willy brandt - Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung
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willy brandt - Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung
WILLY BRANDT Zum 100. Geburtstags des ehemaligen Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers MONTAG, 17. JUNI 2013 / NR. 21 720 SEITE B 1 Endlich am Ziel. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Willy Brandt am 10. November 1989 vor der Mauer am Brandenburger Tor. Foto: William P. Mikkelsen Deutscher Weltbürger, nationaler Kosmopolit Sein Credo: Das eigene Land stets mit den Augen der Fremden sehen – und immer aufgeschlossen sein für andere Standpunkte Von Werner A. Perger Vor kurzem überraschte die FAZ ihre Leserschaft mit der Schlagzeile: „Mehr Willy Brandt wagen.“ In dieser Eindeutigkeit ist das für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ eher ungewöhnlich. Aber natürlich diente die Beschwörung des Brandt-Vermächtnisses nicht als parteipolitischer Aufruf. Es handelte sich vielmehr um die Zusammenfassung eines Dialogs zwischen dem Soziologen und Autor Ulrich Beck und dem Sozialdemokraten und EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Das Gespräch – moderiert vom Herausgeber Frank Schirrmacher – füllte am 23. Mai die Aufschlagseite des Feuilletons und handelte von aktuellen Besorgnissen: der europäischen Krise, der beklemmenden Ratlosigkeit der Regierungen, der wachsenden öffentlichen Euro-Skepsis und insgesamt der Selbstblockade der Europäischen Union. Für das relativ düstere Panorama formulierte Ulrich Beck den Befund: „Wir erleben die Sterblichkeit Europas.“ Gewiss würde nicht jeder die Lage so drastisch als Existenz zwischen Leben und Tod beschreiben. Aber angesichts der Gefahr, dass aus der Finanz- demnächst eine Demokratiekrise Europas werden könnte, tendieren in der kontinentalen politischenKlasse dochviele zu der Interpretation, dahinter stecke auch ein Führungsproblem. Es fehlten Verantwortungsträger, die zu mehr in der Lage sind, als an den nationalen Vorteil zu denken und anderen Regierungen – oder der EU als Institution – die Schuld am Schlamassel zu geben. Wege aus der Gefahr aber wisse von den aktuellen Wortführern der europäischen Debatte keiner – auch nicht die mutmaßliche Wortführerin in Berlin. Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass Ulrich Beck in dem Gespräch nach einem „europäischen Willy Brandt“ suchte. Gebraucht werde ein politischer Gestalter mit „visionärer Kraft“ und dem Sinn für das Mögliche. Einer – oder eine – mit dem Mut, neue Wege zu gehen, und mit der Fähigkeit, andere dafür zu begeistern, mit hohem politischen Prestige und persönlicher Autorität daheim und in der Welt. Jemand, der in der Lage ist, einen komplizierten Knoten mit geduldiger Beharrlichkeit zu lösen oder, um ein anderes Bild zu wählen, der es versteht, auch auf Umwegen zum Ziel zu gelangen. Diese Stellenausschreibung wirkt daher wie zugeschnitten auf Willy Brandt, den ersten sozialdemokratischen Nachkriegskanzler und Friedensnobelpreisträger 1971, den Mann, dessen lebenslange Beschäftigung mit dem Lösen komplexer Problemknoten schließlich mit der deutschen Vereinigung und dem Zerfall des Sowjetblocks gekrönt worden ist. Übrigens: ein historischer Durchbruch unter friedlichen Vorzeichen – wem sonst noch ist das je gelungen? Natürlich ist Brandt in Europa nicht der Einzige, dessen Fähigkeiten und Autorität angesichts des gegenwärtigen Führungsvakuums schmerzlich vermisst werden. In Gesprächskreisen mit internationaler Beteiligung werden auch Erinnerungen an Giscard oder Mitterrand, Heath und Callaghan, Schmidt oder Kohl, González, Brundtland, Palme und Kreisky beschworen. Was Willy Brandt aber aus die- Geprägt durch Begegnungen im Spanien des Bürgerkriegs sem ansehnlichen Ensemble ehemaliger Führungsfiguren herausragen lässt, dürfte wesentlich an seiner politischen Biografie liegen. Sie hat aus ihm, dem linken deutschen Sozialisten und Demokraten, schon früh einen engagierten linken Demokraten und Europäer gemacht. Sein politischer Kampf aus dem skandinavischen Exil gegen das Naziregime führte ihn, den jungen Antifaschisten, schon früh mit Gleichgesinnten auf dem überall vom Faschismus und von der deutschen Kriegsmaschine bedrohten Kontinent zusammen. Der kosmopolitische Deutsche, der Brandt bis zuletzt war, auch und gerade im historischen Moment der Vereinigung, hatte schon früh gelernt, das eigene Land auch mit den Augen der anderen zu sehen. Das machte ihn in seinem politischen Leben auch im Fall von Gegensätzen offen für die Standpunkte der anderen, half beim Aufbau von Vertrauen und ermöglichte es ihm schließlich, deutsche Interessen zu vertreten, ohne sich einem falschen Verdacht auszusetzen. Seine Erfahrungen in Skandinavien haben Brandt in diesem Sinne ebenso geprägt wie die Beobachtungen und Begegnungen im Spanien des Bürgerkriegs und die Gefahren der illegalen Arbeit in Deutschland. Er beschreibt diese Phase seines Lebens zwischen 1930 und 1950 in dem Buch „Links und frei“ (1982). Es han- delt vom Widerstand gegen das Hitlerregime und von der Wiederkehr ins demoralisierte Westdeutschland und zerstörte Berlin. Fürmichistes diespannendste Autobiografie eines deutschen Politikers aus dieserschwierigsten Periode derjüngsten europäischen Geschichte. Man beginnt bei der Lektüre zu verstehen, wie der Mann zu dem manchmal rätselhaften Menschen wurde, als den man ihn später kennen, schätzen und respektieren gelernt hat. Schon in seinen frühen politischen Jahren, als antifaschistischer Kämpfer im Exilund dannals antikommunistischerSozialdemokrat im geteilten Trümmer-Berlin, war Brandt offenkundig in der Lage, die Einzelteile des zerstückelten europäischen Ganzen zusammen zu schauen. Man ahnt, dass Brandts Merksatz vom Tag nach der Öffnung der Mauer – „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – in ihm schon früh angelegt war. Als wäre da ein politisches Lebensmotto schon entstanden, eine inhaltliche Klammer, die den jungen Brandt mit dem alten verbindet, den einstigen Aktivisten mit dem späten Staatsmann. Eine Besonderheit, die aus den Kampfjahren bis in die Zeit des reifen Staatsmanns reichte, ist die ungewöhnliche deutsch-österreichische Achse zwischen dem Lübecker Willy Brandt und dem Wiener Bruno Kreisky. Eine „skandinavische“ Achse, begründet in der antifaschistischen Emigration in Stockholm, in den 1970er Jahren dann verstärkt um den jüngeren schwedischen Partei- und Regierungschef Olof Palme. Der Männerbund der drei Parteivorsitzenden war im internationalen Kontext ohne nennenswertes Gewicht. Doch es war auf interessante Weise ungewöhnlich und irgendwie exotisch. Ihr Gedankenaustausch ging über das normale Maß gutnachbarschaftlicher Beziehungen weit hinaus. Er bewegte sich auch da, wo sie ihre gemeinsamen Überlegungen öffentlich machten, deutlich abseits vom westlichen Mainstream. Für Brandt war dieser Dreierbund außerdem aucheine Hilfe bei dem Bemühen, das persönliche emotionale Tief nach dem etwas mysteriösen Rücktritt vom Kanzleramt 1974 zu überwinden. Es war diese Kleingruppe, verstärkt um Gleichgesinnte wie Brundtland in Oslo, Mitterrand in Paris, González in Madrid, die Brandt schließlich dazu bewegte, das Amt des Präsidenten der Sozialistischen Internationale (SI) zu über- nehmen. Das war eine Rolle, wie sie für einen, der als deutscher Kanzler daran mitgewirkt hatte, die Politik der Entspannung zwischen Ost und West in Gang zu setzen, zunächst wenig faszinierend ist. Brandt hat sich auch lange dagegen gesträubt. Aber er wäre nicht der gewesen, als den man ihn heute noch in Erinnerung hat, wenn er nach einigem Nachdenken in der Funktion nicht doch auch eine Möglichkeit gesehen hätte, im Welttheater ein bisschen mehr Bewegung zu erzeugen. Neue Optionen zu schaffen, Türen zu öffnen, Blockaden abzubauen. Knoten zu lösen. Alles das, was er so gut konnte. Aus der längstbedeutungslosen Organisation machte Brandt alsbald eine Gesprächsarena, die als eine Art sozialdemokratische Uno begann, sich verstärkt in internationale Fragen einzumengen. Sie wurde so zu einem neuen Leuchtturm für neue politische Gruppierungen und Parteien außerhalb Europas. Dass diese in aller Regel überhöhte Erwartungen an die SI knüpften, dessen war Brandt sich bewusst. Er hatte die Organisation aus ihrem politischen Dornröschenschlaf geweckt, für neue Aufgaben geöffnet. Zugleich hat er sie damit aber auch an Der Mythos überstieg die realen Möglichkeiten ihre Grenzen geführt. Der Mythos, der die SI unter Brandt umgab, überstieg die realen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Aber immerhin gab es doch mehr Bewegung als früher. Vereinzelte Vermittlungserfolge in lokal begrenzten Konflikten (Geiselaustausch in El Salvador) machten Hoffnung. Mancher Rückschlag (Ermordung eines prominenten palästinensischen Gastes während einer SI-Konferenz in Portugal) nährte aber Zweifel am Nutzen des Aufwands. Die Illusion und die neue Faszination lebten jedenfalls, solange Brandt präsidierte. Heute, zwei Jahrzehnte nach Brandts Tod, ist die SI am Ende. Europas Sozialdemokratien wenden sich ab. Die großen Player, die sich die wichtigen Fragen der globalen Machtpolitik gerne vorbehalten, werden die SI nicht vermissen. Brandts Treiben in der Weltpolitik war ihnen nie geheuer gewesen. Mit Unbehagen beobachtete in Bonn seinerzeit auch der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt die globalen Aktivitäten seines Vorgängers. Mit erhöhter Wachsamkeit haben in Jerusalem die israelische Schwesterpartei, voran die regierenden Schwergewichte Rabin und Peres, die Vermittlungsbemühungen der Brandt-SI im Nahen Osten beobachtet. Und mit großem Misstrauen verfolgte die Reagan-Administration in Washington beispielsweise Brandts Aktivitäten in Mittelamerika: Was macht der da? Die Reise des SI-Präsidenten 1984 in den „Hinterhof“ der USA, nach Nicaragua und Kuba, war eine offene Herausforderung an die Führungsmacht. Vor allem der Staatsempfang in Havanna. Na, wenn schon. Brandt kümmerte sich um die mächtigen Bedenkenträger immer weniger. Im November 1990, knapp zwei Monate vor der ersten amerikanischen Intervention im Irak, flog der von diplomatischen Zwängen unbelastete SI-Präsident nach Bagdad, um Saddam Hussein zur Freilassung der internationalen Geiseln zu überreden, die als „lebende Schutzschilder“vor irakischen Versorgungsanlagenplatziert werden sollten. Es war ein Alleingang. Die Regierungen in Bonn und vor allem in Washington waren strikt gegen diese Initiative. Die Amerikaner wollten nicht, dass der deutsche Friedensnobelpreisträger dort unten ihre Kreise stört. Ein Scheitern hätte für Brandts Prestige einen schweren Rückschlag bedeutet. Doch der Diktator gab schließlich nach. Der Airbus der Luftwaffe war auf dem Rückflug voll besetzt mit freigelassenen Geiseln. Die Kritiker schwiegen. Vonder Spitze der Sozialistischen Internationale hat Brandt sich wenige Wochen vor seinem Tod im September 1992 verabschiedet, mit einer in Berlin von Hans-JochenVogel vorgetragenen Botschaft. Ähnlich der Aufbruchslosung aus der ersten Regierungserklärung aus dem Herbst 1969, Willy Brandts unvergessenes „Mehr Demokratie wagen“, wird aus der letzten Botschaft mindestens dies bleiben, ein Arbeitsauftrag des Scheidenden an die Nachgeborenen: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ — Werner A. Perger arbeitete von 1970 bis 1995 als politischer Korrespondent in Bonn. Er ist Autor der ZEIT, für die er seit 1991 schreibt. EDITORIAL Spiegelbild der Geschichte Welch ein Weg! Vom jungen linkssozialistischen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Friedensnobelpreisträger und weltweit geachteten elder statesman. Willy Brandt, der am 18. Dezember 100 Jahre geworden wäre, ist eine der herausragenden Persönlichkeiten der europäischen Nachkriegsgeschichte. Ein Mann, der sein Land reformierte, der half, die Teilung Europas zu überwinden – und der zugleich polarisierte, vor allem in den frühen siebziger Jahren; Wer sich damals in der Provinz für Willy begeisterte, wurde als „Handlanger Moskaus“ beschimpft und später in West-Berlin an der Freien Universität am rechten Rand verortet. Brandt hat alle elektrisiert. Und Deutschland ein anderes, neues Gesicht gegeben. In diesem Jahr erinnern die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und die Norwegisch-Deutsche Willy-BrandtStiftung an diesen Staatsmann. Wir betrachten in der Beilage sein Verhältnis zur eigenen Partei, die Rolle Berlins und sein Eintreten für ein vereintes Europa. Der große norwegische Sozialdemokrat Thorvald Stoltenberg erinnert an Brandts unermüdlichen Einsatz für Konfliktlösungen; Torsten Körner zeigt einen Familienvater, der sich eher in der Geschichte zu Hause fühlte. Und doch bleibt Willy Brandt eine faszinierende Persönlichkeit, deren Qualitäten nicht wenige in diesen Zeiten vermissen. Rolf Brockschmidt C INHALT D OFFENE BRIEFE AN DIE BASIS . . . . B2 Altgediente SPD-Funktionäre misstrauten dem medienwirksamen Reformer. GEBURTSORT DES POLITIKERS . . . . B3 Kein anderer Ort war damals geeigneter als Berlin, um die Politik der kleinen Schritte zu entwickeln. DIALOG UND KOMPROMISS . . . . . . . . . B3 Der Freund Thorvald Stoltenberg erinnert an private und politische Begegnungen – und an Brandts Vermächtnis. FAMILIE WAGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B4 Willy Brandt bemühte sich, ein guter Vater zu sein. Doch ein Familienmensch war er nicht. B2 WILLY BRANDT DER TAGESSPIEGEL NR. 21 720 / MONTAG, 17. JUNI 2013 Der Europäer Willy Brandts Ostpolitik zur Überwindung der Teilung hatte Folgen für den ganzen Kontinent – und für den Beitritt der Briten war er auch Von Hans Arnold Willy Brandt war nach seinem Lebensweg und nach seinen Überzeugungen Europäer. Dies war für mich schon1958/59bei seinenbeiden Reisen als Regierender Bürgermeister von Berlin in den USA, auf denenich ihn begleitete,bei allen seinen Auftritten unübersehbar. Seine herausragendepolitische Leistung–die vonihm initiierte und vorangebrachte Ostpolitik, durch die das Ende der Spaltung Europas möglich wurde – war neben und vor allem anderen Europapolitik. Sie wurzelte tief in seinen europapolitischen Überlegungen und Überzeugungen, die in den Jahren seines skandinavischen Zwangsexils entstanden waren. Die geprägt waren durch die ihn in dieser Zeit durchgehend bewegende Frage, wie Europa nach dem Ende des grässlichsten Gewaltregimes Zu seinen ersten Auslandsreisen gehörten die „Antrittsbesuche“ und Krieges, die es je erlebt hatte, friedlich, freiheitlich und demokratisch verfasst werden könne. Dann aber musste er als Regierender Bürgermeister von Berlin von diesem ost-westlichen Schnittpunkt aus hautnah und schließlich mit der Errichtung der Mauer auf drastische Weise miterleben, wie sich die welt- und machtpolitisch bedingte und ideologisch grundierte Spaltung Europas und als ihr Teil die Spaltung Deutschlands immer mehr verfestigte. Und wie man sich national und international mit diesem Zustand arrangierte und bereit war, ihn auf unbestimmte Dauer hinzunehmen. Das übergeordnete und gravierendste Problem Europas – seine Teilung – wurde Brandts Thema. Ostpolitik und Europapolitik wurden für ihn Teile ein und derselben Aufgabe. Seine Politik unterschied sich damit wesentlich von dem, was bis heute gemeinhin als „die Europapolitik“ verstanden wird. Also die Politik, die 1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begon- nen worden war, die heute mit der Europäischen Union fortgeführt wird und deren Ziel der immer engere interne Zusammenschluss der an ihr teilnehmenden Staaten ist. Aber es war unübersehbar, dass diese Form von Europapolitik (damals wie heute) so sehr mit ihren eigenen internen Problemen beschäftigt und so sehr von den nationalen Interessen der sie tragenden Staaten bestimmt war, dass sie eine wesentliche und einheitliche gemeinsame Rolle in der internationalen Politik nicht erreichen konnte. Vor allem aber konnte sie keine Plattform oder gar ein Instrument für eine Überwindung der Teilung des Kontinents sein. Gewiss, auch für diese Europapolitik und ihre Ziele setzte sich Willy Brandt voll ein. Nicht zuletzt, weil er eine umfassende westliche Gemeinsamkeit für eine unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung der Teilung hielt. Freilich konnte diese Einigungspolitik als solche, mit dem ihr zugrunde liegenden technokratischen Denken, mit ihren mechanistischen Regelungen und einigem mehr, für den Vollblutpolitiker Willy Brandt, milde ausgedrückt, kaum ein Faszinosum sein. Klar zeigten dies auch einige in ihr oder über sie geführte Erörterungen. Wie etwa die über die damalige (und bis heute nicht beantwortete) Frage, ob das endgültige Ziel europäischen Bemühens ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein solle. Und für eine reine Alibi-Übung hielt Brandt die damals (und im Rückblick teilweise sogar noch bis heute) verbreitete Auffassung, man müsse nur die Einigung in Westeuropa und mit den USA immer fester gestalten, dann werde sich das Ende der Teilung Europas und mit ihm die Wiedervereinigung Deutschlands mit Sicherheit irgendwann irgendwie ergeben. Willy Brandt war nicht nur Visionär, er war auch Pragmatiker. Als er ab 1966, zunächst als Außenminister und dann als Bundeskanzler, seine Vorstellungen von einer Überwindung der Teilung Europas mit europäischer Politik verwirklichen konnte, tat er dies so, wie er schon in Berlin im dortigen komplizierten Ost-West-Geflecht Verbesserungen hatte erreichen können: mit einer Politik der schen Gemeinsamkeit im Westen überwunden werden könne. Entsprechend substanzarm waren seine europapolitischen Gespräche in Paris. In London waren sie nur von der britischen Absicht beherrscht, erneut einen Beitrittsantrag zu stellen. Wofür Brandt Wilson im persönlichen Gespräch seine volle Unterstützung zusagte. Von London flogen wir für irgendeine Sitzung nach Brüssel, und der britische Außenminister George Brown flog wegen irgend eines Brüsseler Termins mit uns mit. Das Gespräch im Flugzeug drehte sich natürlich um Europäisches. Dabei beugte sich der für seine direkte und unbekümmerte Ausdrucksweise bekannte Brown einmal zu Brandt vor und Außenminister Brown sagte: „Willy, wir wollen rein und wir wollen führen“ Number 10, Downing Street. 1970 begrüßt der damalige Hausherr, Harold Wilson, seinen hohen Gast aus Deutschland. Willy Brandt war im März zu seinem Antrittsbesuch nach London gekommen. Foto: Bundesregierung/Jens Gathmann kleinen Schritte, welche mit wohlüberlegter und fester Überzeugung und mit entschlossen anvisiertem Ziel getan worden waren und nun inder Ost-und Europapolitik getan werden mussten. Mit klarem Bewusstsein, was festes Ziel und was Nebenproblem ist. Dazu erinnere ich mich an ein kleines, aber typisches Beispiel aus der Zeit, als Brandt gerade Außenminister und ich sein Mitarbeiter geworden war. Zu Brandts ersten Auslandsreisen gehörtenEnde 1966undAnfang1967diesogenannten „Antrittsbesuche“, vor allem beiseinemfranzösischen undseinembritischen Kollegen. Wobei bemerkenswert war, dass Brandt in Paris auch von Staatspräsident de Gaulle zum Gespräch gebeten und in London das Gespräch mit ihm von Anfang an von Premierminister Wilson geführt worden war. Die westeuropäische Einigungspolitik war damals in katastrophalem Zustand. De Gaulle war mit seiner Politik, die EWG zu einem Instrument für seine in Konkurrenz zu den USA entwickelte nationale Außen- und vor allemOstpolitik umzufunktionieren, gut vo- rangekommen. Die Bundesrepublik hatte er mit dem Elysée-Vertrag von 1963 fest an Frankreich gebunden. Gleichzeitig hatte er den Beitritt Großbritanniens zur EWG durch ein Veto verhindert. Und die EWG selbst hatte er im Zusammenhang mit deren Versuch, ihren internen Wahlmodus etwas zu europäisieren, mit einer antieuropäischen „Politik des leeren Stuhls“ in ihre bis dahin größte Krise gestürzt. Dies alles lag quer zu der Überzeugung Brandts,dass die Ost-West-Konfrontation nur mit einer umfassenden politi- sagte mit betont deutlicher Sprache: „Willy, wir wollen rein und wir wollen führen“ („We want to join and we want to lead“). Brandt vermied eine Vertiefung des Themas. Abends im Hotel bemerkte ich zu ihm, das sei ja sehr deutlich gewesen. So würden sich die anderen Staaten die Einigung (die damals noch „Integration“ hieß) wohl nicht vorstellen, und wenn das bekannt würde, würde es gerade in der gegenwärtigen Situation die britischen Beitrittschancen kaum verbessern. Brandt nahm das betont gelassen und sagte fast schmunzelnd nur: „Tja, so sind die Briten nun mal – aber sie gehören eben einfach dazu.“ Jahre später, als bei den Jubelfeiern über die wiedergewonnene deutsche Einheit sich schon längst andere im vorderen Bereich der Tribünen bewegten, konnte Willy Brandt dann sein europäisches Werk mit der Bilanz und Hoffnung abschließen: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ — Dr. Hans Arnold war von 1966 bis 1968 Leiter des Büros von Bundesaußenminister Willy Brandt. Offene Briefe an die Basis Altgediente SPD-Funktionäre misstrauten dem medienwirksamen Reformer „Die garantierte Presse- und Meinungsfreiheit ist ein für die Demokratie zu hohes Gut, als dass es von irgendeiner Seite beeinträchtigt werden sollte.“* Jupp Darchinger W i l l y B ra n d t *Aus der Rede Willy Brandts zur Jubiläumsfeier der Neuen Ruhr Zeitung in Essen am 11.09.1971 Seit über 140 Jahren gehören Beteiligungen an Medienunternehmen zur Geschichte der SPD. Vieles ist seither anders geworden. So tragen wir heute mit unseren Beteiligungen an regionalen Zeitungsverlagen zur Pressevielfalt in Deutschland bei. So soll es auch in Zukunft sein. dd.vg.... Denn Geschichte verpflichtet. Im November 1944 wurde Willy Brandt in Stockholm in die sozialdemokratische Exilgruppe aufgenommen; es war sein Wiedereintritt in die SPD, der er bereits 1930/31 angehört hatte, bevor er sich der linkssozialistischen SAP anschloss. Bereits seit September 1945 war ihm klar, dass es zu keiner Einheitspartei kommen würde, weil die KPD keine demokratische Partei war und unter massivem Einfluss der Sowjetunion stand. Die SPD dagegen hatte „große Chancen, zur führenden Partei der neuen deutschen Republik zu werden“. Die SED-Gründung im April 1946 nannte er eine „Zwangseinheit“, „mit undemokratischen Mitteln und teilweise sogar mit gewalttätigen Methoden vorangetrieben“. Ende 1947 entschied sich Brandt, wieder definitiv nach Deutschland zurückzukehren. Seit Januar 1948 arbeitete er in Berlin als Vertreter des SPD-Parteivorstandes; seit 1949vertrater Berlinim Bundestag, wurde in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und hielt 1949 auf dem Landesparteitag der Berliner SPD eine große programmatische Rede, die sich gegen alle Formen des Kommunismus und den wiederauflebenden Traditionalismus in der SPD richtete, aber auch eine Definition des demokratischen Sozialismus enthielt: „Nichts steht uns höher als die Freiheit. Freiheit und Leben sind eins.“ Brandts weiterer Aufstieg in der SPD dauerte lange. Zwar verband ihn mit Ernst Reuter eine wachsende politische Freundschaft, aber in der Berliner SPD blieben die Vorbehalte gegen ihn groß. Da sich die „Etablierten“ mit Franz Neumann für links hielten, was sie aber mit konservativ-strukturellen Organisationsformen verknüpften, wurde aus Brandt ein „Rechter“ gemacht, was er nicht war, weil er sein Linkssein mit neuen Formen der politischen Arbeit und realpolitisch abgesicherten Kalkülen verband. Erst nach fast einem Jahrzehnt ging es weiter: 1957 Regierender Bürgermeister von Berlin, 1958 beim dritten Versuch endlich Mitglied des SPD-Parteivorstandes, im gleichen Jahr Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der SPD, 1960 Nominierung zum Kanzlerkandidaten seiner Partei, 1964 mit 50 Jahren ihr Vorsitzender. Damals gab es immer noch nicht wenige, die fragten: Warum denn der? Brandt war zunächst – von Berlin abgesehen – in der Parteiorganisation nicht verankert. Die Funktionäre, meist altgediente Parteisoldaten, begegneten ihm mit Misstrauen, vertrat er doch die Botschaft der Reformer. Klar, er war medienwirksam, hatte die Gabe der perfekten Rede, und so kam zum Misstrauen der Neid, auch darüber, dass der „oberste Funktionär“, Herbert Wehner, ihn kalkuliert förderte. Kurt Schumacher hatte die Partei mit einer kleinen Gruppe engster Vertrauter straff autoritär geführt, der gemütlich wirkende Erich Ollenhauer kam selbst aus der klassischen Funktionärselite. Und nun dieser Willy Brandt, ein beinahe Fremder. Der hatte auch Vertraute und Mitarbeiter, denen er aber keine Befehle gab, sondern mit denen er endlos lange und kollegial diskutierte, um gemeinsam zu einer Problemlösung zu kommen. Brandt hielt nichts, aber auch gar nichts „von einer teutonischen Pseudoautorität“. Daher richtete er sich auch öfter mit Offenen Briefen direkt an die „Basis“. Aber auch Brandt kannte die Mittel der direkten kurzgeschlossenen Entscheidung und nutzte sie durchaus. Dennoch war sein Führungsstil neu und daraus Willy Brandt auf dem Sonderparteitag am 19. November 1983. Foto: p-a/ Fritz Fischer folgte, dass er zu keiner Zeit in seiner Partei unumstritten blieb. Wer da alles aus den Kreisen der Parteiführung ihm Ratschläge gab oder von ihm forderte, doch endlich ein „starker Mann“ zu sein. Brandt änderte seinen Führungsstil nicht; aber er brauchte Jahre, um den Ruch eines politischen Leichtgewichts loszuwerden. Bei seinen Wählern war er lange Zeit beliebter und auf internationalem Parkett angesehener als in seiner eigenen Partei. Das änderte sich um 1968, und die Partei wuchs: von 1969 bis 1976 um 400 000 Neueintritte. Auf dem Höhepunkt seiner Erfolge braute sich wieder einmal eine Führungskrise zusammen, ausgelöst durch Wehners ostpolitische Alleingänge, aber auch Helmut Schmidt warf Brandt vor, nichts gegen das „Bild der dauernden inneren Auseinandersetzungen“, das die SPD abgebe, zu tun. Doch Anfang April 1974 gelang es Brandt, sowohl seinen Führungsanspruch als Vorsitzender unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen als auch die Mitglieder zu neuer Geschlossenheit aufzufordern. Das hat ihn viel Kraft gekostet, die ihm bei den weiteren Entscheidungen im Jahr 1974 fehlte. Nach seinem Rücktritt blieb Brandt Vorsitzender seiner „Partei der Freiheit“, deren Profil neu zu bestimmen er sich bemühte. Er hielt die Partei offen für die demokratischen Teile der Außerparlamentarischen Opposition und führte die Partei selbst in das weite Lager der Friedensbewegung. Auch das ging nicht ohne Konflikte im Führungskreis der Partei ab. Auch diesmal setzte sich Brandt durch, wenn auch nicht ohne Erwägung seines Rücktritts vom Parteivorsitz. Die SPD erhielt nun sozialstrukturell ein moderneres Gesicht: Sie sollte zwar eine integrationsfähige Partei der „kleinen Leute“ bleiben, gleichzeitig aber neue soziale Segmente erreichen und die Fähigkeit gewinnen, soziale Bündnisse auch über ihre Grenzen hinaus zu schmieden. Brandt sah, dass die Individualisierung in der Gesellschaft voranschritt, die soziale Mobilität anstieg und die noch vorhandenen klassengesellschaftlichen Rudimente eingeschmolzen wurden. Da ging wieder ein Sturm in der Partei los. Brandt jedoch ließ sich nicht beirren und steuerte ein neues Programm an. Der erste Entwurf für das Berliner Programm von 1989 trug deutlich seine Handschrift. Als das Programm beschlossen war, war er schon seit zwei Jahren nicht mehr Vorsitzender der SPD. Er war gestolpert über eine personelle Fehlentscheidung seinerseits, die wieder einmal von „Freunden“ in der obersten Führungsgarnitur genutzt wurde. Brandt hatte genug und las seinen spießigen Genossen in seiner Rücktrittserklärung die Leviten. Da fragt man als Rückblickende nun schon: Die kleinkarierte SPD hatte einen so bedeutenden Vorsitzenden, dem es als Bundeskanzler und darüber hinaus gelungen war, den Frieden in der Welt zu sichern, und diese Partei kapierte das nicht?! Aber Halt: Wer war denn „die“ SPD? Gewiss nicht die oberste Führungsgarnitur allein, sondern immer mehr die „Basis“. Und die ließ auf ihren Willy (wenn auch gelegentlich zähneknirschend) nichts kommen. Und heute? Da fragt ein einstiger Weggenosse besorgt, ob denn Brandt „in der eigenen Partei noch ganz präsent ist. Und wenn, dann wie?“ (so Klaus Harpprecht). Die Sorge muss man nicht haben. Bei den Jungen in der SPD um die 30, denen man durchaus trauen kann, ist Willy Brandt keine Ikone, kein Held nach Maß, kein schlichter Visionär, vielmehr ein Mann der besonnenen Tat, mit scharfem Augenmaß und zugleich weitem Fernblick. Und last not least: So sieht wohl der heutige Vorsitzende seinen Vorgänger ebenfalls. Helga Grebing — Die emeritierte Historikerin ist Mitglied der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. WILLY BRANDT MONTAG, 17. JUNI 2013 / NR. 21 720 DER TAGESSPIEGEL B3 „Ich mache die Arbeit im Rathaus mit Freude“ Kein Ort war geeigneter als Berlin, um die Politik der kleinen Schritte zu entwickeln Von Hermann Rudolph Das ist die Kehrseite, wenn einer zu einer Jahrhundertgestalt wird: Die Schritte, die dorthin führen, verblassen und werden zu bloßen Etappen einer Biografie. Willy Brandts Ruhm verdankt sich der Ostpolitik, der Kanzlerschaft der sozial-liberalen Koalition 1969 und einem internationalen Rang, wie ihn kaum ein anderer Deutscher gewonnen hat. Und seine Berliner Jahre – immerhin bald zwanzig, zehn davon als Regierender Bürgermeister? Natürlich sind sie „unentbehrliche Jahre“ – wie sie Egon Bahr einmal in dieser Zeitung genannt hat –, die den Staatsmann reifen ließen. Aber was macht sie aus? Was war Berlin für Brandt? Zuerst war die Stadt der Ort der Rückkehr und des neuen Anfangs. Als Brandt im kalten Januar 1947 nach Berlin kommt, steht er zwischen Emigration – noch gehörter,wieer sicherinnert,zum „norwegischen Milieu“ in der besetzten Stadt – und Wiederaufnahme seiner deutschen Existenz. Es sind die Turbulenzen, die Berlin in diesen Jahren bewegen, die ihn in die Stadt und in die Politik buchstäblich hineinziehen–der KampfumdieStadtimbeginnenden kalten Krieg, die Selbstbehauptung der SPD gegen die Kommunisten, die Blockade. In der Nähe Ernst Reuters nimmt er aktiv daran Anteil und wird selbst zur politischen Figur. Übrigens ist dieser Anfang nicht seine erste Begegnung mit Berlin. 1936 hat er illegal, als norwegischer Student Gunnar Gaasland, ein paar Monate in der Stadt gelebt. Sie hatbeiihm offenbareinen sogünstigen Eindruck hinterlassen, dass er in seinem Erinnerungsbuch „Links und Frei“ den Abschnitt über den Beginn seiner Arbeit mit „Berlin II“ überschreibt. Unter dem Eindruck der Blockade – das erste Kind des Ehepaars Brandt kommt bei Kerzenlicht zur Welt – muss ein Gefühl der Nähe zur Stadt und ihren Bewohnern entstanden sein. Ihre Stimmung habe ihn „mehrals einmalan die Gesinnung im norwegischen Widerstand“ erinnert. Berlinist mithinderGeburtsortdesPolitikers Brandt – und der Politik, mit der er zu einer überragenden Gestalt der jüngsten Geschichte wird. Dabei muss Brandt sich zunächst einem mit Haken und Ösen ausgefochtenen Kampf um die Führung der Berliner SPD stellen. Aber die Auseinandersetzung mit Franz Neumann, ihrem damaligen Vorsitzenden, einem typischen alten Parteisoldaten, ist mehr als ein Beispiel erbitterter Parteirivalität. Erst Brandts Sieg über ihn macht die SPD zu der Partei, die Berlin durch die anstehenden Probleme steuern kann. Mit Brandts Wahl zum Regierenden Bürgermeister 1957 erreicht die Stadt die Höhe der Herausforderungen, die die Geschichte für sie bereithält. Denn Brandt verbindet das Drängen auf Bewegung in der Ost- und Deutschlandpolitik mit der Anlehnung der Stadt an die Bundesrepublik. Da steht er durchaus gegen wichtige Teile auch der eige- Im Jahr 1956 macht ihn eine Mutprobe zum Helden der öffentlichen Meinung nen Partei und ihrer Neigung, in Berlin eine eigenständige, „fortschrittlichere“ Politik zu machen. Gelegentlich schießt sein Berlin-Engagement auch über das Ziel hinaus – so, im unruhigen Jahr 1956, mit der Forderung nach dem sofortigen Umzug von Bonn nach Berlin. Zu Buche schlägt das Jahr für Brandt allerdings mit einer Mutprobe, die ihn zum Helden der öffentlichen Meinung in Berlin macht: Er verhindert, dass der Protest der Berliner gegen die Niederschlagung der ungarischen Revolution eskaliert und aus dem Ruder läuft. Sein Aufstieg verdankt sich der Fähigkeit, ein hohes Maß an konzeptioneller Entschiedenheit auch im politischen Alltag durchzuhalten. Dabei findet er auch den richtigen Ton, die Berliner in ihrer Lage anzusprechen. Nicht zuletzt tragen er und seine Frau Rut ein neues politisch-gesellschaftliches Fluidum in die Stadt. Der Auftritt des Paares beim Presseball 1955 – er im Smoking, sie im weißen Seidenkleid in der H-Linie, damals der letzte Schrei – wird Legende. Es zeigt sich, dass Brandt über die Gabe verfügt, populär zu werden. In der umzingelten Stadt wird er zur Verkörperung politi- Verantwortlich für Berlin. Seit 1957 (bis 1966) ist Willy Brandt Regierender Bürgermeister der Stadt. Das Foto zeigt ihn im Jahr 1960, mit der unvermeidlichen Zigarette in der Hand, vorm Brandenburger Tor. Foto: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn scher Führung. Sie ist, seit Ernst Reuter, eine unabdingbare Komponente der Sicherung des Überlebens der Stadt Dass im Amtstitel Regierender Bürgermeister auch die Bürgermeister-Rolle steckt, realisiert der politische Stratege durchaus. Mit Leidenschaft? Mit stillem Seufzen? „Ich machte die Arbeit im Rathaus mit Freude“, schreibt er Mitte der siebziger Jahre, fügte allerdings hinzu, dass sie ihm „nicht wenig“ abverlangte. So eröffnet der Politiker, der mit dem amerikanischen Präsidenten konferiert und weltweites Ansehen genießt, auch die grüne Woche, legt den Grundstein für die Akademie der Künste und tauft eine Boeing auf den Namen „Berlin“. Selbst als Kanzlerkandidat im Wahlkampf 1961 ist er am Vormittag im Schöneberger Rathaus. Aber Brandt steht eben auch in der wichtigen Phase an der Spitze der Stadt, in der Berlin sein Nachkriegsgesicht erhält. Neue Erkennungszeichen entstehen – die Philharmonie, die Deutsche Oper, aber auch die Stadtautobahn. Die Berlin-Hilfe wird – nach dem Mauerbau – in ein neues Format gebracht. Das wirtschaftspolitische Junggenie Karl Schiller und der Kulturpolitiker Adolf Arndt ziehen in den Senat ein. Der Ausbau Berlins zur Stätte von Kultur und Wissenschaft wird zumindest Programm. Zugleich ist es täglich notwendig – so Brandt –, „sich um die Abwehr akuter und schleichender Gefahren, die Vertretung Berliner Interessen in Bonn und gegenüber den Alliierten“ zu kümmern; um die wirtschaftlichen Fundamente ohnedies. In einer Zeit, in der das Schicksal der Stadt in einer heute nicht mehr vorstellbaren Weise ungesichert ist, ist die Sicherung des Überlebens Stadtpolitik, ja auch Kommunalpolitik. Eigentlich ist es ihre wichtigste Seite – und Brandt bewältigte sie in beispielhafter Weise. Er wird zu der Instanz, die den Selbstbehauptungwillen der Stadt hochhält. Da tritt er – als Chruschtschow mit seinem Ultimatum im Herbst 1958 West-Berlin den Lebensnerv brechen will – in die Spuren Ernst Reuters und ruft vor 6oo ooo Menschen auf dem Platz der Republik aus: „Schaut auf das Volk von Berlin, dann wisst ihr, was die Deutschen wollen“. In der größten Krise der Stadt, dem Mauerbau, kämpft er an allen Fronten, um die Stadt vordemVersinken indie Depression zubewahren. Dabei ist die akute Krise nur eine Seite ihrer Bedrohung; die andere ist die Gefahr, dass die Stadt – so Brandt – auf ein „zeitgeschichtliches Abstellgleis“ gerät. Berlin wird schließlich der Ort, an dem er und eine Handvoll Vertrauter, Egon Bahr, Heinrich Albertz und Klaus Schütz, die „heilige Familie“, wie sie man spöttisch nennt, die neue Ostpolitik sozusagen erfinden. Denn sie ist getränkt mit Erfahrungen, die man wohl nur hier machen konnte. Mit Enttäuschungen wie mit der Politik der kleinen Schritte: Dass der 13. August den Vorhang fortgezogen habe, hinter dem es leer war – wie Brandt formuliert – ist es nicht der genaue Ausdruck der Lage Berlins? Und wo sonst hätte die minimale Mauerdurchbrechung der Passierscheinregelung 1963 erdacht werden können? Als Brandt 1966 dem Ruf der Partei nach Bonn folgt, um als Außenminister in die Große Koalition von CDU und SPD einzutreten, beharrt er darauf, dies sei kein Abschied von Berlin, sondern der „Beginn eines neuen Abschnitts der Arbeit für Berlin“. Das kann man als wohlfeile Formel verstehen, um den Berlinern den Abgang zu versüßen. Aber hat es nicht doch, sieht man aufs Ganze von Brandts Wirken, einen Hauch von Wahrheit? Am Tag nach der Maueröffnung ist er bereits in Berlin: Verkörperung der Verbundenheit mit der Stadt, die das auch so sieht. Drei Jahre später wird er in Berlin begraben: Ein Kreis hat sich geschlossen. Offenheit, Dialog und Kompromiss Thorvald Stoltenberg, ehemals Verteidigungsminister Norwegens, erinnert sich an persönliche und politische Begegnungen und preist Brandts Erbe Meinen ersten Kontakt mit Willy Brandt hatte ich imJahre 1965.Damals warich politischer Referent des norwegischen Außenministers Halvard Lange und begleitete ihn bei seinem Besuch des Regierenden Bürgermeisters in Berlin. Seitdem traf ich Willy Brandt etwa fünfzigmal. Er war ein Staatsmann, dem ich – emotional wie politisch – sehr nahe kam. Beim ersten Treffen beeindruckte mich, dass Willy Brandt als politische Antwort auf den Bau der Mauer weniger Wert auf Militärparaden legte als vielmehr auf eine Politik der kleinen Schritte im Interesse der Menschen, zum Beispiel damit die durch die Mauer getrennten Familien sich wieder treffen konnten. Schon damals befürwortete er eine Entspannung zwischen Ost und West, und wandte sich gegen Denkund Kontaktverbote: „Ich fürchte keine Kontakte, Angst vor Kontakten haben nur Diktatoren“, sagte er uns. Auch als Bundesaußenminister der Großen Koalition blieb Willy Brandt bescheiden und sagte uns: „Niemand soll als Außenminister so tun, alshabe er die Weisheitmit Löffelngegessen“. Nach seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1969 beeindruckte mich, dass er in seinen Anstrengungen um Entspannung in Europa nie aufgab – weder gegenüber den skeptischen Reaktionen im Os- Stolz auf den Staatsmann, der fließend norwegisch sprach ten noch gegenüber dem erbitterten Widerstand im Westen gegen seine Entspannungspolitik. Anders als in Deutschland gab es in Norwegen, damals unter dem konservativen Außenminister John Lyng, kaum Widerstand gegen Willy Brandts Entspannungspolitik. Norwegen hatte Vertrauen zu ihm, und wegen der gemeinsamen Grenze mit der Sowjetunion hatten wir auch ein Interesse an Entspannung. Deshalb bekam die Entscheidung des norwegischen Nobelkomitees, Willy Brandt für seine Politik der Ostverträge Ende 1971 den Friedensnobelpreis zu verleihen, volle Unterstützung aus allen politischen Lagern in Norwegen. Zwar gab es in Norwegen, schon allein wegen des Zweiten Weltkrieges, antideutsche Vorbehalte. Aber mit Willy Brandts persönlicher Glaubwürdigkeit – und seiner demütigen Ehrerbietung durch den Kniefall des Bundeskanzlers am Mahnmal für Freunde. Der frühere norwegische Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg (links) im Foto: Fritz Fischer dpa Gespräch mit Willy Brandt 1984 über den Konflikt in Nicaragua. die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden am 7. Dezember 1971, nur drei Tage vor der Entgegennahme des Friedensnobelpreises – waren bei uns antideutsche Zweifel verschwunden. Im Gegenteil, wir alle in Norwegen waren stolz auf den einzigen internationalen Staatsmann, der fließend norwegisch sprach und am 10. Dezember 1971 den Friedensnobelpreis aus der Hand der Vorsitzenden des Nobelkomitees, Aase Lionæs, erhielt, die bereits vor dem Krieg 1938 Willy Brandt kennengelernt hatte, als sie Mitglied im Osloer Stadtrat war. In seiner programmatischen Rede in Oslo am 11. Dezember 1971 erläuterte Willy Brandt die Grundlinien seiner Friedenspolitik, die in ungewohnter Klarheit Krieg als Mittel der Politik prinzipiell ausschloss: „Der Krieg darfkein Mittel derPolitiksein.Esgehtdarum,Kriegeabzuschaffen,nicht nur, siezu begrenzen. ... JedeAußenpolitik muss dieser Einsicht dienen. ... Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.“ Darauf aufbauend, erläuterte Willy Brandt die konkreten Prinzipien und Ziele seiner Entspannungspolitik. Seine beruhigende und inspirierende Art, sein Mut und seine Entschlossenheit, über die Ostverträge und die KSZE in Europa ein „Gebäude des Friedens zu errichten“, beeindruckte uns, ebenso wie sein klares Fundament: „Der Gewaltverzicht muss ein Gesetz werden, das jeder Staat respektiert und das Interventionen ausschließt.“ Damals wusste niemand, ob diese friedliche Runderneuerung der europäischen Sicherheit wirklich Erfolg haben konnte. Aber wir hatten mit Willy Brandt Vertrauen in die neue deutsche Außenpolitik gewonnen. Für deutsche Leser möchte ich das etwas erläutern: Als – von der Bevölkerungszahl – kleines Land musste sich Norwegen außenpolitisch stets anpassen. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde 1945 Großbritannien – wo auch unser König vor der deutschen Besatzung Zuflucht gefunden hatte – unser natürlicher Haltepunkt in Europa. Mit der Gründung des Sekretariats des Commonwealth 1965 schien sich das Britische Königreich wieder stärker an globalen Aufgaben als an seinen europäischen Nachbarn zu orientieren. Als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) 1976–1992 unterstützte Willy Brandt auf vielfältige Weise Friedens- und Abrüstungsinitiativen. Persönlich arbeitete ich als Mitglied im Rat der SI (1969–1987) eng mit Willy Brandt zusammen bei Initiativen zur Lösung von Konflikten. Er verstand es immer wieder, die Besonderheiten eines Konfliktes zu berücksichtigen und zugleich Wege zu finden, ihn durch direkten Dialog mit den Beteiligten zu deeskalieren. Mehrfach setzte er mich als „Troubleshooter“ ein. Einen Auftrag von Willy Brandt zur Konfliktvermittlung werde ich nie vergessen: Als er mich bat, in Nicaragua zwischen Sandinastas und Contras zu vermitteln, lehnte ich zunächst ab: „Ich kann kein Spanisch, war nie in Nicaragua und kenne nicht die Konfliktparteien“. Aber Willy Brandt antwortete: „Thorvald, gerade weil du die Konfliktparteien, ihre Sprache und ihr Land nicht kennst, hast du beste Chancen, deinen gesunden Menschenverstand einzusetzen und mit den Parteien einen vernünftigen Kompromiss für ein Friedensabkommen auszuhandeln“. Ich akzeptierte seinen Auftrag – und der Erfolg gab Willy Brandt recht ... Aus heutiger Sicht erwies sich Willy Brandts Entspannungspolitik als die bestmögliche und erfolgreiche Anwendung der Charta der Vereinten Nationen zur Überwindung der im Kalten Krieg festgefahrenen Spannungen in Europa. Ich persönlich möchte drei Ergänzungen zur Verwirklichung von Willy Brandts Vermächtnis nach dem Ende des Kalten Krieges formulieren. Erstens: Mehr Offenheit und Demokratie! Man sollte dem Terror mit mehr Offenheit und Demokratie (d.h. nicht „Naivität“) begegnen, und nicht mit mehr Verschlossenheit und weniger Demokratie! Als wir in Norwegen am 22. Juli 2012 dem Terror und Massenmord durch eine Person ausgesetzt waren, haben wir zu Tausenden mit mehr Offenheit und mehr Demokratie geantwortet. Das Ergebnis war breiteste Solidarität und Unterstützung aus allen Strömungen unserer Gesellschaft. Und der vom Gericht verurteilte Terrorist und seine Ideologie waren grenzenlos isoliert, trotz oder gar wegen aller Offenheit. Diese Reaktion war anders als die Reaktion von Präsident Bush auf den 11. September 2001. Zweitens: Dynamik von Konflikten nur durch Dialog zu lösen! Wir können Krieg nicht „weg“erfinden, und alle Konflikte sind verschieden. Aber wir müssen lernen, anders mit der Dynamik von Konflikten umzugehen. Auch das ist eine Lehre von Willy Brandt. Und die liegt mir persönlich sehr am Herzen: Man kann die Dynamik von Konflikten nur dann deeskalieren, wenn man mit allen Beteiligten spricht, die im Konflikt Macht haben. Wenn man nicht direkt mit einer Konfliktpartei redet, kann man auch keine Vereinbarung erzielen. Das heißt Kommunikation zwischen und mit Konfliktparteien ist Voraussetzung für jede tragfähige Lösung der Probleme. Drittens: Den Kompromiss aufwerten, dennohne Kompromisse gibt es keine Problemlösung! Kompromisse und Kompromissbereitschaft sind Voraussetzung für jede Lösung – ob in der Familie, in der Gesellschaft, lokal oder international. Das heißt, dass wir unsere Herangehensweise an Konfliktlösungen ändern müssen: Wir sollten aufhören, den Kompromiss nur als „notwendiges Übel“ oder als etwas darzustellen, was wir unter „anderen“ Bedingungen wieder infrage stellen. Nur die Bereitschaft zum Kompromiss, zum Interessenausgleich und zur Respektierung des Anderen und seiner Andersartigkeit kann inder globalisierten Welt denWeg zumZusammenleben und zur friedlichen Veränderung eröffnen. Gerade dies war das Geheimnis des Erfolges der Politik Willy Brandts, die zur friedlichen Öffnung und Vereinigung Europas geführt hatte. — Aufgezeichnet und aus dem Norwegischen übersetzt von Wolfgang Biermann Den kompletten Text von Thorvald Stoltenberg lesen Sie unter www.tagesspiegel.de/willybrandt B4 WILLY BRANDT DER TAGESSPIEGEL NR. 21 720 / MONTAG, 17. JUNI 2013 Nie sahen ihn seine Söhne weinen Willy Brandt bemühte sich, ein guter Vater zu sein. Doch ein Familienmensch war er nicht. Er tat sich schwer mit Emotionen und floh in die Geschichte Von Torsten Körner Willy Brandt fiel es schwer, in der Familie Halt und Geborgenheit zu finden. Eher war er in der ganzen Welt zu Hause, in der Geschichte und seiner Partei. Einer wie er fand vor Hunderttausenden die richtigen Worte und gab der Masse das Gefühl, ihr nahe zu sein, sie zu verstehen. Doch im familiären Kreis blieb der Übervater der SPD oft genug ein unsichtbarer Vater, der sich in sich selbst zurückzog. Privat litt er darunter, nicht die richtigen Worte und Gesten zu finden, denn seine Kindheit und Jugend hatten ihm eine soziale Bindegewebsschwäche beschert, ein Unvermögen, sich emotional mitzuteilen und zu öffnen. Wo hätte er diese familiäre Sprache auch lernen sollen? Willy Brandt wächst als uneheliches Kind überwiegend bei seinem Großvater auf. Seinen leiblichen Vater lernt Brandt nie kennen, und er glaubt lange Zeit, sein Stiefgroßvater Ludwig Frahm, den er „Papa“ nennt, sei sein Vater. Doch der geliebte Mann, der bis dahin seine wichtigste familiäre Instanz war, begeht 1935 aus Verzweiflung Selbstmord. Da lebt Willy Brandt schon im norwegischen Exil und hat sich auf der Flucht vor den Nazis eine eigene Identität gegeben. Am 11. März 1933 nennt sich der junge Mann, der bis dahin auf den Namen Herbert Frahm hörte, Willy Brandt. Dieser Tarn- und Kampfname entwickelt ein eigenes Gewicht, ein eigenes Schicksal, denn er bietet dem jungen Mann die Chance, sich selbst aus der Taufe zu heben und das alte, ungeliebte Ich zu verabschieden. Willy Brandt hat in seinen Biografien später oft betont, wie fremd ihm dieser Herbert Frahm geworden sei. Seither hatte Willy Brandt mit dieser Abspaltung zu leben, ein Riss geht durch seine Persönlichkeit, und Brandt fragte sich, ob er zum Ehemann, Familienmenschen und Vater überhaupt tauge? Willy Brandt kam, wie er selbst schrieb, aus dem „familiären Chaos“ und fand seine Heimat früh in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Und als seine erste Ehe mit der Norwegerin Carlota Thorkildssen, aus der seine Tochter Posieren für die Öffentlichkeit. Willy Brandt als Berlins Regierender Bürgermeister mit seiner Frau Rut und den Söhnen Lars Foto: picture-alliance / dpa (14), Peter (16) und Matthias (4), aufgenommen 1965. Ninja (1940*) hervorgeht, nach wenigen Jahren scheitert, bestärkt diese Erfahrung Brandt darin, wohl kein Familienmensch zu sein. Seine zweite Ehe mit Rut Hansen verwitwete Bergaust, die 1948 geschlossen wird, ist daher ein Wagnis, eine echte Herausforderung. Als er 1947 nach Deutschland zurückkehrt und seine erste Frau Carlota und ihre Tochter Ninja verlässt, schreibt er anrührende Briefe an das siebenjährige Mädchen, um ihr nahe zu sein und zu erklären, warum er sich in der Politik engagiert. Am 4. Dezember 1947 berichtet er aus Berlin: „Vielleicht hat Mama schon erzählt, dass ich in einigen Wochen eine neue Arbeit anfangen werde. Ich bin ja, wie Du weißt, in Deutschland aufgewachsen. Später habe ich in Norwegen gewohnt. Ich musste nach Norwegen fliehen, weil die, die damals in Deutschland regiert haben, dieselben schrecklichen Leute waren, die später auch Soldaten nach Norwegen geschickt haben. Jetzt aber gibt es andere Menschen, die Deutschland wieder aufbauen wollen und dafür sorgen werden, dass das Land nie wieder etwas Falsches gegen andere Länder unternimmt. Und ich finde, dass ich dabei helfen muss, auch wenn ich Nor- Er lebte Politik Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung zeigt Ausstellungen in Berlin und Lübeck Sie liegt im Herzen der Hauptstadt, prominent Unter den Linden 62-68, große Schaufenster laden ein, wo früher eine französische Automarke lockte. Willy Brandts Kniefall in Warschau und sein zufriedener Blick auf die Menge am 10. November 1989 am Brandenburger Tor – diese beiden Fotos in den Schaufenstern des Forum Willy Brandt Berlin der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung ziehen die Besucher an. „...mehr Demokratie wagen...“ ist aus dem Lautsprecher an der Tür die markante Stimme zu vernehmen. Wer die neu gestaltete Dauerausstellung „Willy Brandt – Politikerleben“ anschaut, wird nicht nur über sein Leben und Wirken informiert, sondern gleichzeitig über die dramatische Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa. Die 1994 gegründete Stiftung ist eine von fünf überparteilichen Politiker-Gedenkstiftungen, die bisher von der Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurden. Damit steht Willy Brandt in einer Reihe mit Otto von Bismarck, Friedrich Ebert, Konrad Adenauer und Theodor Heuss. Erhättees sichalsRegierenderBürgermeister Berlins nicht träumen lassen, dass er einmal Unter den Linden gegenüber der russischen Botschaft geehrt werden würde. Der Name Willy Brandt steht für „Demokratie und Freiheit, Völkerverständigung und Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität und gesellschaftliche Verant- wortung“. Dem fühlt sich die Stiftung verpflichtet. In Brandts Geburtsstadt Lübeck unterhält die Stiftung ein zweites Standbeinim Willy-Brandt-Haus , dasfür außerschulische Bildungsarbeit genutzt wird. Neben der breiten Bildungsarbeit für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung seine Schriften heraus, treibt die Forschungüber ihnvoran und veranstaltet unter anderem Zeitzeugengespräche, die in einer eigenen Schriftenreihe dokumentiert werden. R.B. Weitere Informationen im Internet: www.willy-brandt.de www.willy-brandt-luebeck.de Kommt her und schaut euch um Seit 2000 fördert die Deutsch-Norwegische Willy-Brandt-Stiftung Begegnungen Der Anstoß kam aus Norwegen. Die Regierung startete 1999 die „Deutschland-Strategie“, um das Verhältnis zwischen Deutschland und Norwegen entscheidend zu verbessern, aber auch das Interesse an Deutschland neu zu wecken, dem Staat, mit dem man seit der Unabhängigkeit 1905 so eng zusammengearbeitet hatte und der dann zum Entsetzen der Norweger 1940 das Land überfallen und besetzt hatte. Doch die Zeiten hatten sich geändert, und Deutschland war zum wichtigsten Partner Norwegens in Europa geworden. Das Außenministerium hatte die Gründung einer Norwegisch-Deutschen Willy-Brandt-Stiftung angeregt. Niemand schien den Norwegern geeigneter als Willy Brandt als Namenspatron, denn der Entspannungspolitiker und Friedensnobelpreisträger hatte schließlich von 1940 bis 1948 die norwegische Staatsbürgerschaft besessen. In seinem Leben spiegelt sich die Geschichte beider Länder. Zu den Gründungsvätern der Stiftung gehörten unter anderem Thorvald Stoltenberg und Egon Bahr. Ziel der Stiftungsarbeit ist es seit 2000, vor allem die Kenntnisse über das jeweils andere Land zu vertiefen, für die Sprache zu werben und Begegnungen zu ermöglichen. Auffällig ist das Engagement der Stiftung für Schüler, Studenten und junge Wissenschaftler. Schulbesuche, Bildungsreisen, Forschungsstipendien – das Instrumentarium ist breit ange- VERANSTALTUNGEN IM JUBILÄUMSJAHR legt, um möglichst vielen interessierten Deutschen und Norwegern Möglichkeiten zur Begegnung zu geben. Gefördert wird auf den Gebieten Bildung und Kultur, Nachhaltigkeit in Energie und Umwelt und Nachhaltigkeit in Politik und Gesellschaft. Herausragend ist die alljährliche Verleihung des Willy-Brandt-Preises an jeweils eine Persönlichkeit oder Institution beider Länder. So wurden beispielsweise 2006 zwei deutsche und eine norwegische Schule ausgezeichnet, die sich besonders im Schüleraustausch engagiert hatten. Das war ganz gewiss im Sinne Willy Brandts. R.B. Weitere Informationen im Internet: www.willy-brandt-stiftung.de D Ein Leben wird gewürdigt Am 18. Dezember 2013 jährt sich der 100. Geburtstag von Willy Brandt. Aus diesem Anlass hat die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung zahlreiche Veranstaltungen im Jubiläumsjahr unter dem Motto „Europäische Einheit – Freiheit / Mehr Demokratie – Eine Welt“ vorbereitet. 18. Juni, Berlin: Zeitzeugengespräch: Egon Bahr (in Kooperation mit der Bundeskanz- ler-Willy-Brandt-Stiftung) im Tagesspiegel-Verlagshaus, Askanischer Platz 3. (Keine Anmeldung mehr möglich) 21. Juni, Lübeck: „Ein Fest für Willy!“ – Bürgerfest der SPD in Lübeck 22. Juni, Lübeck: Enthüllung einer Gedenktafel an Willy Brandts Geburtshaus 29. Oktober, Berlin: Zeitzeugengespräch: Gerhard Schröder. Stiftung Aufarbeitung, Kronenstraße 5 5. Dezember, Berlin: Gedenkveranstaltung des Senats von Berlin und des Abgeordnetenhauses von Berlin 11. Dezember, Lübeck: Festakt zum 100. Geburtstag Willy Brandt (in Kooperation mit der Hansestadt Lübeck und der Norwegisch-Deutschen Willy-Brandt-Stiftung). Hauptredner: Dr. Heinz Fischer, österreichischer Bundespräsident, und Thorvald Stoltenberg in Anwesenheit von Bundespräsident Joachim Gauck 17. Dezember, Berlin: Internationale Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung 18. Dezember, Berlin: Festveranstaltung der SPD im Willy-Brandt-Haus Hauptredner: Felipe González, Sigmar Gabriel, Egon Bahr Weitere Termine und nähere Informationen im Internet: www.willy-brandt.de www.willy-brandt-stiftung.de wegen sehr, sehr lieb habe. Es ist aber so, wie mir neulich einer meiner Freunde aus der Schweiz geschrieben hat: Ich muss jetzt für dasjenige von meinen beiden Vaterländern arbeiten, das es schwer hat und meine Hilfe braucht. Eine große Umarmung von Deinem Papa.“ WillyBrandt bemühtesich,ein guter Vater zu sein, er nahm sich die kleine Zeit, wenn die große Zeit ihn ließ. Er las den SöhnenMärchen vor,warfan SilvesterBöller, mit Lars ging er angeln. Ein Rabenvater ist Brandt für seine vier Kinder Ninja, Peter, Larsund Matthiassicher nicht gewesen, aber ein gehandicapter, ein schwer zu fassender Vater. Und es war eine andere Zeit. Wie selbstverständlich flog der Regierende Bürgermeister 1961 in die USA, obwohl seiner Frau eine schwere Geburt bevorstand. Rut litt sehr, aber sie trug es. Väter waren noch keine Kreissaalgefährten und Windelwickler. Spricht man mit Peter, Lars und Matthias Brandt, stellt man bald fest, dass jeder von ihnen einen anderen Vater erlebt hat und eine eigene Beziehung zu ihm aufbaute. Während die älteren Brüder Peter (1948*) und Lars (1951*) in Berlin noch die Ansätze eines „normalen“ Familienlebens erfahren, wird Matthias (1961*) in Bonn schon von Leibwächtern zur Schule begleitet. Mitunter hat das Nesthäkchen das Gefühl, dieser Mann sei ein „Opa“ und bedürfe, etwa beim Spielen, seiner kindlichen Hilfe, denn in solchen Dingen ist der amtierende Bundeskanzler vollkommen hilflos. Wie bloß baut man ein Modellflugzeug zusammen? In solchen Momenten konnte Brandt in eine totale Lähmung versinken, aus der ihn der Sohn mit aufmunternden Worten und kindlichem Trost herauszuholen versuchte. Willy Brandt gehörte zur Generation der unnahbaren Väter, die von den Erfahrungen im Krieg und im Exil existenziell so geprägt worden waren, dass ihre Kinder in ihnen intuitiv eingeschränkte Persönlichkeiten sahen und von ihnenkein gesteigertes Interesse an ihrem eigenen Leben erwarteten. Auch die Frauen an seiner Seite warteten häufig umsonst auf das lösende Wort. Klarheit in Liebesdingen? Konstruktiver Streit? Rut Brandt scherzte einmal verzweifelt, sie werde eines Tages eine Tränengasbombe werfen, um ihrem Mann Gefühle abzuluchsen. Man hat Willy Brandt viele Geliebte angedichtet, die meisten von ihnen entsprangen blühender Männerfantasie. Zwar übte Brandt eine große Anziehungskraft auf Frauen aus, aber es war gerade seine emotionale Verlorenheit und sein unbeholfenes, passives Bedürfnis nach Nähe, das ihm die Sympathien zuspielte. Seine treueste Geliebte, seine Seelennotschwester und lebenslange Kameradin war die weiße Dame, die Zigarette. Nein, privat flossen die Gefühle spärlich, seine Söhne sahen ihn nie weinen. Tränen füllten seine Augen hingegen, wenn die Geschichte sprach. Als die Alliierten in der Normandie landeten, als er 1970 im Sonderzug nach Erfurt fuhr, als 1989 die Mauer fiel. Da wagte er Gefühl, da vermählte er inneres Empfinden mit kollektiven Gefühlen. In diesen Momenten war Brandt ganz bei sich und ganz außer sich. In seinem letzten Erinnerungsbuch fehlt die Familie völlig. Warum? Undankbarkeit? Kälte? Kaum! Ein Mann wie Willy Brandt konnte sich nicht in die Familie retten, deshalb musste er in die Geschichte fliehen. Die, die ihm dahin nicht folgen wollten, musste das verletzen. Mit all seinen Selbstzweifeln und beschädigten Gefühlen suchte und fand er Bestimmung In der Historie endlich fand er jene Geborgenheit, die er anderen spenden konnte und Statur im staatsmännischen Selbstbild, das er im letzten Lebensbuch entwirft. Die Historie nahm ihn bereitwillig auf, hier blieb er kein Flüchtling, hier fand er Geborgenheit und spendete sie anderen, die ihn nur aus der Ferne her kannten. Ein Familienmensch ist Brandt nicht gewesen, aber ohne Familie ist kein Mensch. Und als er in seinem Haus in Unkel starb, fanden sich Worte, Tränen und Gesten, um seinen Kindern „Lebewohl“ zu sagen. — Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt, erscheint am 22. August im FischerVerlag und kostet 22,99 Euro, die Buchpremiere findet am 26. September im Renaissance-Theater statt und wird von Anne Will moderiert. WILLY BRANDT 100: Beilage des Tagesspiegels. Redaktion: Rolf Brockschmidt, Hella Kaiser; Anzeigen: Jens Robotta, Postanschrift: 10876 Berlin, Tel. (030) 29021-0.