Diplomarbeit Schmidt
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„Teenager außer Kontrolle“ – Der Sozialpädagogische Blick auf ein inszeniertes Auslandsprojekt Diana Schmidt Universität Siegen Fachbereich 2 Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit Diplomarbeit „Teenager außer Kontrolle“ – Der Sozialpädagogische Blick auf ein inszeniertes Auslandsprojekt vorgelegt von: Diana Schmidt Brucknerweg 5 57076 Siegen Matrikelnummer: 737755 Referent: Herr Prof. Dr. Klaus Wolf Koreferentin: Frau PD Dr. Imbke Behnken Siegen, Juni 2009 1 INHALTSVERZEICHNIS 1 EINLEITUNG........................................................................................... 4 1.1 Das Forschungsinteresse ............................................................................................ 4 1.2 Zum Aufbau der Arbeit.............................................................................................. 5 2 ERLEBNISPÄDAGOGISCHE PROJEKTE IM AUSLAND ..................... 6 2.1 Grundgedanken .......................................................................................................... 6 2.2 Ursprünge erlebnispädagogisch orientierter Auslandsprojekte............................. 7 2.3 Chancen und Ziele ...................................................................................................... 9 2.4 Kritikpunkte.............................................................................................................. 10 2.4.1 Allgemeine Kritikpunkte ............................................................................................ 10 2.4.2 Die Transferproblematik............................................................................................. 12 2.5 3 Auslandsprojekte heute............................................................................................ 13 DIE RTL-SERIE „TEENAGER AUßER KONTROLLE“........................ 14 3.1 Beschreibung der Serie............................................................................................. 14 3.2 Das „Catherine Freer Wilderness Therapy Program“.......................................... 15 3.3 Die beteiligten Personen ........................................................................................... 16 3.3.1 Die Mitarbeiter............................................................................................................ 16 3.3.2 Die Jugendlichen......................................................................................................... 17 3.4 Kritik an pädagogischer Arbeit in einer kommerziellen „Reality-Show“ ........... 20 2 4 ANALYSE DER SOZIALPÄDAGOGISCHEN GESICHTSPUNKTE..... 22 4.1 Forschungsdesign...................................................................................................... 22 4.1.1 Vorgehensweise .......................................................................................................... 22 4.1.2 Beschreibung der Szenen............................................................................................ 23 4.1.3 Transkription............................................................................................................... 25 4.2 Selbst- und Fremdkontrolle ..................................................................................... 26 4.2.1 Die Anwendung von Strafen....................................................................................... 27 4.2.2 Partizipation ................................................................................................................ 43 4.3 Beziehungen............................................................................................................... 62 4.3.1 Die Beziehungen zwischen den Professionellen und den Jugendlichen: Der pädagogische Bezug.................................................................................................... 62 4.3.2 Die Beziehungen zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern: Elternarbeit ............ 89 4.3.3 Die Beziehungen zwischen den Jugendlichen: Die Bedeutung der Gruppe ............. 113 4.4 Ressourcenorientierung.......................................................................................... 123 4.5 Die Darstellung der Jugendlichen – Zum Menschenbild .................................... 135 5 FAZIT ................................................................................................. 147 6 LITERATURVERZEICHNIS ................................................................ 150 7 EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG .................................................. 156 3 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ABBILDUNG 1: BETREUER........................................................................... 16 ABBILDUNG 2: DZENETA.............................................................................. 17 ABBILDUNG 3: ANDREAS ............................................................................. 18 ABBILDUNG 4: VIVIEN................................................................................... 18 ABBILDUNG 5: STACEY ................................................................................ 18 ABBILDUNG 6: KURT..................................................................................... 19 ABBILDUNG 7: PASCAL ................................................................................ 19 ABBILDUNG 8: KEVIN.................................................................................... 19 ABBILDUNG 9: DAVID ................................................................................... 19 ABBILDUNG 10: KEVIN UND SEINE ELTERN WERDEN GEFILMT ............ 21 ABBILDUNG 11: PARTIZIPATIONSLEITER NACH ARNSTEIN.................... 43 4 1 Einleitung 1.1 Das Forschungsinteresse „Sozialpädagogin wirst du? Ist das nicht so was, wie die Super Nanny oder dieser Thomas Sonnenburg?“ Diese und ähnliche Fragen hört man als angehende Sozialpädagogin nicht selten, denn Sendungen, in denen es inhaltlich um pädagogische Arbeit geht, stehen in der heutigen Fernsehlandschaft hoch im Kurs. Neben der wohl bekanntesten Pädagogin im TV, der „Super Nanny“ Katia Saalfrank, gibt es nun allein beim Sender RTL den Streetworker Thomas Sonnenburg, den Schuldenberater Peter Zwegat und Annegret Noble von „Teenager außer Kontrolle“, die zusammen mit ihrem Team in der amerikanischen Wüste schwererziehbaren deutschen Jugendlichen den Weg „zurück ins Leben“ zeigt (F4, 0:55). Doch was ist das für ein Bild von pädagogischer Arbeit, das Millionen von Zuschauern durch diese Sendungen vermittelt wird? Ich habe mich immer geweigert, die Frage „Ist das nicht so was wie die Super Nanny?“ zu bejahen – aber warum eigentlich? Im Rahmen dieser Arbeit habe ich genauer hingesehen und anhand der Serie „Teenager außer Kontrolle“ untersucht, ob und wenn ja, inwiefern sich die pädagogische Arbeit im Fernsehen von einer professionellen pädagogischen Arbeit unterscheidet, die Standards wie beispielsweise Ressourcenorientierung oder die Partizipation der Beteiligten berücksichtigt. Obwohl es meines Erachtens durchaus positiv zu bewerten ist, den Fernsehzuschauern durch diese Sendungen zu vermitteln, dass es verschiedene Arten von Hilfe gibt und sie so zu ermutigen, sich in Krisensituationen an professionelle Pädagogen und Sozialarbeiter zu wenden, könnte ein verzerrtes Bild von Sozialer Arbeit zu Missverständnissen führen. So dürfte eine Mutter, die im Fernsehen beobachtet hat, wie die Super Nanny eine Woche lang bei einer Familie zu Gast war und aus schlimmen Rabauken kleine Engelchen „gemacht“ hat, schockiert sein, wenn man ihr mitteilt, dass eine Familienhilfe meist über ein ganzes Jahr mit einer Familie zusammenarbeitet. Oder es könnten Eltern, die gesehen haben, dass Kinder in der amerikanischen Wüste acht Wochen lang an einem Programm teilnehmen und dann „geheilt“ zurück nach Hause kommen, zu der Ansicht gelangen, dass die Eltern nichts mit dem Veränderungsprozess zu tun haben und überrascht sein, wenn im Rahmen der Hilfen zur Erziehung von ihnen Mitarbeit erwartet wird. Ein Ziel meiner Arbeit ist es also, mögliche Unstimmigkeiten in der medialen Darstellung pädagogischer Arbeit aufzudecken, um Missverständnisse und falsche Erwartungen der Hilfesuchenden zu minimieren. Die im Rahmen einer Diplomarbeit 5 erforderliche Einhaltung der wissenschaftlichen Standards ist außerdem äußerst geeignet, um fachlich fundiert begründen zu können, warum ich der Frage, ob die Inhalte meiner späteren beruflichen Arbeit mit der bei „Teenager außer Kontrolle“ dargestellten Pädagogik vergleichbar sind, nicht zustimmen möchte. Ein zweites Ziel der Arbeit ist demnach eine kritische Auseinandersetzung, Analyse und Kommentierung der beobachteten Szenen. 1.2 Zum Aufbau der Arbeit Bei „Teenager außer Kontrolle“ handelt es sich um ein erlebnispädagogisches Auslandsprojekt, deshalb beginne ich in Kapitel 2 mit einigen theoretischen Grundlagen zu diesem Thema. Neben Grundgedanken und den geschichtlichen Ursprüngen erlebnispädagogischer Projekte im Ausland, werden Chancen und Ziele, sowie Kritikpunkte dieses Ansatzes aufgeführt und ein kurzer Überblick über die heute übliche Ausgestaltung der Projekte gegeben. Darauf folgen in Kapitel 3 Beschreibungen der Serie, des dahinter stehenden Therapieprogramms, sowie eine kurze Vorstellung der beteiligten Personen. Abschließend erörtere ich, warum ich pädagogische Arbeit in einer kommerziellen „Reality-Show“ prinzipiell für bedenklich halte. Im empirischen Teil meiner Arbeit, in Kapitel 4, analysiere ich nach der Darstellung des Forschungsdesigns verschiedene pädagogische Dimensionen der Sendung. Die behandelten Aspekte sind das Verhältnis von Selbst- und Fremdkontrolle, die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen, sowie die Ressourcenorientierung und das vorliegende Menschenbild. Jede dieser pädagogischen Dimensionen leite ich mit einer kurzen theoretischen Begriffsbestimmung ein, um dann die in der Serie beobachteten Szenen mit diesem theoretischen Hintergrund vergleichen zu können (zur genaueren Vorgehensweise siehe Kapitel 4.1.). Im Fazit werden dann noch einmal die wichtigsten Ergebnisse meiner Analyse zusammengefasst. 6 2 Erlebnispädagogische Projekte im Ausland 2.1 Grundgedanken Als erlebnispädagogische Projekte im Ausland werden mehrwöchige Trips mit bewegungsintensiven Aktivitäten in der Natur, für eine Gruppe von Jugendlichen verstanden. Die Umgebung ist für die Teilnehmer neu, herausfordernd und anregend. Sie werden aus ihrem sozialen Umfeld gelöst, um sich durch neue und intensive Erfahrungen selbst zu entdecken und weiterzuentwickeln. Viele verschiedene Formen dieser Projekte sind denkbar: Bergsteigen, Wandern, Segelturns, Höhlenforschen, Kajakfahren, etc. Im Rahmen der Hilfen zur Erziehung werden erlebnispädagogische Projekte im Ausland meist als Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII gewährt. Zu den Grundprinzipien dieser Maßnahmen gehören nach Klawe und Bräuer das Leben unter einfachen Bedingungen, eine Kontinuität und starke Intensität der Beziehungen, die große Distanz zum früheren Millieu und das Erleben von Erfahrungen im Grenzbereich des Einzelnen (vgl. Klawe/Bräuer 2001, 13). Zentral ist außerdem die Bedeutung der Gruppe, denn Aufgaben sind meist in Kooperation mit anderen Jugendlichen zu lösen, der Einzelne soll sich in der Gemeinschaft geborgen fühlen. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Projekte nicht Selbstzweck sind – sie sollen zur Auseinandersetzung mit sich und der Gruppe führen. Die Erlebnisse sind demnach als Medium oder Metapher zu verstehen. Um die Wirkung von Aufgaben, Natur und Gruppe gezielt zu unterstützen, werden Methoden der Sozialen Arbeit, wie beispielsweise positive Verstärkung, Gruppengespräche und Reflexion eingesetzt (vgl. Amesberger 2003, S.9 ff.). Bei der Wahl des Durchführungsortes wird oft das einfache, primitive Leben in abgelegenen Regionen bevorzugt, da hier die Unmittelbarkeit von (Über-) Lebenszusammenhängen am deutlichsten gespürt werden kann. Auch eine große Differenz zwischen der Kultur im Heimat- und Projektland kann von Vorteil sein, denn die Offenheit und das Interesse der fremden Menschen lassen die Jugendlichen sich selbst neu erleben. Außerdem führen die Bedingungen im Ausland (fremde Kultur und Sprache) oft dazu, dass sich die Jugendlichen stärker am Betreuer orientieren und so die 7 Hierarchie Erwachsener-Kind auf natürliche Weise wieder hergestellt wird (vgl. Bohry 1992, 254). Klawe und Bräuer haben anhand einer Befragung der Jugendämter herausgearbeitet, welche die häufigsten Zuweisungsgründe für erlebnispädagogische Maßnahmen sind. Sie nennen an erster Stelle die Unfähigkeit, tragfähige soziale Beziehungen aufzubauen sowie eine Perspektivlosigkeit der Jugendlichen. Bei Jungen kommt außerdem aggressives und wiederholt kriminelles Verhalten, bei Mädchen Selbstgefährdung hinzu (vgl. Klawe/Bräuer 2001, 101). Sie kritisieren jedoch, dass in der Praxis häufig „besonders schwierige Kinder und Jugendliche zugewiesen werden, ohne daß überprüft wird, ob die Indikation im Zusammenhang mit dem Hilfeplan sinnvoll ist und die erlebnispädagogische Maßnahme von ihren Bedingungen her diesen Kindern und Jugendlichen gerecht werden kann“ (ebd., 61). Nach § 27 SGB VII ist eine Hilfe im Ausland zwar nur gestattet „wenn dies nach Maßgabe der Hilfeplanung zur Erreichung des Hilfeziels im Einzelfall erforderlich ist“ (Beck-Texte Jugendrecht 2006, 26 ff.), doch diese gesetzliche Bestimmung führt häufig eben gerade dazu, dass die Auslandsprojekte als „finales Rettungskonzept“ verstanden und gewählt werden, wenn bei einem Jugendlichen keine andere Hilfeform erfolgreich war. Es besteht somit die Gefahr, dass die Projekte mit zu großen Hoffnungen und Erwartungen belegt werden (vgl. Klawe/Bräuer 2001, 15). 2.2 Ursprünge erlebnispädagogisch orientierter Auslandsprojekte Will man den Ursprüngen erlebnispädagogisch orientierter Auslandsprojekte auf den Grund gehen, schlagen einige Autoren vor, schon bei Rousseau (1712 – 1778) zu beginnen (vgl. z.B. Heckmair/Michl 1998). Als Bewunderer der Natur und Prediger der Einfachheit war er davon überzeugt, dass drei Dinge den Menschen erziehen: Die Natur, die Dinge und die Menschen, und letztere sollten auch nur die Erziehung durch die Natur und die Dinge ermöglichen (vgl. ebd., 4 f.). So schlägt er vor, Kinder mehr durch Handlungen als durch Worte zu erziehen und unterrichten, ganz getreu seinem Motto „Leben ist nicht atmen, leben ist handeln“ (zit. n. Heckmair/Michl 1998, 6). Erlebnis, Erfahrung und Abenteuer sieht er als notwendige Lernprinzipien, „denn Kinder vergessen leicht was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat“ (ebd., 80). 8 Damit hat Rousseau sicher schon wesentliche Prinzipien der Erlebnispädagogik voraus genommen, als deren Begründer gilt in der Literatur jedoch meist Kurt Hahn (1886 – 1974). Er war es, der den Erlebnisbegriff in der Pädagogik institutionalisierte und noch heute wird in der modernen Erlebnispädagogik immer wieder auf Hahn und seine „Erlebnistherapie“ Bezug genommen. 1941 gründete der Politiker und Pädagoge in Wales die erste sogenannte „Short-term School“, die bald darauf in „Outward Bound School“ umbenannt wurde. Hier sollten Jugendliche innerhalb vierwöchiger Kurse nach Hahns Erlebnistherapie auf das Leben vorbereitet werden (vgl. Hahn 1998, 273). Unter Erlebnistherapie verstand er „die Vermittlung von reinigenden Erfahrungen, die den ganzen Menschen fordern und der Jugend den Trost und die Befriedigung geben: Wir werden gebraucht.“ (ebd., 275). Hahn erhoffte sich hierdurch eine Heilung der Gesellschaft, welche seiner Meinung nach unter Verfallserscheinungen litt (daher auch der Begriff „Erlebnis-Therapie“, also eine Therapie der Gesellschaft durch das Erlebnis) (vgl. Putensen 2000, 32 ff.). Die Erlebnistherapie beinhaltete vier Elemente, die dem Abenteuer- und Erlebnisdrang der Jugendlichen einen Spielraum geben sollen: − Das körperliche Training: Zum Beispiel leichtathletische Übungen und Natursportarten − Die Expedition: Eine mehrtägige Tour durch die Natur – hier könnte man die Ursprünge der Auslandsprojekte sehen. Berg, See und Meer sah Hahn dabei als Erziehungsmedien an − Das Projekt: Eine thematisch und zeitlich abgeschlossene Aktion mit handwerklichen, technischen oder künstlerischen Anforderungen − Der Dienst am Nächsten: Zum Beispiel Erste Hilfe, Berg- oder Seenotrettung Bezüglich des Ursprungs der Auslandsprojekte ist außerdem Hahns Modell der pädagogischen Provinz besonders hervorzuheben, die Teil der sogenannten Landerziehungsheimbewegung der Reformpädagogik war: Hahn befürwortet eine Erziehung in bestimmten, räumlich und sozial abgegrenzten Zentren, um die Jugendlichen vor der für krank erklärten Gesellschaft (darunter auch die Eltern) zu schützen und ihnen Erlebnisse zu ermöglichen (vgl. Bauer 1985, 20 f.). Kurzschulen nach Hahns Modell, also Kurse von zwei bis vierwöchiger Dauer, in denen Jugendlichen durch Bewehrungsfelder an der See oder in den Bergen Impulse zur Formung und Festigung ihres Charakter vermittelt werden sollten, verbreiteten sich sowohl in Deutschland als auch im Ausland (ebd., 29). Die wichtigsten Grundgedanken waren: 9 − eine Loslösung aus der Routine des Alltags in eine abenteuerliche Welt, in der sich durch neue Aktionsmöglichkeiten die Persönlichkeit des Jugendlichen neu formt − eine hohe Forderung, bei der die Jugendlichen an ihre Grenzen und über diese hinaus gehen und so Erfolgserlebnisse und mehr Selbstbewusstsein verspüren − die Erfahrung, dass sich gemeinsam in einer Gruppe viele Aufgaben leichter lösen lassen und die Einsicht, dass gegenseitige Rücksichtnahme, Verantwortung und Hilfsbereitschaft zwischen Menschen möglich und wertvoll sind (vgl. ebd., 29 ff.) Damit war der Grundstein für die modernen erlebnispädagogisch orientierten Auslandsprojekte gelegt. 2.3 Chancen und Ziele In der Literatur findet man die unterschiedlichsten vermuteten Wirkungen und damit verbunden lange Listen mit Zielen erlebnispädagogischer Auslandsmaßnahmen. Als Beispiel sei hier die von Klawe und Bräuer vorgeschlagene Unterteilung in individuelle und soziale Lernziele angeführt. Das Erlernen von Techniken und Fähigkeiten, die benötigt werden, um Aktivitäten auszuführen (wie z.B. Klettertechniken) sind eher als Mittel zum Zweck, als Nebenprodukt anzusehen (vgl. Putensen 2000, 53). Individuelle Lernziele: − ohne Ablenkung in Kontakt mit sich selbst und der Umwelt kommen − positive Einstellung zur eigenen Person und den eigenen Fähigkeiten erlangen − gesteigertes Selbstwertgefühl − Selbstverantwortung für getroffene Entscheidungen übernehmen − Eigeninitiative, Kreativität, Spontaneität, Improvisation − Lernmotivation und Lernfähigkeit entwickeln − körperliche Strapazen bewältigen Soziale Lernziele − Verantwortlichkeit für andere − Einstellung auf die Normen der Gruppe − Erhöhung der Konfliktfähigkeit 10 − Kooperation und Kommunikationsfähigkeit − Vertrauen und Offenheit gegenüber Jugendlichen und Erwachsenen − Fähigkeit, eigene Gefühle zu zeigen (vgl. Klawe/Bräuer 2001, S.13f.) Bei der Betrachtung solcher Zielkataloge sollte man jedoch nicht vergessen, dass man nicht beliebig in die Jugendlichen „hineinintervenieren“ kann (vgl. Wolf 2006, 65), da jeder der Jugendlichen – bewusst oder unbewusst - ganz individuell entscheidet, was er aus dem Projekt für sich und sein persönliches Leben mitnimmt. Die Ziele sind also als Chancen und Möglichkeiten, nicht als To-Do-Listen oder Erfolgskriterien zu sehen. Daher halte ich es für sinnvoller, wie Fischer und Ziegenspeck ganz allgemein zu formulieren, dass es das Ziel sein sollte, Einstellungen, Haltungen und Werte zu vermitteln, die nach der Rückkehr im Lebensumfeld der Jugendlichen zu neuen Integrationsmöglichkeiten führen (vgl. Fischer/Ziegenspeck, 2000, 272). Bohry sieht eine ganz besondere Chance in Auslandsaufenthalten, bei denen sich die Beteiligten bereits vorher kennen (beispielsweise ein Betreuer und eine kleine Gruppe aus der Heimerziehung). Seinen Erfahrungen zufolge tritt dann das Medium, also die Auslandsmaßnahme, in den Hintergrund und die Beziehung zwischen den Personen in den Vordergrund. Das Entscheidende sei, dass der Betreuer den Jugendlichen vermittelt: „Ihr seid mir so wichtig, dass ich ein solch intensives und großes Projekt mit euch angehe“. Das Medium sei dann nur noch insofern von Bedeutung, als dass es das Mittel des Erziehers ist, sich vollständig auf die Zöglinge einzulassen und es zu gemeinsamen, intensiven Erfahrungen verhilft. 2.4 Kritikpunkte In diesem Abschnitt möchte ich zuerst auf einige allgemeine Kritikpunkte und Gefahren der erlebnispädagogischen Auslandsprojekte eingehen, bevor ich mich mit dem meist diskutierten Streitpunkt, der so genannten Transferproblematik, auseinandersetzen werde. 2.4.1 Allgemeine Kritikpunkte Laut Amesberger ist ein großes Problem der Auslandsmaßnahmen deren zeitliche Begrenzung. Gerade für Jugendliche, die bereits viele Beziehungsabbrüche verarbeiten 11 mussten, ist ein Projekt mit sehr intensiven Beziehungen, das von vorne herein nur auf kurze Dauer angelegt ist, zweifelhaft. Für die Jugendlichen besteht die Gefahr, illusionäre Vorstellungen über längerfristige Beziehungen zu entwickeln und so zusätzliche Belastungen zu erleben. Auch für die pädagogische Arbeit im Allgemeinen hält Amesberger zeitlich begrenzte Projekte für problematisch, da eine Auseinandersetzung mit Grundproblemen wesentlich länger dauern würde und damit nur eine 'handlungswirksamkeits-orientierte Arbeit' möglich sei (vgl. Amseberger 2003, 71ff.). Des Weiteren wird davor gewarnt, erlebnispädagogische Auslandsaufenthalte als Allheilmittel zu betrachten. Jeder Jugendliche benötigt einen individuellen Erziehungsplan, der seinen Bedürfnissen angepasst wird. Die Lösung muss nicht unbedingt eine Auslandsmaßnahme sein, denn beispielsweise können sich manche Jugendliche aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen auf ein solch exklusives Beziehungsangebot nicht mehr einlassen (vgl. Bohry 1992, 256). Amesberger (2003, 223) gibt zu bedenken: „Vor überzogenen, unrealistischen Erwartungen ist zu warnen: Auch Outdoor-Aktivitäten können grundlegende sozialpolitische Defizite nicht kompensieren.“. Es muss also davon abgesehen werden, Auslandsprojekte aus Mangel an Alternativen zu einer weiteren Maßnahme in einer langen Jugendhilfekarriere werden zu lassen, den Jugendlichen aber gleichzeitig fälschlicherweise zu vermitteln, dass sie das Projekt als neue, verwandelte Menschen verlassen werden (vgl. Putensen 2000, 46, 55). Putensen sieht außerdem eine Gefahr in einem „geheimen Lehrplan konservativmännlicher Tugenden“ (ebd., 49 f.). Er befürchtet, dass den Jugendlichen zum Teil Härte, Selbstdisziplin, Unterordnung und die Beherrschung negativer Gefühle vermittelt werden. Damit einhergehend wirft er die Frage auf, ob die Programme Jungen-orientiert sind, da diese hier eine vertraute Sozialisationslinie fortsetzen, während Mädchen sich mit Rollenwidersprüchen konfrontiert sehen. Auch der Machtüberhang der Betreuer, der oft durch deren technischen und körperlichen Vorsprung gegeben ist, sei hier kritisch erwähnt. Gelegentlich versuchen die Leiter der Projekte ein sehr autoritäres Verhalten zu legitimieren, indem sie auf die Gefahren der Natur aufmerksam machen. Sogar „Schläge werden scheinbar logisch begründet“, um schlimmeren Schaden zu vermeiden (Heckmair/Michl) 1998, 207). Vertreter der Lebenswelt- und Alltagsorientierung bemängeln die milieuferne Unterbringung mit dem Argument, dass die Probleme der Teilnehmer in dem Umfeld 12 angegangen werden müssen, indem sie zuvor entstanden sind, da diese hier einen Zweck erfüllen. In der Öffentlichkeit werden Auslandsmaßnahmen, wohl aufgrund der Unkenntnis über die pädagogischen Hintergründe, oft als „Urlaub auf Staatskosten“, „Pädagogik unter Palmen“ oder „Belohnung von Straftätern“ kritisiert (Stüwe 2005, 244). 2.4.2 Die Transferproblematik Der wohl am meisten diskutierte Kritikpunkt der Auslandsmaßnahmen ist die sogenannte Transferproblematik. Gemeint ist das Problem, die während des Projekts gewonnenen Einsichten, Erkenntnisse und Verhaltensansätze in den Alltag zu übertragen. Die Transfermöglichkeit ist bedeutend, denn ohne sie bleiben erlebnispädagogische Erfahrungen reiner Selbstzweck (vgl. Bauer 1989, 159). Bis Ende der sechziger Jahre herrschte die 'The Mounatins Speak for Themselves“Theorie vor. Man war der Überzeugung, dass die erlebnispädagogischen Maßnahmen „für sich selbst sprechen“ und daher eine weitere Reflexion der Aktivitäten überflüssig sei. In der aktuellen Literatur wird dieser Ansatz jedoch kritisiert: „Die Annahme eines 'naiven' Transfers ist abzulehnen. Unter naivem Transfer verstehen wir, dass erworbene Handlungskompetenzen etwa der Selbstwirksamkeit, der Kommunikationsfähigkeit, ..., mechanisch auf Bereiche wie Arbeitssituation, die Wohnsituation, ... übertragbar sind.“ (Amesberger 2003, 234). Heute favorisiert man das „Outward Bound Plus“ Modell, welches besagt, dass für den Transfer das Erlebte kognitiv verarbeitet werden muss. Durch eine Reflexion mit dem Einzelnen oder in der Gruppe soll der Bezug zwischen Erlebnis und Alltag hergestellt werden (vgl. Putensen 2000, 56). Um den Transfer zu erleichtern, schlägt Bühler vor, die Lebens- und Alltagsrealität der Teilnehmer bereits während des Kurses zu berücksichtigen, also durch biografische Anknüpfungspunkte Verbindungen zur Lebenserfahrung und zu den Perspektiven der Jugendlichen zu suchen (vgl. Bühler 1968, 71). Bühler nennt weiter die geringe Ähnlichkeit zwischen Alltag und Projektsituation und eine mangelnde Begleitung im Alltag nach dem Projekt, die einen Transfer erschweren können. Außerdem ist die die Kurzfristigkeit der Projekte problematisch, da im Vergleich zu den Sozialisationsinstanzen im Alltag (Familie, Freunde, etc.) die Auslandsmaßnahme eine geringere prägende Kraft hat. Als Lösungswege schlägt Bühler daher folgendes vor: Klare Ziel- und Erwartungsabsprachen im Vorfeld sind unabdingbar. Hierdurch werden auch eine Mitbestimmung der Teilnehmer garantiert und starre Kursstrukturen verhindert. Des 13 Weiteren sollte eine Nacharbeit gewährleistet sein. Eine mögliche Form wären weitere Treffen der Teilnehmer, bei denen „Back-Home-Frustrationen“ aufgefangen und Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden können. Durch eine angemessene Vor- und Nacharbeit verkommt der Auslandsaufenthalt nicht zu einer isolierten Phase im Laufe der Jugendhilfekarriere des Heranwachsenden, sondern stellt eine Intensivphase eines längerfristigen Lernprozesses dar (vgl. Bühler 1986, 75). 2.5 Auslandsprojekte heute Die heutigen, modernen Auslandsmaßnahmen in den Hilfen zur Erziehung sind intensivpädagogische Projekte, die, wenn überhaupt, nur noch wenig mit Erlebnispädagogik zu tun haben. Laut Pforte und Wendelin (2007, 177) hat sich seit den 1990er Jahren ein deutlicher Trend zu Standprojekten ergeben. Gab es damals noch zu etwa 36% Reise- und Schiffsprojekte, sind es heute zu fast 100% Standprojekte, bei denen zum größten Teil nur ein bis zwei Klienten betreut werden. Deutschlandweit bieten nur vier Träger zusätzlich nach Bedarf Reiseprojekte an, außerdem ist ein Schiffsprojekt mit maximal sechs Plätzen bekannt. Häufig leben die Klienten der intensivpädagogischen Auslandsmaßnahmen in Gastfamilien, also in familiären Betreuungssettings. Die Zielorte befinden sich zu fast 80% in der EU. Länder wie Russland, Kanada und Neuseeland, die für solche Projekte vor einigen Jahren noch sehr beliebt waren, werden zurzeit stärker vernachlässigt. Mit insgesamt etwa 600 Fällen im Dezember 2006 machen Auslandsmaßnahmen einen Anteil von nur 1,4% an allen Hilfen zur Erziehung aus (vgl. Wendelin/Pforte 2007, 188). Die Fallzahlen sind insgesamt rückläufig. Seit 2003 wird von einem Rückgang von mindestens 25% ausgegangen, was man auf negative Medienberichte und eine neue Gesetzgebung im Jahr 2005 zurückführt. Es wird heute versucht, intensivpädagogische Maßnahmen verstärkt auf das Inland zu verlagern, aber dem Auslandssetting ähnliche Bedingungen zu schaffen (vgl. Pforte/Wendelin 2007, 178). 14 3 Die RTL-Serie „Teenager außer Kontrolle“ 3.1 Beschreibung der Serie „Teenager außer Kontrolle – Letzter Ausweg wilder Westen“ ist eine neunteilige Serie des Senders RTL und gehört zum Genre des Reality-Fernsehens. Die ca. 45-minütigen Folgen der zweiten Staffel wurden von der Firma Tresor TV Produktions GmbH produziert und ab dem 21.02.2008 jeweils mittwochs ab 20:15 ausgestrahlt (http://de.wikipedia.org). Mit ca. vier Millionen Zuschauern pro Sendung war die zweite Staffel ähnlich erfolgreich wie die erste und erreichte in der werberelevanten Zielgruppe einen Marktanteil von durchschnittlich 19,2% ( www.rtv.de). In dieser Unterhaltungssendung geht es um acht verhaltensauffällige und teilweise straffällige Jugendliche, die im US-Bundesstaat Oregon auf Wunsch ihrer Eltern an einer Therapie der Organisation „Catherine Freer Wilderness Therapy Expeditions“ teilnehmen und dadurch lernen sollen, „ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen“ (www.rtl.de). Begleitet werden sie dabei von Cheftherapeutin Annegret Fischer Noble und fünf weiteren Betreuern. Laut RTL handelt es sich um eine „erlebnispädagogische Verhaltenstherapie in der freien Natur“, bei der die Teilnehmer alte Verhaltensmuster ablegen, ein neues Selbstwertgefühl sowie eine positive Lebensperspektive gewinnen und somit eine „Chance auf eine neue Zukunft haben“ (www.rtl.de). Der Zuschauer kann den Verlauf der Therapie Woche für Woche chronologisch verfolgen. Neben Interviews mit den Jugendlichen und den Therapeuten werden außerdem Beiträge über das bisherige Leben der Teilnehmer eingeblendet, in denen man die Jugendlichen zu Hause oder mit Freunden sieht. Auch die Eltern werden interviewt und nehmen mit der sogenannten „Elternkamera“ besonders markante Szenen des Familienlebens auf. Das Originalformat der Sendung, das in Großbritannien auf Channel 4 ausgestrahlt wird, nennt sich „Brat Camp“ (brat: Englisch für Gör, Blag, Quälgeist) und gewann einen internationalen Emmy. Auf der Internetseite des Channel 4 wird der Inhalt der Sendung mit wenigen Worten eindrucksvoll beschrieben: „In the new Brat Camp series, seven rude, spoilt and lazy teenagers from cosy homes in Britain are tracked as they get the shock of their lives in the US.“ 15 3.2 Das „Catherine Freer Wilderness Therapy Program“ Die folgenden Angaben zum Therapiekonzept stammen, wenn nicht anders angegeben, aus der englischen Informationsbroschüre „Catherine Freer Wilderness Therapy Program – Changes That Last A Lifetime“. Die 1988 gegründete Organisation hat ihren Hauptsitz in Albany, Oregon und ist nach der Bergsteigerin Catherine Freer benannt, die 1987 auf dem Mount Logan, dem höchsten Berg Kanadas, ums Leben kam. Ihr Name, der laut Broschüre für Stärke, Mut und Sensibilität steht, soll die Prinzipien des Programms widerspiegeln. An einer Expedition dürfen maximal acht verhaltensauffällige Jugendliche im Alter von 13 bis 18 Jahren teilnehmen. In der Wüste und den Bergen Oregons sollen die Teilnehmer lernen, ihr bisheriges Leben zu reflektieren und eine Basis für eine erfolgreiche Zukunft zu entwickeln. Gerade der Abstand zum Alltag wird hierbei als ein entscheidender Faktor angesehen, da dies den Jugendlichen ermöglichen soll, ihr Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen. Das Leben in der Natur und die gemeinsamen Herausforderungen fördern laut Konzept außerdem eine intensive Beziehung zwischen den Teilnehmern und den Therapeuten. Das achtwöchige Programm umfasst zwei Phasen, den sogenannten Trek und die Abenteuerphase. Beim dreiwöchigen Trek wandern die Teenager schweigend durch die Wüste. In den Pausen dürfen sie sich unterhalten, die Gespräche werden jedoch von den Mitarbeitern beaufsichtigt, da sie „produktiv und positiv“ sein müssen. Dieser Ansatz soll gewährleisten, dass die Jugendlichen viele Stunden mit ernsthafter Selbstreflexion verbringen, um über die therapeutischen Gespräche nachzudenken. Laut der Website von Annegret Noble „übernehmen die Betreuer zeitweise die Kontrolle, wenn die Jugendlichen sich weigern, dies in produktiver Weise selbst zu tun.“ Das Ziel sei jedoch, dass die Jugendlichen ihr Verhalten und damit ihr Leben selbst kontrollieren. Ein typischer Tag der ersten Phase sieht folgendermaßen aus: Nach einer Wanderung am Morgen pausiert die Gruppe, um Mittag zu essen. Während dieser Pause gibt es ein therapeutisches Gruppengespräch zu Themen wie Drogen, Depressionen oder Aggressionsbewältigung. Nach einer weiteren, mehrstündigen Wanderung werden am späten Nachmittag die Zelte aufgeschlagen, Feuer gemacht und das Abendessen zubereitet. Der Tag endet mit einer weiteren Gruppentherapie am Lagerfeuer. „Das Programm verbindet also individuelle Therapie und Gruppentherapie mit therapeutischem Verhaltensmanagement in der natürlichen Umgebung der Wildnis.“ (www.rtl.de). In der fünfwöchigen zweiten Phase, der Abenteuerphase soll den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, die in Phase Eins erworbenen 16 Fähigkeiten in einer therapeutischen Umgebung anzuwenden und zu erproben. Laut Konzept ist dieser zweite Teil sehr gruppenorientiert; abenteuerliche Aufgaben wie Wildwasserfahren oder Klettern sollen in der Gemeinschaft bewältigt werden. Die Teilnehmer bekommen nach und nach mehr Rechte und Verantwortung und dürfen teilweise auch Führungsrollen übernehmen. Auch die körperliche Genesung der Jugendlichen spielt eine entscheidende Rolle. Gesundes Essen, genügend Schlaf und Bewegung, sowie der völlige Verzicht auf Zigaretten, Alkohol und andere Drogen sollen den Körpern der Teenager zu einem gesundem Gleichgewicht verhelfen. Durch den Einfluss der Natur und durch die Erlebnisse miteinander sollen sich die Jugendlichen also verändern und wachsen (www.annegret-noble.com). Parallel wird mit den Familien gearbeitet. Neben einer Beratung der Erziehungsberechtigten gibt es zwei Familientreffen, jeweils am Anfang und am Ende des Programms. Während der Abenteuerphase tauschen Eltern und Teilnehmer außerdem wöchentlich Briefe aus, um den „Heilungsprozess zu fördern“. Auch eine Nachbetreuung soll gewährleistet sein, in welcher Form diese angeboten wird, lässt sich dem Konzept leider nicht entnehmen. 3.3 Die beteiligten Personen Im Folgenden werde ich auf die Mitarbeiter des Projektes und die teilnehmenden Jugendlichen eingehen. Obwohl auch die Familien der Teenager Beteiligte der Serie sind, kann ich sie aufgrund mangelnder Informationen leider nicht weiter beschreiben. 3.3.1 Die Mitarbeiter Das Mitarbeiterteam bei „Teenager außer Kontrolle“ besteht aus zwei Therapeutinnen, (Cheftherapeutin Annegret Noble und Kami Schott) und vier „Wilderness-Experten“ (Marlies Luepges, Dan Coyle, Lina Hofmann und Kris Schock) (http://snyelmn.wordpress.com/). Abbildung 1. Betreuer. Von links: Annegret, Kris, Marlies, Kami, Lina, Dan 17 Da Annegret Noble als Cheftherapeutin die Leiterin des Projekts ist, möchte ich kurz auf ihre Biografie eingehen: Die zum Zeitpunkt der Ausstrahlung 37-jährige Deutsch-Amerikanerin ist laut ihrer Website (www.annegret-noble.com) lizensierte Familien- und Eheberatungstherapeutin. Sie absolvierte außerdem eine Ausbildung zur Gesprächstherapeutin und studierte Wirtschaft, Psychologie und Soziologie an der Universität Tübingen, sowie der Tufts University in Boston, USA. Nach ihrem Studium arbeitete sie acht Jahre als Therapeutin im Loma Linda University Behvorial Medicine Centre unter anderem mit drogen- und alkoholabhängigen Jugendlichen. Als therapeutische Leiterin des Programms „Passages to Recovery“ für drogenabhängige Jugendliche, Loa, Utah, USA sammelte sie erste Erfahrungen als Erlebnistherapeutin. Seit April 2008 besitzt sie eine Lizenz als Master Addiction Counselor und arbeitet momentan als stellvertretende Direktorin der therapeutischen Abteilung an der Summit Preparatory School in Kalispell, USA. 3.3.2 Die Jugendlichen Die acht teilnehmenden Jugendlichen sind zwischen 15 und 17 Jahre alt und befinden sich aufgrund sehr unterschiedlicher Problematiken im „Catherine Freer Wilderness Therapy Program“. Es scheint, als wolle man mit der Auswahl der Jugendlichen die komplette Bandbreite an Verhaltensauffälligkeiten im Jugendalter abdecken. Alle Angaben über die Teenager stammen aus Mangel an alternativen Quellen von der Internetseite www.rtl.de. Die wörtlichen Zitate habe ich von dort übernommen, möchte mich jedoch deutlich von deren Inhalt und Wortwahl distanzieren. Dzeneta B. Die 15-jährige Dzeneta aus Frankfurt wird als „Schlägerbraut“ beschrieben. „Die Innenstadt ist ihr Revier, hier schlägt sie mit ihrer Clique jeden zusammen, der ihr nicht passt.“ Laut RTL wurde sie von der Schule verwiesen, verbrachte sechs Monate in Abbildung 2. Dzeneta einem Heim und wurde aufgrund von Selbst- und Fremdgefährdung in eine Psychiatrie eingewiesen. Außerdem experimentiere sie mit Drogen und trinke „just for fun Spiritus in Kombination mit Antibiotika“. 18 Andreas E. Der 15-jährige Andreas aus Münster, der in der Sendung als „Serieneinbrecher“ gilt, soll in verschiedene Geschäfte, Schulen und Kindergärten eingebrochen sein. RTL berichtet, dass sein Vater ihn angezeigt hätte, als er gestohlene Gegenstände in Andreas Zimmer fand. Ihm wird nachgesagt, oft Abbildung 3. Andreas grundlos auszurasten, für mehrere Tage von zu Hause wegzulaufen und die Schule zu schwänzen. Er kiffe gelegentlich und trinke täglich Alkohol. Seine Eltern leben getrennt, Andreas selbst ist Vater einer einjährigen Tochter. Vivien T. Vivien aus Görlitz ist 16 Jahre alt und hat den Titel „Ausreißerin“. Laut ihren Eltern trinkt sie viel, schlägt schnell zu und klaut Geld, seit sie ein Jahr zuvor neue Freunde kennen gelernt hat. Sie sei außerdem von der Schule verwiesen worden, nachdem sie schwänzte, Lehrer angriff und Einrichtungsgegenstände demolierte. Vier Wochen verbrachte Vivien angeblich in einer Abbildung 4. Vivien nicht weiter spezifizierten - „geschlossenen Anstalt“. Stacey G. Die 17-jährige Stacey kommt aus Hönow in Brandenburg. Mit dem Titel „Schulabbrecherin“ kommt sie im Vergleich zu den anderen Jugendlichen noch glimpflich davon. Aufgrund von verbalen und körperlichen Übergriffen habe sie bereits mehrere Anzeigen bekommen. Ihre Mutter, die zum zweiten mal verheiratet ist, habe sie wegen „unkontrollierten Wutanfällen“ in die Obhut des Jugendamtes übergeben, da sie in Stacey eine „Gefahr für die Familie“ sah. Abbildung 5. Stacey 19 Kurt Z. Der 16-jährige Kurt kommt aus Sachsen-Anhalt und wird als „NeoNazi“ beschrieben. Da seine Eltern geschieden sind lebt er seit seinem zwölften Lebensjahr bei seinem Vater. Trotz schlechter Noten und Hänseleien durch die Mitschüler versuche Kurt seinen Abbildung 6. Kurt Hauptschulabschluss zu machen. Mit seinen „rechten Kameraden“ schlage er andere „um Wut abzulassen“. Pascal S. Der 17-jährige „Dealer“ aus Sonsbeck in NRW konsumiert laut RTL Drogen und wurde beim Dealen erwischt. Seine Familie beklage sich über Wutanfälle, bei denen Pascal gegen Möbel trete, seine Geschwister schlage und seine Mutter beschimpfe. Er habe der Mutter außerdem schon mehrmals Geld gestohlen. Abbildung 7. Pascal Kevin O. Kevin, der als „Gang-Mitglied“ beschrieben wird, kommt aus Köln, ist 15 Jahre alt und „klaut, randaliert und knackt Autos“ mit seinen Freunden. Er schwänze die Schule, bestehle seine Familie und sei in Schlägereien verwickelt. Von der vorherigen Schule wurde er angeblich verwiesen, als er eine Lehrerin bedrohte und beschimpfte. Abbildung 8. Kevin David P. Der 17-jährige David aus Berlin konsumiert laut RTL große Mengen Drogen und Alkohol. Er hänge nur ab, sei aggressiv und ohne Schulabschluss. Der sogenannte „Drogenkonsument“ lebt bei seiner Mutter und hat zwei Halbgeschwister. Abbildung 9. David 20 3.4 Kritik an pädagogischer Arbeit in einer kommerziellen „RealityShow“ „Teenager außer Kontrolle“ wird auf dem privaten Fernsehsender RTL ausgestrahlt und ist damit eine kommerzielle Sendung, die von einem Millionenpublikum verfolgt wird. Das Genre der Sendung wird mit dem Begriff „Reality-Show“ beschrieben. In diesem Abschnitt möchte ich erläutern, warum ich es als kritisch erachte, pädagogische Arbeit in dieser Form darzustellen. Formate die unter den Gattungsbegriff „Reality-Show“ fallen, vermitteln eine Aufbereitung von persönlichen Geschichten und Schicksalen. „Angesichts der Überfülle des Fiktiven und Künstlichen des Mediums Fernsehen erfüllt sie (die Reality-Show, d.V.) offenbar das Kontrastbedürfnis nach Realität. Aber wo diese dargestellte Realität allzu banal und spannungslos zu werden droht, wird sie durch Mittel der Inszenierung konsumierbar gemacht ...“ (Prokop/Jansen 2006, 39). Aufgrund der audio-visuellen Umsetzungsmöglichkeiten des Fernsehens, Dramatik und Emotionen zu übermitteln, entsteht eine Mischform zwischen Realität und Show. Einerseits finden sich Elemente einer Magazinsendung, mit ihrem Anspruch auf Information und Darstellung realer Ereignisse, andererseits bedient sich die Reality-Show einiger Gestaltungsmittel aus dem fiktiven Bereich. Mit besonderen Montage- und Kameratechniken, sowie subjektiven Interviewausschnitten versucht man gezielt, Emotionen der Zuschauer 'hervorzulocken', „wobei den Produzenten die Faszination der Intimität durchaus bewusst ist“ (Herrmanns 2007, 68). So verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion oder Dokumentation und Inszenierung. Neuerdings zeichnet sich sogar ein Trend ab, die Ereignisse erst zum Zweck der Ausstrahlung zu inszenieren; so auch bei „Teenager außer Kontrolle“. Es besteht die Gefahr, dass die ausgestrahlte Sendung, die den Zuschauern als Dokumentation der Realität verkauft wird, die Jugendlichen in einem ganz anderen Licht darstellt, als diese sich selbst erlebt haben. Eine sehr einseitige, auf Emotionen ausgerichtete Präsentation der Teilnehmer kann so leicht zu Stigmatisierungen führen und nicht abschätzbare negative Auswirkungen auf diese und ihr weiteres Leben mit sich bringen. Ein weiterer Kritikpunkt ist der kommerzielle Hintergrund der Sendung. Im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen Sendern, die sich durch die Rundfunkgebühren finanzieren und mit dem Ziel arbeiten, dem staatlichen Auftrag nach Bildung, Information und Unterhaltung nachzukommen, handelt es sich bei den privaten Sendern um 21 Wirtschaftsunternehmen, die gewinnbringend arbeiten. Größtenteils stammen die Einnahmen aus der Werbung, daher müssen hohe Quoten erreicht werden, um einen möglichst attraktiven Geschäftspartner für die Werbetreibenden darzustellen. Zugespitzt formuliert: Die Inhalte dienen als Rahmen für Werbung (vgl. Herrmanns 2007, 47). Man kann also davon ausgehen, dass der Wert nicht auf der Qualität der Sendung liegt, sondern auf den Einschaltquoten. Die Programme müssen eine Massenattraktivität aufweisen, was dazu führt, dass ethisch umstrittene Sendungen produziert, die Verzweiflung von Menschen ausgenutzt und Gefühle im Close-up zur Schau gestellt werden, um einen hohen Marktanteil zu erreichen. Um die dahinter stehenden Menschen und Schicksale, oder gar darum, ihnen zu helfen, geht es dabei nicht. Des weiteren halte ich die mit der Reality-Show verbundene Auflösung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit für äußerst problematisch. „In der Gesellschaft scheint ein Wille zur Selbstdarstellung und Selbstveröffentlichung, Sehnsucht Abbildung 10. Kevin und seine Eltern werden gefilmt nach Berühmtheit zu Prominenz existieren. eine und Diese Nachfrage bedienen verschiedene TVFormate, indem sie Raum zur Selbstdarstellung bieten. Da die Kandidaten aber somit gleichsam im Rahmen kommerzieller Verwertungsinteressen instrumentalisiert werden, muss eine mögliche Verletzung ihrer Menschenwürde überprüft werden.“ (Herrmanns, 2007, 65). Dass in sogenannten pädagogischen Reality-Shows wie „Teenager außer Kontrolle“ oder „Die Super Nanny“ gerade minderjährige Personen beteiligt sind, die die Folgen ihres TVAuftrittes nicht abschätzen können, finde ich unverantwortlich und äußerst fragwürdig. 22 4 Analyse der Sozialpädagogischen Gesichtspunkte 4.1 Forschungsdesign 4.1.1 Vorgehensweise Im Analyseteil dieser Arbeit habe ich die ersten vier Folgen der zweiten Staffel „Teenager außer Kontrolle“ untersucht, bei dem Punkt „Elternarbeit“ habe ich zusätzlich die fünfte Folge hinzugezogen, da die Teenager hier Besuch von ihren Eltern bekommen. Obwohl laut Wolf (1999, 35) „eine Wahrnehmung ohne Wahrnehmungsselektion allein wegen der Komplexität der sozialen Wirklichkeit … nicht möglich“ ist, habe ich vor der ersten Durchsicht der Serie auf die Bildung von Hypothesen verzichtet, um alle Eindrücke so wenig selektiert wie möglich auf mich wirken zu lassen und um zu verhindern, dass interessante Aspekte aufgrund dieser vorgefertigten Hypothesen unberücksichtigt bleiben. In einem Beobachtungsprotokoll habe ich meine Eindrücke, erste Interpretationen und Anmerkungen festgehalten und anschließend anhand dieser Notizen zentrale, unter sozialpädagogischen Gesichtspunkten relevante, Themengebiete herausgearbeitet. Zu jedem dieser Themen habe ich eine kurze theoretische Einleitung verfasst, bei der es sich aufgrund des zeitlich engen Rahmens einer Diplomarbeit nur um eine grobe Begriffsbestimmung handeln kann. Sicher könnte man über nahezu jeden dieser Punkte eine eigene Arbeit verfassen, für meine Zwecke genügt jedoch eine kurze Übersicht über das behandelte Thema. Bei den darauf folgenden Durchsichten der Serie bin ich höchst selektiv vorgegangen und habe alle Ausschnitte, die mit dem jeweiligen Themenbereich in Verbindung stehen, herausgefiltert. Wenn eine Szene zu mehreren Themenkomplexen passte, habe ich sie inklusiv zugeordnet. Durch eine gezielte Suche auch nach Szenen, die meine bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Vermutungen über die Serie widerlegen, wurde die Objektivität bewahrt und eine Distanz zur Alltagswahrnehmung geschaffen (vgl. ebd., 45ff.). Im tatsächlichen Analyseteil habe ich die beobachteten Szenen mit dem vorangehenden theoretischen Teil verglichen, um so feststellen zu können, inwieweit es sich bei dem beobachteten Vorgehen der Professionellen um qualifizierte pädagogische Arbeit handelt. Die Analyse folgte keinem vorgefertigten Schema, denn „der Auswertungsprozess läßt sich in der 23 qualitativen Forschung nicht als eine lineare Abfolge von einzelnen Operationen darstellen, sondern er ist als ein komplexer Interpretationsprozess angelegt“ (ebd., 45). Bei der Abfolge der Themen habe ich mit sehr speziellen Beobachtungen (zum Beispiel bezüglich der Strafpraktiken) begonnen, um im Prozess der Analyse immer allgemeiner zu werden, denn beispielsweise das Menschenbild, der letzte Punkt dieses Kapitels, lässt sich erst durch speziellere Beobachtungen, wie über die Möglichkeit der Partizipation, erschließen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei noch einmal ausdrücklich erwähnt, dass es sich um eine Analyse des Gezeigten handelt, also eine Analyse dessen, was der Zuschauer beobachtet. Denn das ist es, was ihm als pädagogische Arbeit vermittelt wird. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass durch die Auswahl der gesendeten Szenen ein verzerrter Eindruck des Projekts entsteht – meine Aussagen beziehen sich daher also immer auf das Dargestellte und nicht auf das Catherine Freer Therapieprogramm als solches. 4.1.2 Beschreibung der Szenen Da es sich hier primär um eine inhaltliche Analyse des pädagogischen Vorgehens der beteiligten Personen und nicht um eine Filmanalyse im klassischen Sinn handelt, werden Begriffe der Filmanalyse nur verwendet, um die Serienszenen so detailliert und anschaulich wie möglich zu beschreiben und um herauszustellen, wo Besonderheiten der Kameraeinstellungen oder des Tons eine gewisse Stimmung erzeugen und somit auf bestimmte Absichten des Produzenten schließen lassen. Auf eine Analyse der verwendeten Stilmittel muss aufgrund des engen Rahmens einer Diplomarbeit verzichtet werden. Die Beschreibung der Szenen entspricht der Gestaltung eines Filmskripts: „... the filmscript must be coceived as a description and not as an interpretation .... What is needed is not a statement of the film maker's intentions or a character's motivation, but a careful description of what is seen on the screen“ (Faulstich 1980, 121). Es handelt sich also um eine neutrale Beschreibung des Gesehenen. Für den Fall, dass die Szenenbeschreibungen zur bildhaften Vorstellung an einigen Punkten nicht ausreichen, habe ich eine DVD mit den von mir analysierten Folgen beigefügt. 24 Im Folgenden möchte ich die von mir verwendeten Begriffe der Film- und Fernsehanalyse kurz erläutern. Die beschriebenen Kategorien zeigen das Verhältnis des Zuschauers zum Gezeigten, da der Zuschauer nur sieht, was ihm durch die Kamera gezeigt wird. „Er sieht nur den Ausschnitt an Wirklichkeit, den ihm die Kamera vorführt.“ (Hickethier 1978, 45). An den Kameraeinstellungen lässt sich also ablesen, welche Absichten der Produzent hatte, welchen Ausschnitt er dem Zuschauer zeigen will. Einstellungsgrößen Hickethier (1978. 46 ff.) unterscheidet acht Einstellungsgrößen: Detail, Groß, Nah, Amerikanisch, Halbnah, Halbtotal, Total und Weit. Bei der Detail-Einstellung geht die Kamera sehr nah an den Gegenstand heran, der Zuschauer sieht nur einen kleinen Ausschnitt, was ein Gefühl von Nähe oder Intimität vermittelt. Die Einstellungsgröße Groß zeigt einen Menschen von den Schultern aufwärts. Häufig wird diese Einstellung in Gesprächssituationen verwendet, da man die Mimik der Sprechenden sehr gut verfolgen kann. Die Nah-Einstellung zeigt den Menschen vom Kopf bis zur Brust. Obwohl noch immer die Mimik im Vordergrund steht, kann man bereits etwas vom Hintergrund erkennen. Bei der sogenannten Amerikanischen Einstellung sieht man die Person bis unterhalb der Hüften und kann so ihr Verhältnis zu den Mitmenschen oder dem Umfeld erkennen. Die Einstellungsgröße Halbnah zeigt den Menschen von den Knien an aufwärts, was einen „räumlich orientierten und im Raum orientierenden Eindruck“ vermittelt (ebd., 47). In der Halbtotalen ist der Gegenstand oder die Person soweit vom Zuschauer entfernt, dass eine Distanz zum Geschehen empfunden wird. Personen sind von Kopf bis Fuß zu sehen. Ihre Gestik und eine charakteristische Umgebung treten in den Vordergrund. Die Einstellungsgröße Total gibt vor allem einen Überblick und räumliche Orientierung. Bei Weiten Einstellungen, die oft mit symbolischer Funktion eingesetzt werden, sieht man beispielsweise Landschaften oder Skylines. Einstellungsperspektiven In der Kategorie „Einstellungsperspektive“ unterscheidet man zwischen der Normalansicht, also der Sicht eines erwachsenen Menschen, der Froschperspektive, bei der die Kamera von unten nach schräg oben filmt und dem Betrachter häufig das Gefühl von Unterlegenheit vermittelt und der Vogelperspektive, bei der sich die Kamera über dem dargestellten befindet und so ein Gefühl der Überlegenheit erzeugt (vgl. ebd., 49). 25 Kamerabewegungen Die Kamerabewegung Stand filmt ein Objekt aus ein- und derselben Perspektive, es findet keine Bewegung statt. Beim Schwenk hingegen bewegt sich die Kamera analog zur Bewegung mit dem Kopf und der Ausschnitt des Gezeigten verändert sich. Die Fahrt ist ähnlich wie die menschliche Bewegung mit dem ganzen Körper. Beim einem Sonderfall der Fahrt, der Subjektiven Kamera, geht der Kameramann „mit einer Kamera auf der Schulter genauso durch die Gegend, als habe er gar keine vor Augen. Dadurch entsteht ein hektischer Eindruck. (...) Der Zuschauer soll den Eindruck gewinnen, er sei am Geschehen unmittelbar beteiligt.“ (ebd., 50). Montage Auch mit der Länge der Einzelnen Einstellungen lässt sich eine Atmosphäre schaffen. So ist einem häufigen Wechsel von Einstellungen mit kurzer Dauer eher eine subjektive Darstellungsweise zuzurechnen. Wenige, dafür lange Einstellungen hingegen geben dem Betrachter die Möglichkeit, genauer hinzusehen. 4.1.3 Transkription Bei der Transkription der Dialoge, der Kommentare des Sprechers und der Interviewausschnitte habe ich das Gesprochene wortwörtlich aufgeschrieben und außerdem nach Glinka (2003, 64f.) folgende Transkriptionszeichen verwendet: … Pause. Die Anzahl der Punkte gibt die Dauer der Pause in Sekunden wieder. (Drei Punkte am Ende eines Satzes machen eine Unterbrechung durch den Gesprächspartner deutlich) immer Betonung eines Wortes schön gedehntes Sprechen Anmerkungen, wie zum Beispiel „(lacht)“, sowie wichtige körpersprachliche Beobachtungen habe ich kursiv und in Klammern direkt an die betreffende Stelle im Dialog gesetzt, um eine lebendigere Vorstellung der Szene zu ermöglichen. 26 4.2 Selbst- und Fremdkontrolle Um in unserer Gesellschaft zurechtzukommen, ist ein hohes Maß an Selbststeuerung gefragt. Das Ziel der pädagogischen Arbeit sollte daher immer die Selbstkontrolle der Kinder sein. Sie durch Befehle und Strafen, also durch Fremdkontrolle, zum Befolgen von Vorgaben und Regeln zu bringen, mag auf den ersten Blick wirksam sein, reicht jedoch nicht aus, um erfolgreich ein eigenständiges Leben zu führen (vgl. Wolf 2006, 6). Oft lernen die Heranwachsenden hierdurch lediglich, beim Verletzen der Regeln das Sanktionsrisiko abzuschätzen und sich nicht erwischen zu lassen. Damit Scheinanpassungen vermieden und tatsächlich Effekte im Inneren der Jugendlichen erzielt werden, ist es unabdingbar, mit ihnen zu verhandeln und sie zu beteiligen, denn das unterscheidet Erziehung von Dressur (vgl. ebd., 5f.). Natürlich kann man Kinder nicht von Anfang an sich selbst überlassen und sie alles entscheiden lassen, doch „es muss eine Entwicklung vom Fremdzwang zum Selbstzwang stattfinden. Das, was zunächst äußerer Zwang ist – nämlich das unmittelbare Eingreifen des Erwachsenen oder seine Durchsetzung mit Sanktionen oder ihrer Androhung – muss zur Fähigkeit werden, auf sich selbst Zwang auszuüben, sich selbst Vorschriften zu machen, die Erwartungen an sich selbst auch gegen eigenen Widerstände durchzusetzen“ (Wolf 2000, 5). Diese Entwicklung bezeichnet Kohlberg als das Erreichen der konventionellen Ebene der moralischen Urteile, bei der eine Verinnerlichung bestehender Regeln stattgefunden hat (vgl. Mietzel 2005, 101). Vor allem Heranwachsende, die diese Stufe bereits erreicht haben, sind gekränkt, wenn sie bloßer Fremdkontrolle ausgesetzt sind. Denn ihre Bereitschaft, sich an in ihren Augen sinnvolle Regeln zu halten, wird durch den äußeren Zwang übergangen und ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung unterdrückt. Sie gehen also in Folge dessen zurück auf die präkonventionelle Ebene, bei der es lediglich darum geht, Strafen zu vermeiden, unabhängig davon, ob man die Regeln für sinnvoll oder gerecht hält (vgl. Wolf 2000, 6). Ein wesentlicher Aspekt pädagogischer Arbeit ist es also, systematisch die Fremdkontrolle zu verringern, um eine Entwicklung zur verantwortungsvollen Selbststeuerung auf einer höheren Ebene der moralischen Orientierung zu ermöglichen. Um das Verhältnis von Selbst- und Fremdkontrolle bei „Teenager außer Kontrolle“ einschätzen zu können, untersuche ich in diesem Kapitel die Strafpraktiken der Betreuer (Fremdkontrolle) (Selbstkontrolle). und die Partizipationsmöglichkeiten der Jugendlichen 27 4.2.1 Die Anwendung von Strafen Friedhelm Peters (1999, 931) definiert Strafe als „Zufügung eines Übels, Leids oder Schmerz – als Schaffen einer unangenehmen Situation.“. Oft ist die Strafe mit Zielen und Intentionen verbunden, wie beispielsweise der Förderung des individuellen Lernens. Wie bereits erwähnt, führen Strafen jedoch vor allem zu Scheinanpassungen, das heißt die Einhaltung von Regeln allein aus Angst vor Sanktionen. Sobald die Autoritätspersonen abwesend sind oder aus anderen Gründen keine Strafe mehr zu erwarten ist, fällt der Jugendliche zurück in seine alten Verhaltensmuster. Eine Verinnerlichung findet dadurch nicht statt (vgl. Wolf 2000, 5). Mit anderen Worten: „Strafen erzeugt Angst vor Bestrafung und steuert damit – wenn überhaupt – das Verhalten auf der untersten Stufe der Moralität“ (Müller 1993, 221). Schon aus diesem Grund sollte darauf, wenn eben möglich, verzichtet werden. Hinzu kommt, dass Bestrafungen die Beziehung zwischen Erzieher und Zögling verletzen können. Daher muss zweierlei beachtet werden: Erstens sollte ein Zusammenhang zwischen dem vorangegangenen Verhalten des Heranwachsenden und der Strafe erkennbar sein, damit das Kind den Sinn der Strafe versteht und sie nicht als willkürliche Gemeinheit der Erwachsenen einordnet (vgl. Peters 1999, 935). Zweitens sollte das Kind das Gefühl haben, so die vorherige Verletzung der Grenze überwinden zu können. Strafen müssen also eine aufbauende Komponente haben, auf das Wiedergutmachen, Wieder-InOrdnung-bringen der Situation angelegt sein. „Die Strafen als Sühne, als Rache, als Schadenszuführung, als Abschreckung – sie alle haben in der Erziehung keinen Ort.“ (Flitner 1982, 86). Im Folgenden möchte ich untersuchen, ob die Professionellen bei „Teenager außer Kontrolle“ zu Strafen greifen und wenn ja, wie diese Strafpraktiken aussehen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Grenzüberschreitung des Jugendlichen und der darauf folgenden Strafe und ist diese auf Wiedergutmachung angelegt, oder wird sie als Rache oder Abschreckung eingesetzt? Analyse Die drei folgenden Zitate zeigen, dass Strafen - oder Konsequenzen, wie es in der Serie heißt - im Therapieprogramm fest vorgesehen sind: 28 F1, 1:26:40 – 1:26:49 Die Kamera schwenkt über die Jugendlichen, die sich in einer Reihe aufgestellt haben und Annegret Noble zuhören. Dann ist Annegrets Gesicht in „Groß“ zu sehen. Im Hintergrund vernimmt man einige leise Töne, die unheimlich klingen und an einen spannenden Film erinnern. Annegret: „Wir werden euch sagen, was wir erwarten, wir werden erwarten, dass ihr das tut, dass wir keine Widerrede bekommen. Wenn da Widerrede ist, dann gibt's Konsequenzen.“ F2, 8:26 – 8:42 Kameraflug über eine karge, unbewachsene Wüstenlandschaft. Anschließend wird eine Landkarte von Oregon eingeblendet, auf der man den Weg von Wagontire nach Little Juniper verfolgen kann. Am unteren, rechten Ende der Karte öffnet sich ein kleiner Kasten, in dem Bilder der Landschaft gezeigt werden. Rockige Gitarrenklänge im Hintergrund. Sprecher: „Insgesamt dauert der erste Teil der Therapie, die so genannte Expeditionsphase, 21 Tage. In diesen drei Wochen müssen die Teenager über 250 Kilometer bewältigen. Wer das nicht schafft, muss wieder von vorne anfangen und die gesamte Strecke noch mal zurücklegen. Allein.“ F4, 42:42 - 42:47 Viele verschiedene, kurze Aufnahmen der Jugendlichen beim Wandern. Ziemlich laute, fröhliche Musik. Sprecher: „Wer sich nicht völlig öffnet, dessen Eltern können auch in letzter Minute wieder ausgeladen werden.“ Annegret Noble stellt schon vor der Wanderung klar, dass bereits jede Widerrede zu Konsequenzen führt. Den Jugendlichen werden Strafen angedroht, noch bevor sie gegen irgendeine Regel verstoßen oder irgendeine Grenze überschritten haben. Außerdem 29 steht von vorn herein fest, dass man die gesamte Strecke von 250 Kilometern noch einmal allein wandern muss, sollte man sie in den vorgegebenen drei Wochen nicht schaffen. Sogar der Besuch der Eltern wird als Druckmittel benutzt, die Jugendlichen werden dazu gezwungen, sich zu öffnen und Gefühle zu zeigen, sonst droht ihnen die Ausladung der Eltern. Diese Drohungen haben den Sinn, die Jugendlichen einzuschüchtern um sie dazu zu bewegen, sich aus Angst vor den Strafen unhinterfragt an alle Anweisungen der Betreuer zu halten. Diese Absicht beschreibt Marlies Luepges auch in den folgenden zwei Interviewausschnitten: F2, 43:41 – 43:58 Die Teenager werden zuerst mit ihrer Wanderausrüstung im Halbkreis stehend gezeigt. Dann verkleinert sich diese Aufnahme zu einem Kasten auf der rechten Seite des Bildes. Links erscheint ein Kasten mit Marlies’ Gesicht in Großaufnahme. Dieser Kasten wächst während Marlies’ Worten, bis er schließlich das ganze Bild füllt. Unten links erscheint die Information 'Marlis Luepges. Betreuerin'. Marlies: „Ich (..) erwarte, dass sie überrascht sein werden, wenn sie sehen, dass Dzeneta nicht mehr mit ihnen dabei ist, ich nehme an, dass auch n bisschen n Schockeffekt haben könnte, das erhoffen wir uns eigentlich auch, damit sie schon wissen, dass wir, wenn Jugendliche nicht so mitmachen wie wir uns das erwünschen, dass es auch Konsequenzen hat.“ F4, 20:02 – 20:20 Situation: Als Strafe dafür, dass sie sich einige Meter von ihrem Zeltplatz entfernt hat, muss Vivien mitten in der Nacht innerhalb von fünfzehn Minuten ihr Zelt abbauen. Da diese Szenen nachts aufgenommen wurden, sind die Bilder sehr dunkel. In einem Kasten am linken Bildrand ist Marlies Luepges in der Einstellungsgröße „Nah“ zu sehen. Im rechten Kasten sieht man Vivien ihr Zelt zusammenbauen. Marlies: „Wir probieren eigentlich jetzt im Ausführen von der Konsequenz ziemlich mysteriös zu sein. Wir wollen halt, dass sie .. 30 verunsichert ist im Moment, dass sie verst, dass sie unklar ist, was als nächstes passiert und eine Möglichkeit, das noch n bisschen zu vertiefen ist halt, sie jetzt da warten zu lassen und hoffentlich n paar Gedanken damit anzuregen.“ Dzenetas Ausschluss aus der Gruppe wird bewusst eingesetzt, um die anderen Teilnehmer zu verängstigen. Laut Frau Luepges sollen die Teenager dadurch lernen, dass es Konsequenz hat, sich nicht wie von den Betreuern erwünscht zu benehmen. Selbst beim Durchführen der Strafen bemühen sie sich, möglichst „mysteriös“ zu wirken, um die Heranwachsenden weiter zu verunsichern. Es geht offenbar nur darum, die Jugendlichen dazu zu bewegen, sich während des Programms an alle Regeln und Vorgaben zu halten. Dass ein solches Vorgehen von vorn herein nur auf Scheinanpassungen angelegt ist, wie der folgende Interviewausschnitt von Andreas eindrucksvoll beweist, scheint die Professionellen nicht weiter zu interessieren: F2, 27:45 – 28:00 Situation: Die Jugendlichen haben Müll, Andreas Breireste, an ihrem Zeltplatz gelassen. Marlies Luepges teilt ihnen mit, dass sie so lang kein neues Essen bekommen, bis sie ihren Müll weggeräumt haben. Zuerst Aufnahmen von Andreas, der auf dem staubigen Boden hockend etwas aufliest. Dann sieht man ihn in „Groß“ aus der Froschperspektive, ein Interview gebend. Einblende: „Andreas, 15 Jahre. Serieneinbrecher“. Andreas: „Essens-Sachen und so, das wird ja dann von Tieren aufgegessen, oder verwest, oder keine Ahnung. So Papier oder so kann ich ja noch verstehen, aber Essens-Sachen eigentlich nicht. Ja, beim nächsten Mal wenn ich was wegwerfe versteck ich das nachher einfach besser.“ Offensichtlich sieht Andreas ein, dass man beispielsweise Papier nicht einfach in der Wüste zurücklassen sollte. Nach der Androhung von Konsequenzen befolgt er jedoch Marlies’ Aufforderung, auch die Speisereste wegzuräumen. Da er den Sinn dieser Anordnung aber nicht einsieht, kündigt er an, die Reste beim nächsten Mal einfach besser zu verstecken. Das Strafen - oder Androhen von Strafen - hat also nur eine sehr kurzfristige Wirkung, von einer Verinnerlichung kann nicht die Rede sein. 31 Es stellt sich die Frage, ob es denn zumindest einen für die Jugendlichen erkennbaren Zusammenhang zwischen den Grenzüberschreitungen und den daraufhin vergebenen Konsequenzen gibt. Auf den ersten Blick scheinen manche der Strafen logisch: F1, 59:38 – 59:58 Situation: Dzeneta weigert sich, einen Sonnenhut zu tragen. Links im Bildschirm sieht man einen Kasten mit Annegret, die in „Groß“Einstellung ein Interview gibt. In einem weiteren Kasten auf der rechten Seite verfolgt die Kamera Dzeneta, die davongeht. Abschließend Annegret, eine Plane aufspannend, im Vollbild. Annegret: „Wir können ihr nicht vertrauen, sie ist nicht vertrauenswürdig, sie benimmt sich wie ein kleines Kind und dann müssen wir sie jetzt eben wie ein kleines Kind behandeln und das bedeutet, dass wir ihr jetzt irgendwo nen kleines Sonnendach aufstellen, wo sie die ganze Zeit drunter sein muss. Da hat sie jetzt nicht mehr ihr Zelt, da hat sie nicht mehr ihre Liegematte, da hat sie nicht mehr ihre eigenen Sachen, sondern jetzt müssen wir eben auf sie aufpassen.“ Mit dem Satz „Sie benimmt sich wie ein kleines Kind und dann müssen wir sie jetzt eben wie ein kleines Kind behandeln“ versucht Annegret Noble zu begründen, warum ihr Vorgehen die logische Konsequenz aus Dzenetas Verhalten ist. Bei genauerer Betrachtung erscheinen die Konsequenzen jedoch ziemlich sinnlos: Da die Jugendliche ihren Hut nicht tragen möchte, werden ihr das Zelt und all ihre Sachen weggenommen. Sie muss unter einer Plane im Betreuer-Camp sitzen und steht die ganze Zeit unter Beobachtung. Meines Erachtens steht hier das Ausmaß der Strafe in keiner Relation zu Dzenetas Weigerung, den Hut zu tragen. Eher geht es den Betreuern darum, Dzeneta so zum Aufgeben zu bewegen und sie dazu zu zwingen, den Hut aufzusetzen. Wahrscheinlich ist es tatsächlich sehr wichtig, in der Hitze einen Kopfschutz zu tragen, durch diese Art von Strafe wird die Jugendliche das jeoch nicht einsehen. Dzeneta selbst macht zuvor den Vorschlag, ihren Schal um den Kopf zu wickeln, da ihr der Sonnenhut einfach „zu hässlich“ (F1, 58:12) ist. Darauf gehen die Betreuer jedoch nicht ein. Meiner Meinung nach wird dadurch deutlich, dass es nicht wirklich um den 32 Sonnenschutz geht, sondern darum, das Tragen des Hutes durchzusetzen, um Dzeneta zu zeigen, wer die Regeln macht (vgl. F2, 36:50), wer der Mächtigere in dieser Situation ist. Von einer logischen Konsequenz kann also nicht die Rede sein. F4, 24:06 – 24:42 Situation: Nach einem Fluchtversuch muss Andreas zur Strafe einige seiner Sachen abgeben. Dunkle Aufnahmen bei Nacht. Marlies Luepges und Kris Schock hocken vor Andreas’ Zelt und beobachten ihn, wie er im Inneren des Zelts Sachen in eine Tüte steckt. Man hört langsame Gitarrenklänge. Marlies: „Also wirklich, es geht jetzt nur drum: Briefkasten wird aufgelöst, Tagebücher kommen mit uns, natürlich kommt Taschen-, oder das, die Stirnlampe und die Schuhe mit uns und die Klamotten. Das heißt du wirst nur in deinem Unter, in deiner Unterwäsche schlafen.“ Andreas: „Schlafen auch?“ Marlies: „Hm. Uns geht es ganz klar darum, dass du nicht von deinem Zelt dich weg bewegst, du wirst, äh, Sit-Ups machen müssen wenn du kalt hast oder so dich warm behalten. Ganz wichtig, den Schlafsack ganz zu. Es ist nicht kalt genug für den Schlafsack, nicht wirksam zu sein. Und das ist n Teil deiner Konsequenz. Ich kann da jetzt keine Diskussion eingehen.“ Kris: „Alle Sachen außer die Boxershort.“ Andreas: „Und Socken?“ Kris: „Die auch.“ Andreas: „Boah.“ Nach Andreas’ Fluchtversuch scheint es noch sinnvoll, ihn vor allem über Nacht an einer neuen Flucht zu hindern und ihm daher seine Schuhe und seine Stirnlampe wegzunehmen. Dass er außerdem seine Tagebücher, seinen Briefkasten (während des Solos die einzige Möglichkeit, mit den Betreuern Kontakt aufzunehmen) und seine komplette Oberbekleidung, inklusive der Socken, abgeben muss, steht hingegen mit der Fluchtgefahr nicht in Verbindung. Den Jugendlichen nachts nur mit einer Boxershort 33 bekleidet zurück zu lassen ist meiner Meinung nach beabsichtigte Schadenszuführung und Demütigung. F1, 1:25:14 - 1:25:27 Zuerst eine Aufnahme von Dzeneta: die Kamera beginnt bei ihren Füßen und schwenkt hoch, bis ihr Kopf zu sehen ist. Sie steht mit ihrem Stock und ihrem Rucksack auf dem Rücken im freien Feld. Anschließend sieht man Annegret Noble in „Groß“ beim Interview, hinter ihr sieht man Dzeneta, noch immer bepackt und Frau Noble den Rücken zugekehrt. Abschließend wird die Jugendliche noch einmal in der „Halbtotalen“ aus der Froschperspektive gefilmt, Vivien läuft im Hintergrund an ihr vorbei. Annegret: „Die Dzeneta steht da grad mit ihrem Rucksack noch, weil die uns vorhin, ähm, n bisschen Zeit gekostet hat und jetzt ist das so n bisschen, bezahlt se die Zeit eben zurück. Die hat vorhin ihren Rucksack abgenommen, jetzt muss sie ihn n bisschen länger tragen.“ Das Zurückzahlen der Zeit, welche Dzeneta die anderen Teenager gekostet hat, scheint auf den ersten Blick eine faire, sinnvolle und logische Konsequenz zu sein. Dass sie jedoch 45 Minuten voll bepackt in der Sonne stehen muss ist reine Quälerei und hilft den anderen Jugendlichen in keinster Weise. Viel sinnvoller wäre es, Dzeneta als Wiedergutmachung etwas für die Gruppe tun zu lassen - beispielsweise für alle das Abendessen zuzubereiten oder Wasser zu holen. Leider belegen viele weitere Szenen, dass die Strafen bzw. Konsequenzen nicht darauf angelegt sind, etwas wieder in Ordnung zu bringen und sich dadurch zu entschuldigen. Sie erscheinen eher wie willkürliche Schadenszufügungen, die die Jugendlichen sozusagen aus Rache nur um der Strafe willen erhalten: F1, 1:17:55 – 1:18:14 Es ist der Tag der ersten Wanderung. Die Jugendlichen und Betreuer stehen im Kreis zusammen und werden aus der Froschperspektive gefilmt. Die Teenager stehen zum größten Teil vorn über gebeugt und auf ihren Stock gestützt, als würde der Rucksack sie herunterziehen. Während Frau Luepges spricht, lässt Pascal genervt den Kopf fallen. 34 Marlies: „Wenn Leute während der Wanderung sprechen, dann werden die ihre Konsequenz tragen, dass die für jede Unterbrechung die sie machen, am Schluss des Tages, da wo wir ankommen, fünf Minuten stehen müssen, mit dem Rucksack an, wenn alle anderen den Rucksack bereits, ähm, abgezogen haben und ihr Zelt aufstellen.“ Das Miteinander-Sprechen während der Wanderung wird mit der sogenannten Packzeit bestraft. Das heißt, dass die Teenager am Ende des Tages mit ihrem Rucksack bepackt für eine gewisse Zeit herumstehen müssen. Diese Konsequenz steht weder in einem logischen Zusammenhang mit dem unerlaubten Sprechen, noch wird durch sie irgendetwas wieder gut gemacht. Es soll den Heranwachsenden lediglich zeigen: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, wird dir etwas Unangenehmes zugefügt. In einem Ausschnitt erwähnt Marlies Luepges dies noch einmal ganz deutlich: F4, 14:53 – 15:23 Marlies, Dan und Kris treffen sich auf einem Zeltplatz und begrüßen sich überschwänglich und lachend. Anschließend sieht man Kris Schock und Marlies Luepges abwechselnd in der Einstellungsgröße „Nah“. Sprecher: „Expeditionsleiterin Marlies berät mit Kris über die Strafe für Andreas und Vivien.“ Kris: „Ich hab ihr ganz deutlich gesagt: Du wirst deine Konsequenz dafür kriegen, ich muss mit den anderen Betreuern mal darüber reden.“ Marlies: „Okay. Die brauchen ganz klare Konsequenz. Die haben jetzt den Eindruck, dass sie . machen können, was sie wollen. Super, dass du das so gesehen hast und die ertappt hast und jetzt müssen wer denen irgendwie zeigen: So nicht.“ Das eindrucksvollste Beispiel für wahllose und willkürliche Bestrafung ist die Konsequenz für Andreas’ Fluchtversuch: 35 F4, 15:45 – 18:49, 20:43 – 20:50, 23:45 - 23:50 Situation: Nach Andreas' Versuch wegzulaufen haben sich die Betreuer über Konsequenzen für diesen Regelverstoß unterhalten. Marlies kniet vor Andreas' Zelt und schaut zu ihm hinein. Andreas liegt in seinem Schlafsack, hat sich auf einen Arm aufgestützt und schaut Marlies verschlafen an. Um die beiden herum ist es dunkel. Im Hintergrund hört man sehr leise Gitarrenmusik. Marlies: (sehr bestimmt) „Ich möcht, dass du alles packst und dich zum Schluss auf den Rucksack setzt und da auf uns wartest. Keine Fragen, 15 Minuten, du bist immer noch auf Solo, du kannst nicht mit uns sprechen. Wir sprechen! Los geht’s, Zeit ist gestartet!“ Sprecher: „Nach Ansicht der Betreuer bedeutet Andreas’ Verhalten einen großen Vertrauensbruch – er hat sich in Lebensgefahr gebracht. Von Anfang an war beim Solo eines klar: Es wird heftige Konsequenzen geben, wenn einer der Teenager die wichtigste Regel bricht und sich von seinem Zeltplatz entfernt.“ Etwas später, Andreas hat alles gepackt: Marlies: „Du bist noch nicht fertig.“ Andreas: „Warum?“ (schaut suchend vor sich auf den Boden) Kris: „Hast du alle Sachen eingepackt, die du hast? …. Das glauben wir nicht.“ Andreas sucht weiter den Boden um sich herum ab. Marlies: „Hey! Nur mit Rumstehen wirst du’s wohl nicht finden.“ Andreas geht ein Stück weiter und findet einen Moment später den Sack mit den Heringen. Marlies: „Die Zeit? Wie weit sind wer?“ Kris: „Drei Minuten zu lang.“ Marlies: „Du hast jetzt 15 Minuten, das Ganze wieder aufzubauen und im Schlafsack dich zu befinden. Schuhe müssen draußen sein, ich will dich schnarchen hören. .. Zeit startet jetzt.“ Andreas weigert sich. 36 Marlies: „Ich möchte nur sagen, du bekommst bereits Konsequenzen für dein Verhalten. Je länger du uns jetzt hier rum stehen lässt, desto, desto stärker werden die Konsequenzen auch für dich sein. Desto unangenehmer. (…) Ich kann dir gleich sagen, dass diese Art von Handlungen, die werden dich später unangenehme Folgen.“ Sprecher: Die Betreuer sind davon überzeugt, dass ihre Konsequenzen angemessen sind. Sie können es nicht hinnehmen, dass die Jugendlichen sich in Gefahr bringen.“ Später: Marlies: „Es gibt dafür noch ne ganze Reihe Konsequenzen, das kann ich dir schon mal sagen. Wir haben erst grad angefangen.“ Als die Betreuer ihm etwas später ein zweites Mal mitteilen, dass sie die ganze Nacht mit ihm wach stehen werden, bis er die Aufgabe annimmt, gibt er jedoch nach und baut sein Zelt erneut auf, ab, und wieder auf, um dann schlafen zu können. Marlies: „Schuhe aus. Zelt zugemacht u n d, ähm, n Schnarchton wär ganz nett, wenn du im Schlafsack bist.“ Andreas zieht vor dem Zelt die Schuhe aus, verschwindet darin und simuliert ein Schnarchgeräusch. Marlies: (lacht vor sich hin) Etwas später: Marlies: „Du hast den ersten Teil von deiner Konsequenz jetzt quasi abverdient, es wird aber noch weiter gehen.“ Als Strafe soll Andreas sein Zelt zuerst in fünfzehn Minuten abbauen. Als er dafür drei Minuten länger benötigt, soll er das Zelt in jeweils fünfzehn Minuten auf-, ab- und wieder aufbauen. Um zu beweisen, dass er danach wieder in seinem Schlafsack liegt, muss er Schnarch-Geräusche imitieren. Diese Maßnahme ist nicht pädagogisch zu rechtfertigen. Es handelt sich lediglich um das willentliche Schaffen einer unangenehmen Situation, in Kombination mit Demütigung, um den Jugendlichen in eine unterlegene Position zu drängen. Diese Art von Strafe ist meines Erachtens nicht tragbar und hat mit professioneller pädagogischer Arbeit nichts zu tun. 37 Ein weiterer problematischer Punkt ist die Unberechenbarkeit der Strafen, die neben dem oben stehenden Satz von Marlies Luepges („Du hast den ersten Teil von deiner Konsequenz jetzt quasi abverdient, es wird aber noch weiter gehen.“) auch in folgender Szene sichtbar wird: F4, 25:07 - 25:14 Dunkle Nachtaufnahmen. Vivien liegt in ihrem Zelt, Marlies Luepges steht davor und spricht mit der Jugendlichen. Sprecher: „Vivien hat ihre Strafmaßnahme ohne Widerstand hinter sich gebracht. Noch weiß sie aber nicht, dass es für sie weitere Konsequenzen geben wird.“ Selbst, wenn die Jugendlichen die Strafen widerstandslos annehmen, können die Betreuer es nicht dabei belassen. Statt den Teenagern eine faire Konsequenz für ein bestimmtes Fehlverhalten zu geben und die Sache dann auf sich beruhen zu lassen, denken sich die Mitarbeiter immer weitere Strafen aus, ohne dass die Heranwachsenden einen Einfluss darauf hätten. Sie müssen sich praktisch dauernd vor neuen Maßnahmen fürchten. Die Strafmaßnahmen sollen mit folgenden Kommentaren gerechtfertigt werden: F4, 21:29 – 21:42 Dunkle Nachtaufnahmen. Rechts ein Kasten mit Marlies Luepges im Interview, links sieht man Andreas, der mit Rucksack und Stock bepackt herumsteht. Am Ende des Interviews vergrößert sich der Kasten mit Frau Luepges zum Vollbild und die Worte „Marlies Luepges. Leitet die Expedition“ werden eingeblendet. Marlies: (mit einem leichten Grinsen) „Zu Hause erleben die Jugendlichen oft keine Konsequenzen, die durchgeführt werden. Von daher denken wir, dass es ganz besonders wichtig ist, dass die Jugendlichen hier verstehen, dass wir da nicht aufgeben.“ Ohne Frage brauchen Kinder und Jugendliche Grenzen, denn auch im „echten“ Leben muss man für seine Handlungen Verantwortung übernehmen und mit Konsequenzen 38 rechnen. Um Heranwachsende auf ihre Zukunft als eigenständige Menschen vorzubereiten, ist es daher sicher sinnvoll, ihnen dies beizubringen. Gewisse logische und faire Konsequenzen sind also durchaus gerechtfertigt. Die Wortwahl „dass wir da nicht aufgeben“ impliziert aber eher, dass es hier um einen Machtkampf zwischen den Professionellen und Jugendlichen geht. Die Konsequenzen werden durchgesetzt, um diesen Kampf zu gewinnen und nicht, um die Jugendlichen auf ihre Zukunft vorzubereiten. Es scheint, als ginge es nur um das Durchsetzen an sich, nicht um eine mögliche Wirkung oder Entwicklungschance für die Teenager. Daher überraschen die folgenden beiden Zitate besonders: F4, 22:21 – 22:29 Da es Nacht ist, sind die Aufnahmen sehr dunkel. Außer Andreas, der in einem leuchtend roten Pullover sein Zelt aufbaut, erkennt man kaum etwas. Fröhliche Rock-Popmusik im Hintergrund. Sprecher: „Maßnahmen wie diese sind üblich bei Catherine Freer Expeditions. Nach Ansicht der Betreuer sind die Konsequenzen für die Jugendlichen nur zu ihrem Besten.“ F4, 23:51 – 24:06 Als Frau Luepges zu sprechen beginnt sieht man Andreas, der mit gesenktem Blick in seinem Zelteingang hockt. Anschließend sieht man die Betreuerin in „Nahaufnahme“, der Hintergrund ist komplett schwarz. Einblende: „Marlies Luepges. Expeditionsleiterin“. Marlies: „Die Konsequenzen, die wir den Jugendlichen geben, sehen oft wie Schikanen aus. Wie wir aber jetzt auch grad wieder erlebt haben mit dem Andreas, kann da sehr viel Großes draus entstehen. Unsere Hoffnung ist, ist eigentlich in allen Fällen, dass wir Jugendlichen so die Möglichkeit geben können, über sich raus zu wachsen.“ Laut Sprecher und Marlis Luepges sind die Konsequenzen zum Besten der Jugendlichen, da sie ihnen die Möglichkeit geben, über sich hinaus zu wachsen. Frau Luepges selbst räumt jedoch ein, dass die Strafen wie Schikanen aussehen, was 39 eigentlich beweist, dass sie nicht in einem logischen Zusammenhang mit den vorangehenden Taten der Jugendlichen stehen. Aus dem mehrmaligen Ab- und wieder Aufbauen der Zelte, auf das sich die Betreuerin hier bezieht, soll also „sehr viel Großes“ entstanden sein. Tatsächlich hat Andreas, nachdem er sich geweigert hatte, diese Strafe anzunehmen, nachgegeben und sein Zelt in durchschnittlich acht Minuten – statt der vorgegebenen fünfzehn – auf und abgebaut. Für die Betreuer ist das sicherlich ein Erfolg – sie haben durchgesetzt, was sie zuvor als Strafe beschlossen haben. Was diese Maßnahme dem Jugendlichen bringt, wie er dadurch „über sich selbst hinauswächst“ und wieso dies zu seinem Besten ist, bleibt jedoch unklar. Meiner Meinung nach ist Andreas nur auf die Aufforderungen eingegangen, um endlich schlafen zu können und das Einzige, was er daraus lernt ist, dass man nachgeben und absolut sinnlosen Forderungen nachgehen muss, um nicht weiter bestraft zu werden. In vier Szenen werden die Jugendlichen sogar durch körperliches Durchgreifen bestraft: F1, 51:54 – 52:44 Die Kamera ist sehr weit vom Geschehen weg, man sieht die Beteiligten in der Einstellungsgröße „Total“. Stacey, Dan und Marlies stehen in der freien Natur, um sie herum sieht man nichts als Gras und Sträucher. Stacey geht einige Schritte von den Betreuern weg, Dan kommt hinter ihr her, um sie festzuhalten. Als sie versucht sich aus dem Griff zu lösen, kommt Marlies Luepges hinzu, die dann auch nach Staceys Arm greift. Zwischenzeitlich wird Kurts Gesicht aus der Froschperspektive gezeigt, er scheint die Szene zu beobachten. Harte Rockmusik im Hintergrund. Stacey: „Lassen sie mich in Ruhe!“ Sprecher: „Stacey verliert nach Stunden des Widerstands völlig die Kontrolle. Ihre ständigen Provokationen und Attacken zwingen die Betreuer zu drastischeren Maßnahmen.“ Die Kamera hat nun herangezoomt, die Tonaufnahmen sind jedoch sehr schlecht. Betreuer Dan hat Staceys Arm ergriffen und auf ihren Rücken gedreht. Stacey: „Haut ab!“ Marlies Luepges sagt etwas für den Zuschauer unverständliches zu ihrem Kollegen Dan und ergreift Staceys anderen Arm. 40 Stacey: „So schon gar nicht! Mit Gewalt läuft hier gar nichts! Ich möchte erstmal, bevor ich irgendetwas mache, (Dan dreht den Arm noch etwas mehr, Stacey schreit laut auf) Aua!“ Marlies: „Sobald du läufst, lässt er los.“ Stacey: (mit weinerlicher Stimme) „Lass mich doch mal in Ruhe, Alter! (versucht, sich aus Dans Griff zu befreien) Obwohl die Kamera sehr weit von dieser „Kampfszene“ entfernt ist, wackelt sie hin und her, als wäre sie mitten im Geschehen und würde umgestoßen. Stacey: „Merkt ihr nicht, dass ihr voll Psychoterror macht? (kreischt, quietscht, versucht die Betreuer abzuschütteln und sich aus dem Griff zu befreien) Meine Fresse…“ Stacey sinkt zu Boden. Eine langsame und traurige Gitarrenmelodie erklingt. Sprecher: „Der sogenannte therapeutische Griff ist für die Betreuer die letzte Möglichkeit. Mit dem harten Durchgreifen von Marlies und Dan hat Stacey nicht gerechnet und gibt schließlich klein bei.“ Marlies streichelt Stacey, die zusammengekauert auf dem Boden liegt, über den Rücken. Für den Zuschauer ist völlig unklar, wie es zu diesem harten Durchgreifen kommt. Der Sprecher erwähnt zwar, dass Stacey „die Kontrolle verloren hat“, was genau darunter zu verstehen ist, bleibt offen. Annegret Noble erklärt später, warum der „therapeutische Griff“ angewendet wird und warum sie ihn nicht als Strafe betrachtet: F1, 1:11:15 – 1:11:40, F1, 1:12:20 – 1:12:30 Situation: Auch Pascal wurde mit dem „therapeutischen Griff“ fixiert und auf den Boden gedrückt. Während Frau Noble zu sprechen beginnt, sieht man Pascal auf dem staubigen Boden zwischen Gegenständen liegen, jemand hält seinen Arm nach hinten gedreht fest. Das Bild teilt sich anschließend in zwei Kästen, links sieht man Annegret Noble beim Interview, rechts weiterhin, wie Pascal festgehalten wird. Zum Schluss wächst der Kasten mit Frau Noble bis zum Vollbild. Annegret: „Wir wollen den Kindern nicht weh tun, aber wir müssen die Kinder kontrollieren und da benutzen wir die Punkte im Körper, wenn man da drauf drückt, dann tut das weh und je stärker man 41 drückt, desto mehr tut’s weh. Aber da kann man eigentlich nichts verletzten, das ist auch jetzt nicht n Schmerz, der was bricht, oder was verstaucht, sondern es ist einfach unangenehm. Und damit können wir den Kindern dann helfen, sich zu beruhigen und selbst die Kontrolle wieder zu übernehmen.“ Etwas später: Pascal liegt am Boden, Annegret Noble streichelt über seinen Rücken. Annegret: „Manchmal verliert man die Kontrolle. Und dann .. wollen wir sie jetzt nicht bestrafen, sondern ihnen einfach nur helfen, sich zu beruhigen und dass es ihnen besser geht.“ Frau Noble gibt zu, dass den Teenagern absichtlich Schmerzen zugefügt werden, um sie zu kontrollieren. Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung mag das Fixieren der betroffenen Person sinnvoll sein; auf einem großen, offenen Feld, wie in Staceys Fall, scheint mir dies allerdings unwahrscheinlich. Außerdem ist es möglich, einen Jugendlichen auch ohne das bewusste Zufügen von Schmerzen festzuhalten, bis er sich beruhigt hat. Die hier angewendete Methode scheint hingegen brutal und schmerzhaft, die Jugendliche eher verzweifelt als aggressiv. So muss wohl davon ausgegangen werden, dass es auch in dieser Szene lediglich darum geht, einen Machtüberhang zu demonstrieren und die Jugendlichen einzuschüchtern. Auch der Kommentar des Sprechers „sie gibt schließlich klein bei“ bestätigt diese Annahme. Hinzu kommt, dass der Einsatz des direkten, körperlichen Zwangs von den Teenagern selbst höchst wahrscheinlich als Strafe erlebt wird und somit die Beziehung zwischen den Beteiligten gefährden könnte. Dass die Betreuer die Jugendlichen nach diesen schmerzhaften Fixierungen streicheln, macht die Situation nicht besser, sondern eher noch schlimmer: Dieses nahezu schizophrene Verhalten wird für die Jugendlichen kaum zu ertragen sein. Während sie fixiert werden, sind sie wütend auf die Betreuer, hassen sie dafür und im nächsten Moment sollen sie mit diesen Menschen intime, körperliche Nähe zulassen. Außerdem wird ihnen vermittelt, dass sie positive Zuwendung bekommen, wenn sie sich unterwerfen und Schmerzen über sich ergehen lassen Die Botschaft der Professionellen lautet demnach: „Wir tun dir nur weh, wenn du ein böses Kind bist. Wenn du dich angepasst verhältst und unsere Regeln befolgst, haben wir dich gern und trösten dich“. 42 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Strafen bzw. Konsequenzen in den gezeigten Szenen sehr häufig vorkommen. Sie sind außerdem von Anfang an fest geplanter Bestandteil des Therapieprogramms, denn sie werden bereits angedroht, bevor gegen eine Regel verstoßen wurde. Die Ausgestaltung der Strafen ist leider weder logisch, das heißt in einem sinnvollen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Verhalten der Jugendlichen, noch auf Wiedergutmachung angelegt. Häufig erscheinen die Konsequenzen wie Schikanen, die nur um der Strafe selbst willen, also quasi als Rache, durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass sie für die Jugendlichen nicht berechenbar sind – für eine Grenzüberschreitung der Heranwachsenden kann es eine beliebige Anzahl an Konsequenzen geben, die ihnen nicht mitgeteilt wird. Die Teenager müssen für eine Tat ständig neue Strafen befürchten. Vor allem das harte, körperliche Durchgreifen der Betreuer und das absichtliche Zufügen von Schmerzen kann die Beziehung zwischen Erziehern und Heranwachsenden nachdrücklich beeinträchtigen, denn die Teenager werden sich in diesen Momenten hilflos und gedemütigt fühlen. Die Mitarbeiter versuchen Gewalthandlungen zu rechtfertigen und spielen sie herunter. Sie vermitteln den Heranwachsenden, dass psychischer und physischer Zwang zum Besten einer Person sein kann und durch anschließendes Streicheln relativiert wird. Es besteht die Gefahr, dass die Teenager diese Botschaft verinnerlichen und später mit ihren eigenen Kindern nach diesem Muster umgehen. Alles in allem muss davon ausgegangen werden, dass mit dieser großen Menge an sinnlosen Strafen lediglich eine Scheinanpassung der Jugendlichen erreicht wird. Sie verhalten sich angepasst, um Strafen zu vermeiden und akzeptieren die Konsequenzen, um noch mehr Strafen zu verhindern. Eine tatsächliche Entwicklung wird hiermit nicht bewirkt. Es bleibt zu hoffen, dass die Verharmlosung von Gewalt nicht das Einzige ist, was sie aus diesem Projekt für ihr späteres Leben mitnehmen. 43 4.2.2 Partizipation Klienten Sozialer Arbeit, Erwachsene wie Kinder, sind an den Entscheidungen, die sie betreffen, zu beteiligen. Einerseits, weil es die professionelle Haltung verlangt, sich am Subjekt, seiner Lebenswelt und seinem Eigensinn zu orientieren, andererseits, weil Interventionen, an deren Ausgestaltung die Klienten mitverantwortlich waren, wirksamer sind. Man kann nur für Entscheidungen Verantwortung übernehmen, die man selbst (mit-)getroffen hat. Wie bereits oben erläutert ist es außerdem nur durch Partizipation (also Selbstkontrolle) möglich, Heranwachsende auf ihr Leben in unserer Gesellschaft vorzubereiten. Jugendliche sollten „ihre Interessen, Wünsche, und möglicherweise auch Befürchtungen und Ängste einbringen und deren Berücksichtigung erwarten“ können (Reimer/Wolf 2008, 2). Partizipation ist eine Voraussetzung für Erziehung, denn „die Entwicklung der Subjekte ist ihre Eigenleistung, die Erziehenden können und sollen am guten pädagogischen Ort ein entwicklungsförderndes Lebens- und Lernfeld arrangieren, in dem dann in Koproduktion Entwicklung möglich wird“ (ebd., 4). In der achtstufigen Partizipationsleiter nach Arnstein wird zwischen der Nicht-Beteiligung, Quasi-Beteiligung und echter Beteiligung unterschieden, welche sich jeweils wieder in Zwischenstufen aufteilen lassen (siehe Grafik). Die unterste Stufe der Partizipationsleiter ist die Nicht-Beteiligung, die sich in Manipulation und Therapie gliedert. Nicht-Beteiligung bedeutet, dass die Entscheidungen nur einseitig von den Professionellen getroffen werden. Bei der ersten Abbildung 11: Partizipationsleiter nach Form der Nicht-Beteiligung, der Manipulation, Arnstein gibt es weder Diskussionen noch eine Berücksichtigung der Äußerungen der Kinder und Jugendlichen. Bei der Therapie hingegen werden die Probleme zwar diskutiert, die Meinung der Klienten wird jedoch als patholog bewertet und daher bei Entscheidungen nicht berücksichtigt. Die mittlere Stufe des Modells ist die Quasi-Beteiligung, die sich ihrerseits in Information, Beratung und Wertschätzung aufteilt. Bei dieser Vorstufe zur Partizipation 44 können die Beteiligten ihre Meinung äußern, ein Entscheidungs- und Revisionsrecht bleibt allerdings aus. Die Klienten zu informieren ist hierbei der erste Schritt und eine Grundvoraussetzung für Partizipation, doch eine Beteiligung der Klienten ergibt sich hieraus noch nicht. Beim zweiten Schritt, der Beratung, werden die Kinder- und Jugendlichen zwar ausdrücklich nach ihren Ansichten gefragt und es wird ihnen mitgeteilt, inwieweit ihre Wünsche berücksichtigt werden, die Entscheidung aber liegt letztendlich noch bei den Professionellen. Auf der Stufe der Wertschätzung wird auf die Interessen der Klienten großen Wert gelegt, sie werden dokumentiert und können die Entscheidung beeinflussen. Obwohl es auch hier keinen Aushandlungsprozess gibt, ist den Professionellen die Zustimmung der Jugendlichen wichtig. Die oberste Stufe der Partizipationsleiter, die echte Beteiligung, ist gekennzeichnet durch eine gleichberechtigte Interaktion zwischen Klienten und Professionellen und gliedert sich in die partnerschaftliche Aushandlung, die Delegation von Entscheidungskompetenzen an Kinder und Jugendliche und die Autonomie. Bei der partnerschaftlichen Aushandlung gibt es auf keiner Seite „ein alleiniges Entscheidungsoder Revisionsrecht. Problemlösungen werden gemeinsam erarbeitet und können ... wieder revidiert werden.“ (ebd., 3). Werden zudem Entscheidungskompetenzen an die Kinder und Jugendlichen delegiert, haben sie einen zusätzlichen Einfluss auf den Problemlösungsprozess. Die Professionellen stehen dabei beratend und unterstützend zur Seite, lassen die Klienten jedoch ihre eigene Erfahrungen machen und Lösungen finden. Die höchste Stufe der Leiter ist die Autonomie. „Jugendliche werden als Mündige gesehen. Sie sind kompetent und berechtigt, eigene Vorhaben zu leiten und unabhängig zu bestimmen, unter welchen Umständen Änderungen ihrer Lebensplanung vorgenommen werden sollen, sie treffen eigene Entscheidungen über ihre selbst definierten Ziele.“ (ebd., 4) Zusammenfassend beinhaltet Partizipation also, dass Kinder über die Entscheidungen, die sie betreffen, informiert werden. Des Weiteren müssen ihre Ansichten angehört und wertgeschätzt werden. So weit wie möglich sollten dann alle Entscheidungen ausgehandelt und entweder partnerschaftlich oder von den Klienten autonom getroffen werden. Wo Entscheidungen gegen den ausdrücklichen Wunsch des Kindes oder Jugendlichen getroffen werden müssen, sollte man zumindest immer um dessen Zustimmung bemüht sein. Anhand der vorgestellten Partizipationsleiter möchte ich im Folgenden analysieren, ob in den ausgewählten Szenen der Grundsatz der Beteiligung der Klienten berücksichtigt 45 wurde. Ich beginne dabei mit Szenen, die dem unteren Teil der Leiter zuzuordnen sind und gehe dann Schritt für Schritt höher, bis zur echten Partizipation. Analyse An den folgenden zwei Szenen, die Kevin und Vivien beim Interview vor dem Start des Auslandsprojekts zeigen, sieht man sehr deutlich, dass sich die Jugendlichen Partizipation und Selbstbestimmung wünschen: F1, 5:56 – 6:03 Kevin wird gefilmt, während er lässig (vermutlich auf der Rückenlehne einer Parkbank) vor einem Baum sitzt und einen kurzen Monolog in die Kamera hält. Die Kapuze seines Sweatshirts trägt er trotz Sonnenscheins auf dem Kopf, in der Hand hält er eine Zigarette. Während er spricht wird ein roter Kasten mit den Worten „Kevin, 15 Jahre. 'Ich lasse mir von keinem was sagen!'“ am unteren Bildschirmrand eingeblendet. Im Hintergrund ertönt zunächst leises, aber nervös wirkendes SchlagzeugTicken, das sich im Laufe der Szene bis hin zu einem aggressiven Trommeln steigert. Kevin: „Nur weil ich 15 bin, müssen doch nicht meine Eltern immer über mich sagen, dass ich das machen muss. Ich hab mein eigenes Leben, ich kann doch über mein Leben selber bestimmen.“ F1, 13:31 – 13:52 Gezeigt wird eine Aufnahme von Vivien in der Einstellungsgröße „Halbnah“. Sie sitzt auf dem Fensterbrett in einem offenen Fenster, draußen sieht man die grünen Zweige eines Baumes und einen Teil des Nachbarhauses. Während Vivien spricht, wird ein Kasten mit den Worten „Vivien, 16 Jahre. 'Ich wollte meine Eltern vergiften'“ eingeblendet. Bei ihrem letzten Satz sieht man sie auf einer Wiese stehen und Steine gegen ein altes Haus werfen. Einmal wackelt die Kamera kurz und scheinbar unkontrolliert, als sei sie getroffen worden. Vivien: „Jo, das auf jeden Fall, also ich kann meine Entscheidungen immerhin selber treffen, was ich mache und wo, wo ich zum Beispiel hingeh, wann ich wiederkomme, oder so. Das kann ich 46 alles allene machen und brauch kener sagen 'Hier, du bist um die und die Uhrzeit da, und ... du machst jetzt das und das und das.’ Ne, kann ich nich ab!'“ Ob der Wunsch der Teenager nach eigenen Entscheidungen im Catherine Freer Therapy Programm ihrem Alter angemessen berücksichtigt wird, möchte ich anhand einiger Szenen analysieren. Bereits in den ersten Minuten der ersten Folge wird deutlich, dass die Entscheidungsträger, die die Teilnahme an diesem Projekt veranlasst haben, nicht die Jugendlichen selbst sind: F1, 0:39 – 0:49 Verschiedene Aufnahmen, meist aus der Vogelperspektive, einer kargen Wüstenlandschaft, eines Sonnenaufgangs im Zeitraffer und wilder Pferde mit der Kameraeinstellung „Weit“. Außerdem sieht man eine Schlange, einen Gecko, eine amerikanische Flagge an einem typisch amerikanischen Briefkasten und ein Schild mit der Aufschrift „Catherine Freer. Wilderness Therapy Expeditions“ in der Einstellung „Detail“. Viele Schnitte, also ein häufiger Wechsel von Einstellungen mit kurzer Dauer. Im Hintergrund ist aggressiv wirkende Gitarren-Musik zu hören. Sprecher: „Der letzte Ausweg für die ratlosen Eltern liegt tief im Wilden Westen der USA. Hier gibt es eine Therapieeinrichtung, die seit über zwei Jahrzehnten Jugendlichen ihre Grenzen aufzeigt: Catherine Freer Wilderness Expeditions.“ F4, 8:33 – 8:46 David sitzt im Schneidersitz vor einem Baum auf dem staubigen Boden. Er sieht krank aus, seine Augen scheinen viel kleiner als sonst, er trägt eine graue Wollmütze obwohl die Sonne scheint. Links erscheint ein Kasten mit den Worten 'David, 17 Jahre. Junkie'. Ruhige Musik im Hintergrund. 47 David: (sehr ruhig und nachdenklich) „Und ich geb euch nen Tipp, d i e, meine Kumpels, die kiffen und so, wenn ihr ... nicht hier her wollt, nach Amerika, in dieses Free-Camp-Therapie, dann hört auf so schnell mit dem Kiffen wie's geht. Weil eure Eltern können euch im Null-Komma-Nichts hier anmelden.“ Diese beiden Zitate zeigen, dass es sich augenscheinlich um eine Lösung für die Eltern der Teenager handelt; die Jugendlichen selbst werden nicht erwähnt. Da von einer vorangegangenen Befragung der Jugendlichen oder einer Diskussion nicht die Rede ist, muss man davon ausgehen, dass es sich um die unterste Stufe der Partizipationsleiter, also um Manipulation, handelt. Auch die Formulierung „(…) Jugendlichen ihre Grenzen aufzeigt“ macht deutlich, dass es nicht um Verhandlungen, sondern um eine bloße Begrenzung der selbstbestimmten Aktivitäten der Teenager geht. Statt diese Aktivitäten zu nutzen, zu fördern und weiterzuentwickeln, sollen sie gebremst und unterdrückt werden. Wie dieses „Grenzen aufzeigen“ genau aussieht, wird in der folgenden Szene deutlich: F1, 1:13 – 1:20 Bilder von einigen Jugendlichen, die in der Natur Holz hacken und anschließend die Scheite auf einen Lastwagen laden. Im Kontrast dazu jeweils eine Aufnahme von Andreas, der raucht und Vivien, die etwas aus einer Flasche trinkt. Noch immer viele kurze Einstellungen hintereinander. Im Hintergrund aggressive Gitarren-Musik. Sprecher: „Bei Catherine Freer sollen die Jugendlichen durch harte Arbeit und eiserne Disziplin zu verantwortungsvollen Menschen werden.“ Die Ausgestaltung des Programms ist also vorherbestimmt, die Jugendlichen haben die Aufgabe, an der harten Arbeit teilzunehmen und sie mit eiserner Disziplin durchzuhalten. Da auch hier von Gesprächen oder Diskussionen nicht die Rede ist, wird es sich um die unterste Stufe der Partizipationsleiter, die Manipulation handeln. Wie man durch bloßes befolgen von Regeln zu einem verantwortungsvollen Menschen werden kann, bleibt jedoch unbeantwortet. 48 F1, 3:21 – 3:26 Verschiedene Aufnahmen am Frankfurter Flughafen: Eine Abflugzeiten-Tafel, Stacey, die neben ihrer kleinen Schwester und ihrer Mutter auf die Kamera zu läuft, Stacey allein, weinend in der Einstellung „Groß“. Im Hintergrund weiterhin Gitarren-Musik. Sprecher: „Wann sie (die Teenager, D.S.) wieder zurück dürfen, hängt allein von ihrem Verhalten in der Therapie ab“ F1, 16:05 – 16:11 Kameraflug in der Einstellung „Weit“ über eine Landschaft und einige Häuser in einer sonst sehr kargen Wüstengegend, dabei eine unruhige Kameraführung. Im Hintergrund weiterhin Gitarrenmusik. Sprecher: „Wann diese Herausforderung endet bestimmen sie (die Jugendlichen, D.S.) selbst. Je mehr sich die Teenager widersetzen, umso länger dauert die Therapie.“ Auch an der Entscheidung, wann das Projekt beendet wird, sind die Jugendlichen demnach nur indirekt beteiligt. Indem sie sich wie von den Betreuern gewünscht verhalten, können sie sie zwar positiv beeinflussen, von Partizipation kann jedoch nicht die Rede sein, da sie dabei völlig von den Professionellen und deren gutem Willen abhängig sind. Für eigene Entscheidungen und Aktivitäten, die gegen die Regeln des Programms gehen, werden sie mit einem längeren Aufenthalt bestraft. Die Teilnahme an diesem Projekt von vorne herein als Strafe anzukündigen ist jedoch problematisch, da sich die Jugendlichen so weder auf das Programm einlassen, noch positive Erwartungen und eigene Ziele entwickeln können. Auch die folgenden Szenen zeigen, dass die Jugendlichen bei manchen Entscheidungen weder informiert, noch nach ihrer Meinung gefragt werden. Es handelt sich also wieder um die unterste Stufe der Partizipationsleiter, die Manipulation: F1, 22:38 – 22:49 Während Annegret Noble zu sprechen beginnt sieht man eine Nahaufnahme von Stacey, die vor Kami an einer Wand hockt und genervt vor sich hin starrt. Dann 49 Frau Noble in „Groß“ vor einer orangefarbenen Wand. Am unteren Bildrand werden die Worte „Annegret Noble. Cheftherapeutin“ eingeblendet. Im Hintergrund hört man leise Gespräche. Annergret: „Wir haben im Moment den erwarteten Widerstand, die Kinder wissen nicht genau, was sie erwartet und ich denke, dass können sie auch nicht wissen, bis sie 's wirklich erleben und das ist auch in Ordnung.“ F1, 1:18:28 – 1:18:33 Zuerst Großaufnahmen von den Füßen der Jugendlichen. Dann schwenkt die Kamera hoch, bis sie in der amerikanischen Einstellung zu sehen sind. Mit großen Rucksäcken und Wanderstöcken laufen sie hintereinander her durch die Wüstenlandschaft. Laute Rockmusik im Hintergrund. Sprecher: „Die Teenager wissen nicht, wie lange sie heute laufen müssen und wohin die Reise geht.“ Annegret Noble bemerkt zwar den Widerstand der Jugendlichen und sieht diesen auch im Zusammenhang mit deren Informationsdefiziten bezüglich des weiteren Verlaufs des Programms, die Frage, warum man die Beteiligten nicht aufklärt, um ihnen ihre Ängste zu nehmen und die Situation zu entschärfen, bleibt jedoch unbeantwortet. Die Betreuer verpassen somit die Chance, die Jugendlichen von dem Projekt zu überzeugen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit der Maßnahme zu identifizieren. Viele weitere Szenen belegen, was der Sprecher hier erwähnt: Die Jugendlichen werden nicht über das, was auf die zukommt, informiert. Marlies Luepges erklärt die dahinterstehende Überlegung: F2, 43:41 – 43:58 Die Teenager werden zuerst mit ihrer Wanderausrüstung im Halbkreis stehend gezeigt. Dann verkleinert sich diese Aufnahme zu einem Kasten auf der rechten Seite des Bildes. Links erscheint ein Kasten mit Marlies Gesicht in Großaufnahme. Dieser Kasten wächst während ihrer Worte, bis er schließlich 50 das ganze Bild füllt. Unten links erscheint die Information „Marlis Luepges. Betreuerin“. Marlies: „Ich .. erwarte, dass sie überrascht sein werden, wenn sie sehen, dass Dzeneta nicht mehr mit ihnen dabei ist, ich nehme an, dass auch ’n bisschen ’n Schockeffekt haben könnte, das erhoffen wir uns eigentlich auch, damit sie schon wissen, dass wir, wenn Jugendliche nicht so mitmachen wie wir uns das erwünschen, dass es auch Konsequenzen hat.“ Frau Luepges erläutert, dass sich die Professionellen sogar erhoffen, dass die Jugendlichen geschockt sind und sich aus Angst angepasst verhalten. Von einer Beteiligung der Jugendlichen wird also sehr bewusst Abstand genommen, um überraschend und unerwartet handeln zu können. Dieses Verhalten wird wahrscheinlich dazu führen, dass die Jugendlichen eine abwartende und abweisende Haltung einnehmen, da sie immer wieder neue, unangenehme Überraschungen befürchten müssen. Dass dieser Zustand der Ungewissheit für die Jugendlichen belastend und beängstigend ist, beweist folgendes Zitat: F4, 26:46 – 26:54 Situation: Die Jugendlichen sollen beim so genannten 'Solo' einige Tage völlig allein in ihren Zelten verbringen, die weit voneinander entfernt stehen. Pascal sitzt im Schatten eines Baumes mit angezogenen Beinen auf dem Boden. Am unteren Bildschirmrand wird „Pascal, 17 Jahre. Dealer“ eingeblendet. Während er spricht wird Annegret Noble gezeigt, die hinter einem Lagerfeuer sitzend die Tagebücher der Jugendlichen liest. Hierbei ist das Feuer, das sich im Vordergrund befindet, scharf aufgenommen, Frau Noble unscharf. Langsame Geigenmusik im Hintergrund. Pascal: (traurig) „Ja, hier das einsam sein, das ist schon scheiße. Ich hoffe, dat dat nur zwei Monate sind, nicht drei“ Die Jugendlichen geben in Interviewsequenzen immer wieder an, wie einsam, isoliert und deprimiert sie sich während der Zeit des „Solos“ fühlen. Die Information, für welchen Zeitraum diese Phase geplant ist, würde ihnen helfen, sich auf die Situation 51 einzustellen. Im Gegensatz zu dem Zuschauer, der weiß, dass das Solo auf wenige Tage beschränkt ist, sind die Teenager völlig ahnungslos. Pascal geht sogar von zwei bis drei Monaten aus, was für ihn eine beängstigende Vorstellung sein muss. Diese völlige Unklarheit über den Verlauf der nächsten Tage, Wochen und Monaten macht die Jugendlichen abhängig und machtlos und schließt jegliche Partizipation aus. F4, 15:45 – 15:57 Situation: Nach Andreas' Fluchtversuch haben sich die Betreuer über Konsequenzen für diesen Regelverstoß unterhalten. Marlies kommt nun mitten in der Nacht in Andreas Zelt und verlangt von ihm, alles in 15 Minuten zu packen und abzubauen. Marlies kniet vor Andreas' Zelt und schaut zu ihm hinein. Andreas liegt in seinem Schlafsack, hat sich auf einen Arm aufgestützt und schaut Marlies verschlafen an. Um die beiden herum ist es dunkel. Im Hintergrund hört man sehr leise Gitarrenmusik. Marlies: (sehr bestimmt) „Ich möcht, dass du alles packst und dich zum Schluss auf den Rucksack setzt und da auf uns wartest. Keine Fragen, 15 Minuten, du bist immer noch auf Solo, du kannst nicht mit uns sprechen. Wir sprechen!“ F3, 3:59 – 4:08 Situation: Dzeneta wurde von der Gruppe getrennt und soll nun alleine wandern. Neben Marlies begleitet sie noch eine neue Mitarbeiterin, die Marlies Dzeneta vorstellt. Eine Aufnahme von Tanja, die mit einem großen Rucksack bepackt im Feld steht und lächelt. Dann sieht man Marlies und Dzeneta, ebenfalls mit ihren Wandersachen, gefolgt von einer Detailaufnahme von Dzenetas lachendem Gesicht, das zur Hälfte von ihrem Sonnenhut bedeckt ist. Marlies: „Da drüben ist die Tanja.“ Dzeneta: „Wir wandern zu dritt oder wie?“ Marlies: „Psch! Ich möcht als erstes, möchte ich, dass du still bist. ... Du wirst nur dann sprechen, wenn wir das sagen.“ 52 Dzeneta: (grinst und lacht tonlos vor sich hin, schüttelt dabei ungläubig den Kopf). Diese Szenen zeigen, dass die Jugendlichen in manchen Situationen nicht nur keine Informationen bekommen, sondern dass ihr Wunsch nach Auskunft sogar unterdrückt wird, indem ihnen das Sprechen und somit das Nachfragen verboten wird. Eine Partizipation ist somit vollkommen ausgeschlossen und das unterste Ende der Partizipationsleiter ist erreicht. Die Jugendlichen selbst, in diesem Fall Kevin, beklagen immer wieder das mangelnde Mitspracherecht: F2, 31:31 – 31:34 Links im Bild befindet sich ein Kasten mit Kevins Gesicht, das halb unter seiner Mütze verschwindet, in „Detail“-Aufnahme. Im rechten Kasten sieht man ihn mit einer Kappe in „Groß“, als er gerade ein Interview gibt. Bei beiden Aufnahmen weint er. Kevin: „Das ist hier schlimmer als im Knast. Die zwingen mich zum kochen obwohl ich keinen Hunger habe, zwingen mich zu trinken, obwohl ich keinen Durst habe.“ Obwohl es verständlich ist, dass Kevin in der Wüste aufgrund der klimatischen Bedingungen und körperlichen Anstrengungen ausreichend essen und trinken muss, sollten die Professionellen ihm diese Notwendigkeit erklären, statt ihn einfach zur Nahrungsaufnahme zu zwingen. Für Kevin scheint das Verhalten der Betreuer somit eine willkürliche Gemeinheit zu sein, deren einziger Sinn es ist, Regeln durchzusetzen. Ohne die nötigen Informationen kann nicht von Partizipation gesprochen werden. Die folgenden beiden Szenen zeigen Situationen, die auf der Partizipationsleiter einen Grad höher, also bei der Therapie, einzustufen sind. F1, 28:22 – 28:56 Situation: Es ist der Ankunftstag und Vivien will unbedingt wieder nach Hause. 53 Sie sitzt an die Wand gelehnt auf dem Betonboden eines Kellerraumes. Neben ihr sitzt ein Mann, links im Bild kniet Annegret Noble. Vivien hat ein rotes Gesicht, verquollene Augen, sie schreit und weint, sie hyperventiliert fast. Vivien: (schreit) „Ich will hier weg und zwar sofort!“ Annegret: „Ich denke, du hast ein bisschen u n realistische Erwartungen im Moment, weil deine Entscheidung...“ Vivien: „Das ist mir jetzt so scheißegal, was sie denken, ich will einfach nur noch nach Hause und darum soll sich jetzt irgendjemand drum kümmern, damit ich hier weg komm- (schluchzt) komme.“ Annegret: „Wie gesagt, Deine Entscheidung ist wirklich mehr, ob du dich jetzt umziehst oder später.“ Vivien: (brüllt) „Ich zieh mich gar nicht um. Ich will einfach nur nach Hause, warum begreifst du das nicht?“ (schluchzt laut) Annegret: (seufzt) „Sieht so aus, als ob ich dir im Moment nicht helfen kann. Es tut mir leid.“ (Steht auf und geht) Vivien äußert klar ihre Vorstellungen, sie will das Projekt abbrechen und zurück nach Hause fliegen. Annegret Noble gibt ihr zwar die Gelegenheit, darüber zu sprechen, mit den Worten „du hast ein bisschen unrealistische Erwartungen im Moment“ macht sie jedoch deutlich, dass Viviens Meinung bei den Entscheidungen nicht berücksichtigt wird, da sie nicht ernst zu nehmen ist. Diese Abwertung führt bei Vivien zu Wut und Verzweiflung, da sie merkt, dass sie an ihrer Situation nichts verändern kann und von den Professionellen völlig abhängig ist. Das könnte dazu führen, dass sie in Zukunft alles einfach über sich ergehen lässt und sich unterordnet. Diese Form der erlernten Hilflosigkeit würde selbständige Aktivitäten ihrerseits und somit die Möglichkeit, sich zu entwickeln, verhindern. F4, 12:44 – 12:56 Links im Bild ist ein Kasten mit einer Großaufnahme von Annegret Noble, die ein Interview gibt. Im Kasten rechts sieht man Pascal auf sein Zelt zugehen. Ein männlicher Betreuer beobachtet ihn dabei und ruft ihm etwas zu. Dann vergrößert sich der Kasten mit Annegrets Kopf, bis er den gesamten Bildschirm ausfüllt. Einblende: 'Annegret Noble. Cheftherapeutin.“ 54 Annegret: (leicht grinsend) „Wir geben ihnen .. das, was sie brauchen, nicht unbedingt das, was sie wollen, damit sie lernen, was wirklich wichtig im Leben ist. Und wir vermitteln ihnen Einsichten, die ihnen helfen, sich selbst und ihr Leben besser zu verstehen.“ Mit den Worten „das, was sie brauchen, nicht unbedingt das, was sie wollen“ unterstellt Annegret Noble, dass sie die Bedürfnisse der Jugendlichen besser einschätzen kann, als diese selbst. Des Weiteren behauptet sie, dass die Heranwachsenden sich selbst und ihr Leben nicht, oder zumindest nicht richtig, verstehen. Sie geht davon aus, dass die Teenager nicht dazu in der Lage sind, eigene, für sie richtige Entscheidungen zu treffen und rechtfertigt so, dass sie ihnen diese abnimmt. Die folgenden Szenen stehen beispielhaft für Situationen, in denen den Jugendlichen schon ein größeres Maß an Partizipation zugesprochen wird. Es handelt sich um die Stufe der Quasi-Beteiligung. F1, 29:40 – 29:55 Situation: Stacey will sich nicht umziehen. Sie hockt in einem Raum an eine Wand gelehnt, Marlies Luepges befindet sich neben ihr, sie hat ihre Hand auf Stacey Schulter gelegt. Im Hintergrund ist ein Mann zu sehen. Zwischendurch wird Staceys Gesicht im Detail gezeigt, sie weint. Marlies: „Du brauchst die Klamotten, die du brauchst, um da draußen dich wohl zu fühlen.“ Stacey: „Und noch mal, ich habe auch gesagt, ich möcht nicht in der Wildnis. Alles... (murmelt weiter) Marlies: „Okay. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe. Das ist alles.“ (steht auf und geht) Stacey: „Ja siehst du, du gehst jetzt weg und kener hört mir zu.“ (schluchzt) Marlies Luepges erklärt Stacey, dass sie für das Leben in der Wildnis besondere Kleidung braucht. Da sie sich jedoch nicht auf eine Diskussion mit ihr einlässt, handelt 55 es sich nicht um Beratung sondern lediglich um die unterste Stufe der QuasiBeteiligung, um Information. Die Entscheidung bleibt nach wie vor bei den Betreuern. F3, 34:25 – 34:36 Situation: Die Jugendlichen nehmen an einer Therapiestunde zum Thema Drogen teil. David hat dazwischen gesprochen und musste den Kreis verlassen. Kami fordert ihn nun auf, so nah an die Gruppe heran zu kommen, dass er zuhören kann. Der Teenager sitzt fernab der Gruppe auf dem Boden, schaut nach unten und spielt mit einem Stock. Kurz werden die anderen Jugendlichen eingeblendet, die in einem Halbkreis zusammen sitzen. Kami: „Ich denke diese Gruppe ist für dich sehr wichtig und ich möchte, dass du auch da rüber gehst und es dir zuhörst.“ David: (genervt) „Boah ey, siehste, dat verstehst du schon wieder gar nich, wat soll ick denn da (zeigt mit dem Stock in Richtung Gruppe) machen, wenn ick da noch nichtmals was sagen darf?“ Auch in der Therapiestunde handelt es sich um die Stufe der Information, denn die Jugendlichen werden aufgeklärt, äußern dürfen sie sich jedoch nicht. Hier wird sehr deutlich, dass David das nicht ausreicht. Er möchte nicht nur zuhören, was die Erwachsenen zu sagen haben, er möchte sich beteiligen und diskutieren, da er sonst keinen Sinn in dieser Runde sieht. F1, 22:13 – 22:39 Situation: Die Jugendlichen haben erfahren, dass sie während der Therapie nicht rauchen dürfen. Stacey und Kami Schott stehen sich in einem weißen Kellerraum gegenüber. Stacey, die Arme in die Seiten gestemmt, sieht man seitlich im Vordergrund, Kami Schott mit vor der Brust verschränkten Armen frontal etwas weiter hinten. Stacey: (die Tonlage eine Mischung aus gereizt und verzweifelt): „Ich bin abhängig. Das weiß ich. Ich werd aggressiv ohne Nikotin.“ Kami: (nickt dabei ruhig, fast gelangweilt und mit geschlossenen Augen) „Hmm.“ 56 Erst Detailaufnahme von Staceys Gesicht, sie scheint mit den Tränen zu kämpfen. Dann zoomt die Kamera heraus, so dass man auch Frau Schott sehen kann. Beide hocken mittlerweile gegen die Wand gelehnt am Boden. Kami: „Ich weiß, dass hier in dem Programm kein, kein Rauchen, kein gar nichts eigentlich erlaubt ist, das ist nicht was persönliches gegen dich, oder…“ Stacey: (unterbricht sie, fährt etwas lauter fort) „Das ist mir egal! Ich mach ohne Nikotin nischt (schnieft). Und somit ist die Therapie für mich abgebrochen.“ (Stacey schaut vor sich hin, an Kami Schott vorbei). Kami: (untersucht vor und nach dem Sprechen ihre Fingernägel, gestikuliert während ihres Satzes jedoch mit den Armen) „Also für dich ist das wirklich unvorstellbar, ne, geht nicht.“ Stacey: „Geht nicht. Es geht nicht ohne Nikotin, ich werd aggressiv und kann mich selber nicht mehr kontrollieren.“ (Sie schaut zu Frau Schott, doch diese dreht ihren Kopf weg). Einige Sekunden Schweigen. Im Hintergrund Töne eines Streichinstrumentes, die Unheilvolles anzukündigen scheinen. Auch in dieser Szene handelt es sich um Quasi-Beteiligung, aber schon um die etwas höhere Stufe der Beratung. Kami Schott diskutiert mit Stacey, hört sich geduldig an, was sie zu sagen hat und teilt ihr offen und ehrlich mit, dass ihre Wünsche leider aufgrund der vorherrschenden Regeln nicht berücksichtigt werden können („Ich weiß, dass hier in dem Programm kein, kein Rauchen, kein gar nichts eigentlich erlaubt ist, das ist nicht was persönliches gegen dich, oder…“). Die Entscheidung bleibt zwar bei den Betreuern, eine Diskussion mit der Jugendlichen wird jedoch zugelassen. In der folgenden Situation lässt sich eine Entwicklung von Manipulation bis zur Stufe der Wertschätzung beobachten: F1, 23:50 – 24:06, 24:36 – 24:55 Situation: Dzeneta soll ihre Kleider ausziehen und ihre Wertgegenstände abgeben. Sie befindet sich in einer weißen Kammer, Marlies Luepges steht davor und schaut zu Dzeneta rein. Die Kamera filmt über Marlies Schultern hinweg, so 57 dass man Dzeneta aus der Froschperspektive erst in der „Halbtotalen“, dann in der „amerikanischen“ Einstellung sieht. Man hört langsames Paukenschlagen, das fast gruselig wirkt. Marlies: „Du wirst alle deine Klamotten hier lassen. Nix von deinem alten Leben kannst du mitnehmen außer dir selbst.“ Dzeneta: (grinsend) „Ach echt.“ Marlies: (klatscht in die Hände) „Wie siehts denn aus? Möchtest du, bist du parat, die Schuhe auszuz i e h e n, oder die, die äh…(Dzeneta zieht ihre Schuhe aus, und Marlies steckt sie in einen großen Beutel) .... So.“ Etwas später: Dzeneta will ihr Mobiltelefon nicht abgeben. Marlies: „Das ist auch wieder ein riesen Risiko. Wenn du das mit ins Feld nimmst...“ Dzeneta: „Hm?“ Marlies: (schüttelt den Kopf) da kann ich nicht garantieren, dass das ganz bleibt.“ (Sie hält Dzeneta eine Tüte hin, in die sie das Handy werfen soll.) Dzeneta: (grinst) „Mann, mein Handy!“ Marlies: „Ich verst...“ Dzeneta: (jammert gespielt, schaut auf ihr Handy) „Hmmm...“ Marlies: (freundlich, ermutigend) „Komm schon! Du kannst das!“ Dzeneta: (atmet tief aus, schüttelt den Kopf, lächelt nicht mehr) Marlies: „Befrei Dich!“ Dzeneta: (wirft das Handy in die Tüte) „Ihr seid so asozial! Ich schwör auf meine Mutter“ Marlies: (anerkennend) „Puh! Das ist ein großer Schritt!“ Marlies Luepges erste Worte „Du wirst…“ machen eigentlich deutlich, dass der weitere Verlauf schon feststeht und keine Verhandlungen möglich sind, womit es sich um die Partizipationsstufe Manipulation handelt. Dann wird Dzeneta jedoch gefragt, ob sie sich umziehen möchte, ob sie „parat“ ist, was eine Diskussion erlauben würde. Da man nicht weiß, wie Frau Luepges auf Widersprüche von Dzeneta reagiert hätte, lässt sich die genaue Stufe der Partizipation nicht bestimmen. Als sie ihr jedoch erklärt, warum sie ihr 58 Mobiltelefon nicht mit in die Wüste nehmen sollte, handelt es sich um die InformationsStufe. Durch das gute Zureden und das Lob am Ende dieser Sequenz wird deutlich, dass Marlies Luepges um Dzenetas Zustimmung bemüht ist. Würde es das weitere Vorgehen beeinflussen, wenn die Jugendliche die Forderungen der Betreuerin ablehnte, wäre diese Szene der Stufe Wertschätzung zuzurechnen. Die nachstehenden Szenen zeigen Situationen, in denen den Jugendlichen echte Partizipation zugesprochen wird. F1, 25:30 – 25:55, 26:22 – 26:36 Situation: Dzeneta soll sich komplett entkleiden, in die Hocke gehen, die Arme hochhalten und sich einmal um 360 Grad drehen. Man sieht abwechselnd Marlies, die vor einer Kammer steht und Dzeneta, in einer „Nah“-Einstellung, die sich in der Kammer befindet. Langsame Töne einer E-Gitarre und eines Schlagzeugs im Hintergrund. Marlies: „Und Dzeneta?“ Dzeneta: „Nein!“ Marlies: „Ich kann Dir sagen...“ Dzeneta: „Ich mach das nicht!“ Marlies: (schaut Dzeneta intensiv an und atmet schwer aus) „So leid es mir tut, du wirst es machen müssen.“ Dzeneta: „Ich werd's nicht machen.“ Marlies: „Entweder jetzt hier .. oder später, in einem weniger .. angenehmen Umfeld.“ Dzeneta: „Ich mach es nicht, nein. .. Das geht aber wirklich nicht, ich mein's ernst.“ Marlies: „Das wird schwierig, hm?“ Dzeneta: „Eh, es wird nicht, es wird einfach nicht gehen!“ Etwas später: Marlies: „Kannst du dir vorstellen, deinen, deinen BH auszuziehen, in, wenn du mir den Rücken zudrehst? Und den neuen anzuziehen?“ Dzeneta: (grinst ein wenig) „Das ist hier echt .. psychisch krank.“ Marlies: (strahlt, als sie Dzeneta den neuen BH reicht) „Danke schön!“ Dzeneta: „Ihr seid voll krank, ich hasse euch, woa?“ 59 Marlies Luepges informiert Dzeneta eingehend darüber, wie sie sich beim Entkleiden zu verhalten hat. Mit den Worten „So leid es mir tut, du wirst es machen müssen.“, teilt sie ihr mit, dass Dzenetas Meinung nicht berücksichtigt werden kann. Sie zeigt jedoch Verständnis und ist um die Zustimmung der Jugendlichen bemüht. Hiermit würde es sich also nur um „Quasi-Beteiligung“ handeln. Dann ändert Frau Luepges allerdings die Regeln und schlägt Dzeneta vor, ihr den Rücken zuzudrehen, während sie ihren BH auszieht. Die Jugendliche hatte somit Einfluss auf die Entscheidung der Betreuerin. Da Dzeneta dieses Angebot annimmt, handelt es sich um eine partnerschaftliche Aushandlung. Obwohl sie noch etwas herumschimpft, kann man davon ausgehen, dass beide Parteien mit der Lösung zufrieden sind. Dass Marlies mit diesem Vorgehen Dzeneta dazu bewegen kann, ihre Sachen auszuziehen, zeigt, dass die Jugendliche dazu bereit ist, sich auf das Programm einzulassen, wenn ihre Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt werden. F3, 11:39 – 11:56 Situation: Dzeneta ist schon ein großes Stück gewandert und soll nun entscheiden, ob sie noch weiter wandern möchte. Abwechselnd werden Dzeneta und Marlies in verschiedenen Einstellungsgrößen gezeigt, die gegenüber voneinander auf dem Boden hocken. Marlies: „Variante eins .. ist, dass wir .. hier ne kurze Pause machen .. und weiter wandern, oder Variante zwei wäre, dass wir hier unser Nachtlager aufschlagen .. u n d, ähm, dann morgen aber umso weiter laufen müssen.“ Marlies Luepges fragt Dzeneta, ob sie weiter wandern oder ihre Zelte aufstellen wollen. Unterschwellig rät sie ihr zwar weiterzuwandern, letztendlich überläst sie ihr aber die Entscheidung. Somit handelt es sich um die Delegation von Entscheidungskompetenzen an die Jugendliche und die zweithöchste Stufe der Partizipationsleiter. F1, 58:14 – 58:52 Situation: Dzeneta will keinen Sonnenhut tragen. 60 Dzeneta und Annegret stehen in der prallen Sonne auf einem staubigen Weg in der Wüste, die Kamera schwenkt während des Dialoges zwischen den beiden hin und her. Im Hintergrund ist ein Mann zu sehen. Heavy-Metal-Klänge als Hintergrundgeräusche. Annegret: „Das Problem ist, dass du was auf dem Kopf haben musst, weil die Sonne dich sonst krank macht.“ Dzeneta: „Die macht mich nicht krank!“ Annegret: „Wenn du irgendwas Kreatives findest, um dir das auf den Kopf zu packen, hab ich kein Problem...“ Dzeneta: „Ich setz mir doch keine Scheiße auf den Kopf!“ Annegret: „Kein Problem damit, du musst was auf dem Kopf haben. Wenn du keine Verantwortung für dein Leben übernimmst, dann werden wir es tun. Und ich geb dir jetzt zwei Minuten dir da was auszudenken, wenn du in dein Zelt gehen willst...“ Dzeneta: „Nein, ohne scheiß, ich will nichts. Nein!“ Annegret: „Und dir was überlegen möchtest...“ Dzeneta: „Nein.“ Annegret: „Dann kannst du es gerne machen...“ Dzeneta: „Nein.“ Annegret: „ Du hast jetzt zwei Minuten...“ Dzeneta: „Nein.“ Annegret: „Und danach ist dann deine Entscheidung entweder du hast dir was ausgedacht, oder wir übernehmen's“ Dzeneta: „Ne.“ Annegret: „Okay. Zwei Minuten.“ Dzeneta: „Ich hab mir aber nix ausgedacht und ich denk mir auch nix aus“ Da Dzeneta sich weigert, einen Sonnenhut zu tragen, gibt Annegret Noble ihr die Möglichkeit, sich eine andere Kopfbedeckung auszudenken. Frau Noble besteht jedoch darauf, dass Dzeneta überhaupt etwas aufsetzt und lässt ihr nicht die Wahl, sich ungeschützt in der Sonne aufzuhalten. Daher handelt es sich auch hier um die Delegation von Entscheidungskompetenzen an Dzeneta. Sollte sie sich jedoch weigern, diese Möglichkeit wahrzunehmen, macht Frau Noble ihr mit den Worten „oder wir übernehmen's“ klar, dass ihr dann jedes Mitspracherecht genommen wird. 61 F1, 27:18 – 27:24 Situation: Dzeneta soll sich zwischen zwei Sonnenhüten für einen entscheiden. Sie und Marlies befinden sich beide im Bild, die Einstellung ist „Amerikanisch“. Dzeneta: „Ich werd sowas nicht anziehen. Iiiih!“ Marlies: (freundlich abwehrend) „Okay, okay. Ich will dir nur, ich will nur sicherstellen, dass du einen mit dabei hast.“ (Packt den Hut in Dzenetas Tasche). Die Entscheidung, welchen von zwei Hüten Dzeneta mitnehmen möchte, darf sie völlig autonom treffen. Es handelt sich hierbei also um die höchste Stufe der Partizipationsleiter. Als sie sich weigert, sich zu entscheiden, zwingt Marlies Luepges sie nicht, sondern nimmt ihr die Entscheidung ab. Ob Dzeneta überhaupt einen Hut mitnimmt, darf sie nicht frei entscheiden. Es handelt sich hier um einen sehr kleinen und unbedeutenden Bereich, bei dem die Jugendliche autonom entscheiden darf. Es ist meiner Meinung nach bezeichnend, dass diese Szene die einzige innerhalb der ersten vier Folgen ist, die die Partizipationsstufe „Autonomie“ zeigt. Die Analyse der Partizipationsmöglichkeiten hat gezeigt, dass die Jugendlichen bereits an der Entscheidung, an diesem Projekt teilzunehmen, nicht beteiligt wurden. Häufig werden sie zudem über wichtige Angelegenheiten während des Programms nicht informiert, in manchen Situationen wird ihnen sogar das Nachfragen verboten. In diesen Fällen ist Partizipation natürlich ausgeschlossen. In den sehr seltenen Szenen, in denen es zu echter Beteiligung kommt, geht es leider fast ausschließlich um unwichtige Entscheidungen. Die Mitsprachemöglichkeiten im hier vorgefundenen Umfang sind eindeutig zu gering, um von einer dem Alter und Entwicklungsstand der Teenager angemessenen Partizipation zu sprechen. Dass sie sich unter diesen Umständen auf das Projekt einlassen und mit ihm identifizieren können, halte ich für unwahrscheinlich. Die Wirkung der Interventionen und die Entwicklungschancen für die Jugendlichen sind daher als gering einzuschätzen. 62 4.3 Beziehungen Die persönlichen Netzwerke sind wichtige Ressourcen im Leben des Klienten. Eine Aufgabe der sozialpädagogischen Arbeit ist es daher einerseits, ihm beim Aufbau konstruktiver Beziehungen zu unterstützen und andererseits, selbst eine tragfähige Beziehung zu ihm aufzubauen. Wie unter Punkt 2.3 bereits erwähnt, zählen neue Integrationsmöglichkeiten im Lebensumfeld der Jugendlichen zu den wichtigsten Zielen der erlebnispädagogischen Auslandsprojekte. Gerade weil den Jugendlichen der Serie immer wieder Rücksichtslosigkeit im Bezug auf ihre Mitmenschen unterstellt wird, scheint die Verbesserung ihrer Beziehungen ein wichtiger Ansatzpunkt. Stabile Beziehungen sind außerdem eine Voraussetzung für das Erreichen eines höheren Moralitätsniveaus. Die strafunabhängige Einhaltung von Regeln geschieht im ersten Schritt einem wichtigen Menschen zu Liebe – man verhält sich regelkonform, um den anderen nicht zu enttäuschen. Im Folgenden habe ich daher den pädagogischen Bezug, die Elternarbeit und das Verhältnis der Jugendlichen untereinander betrachtet und daran untersucht, ob die Professionellen bei „Teenager außer Kontrolle“ um die Wichtigkeit persönlicher Beziehungen wissen und diese fördern. 4.3.1 Die Beziehungen zwischen den Professionellen und den Jugendlichen: Der pädagogische Bezug Nohl definiert den pädagogischen Bezug als „das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und zu seiner Form komme.“ (zit. n. Colla 1999, 348) Um seiner selbst willen bedeutet hierbei, dass es um die Bedürfnisse des Jugendlichen gehen muss und nicht um die Integrationsansprüche, die die Gesellschaft an den Heranwachsenden stellt. Nohl ist davon überzeugt, dass ohne diesen Bezug alles Übrige vergeblich bleibt. Auch Colla betont, dass „ein pädagogischer Bezug … Grundlage allen pädagogischen Handelns ist.“ (ebd., 345), denn Jugendliche suchen Erwachsene, die sie verstehen und sie so akzeptieren, wie sie sind. Es geht darum, „emotionale Stützung durch gegenseitiges Geben und Erhalten von Zuneigung durch persönliche Offenheit, Verständnis, Akzeptanz, Selbstachtung und Vertrauen zu geben, daneben soll eine kognitive Unterstützung durch Information und Beiträge zur Entwicklung eines kognitiven Rahmens zur Interpretation und Konstruktion von Realität ermöglicht 63 werden.“ (ebd., 354). Das Verhältnis basiert also auf einer Atmosphäre emotionaler Verbundenheit und einem tiefen Vertrauen vom Heranwachsenden zum Erziehenden und kann daher von diesem nicht erzwungen werden. Der pädagogische Takt, der sich in einer bewussten Zurückhaltung aus Respekt vor der Intimsphäre des Jugendlichen und seinem Wunsch nach Abgrenzung zeigt, ist außerdem unabdingbar. Nur durch diese gewisse Distanz entsteht für den Heranwachsenden genügend Freiraum, um Selbständigkeit entfalten zu können. Ob von den Betreuern bei „Teenager außer Kontrolle“ versucht wird, eine auf Akzeptanz, emotionale Wärme und Vertrauen basierende Beziehung aufzubauen, ob sie Veränderungen um der Jugendlichen selbst willen und nicht aufgrund von Integrationsansprüchen der Gesellschaft anstreben und ob sie pädagogisch taktvoll handeln, möchte ich im Folgenden analysieren. Analyse Eine emotionale Wärme zwischen den Beteiligten ist die Grundlage eines positiven pädagogischen Verhältnisses. Bereits im Kapitel über die Strafpraktiken wurde deutlich, dass das Verhalten der Betreuer den Jugendlichen gegenüber leider oft streng und kalt ist. Einige Beispiele seien hier noch einmal kurz aufgeführt: F1, 49:26 – 49:59 Situation: Am ersten Abend des Programms sind Stacey und Dzeneta sehr aufgebracht und beschweren sich bei Annegret Noble und ihren Kollegen. Es ist Nacht und sehr dunkel, man sieht nur die beteiligten Personen, die wahrscheinlich von Scheinwerfern angestrahlt werden. Stacey, eine gelbe Regenjacke tragend und mit Stirnlampe auf dem Kopf, steht Annegret Noble gegenüber und gestikuliert während sie spricht. Anschließend sieht man Stacey meist in der Einstellung „Amerikanisch“. Die Kameraführung ist sehr unruhig, was die Szene verwirrend und chaotisch erscheinen lässt. Nervöses Ticken im Hintergrund. Stacey: (aufgeregt) „Ihr macht, ihr, ihr versucht, uns voll in irgend ne Außenseiterposition zu bringen. So versucht ihr, uns zu erziehen, aber ich bin nicht mehr zu erziehen, will ich dir mal sagen. (dreht sich um und geht einige Schritte von der Gruppe weg) Kris: „Komm mal zurück! Es nervt mich langsam.“ (geht Stacey nach) 64 Stacey: „Nein… Ich möchte, ich möchte nicht sein, ich möchte hier nicht sein.“ Kris: (laut) „Wir meinen das ganze ziemlich ernst!“ Stacey: (aufgebracht und nörgelnd) „Ik werd hier nischt machen wat hier gegen meinen Willen ist! (geht weiter weg) „Ich will doch hier nicht…“ Kris Schock sagt etwas auf Englisch zu seinem Kollegen. Stacey: „Dann kann ich ja auch gleich hier…“ Kris kommt auf sie zu, packt sie. Stacey: „Hör’n se auf!“ Kris: „Dann geh freiwillig!“ Stacey: „Hau’n se ab von mir, ich schwör ihnen, ich hau ihnen sonst so ein in die Fresse, Alter, sie bluten!“ Betreuer Dan und sein Kollege sprechen kurz miteinander, dann kommt auch der Kollege auf Stacey zu, diese wehrt ihn mit einer Armbewegung ab. Stacey: „Hau ab! Fass mich nicht an, Alter, ich schwöre!“ Diese Szene steht als Beispiel für einige weitere, in denen statt mit den Jugendlichen zu sprechen – und so eine respektvolle, warme Beziehung zu ihnen aufzubauen – körperlich hart durchgegriffen wird. Sich durch körperliche Überlegenheit durchzusetzen, manchmal auch mit Hilfe anderer Betreuer, mag vielleicht die einfachste Lösung sein, verhindert aber ein positives Verhältnis zwischen den Beteiligten. Die Jugendlichen werden sich in solchen Situationen erniedrigt und übergangen fühlen, was ihre heftigen Reaktionen auf diese Übergriffe beweisen. F3, 3:59 – 4:08 Situation: Dzeneta wurde von der Gruppe getrennt und soll nun alleine wandern. Neben Marlies begleitet sie noch eine neue Mitarbeiterin, die Marlies Dzeneta vorstellt. Eine Aufnahme von Tanja, die mit einem großen Rucksack bepackt im Feld steht und lächelt. Dann sieht man Marlies und Dzeneta, ebenfalls mit ihren Wandersachen, gefolgt von einer Detailaufnahme von Dzenetas lachendem Gesicht, das zur Hälfte von ihrem Sonnenhut bedeckt ist. 65 Marlies: „Da drüben ist die Tanja.“ Dzeneta: „Wir wandern zu dritt oder wie?“ Marlies: „Psch! Ich möcht als erstes, möchte ich, dass du still bist. ... Du wirst nur dann sprechen, wenn wir das sagen.“ Dzeneta: (grinst und lacht tonlos vor sich hin, schüttelt dabei ungläubig den Kopf). Marlies Luepges verhält sich Dzeneta gegenüber in dieser Situation kalt und abweisend. Mit dem Verbot zu sprechen stellt sie sich außerdem eindeutig über die Jugendliche und verhindert so eine gleichberechtigte Beziehung. Verständlicherweise reagiert Dzeneta verächtlich mit einem Grinsen und Kopfschütteln. F4, 35:32 – 35:54 „Nahaufnahme“ von Staceys Gesicht, sie schaut unsicher und scheint mit den Tränen zu kämpfen. Dann sieht man Marlies Luepges, die wild gestikulierend und selbstbewusst vor der Jugendlichen steht. Abschließend schwenkt die Kamera noch einmal zu Stacey zurück, die traurig zu Boden schaut und zwischenzeitlich eingeschüchtert nickt. Marlies: (spricht sehr schnell, streng und unfreundlich) „Ich möcht, dass du mit dem ganzen Firlefanz aufhörst. Das ganze „Danke“, das viele Schwatzen und so weiter, ich hab dir das schon mal gesagt, und ich sag das noch mal: Ich möchte, dass all das weg geht, damit du dich auf solche wichtigen Sachen konzentrieren kannst! Probier dich nicht einzuschleimen, probier dir hier keine Freunde hier zu gewinnen, probier nur auf dich selber aufzupassen, damit du die Sachen, die du machen musst, richtig machst.“ Meines Erachtens ist dieses Zitat von Marlies Luepges an Gefühlskälte nicht zu übertreffen. Stacey, die ernsthaft bemüht ist, Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufzubauen und dabei die gemeinhin akzeptierten Regeln der Höflichkeit (wie ein „Danke“) anwendet, muss diesen Ausspruch der Betreuerin wie einen Schlag ins Gesicht empfinden. Marlies verlangt von dem Teenager, sich jegliche Freundlichkeiten zu verkneifen, keine Freundschaften zu schließen und nur darauf zu achten, ihre 66 Aufgaben zu erfüllen. Diese Aufforderung verhindert mit Nachdruck jegliche positive Beziehung und somit auch einen pädagogischen Bezug. Ich habe dennoch auch einige Szenen gefunden, in denen die Professionellen bemüht sind, ein Verhältnis zu schaffen, dass auf emotionaler Wärme und Herzlichkeit beruht. Auch hierfür seien einige Beispiele aufgeführt: F1, 43:38 – 43:54 Situation: Bereits am ersten Abend des Programms unternimmt Pascal in der Wüste einen Fluchtversuch. Betreuer Dan Coyle versucht, ihn zurückzuholen. Er bekommt Pascal am Pullover zu fassen und hindert ihn so am Weglaufen. Da es Nacht und damit sehr dunkel ist, sieht man meist nur Pascals roten Pullover deutlich. Der Rest lässt sich bei unruhiger Kameraführung nur erahnen. Aggressive und laute Rockmusik, die sich während der Szene in traurige Gitarrenklänge verwandelt. Pascal: (weinend) „Lass mich los, ey“ Als Pascal stehen bleibt, lockert Dan seinen Griff und geht einmal halb um den Jungen herum, so dass er ihn von der Seite anschauen kann. Seine Hand bleibt sacht auf Pascals Schulter liegen. Dan: (ruhig) „Bitte! … Zurück. .. Zurück. Bitte.“ Pascal: (schluchzt) Dan: (hält Pascal bei den Schultern, schaut ihm ins Gesicht) „Es ist schwierig. Für alles. Ich weiß.“ Pascal schnieft, zieht sich seinen Pullover tief ins Gesicht, wahrscheinlich um die Tränen vor der Kamera zu verstecken, und geht zurück. An seinem Zeltplatz angekommen setzt er sich auf den Boden und Dan legt ihm fürsorglich den Schlafsack um die Schultern. Obwohl Dan Coyle aufgrund seiner geringen deutschen Sprachkenntnisse wenig redet, wird deutlich, dass er sehr warmherzig mit Pascal umgeht. Er tritt bewusst mit ihm in Kontakt, indem er ihm direkt in die Augen schaut und macht ihm mit ruhiger Stimme klar, dass er ihn versteht, dass er nachvollziehen kann, dass die Umstellung schwierig für ihn ist. Als Pascal aufgibt und Dans Ziel, ihn zurückzuholen eigentlich erreicht ist, überlässt er den Jugendlichen nicht sich selbst, sondern zeigt ihm ohne Worte, dass er sich um ihn kümmert und für ihn da ist, indem er ihm seinen Schlafsack um die 67 Schultern legt. Mit wenigen Gesten gelingt es dem Betreuer also den Grundstein für eine freundliche und herzliche Beziehung zu legen. Dass er mit diesem Vorgehen Pascal sehr bald zum Umkehren bewegen kann, spricht für sich. F2, 17:16 – 18:02 Vivien wird beim Wandern gezeigt. Teilweise ihr Kopf mit Oberkörper, teilweise Detailaufnahmen ihrer Wanderschuhe auf staubigem Untergrund. Die Einstellungsgröße wechselt häufig, die Kamera bewegt sich ständig. Man hört leicht aggressive Rockmusik. Sprecher: „Vivien hat schon nach wenigen Metern keine Lust mehr und fängt an, sich zu beklagen.“ Vivien: „Oh, ich will n Rucksack a b s e t z e n!“ Annegret: „Ham wer fast geschafft, Vivien!“ Vivien: (jammert) „Ja, aber das wird mir zu schwer!“ Annegret: „Du kannst es…“ Vivien: „Das geht übelst auf die K n o c h e n…“ Annegret: „Im Moment, ich versteh es, wir haben’s fast geschafft, hier ist ne ganz schlechte Stelle.“ (nimmt Vivien bei der Hand und hilft ihr den Abhang hinunter) Sprecher: „Das Jammern hat nichts gebracht – Vivien hat eine andere Idee: Sie täuscht einen Sturz vor.“ Detailaufnahme von einem Fuß, der gegen einen großen Stein stößt. Vivien stürzt. Vivien: „Hilfst du mir hoch, ich rutsch ganz runter sonst.“ (Vivien sitzt einen Moment auf dem Boden, rückt ihren Sonnenhut wieder zurecht) Sprecher: „Doch Therapeutin Annegret zeigt sich von Viviens absichtlichem Sturz nicht besonders beeindruckt. Das Manöver war zu durchschaubar. Vivien muss einsehen, dass sie hier, im Gegensatz zu früher, mit Tricks nicht mehr durchkommt“ Kurt und Annegret helfen Vivien auf. Vivien: (erleichtert, schüchtern und freundlich) „Dankschön.“ Kurt: „Bitte.“ Annegret: „Stehste?“ 68 Vivien: „Ja.“ In dieser Szene beklagt sich Vivien über die schwere Wanderung, doch statt sie zu ermahnen, still zu sein, zeigt Annegret Noble Verständnis und spricht der Jugendlichen Mut zu. Als Vivien stürzt, hilft ihr die Therapeutin auf und erkundigt sich im Anschluss, ob Vivien jetzt sicher steht. Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um eine warmherzige Situation, in der Vivien merkt, dass Annegret Verständnis hat und für sie da ist, leider manipuliert der Sprecher die Wahrnehmung des Zuschauers durch seine unpassenden Kommentare, die den Sturz des Teenagers als beabsichtigt darstellen und ihre Schwierigkeiten bei der Wanderung auf mangelnde Lust zurückführen. Offenbar wird hier – wahrscheinlich der Quoten wegen - versucht, positiven Szenen einen negativen Beigeschmack zu geben und die Jugendlichen möglichst schlecht darzustellen. Auch durch ein kurzes Lob und eine freundliche Unterstützung bei Problemen lässt sich emotionale Wärme in einer Beziehung herstellen: F2, 21:25 – 21:36 Situation: Vivien hat Essen gekocht. Sie sitzt im Schneidersitz auf einer Matte auf dem Boden, vor ihr stehen einige Koch-Utensilien. Kris Schock hockt ihr gegenüber. Ruhige Gitarrenklänge, die an eine Lagerfeuer-Situation erinnern. Kris: „Du hast alles im Griff. Super, bin stolz auf dich! Lass es dir schmecken.“ Die Kamera zoomt Vivien heran, im Hintergrund sieht man Herrn Schocks Füße, als er sich von Viviens Zeltplatz entfernt. Vivien: „Danke. Kris: „Bitte sehr.“ Vivien: „Bin jetzt stolz auf m i c h.“ (macht ein stolzes Gesicht und klopft sich auf die Brust) 69 F3, 13:52 – 13: 54 Situation: Der erste Wandertag von Dzenetas „Quest“, bei dem sie gemeinsam mit Marlies und Tanja einen großen Teil der bisherigen Strecke noch einmal laufen muss, ist vorbei. Dzeneta und die Betreuerin stehen mit ihren Rucksäcken und Stöcken bepackt im Halbkreis. Laute und fröhliche Rockmusik. Marlies: „Gut gemacht!“ (lacht, zupft Dzeneta freundlich an der Mütze und streichelt ihr mit dem Daumen kurz über den Kopf) Dzeneta: (lächelt freundlich) „Dankeschön!“ F2, 33:40 - 34:06 Situation: Dzeneta schafft es nicht, ihren Rucksack aufzusetzen. Die Kamera schwenkt in der „Totalen“ über die karge Landschaft bis zu Dzeneta, die etwas abseits der anderen zwischen einigen Sträuchern steht. Aus der Froschperspektive mit Blick auf die Sonne beobachtet man, wie Marlies den großen Rucksack aufhebt und ihn Dzeneta aufsetzt. Marlies: „Dzeneta, du sagtest du brauchst Hilfe? (…..) Okay. (hilft Dzeneta, den Rucksack anzuziehen) Wunderbar! Kannst du in die Schleife reingehen?“ Dzeneta: „Oh mein Gott!“ Marlies: „Und klick das mal ein. Und jetzt geht’s drum, das zur Seite zu ziehen und dabei kann ich dir auch gerne helfen.“ Dzeneta: „Äh! Oh mein Gott, ich kann mich kaum bewegen!“ Marlies: (lacht) „Du machst das ganz toll!“ Die ersten beiden Szenen zeigen, was man gemeinhin mit „wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus“ umschreibt: Die Jugendlichen reagieren auf die freundlichen Bemerkungen der Betreuer ebenfalls mit Freundlichkeit und es entsteht sofort eine angenehme Atmosphäre. Die dritte Szene steht beispielhaft für einige weitere, in denen die Betreuer entweder tatkräftig einschreiten und den Jugendlichen beim Packen oder Kochen helfen, oder einfach ihre Unterstützung anbieten. 70 Vor allem Annegret Noble gelingt es oft, den Jugendlichen liebevoll und mit echter Wertschätzung für die vollbrachten Leistungen gegenüber zu treten: F1, 1:08:13 – 1:08:28 Situation: David will weglaufen und betont immer wieder, dass er nach hause muss, um sich um seine Mutter zu kümmern. Annegret versucht, ihn vom Bleiben zu überzeugen. Die beiden sitzen nebeneinander am Wegrand auf dem staubigen Boden, neben ihnen liegt Davids Rucksack. Der Jugendliche hat seinen Kopf zwischen seinen angezogenen Beinen vergraben, so dass man sein Gesicht nicht sieht. Annegret: (schaut David an, streichelt ihm mit der Hand über den Rücken) „Ist doch in Ordnung, David. Ich find das wirklich wunderschön, dass du dir solche Sorgen um deine Mama machst. (…) Ich hab nur die Befürchtung, dass wenn du jetzt hier los läufst, dass du deiner Mutter größere Sorgen machst als wenn du jetzt hier bleibst.“ F4, 27:03 - 27:15, 27:50 - 27:59 Links im Bild gibt Annegret Noble ein Interview, rechts sieht man einen der Jugendlichen seine Sachen zusammenpacken und im Anschluss daran verschiedene Jugendliche, die einzeln hinter jeweils einem Betreuer einen Weg entlanglaufen. Leise Gitarrenklänge. Annegret: „Heute ist das Ende des Solos und wir werden die Jugendlichen gleich abholen und dann ihren Erfolg feiern und das auch wirklich ehren, was sie da vollbracht haben. Etwas später: Die Teenager sitzen mit den Betreuern zusammen auf Matten im Kreis. Die Kamera filmt ihre Gesichter einzeln in „Großaufnahme“, als Annegret mit ihnen spricht. Leise, aber fröhliche Musik im Hintergrund. 71 Annegret: „Herzlich willkommen. Es ist wirklich heute ne Ehre hier bei euch zu sein. Ihr habt ne tolle Leistung vollbracht in den letzten Tagen.“ F3, 37:19 – 37:30 Situation: Dzeneta kommt von ihrem Teil der Wanderung, den sie allein bewältigen musste, zurück und trifft auf die anderen. Detailaufnahme von Dzenetas Gesicht, im Hintergrund sieht man Tanja und Kris, die sie interessiert anschauen. Die anderen Teenager kommen, in einer Reihe wandernd, auf Dzeneta zu. Am Schluss stehen alle zusammen im Kreis. Man hört fröhliche, aber emotionale Musik, die immer lauter wird. Dzeneta: „Ich will hören was die jetzt sagen. Die Annegret. (lacht)“ Annegret: „Wir freuen uns, dass du wieder da bist!“ Dzeneta: „Dankeschön!“ Annegret: „Wie freuen uns ganz doll, dass wir dich wieder haben.“ (lächelt) Sowohl mit kleinen Gesten, wie zum Beispiel über den Rücken streicheln, als auch mit verständnisvollen und anerkennenden Worten, baut die Therapeutin eine herzliche Beziehung zu den Jugendlichen auf, die von diesen offensichtlich angenommen wird: David lässt die Berührungen zu und Dzeneta ist bei ihrer Rückkehr gespannt auf die Reaktion der Therapeutin. Das beweist, dass die Bemühungen der Professionellen, eine ehrliche und positive Beziehung zu den Kindern aufzubauen, sich durchaus bezahlt machen. Die Betreuer haben einen viel größeren Einfluss auf die Teenager, wenn diese sie als wichtige Bezugspersonen anerkennen. Neben der emotionalen Wärme bedarf es außerdem Akzeptanz und Verständnis. Die Jugendlichen müssen sich mit all ihren Eigenschaften uneingeschränkt akzeptiert und verstanden fühlen, um darauf vertrauen zu können, dass die Betreuer es gut mit ihnen meinen. Es zeigt sich jedoch schon in der ersten halben Stunde der ersten Folge, dass die Akzeptanz der bisherigen Lebensformen der Teenager sehr eingeschränkt ist: 72 F1, 23:46 – 23:56 Situation: Dzeneta soll ihre Kleider ausziehen und ihre Wertgegenstände abgeben. Sie befindet sich in einer weißen Kammer. Marlies Luepges steht davor und schaut zu ihr rein. Die Kamera filmt über Marlies Schultern hinweg, so dass man Dzeneta aus der Froschperspektive erst in der „Halbtotalen“, dann in der „amerikanischen“ Einstellung sieht. Man hört langsames Paukenschlagen, das fast gruselig wirkt. Marlies: „Was wir hier hinten machen ist: Neue Klamotten für dich. Du wirst alle deine Klamotten hier lassen. Nix von deinem alten Leben kannst du mitnehmen außer dir selbst.“ Mit dem Satz „Nix von deinem alten Leben kannst du mitnehmen außer dir selbst“ verdeutlicht Marlies Luepges, dass es sich bei dem Projekt um einen absoluten Neuanfang handeln soll. Das Abgeben der persönlichen Kleidung und der Wertgegenstände hat hier einen symbolischen Charakter: Mit dem „alten Leben“ soll abgeschlossen werden, was gleichzeitig impliziert, dass es nichts Gutes daran gab, was es zu behalten Wert wäre. Diese Abwertung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, dass die Jugendliche sich eben nicht angenommen und akzeptiert fühlt. Da immer wieder betont wird, dass es bei dem Projekt darum geht, die Jugendlichen zu verändern und sie zu anderen oder besseren Menschen zu machen, verwundert es nicht, dass ich keine Szene gefunden habe, in der eine uneingeschränkte Akzeptanz der Jugendlichen und ihrer bisherigen Lebenssituationen sichtbar wird. Und auch das Verständnis für ihre Bedürfnisse während des Projekts ist oft nicht zu erkennen: F1, 1:21:00 – 1:21:22, 1:22:15 Situation: Es ist der erste Tag der Wanderung und Dzeneta möchte eine Pause machen, da sie erschöpft ist. Als Marlies keine Pause im Sitzen erlaubt, wirft Dzeneta ihren Rucksack zu Boden, läuft ein Stück von der Gruppe weg und setzt sich auf den Boden. Die anderen Jugendlichen müssen mit den Rucksäcken bepackt in der Sonne stehen und warten, bis Dzeneta weiter wandert. Aufnahme von Marlies aus der Froschperspektive (etwa Dzenetas Perspektive, da sie auf dem Boden sitzt). Dann schwenkt die Kamera erst zu Dzeneta herunter, die weinend ihr Gesicht in den angezogenen Beinen und zwischen 73 ihren Armen vergraben hat und zum Schluss noch einmal zu Marlies zurück, die dann, halb zu Dzeneta gebeugt, in der „amerikanischen“ Einstellung zu sehen ist. Marlies: „Schau mir mal darüber bitte, (zeigt zur Gruppe) schau dir mal die Gruppe an. Dzeneta? Dzeneta: (weinend) „Ich hab keinen Bock mehr, lass mich in Ruhe, Mann, ich will nach Hause!“ Marlies: (wütend und streng) „Dzeneta, du bist im Moment verantwortlich für die ganze Gruppe!“ Dzeneta: „Ich scheiß auf die ganze Gruppe und auf euch scheiß ich genauso.“ (schluchzt) Marlies: „Die stehn, die stehn jetzt in der Sonne, im Moment haben sie Wasser, aber die stehen da mit ihren Rucksäcken an, währenddessen du hier sitzt. Ohne Rucksack.“ F2, 35:48 – 16:19 Situation: Dzeneta ist erschöpft und kann nicht mehr weiterwandern. Sie steht weinend Marlies gegenüber abseits der Gruppe und hat ihren Rucksack abgesetzt. Zwischenzeitlich werden Großaufnahmen der anderen Teenager und Betreuer gezeigt, die mit ihrem Rucksack bepackt in der Sonne stehen und warten. Dzeneta: (mit weinerlicher Stimme) „Ich kann nicht mehr. Nein. Ich lauf auch nicht mehr…“ Marlies: (unterbricht sie) „Dzeneta, bleib mal hier, bleib mal hier.“ Dzeneta: „Ich lauf nicht mehr weiter! Fertig, aus. (setzt sich auf den Boden) Ich bleib jetzt hier sitzen. Nein.“ Marlies: (hockt sich daneben) „Dzeneta? Wie, wie du mit der, mit dem Umziehen und wie auch mit den anderen Sachen wird sich hier jetzt nix verändern. Unsere Destination ist gegeben, das Wasser steht da jetzt da…“ Dzeneta: (unterbricht sie verzweifelt, legt die Hände auf ihren Kopf) „Ich kann nicht mehr! Hallo?! Ich kann nicht mehr, ich kack hier ab!“ Marlies: (ruhig) „Was brauchst du von uns, Dzeneta?“ 74 Dzeneta: „Ich will mich einfach nur hier hinsetzen, ich will hier bleiben.“ (schluchzt) Marlies: „Das geht nicht. Das wird unsere ganze Gruppe in, in Gefahr bringen. Dzeneta ist offensichtlich an die Grenzen ihrer körperlichen Belastbarkeit gestoßen und teilt dies der Betreuerin auch offen mit. Mit weinerlicher, fast verzweifelter Stimme erklärt sie Marlies, dass sie „nicht mehr kann“, sich hinsetzen und ausruhen möchte. Statt darauf einzugehen und Verständnis zu zeigen, denkt Frau Luepges jedoch nur an die Gruppe und das Tagesziel der Wanderung. Die einzelne Jugendliche nimmt sie hier nur als Störfaktor wahr und schafft es nicht, ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu verstehen. Selbst wenn eine Pause tatsächlich nicht möglich wäre, würde es Dzeneta wohl schon helfen, sich von Marlies verstanden zu fühlen. Eine Stärkung wie „Ich weiß Dzeneta, es ist ganz anstrengend im Moment und ich sehe, wie sehr du kämpfst. Du hast das bisher ganz toll gemacht. Trink mal in Ruhe einen Schluck und dann versuchen wir zusammen noch ein Stück zu wandern.“, wäre mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgreicher als die Ermahnung, das Gruppenziel zu gefährden oder ihr die Schuld dafür zu geben, dass die Gruppe nun mit ihren Rucksäcken bepackt in der Sonne stehen muss. Dzeneta wird das Gefühl haben, nur als Teil der Gruppe wahrgenommen zu werden und für ein Ziel zu arbeiten, dass mit ihr selbst eigentlich nichts zu tun hat. In diesem Fall fällt das Aufgeben natürlich leicht. Auch in anderen Situationen wird sie von den Professionellen einfach nicht verstanden: F1,1:24:35 - 1:24:58 Situation: Im Gesprächskreis sollen die Jugendlichen nach einem schweren Wandertag mitteilen, wie sie sich jetzt fühlen. Die Gruppe steht mit den Wandersachen bepackt im Kreis, Dzeneta und die anderen Beteiligten werden abwechselnd in verschiedenen Einstellungsgrößen gezeigt. Langsame und dramatisch wirkende, einzelne Töne. Annegret: „Dzeneta, wenn du uns n Gefühl geben könntest, dann…“ Dzeneta: (unterbricht sie): „Scheiße!“ Annegret: „Das ist kein Gefühl.“ Dzeneta: „Ja und? Für mich is ein Gefühl.“ 75 Annegret: „Okay. Bist du wütend, bist du frustriert, biste ängstlich?“ Dzeneta: „Ich hab kein Bock mehr auf gar nichts hier.“ Annegret: „Dzeneta, es würde jetzt wirklich helfen, wenn du uns n Gefühl gibst, damit wir weiter machen können.“ Dzeneta: (laut) „Aber mir geht’s scheiße! Was n Gefühl, Alter?!“ Marlies: „Im Moment verlängerst du das Rumstehen mit dem…“ Dzeneta: „Na und? Bockt mich kein Meter, mir geht’s scheiße und das war’s.“ Dzeneta fühlt sich „scheiße“. In der Umgangssprache und vor allem in Dzenetas bisherigem Umfeld wird das ein selbstverständlicher Ausdruck sein, bei dem jeder weiß, was gemeint ist. Die Jugendliche gibt auf die Frage nach ihrem Gefühl aus ihrer Sicht also eine ehrliche Antwort und ist verwirrt, als diese nicht akzeptiert wird. Für sie ist das ein Gefühl, betont sie noch einmal und versteht nicht, was die Betreuer noch von ihr wollen. Statt diese Äußerung hinzunehmen und zu verstehen, dass es Dzeneta einfach schlecht geht, weil sie von der Wanderung erschöpft ist und sie den ganzen Tag Ärger mit den Betreuern und den anderen Jugendlichen hatte, bestehen sie darauf, dass die Jugendliche ihnen ein anderes Gefühl nennt. Leider aber nicht aus Interesse, warum genau es ihr „scheiße“ geht, sondern damit der nächste in der Runde weitermachen kann. Dass es auch anders geht, beweist Kris Schock in folgender Szene: F1, 34:50 – 34:59 Situation: Andreas soll bei Beginn des Programms seine letzte Zigarette abgeben. Als er sich trotz der Bitten von Kris Schock weigert, kommt ein Mann hinzu, der ihn packt und ihm die Zigarette abnehmen will. Nach einem kurzen, für beide Seiten erfolglosen, „Kampf“ versucht Herr Schock doch noch einmal, mit Andreas zu reden. Die Kamera filmt über Kris Schocks Schulter hinweg Andreas, der in einer weißen Kammer steht, und zoomt so lang heran, bis sein Gesicht in einer „Detailaufnahme“ zu sehen ist. 76 Kris: „Ich meine, ich kann dich schon verstehen, es ist, es tut mir w i r k l i c h leid. (langsame Gitarrentöne erklingen) Aber …., es muss so sein.“ Andreas überlegt kurz und gibt ihm dann langsam die Zigarette, was von der Kamera genau verfolgt wird. Nach der vorangegangenen Eskalation zeigt Kris Verständnis für Andreas. In ruhigem, ehrlichem und bedauerndem Ton erklärt er ihm außerdem, dass ihm die Umstände für den Jugendlichen leid tun, er aber nichts daran ändern kann. Obwohl Andreas fest entschlossen war, sich durchzusetzen, gibt er in Folge dessen nach, denn Kris erkennt und akzeptiert Andreas’ Bedürfnisse. Der Jugendliche kann sich angenommen fühlen und auf das Projekt einlassen. Obwohl die Teenager in vielen Situationen nicht bedingungslos akzeptiert oder verstanden werden, sollte eine Veränderung in ihrem Leben zumindest um der Jugendlichen selbst willen angestrebt werden. Hier werden in der Sendung schon zu Beginn der ersten Folge unterschiedliche Sichtweisen vermittelt: F1, 2:45 – 2:55 Aus mehreren Perspektiven Aufnahmen der Teenager, in der Wüste in einer Reihe stehend. Sie tragen dabei ihre Einheitskleidung (einfarbige, meist neonfarbene T-Shirts, blaue Shorts und beige Sonnenhüte). Zwischenzeitlich sieht man eine Detail-Aufnahme von Annegret Nobles Gesicht. Im Hintergrund ertönt sehr harte Rockmusik. Sprecher: „Annegret Noble und ihre Crew stehen vor der großen Herausforderung, aus diesen deutschen Teenagern wieder Töchter und Söhne zu machen, vor denen sich ihre Eltern nicht mehr fürchten müssen.” F1, 3:25 - 3:32 Verschiedene Aufnahmen am Frankfurter Flughafen: Staceys weinendes Gesicht in „Groß“, ein Schwenk durch das Flughafengebäude, Kevin der traurig zu Boden schaut, David und sein Vater, die einen Gang entlang laufen, sowie eine „Großaufnahme“ von Davids Gesicht. 77 Rockmusik im Hintergrund. Sprecher: Das Programm in den USA ist der letzte Ausweg für die Jugendlichen. Hier in Deutschland droht ihnen das Gefängnis oder ein Leben auf der Straße. Das erste Zitat legt nahe, dass die Veränderung von den Eltern der Teenager und nicht von diesen selbst gewünscht wird. Eine halbe Minute später erklärt der Sprecher dann, dass es der letzte Ausweg für die Jugendlichen selbst sei, da ihnen sonst ein Leben im Gefängnis oder auf der Straße drohe. Abgesehen von diesen Kommentaren zeigt sich in der Sendung leider häufiger, dass es nicht um den einzelnen Jugendlichen und seine speziellen Bedürfnisse geht. Es gibt festgelegte Strukturen und ein Programm, das alle Jugendlichen ungeachtet ihrer persönlichen Eigenschaften durchlaufen müssen. Dass die Teenager durch solch vorgefertigte Rahmenbedingungen „zu ihrer Form kommen“ halte ich für sehr unwahrscheinlich. Meist geht es eben nur um das „Weiterkommen“ oder das Wohl der gesamten Gruppe: F3, - 5:17 Marlies: „Das heißt, wir werden jetzt mit dir trainieren, damit du dann schneller wandern kannst und die Gruppe nicht mehr aufhältst in der Zukunft.“ Dzenetas „Quest“ soll nicht sie persönlich weiter bringen, sondern dafür sorgen, dass sie in Zukunft die Gruppe nicht mehr aufhält. Wie bereits in vorangegangenen Situationen, bei denen Dzeneta wegen Erschöpfung nicht weiter wandern konnte deutlich wurde, geht es nicht um sie selbst. Anstatt Dzeneta beispielsweise zu erklären, dass sie über sich selbst hinaus wachsen kann und dann sehr stolz auf sich sein wird, wenn sie ein weiteres Stück der Wanderung schafft, wird sie immer wieder an das Wohl der Gruppe erinnert. Wo hierbei die Vorteile für die Jugendliche liegen – außer vielleicht zu verhindern, dass die anderen wütend auf sie werden - bleibt völlig unklar. Dem Zuschauer erklärt Marlies Luepges später: F3, 25:21 – 25:39 Situation: Marlies bietet Dzeneta an, die Gruppe zu führen. 78 Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Einstellungsgrößen von Marlies und Dzeneta. Dann sieht man Marlies in „Groß“, ein Interview gebend. Die Worte „Marlies Luepges. Expeditionsleiterin“ werden in einem roten Kasten eingeblendet. Marlies: „Wir möchten einfach nur ein, ein Beispiel setzen, vor allem auch für die Dzeneta, dass sie das kann. Dass sie schnell wandern kann. Dass sie auf sich aufpassen kann. Dass sie kommunizieren kann. Es geht uns wirklich darum, dass sie das selbst mal erlebt. Dass sie Erfolg hat und, dass wir nachher darauf zurückgreifen können, als Erlebnis.“ Hierbei handelt es sich um die einzige Szene, in der explizit erwähnt wird, dass eine Veränderung der Jugendlichen selbst wegen angestrebt wird. Viel häufiger sind Szenen nach dem oberen Muster, bei denen es entweder um das Wohl der Gruppe, oder aber den Veränderungswunsch der Eltern geht. Ein weiterer kritischer Punkt ist das Vertrauensverhältnis zwischen den Jugendlichen und Betreuern. Obwohl ein beiderseitiges Vertrauen als Bestandteil des pädagogischen Bezugs elementar wäre, zeigen sich immer wieder Szenen, die ein großes gegenseitiges Misstrauen erahnen lassen: F3, 14:40 – 14:53 Nach einer „Großaufnahme“ von Marlies sieht man Dzeneta in ihrem Zelt sitzen und ein Interview geben Dzeneta: „Die Marlies ist auf jeden Fall netter zu mir. Und, so lang die nett ist bin ich auch nett. Ich hoffe, die .. macht dann nicht wieder irgendwelche Faxen morgen oder so. (zieht die Nase hoch) Kann man ja nie wissen, bei diesen Betreuern hier.“ Dzeneta hat das Gefühl, immer auf der Hut sein zu müssen. Sie stellt zwar erfreut fest, dass sich Marlies ihr gegenüber netter verhält, erwartet jedoch eigentlich, dass auf dieses Freundlichkeit etwas Unangenehmes folgt. Sie hat offensichtlich durch vorangegangene Situationen, bei denen sich die Betreuer unberechenbar gezeigt haben, 79 gelernt, vorsichtig zu sein. Dass ihre Befürchtungen nicht unbegründet sind, zeigt der folgende Ausschnitt: F3, 6:30 – 7:03 Situation: Dzeneta wurde ausgeschlossen und muss ein großes Stück allein mit zwei Betreuern wandern. Die anderen Jugendlichen und Kris Schock stehen mit ihren Rucksäcken bepackt im Kreis. Die Kamera schwenkt hin und her und filmt die Beteiligten. Kris: „Wir sind wie eine Familie, oder?“ (breitet die Arme aus) Jugendliche: (murmeln) Kris: „Und wenn einer von uns Stress hat, oder Schwierigkeiten hat oder so .. hat fast jeder von uns auch diesen Stress und diesen, diese Schwierigkeiten, oder?“ Jugendliche: „Ja“ Kris: „Das ist eigentlich so mit der Dzeneta ge, gewesen, oder? (…) Sie hat Schwierigkeiten, wir haben auch mit ihr .. diese Schwierigkeiten miterlebt, vor allem beim Wandern haben wir das gesehen, oder?“ (nickt) Jugendlicher: „Ja.“ Kris: „Heute sind wir ziemlich schnell gewandert .., aber normalerweise, wenn sie dabei ist, gehen wir ziemlich langsam, oder?“ Vivien: „Ja.“ Kris: „Okay.“ Während Dzeneta auf ihrem „Quest“ ist und feststellt, dass Marlies netter zu ihr ist, hetzt Kris hinter ihrem Rücken die anderen Jugendlichen gegen sie auf. Als Bezugsperson der Jugendlichen wäre es hingegen eigentlich seine Aufgabe, bei den anderen um Verständnis für Dzeneta zu werben. Stattdessen betont er noch einmal, dass das langsame Vorankommen an der Jugendlichen lag und die Gruppe ohne sie besser dran ist. Durch dieses Verhalten bestätigt Kris, dass Dzenetas Misstrauen gerechtfertigt ist. Andererseits misstrauen die Betreuer auch den Jugendlichen: 80 F4, 3:16 – 3:25 Situation: Die Jugendlichen sollen beim so genannten 'Solo' einige Tage völlig allein in ihren Zelten verbringen, die weit voneinander entfernt stehen. Links im Bild sieht man Kris Schock, der ein Interview gibt, rechts sieht man nacheinander Vivien und Pascal ihre Schuhe abgeben. Im Hintergrund hört man sehr leisen Gesang mit Trommelgeräuschen. “Kris: „Wir nehmen die Schuhe und die Stirnlampe weg, damit die Jugendlichen nicht einander besuchen können und dass sie nicht weglaufen können.“ F4, 22:55 – 23:05 Situation: Als Strafe soll Andreas sein Zelt auf-, ab- und wieder aufbauen. Nachdem er sich anfänglich geweigert hat, stimmt er jetzt zu, da er sonst die ganze Nacht lang wach bleiben muss. Da es mitten in der Nacht und sehr dunkel ist, erkennt man bei dieser Szene nur wenig. Marlies und Kris beobachten Andreas, der seine Sachen zusammenpackt. Sprecher: „Die Betreuer wollen testen, ob Andreas wirklich nachgegeben hat und ziehen die Maßnahme weiter durch. Noch trauen sie dem Frieden nicht. Zu sehr hat sich Andreas bisher dem Programm widersetzt.“ Es scheint, als erwarteten die Mitarbeiter zu jedem Zeitpunkt einen Regelverstoß der Jugendlichen. Statt ihnen einen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich als vertrauenswürdig zu beweisen, versuchen die Betreuer von Anfang an, alle Eventualitäten auszuschließen. Sie nehmen den Jugendlichen ihre Sachen weg und testen sie, als wären sie gefährliche Kriminelle, die im Zaum gehalten werden müssen. Meines Erachtens zeugt dieses Verhalten von einer großen Unsicherheit seitens der Professionellen und verhindert zudem ein Sich-Einlassen auf den jeweils anderen. Nur in zwei Situationen, in denen faktisch keine negativen Folgen zu erwarten sind, wird den Jugendlichen ein wenig Vertrauen entgegengebracht, in dem man ihnen Entscheidungen überlässt: 81 F3, 25:00 – 25:16 „Nahaufnahme“ von Marlies Luepges. Sie trägt ihre Wandersachen. Marlies: „Was hältst du denn davon (…), unsere Gruppe hier anzuführen?“ Die Kamera schwenkt zu Dzeneta herüber. Sie grinst ungläubig. Dann eine Aufnahme eines langen Pfades, der durch die Wüste verläuft und am Horizont verschwindet. Dzeneta: (nach einer langen Pause) „Ich weiß nicht. Das wär grad nicht so… Also es würde langsamer dann gehen.“ Marlies und Dzeneta stehen nebeneinander, die Jugendliche schaut auf den Boden und spielt mit ihrem Wanderstock. Marlies: „Denkst du?“ Dzeneta: (nickt) „Ja.“ Marlies: „Willst du’s mal probieren?“ Nur in Situationen, in denen das Risiko sehr gering ist, schaffen es die Betreuer, den Jugendlichen zu vertrauen (vgl. auch S.59, F3, 11:39 – 11:56). Mit ihrem sonstigen Misstrauen begünstigen sie ein angespanntes und kühles Verhältnis zwischen den Beteiligten. Neben den aktiven Aspekten des pädagogischen Bezugs ist in manchen Situationen auch Zurückhaltung angebracht. Der pädagogische Takt verlangt von den Betreuern sich zurückzuziehen, wenn die Jugendlichen nach Freiraum und Privatsphäre verlangen. Vor allem in Situationen, in denen die Teenager von ihren Gefühlen übermannt werden und einen Moment allein sein möchten, akzeptiert Annegret Noble diese Reaktion und bestärkt sie sogar, sich diese Auszeiten zu nehmen: F3, 17:37 – 17:41 Situation: Annegret hat aus dem Brief von Pascals Mutter vorgelesen. Dieser ist währenddessen weinend aufgestanden und hinter sein Zelt gelaufen. Zuerst eine Aufnahme in der „Totalen“. Man sieht Pascals Zelt in der Bildmitte, um das Zelt herum ist nur Wüstenlandschaft zu erkennen. Frau Noble sitzt davor, Pascal kommt zurück auf sie zu. Die Szene wird von trauriger Klaviermusik untermalt. 82 Annegret: „Danke. Das ist total in Ordnung. Wenn du das noch mal machen musst, machste das, okay?“ F4, 34:21 – 34:26 Situation: Pascal hat im Gesprächskreis von seinem Opa erzählt, ist in Tränen ausgebrochen und ein Stück von der Gruppe weggelaufen. Nach einer Rückenansicht des weinenden Pascals sieht man Annegret und den Rest der Gruppe im Kreis stehen. Annegret: „Pascal! Ja super, nimm die ein paar Minuten und dann kommste wieder.“ Frau Noble respektiert, dass Pascal sich zurückziehen möchte und versucht nicht, ihn zum Bleiben oder zu Gesprächen zu überreden. Er kann in Ruhe weinen und traurig sein, aber jederzeit zu Annegret zurück kommen, wenn er ein Gespräch oder tröstende Worte sucht. Auch in anderen Situationen erklärt die Therapeutin den Jugendlichen mehrmals, dass sie ihr mitteilen sollen, wenn sie mit einer Situation überfordert sind und sich Auszeiten nehmen möchten. Dieses Vorgehen fördert die Entwicklung der Jugendlichen, da sie nur durch eine Zurückhaltung der Professionellen lernen können, selbstständig mit Situationen umzugehen. Außerdem zeigt es den Teenagern, dass ihre Bedürfnisse respektiert werden und unterstützt somit ein positives Verhältnis zwischen den Beteiligten. In Situationen, bei denen die Teenager Empfindungen zeigen, hierfür aber allein sein möchten, gelingt es Annegret also, sich zurückzuhalten. Anders verhält es sich, wenn sich die Jugendlichen nicht auf ihre Therapie einlassen wollen und sich weigern, ihre Gefühle preiszugeben. Beispielhaft sei die folgende Szene angeführt: F4, 36:25 – 42:36 Situation: Die Teenager sollen im „Kreis der Wahrheit“ den anderen erzählen, was sie bewegt. Annegret und Stacey stehen nebeneinander, die anderen Teenager stehen um die beiden herum. Annegret: „Okay Stacey, hast du was?“ Stacey: “Muss ich?” 83 Annegret: “Du musst nicht, ich fänd’s aber sehr schön, wenn du das Risiko eingehen könntest.“ Stacey: (atmet tief ein und aus) „Ich hab Angst, dass wenn meine Eltern morgen in der Wüste kommen, (ihre Stimme beginnt zu zittern) dass meine kleine Schwester vielleicht von ner Klapperschlange gebissen wird oder so.“ Annegret: „Okay.“ Annegret akzeptiert Staceys Antwort zuerst, stellt Stacey aber später, abseits der Gruppe, noch mal zur Rede. Stacey: „Bullshit?“ Annegret: „Das war Drama.“ Stacey: (dreht sich um und geht) Annegret: „Stacey!“ Laute Rockmusik beginnt zu spielen. Die Kamera verfolgt Stacey, die vor Annegret davonläuft und die Therapeutin, die versucht sie einzuholen. Zwischendurch Aufnahmen der anderen Teenager. Sprecher: „Anstatt offen über ihre Probleme zu reden, weicht Stacey eher aus. Therapeutin Annegret verfolgt jetzt nur ein Ziel: Sie will sie provozieren, um endlich an sie heran zu kommen.“ Die Rockmusik verstummt. Annegret: „Stacey, guck mich bitte an!“ Stacey: (läuft weiter vor Annegret davon) „Ich guck dich ganz bestimmt nicht mehr an. Ich soll über meine Gefühle reden, dann red ich über meine Gefühle…“ Annegret: (unterbricht sie laut:) „Du hast nicht über deine Gefühle geredet!“ Stacey: (bleibt stehen, schaut sie an) „Ne?!“ Annegret: „Du hast Drama gemacht!“ Stacey: „Ach, ich hab Drama gemacht? Wahrscheinlich geschauspielert, vielleicht lieb ich meine kleine Schwester nicht, oder was?“ (weint) Annegret: (breitet die Arme aus, schreit) „Okay! Dann sag das! (Stacey geht weiter weg, Annegret hinter ihr her) Klapperschlange! Blödsinn!“ Stacey: „Ja, warum?!“ Annegret: „Wenn du Angst um deine Schwester hast, dann sag, dass du Angst um Deine Schwester hast.“ 84 Stacey: (schreit) „Du weißt, was in mir drinne vorgeht?“ Annegret: „Jetzt bist du ehrlich!“ Stacey: „Du kennst meine Gefühle, du kennst meine Ängste? Du kennst nichts von mir, außer was du vielleicht von meinen Eltern… (hörst)!“ Annegret: (unterbricht sie, brüllt) „Weil du’s nicht draußen, weil du’s nicht raus lässt!“ Stacey: „Vielleicht möchte ich’s auch nicht! (gestikuliert mit einer Hand) Aus so nem Grund wie diesem!“ Annegret: „Hast du’s eben auch nicht rausgelassen?“ Stacey: „Doch!“ Annegret: „Nein!“ Stacey: „Ich hab grad das gesagt, was ich gefühlt habe!“ Annegret: „Deine Schwester kommt sowieso nicht, das weißt du auch! Jetzt sei endlich ehrlich, Stacey!“ Stacey: „Ich bin ehrlich, wie oft denn noch?!“ Annegret: „Ja, im Moment biste ehrlich. Jetzt sag mir nur mal was Ehrliches vom Herzen!“ Stacey: „Du sagst, ich soll meine Probleme reden, oder das was ich fühle…“ Annegret: „Das ist nicht dein Problem, d, d, das deine Schwester von ner Klapperschlange gebissen wird.“ Stacey: „Nein? Weißt du, was in mir vorgeht?! Weißt du, ob ich nicht (Angst habe)?“ Annegret: (unterbricht sie) „Dann sag’s mir doch!“ Stacey: (schreit und weint) „Das hab ich grad gesagt! Check es! (tippt sich an den Kopf) Mach dein Gehirn auf und lass es einfach rein fließen! (geht ein paar Schritte weiter weg, schweigt) …. Wenn du es nicht merkst, wenn ich einmal von Gefühlen rede und das ist genau der Grund, warum ich aufgehört habe, irgendwie über meine Gefühle zu reden. Weil man mich nicht ernst genommen hat! (Annegret fängt einzelne Silben an, die sie abbricht, als Stacey einfach weiterredet) Du bist genauso grad wie meine Eltern!“ 85 Annegret: (etwas ruhiger) „Es ist sehr schwer dich ernst zu nehmen, wenn du so redest, als ob es alles nur um Drama geht. (läuft auf Stacey zu) Und dass das nicht n ehrliches Gefühl ist. Wenn du einfach sagst ‚Ich hab halt Angst um meine Schwester’ dann ist das in Ordnung.“ Etwas später, Stacey hat letztendlich doch erzählt, warum sie Angst hat. Fröhliche Musik erklingt. Sprecher: „Endlich weiß die Cheftherapeutin was Stacey wirklich bewegt. Annegrets kleine Provokationen haben gewirkt. Wenn Stacey jetzt nicht ehrlich gewesen wäre, hätte sie ihre Eltern nicht sehen dürfen.“ Schon zu Beginn der Szene fragt Stacey, ob sie etwas erzählen muss. Die Therapeutin verneint zwar, betont aber, dass sie es sich eigentlich wünscht. Staceys Antwort ist für sie dann jedoch nicht zufriedenstellend und sie spricht sie abseits der Gruppe noch einmal darauf an. Sie unterstellt ihr „Drama gemacht zu haben“, also nicht ehrlich gewesen zu sein, was die Jugendliche verletzt, da sie sich nicht ernst genommen fühlt. Im darauffolgenden Streitgespräch verdeutlicht Stacey mehrmals, dass sie aufgrund schlechter Erfahrungen nicht gern über ihre Gefühle spricht. Statt pädagogisch taktvoll zu reagieren und Stacey frei entscheiden zu lassen, wann sie sich der Therapeutin und der Gruppe anvertraut, besteht Annegret Noble weiterhin darauf, dass sie ihr „nur mal was Ehrliches vom Herzen“ sagt. Mit den Worten „Du kennst meine Gefühle, du kennst meine Ängste? Du kennst nichts von mir, außer was du vielleicht von meinen Eltern hörst!““ stellt Stacey außerdem klar, dass für sie der pädagogische Bezug (noch) nicht stabil genug ist, um über heikle Gefühle zu sprechen. Annegret Noble geht leider nicht darauf ein und insistiert weiter auf völlige Offenheit. Der abschließende Kommentar des Sprechers „Annegrets kleine Provokationen haben gewirkt. Wenn Stacey jetzt nicht ehrlich gewesen wäre, hätte sie ihre Eltern nicht sehen dürfen.“, verdeutlicht das fehlende pädagogische Taktgefühl in dieser Szene noch einmal. Die Jugendlichen werden mit allen Mitteln dazu gebracht, ihre Gefühle preiszugeben, ansonsten folgen Sanktionen. Neben dem pädagogischen Takt ist auch ein allgemeines Taktgefühl angebracht. In der folgenden Szene zeigt sich Marlies Luepges – wenn auch erst auf den zweiten Blick – Dzeneta gegenüber taktvoll: 86 F1, 25:30 – 25:55, 26:22 – 26:36 Situation: Dzeneta soll sich komplett entkleiden, in die Hocke gehen, die Arme hochhalten und sich einmal um 360 Grad drehen. Man sieht abwechselnd Marlies, die vor einer Kammer steht und Dzeneta, in einer Nah-Einstellung, die sich in der Kammer befindet. Langsame Töne einer E-Gitarre und eines Schlagzeugs im Hintergrund . Marlies: „Und Dzeneta?“ Dzeneta: „Nein!“ Marlies: „Ich kann Dir sagen...“ Dzeneta: „Ich mach das nicht!“ Marlies: (schaut Dzeneta intensiv an und atmet schwer aus) „So leid es mir tut, du wirst es machen müssen.“ Dzeneta: „Ich werd's nicht machen.“ Marlies: „Entweder jetzt hier .. oder später, in einem weniger .. angenehmen Umfeld.“ Dzeneta: „Ich mach es nicht, nein. .. Das geht aber wirklich nicht, ich mein's ernst.“ Marlies: „Das wird schwierig, hm?“ Dzeneta: „Eh, es wird nicht, es wird einfach nicht gehen!“ Etwas später: Marlies: „Kannst du dir vorstellen, deinen, deinen BH auszuziehen, in, wenn du mir den Rücken zudrehst? Und den Neuen anzuziehen?“ Dzeneta: (grinst ein wenig) „Das ist hier echt .. psychisch krank.“ Marlies: (strahlt, als sie Dzeneta den neuen BH reicht) „Danke schön!“ Dzeneta: „Ihr seid voll krank, ich hasse euch, woa?“ Die Aufforderung, sich vor einer völlig fremden Frau komplett zu entkleiden und eine demütigende Pose einzunehmen ist ohne Frage sehr taktlos. Verständlicherweise weigert sich Dzeneta vehement gegen diese Anweisung. Mit den Worten „Das wird schwierig, hm?“ kommt Marlies ihr jedoch schon ein Stück entgegen. Sie erkennt, wie unangenehm die Situation ist und findet später sogar einen Kompromiss: Dzeneta soll ihren BH wechseln, darf der Betreuerin dabei aber den Rücken zukehren. Durch ihre 87 freundliche Art macht sie die Szene außerdem angenehmer und erträglicher für die Jugendliche und beweist somit Taktgefühl, was die Jugendliche mit Kooperation belohnt. Ein solch taktvolles Verhalten gelingt Betreuerin Marlies jedoch nicht immer, wie die folgende Szene beweist: F2, 23:48 – 26:15 Situation: Die Teenager haben Müll (zum Beispiel Teebeutel) an ihren Zeltplätzen zurück gelassen, Stacey die Plastikhülle eines Tampons. Marlies Luepges und die Jugendlichen, die im Kreis stehen und der Betreuerin zuhören, werden einzeln in der Einstellungsgröße „amerikanisch“ gezeigt. Zwischendurch sieht man eine Detailaufnahme des Mülls, den Frau Luepges aufgesammelt und vor den Teenagern auf den Boden gelegt hat. Marlies: „Es gibt auch noch weitere Sachen, die ich in Camps gefunden hab, die so abstoßend sind, dass ich nicht mitgebracht hab. Die Leute möchte ich jetzt gern auch, dass die jetzt dazu stehen. (…) Stacey, was ist in deinem Camp noch zurück geblieben? Stacey: „Ich weiß es nicht.“ Stacey gibt später zu, Grießbrei verschüttet zu haben. Marlies Luepges schickt sie zum Zeltplatz, um es wegzuputzen. Die Kamera in der Einstellung „subjektive Kamera“ verfolgt Stacey, als sie den Wüstenboden nach Müll absucht. Marlies steht im Hintergrund, die Arme in die Hüften gestemmt, und beobachtet die Jugendliche. Sprecher: Expeditionsleiterin Marlies weiß genau, dass Stacey sie wegen ihres Mülls angelogen hat. Sie will Stacey testen, ob sie ihr doch noch die Wahrheit sagt. Bei ihrem Zeltplatz angekommen fordert Marlies Stacey auf, die Stelle zu inspizieren. Stacey sucht immer wieder den Boden ab, bis sie die Tamponverpackung findet und aufhebt. Stacey: „Ah! Das meintest du, oder?“ Marlies: „Ja.“ Stacey: (ganz leise) „Gut. Tschuldigung. Hab ich nicht gesehen.“ Marlies: „Wenn du Tampon raus nimmst, den benutzt, dann muss der Abfall sofort in Abfall rein.“ Stacey: (noch leiser) „Ich hab’s nicht gesehen. Tschuldigung.“ 88 Marlies Luepges hält in strengem Ton einen Vortrag über die Natur. Staceys Gesicht wird bis zur „Detailansicht“ herangezoomt, sie hat Tränen in den Augen. Frau Luepges verlangt zuerst von Stacey vor der ganzen Gruppe zuzugeben, was für eine Art Müll sie bei ihrem Zeltplatz hat liegen lassen, wobei sie genau weiß, dass es sich um die Verpackung eines Tampons handelt. Gerade im Jugendalter stellt das eine außerordentlich peinliche Situation dar. Anstatt sie später, am Zeltplatz angekommen, einfach kurz darauf hinzuweisen, lässt Marlies sie immer wieder den Boden absuchen. Selbst als Stacey das Papierchen gefunden hat, es aufhebt und sich entschuldigt, kann die Expeditionsleiterin die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Sie spricht noch einmal vor der Kamera laut aus, dass es sich um Damenhygieneartikel handelt und hält einen Vortrag über die Natur. Stacey ist diese Situation so peinlich, dass sie zu weinen beginnt. Von Taktgefühl kann hier nicht die Rede sein, es scheint, als würde die Jugendliche vorsätzlich vorgeführt. Auch Andreas wird gedemütigt, als er Schnarchgeräusche imitieren soll (vgl. S. 36). Um zu beweisen, dass er im Schlafsack liegt, verlangt Marlies Luepges von ihm zu schnarchen, anschließend macht sie sich darüber lustig. Dieses Vorgehen ist dem Jugendlichen gegenüber respektlos und macht eine herzliche Beziehung zwischen Teenager und Betreuer schlichtweg unmöglich. Alles in allem gibt es also durchaus Situationen, in denen sich die Professionellen den Jugendlichen gegenüber freundlich, fürsorglich, hilfsbereit und anerkennend verhalten. Da die Teenager darauf meist ebenfalls mit Freundlichkeit reagieren, kommt es zu einer warmherzigen Atmosphäre, die aber leider manchmal durch die Kommentare des Sprechers relativiert wird. Ich befürchte jedoch, dass andere Situationen, nämlich solche, in denen die Betreuer kalt und auch handgreiflich mit den Jugendlichen umgehen, die herzlichen Beziehungsansätze ruinieren. Gerade das Verbot zu sprechen, harte Strafen und ein respektloses und demütigendes Verhalten wird die Jugendlichen davon abhalten, sich auf ein mögliches Beziehungsangebot einzulassen. Dass die Beziehungen zwischen den Jugendlichen und Erwachsenen durch ein enormes Misstrauen gekennzeichnet sind, verwundert daher nicht. Erschwerend kommt ein Mangel an Akzeptanz und Verständnis für die Heranwachsenden hinzu, ihre persönlichen Bedürfnisse werden entweder nicht gesehen oder zugunsten der Gruppe oder des vorgefertigten Programms ignoriert. Es geht also eben nicht um das Wohl des einzelnen Jugendlichen oder, um mit Nohl zu sprechen, ihn dabei zu unterstützen „zu seiner Form zu kommen“. 89 4.3.2 Die Beziehungen zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern: Elternarbeit Die Eltern sind für die in Institutionen lebenden Kinder wichtige subjektive Erlebnisbereiche, die berücksichtigt werden müssen, denn nicht nur die körperliche Anwesenheit der Eltern beeinflusst die Kinder, sondern auch ihr Elternbild in Vorstellungen und Phantasien. Kurz gesagt, die Eltern sind immer „anwesend“. Diese Tatsache auszublenden würde zum Scheitern der pädagogischen Bemühungen führen (vgl. Hansen 1999, 1023f.), denn „zahlreiche empirische Befunde belegen, dass die frühzeitige Mitwirkung der Eltern in Hilfe- und Betreuungsprozessen großen Anteil am Erfolg einer Jugendhilfemaßnahme haben“ (Schulze-Krüdener 2007, 99). Vor allem bei kurzzeitpädagogischen Maßnahmen, bei denen eine Rückführung von vorne herein fest steht, muss das Ziel der pädagogischen Arbeit die Refunktionalisierung des familialen Gesamtsystems sein. „Nur bei veränderten, neu organisierten Systembedingungen innerhalb der Familie, nur bei einer systematischen Vorbereitung der Rückführung bleiben dem Kind (und auch den Eltern) weitere Enttäuschungen im Zusammenleben erspart.“ (Hansen 1999, 1024). Die Elternarbeit ist daher sowohl ein unverzichtbarer Ansatz als auch ein Qualitätskriterium der stationären Hilfen zur Erziehung – wer Veränderungen erreichen will muss eben mit und nicht gegen die Eltern arbeiten (vgl. Homfeldt/Schulze-Krüdener 2007, 11). Diese sind dabei als gleichberechtigte Erziehungspartner zu sehen, die mit den Professionellen gemeinsam Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen tragen (vgl. ebd., 9). „Eine gleichwertige Begegnung zwischen Eltern und denjenigen, die Begleitung anbieten, ist ... eine erste Voraussetzung für die Erreichbarkeit (der Eltern, D.S.). Wenn Elternbildung davon ausgeht, dass es nur die Eltern sind, die etwas zu lernen haben und die Pädagogen als die Wissenden diese Lernangebote für Eltern konzipieren sollen, dann werden Eltern als Zielgruppe von Angeboten schnell zu Objekten herabgesetzt.“ (Tschöpe-Scheffler 2007, 26). Statt den Eltern Veränderungen einfach zu verordnen sollte man ihre Ressourcen erkennen und darauf aufbauen (vgl. ebd., 41). Für den Erfolg stationärer Maßnahmen ist es also unverzichtbar, dass die Arbeit vor Ort an den bisherigen Bewältigungsversuchen der Familien ansetzt und die Potenziale der Eltern und Kinder (bisherige Problembewältigungsstrategien, eigene Erziehungserfahrungen, Beobachtungen im Alltag) erkennt und wertschätzt (vgl. Homfeldt/Schulze-Krüdener 2007, 8). Eltern erleben die stationäre Unterbringung ihrer Kinder ohnehin oft als Entmündigung und Demütigung, sie empfinden häufig Selbstzweifel, Scham, Versagensgefühle und Ohnmacht (vgl. Schulze-Krüdener 2007, 102). Daher ist es umso wichtiger, auf 90 negative Zuschreibungen wie „faul“ oder „desinteressiert“, zu verzichten, denn diese werden zu Recht als Abwertung und Bedrohung erlebt, was zu einer Ablehnung des Angebots und der Kontakte führen kann. Der Fokus sollte auf jeden Fall auf der Gegenwart und der Zukunft liegen. Um die Gegenwart besser verstehen zu können, ist es zwar oft hilfreich, einen Blick auf die Biographie zu werfen, Fehleranalysen, Schuldzuschreibungen und Etikettierungen müssen allerdings unbedingt vermieden werden (vgl. Hofer 2007, 143). Doch was genau ist unter Elternarbeit zu verstehen? Definiert man sie nach Hamberger als „alle Kontakte zwischen Eltern, Erziehungsberechtigten, der Einrichtung und den Kindern, die sich entweder informell oder planmäßig ergeben und deren verbindendes Element ist, in Bezug auf den Hilfe- und Erziehungsprozess eine gemeinsame Vertrauensbasis und entsprechende Unterstützung, in manchen Fällen auch eine Mitarbeit der Eltern sicherzustellen und so einen für alle Beteiligten gelungenen Hilfeverlauf zu ermöglichen“ (zit.n. Hofer 2007, 136), so sind viele Formen und Methoden denkbar. Elternarbeit kann von einfachen Besuchen über Elterntrainings bis hin zu intensiver therapeutischer Arbeit reichen (vgl. Schulze-Krüdener 2007, 104). Die traditionellste Form ist die Kontaktpflege, zum Beispiel durch Besuche, Telefongespräche, oder Briefe. Außerdem werden mancherorts systematisch geplante, intensive Familiengespräche angeboten. Denkbar wären jedoch auch Aktivitäten mit mehreren Eltern zusammen, wie zum Beispiel Feste oder themenzentrierte Gesprächsrunden, denn der Austausch mit anderen Betroffenen und die Erweiterung des persönlichen Netzwerks sind für viele Erziehungsberechtigte hilfreich (vgl. Günder 2007, 78 ff.). Auf jeden Fall sollte Elternarbeit aber die folgenden Aspekte beinhalten: − Vermittlung des Gefühls von Willkommensein in der Einrichtung und Betonung der Wichtigkeit der Zusammenarbeit − Betonung der weiterhin gegebenen Verantwortung für die Kinder − Einbeziehung der Eltern in den Alltag und bei Erziehungsschwierigkeiten − Entlastung der Eltern von Schuldgefühlen − Alltag für die Eltern transparent machen (vgl. Conen 2007, 67f.) Beim manchen Kindern ist es allerdings aus verschiedenen Gründen einfach nicht möglich mit den Eltern zu arbeiten. Sei es, weil sie partout keinen Kontakt wollen, oder weil sowohl Jugendamt als auch Gericht aufgrund bestimmter Vorfälle jeglichen Kontakt zwischen Kind und Eltern ablehnen. In ihrem Konzept „Elternarbeit ohne 91 Eltern“ betont Conen (2007, 75f.) dass es trotzdem wichtig ist, mit den Kindern Gespräche über mögliche Erwartungen und Vorstellungen der Eltern zu führen, da ihnen dies eine innere Auseinandersetzung ermöglicht. „Heimkinder, die keine Kontakte zu ihren Eltern haben, benötigen dennoch die Auseinandersetzung mit ihnen, um die Vergangenheit zu bewältigen und um zu einer eigenen Identifikation zu gelangen“ (Günder 2007, 87). Im Folgenden möchte ich herausarbeiten, wie die Elternarbeit in der Serie dargestellt wird und ob sie den aufgeführten professionellen Standards entspricht. Analyse In vielen Szenen wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern angespannt und problematisch ist: F1, 12:39 – 12:47 Aufnahme von Vivien in der „Halbnahen“. Sie sitzt auf dem Fensterbrett in einem offenen Fenster, draußen sieht man die grünen Zweige eines Baumes und einen Teil des Nachbarhauses. Dann sieht man sie rauchend, ihr Gesicht in Großaufnahme. Einmal wackelt das Bild kurz, verzerrt sich und es ertönt ein Geräusch, das an einen Stromschlag erinnert. Schrille Klänge wie aus einem Horrorfilm. Vivien: „Die (Mutter, D.S.) interessiert sich gar nicht für mich. So kommts mir zumindest rüber und .... (leiser) kann man vergessen, ist sinnlos.“ F1, 42:44 - 42:51 Frau Sluiter-Mengels, Pascals Mutter, wird in Großaufnahme eingeblendet mit der Bildunterschrift “Heike Sluiter Menges. ‘Mein Son macht mich fertig!’”. Zwischendurch Aufnahmen von Pascal, der mit einem Freund zusammen eine Wasserpfeife raucht. Sehr leise, schaurige Klänge im Hintergrund. P.'s Mutter: „Also, ich hasse meinen Sohn .. manchmal extrem. Aber ich .., ich schäme mich auch dafür.“ 92 F3, 38:58 – 39:17 Dzeneta und Annegret Noble sitzen nebeneinander auf dem Wüstenboden und unterhalten sich. Die Kamera schwenkt während des Gesprächs zwischen ihnen hin und her. Im Hintergrund sieht man vertrocknete Pflanzen. Dzeneta: „Also ich glaub der kein Wort, wenn da jetzt irgendwie drin steht, dass sie mich vermisst.“ Annegret: „Warum nicht?“ Dzeneta: „Ich weiß nicht. Ich kann meiner Mutter nicht glauben. Sie hat mich immer belogen, mein ganzes Leben hat die mich schon belogen. Denkt auch ich bin dumm.“ Annegret: „Glaubst du denn, dass sie dich lieb hat?“ Dzeneta: „Vielleicht mag sie mich so als Menschen, aber nicht als Tochter. Also ich glaub nich, ne.“ Schon in diesen drei beispielhaft ausgewählten Szenen zeigen sich viele mögliche Ansatzpunkte für die Arbeit mit Eltern und Kinder. Außerdem werden häufig Szenen aus dem Familienalltag gezeigt, in denen sich die Familienmitglieder heftig streiten. Damit sich die Beziehung zwischen ihnen nachhaltig, das heißt auch längere Zeit nach dem Auslandsprojekt, verbessern kann, ist eine intensive Elternarbeit unabdingbar. Im Therapiekonzept des Auslandsprojekts sind daher Kontakte mit den Familien der Teenager trotz der großen Distanz zwischen den USA und Deutschland ausdrücklich vorgesehen: F3, 5:45 – 5:55 Kameraschwenk über die Wüstenlandschaft bis die Teenager, in einer Reihe wandernd, herangezoomt werden. Zwischendurch sieht man eine „Nahaufnahme“ von Annegret Noble. Sprecher: „Kurz nach der Trennung von Dzeneta verlässt auch Therapeutin Annegret die Gruppe. Sie will mit den Eltern der Jugendlichen Kontakt aufnehmen. Die Elterntelefonate sind ein fester Bestandteil des Programms.“ 93 Auch Annegret Noble und ihre Kollegen scheinen die Notwendigkeit der Elternarbeit zu erkennen: F5, 5:50 – 6:21 Situation: Vivien darf ihre Eltern bei den anstehenden Elternbesuchen nicht sehen, da sie sich während des „Solos“ von ihrem Zeltplatz entfernt hat. Die Jugendliche wird in Nahaufnahme gezeigt. Sie sitzt bei sehr windigem und regnerischem Wetter im Eingangsbereich ihres Zelts und weint. Ihr Gesicht ist rot, ihre Augen sind dick und aufgequollen. Zwischenzeitlich sieht man Marlies Luepges und Annegret Noble, die vor dem Zelt hocken und mit der Jugendlichen sprechen. Langsame und traurige Klaviermusik im Hintergrund. Marlies: (strenger Tonfall) „Es wird allenfalls die Möglichkeit für dich geben, später ... ein solches Gespräch nachzuholen. Das kommt aber sehr, sehr stark auf dein Verhalten drauf an.“ (Vivien nickt schüchtern) Annegret: „Du hast wirklich viel, das du mit deiner Familie bearbeiten musst und wir wollen, dass das passiert. Wir wollen auch, dass das möglichst bald passiert. Das ist für uns ne, ne Gelegenheit mit dir und deiner Familie zu arbeiten und wir wollen die auf jeden Fall wahrnehmen. Aber, wir müssen jetzt ..... (schüttelt den Kopf) uns auf dich verlassen, dass du das, dass du das kannst.“ Leider ist dies die einzige Szene, die zeigt, dass die Mitarbeiter die Elternarbeit für notwendig und unverzichtbar halten. Viel häufiger hingegen werden die Besuche der Eltern und die gemeinsame Arbeit als Privileg für die Teenager dargestellt, das sie sich erarbeiten müssen und das als Druckmittel benutzt wird, um die Jugendlichen dazu zu bewegen, bestimmte Aufgaben zu erledigen oder sich an die Anweisungen der Betreuer zu halten. F4, 25:26 – 25:33 Verschiedene Aufnahmen der kargen, staubigen Wüstenlandschaft. Ein Kasten mit den Worten „20. Tag“ wird eingeblendet. Langsame Gitarrenmusik. 94 Sprecher: „Die Jugendlichen müssen ihre schriftlichen Aufgaben erledigt haben, sonst dürfen sie ihre Eltern bei den anstehenden Zwischenbesuchen nicht sehen.“ F5, 4:49 – 5:19 Situation: Kurts Vater kann wegen einer Knieverletzung nicht zu den Elternbesuchen kommen. Laut des Sprechers hätte Annegret Noble den Besuch jedoch ohnehin nicht erlaubt, da sich „Kurt bisher auf das Programm nicht eingelassen hat“ (F4, 44:18). Kurt sitzt weinend im Halbdunkeln im Eingangsbereich seines Zelts. Annegret Noble hockt davor. Leise Rockmusik im Hintergrund. Annegret: „Die nächsten paar Tage möchten wir, .... dass du dich noch mal ganz auf dich konzentrierst und wenn du da mitmachst, dann hast du ne Chance, dir ein Telefonat mit deinem Vater zu verdienen. Also es kommt jetzt so n bisschen drauf, drauf an, wie du da mitziehst. Wir wollen, wollen dir wirklich die Gelegenheit geben, das ist jetzt furchtbar schwer für dich ... dass du noch n bisschen extra Zeit mit den Betreuern verbringen kannst, zum Nachdenken, zum traurig sein. “ F5, 6:22 – 6:30 Vivien wird in der Einstellung „Nah“ gezeigt, während sie in ihrem Zelt auf dem Boden sitzt und ihre Tränen mit einem Papiertuch abwischt. Zeitgleich stehen Frau Noble und Frau Luepges auf und geht davon. Ruhige Gitarren- und Schlagzeugtöne. Sprecher: „Vivien bekommt eine Bewährungsfrist. Wenn sie die nächsten Tage keine Regeln bricht, darf sie ihre Mutter sehen, weil sie nach ihrem Fehler einsichtig war.“ F4, 42:42 - 42:47 Viele verschiedene und kurze Aufnahmen der Jugendlichen beim Wandern. Ziemlich laute, fröhliche Musik. 95 Sprecher: „Wer sich nicht völlig öffnet, dessen Eltern können auch in letzter Minute wieder ausgeladen werden.“ Viele weitere Szenen dieser Art ließen sich in den ersten fünf Folgen finden. Dadurch, dass sie die Treffen mit den Eltern von Bedingungen abhängig machen, verpassen die Mitarbeiten teilweise die Gelegenheit, an der familiären Situation der Teenager zu arbeiten - der Hälfte der Teilnehmer wird der Besuch letztendlich untersagt, obwohl die Arbeit mit den Eltern zu einem der unverzichtbaren Standards der stationären Unterbringung gehört und der Erfolg der Maßnahme davon abhängig sein kann. Die folgenden Zitate zeigen, dass eine Elternarbeit nicht an den Eltern scheitert. Sie wären bereit, etwas zu verändern, da sie ihre Kinder lieben und das Beste für sie wollen. F1, 8:59 – 9:08 Großaufnahme von Andreas’ Mutter am Flughafen. Im Hintergrund laufen Passanten an ihr vorbei. Einblende: „Evi Eckert. Mutter von Andreas”. Nach einer „Detail”-Aufnahme des “Departure”-Schilds sieht man Andreas davongehen und seine Eltern ihm nachwinken. A.'s Mutter: „Wir hatten keinen Zugang mehr in den letzten Jahren und ham auch vieles versucht und dass ist jetzt noch mal ne Chance, dass er da durch den Abstand und die intensive Therapie für sich neue Wege entdeckt.“ F1, 7:49 - 7: 58 Situation: Kevins Eltern verabschieden ihren Sohn am Flughafen. Detailaufnahme von Kevin und seiner Mutter, die ihn weinend in den Arm nimmt und an sich drückt. Sehr leise Rockmusik im Hintergrund. K.’s Mutter: „Wir haben Dich lieb, ne? Denk dran. (schnieft) Wir machen dat net, um dir weh zu tun, ne? Net vergessen, ja? (küsst Kevin) Du schaffst dat, ja?“ 96 F1, 46:25 – 46:44 Kurt steht mit verschränkten Armen vor dem Haus seiner Eltern. Die Kamera zoomt heran, bis er in der Einstellung “Amerikanisch” zu sehen ist. Im Anschluss daran wird er gezeigt, als er, wahrscheinlich in seinem Zimmer auf dem Bett sitzend, mehrere an der Wand hängende Schusswaffen abnimmt und in seinen Rucksack steckt. Rechts im Bild erscheint ein Kasten mit Kurts Vater, der, ebenfalls die Arme verschränkt, ein Interview gibt. K.'s Vater: „Wir lieben unseren Sohn, da gibt’s überhaupt kene Frage und wir .. wollen ihn daraus haben, aus diesem Sumpf. Das hat er nicht verdient und das soll nicht sein. Sämtliche Schulpsychologen, oder, oder Jugendämter, äh, vorher, (schüttelt den Kopf) null Hilfe. Es hilft dir ja keiner. “ In diesen Szenen zeigt sich deutlich, dass eine emotionale Basis besteht. Die Eltern betonen, dass sie ihre Kinder lieben, dass sie sich Sorgen machen und Hilfe für sie suchen. Kurts Vater und Andreas’ Mutter erwähnen sogar, dass sie schon einiges versucht haben, um ihrem Nachwuchs zu helfen, bisher jedoch leider ohne Erfolg. An den nach wie vor starken Gefühlen für die Kinder und dem Wunsch nach Veränderung ließe sich hervorragend ansetzen, um die Eltern auf die Notwendigkeit ihrer Mitarbeit aufmerksam zu machen und sie mit einzubeziehen. Doch wird diese Chance von den Professionellen genutzt? Geben sie den Eltern die Möglichkeit, auch während des stationären Aufenthalts ihrer Kinder weiterhin Verantwortung zu übernehmen? F1, 2:45 – 2:55 Aus mehreren Perspektiven Aufnahmen der Teenager, in der Wüste in einer Reihe stehend. Sie tragen dabei ihre Einheitskleidung (einfarbige, meist neonfarbene T-Shirts, blaue Shorts und beige Sonnenhüte). Zwischenzeitlich sieht man eine Detail-Aufnahme von Annegret Nobles Gesicht. Im Hintergrund ertönt sehr harte Rockmusik. Sprecher: „Annegret Noble und ihre Crew stehen vor der großen Herausforderung, aus diesen deutschen Teenagern wieder Töchter und Söhne zu machen, vor denen sich ihre Eltern nicht mehr fürchten müssen.” 97 F5, 13:44 – 13:50 Detailaufnahme der Hände zweier Mütter: Staceys Mutter streichelt aufgeregt die Hand von Kevins Mutter. Dann schwenkt die Kamera hoch, so dass man die beiden Mütter und einen weiteren Vater in der Einstellung „Nah“ sieht. Sie stehen in einer Reihe und schauen nervös in eine Richtung. Im Anschluss daran zeigt die Kamera im Vordergrund, also scharf, den Draht von einem Stacheldrahtzaun, im Hintergrund erscheinen die Kinder unscharf am Horizont. Traurige Klaviermusik. Sprecher: „Nach drei Wochen gibt es endlich ein Wiedersehen. Die Eltern wissen nicht, ob sich ihre Kinder wirklich geändert haben. Diese kurzen Szenen beweisen eindrucksvoll, dass die Eltern während des Programms nicht an der Erziehung ihrer Kinder beteiligt werden. Schon die Formulierung, dass die Mitarbeiter des Programms aus den Kindern „wieder Töchter und Söhne … machen ...“ sollen, zeigt, dass die Eltern nichts anderes zu tun haben, als ihre Kinder abzugeben und sie hinterher „verändert und verbessert“ wieder im Empfang zu nehmen.. Auch der Satz „Die Eltern wissen nicht, ob sich ihre Kinder wirklich geändert haben“ macht deutlich, dass ihnen jede Verantwortung genommen wird - sie werden augenscheinlich nicht einmal über den Verlauf des Programms informiert. (Abgesehen davon ist es ziemlich unrealistisch, zu erwarten, dass sich die Kinder nach drei Wochen in der Wüste „wirklich geändert“ haben.) Auch Dzenetas Mutter beklagt in einer Szene, dass sie nicht erfährt, wie es ihrer Tochter geht und Kevins Mutter fragt sich in einer anderen weinend, ob ihr Sohn sie wohl vermisst oder böse auf sie ist. Von einer Transparenz des Alltags und des Programms kann also keine Rede sein – und ohne Transparenz ist natürlich auch keine Mitarbeit und Mitverantwortung der Eltern möglich. F5, 16:04 – 16:15 Annegret Noble, Kris Schock, Pascal und seine Eltern sitzen in einem Raum auf Stühlen im Halbkreis während Frau Noble etwas zu erklären scheint – sie bewegt die Lippen und gestikuliert. Pascal befindet sich dabei seinen Eltern gegenüber, im Hintergrund erkennt man die anderen Familien. Außerdem werden nacheinander „Detailaufnahmen“ von Annegrets und Pascals Gesicht, sowie eine „Halbnah“-Aufnahme der Eltern eingeblendet. Leise Rockmusik im Hintergrund. 98 Sprecher: „Die Elterntreffen haben eine feste Struktur. Die Teenager müssen in den so genannten Offenbarungen ihre schlimmsten Taten gestehen. Ihre Eltern sollen ruhig und ohne Kommentare zuhören.“ Selbst während ihres Besuchs in den USA sollen die Eltern „ruhig und ohne Kommentare zuhören“. Das kommentarlose Zuhören kann natürlich als Kommunikationsregel sinnvoll sein, dass jedoch keine Situation gezeigt wird, in der die Eltern nach ihrer Meinung gefragt oder an einer Entscheidung beteiligt werden (abgesehen von den Elternbriefen, in denen sie ihren Kindern sagen sollen, was diese falsch gemacht haben), stellt sie sehr passiv dar. Alles in allem scheint die Elternarbeit bei „Teenager außer Kontrolle“ ohnehin eher Arbeit für die Jugendlichen zu sein. Es finden sich immer wieder Szenen, die zeigen, dass es die Heranwachsenden sind, die sich sowohl auf die Kontakte vorbereiten müssen, als auch während der Besuche Aufgaben zu erledigen haben: F4, 25:38 – 25:53 Links im Bild eine Nahaufnahme von Annegret Noble beim Interview. Rechts sieht man sie, umgeben von einigen anderen Betreuern, unter einem Pavillon stehend handgeschriebene Seiten lesen. Ruhige, traurige Gitarrenklänge. Annegret: „Die Jugendlichen hatten viele Schreibaufgaben, vor allen Dingen, sich auf das Familientreffen vorzubereiten, ähm, Gefühle und Erlebnisse, Erinnerungen aufzuarbeiten.“ F4, 34:24 - 34.32, 35:06 – 35.19 Situation: In einem Gesprächskreis sollen die Teenager etwas sehr Persönliches von sich erzählen, etwas, was die anderen der Gruppe noch nicht wissen. Pascal fängt einen Satz an, bricht aber in Tränen aus. Die Kamera filmt Pascal, der etwas abseits der Gruppe steht und den Kopf hängen lässt, aus mehreren Perspektiven. Langsame Gitarrenmusik im Hintergrund. 99 Sprecher: „Noch fällt es Pascal schwer, offen über seine Probleme zu reden. Bei den Elternbesuchen wird es aber eine seiner Aufgaben sein, genau das zu tun.“ Etwas später: Verschiedene Nahaufnahmen der weinenden Jugendlichen. Weiterhin langsame Gitarrenmusik im Hintergrund. Sprecher: „Die anderen Jugendlichen haben große Probleme damit, der Gruppe ihre Sorgen anzuvertrauen. Dennoch lässt Annegret Noble nicht locker. Denn wenn die Teenager nicht ehrlich sein können, machen die Besuche der Eltern keinen Sinn.“ Die Familientreffen dienen also offensichtlich nicht dazu, die Eltern bei Erziehungsfragen zu unterstützen oder ihre Ressourcen zu entdecken, vielmehr sollen die Teenager an sich arbeiten, um ihren Eltern bei den Besuchen die „Ergebnisse“ als Beweis ihrer Veränderung vorführen zu können. Besonders der Satz „denn wenn die Teenager nicht ehrlich sein können, machen die Besuche der Eltern keinen Sinn“ zeigt, dass es einzig und allein darum geht, den Eltern die Geständnisse ihrer Kinder vorzuführen. Dass ein Elternbesuch auch ohne solche Offenbarungen sehr sinnvoll ist, da es viele andere Möglichkeiten der Elternarbeit gibt, wird überhaupt nicht in Betracht gezogen. Die Jugendlichen sind also die Aktiven, die sich –durch die Arbeit der Betreuer – verändern, die Eltern hingegen die Passiven, die diese Veränderung begutachten und feststellen sollen. Diese passive Elternrolle vermittelt den Beteiligten unterschwellig zweierlei: Erstens, dass die Teenager „Schuld“ sind an der schwierigen familialen Situation und zweitens, dass die Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen oder zumindest bei der Erziehung mitzuwirken. Für beides lassen sich viele weitere Szenen finden. Ich beginne mit Ausschnitten, die zeigen, dass den Eltern keine Wertschätzung entgegengebracht und keine Kompetenz zugesprochen wird: F1, 0:39 – 0:44 Verschiedene Aufnahmen, meist aus der Vogelperspektive, einer kargen Wüstenlandschaft mit der Kameraeinstellung „Weit”. Außerdem ein Sonnenaufgang im Zeitraffer. Viele Schnitte, also häufiger Wechsel von Einstellungen mit kurzer Dauer. Im Hintergrund aggressiv wirkende Gitarren-Musik. 100 Sprecher: „Der letzte Ausweg für die ratlosen Eltern liegt tief im Wilden Westen der USA.” F4, 0:30 – 0:34 Erneut die Aufnahme des Sonnenaufgangs im Zeitraffer und verschiedene Bilder der Wüstenlandschaft. Auch hier viele Schnitte, also häufiger Wechsel von Einstellungen mit kurzer Dauer. Im Hintergrund aggressiv wirkende Gitarren-Musik. Sprecher: „Der Wilde Westen der USA ist die letzte Hoffnung für die überforderten Familien.“ Diese beiden sehr ähnlichen Ausschnitte verdeutlichen das vermittelte Elternbild: Sie sind „ratlos“ und „überfordert“, ihnen muss also von den Professionellen geholfen werden. Da keine weiteren Adjektive, wie beispielsweise „besorgt“, „entschlossen“, oder „liebend“ verwendet werden, erhalten die Erziehungsberechtigten ein negatives Image. F1: 11:00 – 11:06 Situation: Vor dem Programm, kurz vor dem Abflug in die USA, weigert sich Vivien einzuchecken. Aufnahme von Vivien in der Einstellung „Amerikanisch“ am Frankfurter Flughafen. Sie wird von hinten gefilmt während sie mit ihrem Handy telefoniert. Nach einem Schnitt sieht man sie den Terminal verlassen. Sehr laute und aggressive Gitarrenmusik. Sprecher: „Viviens Mutter scheint – wie immer – machtlos zu sein. Auch zuhause hat Vivien immer nur das getan, was sie wollte.“ Noch deutlicher wird das vermittelte Image durch dieses Zitat. Die Verallgemeinerung „wie immer“ impliziert, dass Viviens Mutter bei der Erziehung ihrer Tochter eigentlich nutzlos ist. Sie schafft es angeblich nie, ihrer Mutterrolle nachzukommen und Vivien Grenzen zu setzten. Leider wird es auch nicht erwähnt, oder gar positiv anerkannt, als man in einer Szene eindeutig erkennt, dass eine der Mütter sehr wohl in der Lage ist, 101 Grenzen und Regeln aufzustellen und diese auch durchzusetzen: F1, 32:29- 32:42, 32:56 – 33:07 Aufnahmen mit der „Elternkamera”. Man sieht in verwackelten Bildern, wie Andreas’ Mutter mit einer Flasche in der Hand, gefolgt von ihrem Sohn, die Küche betritt. Dann „Kampfaufnahmen“ vor dem Spülbecken: Andreas’ Mutter schüttet den Inhalt der Flasche in den Ausguss während Andreas versucht, sie davon abzuhalten. A.'s Mutter: „Das glaub ich nicht. Immer hier...“ Andreas: (brüllt) „Verpiss dich!“ A.'s Mutter: „So lange du...“ Andreas: „Verpiss dich!“ A.'s Mutter: „...in diesem Haus wohnst, Andreas, wirst du kein Alkohol hier...“ Andreas: „So eine behinderte Schlampe, Mama, ne?!“ A.'s Mutter: „Hör auf...“ Etwas Später: Andreas: „Bist du behindert im Kopf oder was, du Fotze?“ A.'s Mutter: „So lange du hier...“ Andreas: „Verpiss dich!“ A.'s Mutter: „Gleich ist es alle, da kannst du gucken! (Als die Flasche leer ist:) So, jetzt kannst du die Flasche mitnehmen.“ Andreas: „Verpiss dich! (nimmt die Flasche und verlässt wütend die Küche) Schlampe, Alter!“ Obwohl es Andreas’ Mutter gelingt, ihren Sohn vom Alkohol trinken in der elterlichen Wohnung abzuhalten, wird dies in keinster Weise positiv erwähnt. Stattdessen soll diese Szene belegen, dass es bei Andreas zuhause “drunter und drüber” geht. Der Ausschnitt wird nämlich gezeigt, nachdem Andreas’ Mutter sich beklagt, nicht mehr auf ihren Sohn einwirken zu können. Statt an den Ressourcen anzusetzen und der Mutter zu vermitteln, dass sie es sehr wohl noch schafft, ihrem Sohn Grenzen zu setzen – und er diese letztendlich auch, trotz seiner Beschimpfungen, akzeptiert – wird überhaupt nicht darauf eingegangen. Auch sonst habe ich leider keine einzige Szene gefunden, in denen an den Ressourcen der Familien angesetzt wird. Im Gegenteil: 102 F5, 9:45 – 5:52 Aufnahme des Vollmonds bei Nacht, im unteren Drittel des Bildes erkennt man die Umrisse dreier Bäume. Im Anschluss daran sieht man einen Sonnenaufgang und die Einblende „22. Tag“. Sprecher: „In den Tagen vor den Elternbesuchen sollten die Jugendlichen ihre schlimmsten Taten aufschreiben, um sie dann ihren Eltern zu gestehen.“ Der Fokus liegt also nicht auf der Zukunft, indem man an neuen, gemeinsamen Wegen arbeitet, sondern auf der Vergangenheit. Alte Geschichten werden besprochen, die Kinder müssen ihren Eltern ihre „schlimmsten Taten“ gestehen. Diese Praxis finde ich äußerst fragwürdig – Davids Vater formuliert nach Davids „Offenbarung“ sehr treffend: „Ich bin eigentlich froh, dass unsere Mutter heut nicht hier ist. (…) Hätte ihr wahrscheinlich heute das Herz gebrochen.“ (F5, 23:54 - 24:04). Der Problemfokus kann also dazu führen, dass sich Eltern und Kinder noch weiter voneinander entfernen. Auch die Darstellung der Familien ist alles andere als ressourcenorientiert: F1, 5:08 – 5:15 Kevins Eltern stehen links im Bild vor ihrem Haus. Im ersten Stock des Mehrfamilienhauses sitzt Kevin im Fenster und lässt die Beine heraushängen. Man empfindet man die Distanz zwischen Eltern und Sohn als sehr groß. K.’s Vater: „Ich heiße Wolfgang Obladen, das ist meine Frau Monika, und oben dat ist unser kleiner Herr Gangster, Kevin.“ Da fast alle Familien nach diesem Schema vorgestellt werden (die Eltern zusammen, das Kind mit großem Abstand in einer anderen Ecke des Bildes), kann man davon ausgehen, dass die Anordnung absichtlich arrangiert wurde. Damit wird impliziert, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern kaputt sind, dass es keine gemeinsame Basis gibt. Ressourcenorientierung würde hingegen bedeuten, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, oder Dinge herauszuarbeiten, die in den Familien gut funktionieren. Auch in vielen weiteren Szenen werden die Beziehungen negativ dargestellt, der Fokus liegt auf den Problemen und nicht auf den Potenzialen der Familien. Beispielhaft seien hier die folgenden zwei Situationen angeführt: 103 F1, 15:26 - 15:32 Situation: Vivien hatte sich geweigert, mit in die USA zu fliegen. Sie wird in der „Totalen” gezeigt, als sie mit einer Tasche bepackt zurück zum Terminal kommt. Töne einer E-Gitarre im Hintergrund. Sprecher: „Vivien kehrt zurück. Sie fährt lieber in die USA als mit ihrer Mutter zurück ins verhasste Zuhause.“ F1, 10:17 – 10:21 Detailaufnahme von Staceys kleiner Schwester, die beim Abschied am Flughafen weint. Sprecher: „Stacey waren ihre Eltern und Geschwister immer egal.“ In der ersten Szene sieht man, dass die Beziehungen zwischen den Beteiligten möglichst negativ dargestellt werden. Der Grund für Viviens Rückkehr könnte ein ganz anderer sein, beispielsweise der Wunsch, doch etwas zu verändern, die Sorge um die eigene Zukunft, oder die Überlegung, ihrer Mutter einen Gefallen tun zu wollen. Statt diese Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen wird einfach behauptet, sie wolle bloß nicht „zurück ins verhasste Zuhause“. Besonders beim zweiten Ausschnitt handelt es sich nicht nur um Schwarzmalerei, sondern schlichtweg um eine falsche Darstellung der Umstände, um dem Zuschauer eine möglichst aussichtslose Familiensituation vorzuspielen. Erstens sind keinem Kind die „Eltern und Geschwister immer egal“ und zweitens betont besonders Stacey in allen Folgen immer wieder, wie wichtig ihr ihre kleine Schwester ist und wie sehr sie unter der kühlen Beziehung zu ihrer Mutter leidet. Ihre Familie ist ihr also alles andere als egal. Von Ressourcenorientierung kann keine Rede sein. Der zweite zuvor angesprochene Punkt ist das Schuldgefühl, das den Teenagern durch die Elternarbeit vermittelt wird. Annegret Noble hat die Eltern gebeten, den Teenagern in Briefen ihre Gefühle mitzuteilen. Das führt in den meisten Fällen dazu, dass sie schreiben, wie schlecht es ihnen momentan geht und sie die Kinder dafür verantwortlich machen. Augenscheinlich war das genau so von der Therapeutin angedacht: 104 F3, 15:07 – 15:27 Kevin wird beim Wandern aus der Froschperspektive gefilmt. Anschließend sieht man Frau Noble in der „amerikanischen” Einstellung – sie steht allein in der kargen Landschaft und blickt den Teenagern entgegen, die mit ihrer Wanderausrüstung ankommen und sich dann im Halbkreis aufstellen. Während ihres Interviews sieht man sie in „Nah-“ Aufnahme Mysteriös wirkende einzelne Töne im Hintergrund. Sprecher: „Therapeutin Annegret Noble ist zurück in der Wüste. Sie hat Nachrichten aus Deutschland. Die Eltern der Teenager haben Briefe geschickt.“ Annegret: „Diese Briefe werden den Jugendlichen hoffentlich helfen zu verstehen, warum sie hier sind, woran sie arbeiten müssen und was sie ändern müssen, um zu hause, mit ihren Familien, zusammen zu leben.“ F3, 20:50 – 21:00 Links im Bild befindet sich ein Feld mit Annegret Noble. Sie steht in der Wüstenlandschaft und gibt ein Interview. In einem kleineren Feld auf der rechten Bildschirmhälfte sieht man sie mit verschiedenen Teenagern und einem Brief in der Hand vor den Zelten sitzen. Zum Schluss vergrößert sich der linke Kasten zum Vollbild. Einblende: „Annegret Noble. Cheftherapeutin“. Man hört eine traurige Geigenmelodie. Annegret: „Für die meisten der Jugendlichen wird es schon ne sehr emotionale Erfahrung sein, von zuhause zu hören und auch wirklich noch mal dran erinnert zu werden, warum sie hier sind.“ Den Jugendlichen wird also vermittelt, dass sie allein Schuld sind, an der familialen Situation, dass sie sich ändern müssen, um „zuhause, mit ihren Familien, zusammen … leben“ zu dürfen. Das Projekt wird nicht als Hilfe für die Kinder gesehen, sondern als Strafe dafür, wie sie sich in ihrem bisherigen Leben verhalten haben. Das wird besonders durch den Satz „und auch wirklich nochmal dran erinnert zu werden, warum sie hier sind” deutlich. 105 F3, 17:40 – 18:18 Situation: Annegret hat Pascal aus dem Brief seiner Eltern vorgelesen. Die beiden werden aus der Froschperspektive, auf dem Boden vor Pascals Zelt sitzend, gefilmt. Frau Noble hält den Brief auf dem Schoß, der Jugendliche weint und hat den Kopf gesenkt, so dass man nur noch seinen Hut sehen kann. Traurige Klaviermusik. Annegret: „Was passiert grad in dir?“ Pascal: „Ach, ich bin traurig. ..... (schnieft) Dass ich meiner Mom weh getan hab.“ Annegret: „Ich hab gehört, dass, dass sie sich sehr, sehr wünscht, dass sich zu hause bei euch was verändert. Was denkst denn, was du tun musst, damit das zu hause auch klappt?“ Pascal: „Ja, einfach ruhig bleiben, wenn die mich aufregen.“ Annegret: „Kannst du das schon?“ Pascal: „Ja, n bisschen. ... Hier kann ich ja nur den Anfang lernen, und dat Rest muss ich ja dann zu hause weiter lernen.“ Annegret: „Stimmt, hast total recht.“ Pascal: „Ja, ich weiß, dass ich meiner Mom seelisch weh getan hab und so.“ Selbst im direkten Gespräch mit Pascal vermittelt Frau Noble ihm, dass es seine Aufgabe sei, etwas zu tun, „damit es zu hause auch klappt”. Statt zu fragen „was müsste sich denn zu hause ändern, damit es besser klappt und was könnte jeder von euch dazu beitragen?“, wird er allein für das Gelingen verantwortlich gemacht. Am Rande sei angemerkt, dass ich die „Bewältigung“ der Schwierigkeiten, die ihm offensichtlich während des Programms beigebracht wurde, für äußerst zweifelhaft halte: „Einfach ruhig bleiben, wenn die mich aufregen“ heißt meines Erachtens nur, nichts an der familialen Situation und den Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern zu ändern, sondern die Probleme herunterzuschlucken. Pascals „Aufregen“ könnte ein Ausdruck von Spannungen innerhalb der Familie oder seines weiteren Umfelds sein – diese Wut einfach „in sich hinein zu fressen“ und in sich aufzustauen führt meiner Meinung nach nur noch zu größeren Problemen. Frau Nobles Frage „Kannst Du das schon?“ zeigt jedoch, dass sie diese „Lösung“ für akzeptabel und richtig hält. 106 Auch die Eltern selbst scheinen der Meinung zu sein, dass nur die Jugendlichen an sich arbeiten müssen. Stellvertretend für fast alle Elternbriefe, die sehr ähnlich sind, habe ich folgende beiden Szenen ausgewählt. F3, 16:42 – 17:10 Situation: Die Eltern haben ihren Kindern Briefe geschrieben. Nahaufnahme von Pascal. Er sitzt weinend mit angezogenen Beinen auf dem Boden, den Sonnenhut tief herunter gezogen und das Gesicht hinter den Armen vergraben, die auf seine Beine aufgestützt sind. Die Kamera zoomt noch etwas näher heran bis zur Einstellungsgröße „Detail“. Anschließend sieht man ihn und Annegret Noble in der „Halbtotalen“ auf dem Boden vor Pascals Zelt sitzen. Frau Noble, die man zwischenzeitlich auch in „Nahaufnahme“ sieht, liest aus dem Brief vor. Eine traurige und langsame Klaviermelodie im Hintergrund. Annegret: (liest aus dem Brief von Pascals Mutter vor) „Wenn du dich nicht änderst, dann muss ich dir sagen, dass du gehen musst. Ich kann es nicht mehr sehen, dass du fast alle terrorisierst und mich nervlich fertig machst. Ich habe momentan Wut auf dich, weil du dir nicht helfen lässt. Es tut sehr weh, so etwas zu sagen, aber ich muss es dir sagen, vielleicht änderst du dich ja. Das hoffe ich so sehr. Wenn du dich nicht änderst, dann muss ich dir sagen, dass du hier gehen musst.“ (Pascal steht weinend auf und geht hinter sein Zelt) F3, 21:45 – 21:54 Nahaufnahme von Kurt, der vor seinem Zelt sitzt und sich, während er Kris zuhört, immer wieder die Augen reibt. Zwischenzeitlich eine Detailaufnahme vom Brief seiner Eltern. Im Hintergrund hört man dramatische Geigenmusik. Kris: (liest aus dem Brief von Kurts Vater vor) „Jetzt werde ich mich wieder auf mein Leben mit Anke konzentrieren. Denn du bist dabei, unsere Familie und das Familienleben zu zerstören.“ 107 Diese Einstellung der Eltern ist an sich wohl nicht ungewöhnlich. Es wäre jedoch Aufgabe der Betreuer und sinnvoller Inhalt der Elternarbeit, ihnen zu vermitteln, dass es nicht um Schuldfragen, sondern um neue Wege für die Zukunft der Familien geht. Dieser Schritt bleibt jedoch aus, die Briefe der Eltern und die darin enthaltenen Vorwürfe bleiben unkommentiert. So verwundert es nicht, dass die Teenager diese Sichtweise verinnerlichen und bald selbst der Meinung sind, für alles verantwortlich zu sein und nur für ihre Eltern an dem Programm teilzunehmen: F3, 27:38 – 27:47 Kevin sitzt bei Sonnenuntergang im Eingangsbereich seines Zelts und liest den Brief seiner Eltern. Bei einer Nahaufnahme seines Gesichts erscheint ein roter Kasten mit den Worten „Kevin, 15 Jahre. Gang-Mitglied.“ Langsame, fast traurige Popmusik im Hintergrund. Kevin: „Ja, ich hab Schuldgefühle in mir von meinen Eltern. (schnieft, wischt sich die Nase ab) Dass mir das alles Leid tut, was ich gemacht hab, dass ich das denen angetan hab.“ F2, 22:12 – 22:30 Nahaufnahme von Stacey, im Hintergrund erkennt man die karge Landschaft. Einblende: „Stacey, 17 Jahre. Schulabbrecherin“. Anschließend sieht man sie aus der Froschperspektive, mit ihrem Rucksack und dem Wanderstock bepackt. Eine sehr leise, ruhige Melodie spielt im Hintergrund. Stacey: „Ich bin traurig, weil ik zu meiner Mutter möchte und deswegen mach ich eigentlich das auch hier (wischt sich eine Träne weg). Und deswegen geb ich mir auch so viel Mühe und deswegen hab ich auch eigentlich die ganze Kraft. Weil ich hoffe, dass wenn ich hier gut arbeite, und dass meine Mutter es dann hört, dass ich dann gleich mit darf, wenn sie mich besuchen kommt.“ Viele weitere Szenen dieser Art habe ich in den Folgen gefunden. Durch die Schuldzuschreibungen fühlen sich die Jugendlichen verantwortlich und sind traurig darüber, was sie ihren Eltern „angetan” haben. Das führt letztendlich dazu, dass sie sich 108 durch das Programm durchkämpfen, um den Eltern einen Gefallen zu tun, um sie aber auch stolz zu machen. Sie hoffen, dass sie, wenn sie nur brav an sich arbeiten und alles befolgen, was von ihnen verlangt wird, wieder mit nach hause dürfen. Die Chancen eines Auslandsprojekts, als Hilfe und Angebot für die Jugendlichen und ihre Eltern, werden damit verspielt. Selbst als Vivien die Betreuer direkt darauf aufmerksam macht, dass die familiären Schwierigkeiten keinem allein zugeschrieben werden können, gehen diese nicht darauf ein. F3, 29:11 – 29:17 Situation: Die Teenager sollen während eines Gesprächskreises berichten, was für sie das Wichtigste war, dass ihre Eltern ihnen in den Elternbriefen geschrieben haben. Vivien in der Einstellungsgröße „Amerikanisch“ am Lagerfeuer. Ruhige Gitarrenmusik, die zur Lagerfeuerstimmung passt, im Hintergrund. Vivien: „Meine Mutter hat mir geschrieben, dass sie's endlich eingesehen hat, dass, .. dass sie auch Fehler gemacht hat.“ Ich habe jedoch auch einige Szenen gefunden, in denen man meiner Meinung nach von einer gelungenen Elternarbeit sprechen kann: F3, 23:37 – 23:50 Situation: David hat gerade den Brief seiner Eltern gelesen. Zurrst eine Detailaufnahme von seinem Gesicht, er ist weint. Dann sieht man ihn neben Frau Noble auf dem Boden vor seinem Zelt sitzen Statt sie anzuschauen blickt er runter und spielt im Sand herum. David: (schnieft) „Jetzt weiß ich auch wenigstens, wie sich meine Eltern gefühlt haben. (schluchzt)“ Annegret: „Ja“ David: „Hauptsächlich hatten sie eben Angst um mich. (schnieft) Und det hab ich nie begriffen vorher.“ Hier hat die Elternarbeit, also die Briefe, die die Eltern ihren Kindern schreiben sollten, offensichtlich zu mehr Verständnis für die Familienmitglieder geführt. David kann das Verhalten der Eltern jetzt positiv deuten – nämlich als Sorge um ihn und daher als 109 Liebe. Diese Einsicht könnte der Grundstein für alternative Verhaltensweisen sein und zu mehr Kommunikation innerhalb der Familie führen. Von Schuldzuschreibungen wird abgesehen. F2, 13:39 – 13:57 Situation: Annegret schlägt den Jugendlichen vor, sich in Situationen, in denen sie wütend werden, eine Auszeit zu nehmen und zu gehen. Die Jugendlichen und Annegret Noble sitzen auf dem Boden unter einem Sonnendach im Kreis zusammen. Frau Noble hat einige Blätter Papier auf ihrem Schoß liegen und gestikuliert. Im Hintergrund sieht man David, der wie in der Schule aufgeregt seinen Finger hebt und augenscheinlich etwas sagen will. Die meisten der Teenager scheinen interessiert zuzuhören, andere wiederum flüstern, spielen mit ihrem Sonnenhut oder grinsen amüsiert. Annegret: „Und manchmal ist das Leben nicht so ideal. Aber das ist das Ziel. Und ich werde mit euren Eltern dran arbeiten, dass die das machen, ... hoffentlich lernt ihr, wie ihr diese, diese gelbe Karte euch dann nehmt und wirklich diese Auszeit euch nehmt, diese Ruhepause, damit ihr euch beruhigen könnt.“ Hier wird also von einer einseitigen Schuldzuschreibung abgesehen, Kinder und Eltern sollen beide an sich arbeiten. Das gibt einerseits den Eltern das Gefühl wichtige Beteiligte zu sein und in ihrer Elternrolle wertgeschätzt zu werden und andererseits vermittelt es den Jugendlichen, dass sie nicht allein für die familiären Probleme verantwortlich gemacht werden. Nach diesem Prinzip sollte die Elternarbeit eigentlich immer ablaufen, leider handelt es sich bei „Teenager außer Kontrolle“ mit diesem Ausschnitt jedoch um eine Ausnahme. Es ist tatsächlich die einzige Szene in der erwähnt wird, dass auch mit den Eltern an Zielen gearbeitet wird. F3, 39:40 – 41:10, 41:26 – 41:50 Situation: Annegret Noble hat einen Brief mitgebracht, den Dzenetas Mutter geschrieben hat. Dzeneta und Frau Noble sitzen nebeneinander auf dem Boden, sie werden abwechselnd in „Groß“ gezeigt. Aufgrund des schlechten Wetters sind beide 110 sehr dick angezogen und tragen Mützen. Einmal wird der Brief in „Detail-“ Aufnahme gezeigt. Dzeneta: „Kumma, kumma was n Shit, das regt mich jetzt schon auf! Kumma, was n Scheiß die da schreibt! Wie wenig, ey ne, Alter!“ (traurige Gitarrenmusik beginnt zu spielen) Annegret: „Bist du jetzt enttäuscht?“ Dzeneta: „Ich, ne, ich hab eigentlich gar nicht erwartet, dass irgendwie jetzt, ich find’s c o o l, PC-Schrift, ich glaub das war ihr Freund, dass der das geschrieben hat, oder meine Schwester am PC.“ Annegret: „Deine Mutter schreibt am PC gar nicht?“ Dzeneta: „Ne, ich glaub nicht, dass sie weiß wo die Tasten sind, (lacht) oder ne Maus bewegen kann.“ Annegret: „Okay, ich les es dir jetzt mal vor.“ Dzeneta: „Ja.“ Annegret: (liest vor) „Liebe Dzena, wir vermissen dich sehr. Ich finde es schade, dass bei euch das Netz so schlecht ist und wir nicht näher erfahren können wie es euch läu, wie es bei euch läuft. Ich backe dir einen ganz großen Schokokuchen wenn du kommst.“ Dzeneta: „Soll sich verpissen, Alter!“ Annegret: (liest weiter) „Wenn du wieder hier bist, ist die neue Wohnung schon fertig. Danjo fragt auch die ganze Zeit wann du kommst. Ich schreib dir bald wieder. Ich hab dich sehr lieb. Deine Mama. Dzeneta: (lacht, dreht sich weg) Annegret: „Was geht dir jetzt grad durch den Kopf?“ Dzeneta: „Gar nichts eigentlich.“ Annegret: „Doch...“ Dzeneta: „Scheiße, Alter.“ Annegret: „Du hast Dich umgedreht und gelacht, dir ging was durch den Kopf.“ Dzeneta: „Ja, ich find’s einfach nur lächerlich, was sie da schreiben.“ Annegret: (nickt) „Bist du enttäuscht?“ Dzeneta: „Ich bin nicht enttäuscht. Ich hab’s auch erwartet, meine Mutter, ich hab’s ja auch die ganze Zeit gedacht...“ Annegret: (unterbricht sie) „Bist du enttäuscht?“ 111 Dzeneta: (überlegt, grinst ein bisschen) „Ich bin schon mein ganzes Leben von meiner Mutter enttäuscht. Von daher ist ja klar, ich hab, ich hab’s gewusst, dass sie's nicht war, weil meine Mutter nennt mich nicht Dzena. Meine Mutter nennt mich Jenny, will mich deutsch machen, geht nicht, meine Schwester ist diejenige und meine ganzen Freunde, die mich Dzena nennen. Und meine Mutter nicht.“ Annegret: „Bist du enttäuscht?“ Dzeneta: (lacht tonlos) „Ja, ’türlich bin ich enttäuscht! Ich bin doch die ganze…“ Annegret: (ruft) „Danke ums zuzugeben, dass du’s zugegeben hast.“ Etwas später: Annegret: „Deine Mutter ist so. Und vielleicht können wir die nie verändern. Vielleicht ändert die sich nie. Und, und du wirst immer tief in dir drin traurig sein, Dzeneta: („Detail-“ Aufnahme von Dzenetas Gesicht). (Sehr ruhig, traurig) „Ja. ... Was soll ich machen.“ Annegret: „Weiß ich auch nicht, aber vielleicht können wer j a mal dahin gehen. Können wir ja mal den See erforschen, und gucken, wo die Tränen alle herkommen, die du nicht geweint hast. Diese letzte Szene ist meiner Meinung nach ein gelungenes Beispiel für die sogenannte „Elternarbeit ohne Eltern“. Dzenetas Mutter, die ihre Tochter bereits nicht wie die anderen Eltern am Flughafen verabschiedet hat, schreibt ihr zwar eventuell einen Brief (vielleicht war es ja auch der Freund oder die Schwester), kümmert sich jedoch nicht so intensiv um ihre Tochter wie es die anderen Eltern tun. Abgesehen davon, dass es meiner Meinung nach Aufgabe der Professionellen wäre zu versuchen, Dzenetas Mutter mehr zu involvieren und zu motivieren, finde ich, dass Annegret Noble in diesem Ausschnitt sehr sensibel und verantwortungsbewusst mit Dzenetas Verletzung und Enttäuschung umgeht. Statt über die Mutter zu schimpfen, Dzenetas Trauer herunterzuspielen, oder das Gespräch abzubrechen bietet sie ihr an, die Verletzungen aufzuarbeiten und mit ihr über die Beziehung zu ihrer Mutter zu sprechen. 112 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es durchaus positiv zu bewerten ist, dass bei „Teenager außer Kontrolle“ trotz der großen räumlichen Distanz zwischen Deutschland und den USA viel Wert auf die Arbeit mit den Familien gelegt wird. Telefonate, Briefe und Besuche der Eltern gehören fest zum Konzept. Leider ist die Ausgestaltung der Elternarbeit jedoch meist weniger gelungen: Die Kontakte werden von Bedingungen abhängig gemacht und als Druckmittel verwendet, die Eltern werden für ihre bisherigen Leistungen nicht wertgeschätzt und nicht weiter in die Erziehung der Kinder involviert. Die Arbeit vor Ort ist für sie nicht transparent genug und der Fokus liegt eher auf den Problemen der Vergangenheit statt auf den Ressourcen und der Zukunft. Die Kinder werden außerdem in den meisten Fällen für die aufgetretenen Schwierigkeiten innerhalb der Familien verantwortlich gemacht. Letztendlich kann es so dazu kommen, dass die Elternarbeit zu Schuldgefühlen seitens der Kinder und dem Gefühl der Nutzlosigkeit seitens der Eltern führt, was nicht ihrem Sinn entspricht. Szenen, die eine gute Elternarbeit zeigen, sind leider sehr selten. 113 4.3.3 Die Beziehungen zwischen den Jugendlichen: Die Bedeutung der Gruppe Die soziokulturelle Theorie besagt, dass sich Kinder über soziale Lernprozesse die Kultur ihrer Lebenswelt aneignen (vgl. Opp/Unger 2006, 58). Neben Erwachsenen, die Kindern als Vorbild fungieren, für sie da sind und ihnen Grenzen setzten, benötigen Heranwachsende als Interaktionspartner aber auch ihresgleichen. Da die sogenannten „Peers“ in der Regel weder über einen Erfahrungs- noch einen Kompetenzvorsprung verfügen, sind Jugendliche im Umgang mit ihnen der Realität sehr viel stärker ausgesetzt, als in der asymmetrischen Beziehung zu Erwachsenen und können so wichtige soziale Kompetenzen erwerben. Das gleichaltrige Gegenüber ist weder Versorger, noch Beschützer oder Welterklärer, sondern jemand mit dem auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird (vgl. ebd., 202). Mit anderen Worten: „Der sozialisatorische Beitrag der Kinderinteraktion kann sich nicht auf Erfahrung, Vorbild und Belehrung stützen, sondern in der Kinderwelt konfrontieren sich relativ Gleiche mit ihren Erwartungen und Absichten und stehen vor der Aufgabe, ihre Sichtweisen und Vorhaben wechselseitig zu koordinieren“ (Krappmann 1998, 355f.). Nach Reinders und Youniss (2005, 260) wird durch symmetrische Peerbeziehungen auch die moralische Entwicklung der Heranwachsenden gefördert, denn oft befolgen Kinder lediglich aus Liebe oder Furcht die Anweisungen der Erwachsenen, noch bevor sie eigene Einsichten gewonnen haben. In der Beziehung zu den Gleichaltrigen hingegen müssen sie sich ihrer eigenen Ansicht bewusst werden und diese in Interaktion mit dem Gegenüber behaupten. Sozialpsychologische Forschungen zeigen des Weiteren, dass Vergleiche mit der Bezugsgruppe für die Bildung eines Selbstkonzepts und Selbstwertgefühls von zentraler Bedeutung sind. Denn das eigene Selbstbild kann korrigiert werden, wenn der Jugendliche lernt, sich selbst aus der Perspektive anderer wahrzunehmen. Dies kann außerdem dazu führen, eigene Verhaltensweisen und Angewohnheiten neu zu bewerten und zu überdenken (vgl. Uhlendorff 2005, 91). Vor allem bei alltäglichen Problemen wird die Bedeutung der Peerbeziehungen verständlich: Oft haben Jugendliche das Gefühl, von Erwachsenen einfach nicht verstanden oder ernst genommen zu werden, manchmal bezieht sich der Konflikt auch gerade auf die erwachsene Bezugsperson. So kommt es nicht in Frage, bei ihr Rat zu holen. Sich hingegen im Austausch mit Freunden verstanden zu fühlen und zu erfahren, dass diese ganz ähnliche Probleme haben, kann schon einen ersten Schritt aus der Krise darstellen (vgl. Opp/Unger 2006, 203). Bei allen positiven Aspekten darf nicht verschwiegen werden, dass die Peers neben 114 einem entwicklungsfördernden auch einen entwicklungsgefährdenden Einfluss haben können (vgl. Reinders/Youniss 2005, 272). So ist abweichendes Verhalten oft in Netzwerke von Gleichaltrigenbeziehungen eingebettet und wird durch gewisse Freundschaften sogar begünstigt. Statt aus Angst zu versuchen, Beziehungen zwischen den Jugendlichen von vorne herein zu verhindern, sollte man um die förderlichen Aspekte wissen und versuchen, eine positive Peerkultur zu unterstützen (vgl. Opp/Unger 2006). Analyse In vielen Situationen zeigt sich, dass die Betreuer um jeden Preis versuchen zu verhindern, dass die Jugendlichen untereinander Beziehungen aufbauen. F1, 36:53 - 37:02 Frau Luepges steht während sie das Interview gibt in einem ungemütlich und kalt wirkenden Kellerraum und hält einen Notizblock in der Hand. Ein roter Kasten mit den Worten „Marlies Luepges. Betreuerin“ wird eingeblendet. Im Hintergrund sieht man einige der Jugendlichen auf dem Boden sitzen. Marlies: „Dann haben wir auch die Mitarbeiter so verteilt, das wir Deutsch sprechende Leute haben, dass wir genügend, ähm, Betreuer zwischen den Jugendlichen haben und so weiter. Dass da keine negativen Verbindungen geschafft werden können.“ F1, 37:12 – 37:18 Man sieht die Jugendlichen einen dunklen Flur entlanggehen. Harte und aggressive Rockmusik. Sprecher: „Die Teenager werden voneinander getrennt. Den Betreuern ist das Risiko eines weiteren Aufstands zu groß.“ F1, 1:16:52 – 1:16:59 Die Jugendlichen stehen mit ihren Wandersachen bepackt im Kreis auf einem Feld. Die Sonne scheint, man hat den Eindruck, dass es sich um einen sehr heißen und trockenen Tag handelt. 115 Kami: „Es wird auch erwartet, ähm, dass während wir wandern, dass ihr auch Stille übt, ne?“ F4, 3:03 – 3:25 Aufnahme aus der Froschperspektive: Im Vordergrund befindet sich eine gelbe Pflanze, die Gruppenmitglieder und Betreuer wandern nacheinander im Hintergrund an dieser Pflanze vorbei. Dann teilt sich das Bild in zwei Kästen, rechts sieht man Kris Schock beim Interview, links Betreuer Dan, der den Jugendlichen einen Zeltplatz zuweist. Leise, mysteriös wirkende Musik im Hintergrund. Kris: „Das Solo bedeutet ein konkretes Alleinseins. Das heißt, die Jugendliche sind alle verteilt worden und sie können die andere Jugendliche nicht sehen. (...) Wir nehmen die Schuhe und die Stirnlampe weg, damit die Jugendliche sich nicht einander besuchen können und dass sie nicht weglaufen können.“ Über die Gründe für dieses Vorgehen lässt sich nur spekulieren. Die ersten beiden Zitate legen die Befürchtung der Professionellen nahe, dass die Teenager sich gegen sie verbünden könnten. Möglich wäre auch, dass sie hoffen, einen größeren Einfluss auf die Jugendlichen zu haben, wenn sie für sie die einzigen Bezugspersonen sind. In zwei Situationen teilt man den Teenagern sogar wörtlich mit, dass es in diesem Programm nicht darum geht, mit anderen in Beziehungen zu treten oder gar Freunde zu finden: F2, 39:18 – 39:34 Situation: Die Jugendlichen haben sich gestritten. Sie stehen zusammen mit mehreren Betreuern auf einem Feld, während Annegret Noble spricht, zoomt die Kamera ihr Gesicht bis zur Detailansicht heran. Zwischendurch werden Bilder der Jugendlichen in ihrer Wanderausrüstung gezeigt. Annegret: (langsam, fast beschwörend) „Dzeneta. Du bist n u r für Dich verantwortlich. Für keinen anderen. Du bist dafür verantwortlich, dass du dich .. entsprechend benimmst. Mach dir über alle anderen keine Sorgen. Das ist unsere Sorge.“ 116 F4, 35:32 – 35:54 Das Bild ist dunkler als sonst, was verdeutlichen soll, dass es sich um eine Rückblende handelt. Abwechselnd sieht man Marlies Luepges, die wild gestikuliert, in „amerikanischer“ Einstellung und Stacey, die betrübt vor sich hin schaut, in „Großaufnahme“. Einzelne, lang gezogene Töne, fast wie bei einem Western. Marlies: (streng und unfreundlich) „Ich möcht dass du mit dem ganzen Firlefanz aufhörst. Das ganze „Danke“, das viele Schwatzen und so weiter, ich hab dir das schon mal gesagt, und ich sag das noch mal: Ich möchte, dass all das weg geht, damit du dich auf solche wichtigen Sachen konzentrieren kannst! Probier dich nicht einzuschleimen, probier dir hier keine Freunde hier zu gewinnen, probier nur auf dich selber aufzupassen, damit du die Sachen, die du machen musst, richtig machst.“ Auch mit diesen Aussagen versuchen die Betreuer, Beziehungen zwischen den Gleichaltrigen zu verhindern. Um die möglichen positiven Effekte der Peergemeinschaft wissen sie entweder nicht, oder sie nehmen einfach in Kauf, auf sie zu verzichten. Frau Luepges verlangt von Stacey, sich entgegen aller gesellschaftlichen Verhaltensnormen zu benehmen. Um einen Menschen auf ein eigenständiges Leben nach dem Projekt vorzubereiten, ist diese Aufforderung sehr kontraproduktiv. In anderen Szenen hingegen wird die Gruppe explizit genutzt, vor allem, wenn sie als Druckmittel fungieren soll: F1, 1:19:19 – 1:19:25 Situation: Dzeneta hat beim Wandern ihren Stock weggeschmissen und möchte nicht mehr weiter gehen. Die Wüstenlandschaft bei sehr sonnigem Wetter dominiert das Bild. Nachdem gezeigt wird, wie Dzeneta sich ein Stück von der Gruppe entfernt, sieht man Bilder der erschöpften Gruppenmitglieder, die sich auf ihren Stock stützen und Wasser trinken. Langsame, einzelne Töne im Hintergrund. 117 Marlies: „Wenn du dich jetzt hinsetzt, oder wenn du es jetzt länger machst, bedeutet das, dass all deine Freunde hier so lange mit den Rucksäcken rumstehen müssen.“ F1, 1:21:00 – 1:21:22 Situation: Es ist der erste Tag der Wanderung und Dzeneta möchte eine Pause machen, da sie erschöpft ist. Als Marlies keine Pause im Sitzen erlaubt, wirft Dzeneta ihren Rucksack zu Boden, läuft ein Stück von der Gruppe weg und setzt sich einfach hin. Die anderen Jugendlichen müssen so lang, bis Dzeneta wieder weiter wandert, mit den Rucksäcken bepackt in der Sonne stehen und warten. Aufnahme von Marlies aus der Froschperspektive (etwa Dzenetas Perspektive, da sie auf dem Boden sitzt). Dann schwenkt die Kamera erst zu Dzeneta herunter, die weinend ihr Gesicht in den angezogenen Beinen und zwischen ihren Armen vergraben hat und zum Schluss noch einmal zu Marlies zurück, die dann, halb zu Dzeneta gebeugt, in der „amerikanischen“ Einstellung zu sehen ist. Marlies: „Schau mir mal darüber bitte, (zeigt zur Gruppe) schau dir mal die Gruppe an. Dzeneta? Dzeneta: (weinend) „Ich hab keinen Bock mehr, lass mich in Ruhe, Mann, ich will nach Hause!“ Marlies: (streng) „Dzeneta, du bist im Moment verantwortlich für die ganze Gruppe!“ Dzeneta: „Die, ich scheiß auf die ganze Gruppe und auf euch scheiß ich genauso.“ (schluchzt) Marlies: „Die stehn, die stehn jetzt in der Sonne, im Moment haben sie Wasser, aber die stehen da mit ihren Rucksäcken an, währenddessen du hier sitzt. Ohne Rucksack.“ Marlies Luepges versucht in mehreren Szenen Dzeneta zum Weiterwandern zu bewegen, indem sie sie auf die Folgen für die Gruppe aufmerksam macht. Paradoxerweise haben die Betreuer selbst bestimmt, dass die anderen Teenager mit ihren Rucksäcken bepackt weiterhin in der Sonne stehen müssen, bis die Situation geklärt ist. Die Angst vor Sanktionen und negativen Reaktionen seitens der Peers wird 118 bewusst genutzt. Das folgende Zitat von Kevin (stellvertretend für mehrere aufgebrachte Kommentare der Gruppenmitglieder) zeigt, dass dieses Vorgehen durchaus erfolgreich ist: F1 1:22:00 – 1:22:10 Kevin wird in Großaufnahme gezeigt, während er ein Interview gibt. Er steht rechts im Bild, so dass man links bis zum Horizont die Wüstenlandschaft sieht. Einblende: „Kevin, 15 Jahre. War Mitglied einer Gang.“ Kevin: „Ja, ich find das scheiße, dass wir wegen der hier rumstehen müssen. Wir, ich, wir haben hier alle Schmerzen, nur weil die das einzige ist, die dann, die faxen muss und das ausziehen müssen, müssen wir darunter leiden.“ Statt auf die Betreuer zu schimpfen, die diese Regel aufgestellt haben, ärgern sich die Jugendlichen über Dzeneta, was natürlich ein positives Gruppenklima verhindert. Als diese letztendlich von der Gruppe getrennt wird, um einen großen Teil der Strecke noch einmal allein zu wandern, macht Kris Schock den Jugendlichen noch einmal bewusst, dass sie ohne Dzeneta eigentlich besser dran sind: F3, 6:30 – 7:03 Die Jugendlichen und Kris Schock stehen mit ihren Rucksäcken bepackt im Kreis. Die Kamera schwenkt hin- und her und filmt die unterschiedlichen Beteiligten. Kris: „Wir sind wie eine Familie, oder?“ Jugendliche: (murmeln) Kris: „Und wenn einer von uns Stress hat, oder Schwierigkeiten hat oder so .. hat fast jeder von uns auch diesen Stress und diesen, diese Schwierigkeiten, oder?“ Jugendliche: „Ja“ Kris: „Das ist eigentlich so mit der Dzeneta ge, gewesen, oder? (…) Sie hat Schwierigkeiten, wir haben auch mit ihr .. diese Schwierigkeiten miterlebt, vor allem beim Wandern haben wir das gesehen, oder?“ (nickt) 119 Jugendlicher: „Ja.“ Kris: „Heute sind wir ziemlich schnell gewandert .., aber normalerweise, wenn sie dabei ist, gehen wir ziemlich langsam, oder?“ Vivien: „Ja.“ Kris: „Okay.“ Mit diesem Vorgehen erreichen die Professionellen zweierlei: Erstens wird durch den vorübergehenden Ausschluss ein Gemeinschaftsgefühl der ganzen Gruppe verhindert und zweitens werden die restlichen Jugendlichen Angst bekommen, selbst ausgeschlossen zu werden. Dass die Schuldzuschreibungen erfolgreich waren, zeigt das folgende Zitat von Andreas, welches für den Zuschauer noch durch die Anmerkungen des Sprechers bekräftigt wird: F3, 12:58 – 13:14 Die Kamera steht zuerst fest an einem Platz und filmt die Jugendlichen, die mit ihren Rucksäcken und Stöcken bepackt in einer Reihe an der Kamera vorbei laufen. Zuerst sieht man sie von vorn, dann von hinten. Bei Andreas’ Kommentar wird er allein in „Nahaufnahme“ gezeigt, unter seinem Kopf erscheinen die Worte „Andreas, 15 Jahre. Serieneinbrecher“. Abschließend noch einmal Aufnahmen der wandernden Jugendlichen, aus verschiedenen Perspektiven. Erst gruselig wirkenden, langsame Gitarrenklänge, dann lautere Rockmusik. Sprecher: Das frische Erfolgserlebnis ohne Dzeneta gibt ihnen zusätzliche Motivation.“ Andreas: „Ja, normalerweise, äh, gehen wir immer langsamer, wegen Dzeneta. Aber die ist heute nicht da, deswegen können wir so n bisschen schneller gehen.“ Sprecher: „Wie von einer Last befreit geben die Teenager noch mal Gas.“ . Dem Zuschauer wird also vermittelt: Wenn ein Jugendlicher nicht gehorcht, dann muss er aus der Gruppe ausgeschlossen werden, damit es den Anderen besser geht. Welche Belastungen daraus für den Ausgeschlossenen und auch für den Rest der Gruppe entstehen, wird dabei verschwiegen. 120 Dass den Teenagern die Gruppengemeinschaft trotz allem sehr wichtig ist, zeigen die folgenden Zitate: F3, 37:00 – 37:18 Situation: Dzeneta hat ihren „Quest“ erfolgreich beendet und darf zurück zu den anderen Teenagern. Dzeneta, Tanja und Kris stehen nebeneinander auf einem Weg. Als Dzeneta spricht, zoomt die Kamera heran, bis sie in „Nahaufnahme“ zu sehen ist. Anschließend sieht man die Gruppe in der Kameraeinstellung „Weit“ durch die weite Landschaft auf Dzeneta und die Betreuer zuwandern. Kris: „Was ist dein Gefühl jetzt, die Gruppe wieder zu sehen?“ Dzeneta: „Ja, ist cool. Ich weiß nicht. Erleichtert, dass ich wieder hier bin, auf jeden Fall.“ Kris: „Mhm.“ Dzeneta: „Dass ich nicht wieder so .. Einzelfall bin.“ Sprecher: „Dzeneta trifft auf die Gruppe, die ihr vor drei Tagen noch völlig egal war. Der Quest hat seinen Zweck mehr als erfüllt.“ F3, 37:54 – 38:01 Die Jugendlichen stehen mit ihren Wandersachen bepackt im Halbkreis. Kevin wird in der Einstellung „Amerikanisch“ gefilmt, er steht leicht vorn über gebeugt, wahrscheinlich aufgrund des Gewichts des Rucksacks. Kevin: „Ich fühl mich erleichtert, dass die Gruppe wieder zusammen ist und ich .. bin sehr stolz auf Dzeneta, dass sie's geschafft hat und überlebt hat.“ Vor allem die Zeit des Solos, bei dem die Teenager keinen Kontakt zu den Gruppenmitgliedern haben dürfen, ist für sie eine große Belastung: F4, 7:07 – 7:18 Als erstes sieht man Kris Schock, der Pascals Zeltplatz verlässt und zwischen Büschen verschwindet. Anschließen eine Aufnahme von Pascal im Interview; er sitzt im Schneidersitz im Schatten eines großen Baumes. Die Einstellungsgröße 121 ist die „Totale“, was Pascal klein erscheinen lässt. Einblende: „Pascal, 17 Jahre. Dealer“. Leise, traurige Klänge. Pascal: „Ich wär lieber in ner Gruppe, weil dann kann man auch mehr so, ist man nicht alleine, so wie früher, bei mir. .. Ja.“ F4, 30:41 - 30:50 Aufnahme der Gruppe, die zusammen im Schatten auf dem Boden sitzt. Nach einem Schwenk zur Landschaft wird Dzeneta, auf dem Boden sitzend und ein Interview gibt, gefilmt. Ruhige, aber fröhliche Klavierklänge. Dzeneta: „Also ich find's geil, dass wir jetzt wieder alle zusammen hier sind. .. Weil ... ich voll Angst hatte, alleine die vier Tage und ich voll die Alpträume hatte.“ Viele der Teenager berichten über Ängste und Gefühle der Einsamkeit. Sie sehnen sich sehr nach Kontakt zu den anderen Teenagern, dürfen ihren Zeltplatz aber nicht verlassen. Die Betreuer ignorieren die Bedürfnisse der Jugendlichen und ziehen das Programm durch. Meines Erachtens wäre es viel sinnvoller, die Sehnsucht nach der Gruppe zu nutzen, um gemeinsam an einer positiven Peerkultur zu arbeiten. Insgesamt habe ich nur zwei Szenen gefunden, in denen ein positives Gruppenklima explizit gezeigt wird: F2, 15:00 – 15:10 Die Jugendlichen und Kami Schott stehen in einer Reihe nebeneinander. Die Kamera schwenkt herum und man sieht das letzte Stück des Weges, das sie zurückgelegt haben. Kami: (ruft laut) „Eins, zwei, drei! Wuuuuuuhuuuuu!“ Alle: „Wuuuuuhuuuuuuu!“ Aufnahme der Jugendlichen im Halbkreis. Sprecher: „Zum erste Mal Gemeinschaftsgefühl.“ erlebt die Gruppe so etwas wie 122 F4, 34:43 – 35:03 Situation: Pascal sollte im Gesprächskreis etwas Persönliches erzählen und ist in Tränen ausgebrochen. Die Teenager stehen, fast alle mit roten Fleecepullovern bekleidet, im Kreis und schauen betrübt zu Boden. Zwischendurch schauen sie kurz zu Annegret auf. Im Hintergrund hört man traurige Gitarrenmusik. Annegret: „Das hier ist Pascal (streicht Pascal über den Rücken). Ganz, ganz roh und ehrlich. Und, und sein innerster Kern. Und da müssen wir vorsichtig mit umgehen. .. Wenn man was von seinem innersten Kern, von seinem innersten Herzen sagt, dann muss man auch vertrauen können, dass die anderen Leute damit umgehen können. Und darum möcht ich das mit euch auch üben.“ Interessanterweise lassen sich allerdings ab und zu im Hintergrund unkommentierte Szenen beobachten, in denen die Jugendlichen beispielsweise gemeinsam um das Lagerfeuer sitzen. Es scheint also durchaus angenehme Situationen in der Gruppe zu geben, die jedoch leider für den Zuschauer unauffällig bleiben. Es ist also festzuhalten, dass Szenen überwiegen, in denen die Professionellen versuchen, Beziehungen zwischen den Gleichaltrigen zu verhindern oder die Gruppe im negativen Sinn, nämlich als Druckmittel benutzen, um die Jugendlichen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Obwohl die Teenager mehrfach äußern, dass ihnen die Gemeinschaft mit den anderen Jugendlichen wichtig ist, gehen die Betreuer nicht darauf ein. Unter diesen Umständen muss man zu dem Schluss kommen, dass die entwicklungsfördernden Chancen der Peerbeziehung nicht genutzt werden. Einige, meist unkommentierte Szenen zeigen hingegen, dass zumindest Ansätze einer angenehmen Gruppenatmosphäre vorhanden sind. Diese positiven Situationen bleiben für den Zuschauer jedoch weitgehend unauffällig. 123 4.4 Ressourcenorientierung Um ihre Probleme zu bewältigen, benötigen Menschen Ressourcen. Darunter versteht man Hilfsmittel und Reserven jeglicher Art, beispielsweise finanzielle Mittel, Netzwerke, Orientierungsmittel, persönliche Stärken und Fähigkeiten oder ermutigende Lebenserfahrungen (vgl. Wolf Wintersemester 2005/2006, Seminarunterlagen; HerwigLempp 2007, 215). Fallen die vorhandenen und die für eine Situation benötigten Ressourcen auseinander, kommt es zu einer in diesem Moment nicht zu bewältigenden Krise. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist also, Ressourcen zur Verfügung zu stellen; entweder, indem sie sie selbst schafft, oder indem sie den Zugang zu bereits vorhandenen Ressourcen erleichtert. Dieser Ansatz baut auf die Überzeugung, dass jeder Mensch fähig ist, seinen Alltag zu meistern, wenn ihm die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stehen (vgl. Ritscher 2007, 27). Ressourcenorientierung bedeutet außerdem, an den bereits vorhandenen Ressourcen der Menschen anzusetzen und auf diese aufzubauen. Man erkundigt sich beispielsweise nach den Stärken des Klienten oder fragt nach wichtigen Personen in seinem Umfeld. Auch wenn der Klient anfangs der Meinung ist, weder über Stärken, noch über Bezugspersonen zu verfügen, vertraut dieser Ansatz darauf, dass bei jedem Menschen Ressourcen vorhanden sind (vgl. Herwig-Lempp 2007, 214ff.). Der Blick wird auf das gerichtet, was gut gelingt, man schaut in die Zukunft und auf Lösungen. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein Fokus auf die Probleme überflüssig wird (vgl. Hofer 2007, 140f.). Mit einer Distanzierung von Defizitorientierungen geht überdies eine Wertschätzung des Klienten einher und durch die Konzentration auf seine Fähigkeiten und seine Potenziale wird er von Beginn an positiv wahrgenommen. Ob die Professionellen der Sendung „Teenager außer Kontrolle“ ihren Blick auf die Stärken und Potenziale der Jugendlichen richten, ihnen Ressourcen zugänglich machen und von einer Defizitorientierung absehen, möchte ich im Folgenden untersuchen. Analyse Bei der Durchsicht der Folgen wird eines deutlich: Ausschnitte, in denen der Fokus auf negativen Aspekten liegt, dominieren die Sendung. Das beweist bereits die Einleitung des Sprechers eindrucksvoll: 124 F1, 0:03-0:11 In vielen kurzen Ausschnitten wird nacheinander Folgendes gezeigt: Pascal, der eine Wasserpfeife raucht, Kevin, der ein Auto aufbricht, einige Jugendliche, die Kampfbewegungen demonstrieren, eine Hand, die ein Fahrradschloss knackt, ein Jugendlicher, der in einem Tarnanzug und mit einem Gewähr bewaffnet durch ein Gelände läuft und auf einen anderen Jugendlichen schießt, ein Außenspiegel eines Autos, der abgeschlagen wird. Alles wirkt hektisch und bedrohlich. Aggressive, laute Rockmusik. Sprecher: „Teenager außer Kontrolle. Drogen und Gewalt bestimmen ihren Alltag. Sie führen ein Leben ohne Rücksicht auf Verluste und auf ihre Familien.“ Dieser erste Satz der ersten Folge (und die dazu gezeigten Szenen) lassen keinerlei Raum für einen Blick auf die Potentiale der Jugendlichen. Bei dem Zitat handelt es sich um eine geradezu vernichtende Aussage, die kein gutes Haar an den Teenagern lässt. In unzählig vielen weiteren Szenen wird dem Zuschauer vermittelt: Die Jugendlichen sind kriminell und rücksichtslos, man muss sie bestrafen um dies zu verändern. Ihre positiven Eigenschaften werden konsequent ausgeblendet, noch nicht einmal die Idee, an möglichen Potentialen anzusetzen, wird erwähnt. In den Sequenzen, in denen die einzelnen Jugendlichen und ihre Familien vorgestellt werden, geht es ebenfalls nur um die Probleme der Beteiligten, nicht um eine Suche nach positiven Ansatzpunkten. Folgender Interviewausschnitt mit Viviens Mutter beweist, dass ausdrücklich nach Schwierigkeiten gesucht wird: F1, 13:51 – 14:03 Während Viviens Mutter zu sprechen beginnt sieht man Vivien von hinten, Steine gegen eine Hauswand werfend. Dann werden Viviens Eltern nebeneinander auf der Couch sitzend gezeigt. Im Hintergrund erkennt man eine große, altmodische Schrankwand aus dunklem Holz. Während die Mutter spricht, scheint der Vater kaum zuzuhören, er schaut in eine andere Richtung und kratzt sich am Hals. 125 V.’s Mutter: „Für mich das Allerschlimmste? .. Dass man nicht mit ihr reden kann, .. das Vertrauen ist weg, … (atmet hörbar ein) dass se wieder und wieder lügt.“ Die Überlegung „Für mich das Allerschlimmste?“ steht am Anfang dieser Interviewsequenz und stellt damit meines Erachtens eine Wiederholung der Frage dar, die man der Mutter gestellt hat. Explizit wird der Fokus auf das gelenkt, was in den Familien oder bei den Jugendlichen nicht gut funktioniert. Auch die zwischenzeitlich eingeblendeten Aufnahmen der sogenannten „Elternkamera“, mit der die Eltern ihren Familienalltag filmen, enthalten ausschließlich Szenen voller Gewalt, Eskalationen und Beschimpfungen. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass es im Alltag der Beteiligten einfach keinerlei angenehme Situationen gibt. Wahrscheinlich wurden jedoch einzig problematische Szenen zusammengeschnitten, um zu verdeutlichen, dass diese Familien ohne das Therapieprogramm in den USA keinerlei Chance mehr hätten. Zitate wie das folgende bestärken diese Vermutung: F1, 23:50 – 23:56 Situation: Dzeneta soll ihre Kleiner ausziehen und ihre Wertgegenstände abgeben. Sie befindet sich in einer weißen Kammer. Marlies Luepges steht davor und schaut zu Dzeneta rein. Die Kamera filmt über Marlies Schultern hinweg, so dass man Dzeneta aus der Froschperspektive erst in der „Halbtotalen“, dann in der „amerikanischen“ Einstellung sieht. Man hört langsames Paukenschlagen, das fast gruselig wirkt. Marlies: „Du wirst alle deine Klamotten hier lassen. Nix von deinem alten Leben kannst du mitnehmen außer dir selbst.“ Marlies Luepges impliziert mit den Worten „Nix von deinem alten Leben kannst du mitnehmen außer dir selbst.“, dass es am bisherigen Leben nichts gäbe, woran es festzuhalten lohnt, was gut war, woran man ansetzen könnte. Auch Kurt soll vor dem Programm alle persönlichen Sachen abgeben, dieser weigert sich jedoch: 126 F1, 44:59 – 48:58 Situation: Es ist die Nacht der Ankunft. Die Jugendlichen dürfen ihre Zelte aufschlagen und schlafen gehen, Marlies Luepges hält Kurt jedoch auf. Da es dunkel ist, erkennt man nichts außer den drei Beteiligten, Kami, Kurt und Marlies, die nebeneinander stehen und angeleuchtet werden. Marlies: „Ich muss dich bitten, noch schnell hier zu bleiben.“ Kurt: (grinst) „Wieso?“ Marlies: (berührt ihren Hals) „Ähm, .. wegen der Halskette, unter anderem.“ Rückblick zur Einkleidungssituation im Basislager: Kurt steht mit nacktem Oberkörper in einer Kammer, Kris Schock befindet sich davor. Die Kamera filmt über Herrn Schocks Schulter hinweg, manchmal zoomt sie Kurts Gesicht heran. Während der Worte des Sprechers öffnet der Teenager auf Befehl den Mund und lässt Kris hineinsehen. Sprecher: „Die romantische Erinnerung an seine Freundin wollte Kurt beim Umziehen nicht aufgeben.“ Kris: „Ähm, kannst du mir deine Halskette geben?“ Kurt: „Nein.“ Kris: „Wir können nicht wirklich mit dem Programm anfangen, so lange du die, die Kette hast.“ Kurt: (schüttelt mit einem beängstigenden Grinsen und weit aufgerissenen Augen den Kopf) Kris: „Und du, du kriegst sie…“ Kurt: (sehr bestimmt) „Die gibt’s nicht.“ Zurück in der Wildnis, die Umgebung ist nach wie vor dunkel, Kirs Schock und Kurt werden abwechselnd von der Seite in der Einstellungsgröße „Nah“ gezeigt: Kris: „Weil ich hab einfach Angst, dass du, dass die Kette mal ver, verloren geht“ Kurt: „Die Kette gibt’s nicht.“ 127 Kris: Glaubst du, was ist, was ist deiner Freundin wichtiger: Dass du immer noch die Halskette hast, oder dass du dieses Programm . supergut absolvierst?“ Kurt: (mit Tränen in den Augen) „Wenn ich ihr versprochen hab, dass ich die Kette nicht ablege, dann kriegst du die nicht.“ Die Kamera zoomt heran, so dass Kurts Gesicht in „Detailaufnahme“ zu sehen ist. Sprecher: „Zum ersten mal seit langem zeigt Kurt Gefühle. In Deutschland war dafür nie Platz.“ Rückblende zu Kurts Leben in Deutschland, begonnen mit rechtsradikalen Parolen seiner Freunde, im Hintergrund das Lied „Arschloch“ von den Ärzten. Wieder zurück in der Wüste: Kris: „Ich muss dir eins sagen, wir bleiben fest, bei diesem Thema. Das ist entweder…“ Kurt: (unterbricht ihn) „Ich auch.“ (wischt sich die Tränen weg) Kris: „Okay. Okay. Wir gehen jetzt zurück zum Kreis, okay?“ Kurt: (zur Kamera gewandt, die filmt ihn aus der Froschperspektive) „Wenn der noch mal versucht, mir die Kette abzunehmen, dann schlag ich auf ihn ein.“ Sprecher: „Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, lassen die Betreuer Kurt seine Halskette. Fürs erste.“ Kurt hat seiner Freundin vor der Abreise versprochen, die Halskette als Andenken jeden Tag zu tragen, was nicht zuletzt symbolischen Wert besitzt. Die Beziehung zu ihr stellt für den Jugendlichen eine wichtige Ressource dar. Statt dies zu erkennen und darauf aufzubauen (zum Beispiel könnte ihm das Tragen der Kette und damit die ständige Erinnerung an seine Freundin Mut und Kraft geben, durchzuhalten und an sich zu arbeiten), versucht man, ihm diese Ressource zu nehmen. Die Aufforderung der Betreuer, die Kette, da sie ein Teil von Kurts altem Leben ist, abzugeben, bedeutet für den Teenager in diesem Moment Verrat an seiner Freundin. Auch in anderen Situationen erkennen die Betreuer die Möglichkeit zu einem ressourcenorientierten Ansatz nicht: 128 F2, 6:50 – 6:58 Während Annegret Noble zu sprechen beginnt, sieht man Dzeneta noch von hinten, die mit ihrem riesigen Wanderrucksack bepackt hinter Annegret hergeht. Während der Interviewsequenz sieht man Frau Noble in „Nahaufnahme“, im Hintergrund ist die Wüstenlandschaft zu erkennen. Einblende: „Annegret Noble. Cheftherapeutin“. Annegret: „Dzeneta .. ist ein bisschen faul und will hier eigentlich auch nur rum sitzen und nichts tun und ist immer die Letzte.“ Dzeneta fällt das Wandern tatsächlich sehr schwer. Sie gibt schneller auf und beklagt sich öfter als die anderen Jugendlichen. Letztendlich lässt sie sich aber jedes mal wieder motivieren und läuft Tag für Tag die komplette Strecke mit. Statt dies zu würdigen und Dzeneta darin zu bestärken, jeden Tag aufs Neue einfach ihr Bestes zu geben, beschwert sich Annegret Noble darüber, dass die Jugendliche faul und immer die Letzte sei. Sogar wenn sich die Jugendlichen den Aufforderungen der Betreuer entsprechend verhalten, schaffen diese es häufig nicht, dies anzuerkennen und an das positive Ereignis anzuknüpfen: F4, 22:55 – 23:05 Situation: Andreas soll als Strafe sein Zelt ab, auf, ab und wieder aufbauen. Da es Nacht ist und die Aufnahmen sehr dunkel sind, lässt sich kaum etwas erkennen. Marlies Luepges steht in einer leuchtend roten Jacke zusammen mit Kris Schock neben Andreas und schaut diesem beim Packen und beim Auf- und Abbauen des Zelts zu. Man hört verzerrte Gitarrenklänge. Sprecher: „Die Betreuer wollen testen, ob Andreas wirklich nachgegeben hat und ziehen die Maßnahme weiter durch. Noch trauen sie dem Frieden nicht. Zu sehr hat sich Andreas bisher dem Programm widersetzt.“ Andreas bekommt eine Strafe für seinen Fluchtversuch und nimmt diese nach anfänglichem Widerstand an. Obwohl er letztendlich kooperiert, testen ihn die 129 Professionellen, da sie ihm misstrauen. Von Ressourcenorientierung kann also nicht die Rede sein. Vor allem auch die Kommentare des Sprechers und die eingeblendeten Rückblicke zeigen, dass selbst bei aktuellen Erfolgen der Blick immer wieder auf negative Ereignisse in der Vergangenheit gelenkt wird: F1, 35:25- 35:34 Verschiedene kurze Aufnahmen von Pascal während der Umkleidungssituation. Beim Entkleiden seines einen Oberkörper wird er aus der Froschperspektive gefilmt. Aggressive Gitarrenmusik. Sprecher: „Die anderen Jugendlichen zeigen sich zunächst beeindruckt von der Konsequenz der Betreuer. Zu Hause in Deutschland haben sie sich jeder Regel widersetzt und auf Anweisungen mit Aggressionen reagiert.“ F1, 54:40 – 57:25 Dzeneta liegt im Schlafsack in ihrem Zelt, Kami Schott kniet vor ihr. Die Jugendliche streckt ihren Arm aus, wahrscheinlich, weil die Betreuerin den Puls messen will. Sprecher: „Obwohl Dzeneta den Gesundheitscheck zunächst über sich ergehen lässt, sperrt sie sich gleich darauf gegen die Kleiderordnung. Noch hat sie ihre Aggressivität im Griff, für die sie in ihrer Heimatstadt berüchtigt war.“ Rückblende zu Dzenetas Leben in Deutschland, ausschließlich Szenen über ihre Strafanzeigen, Prügeleien und Schulschwierigkeiten. F4, 20:25 – 20:38 Situation: Als Strafe muss Vivien ihr Zelt innerhalb von 15 Minuten abbauen und all ihre Sachen zusammenpacken. Als sie dies geschafft hat, wartet sie auf die Betreuer. 130 Da es Nacht und sehr dunkel ist, sieht man nur Vivien in der Einstellungsgröße „Groß“, die während der Interviewsequenz von Scheinwerfern angestrahlt wird. Einblende: „Vivien, 16 Jahre. Ausreißerin.“ Vivien: (lächelnd) „Vor allen Dingen, weil, mitten in der Nacht! Normalerweise schlaf ich schon um diese Uhrzeit!“ (lacht und trinkt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche) Aggressive Hardrockmusik beginnt laut zu spielen. Sprecher: „Oder macht die Nächte durch, wie vor der Therapie.“ Viele weitere negative Rückblicke dieser Art habe ich in den analysierten Folgen gefunden. Unabhängig davon, was die Jugendlichen sagen oder erreichen, es wird durch eine Rückblende zu ihrer Vergangenheit oder einen zurückblickenden Kommentar des Sprechers relativiert. Dem Zuschauer wird so vermittelt: „Vergiss nicht, dass die Jugendlichen eigentlich ganz furchtbare Menschen sind und wenn sie sich ändern, dann ausschließlich aufgrund unseres Programms.“ Im Gegensatz zu den Machern der Sendung, die also durch diese Rückblenden den positiven Ereignissen meist einen negativen Beigeschmack geben, gelingt es den Betreuern an einigen Stellen sehr wohl, anzuerkennen, wenn die Jugendlichen etwas Besonderes erreicht haben: F3, 26:15 – 26:30 Marlies Luepges in „Großaufnahme“ in einer Interviewsequenz. Sie sitzt bei blauem Himmel auf dem Boden der kargen Wüstenlandschaft. Während sie spricht, verkleinert sich dieses Bild zu einem Kasten auf der rechten Seite des Bildschirms, links sieht man Dzeneta wandern. Marlies: „Dzeneta übertrifft sich selbst, von alledem, was wir hier bisher gesehen haben. S i e leistet sehr, sehr viel, s i e zeigt uns so richtig, was in ihr steckt, dass da n ganz, ganz starker Durchhaltewille auch drin ist und den . benutzt sie jetzt in einer positiven Art und Weise.“ 131 F3, 35:41 – 35:57 Das Bild ist in zwei Kästen geteilt. Links sieht man Kris Schock in „Nahaufnahme“ ein Interview geben, rechts Dzeneta, die sich ihren großen Wanderrucksack aufschnallt. Kris: „Der Forstschritt ist unglaublich. Man kann ganz gut mit ihr reden, sie .. hört zu, sie klopft an, es ist echt der Wahnsinn, ist eine . total andere Dzeneta.“ F2, 21:22– 21:36 Situation: Vivien hat Essen gekocht. Sie sitzt im Schneidersitz auf einer Matte auf dem Boden, vor ihr stehen einige Koch-Utensilien. Kris Schock hockt ihr gegenüber. Ruhige Gitarrenklänge, die an eine Lagerfeuer-Situation erinnern. Kris: „Du kannst jetzt den Streichholz behalten, du hast alles im Griff. Super, bin stolz auf dich! Lass es dir schmecken.“ Vivien: „Danke. Kris: „Bitte sehr.“ Vivien: „Bin jetzt stolz auf m i c h.“ (macht grinsend ein stolzes Gesicht und klopft sich auf die Brust) Marlies Luepges und Kris Schock loben die Teenager – sowohl persönlich, als auch in Interviewsequenzen. Sie können hier eine positive Entwicklung oder eine gute Leistung der Jugendlichen uneingeschränkt wertschätzen und sehen davon ab, dies mit negativen Situationen aus der Vergangenheit zu vergleichen. Der Fokus liegt also zumindest auf der Gegenwart. Würden die Professionellen nun an den festgestellten Fortschritten ansetzen und die Jugendlichen ermutigen, sich in anderen Situationen ähnlich zu verhalten, könnte man von Ressourcenorientierung sprechen. Es stellt sich die Frage, wie es mit dem Grundsatz aussieht, Klienten die benötigten Ressourcen zur Verfügung zu stellen oder ihnen den Zugang zu vorhanden Ressourcen zu erleichtern. In den allermeisten Szenen wird problematisches Verhalten der Teenager, wie beispielsweise Fluchtversuche, nicht als Mangel an Ressourcen und somit aus der Sicht der Jugendlichen, sondern einfach als Regelverstoß verstanden. Das 132 jeweilige Verhalten wird entweder unterdrückt oder bestraft, wie folgendes Beispiel zeigt: F1, 1:10:40 – 1:11:03 Situation: Pascal wollte weglaufen, wurde aber zurückgebracht. Als er wütend gegen einen Gegenstand tritt, nimmt ein männlichen Betreuer Pascals Arm und dreht in auf seinen Rücken, bis der Jugendliche zu Boden geht und sich nicht mehr bewegen kann. Das Bild ist in zwei Kästen geteilt. Links ein kleinerer Kasten mit Frau Noble im Interview, rechts ein größerer, in dem man in verschiedenen Einstellungen sieht, wie Pascal auf dem Boden gehalten wird. Annegret: „Der Pascal ist total ausgeflippt und hat Kontrolle über sich selbst verloren. Und in der Situation müssen wir dann Kontrolle übernehmen. Er hat da unsere Sachen getreten und wir haben da viele Sachen, die kaputt gehen können, die wir auch brauchen, damit die Kinder sicher sind. Das können wir nicht zulassen.“ Pascal, der es in dem Programm offensichtlich nicht mehr aushält und fliehen will, wird daran gehindert, indem man ihn zurückholt. Die Betreuer versäumen es jedoch, ihm Hilfe und Unterstützung anzubieten oder in zumindest zu fragen, unter welchen Umständen die weitere Teilnahme für ihn erträglicher wäre. Als er aus Wut und Verzweiflung beginnt zu randalieren, fügt man ihm so lange Schmerzen zu, bis er aufgibt. Annegret Noble deutet Pascals Verhalten schlichtweg als „ausflippen“, sieht jedoch nicht die Gründe und somit seine dahinter liegenden Bedürfnisse. So lange man sich aber nicht darum bemüht, die Bedürfnisse der Teenager zu erkennen, ist das zur Verfügung stellen von Ressourcen ausgeschlossen. In drei Situationen gelingt es den Betreuern, den Jugendlichen explizit Ressourcen zur Verfügung zu stellen oder sie ihnen anzubieten: F2, 12:40 – 13:17 Die Jugendlichen und Annegret Noble sitzen auf dem Boden unter einem Sonnendach im Kreis zusammen und werden abwechselnd in verschiedenen Einstellungen gezeigt. Frau Noble hat einige Blätter Papier auf ihrem Schoß liegen und gestikuliert. Die meisten der Teenager scheinen interessiert 133 zuzuhören, andere wiederum flüstern, spielen mit ihrem Sonnenhut oder grinsen amüsiert. Sprecher: „Therapeutin Annegret hat ein anderes Ventil für die Wut der Jugendlichen.“ Annegret: „Es ist wie die gelbe Karte beim Fußball. Man macht so ne Pause. Und da kommt man wieder und dann .. findet man irgendwie ne Lösung zu, zu der Situation. Und bei euch ist die gelbe Karte die Pausenkarte. So, jetzt nimm dir mal ne Auszeit, beruhig dich mal, dann darfst du wieder mitmachen. Und genauso ist das hier auch. Wenn ihr merkt, es fängt an zu köcheln und da sind schon die Blasen, dann muss ich hier sagen: Gelbe Karte für mich selbst, ich muss jetzt ne Pause machen, mich beruhigen und dann kann ich zu der Situation zurück.“ F3, 25:21 – 25:39 Situation: Marlies bietet Dzeneta an, die Gruppe zu führen. Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Einstellungsgrößen von Marlies und Dzeneta. Dann sieht man Marlies in „Groß“, ein Interview gebend. Die Worte „Marlies Luepges. Expeditionsleiterin“ werden in einem roten Kasten eingeblendet. Marlies: „Wir möchten einfach nur ein, ein Beispiel setzen, vor allem auch für die Dzeneta, dass sie das kann. Dass sie schnell wandern kann. Dass sie auf sich aufpassen kann. Dass sie kommunizieren kann. Es geht uns wirklich darum, dass sie das selbst mal erlebt. Dass sie Erfolg hat und dass wir nachher darauf zurückgreifen können, als Erlebnis.“ F1, 1:15:20 - 1:15:30 Situation: Die Jugendlichen packen zum ersten Mal ihren Wanderrucksack. Kevin steht, auf seinen Wanderstock gestützt, in der Sonne und die Kamera schwenkt runter zu seinem Rucksack, der auf dem Boden steht. 134 Kevin: „Ich schaff das eh nicht mehr! Wenn ich gleich nicht mehr kann, ich geh keinen Schritt mehr weiter dann!“ Marlies: „Okay. Ich bin hier um dich zu unterstützen.“ Kevin: „Ja weißte, wie schwer der ist?!“ Marlies: „Bist du bereit dafür?“ Kevin: „Hm.“ Marlies: „Darf ich dir, darf ich dir helfen?“ (hilft beim Aufsetzen des Rucksacks) Die Ressource, die Annegret Noble den Teenagern im ersten Beispiel zur Verfügung stellt, würde ich „Handlungsoptionen“ nennen. Sie lernen hier, in problematischen Situationen alternativ zu ihren bisherigen Verhaltensmustern zu agieren, was für das Zusammenleben mit ihren Familienmitgliedern von Vorteil sein kann. Im zweiten Beispiel handelt es sich um die Ressource „ermutigende Lebenserfahrungen“. Marlies Luepges überlässt Dzeneta sehr bewusst die Führung der Gruppe, um ihr zu zeigen, was sie alles kann. In folgenden Situationen könnte die Jugendliche auf dieses positive Erlebnis zurückgreifen und mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln. Im dritten Beispiel ist die Ressource „tatkräftige Unterstützung“. Frau Luepges bietet Kevin Hilfe beim Aufsetzen seines Wanderrucksacks an und zeigt ihm damit auch, dass sie wahrnimmt, wenn er allein nicht zurecht kommt und in solchen Situationen für ihn da ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei den Betreuern zumindest Ansätze der Ressourcenorientierung vorhanden sind. Sie können positive Entwicklungen anerkennen und den Jugendlichen in einigen Situationen die benötigten Ressourcen zur Verfügung stellen. Diese Situationen gehen in der Sendung jedoch unter, da die Produzenten mit allen Mitteln versuchen, negative Aspekte in den Vordergrund zu stellen – sei es durch die Kommentare des Sprechers oder die Rückblenden zu problematischen Szenen aus dem bisherigen Leben der Teenager, meist mit aggressiver Musik untermalt. Dem Zuschauer wird so vermittelt, dass es bei pädagogischer Arbeit darum geht, die Probleme, Schwierigkeiten und das antisoziale Verhalten der Jugendlichen immer im Auge zu behalten, um daran „herumschrauben“ zu können. Dass es viel effektiver und wertschätzender ist, die Teenager in dem zu bestärken, was gut klappt, zu erkennen und anzuerkennen, was sie, auch in ihrem bisherigen Leben, alles Positives geleistet haben und daran anzusetzen, wird übergangen. 135 4.5 Die Darstellung der Jugendlichen – Zum Menschenbild Allgemein betrachtet ist das Menschenbild die Vorstellung über das Menschsein, also über das Wesen des Menschen. Das Menschenbild einer Person bestimmt ihre Vermutungen über die Eigenschaften, Charakterzüge und Intentionen ihres Gegenübers und bildet somit die Grundlage allen pädagogischen Handelns. Das humanistische Menschenbild beispielsweise, das in der sozialpädagogischen Arbeit wohl am weitesten verbreitet ist, geht davon aus, dass der Mensch im Grunde gut und bestrebt ist, sein Leben selbst zu bestimmen. Nach Carl Rogers ist er im Kern positiv, konstruktiv und vertrauenswürdig, „von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch.“ (zit. nach Suter 1986, 96). Aggressives und asoziales Verhalten sieht Rogers als Abwehr- und Angstreaktion. Er geht außerdem davon aus, dass der Mensch eine „Aktualisierungstendenz“ besitzt. Das heißt, der Organismus ist zum Konstruktiven ausgerichtet und strebt nach Entwicklung und Entfaltung seiner selbst (ebd., 97). Je nach Menschenbild behandelt eine Person ihr Gegenüber, begegnet ihm aufgrund von Rückschlüssen positiv oder negativ. Hat man einen positiven Eindruck von einem Menschen, sieht man oftmals negative Ereignisse oder Äußerungen in einem anderen Licht. In jedem Fall sollten Pädagogen offen und wertschätzend mit ihren Klienten umgehen, um sie konstruktiv unterstützen zu können. Dies setzt ein positives Menschenbild voraus. Da sich durch die Handlungen und Aussagen einer Person Rückschlüsse auf ihr Menschenbild ziehen lassen, möchte ich im Folgenden untersuchen, wie die Jugendlichen in der Serie dargestellt werden, um zu beurteilen, welches Menschenbild durch die Sendung vermittelt wird. Analyse Bereits die ersten Szenen der Serie lassen erahnen, dass die Darstellung der Jugendlichen zum größten Teil negativ ist: F1, 1:58 – 2:44 Portraitaufnahmen der Teenager (zwei Reihen mit jeweils vier Jugendlichen) auf einem roten Hintergrund. Während sie kurz einzeln vorgestellt werden vergrößert sich das jeweilige Portrait zum Vollbild und eine Einblende erscheint am linken, unteren Bildrand. Aggressive Rockmusik. 136 Sprecher: „Für diese acht Jugendlichen ist die Therapie der letzte Ausweg Wilder Westen: − Andreas, der über 50 Einbrüche verübt hat, (Einblende: „Andreas, 15 Jahre. Serieneinbrecher“) − Stacey, die aggressive Schulverweigerin, (Einblende: „Stacey, 17 Jahre. Schulabbrecherin“) − David, der auf dem besten Weg ist ein Junkie zu werden, (Einblende: „David, 17 Jahre. Junkie“) − Pascal, der Dauerkiffer und Crack-Raucher, (Einblende: „Pascal, 17 Jahre. Dealer“) − Dzeneta, die Mitschüler und Lehrer verprügelt, (Einblende: „Dzeneta, 15 Jahre. Schlägerbraut“) − Kevin, Mitglied einer kriminellen Kölner Jugendgang, (Einblende: „Kevin, 15 Jahre, Gang-Mitglied“) − Vivien, die dauernd von zuhause ausreißt, (Einblende: „Vivien, 16 Jahre. Ausreißerin“) − und Kurt, der in die rechte Gewaltszene abgedriftet ist.“ (Einblende: „Kurt, 16 Jahre. Neo-Nazi“) Diese erste Vorstellung der einzelnen Jugendlichen ist voll von Stigmatisierungen. Wie bereits im vorangehenden Kapitel über die Ressourcenorientierung deutlich wurde, liegt der Fokus nicht auf den positiven Eigenschaften oder Potenzialen der Jugendlichen, sie werden hingegen durchgängig als aggressiv, gewalttätig, drogenabhängig und/oder kriminell dargestellt. In Interviewausschnitten wird die Stigmatisierung umso deutlicher: Während bei den Mitarbeitern von Catherin Freer die Berufsbezeichnungen eingeblendet werden (z.B. F4, 23:57, Einblende: „Marlies Luepges. Expeditionsleiterin), erscheinen bei den Teenagern ihre Straftaten wie „Dealer“ oder „Schlägerbraut“ (z.B. F2, 27:58, Einblende: „Andreas, 15 Jahre. Serieneinbrecher“). Dem Zuschauer wird so vermittelt: Die Jugendlichen sind kriminell. Andere, positive Eigenschaften haben sie nicht und sie haben sich diese Beschäftigungen ausgesucht wie andere Menschen ihren Beruf. Auch in Szenen mit der Elternkamera oder kurzen Vorstellungssequenzen der einzelnen Jugendlichen, werden grundsätzlich negative Aspekte gezeigt. Die Familienszenen sind chaotisch, laut, voller Gewalt und Beschimpfungen. Die Teenager werden in den meisten 137 Fällen rauchend oder trinkend gezeigt und die Beteiligten werden ausschließlich zu Straftaten, Prügeleien, Drogen- und Alkoholkonsum der Jugendlichen befragt. Durch diese Konzentration auf Negatives wird dem Zuschauer unterschwellig vermittelt, dass es nichts Positives gibt, dass es zu erwähnen wert wäre. Dass diese Beschreibungen nicht nur für die Jugendlichen der Sendung, sondern für Jugendlichen in Deutschland im Allgemeinen gelten, zeigt dieses Zitat des Sprechers: F3, 0:04 – 0:13 Verschiedene kurze Aufnahmen von Kurt, der mit Waffen hantiert, Dzeneta, die raucht, Kevin, der ein Auto aufbricht und Stacey, die wütend gestikuliert. Aggressive Hardrock-Musik. Sprecher: „Teenie-Alltag in Deutschland: Gewalt, Drogen, Kriminalität. Skrupellose Jugendliche, die weder auf sich, noch auf ihre Eltern Rücksicht nehmen.“ Junge Menschen prinzipiell als gewalttätig, kriminell und rücksichtslos darzustellen vermittelt ein Menschenbild, das von Feindseligkeit geprägt ist. Es scheint, als sei es das Ziel der Produzenten, möglichst viel Hass zu vermitteln. So werden auch an anderen Stellen überspitzte Verallgemeinerungen und Übertreibungen eingesetzt, um die teilnehmenden Teenager schlecht darzustellen: F1, 35:29 – 35:34 Die Kamera zeigt Pascal aus der Froschperspektive. Er steht in einer Kammer, entkleidet sich, reicht seine Kleidungsstücke einem Betreuer und zieht zum Schluss ein orangefarbenes T-Shirt an. Sprecher: „Zu hause in Deutschland haben sie sich jeder Regel widersetzt und auf Anweisungen mit Aggressionen reagiert.“ 138 F3, 14:32 – 14:39 Dzeneta und Marlies Luepges sitzen in der Dämmerung auf dem Wüstenboden um einen Kochtopf herum. Anschließend sieht man die Jugendliche in der Einstellungsgröße „Groß“ in ihrem Zelt. Gruselig wirkende Gitarrenklänge im Hintergrund. Sprecher: „Der erste Tag von Dzenetas Quest war zumindest ein Teilerfolg. Sie hat zum ersten Mal Verantwortung übernommen und ist weiter gewandert als erwartet.“ Natürlich haben sich die Jugendlichen in Deutschland nicht jeder Regel widersetzt und natürlich hat Dzeneta schon in vorherigen Situationen in ihrem Leben Verantwortung übernommen. Diese vom Sprecher gewählten Übertreibungen implizieren jedoch: Eigentlich sind die Jugendlichen schlechte Menschen, dank des Programms ist eine positive Veränderung aber immerhin möglich. Entwicklungen der Heranwachsenden werden also nicht ihnen selbst, sondern der Therapie zugeschrieben, die aus den rücksichtslosen Jugendlichen bessere Menschen macht. Auch die häufigen Rückblicke auf kriminelle oder aggressive Szenen aus der Vergangenheit der Jugendlichen, die nach positiven Situationen während der Therapie eingeblendet werden, verstärken dieses Bild (vgl. Kapitel 4.4 zur Ressourcenorientierung). Das negative Bild der Teenager wird auf zahlreiche verschiedene Arten vermittelt. Manche Zitate stellen sie beispielsweise als egoistisch und rücksichtslos dar: F1, 0:03-0:11 In vielen kurzen Ausschnitten wird nacheinander folgendes gezeigt: Pascal, der eine Wasserpfeife raucht, Kevin, der ein Auto aufbricht, einige Freunde, die Kampfbewegungen demonstrieren, eine Hand, die ein Fahrradschloss knackt, ein Jugendlicher, der in einem Tarnanzug und mit einem Gewähr bewaffnet durch ein Gelände läuft und auf einen anderen Jugendlichen schießt, ein Außenspiegel eines Autos, der abgeschlagen wird. Alles wirkt hektisch und bedrohlich. Aggressive, laute Rockmusik. 139 Sprecher: „Teenager außer Kontrolle. Drogen und Gewalt bestimmen ihren Alltag. Sie führen ein Leben ohne Rücksicht auf Verluste und auf ihre Familien.“ F1, 08:53 – 08:58: Abschieds-Szene am Frankfurter Flughafen, Andreas’ Mutter nimmt ihren Sohn lächelnd in die Arme und drückt ihn fest an sich. Langsame Rockmusik. Sprecher: „Wie sehr sie (seine Eltern, D.S.) unter Andreas Verhalten leiden war ihm bisher egal.“ In anderen Situationen wird ihnen sogar unterstellt, ihre Mitmenschen bewusst und vorsätzlich zu schikanieren: F2, 34:19 - 34:23 Verschiedene kurze Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven, die die Jugendlichen beim Wandern zeigen. Rockige Gitarrenmusik im Hintergrund. Sprecher: „Dzeneta hat sich offenbar vorgenommen, an diesem Tag wieder mal quer zu schießen.“ F2, 37:50 – 37:56 Auch hier verschiedene kurze Aufnahmen der wandernden Jugendlichen. Rockige Gitarrenmusik im Hintergrund. Sprecher: „Dzeneta ist fest entschlossen, ihre Machtprobe mit den Betreuern fortzusetzen und damit die Gruppe aufzuhalten.“ F1, 49:01 – 49:07 Verwackelte, dunkle Aufnahmen bei Nacht, man erkennt Stacey und Dzeneta, die Jacken in leuchtendem rot und gelb tragen. 140 Sprecher: „Dzeneta und Stacey weigern sich, ihr Lager aufzuschlagen. Sie wollen testen, wie weit sie bei den Betreuern gehen können.“ Kommentieren der Sprecher oder die Betreuer die Handlungen der Teenager, so werden den Jugendlichen in allen Fällen berechnende oder böswillige Motivationen unterstellt. Diese Vermutungen werden vor dem Zuschauer dann wie feststehende Tatsachen geäußert. Die folgenden fünf Zitate stehen beispielhaft für viele weitere ähnliche Kommentare. F1, 15:26 - 15:32 Situation: Vivien ist vor dem Flug in die USA am Frankfurter Flughafen weggelaufen, dann aber zurück gekehrt, um an dem Programm teilzunehmen. Sie wird in der „Totalen” gezeigt, als sie mit einer Tasche bepackt zurück zum Terminal kommt. Töne einer E-Gitarre im Hintergrund. Sprecher: „Vivien kehrt zurück. Sie fährt lieber in die USA als mit ihrer Mutter zurück ins verhasste Zuhause.“ Obwohl es viele denkbare Gründe gibt, warum Vivien letztendlich doch mit in die USA fliegt, wird ihr einfach unterstellt, sie wolle lediglich nicht zurück ins „verhasste Zuhause“. Mit anderen Worten: Sie entscheidet sich nur für das geringere Übel. Mit einem positiveren Menschenbild als Grundannahme hätte man stattdessen mutmaßen können, dass sie an dem Programm teilnimmt, um etwas zu verändern und wieder besser mit ihren Familienmitgliedern auszukommen (vgl. S.103). F1, 29:01 – 29:28 Als Frau Noble zu sprechen beginnt, sieht man Vivien, die neben einem Mann an eine Kellerwand gelehnt sitzt, weint und ihr Mobiltelefon ans Ohr hält. Anschließend sieht man Annegret Noble in der Einstellungsgröße „Groß“, die in einem dunklen Raum sitzend ein Interview gibt. Zwischenzeitlich wird Vivien eingeblendet, die mit roten, aufgequollenen Augen noch immer versucht, zu telefonieren. Langsame, traurige Klänge einer E-Gitarre ertönen leise im Laufe des Interviews. 141 Annegret: „Die Vivien probiert gerade mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln hier weg zu kommen. (grinst) Und sie versucht Erpressung, sie versucht Drohungen, sie versucht .. (lacht ein wenig) nervöse Zusammenbrüche und ähm, im Endeffekt ist alles ein Mittel, um zu erreichen, was sie will. Und zu Hause hat das auch oft funktioniert und hier funktioniert das nicht. Jetzt probiert sie eben eins nach dem anderen aus, bis sie dann . wahrscheinlich nicht mehr weiter weiß und sich beruhigen wird und wahrscheinlich auch mitmachen wird.“ F1, 1:03:31 - 1:03.39, F1, 1:08:35 – 1:08:38 Abwechselnd Aufnahmen von David, der entfernt von der Gruppe zwischen Sträuchern steht und seinen Rucksack schultert und den restlichen Teenagern, die mit den Betreuern zusammen in einem Kreis sitzen. Sprecher: „In einem unbeobachteten Moment macht sich David bereit zur Flucht. Er hat jetzt schon genug von seinem neuen Leben ohne Drogen und Kriminalität.“ Als die Betreuer ihn eingeholt haben erklärt er, dass er es in der Wüste nicht aushält und sich um seine Mutter kümmern muss. Er sitzt neben Annegret Noble am Wegrand, hat die Beine angezogen und den Kopf hinter seinen Armen vergraben. Sprecher: „Der wahre Grund für Davids Flucht: Drogenentzug.“ Auch in diesen beiden Fällen wird den Teenagern eine negative Motivation unterstellt: Statt ihr Verhalten als Verzweiflung zu deuten, da sie sich mit dem Programm überfordert fühlen, nach Hause wollen und dabei von niemandem ernst genommen oder unterstützt werden, behauptet Frau Noble im ersten Zitat, Vivien handle aus Berechnung, nur „um zu erreichen was sie will“. Der Sprecher unterstellt David in der zweiten Szene sogar zu lügen, da er sich nicht wie behauptet um seine Mutter sorge, sondern nur versuche wegzulaufen, da er „genug von seinem Leben ohne Drogen und Kriminalität“ habe. 142 F1, 1:01:43 – 1:01:59 Situation: Dzeneta will keinen Sonnenhut tragen. Zuerst sieht man Annegret Noble ein Stück hinter Dzeneta herlaufen. Sie befinden sich mit anderen Betreuen im „Staff-Camp“, um sie herum sieht man, abgesehen von einer aufgespannten Plane, nur vertrocknete Sträucher. Anschließend wird die Therapeutin beim Interview gezeigt, ein Kasten mit den Worten „Annegret Noble. ‚Dzeneta will unsere Grenzen testen’“ wird eingeblendet. Annegret: „Das Entscheidende für die Dzeneta war, dass sie gesehen hat, wir spielen die Spielchen nicht mehr. Sie hat die ganze Zeit gelacht, das war irgendwie w i t z i g, das ist hier nur, ich zeig den doofen Betreuern, wie man das hier macht und als sie gemerkt hat, dass wir da nicht mitspielen, sondern dass wir es ganz ernst meinen, hat sie dann glaub ich auch aufgegeben.“ Dzenetas Verhalten wird als „Spielchen“ gedeutet, mit dem sie sich über die Betreuer lustig macht und lediglich versucht, ihren Kopf durchzusetzen. Dass sich die Jugendliche vielleicht tatsächlich schämt, den in ihren Augen hässlichen Hut aufzusetzen und so im Fernsehen von ihren Freunden gesehen zu werden, wird nicht in Betracht gezogen. In der bereits häufig zitierten Szene, in der Vivien stürzt, wird besonders deutlich, dass den Teenagern negative Motivationen und Eigenschaften einfach unterstellt werden. (vgl. S. 67) Bereits im ersten Satz wird Vivien Faulheit und mangelnde Lust nachgesagt, obwohl sie möglicherweise einfach erschöpft und am Ende ihrer Kräfte ist. Auch die Aussage „sie täuscht einen Sturz vor“ impliziert, dass die Jugendliche berechnend und unehrlich ist. Dass Vivien tatsächlich gestolpert und gestürzt sein könnte, wird nicht für möglich gehalten. In den Rückblicken zu der vorangegangenen Sendung werden sogar Tatsachen verdreht, um ein möglichst schlechtes Bild der Jugendlichen zu vermitteln: F2, 3:15 – 3:23 Zuerst eine Aufnahme von Stacey, die versucht Betreuer Dan zu treten, um sich so aus seinem „therapeutischem Griff“ zu befreien. Anschließend sieht man Pascal, der gegen einen Gegenstand tritt und gleich darauf von einem 143 männlichen Betreuer zu Boden gerungen wird. Danach Dzeneta, die Dan mit den Worten „Mach Dich mal ab, du Hurensohn, Alter!“ abwehrt. Rockige Klänge einer E-Gitarre. Sprecher: „Die Teenager versuchten, sich mit körperlicher Gewalt zu widersetzen.“ F3, 2:11 - 2:18 (Die selben Aufnahmen wie in der vorherigen Szene) Sprecher: „Die Jugendlichen wurden handgreiflich und zwangen die Betreuer zu harten Maßnahmen.“ Tatsächlich werden nicht die Jugendlichen, sondern die Betreuer handgreiflich, wenn die Teenager ihre Anweisungen nicht befolgen. In den zu den Zitaten eingeblendeten Szenen erkennt man, dass die Jugendlichen lediglich versuchen, sich aus den Griffen der Professionellen zu befreien oder sich zu wehren. Auch die folgenden Szenen geben Hinweise auf das der Serien zugrunde liegende Menschenbild: F2, 29:36 – 30:01 Zuerst sieht man die Gruppe im Kreis um ein Lagerfeuer sitzen und sich unterhalten. Dann wird links ein Kasten mit Annegret Noble in „Großaufnahme“ eingeblendet, der im Laufe des Kommentars zum Vollbild wird. Einblende: „Annegret Noble. Cheftherapeutin“. Langsame und traurige Klavierklänge. Annegret: „Kevin sagt im Moment, dass es eigentlich nur die Schuld seiner Freunde ist, dass er so viele Probleme hat, mit der Polizei und dass er Diebstähle begangen hat und dass er drei Gerichtsverhandlungen noch hat. Und das stimmt auf keinen Fall. Da ist irgendwas in ihm ja auch drin, das da mitgemacht hat und das „ja“ gesagt hat. Und das wird er noch finden und das wird ihn vielleicht auch n bisschen erschrecken, dass er das wirklich in sich hat und dass das nicht nur seine Freunde sind.“ 144 Laut dieser Formulierung von Annegret Noble hat Kevin etwas „in sich drin“, das ihn Straftaten begehen lässt. Sie argumentiert anhand einer dispositionalen Attribution, die besagt, dass die Ursachen für das Fehlverhalten einer Person in ihr selbst und nicht in äußeren Umständen liegen. Frau Noble unterstellt Kevin also, unabhängig von situationalen Bedingungen, etwas Destruktives in sich drin zu haben. Diese Ansicht zeugt von einem überaus negativen Menschenbild. F4, 12:44 – 12:56 Links im Bild sieht man ein Kasten mit einer Großaufnahme von Annegret Noble, die ein Interview gibt. Im rechten Kasten geht Pascal auf sein Zelt zu. Ein männlicher Betreuer beobachtet ihn dabei und ruft ihm etwas zu. Dann vergrößert sich der Kasten mit Annegrets Kopf, bis er den gesamten Bildschirm ausfüllt. Einblende: „Annegret Noble. Cheftherapeutin.“ Annegret: (leicht grinsend) „Wir geben ihnen .. das, was sie brauchen, nicht unbedingt das, was sie wollen, damit sie lernen, was wirklich wichtig im Leben ist. Und wir vermitteln ihnen Einsichten, die ihnen helfen, sich selbst und ihr Leben besser zu verstehen.“ Dieses Zitat besagt, dass die Mitarbeiter von Catherine Freer besser als die Jugendlichen selbst wissen, was diese brauchen und gut für sie ist, da sie laut Annegret Noble ihr Leben nicht richtig verstehen. Wie bereits im Kapitel über die Partizipationsmöglichkeiten (4.2.2) herausgearbeitet wurde, werden die Teenager als unmündig, wenn nicht sogar als dumm, verstanden und dargestellt. Auffällig ist außerdem, dass die Jugendlichen oft wie gefährliche Kriminelle betrachtet und behandelt werden, die man ständig bewachen muss und denen man nicht vertrauen kann: F1, 36:48 - 37:02 Frau Luepges steht, während sie das Interview gibt, in einem ungemütlich und kalt wirkenden Kellerraum und hält einen Notizblock in der Hand. Ein roter Kasten mit den Worten „Marlies Luepges. Betreuerin“ wird eingeblendet. Im Hintergrund sieht man einige der Jugendlichen auf dem Boden sitzen. 145 Marlies: „Es ist wichtig, dass wir auf der Fahrt so wenig Risiken wie möglich eingehen. Dann haben wir auch die Mitarbeiter so verteilt, das wir Deutsch sprechende Leute haben, dass wir genügend, ähm, Betreuer zwischen den Jugendlichen haben und so weiter. Dass da keine negativen Verbindungen geschafft werden können.“ F4, 3:16 – 3:25 Situation: Die Jugendlichen sollen beim so genannten 'Solo' einige Tage völlig allein in ihren Zelten verbringen, die weit voneinander entfernt stehen. Links im Bild befindet sich Kris Schock, der ein Interview gibt, rechts sieht man nacheinander Vivien und Pascal ihre Schuhe abgeben. Im Hintergrund hört man sehr leisen Gesang mit Trommelgeräuschen. Kris: „Wir nehmen die Schuhe und die Stirnlampe weg, damit die Jugendlichen nicht einander besuchen können und dass sie nicht weglaufen können.“ Die Betreuer rechnen eigentlich zu jedem Zeitpunkt mit einem Aufstand oder Fluchtversuchen seitens der Jugendlichen und behandeln sie dementsprechend von vorne herein wie Verbrecher. Dieses Misstrauen widerspricht nicht nur, wie zuvor erwähnt, dem Prinzip der Ressourcenorientierung und verhindert einen pädagogischen Bezug, es zeugt auch von einem sehr negativen Menschenbild. Die Botschaft, die sowohl dem Zuschauer, als auch den Jugendlichen selbst vermittelt wird, lautet: Man kann den Teenagern nicht vertrauen und muss vor ihnen immer auf der Hut sein, da sie von Grund auf schlechte Menschen sind. Insgesamt habe ich leider nur vier Situationen gefunden, in denen die Jugendlichen etwas positiver betrachtet werden. Beispielhaft sei die folgende Szene aufgeführt: F1, 1:22:15 – 1:22:31 Situation: Dzeneta weiterwandern. hat ihren Rucksack abgeworfen und will nicht 146 Die Jugendliche ist in der Einstellungsgröße „Amerikanisch“ zu sehen, sie sitzt im Schneidersitz am Boden und hat den Kopf gesenkt, so dass man nur ihren Hut sieht. Die Kamera schwenkt hoch zu Frau Luepges, die mit ihrem Rucksack bepackt und einer Wasserflasche in der Hand hinter der Jugendlichen steht. Traurige Musik im Hintergrund. Marlies: „Und jetzt wär deine erste Möglichkeit, mal da was anderes auszuprobieren. Ich versteh das schon, wenn man immer die gleichen Art und Weise hat, mit Problemen umzugehen, dann, dann (hockt sich hin, so dass sie sich mit Dzeneta auf einer Augenhöhe befindet) fährt man sich da so in ne Gewohnheitssachen rein. Jetzt hier in dem Moment hast du die Möglichkeit, das zu ändern.“ Das hier vermittelte Menschenbild ist insofern positiv, als das den Jugendlichen etwas zugetraut wird. Im ersten Zitat ist Marlies Luepges davon überzeugt, dass Dzeneta alte Verhaltensweisen ablegen und neue ausprobieren kann, also entwicklungsfähig ist. Alles in allem muss man jedoch festhalten, dass die Darstellung der Jugendlichen und somit das vermittelte Menschenbild - überwiegend negativ ist. Sie werden als kriminell, gewalttätig, egoistisch und rücksichtslos vorgestellt, Stärken und positive Eigenschaften werden nicht erwähnt. Die Motivationen für ihre Handlungen sind laut Sprecher und Mitarbeiter der Wille, den eigenen Kopf durchzusetzen, oder der Wunsch, andere zu schikanieren. Laut Annegret Nobles dispositionaler Attribution haben die Jugendlichen diese destruktiven Eigenschaften „in sich drin“, Verständnis für ihr Verhalten ist somit höchst wahrscheinlich nicht zu erwarten. Passend dazu werden sie als faul, dumm und unmündig dargestellt. Dass die Betreuer den Teenagern in manchen Szenen immerhin zutrauen, sich zu entwickeln, wird an dem negativen Eindruck, den der Zuschauer von den Jugendlichen erhält, wenig ändern. Ihm wird damit hingegen vermittelt, dass positive Veränderungen der Heranwachsenden, die während des Therapieprogramms zu beobachten sind, dem Projekt und den Betreuern, nicht aber den Teenagern selbst zuzuschreiben sind. 147 5 Fazit Die kritische Analyse der Szenen hat viele Differenzen zwischen den Erziehungspraktiken der Betreuer bei „Teenager außer Kontrolle“ und einer professionellen Pädagogik sichtbar gemacht. Aufgrund dieser Unterschiede stimme ich der Behauptung, meine spätere berufliche Praxis sei mit den in der Sendung dargestellten Inhalten vergleichbar, nicht zu. Im Folgenden möchte ich noch einmal die wichtigsten Differenzen herausstellen: - Bereits die Grundlage allen pädagogischen Handelns, das Menschenbild, ist bei „Teenager außer Kontrolle“ negativ. Im Gegensatz zu professionellen Pädagogen, die ihren Klienten mit Wertschätzung begegnen und sie prinzipiell für gute Menschen halten, treten die Mitarbeiter des „Catherine Freer Therapy Program“ den Jugendlichen von vorne herein mit Misstrauen und Abneigung gegenüber. Sie unterstellen ihnen für ihre Handlungen negative Motivationen, wie Berechnung oder das vorsätzliche Schikanieren ihrer Mitmenschen und behandeln sie wie gefährliche Kriminelle. Den positiven Eigenschaften und Potenzialen der Teenager wird keinerlei Beachtung geschenkt. - Dies geht einher mit einer kaum vorhandenen Ressourcenorientierung. Der Fokus der Sendung liegt grundsätzlich auf negativen Aspekten: Selbst wenn es den Betreuern partiell gelingt, positive Entwicklungen der Jugendlichen anzuerkennen oder ihnen benötigte Ressourcen zur Verfügung zu stellen, lenken abwertende Kommentare des Sprechers oder Rückblicke zum vorherigen Leben der Jugendlichen, die Aufmerksamkeit des Beobachters auf das, was in der Vergangenheit nicht funktioniert hat. Dem Zuschauer wird vermittelt, dass es in den Hilfen zur Erziehung darum geht, die Probleme und „Fehler“ der Kinder und Jugendlichen ständig im Auge zu behalten und darauf „herumzureiten“. Ein guter Pädagoge hingegen würde anerkennen, was dem Klienten bisher gelungen ist, ihn darin bestärken und daran ansetzen. - Bei „Teenager außer Kontrolle“ geht es kaum um die Beziehungen der Jugendlichen, obwohl diese eine wichtige Ressource im Leben eines Menschen darstellen. Vor allem auf positive Beziehungen der Jugendlichen untereinander wird kaum Wert gelegt, die Peergruppe wird lediglich als Druckmittel benutzt. Häufig versuchen die Mitarbeiter des Programms sogar, Freundschaften unter 148 den Gruppenmitgliedern zu verhindern. Pädagogisch betrachtet wäre es weitaus sinnvoller und professioneller, eine positive Peerkultur zu unterstützen, um die entwicklungsfördernden Aspekte der Gleichaltrigenbeziehungen zu nutzen und mit den Teenagern an einem konstruktiven Verhältnis zu ihren Mitmenschen zu arbeiten. Positiv ist zu erwähnen, dass trotz der großen räumlichen Distanz Wert auf Elternarbeit gelegt wird. Sie von Bedingungen abhängig zu machen und als Druckmittel zu benutzen, um die Jugendlichen zum Einhalten der Regeln zu bewegen, ist pädagogisch betrachtet jedoch nicht sinnvoll. Auch die Ausgestaltung der Elternarbeit ist mangelhaft: Die Eltern erfahren keine Wertschätzung ihrer bisherigen Erziehungsleistungen und die Teenager werden mit Schuldzuschreibungen konfrontiert. Des weiteren entspricht die Beziehung zwischen Erzieher und Zögling nicht den Kriterien guter pädagogischer Arbeit: Obwohl es den Betreuern in einigen Situationen gelingt, freundlich und hilfsbereit zu sein, verhindern harte, teils demütigende Strafen, ein großes Misstrauen den Jugendlichen gegenüber, ein Mangel an Akzeptanz und Verständnis, sowie hartes körperliches Durchgreifen der Betreuer die Entstehung eines pädagogischen Bezugs, ohne den laut Nohl „alles übrige vergeblich“ bleibt. Die Möglichkeit, für die Teenager zu wichtigen Bezugspersonen zu werden und einen positiven Einfluss auf sie zu haben, ist als äußerst gering einzuschätzen. - Das Verhältnis von Selbst- und Fremdkontrolle ist außerdem als dem Alter und Entwicklungsstand der Jugendlichen nicht angemessen zu bewerten. Partizipationsmöglichkeiten werden den Heranwachsenden nur bei relativ unbedeutenden Punkten zugesprochen, häufig werden sie noch nicht einmal über die sie betreffenden Entscheidungen informiert. Das verhindert natürlich jegliche Mitsprache und somit eine Selbstbestimmung der Teenager. Eine Vorbereitung auf ein verantwortungsvolles Leben findet nicht statt, denn den Jugendlichen wird die Chance auf eine Entwicklung zur Selbständigkeit genommen. Die Fremdbestimmung wurde an den beobachteten Strafpraktiken deutlich: Schon die Tatsache, dass die Strafen ein fest geplanter und häufiger Bestandteil des Programms sind, steht im Widerspruch zu einer professionellen Pädagogik. Da sie zu Scheinanpassungen führen, sollten sie lediglich in Ausnahmefällen angewandt werden und immer logisch und auf Wiedergutmachung ausgelegt sein. Die Strafen bei „Teenager außer Kontrolle“ scheinen hingegen als willkürliche Racheakte und Schikanen. 149 Mit Blick auf all diese Mängel kann davon ausgegangen werden, dass es bei „Teenager außer Kontrolle“ nicht um die Bedürfnisse der teilnehmenden Jugendlichen geht. Die Methoden sind darauf ausgelegt, in möglichst kurzer Zeit sichtbare Veränderungen zu erreichen, Scheinanpassungen werden dabei in Kauf genommen. Statt auf lang anhaltende Entwicklungen hinzuarbeiten, wird versucht, große Effekte zu erzielen, um Eltern und Zuschauer von der Wirkung des Programms zu überzeugen. Die Heranwachsenden durch Strafen und Demütigungen gefügig zu machen und sie somit zum Einhalten von Regeln zu bringen, mag für den Laien wie eine funktionierende Maßnahme aussehen, ist jedoch Dressur und hat mit Erziehung nichts zu tun. Eigenständig und verantwortlich mit ihrem Leben zurechtzukommen lernen die Jugendlichen hierbei jedenfalls nicht. Eltern, die Probleme mit ihren Kindern haben und diese Sendung sehen, könnten zu der Überzeugung gelangen, dass ihre Kinder durch Strafen und sogar körperliche Gewalt zu erziehen seien und dass Heranwachsende nach acht Wochen Jugendhilfemaßnahme als neue, geheilte Menschen zu ihren Eltern zurückkehren. Die dargestellte Elternarbeit und die mangelhafte Ressourcenorientierung könnten außerdem dazu führen, dass Eltern sich in Krisensituationen nicht an das Jugendamt wenden, da sie befürchten aufgrund der Konzentration auf Probleme bloßgestellt zu werden. Die zuschauenden Kinder werden beim Anblick des Programms wahrscheinlich Angst vor pädagogischen Maßnahmen bekommen, da sie die Teilnahme an der Therapie als Strafe und die dargestellten Jugendlichen als Objekte erleben, deren Willen es zu brechen gilt. Fernsehzuschauer, die der Meinung sind „die Jugendlichen von heute müssen nur mal richtig bestraft werden“ und „manchmal muss man zum Besten der Kinder auch mal handgreiflich werden“, sehen sich durch „Teenager außer Kontrolle“ in ihren Aussagen bestätigt und schalten gern Woche für Woche ein. Dass die Mitarbeiter von Catherine Freer demnach nicht über eine (schlechte) Alttagspädagogik hinauskommen und die Darstellung der Teenager zu Abneigung gegen junge Menschen führen kann, scheint die Produzenten der Sendung nicht zu stören – denn Gewalt und Hass bringen hohe Einschaltquoten. Alles in allem führt die Sendung also zu Missverständnissen und einem falschen Bild pädagogischer Arbeit, was schwerwiegende und verheerende Folgen bezüglich der Erwartungen an „echte“ Hilfen zur Erziehung Erziehungsmaßnahmen der zuschauenden Eltern haben kann. und die zukünftigen 150 6 Literaturverzeichnis Monographien, (Lehr-)Bücher, Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften − Amesberger, Günter: Persönlichkeitsentwicklung durch Outdoor-Aktivitäten? Untersuchungen zur Persönlichkeitsentwicklung und Realitätsbewältigung bei sozial benachteiligten. Butzbach-Griedel, 4. Aufl. 2003. − Bauer, Hans G.: Erlebnis- und Abenteuerpädagogik. Eine Literaturstudie. München, 2., erw. Aufl. 1985. − Bauer, Hans G..: Erlebnispädagogik in der sozialen Arbeit. Lüneburg, 1989. − Beck-Texte: Jugendrecht. München, 27. 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