Recht, Justiz - Institut für Osteuropäische Geschichte

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Recht, Justiz - Institut für Osteuropäische Geschichte
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Grundlagen
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Recht, Justiz
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1m 19. Jahrhundert widmete sich die Rechtshistoriographie vor allem der Sammlung und
Systematisierung der überlieferten Rechtsnormen und legte einen besonderen Schwer­
punkt auf die Untersuchung des allgemeinen Staats-, Kirchen- und Institutionemechts.
Dieser Tradition folgte im Wesentlichen auch die sowjetische Rechtshistoriographie. Ge­
gen Ende des 19. Jahrhunderts kam eine Geschichtsschreibung spezieller Rechtsentwick­
lungen (z. B. Sozial- und Wirtschaftsrecbte, Strafrecht, Prozessrecht) auf, die aber mit der
Revolution von 19 17 einen Brtich erlebte und bis heute nicht mehr zu ihrem ehemals ho­
hen Niveau zurückgefunden hat. Gegenüber der Erforschung der Rechtsnormen und ihrer
historischen Entwicklung sind historische Untersuchungen zur Justiz eher selten. Die
meisten einschlägigen Werke beschäftigen sich mit der Institutionengeschichte der Justi z.
Eine Sozial- und Kulturgeschichte der russischen Justiz ist bis heute ein spürbares Desi­
derat. Auch die Ideen- und Bildungsgeschichte von Recht und Justiz in Russland ist bis­
her nur vereinzelt erforscht worden.
Rus' (9.-13. Jahrhundert): Ursprünglich war alles russische Recht lokales *Gewohnheits­
recht - in dem Maße jedoch, wie sich die Herrschaft der Fürstentümer festigte, wurden
niedergeschriebene Verhaltensnonnen der Fürsten untereinander und mit ihrer Außenwelt
immer notwendiger. Sie schlugen sich in einer wachsenden Zahl von Schriftstücken nie­
der, die sowohl die lokalen Gewohnheitsrechte wie auch die die lokale Sphäre überschrei­
tenden Vereinbarungen dokumentierten. Das erste bekannte Rechtszeugnis dieser Art, die
*Russkaja Pravda - das "Russische Recht" -, entstand in Kiev in der zweiten Hälfte des
9, Jahrhunderts. Ihre erhaltenen Redaktionen decken rund 200 Jahre Rechtsentwicklung
Ica. 1015-1215) ab . Die Russkaja Pravda regelte das gesamte Rechtswesen der /'Kiever
Rus', mit Ausnahme des Kirchemechts (/'Religionen, Kirchen ). Ihre Normen stammten
hauptsächlich aus dem russischen Gewohnheitsrecht, daneben enthielten sie aber auch
germanische und byzantinische Rechtsvorstellungen. Ihr ursprünglicher Charakter war
der eines Strafrechts- und Strafprozessrechtskodex. Spätere Redaktionen des I I. und 12.
Jahrhunderts enthielten zudem Fürsten- und Privatrecht. Ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert
stammte das erste russische Kirchemecht, das sog. *Steuerbuch (Kormcaja kniga ). Es
enthielt das gesamte innere und äußere Kirchemecht des griechischen *Nomokanon aus
dem 6. Jahrhundert. In späteren Redaktionen kamen zunehmend auch russische Normen
hinzu. Neben den fiir die südliche (Kiever) Rus' gültigen Rechtszeugnissen entwickelten
sich lokale Gerichtsordnungen (sudnye gramoty), von denen besonders diejenigen rur die
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nördliche Rus' (Pskov, Novgorod) bekannt geworden sind. Die Mongolenherrschaft tas­
tete die weltlichen und kirchlichen Gesetze der Rus' nicht an, doch wird in der Forschung
die These vertreten, dass gewisse Strafpraktiken mongolischer Herrscher in das russische
Gewohnheitsrecht eingegangen seien.
Moskauer Periode (14.-17. Jahrhundert): Der Aufstieg des "'Moskauer Reiches im
14. Jahrhundert brachte eine Tendenz ZU Vereinheitlichung und Zentralisierung des Rechts
mit sich . Zeugnisse dieser Bestrebungen waren Gnaden-, Regierungs- und Verwaltungs­
urkunden (ialovannye!ustavnyelgubnye gramoty), deren wichtigste die vor allem aus der
Russkaj a Pravda, den Gerichtsordnungen und dem Gewohnheitsrecht gespeisten
*Gerichtsbücher (sudebniki) der Moskauer *Großfürsten (besonders 1497 und 1550) dar­
stellen. Sie enthielten überwiegend Prozess-, aber auch Straf-, Zivil-, Privat-, HandeIs­
und Verwaltungsrecht. Staatsrechtliche Bestimmungen fehlten. Das Kirchenrecht wurde
1550 in dem auf dem Nomokanon und dem Steuerbuch aufbauenden *Gesetzbuch der
hundert Kapitel (Stog/av) niedergelegt. Es thematisierte die Glaubensgrundsätze der Or­
thodoxen Kirche sowie das kirchliche Prozess-, Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht. Eine
erste Zusammenfassung aller Rechtsgrundsätze des Moskauer Staates wurde im
*Gesetzbuch (Uloienie) Aleksej Michajlovics von 1649 erreicht. Es enthielt Prozess-.
Zivil-, Straf- , Handels-, Militär-, Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht und baute auf
den Sudebniki, dem russischen Gewohnheitsrecht, dem Stog/av, aber auch zu einem er­
heblichen Anteil auf byzantinischem und litauischem Recht auf. Revisionsstaruten (no­
voukaznye stat'i) ergänzten das Ulozenie in der Folgezeit.
Ein Hauptcharakteristikum der Gerichte und Gerichtsverfahren vor dem 18. Jahrhun­
dert war die fehlende Trennung von Exekutiv-, Judikativ- und Legislativgewalt. Es exis­
tierten zahlreiche lokale und staatliche Gerichte, die im Laufe der Geschichte ad hoc aus
den jeweiligen Bedürfnissen entstanden waren. Ihre Zuständigkeiten waren gegeneinan­
der schlecht abgegrenzt, die Verfahren höchst korrupt und die Urteile oft willkürlich. Sie
waren zugleich Spiegel und Erzeuger eines hohen Maßes an Rechtsunsicherheit im Mos­
kauer Reich.
Petersburger Imperium
Das l'Petersburger Imperium (1700-1918) brachte eine Reihe bedeutsamer Veränderun­
gen mit sich. Diese zeigten sich besonders auf den Gebieten der Gesetzeskodifikation,
Grundgesetzdebatte, der Rechtsprechung und in der Entwicklung der Rechtswissenschaft.
Geselzeskodijikation: Mit der inneren und äußeren Expansion des russländischen Star
tes im 18. und 19. Jahrhundert wurden weitere Gesetzeskodifikationen notwendig.
Gesetzbuch von 1649 deckte bereits in der Regierungszeit Peters 1. (1682 /89- 1
längst nicht mehr alle Rechtsfragen ab. Deshalb setzte der *Zar im Jahre 1700
Kommission zur Erarbeitung eines neuen Gesetzeskodex ein. Dieses und zehn
entsprechende Vorhaben während des 18. Jahrhunderts scheiterten jedoch, bis schi
1830 eine *Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches (Polnoe
zakonov Rossijskoj imperii, PSZ) in zwei umfangreichen Serien (insgesamt über 35
Gesetze in 56 Bänden) publiziert werden konnte. Die erste Serie umfasste die
normen aus der Zeit zwischen 1649 und 1825, die zweite vorerst nur diejenigen
1825 und 1832, sie wurde aber in der Folgezeit bis 188 I fortgeführt. Seit 1881 entstand
eine dritte Serie, die alle Rechtsverordnungen bis in den Ersten Weltkrieg hinein erfasste.
Auf der Grundlage der - chronologischen - Ordnung der PSZ erarbeitete dann der Staats­
sekretär Alexanders I. (reg. 1801-1825), Michail M. Speranskij, ein 15 Bände umfassen­
des, systematisiertes *Gesetzbuch des Russischen Reiches (Svod zakonov Rossijskoj im­
perii), das 1832 unter Nikolaus I. (1825- 1855) erschien und alle Rechtsnormen der
Staatsgrundgesetze, der Behörden- und Regierungsmacht, der Steuer- und Zivilgesetzge­
bung, der Landesvermessung, der Staatswohlfahrt, der Polizei und der Strafgesetze zu­
sammenführte. Es wurde 1864 im Zusammenhang mit der Gerichtsreform noch durch ei­
nen 16. Band ergänzt, der das Prozess- und Gerichtsverfassungsrecht enthielt. Mit dem
Abschluss der Gesetzeskodifikation von 1832 erschien zudem eine Reihe von Gesetzes­
auszügen und Sonderkodifikationen - so das erste "Bürgerliche Gesetzbuch Russlands"
(Graidanskoe U/ozenie, 1832), das eine Zusammenfassung aller vom 17. bis 19. Jahrhun­
dert gültigen Zivilgesetze darstellte; das "Handelsgesetzbuch" (Torgovoe Uloienie, 1832),
das innerhalb des Svod zakonov gesondert kodifiziert wurde ; die "Strafgesetzbücher"
(Ugolovnoe Uloienie, Utoienie 0 nakazanijach) (1832, 1845). Sie alle fußten weitgehend
auf russischen Rechtstraditionen. Fremde Einflüsse fehlten fast völlig. Diese Rechtskodi­
fikationen erlebten im Laufe des J9. Jahrhunderts mehrere Revisionen und Neuauflagen.
Verbindlich fiir die Rechtsprechung waren allein die GesetZbÜCher, insbesondere der
Svod zakonov. Die PSZ hatte nur erläuternden Charakter. Sie war überdies "vollständig"
nur im Rahmen der russischen Untertanenschaft. Das Militär-, Marine- und Kirchenrecht
sowie die lokalen Rechte der westlichen Randgebiete des Reiches (Ostseeprovinzen, Po­
len, Finnland) waren darin nicht erfasst. Sie wurden in den Jahren nach 1830 in gesonder­
ten Sammlungen veröffentlicht.
Grundgesetze: Auch die Gesetzgebungs_ und Gesetzauslegungsorgane erfuhren unter
Peter I. eine Neufassung. Staatsrechtlich war und blieb Russland allerdings eine von sozi­
alen Gegenrnächten unbeschränkte Monarchie, die ihre Lcgislativ- und Judikativmacht
j edoch mehr und mehr mit Hilfe vnn Institutionen ausübte und formal an die Gesetze des
landes gebunden blieb. Nur an der im 18. Jahrhundert wachsenden westlichen Peripherie
des Reiches ("'Ukraine, *Ostseeprovinzen, Polen, Finnland) stand der russische Kaiser
Ständeorganisationen gegenüber, deren besondere politische Rechte seine Macht be­
schränkten. Diese Tatsache hatte zunehmend Rückwirkungen auf das eigentliche Russ­ land. Hier Wl'Jrden während des 18. Jahrhunderts von Seiten des hohen russischen Adels zweimal (1730, 1762) ernsthafte, aber erfolglose Versuche unternommen, die kaiserliche Gewalt zu beschränken. Sie fanden Fortsetzungen in mehreren Verfassungscntwürfen des 19. Jahrhunderts. Die von der Französischen Revolution (1789) angestoßene Entwicklung bat in Russland erstmals mit einem Verfassungsentwurf Speranskijs von 1809 in Er­ scheinung und setzte sich über die Verfassungs entwürfe der *Dekabristen (1825), unter Alcxander Il. (1863, 1880, 1881), Alexander III. (1882) bis zu der tatsächlich in Kraft tre­
Verfassung von 1906 fort.
Rechtsprechung: Entsprechend der staatsrechtlichen Struktur ging die gesamte Recht­
~tzungs- und
Rechtsprechungsgewalt vom Staat aus. Regierung, Recht und Justiz waren
ins 18. Jahrhundert gleichermaßen Instrumente der Staatsgewalt. Die inuner komp1e­
werdenden Aufgaben des Staates waren jedoch von diesem allein immer weniger zu
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bewältigen. Mehrere Gerichtsreformen (1713,1719,1727,1775,1801) sollten die Prob­
leme einer zentralstaatlichen Gerichtsverfassung lösen, blieben jedoch unbefriedigend.
Eine der Konsequenzen war die Auslagerung bestimmter Kompetenzen (Richteramt,
Rechtsanwälte) auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene .l'"Gesell­
schaft" (hauptsächlich die *Intelligencija) mit Hilfe der nach französischem Vorbild er­
lassenen Gerichtsordnungen (sudebnye ustavy) von 1864. Damit änderten sich der Straf­
und Zivilprozess: Der unter Peter 1. eingeführte Inquisitionsprozess (Unzulässigkeit von
Indizienprözessen, Folter in wichtigeren Fällen bis 1801) wurde in der neuen StrafPro­
zessordnung durch Prinzipien des modemen StrafProzessrechtes (Mündlichkeit, Öffent­
lichkeit, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, freie Beweiswürdigung), die geltende, auf
der preußischen Zivilprozessordnung von 1793 basierende russische Zivilprozessordnung
(Schriftlichkeit der Verfahren, aktives Eingreifen des Gerichts) durch die neue Zivilpro­
zessordnung (Partei prozess, Mündlichkeit, Öffentlichkeit, freie Beweiswürdigung) er­
setzt.
Anfänge der Rechtswissenschaft: Mit der lange fehlenden Gewaltentrennung hängt es
wohl zusammen, dass im russischen Rechtsdenken das Recht - mit Aus"nahme des "lan­
gen 19. Jahrhunderts" (1801-1917) - vor allem als ein Aspekt der Verwaltung und der
moralischen Erziehung aufgefasst wurde. Entsprechend ermangelte Russland lange Zeit
einer von den praktischen Bedürfnissen der Staatsverwaltung unabhängigen Rechtswis­
senschaft. Ihre Anfange liegen in der Regierungszeit Elisabeths I. (1741-1762). Sie wur­
de anfangs hauptsächlich von Deutschen entwickelt, stand aber auch nach der Bildung ei­
nes russischen Juristenkorps (Gründung einer Schule für Jurisprudenz 1835) lange unter
ausländischem, besonders wiederum deutschem Einfluss. Erst die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts brachte eine Blüte der russischen Rechtswissenschaft hervor, die sich in
der Zeitschrift Pravo ("Recht", 1898- 1917) ein bedeutendes Sprachrohr schuf. Ihre Vor­
stellungen standen in signifikanter Wechselwirkung mit der Herausbildung der russischen
"Gesellschaft" und dem sich rasch vollziehenden sozialen Wandel an der Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert.
Sowjetrecht und -justiz (191 7 -1991)
Die Sowjetperiode (.l'Sowjetunion) entwickelte in vielerlei Hinsicht - von der
macht nicht immer intendiert, de fa cto aber hingenommen - die im 18. und 19. J
dert geschaffenen Strukturen weiter.
Geselzeskodijikation: Die Regierung der *Bolschewiki wich zunächst einer
ti on von Gesetzen aus , um sich die Option offen zu lassen, eigene, völlig neue
schaffen zu können. Doch mit der zunehmenden Rechtsunsicherheit, ja den z. T.
sen Zuständen während des Bürgerkriegs (1918-1920) wuchs das Bedürfnis nach
kodifizierten Rechtsgrundlage schnell an. Die wichtigsten Kodifikationen erfolgten in
ersten Hälfte der 1920er Jahre (Zivilrecht 1922, Zivilprozessrecht 1923, Ehe-, F
und VOlmundschaftsrecht 1926, Strafrecht 1922, Strafprozess recht 1923). Sie
gegenüber der Zarenzeit de jure einige größere Freiheiten für das Individuum, vor
für die Arbeiter, ließen sich aber durch willkürliche Auslegung und Sondergesetze
leicht, wahrscheinlich sogar leichter unterlaufen als während der letzten Jahrzehnte
dem Zusammenbruch des zarischen Regimes . Im Rahmen von Reformen hinsichtlich der
Gesetzgebungsprinzipien in den I950er Jahren und zu Beginn der I 960er Jahre unterzog
die Regierung die KOdifikationen der I 920er Jahre einer grundlegenden Revision, die al­
lerdings de facto kaum etwas bewirkte.
Grundgesetze: Nach der erzwungenen Auflösung einer Konstituante aus Bolschewiki
und nicht-bolschewistischen Parteien durch die Bolschewiki im Januar 1918 verabschie­
deten diese im Juli 1918 die erste Verfassung Sowjetrusslands, die Konstitution der Rus­
sischen Sozialistischen Föderativen SowjetrepUblik (RSFSR). Ihr folgte 1924 die Verfas ­
sung der Sowjetunion, 1936 die sog. Stalin-Verfassung und 1977 die noch unter Nikita S.
Chruscev in Auftrag gegebene dritte, sog. Breznev-Verfassung der Sowjetunion. Ihnen
allen gemeinsam war, dass die "gesamte Gewalt" bei den *Räten (Sovety) liegen sollte.
Mit der Verfassung von 1924 trat eine Aufgabenteilung zwischen der Union und den die
Union bildenden Unionsrepubliken ein. Der Union fielen die Bereiche Außenpolitik, Mi­
litär, Außenhandel, Verkehr, Post und Telegrafie, den Republiken hingegen die Bereiche
LandWirtSChaft, Justiz, Inneres, Gesundheit und Bildung zu : In allen anderen Bereichen
wurden die ZUständigkeiten geteilt. Die Formulierungen in den einzelnen Verfassungen
lassen auch einen Wandel in den Auffassungen von der Gesellschaft erkennen. So kann
man beobachten, dass das Prinzip der Gewaltenteilung, das anfangs noch abgelehnt wur­
de, in Form einer "Funktionstrennung" zu Beginn der 1920er Jahre zurückkehrte. Außer­
dem wandelte sich die "Verfassung der Werktätigen" (19 J 8) zu einer Verfassung des
.,ganzen Volkes" innerhalb des "Allgemeinen Volksstaates" (obScenarodnoe gosudarstvo)
(1977). Darin spiegelte sich Vorstellung vom angeblichen Wandel aus einer Klassenge­
sellschaft zu einer klassenlosen Gesellschaft wieder. Entsprechend veränderte sich die
Partei der Werktätigen zu einer Partei des ganzen Volkes, des "Sowjetvolkes", von einer
Regierungs- zu einer Staatspartei. Die Verfassung von 1936 ermöglichte eine Art konstituti­
oneller Partei-Monarchie. Tatsächlich sicherte sie die *Autokratie (samoderiavie ) Stalins
.l'Stalinismus), der mit dem Instrument der Ausnahmegesetze alle konstitutionellen Ver­
fahrensweisen - die Legislativgewalt lag beim Obersten Sowjet, aber auch Dekrete des Prä­
und der einzelnen *Ministerien kOlmten Gesetzeskraft erlangen _ ausschalten konnte.
Rechtsprechung: Mit dem Gerichtsdekret Nr. I (22. November 1917) hoben die Bol­
schewiki alle bestehenden ordentlichen Gerichte und Judikaturämter auf und ersetzten sie
dem Papier durch Revolutionäre Tribunale, die ermittelnde Geheimpolizei *Tscheka
- Crezvycajnaja Komissija), demokratisch gewählte Richter und von den Staatsbür­
bestellte Ankläger und Verteidiger. Entscheidend für den Geist der Justiz wurden
Rechtsbewusstsein " und "revolutionäres Gewissen". Das Chaos des Bür­
machte diesen Neuansatz jedoch zunichtc. In der *Neuen Ökonomischen Poli­
(Novaja Ekonomiceskaja Politika, NEP) der I 920er Jahre wurde ein Justizsystem ge­
, in dem Staats- und Rechtsanwälte wieder zugelassen waren. Revolutionäre
e und Tscheka wurden abgeschafft, die im Bürgerkrieg übliche Administrativ­
stark beschnitten.
Gegen Ende der I 920er Jahre wurde die Justiz zum Kampfinstrument der Bolschewiki ihre Feinde. Ausnahmegesetze stützten bei formaler Einhaltung des Prozessrechts Interessen des Regimes. Die Geheimpolizei (nun OGPU) wurde zum entscheidenden der Voruntersuchung. Dieses System wurde mit dem XX. Parteitag (1956) un­
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ter Chru~cev etwas abgemildert. Nun mahnte die Regierung die strenge Einhaltung der
bestehenden Gesetze an. Eine Neukodifizierung des Gerichtsverfassungsrechtes, des
Straf- und Zivilrechts und des Straf- und Zivilprozessrechts (1958-1964) sollte diesen
Kurs unterstreichen. De facta herrschte jedoch weiterhin eine Justiz, die sich nach den re­
gierungspolitischen Opportunitäten richtete. Daran konnten auch eine in der Zeit der
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Ralph Tuchtenhagen