeschäftigung eine große Bedeutung: Denn wenn man nichts mit sich anzufangen weiß, kommt man nur auf dumme Gedanken und das schadet der Zukunft. Jugendliche aus Zuwandererfamilien sollten sich mehr integrieren und nicht nur mit ihren Landsleuten, sondern auch mit Einheimischen Kontakte knüpfen. Mein Wunsch für die Zukunft ist es, meine persönlichen Ziele zu verwirklichen und mit unserem Fitnessstudio vielen anderen Jugendlichen zu helfen. Foto: Hoppenrath Meine Freunde und ich trainierten oft in einem großen Fitnessstudio. Bodybuilding und Kraftsport haben uns schon immer begeistert. Unser großer Traum war es, ein eigenes Fitnessstudio zu besitzen, um anderen Menschen den Sport etwas näher zu bringen. Darüber hinaus wollten wir Jugendlichen ermöglichen, für wenig Geld diese Sportart auszuüben, um nicht auf die schiefe Bahn zu gelangen. Nach einiger Zeit und langem Sparen ergab sich die Möglichkeit, aus einem Insolvenzverfahren die komplette Einrichtung für ein Fitnessstudio zu erwerben. Nachdem wir die Geräte hatten, fanden wir auch eine passende Räumlichkeit, die dann dementsprechend umgebaut wurde. Als die Renovierungsarbeiten, für die wir teilweise unseren Urlaub nahmen, nach zwei Wochen fertig waren, konnten wir am 1. April 2006 unser Fitnessstudio eröffnen. Wir fingen damals mit 15 Mitgliedern – darunter einige Freunde – an. Inzwischen trainieren bei uns ca. 60 Mitglieder verschiedener Nationalitäten und Altersstufen, denn unsere Türen stehen allen offen. Wir stecken unsere ganze Freizeit in das Fitnessstudio. Wenn alles gut läuft, eröffnen wir in Zukunft ein zweites Fitnessstudio in der Nähe von Cloppenburg. Wir sind als Verein organisiert, der sich „No Limits“ nennt. Meine Freunde und ich stellen den Vorstand. Alexander macht zurzeit das Abitur, Heinrich absolviert eine Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker, Toni studiert Soziale Arbeit an der Hochschule Vechta und ich mache zurzeit eine Ausbildung als Fitnesstrainer in Dorsten. Unser Weg führte nicht immer geradeaus. Es gab Höhen und Tiefen, aber unser Traum war ein eigenes Fitnessstudio, und diesen Traum hatten wir immer vor Augen. Für uns ist es sehr wichtig, wie man seine Zukunft gestaltet. Des- Viktor Reimchen (Mitte) und Freunde vom Fitnesscenter 45 Schlusswort der Niedersächsischen Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Mechthild Ross-Luttmann Sehr geehrte Frau Winkler, liebe Jugendliche, meine sehr verehrten Damen und Herren, Wir haben heute gleich mehrfach Grund zur Freude: • weil 2006 das Jahr der Jugend ist, • weil 2006 auch das Jahr der Integration ist, • und weil wir heute viele gute Beispiele für die gelungene Integration von jungen Leuten kennen gelernt haben. Ich persönlich freue mich, dass ich es trotz meines vollen Terminkalenders geschafft habe, heute wenigstens noch zum Abschluss der Tagung „Vorbildlich! Jugendliche und junge Erwachsene aus Zuwandererfamilien“ hier vorbeizukommen und ein Grußwort an Sie richten zu dürfen. Zunächst aber möchte ich Frau Erpenbeck und ihrem Team für die gute Idee danken, die Themen „Jugend“ und „Integration“ zu verknüpfen. In diesen Tagen wird viel über Integration und das Zusammenleben verschiedener Kulturen diskutiert. Diese Diskussion darf nicht einseitig verlaufen, indem über die negativen Seiten gesprochen wird: Sprachprobleme, Kopftuchstreitigkeiten, Zwangsheiraten und Integrationsprobleme. Das ist zweifellos wichtig. Aber genauso wichtig, wenn nicht gar viel wichtiger, ist es, die andere Seite der Medaille kennen zu lernen: von den Jugendlichen zu hören, die nach Deutschland gekommen sind, gerne hier leben, Freunde haben, integriert sind; von den deutschen Jugendlichen zu hören, die Freunde im anderen Land haben, begierig sind, fremde Kulturen kennen zu lernen. Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, dass es vor allem die positiven Beispiele sind, die uns motivieren. Deswegen ist es so wichtig und so gut, dass ihr alle heute hier gezeigt habt, wie es gehen kann – wie man sich zurecht findet und Erfolg hat in der Schule, in der Berufsausbildung, im Bereich von Kunst und Kultur, im Ehrenamt und im Sport. 46 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Niedersächsischen Jahr der Jugend 2006 ging es darum, den Blick auf die Bedürfnisse, Anliegen und Interessen von Jugendlichen zu lenken. Dabei wollten wir nicht nur über, sondern auch mit den Jugendlichen sprechen. Zum Beispiel beim vierten Niedersächsischen Jugendforum, das am 5. und 6. Mai im Landtag in Hannover stattgefunden hat. Rund 100 Jugendliche im Alter zwischen 16 und 25 Jahren aus allen Teilen Niedersachsens haben mit Politikerinnen und Politikern kritisch und konstruktiv darüber diskutiert, was sie beschäftigt. Auf der Tagesordnung standen Themen wie Jugendarbeitslosigkeit, Bildung, Studiengebühren und Möglichkeiten des Engagements, aber auch Fragen der Zuwanderung und Integration. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forums haben dazu Forderungen in der „Agenda Jugendperspektiven für eine Gesellschaft mit Zukunft“ formuliert. Und ich war beeindruckt, wie sensibel und zugleich offen die Jugendlichen mit diesem Thema umgegangen sind. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn wir beobachten andererseits auch, dass bei vielen jungen Menschen Sorgen vorhanden sind, die mit der Integration von Zuwanderern zu tun haben. Das sind in aller Regel keine grundsätzlichen, ideologischen Bedenken, sondern praktische Alltagsfragen: • Wie können wir in der Schule den Unterrichtsstoff bearbeiten, wenn viele Kinder nicht richtig deutsch sprechen? • Werde ich eine Arbeitsstelle finden, wenn ich mit vielen Jugendlichen, auch aus anderen Ländern, konkurrieren muss? • Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn viele Menschen mit anderen Kulturmustern darin leben, die schwer integrierbar erscheinen? Diese Tendenz lässt sich auch in der aktuellen Shell-Jugendstudie nachlesen. Zusammengenommen, so die Foto: sputnike/SWK Studie, führen diese Faktoren offensichtlich zu einer emotionalen Schließung „nach außen“, beziehungsweise zu einer verengenden Besinnung auf den eigenen Kulturkreis. Man fühlt sich zu Hause, verstanden und sicher, wenn man sich in seinem gewohnten kulturellen Umfeld bewegt. Das gilt genauso für die deutschen wie für die eingewanderten Jugendlichen. Es erfordert Mut und eine gewisse Anstrengung, sich aus seinem kleinen, gewohnten Zirkel herauszubegeben und auf andere Menschen zuzugehen. Ihr alle werdet aber die Erfahrung gemacht haben, dass sich dieser Schritt auf die anderen zu lohnt. Wer den anderen kennen lernt, macht neue Erfahrungen. Er lernt viel Neues kennen an Ansichten und Gewohnheiten. Er stellt aber oftmals auch fest, dass vieles auch in anderen Kulturkreisen gar nicht so sehr anders ist, als man es aus seinem eigenen Umfeld vielleicht kennt. Eine gelungene Integration ist eng verknüpft mit der sozialen Entwicklung der Gesellschaft insgesamt, sie hängt aber auch von der sozialen Kompetenz der einzelnen Jugendlichen ab. Integration, die gelingen soll, erfordert immer Offenheit von beiden Seiten: von Seiten des aufnehmenden Landes und der aufnehmenden Gesellschaft, aber auch von Seiten der Menschen, die in einem neuen Land ihre Heimat finden wollen. Was verstehen wir eigentlich unter Integration? Sinngemäß bedeutet Integration zunächst einmal die „Eingliederung in ein größeres Ganzes“. Dabei unterscheiden sich die Wünsche und Hoffnungen zugewanderter Jugendlicher oft nur in Nuancen von denen ihrer deutschen Altersgefährten. Sie wünschen sich eine gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen unserer Gesellschaft. Sie wünschen sich Erfolg in Schule und Ausbildung, um selbstbestimmt und unabhängig leben zu können. Voraussetzung für solche Erfolge ist jedoch immer die Beherrschung der deutschen Sprache. Wer den Unterricht im wahrsten Sinne des Wortes nicht versteht, wer dadurch auch der Aufgabenstellung nicht folgen kann oder sich nur unzureichend mit Deutschen verständigen kann, wird mit ziemlicher Sicherheit in der Schule scheitern oder zumindest weit hinter seinen eigentlichen Fähigkeiten zurückbleiben. Wenn wir uns die Statistik anschauen, so haben allein im Schuljahr 2005/2006 über 18 Prozent der jungen Menschen ausländischer Herkunft die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Diese Zahl muss uns mit Besorgnis erfüllen, denn damit ist oft ein Weg des Scheiterns und der Misserfolge vorgezeichnet. Ohne Schulabschluss haben die jungen Menschen auch kaum eine Chance auf eine Ausbildung. Ungelernte Kräfte werden aber auf unserem spezialisierten und globalisierten Arbeitsmarkt immer weniger benö- tigt. Die jungen Menschen fallen sozusagen von der Schulbank direkt in die Arbeitslosigkeit. Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung auch von negativen Gefühlen begleitet wird. Bei vielen Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist der Eindruck verbreitet: „Die wollen uns nicht“. Frustration, Wut und Enttäuschung sind dann Gefühle, die man dem Gastland entgegenbringt. Oft ist auch das Aufwachsen in einem anderen Kulturkreis mit anderen Normen und Wertvorstellungen ein Grund für Schwierigkeiten – zum Beispiel im Hinblick auf die Rolle der Frau. So können sich zahlreiche Probleme für beide Seiten ergeben. Die Aufnahmegesellschaft vermisst eine hinreichende Integrationsbereitschaft, die sich etwa im Erlernen der Sprache zeigt. Die zugewanderten Menschen andererseits vermissen Chancen und Perspektiven. Das kann so weit gehen, dass sie sich von gewaltbereiten religiösen Strömungen oder von extremistischen politischen Parolen angezogen fühlen. Hier ist auch die Politik gefordert, die Weichen so zu stellen, dass eine solche Entwicklung nicht eintritt. Die Landesregierung hat deshalb das Handlungsprogramm „Integration in Niedersachsen“ erarbeitet, in dem die laufenden Programme und Maßnahmen zusammengefasst sind. Nach der Devise „fördern und fordern“ spricht das Programm beide Seiten an: Zugewanderte genauso wie Einheimische. Denn damit ein harmonisches Miteinander gelingen kann, müssen beide Seiten aufeinander zu gehen. Das Handlungsprogramm umfasst die Bereiche Sprache, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe. Darüber hinaus geht es um die Förderung von Ausbildung und Arbeit, um familienstärkende Maßnahmen, Angebote zu Prävention und Sicherheit sowie die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Mein Kabinettskollege, Kultusminister Bernd Busemann, hat darüber hinaus eine Reihe von Maßnahmen zur besseren schulischen Integration vorgelegt. Dazu gehört vor allem die Sprachförderung, die bereits im Vorschulalter ansetzt. Sprachtests vor der Einschulung und gegebenenfalls ver- 47 pflichtende Sprachförderkurse tragen dazu bei, Defizite und Sprachbarrieren abzubauen. Gerade Kinder lernen sehr schnell und sehr gut unsere Sprache, wenn sie noch relativ klein sind. Ein weiteres Bündel von Maßnahmen dient der Profilierung der Hauptschule, die zu Unrecht oft als „Restschule“ abqualifiziert wird. Dabei geht es vor allem um einen erfolgreichen Übergang von der Schule in den Beruf und eine Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit. Vergleichbare Ziele verfolgen auch die als Schulversuch an mehreren Berufsbildenden Schulen eingeführten Berufseinstiegsklassen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schwerpunkte bei der schulischen, beruflichen und sozialen Integration von Migranten setzt das Land Niedersachsen auch bei der Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Ein wichtiges Beispiel ist unter anderem das „Integrations- und Präventionsprogramm PRINT“, das zwar am 31. Dezember ausläuft, an das wir jedoch mit dem neuen Programm PIK-AS in ähnlicher Form anknüpfen werden. PRINT ist ein Programm zur Integration zugewanderter Kinder und Jugendlicher und zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft. Das besondere an diesem Programm ist die Bündelung präventiver Maßnahmen an so genannten „sozialen Brennpunkten“, ergänzt durch Nachmittagsangebote in den Schulen. Zukünftig wollen wir Erziehungsund Bildungspartnerschaften abschließen, in die außer der Schule und der Jugendhilfe auch das Elternhaus eingebunden wird. Eltern verpflichten sich dann ausdrücklich, ihre Kinder bei ihren Integrationsbemühungen voll zu unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt zur Integration, weil viele Eltern bislang oft nur unzureichend über die Arbeit der Schule und der Jugendhilfe informiert sind und diese daher als „fremd“ empfinden. Sie werden nun mit „ins Boot geholt.“ Davon profitieren die Jugendlichen genauso wie ihre Eltern, die dann ebenfalls besser Bescheid wissen, wie die Bildungsstruktu- 48 ren in unserem Land aufgebaut sind und welche Fähigkeiten und Kompetenzen ihrer Kinder erwartet und gefördert werden sollen. Einen zusätzlichen Schwerpunkt setzen wir künftig auch bei der Gesundheitsförderung. An der Nahtstelle von Schule, Ausbildung und Beruf setzt die Jugendberufshilfe des Landes an. Denn wir alle wissen, der beste Weg zur erfolgreichen gesellschaftlichen Integration für Jugendliche – egal ob zugewandert oder einheimisch – besteht noch immer darin, einen Ausbildungs- und einen Arbeitsplatz zu erhalten. Ich habe die Schwierigkeiten bei der Integration in den Arbeitsmarkt, besonders für Jugendliche mit Migrationshintergrund, bereits angesprochen. Ohne Arbeit zu sein ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage des Selbstwertgefühles. Ein junger Mensch, der schon zu Beginn seines Arbeitslebens das Gefühl hat, unsere Gesellschaft braucht ihn nicht, und der auch nach diversen Weiterbildungsprogrammen keine realistische Perspektive für sich sieht, wird sich kaum aktiv um Integration bemühen. Das ist einer der Grundgedanken, die hinter den vom Land geförderten 44 Pro-Aktiv-Centren und den über 100 Jugendwerkstätten steht, durch die die Jugendberufshilfe in Niedersachsen eine besondere Qualität erhält. Rund 30 % der von den Pro-AktivCentren erreichten jungen Menschen haben einen Migrationshintergrund. Bei der Jugendberufshilfe geht es nicht darum, Beschäftigungsmaßnahmen zu entwickeln, um sich von Jahr zu Jahr „weiterzuhangeln“, sondern es werden passgenaue Lösungen für die Betroffenen erarbeitet. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Papier des Arbeitgeberverbandes BDA verweisen, in dem dazu aufgefordert wird, das „Potential von Migrantenkindern zu entfalten.“ In dem Papier betont der BDA: „Mehrsprachigkeit und Interkulturalität sind nicht Defizite, sondern ausgesprochene Stärken und Chancen der Zuwandererkinder: Die Vielfalt der Kulturen kann in der Globalisierung zu einem produktiven Wettbewerbsfaktor werden. Mitarbeiter mit interkulturellen Kompetenzen werden wichtiger, wenn auch das wirt- schaftliche Umfeld immer mehr diversifiziert.“ Die Arbeitgeber sprechen in diesem Zusammenhang sogar von den „Schlüsselkompetenzen der Zukunft.“ Das ist ein Gedanke, den wir meines Erachtens in Zukunft verstärkt fortentwickeln müssen, statt nur auf die Defizite zu schauen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch das Ehrenamt ansprechen. Während des zurückliegenden Jahres der Jugend haben wir gesehen, dass sich viele Projekte in der Jugendarbeit besonders um einen integrativen Ansatz bemühen. Das ist ein Aspekt, der mir besonders am Herzen liegt, weil hier ohne aufwendige staatliche Begleitung und ohne „erhobenen Zeigefinger“, gleichaltrige, junge Menschen zusammenarbeiten. Sie treiben Sport zusammen, engagieren sich im kulturellen Bereich oder unterstützen einander in besonderen Lebenslagen. Das ist wirklich gelebte Integration. Im September durfte ich in Lüneburg zwei Jugendliche ehren, die als Spätaussiedler nach Niedersachsen gekommen sind. Diese beiden Jungs, Timo Melenberg und Alexander Beier, bieten seit dem Jahr 2004 Mitternachtssport in Bleckede im Landkreis Lüneburg an. Das PRINT-Projekt, von dem ich vorhin berichtet habe, und die Polizei Bleckede haben die beiden Jungs unterstützt, so dass das nächtliche Sportangebot zweimal im Monat stattfinden kann. Ca. 20 bis 25 Jugendliche versammeln sich regelmäßig, um gemeinsam Fußball, Basketball oder andere Sportarten zu betreiben. Ganz nebenbei lernen sie dabei auch fair play und tun etwas für ihre Gesundheit. Für die ländlich geprägte Region Bleckede ist diese Sportveranstaltung ein wichtiger Baustein im Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche, der hervorragend angenommen wird. Timo und Alexander wurden geehrt, weil sie durch ihren persönlichen Hintergrund besonders guten Kontakt zu Jugendlichen aus Spätaussiedlerfamilien finden konnten und sich durch eine hohe Zuverlässigkeit, viel Selbstständigkeit und ein großes Verantwortungsbewusstsein ausgezeichnet haben. Ich war sehr beeindruckt, wie selbstbewusst und ganz selbstverständlich die beiden von ihrem Projekt erzählt haben. Foto: sputnike/SWK Solche jungen Leute, zu denen auch ihr, liebe Jugendliche gehört, brauchen wir in unserem Land. Leute, die nicht jammern, sondern handeln. Die nicht klagen, sondern sich einsetzen und so die Welt vor Ort ein kleines Stückchen verbessern. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich brauche ich Ihnen nichts über Integration zu erzählen, denn: Sie leben und praktizieren sie bereits. Das gilt besonders für die jungen und jung gebliebenen Erwachsenen, die berichtet haben wie sie, trotz aller Widerstände, ihren „Weg gemacht haben.“ Sie haben Schule und Ausbildung erfolgreich absolviert und haben nun einen Arbeitsplatz oder stehen zumindest kurz davor. Sie sind im Kultur- und Sportbetrieb oder im sozialen Bereich engagiert. Und ohne die eine gegen die andere Gruppe ausspielen zu wollen, muss ich sagen: So strebsam und engagiert sind längst nicht alle einheimischen Jugendlichen. Zu Ihrem vorbildlichen Einsatz möchte ich Ihnen heute sehr herzlich gratulieren. Sie haben Tatkraft und Zielstrebigkeit unter Beweis gestellt und gezeigt, was man errei- chen kann, wenn man ein Ziel vor Augen hat. Das ist besonders wichtig für andere junge Menschen mit Migrationshintergrund, weil sie erleben, dass man es schaffen kann, wenn man sich bemüht. Daher möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, unbescheiden zu sein. Gehen Sie nach draußen und erzählen Sie anderen, was Sie erreicht haben. Denn auch wir, die Vertreterinnen und Vertreter der Aufnahmegesellschaft, können von Ihnen etwas lernen. „Die Ausländer“, wie sie so oft in Stammtischgesprächen beschworen werden, gibt es nicht. In Niedersachsen leben mehr als 500.000 Ausländerinnen und Ausländer aus fast 200 Nationen. Das sind mehr als 500.000 unterschiedliche Schicksale, unterschiedliche Einstellungen und unterschiedliche Kompetenzen. Diese Vielfalt kann für unser Land eine immense Bereicherung sein. Und ich denke, das haben Sie mit der heutigen Veranstaltung eindrucksvoll bewiesen. Für Ihre persönliche und berufliche Zukunft wünsche ich Ihnen allen alles Gute und viel Erfolg. Bewahren Sie Ihren Schwung und stecken Sie uns und andere damit an! 49 Kontaktadressen Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen (LAG JAW) Kopernikusstr. 3 30167 Hannover Telefon 0511 12173-0 [email protected] www.nord.jugendsozialarbeit.de MOZAIK gemeinnützige Gesellschaft für interkulturelle Bildungs- und Beratungsangebote mbH Wilhelmstr. 5–7 33602 Bielefeld Telefon 0521 96682-0 [email protected] www.mozaik.de Mozaik Consulting Bewerber- und Jobbörse im Internet Ansprechpartner: Dipl.-Ing. Fuat Atasoy Wilhelmstr. 5–7 33602 Bielefeld Telefon 0521 96682-60 [email protected] www.fachkraefte-interkulturell.de Deutsches Institut für Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 10969 Berlin Telefon 030 259359-0 E-Mail-Kontaktformular www.institut-fuer-menschenrechte.de Anti-Bias-Werkstatt Kinzigstr. 9 10247 Berlin Telefon 030 97002381 [email protected] www.anti-bias-werkstatt.de START-Niedersachsen Schülerstipendien für begabte Zuwanderer Landeskoordinatorin Katrin Warnke Landesschulbehörde, Abteilung Osnabrück Mühleneschweg 9 49090 Osnabrück Telefon 0541 314307 [email protected] www.start.ghst.de AFS „American Field Service“ Interkulturelle Begegnungen e. V. Postfach 50 01 42 22701 Hamburg Telefon 040 399222-0 [email protected] www.afs.de 50 MaßArbeit-kAöR Außenstelle Melle Haferstr. 37 49324 Melle Telefon 05422 96257-0 [email protected] www.maßarbeit.de Caritas Sozialwerk Vechta Projekt RAN Neuer Markt 30 Telefon 04441 8707-646 [email protected] www.caritas-sozialwerk.de PACE (Pro-Aktiv-Center) bei der AWO Celle Heese 18 29225 Celle Telefon 05441 902718 [email protected] http://www.awo-celle.de Gesellschaft für Arbeitsvermittlung und Qualifizierungsförderung e. V. Totenweg 1 26386 Wilhelmshaven Telefon 04421 9810-13 [email protected] www.wilhelmshaven.de/wirtschaft_ verkehr/869.htm Projekt gEMiDe Wilhelm-Bluhm-Str. 20 30451 Hannover Telefon 0511 2135363 [email protected] www.gemide.org Projekt Rucksack Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Stiftstraße 15 30159 Hannover Telefon 0511 7010709 [email protected] www.lag-nds.de sputnike <jungeKultur> im CJD Nienburg Von-Philipsborn-Str. 2 31582 Nienburg/Weser Telefon 05021 910257 [email protected] www.sputnike.de Verzeichnis der Referent/innen und Moderator/innen Dimitra Atiselli Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen (LAG JAW) Thomas Böhme Niedersächsische Staatskanzlei Cemalettin Özer MOZAIK gemeinnützige Gesellschaft für interkulturelle Bildungs- und Beratungsangebote mbH, Bielefeld Mechthild Ross-Luttmann Niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit Claudia Schanz Niedersächsisches Kultusministerium Oliver Trisch Deutsches Institut für Menschenrechte / Anti-Bias-Werkstatt, Berlin Gerhard Wienken Landesarbeitsgemeinschaft der Jugendsozialarbeit in Niedersachsen (LAG JAW) Marianne Winkler Büro der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen Christian Wulff Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und der Journalistinnen Stephanie Billib Mirjana Ilić Marina Kormbaki Anett Schweitzer 9 Familienprojekt Migration Alles in Bewegung Schriftenreihe der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen Niedersachsen 10 Schriftenreihe der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen Bezug Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI) – Ausländerbeauftragte – Postfach 2 21 30002 Hannover auslaenderbeauftragte@ mi.niedersachsen.de Niedersachsen Integration vor Ort