WIllIAM ENGElEN

Transcription

WIllIAM ENGElEN
WILLIAM
ENGELEN
Raumansicht KAI 10 | installation view KAI 10
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For clarinet and tape (Single page scores), 2010
Study for electronic music (Single page scores), 2010
William Engelen
For two violins (Single page scores), 2011
Soundcloud (Single page scores), 2010
For two violins (Single page scores), 2010
30
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Jorinde
voigt
Raumansicht KAI 10 | installation view KAI 10
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Jorinde Voigt, 100 Views Nächtliches Konzert, 2011
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Jorinde Voigt
aus | from: Scenes of Lovemaking 1-64. 320 Views on Japanese Erotic Art, 2012
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Von Staub und Farbe.
Notationen und Diagramme im Werk von
William Engelen und Jorinde Voigt
ON dust and colour.
Notation and Diagrams in the works of
William Engelen and Jorinde Voigt
W
illiam Engelen und Jorinde Voigt in einer Ausstellung zusammen zu bringen, liegt nah und fern zugleich. Ihre Werke mögen zwar auf den ersten Blick
etwas miteinander zu tun haben und doch unterscheiden sich ihre künstlerischen Positionen in vielen Aspekten. Was sie verbindet, ist eines der Verfahren, das in
Drawing a Universe in den Blickpunkt gerückt wird: Das Übersetzen von einer Ebene in
eine andere. Transformationen von Werkstadien, Materialien, Medien, Bildern und Klängen, unseren Sinnen und Imaginationen. Engelen ist bildender Künstler und Komponist.
Sein interdisziplinäres Werk bewegt sich zwischen Partitur, Performance, Aufführung,
Skulptur und Installation. Voigt arbeitet mit den Medien Zeichnung, Collage und Installation. Beide Künstler verwenden auf unterschiedliche Weise Notationen und Diagramme als Darstellungsformen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist der ‚Boom‘ an Verfahren groß, die es Künstlern und Künstlerinnen ermöglichen, die vernetzte Gegenwart
in ihrer Komplexität und Informationsfülle begreifbar zu machen. Schaubilder, Modelle,
Entwürfe, Notizen, Konstruktionszeichnungen, Kartografien, Algorithmen und grafische
Partituren sind als eigenständige Bildgattungen unter dem Begriff der Diagrammatik zu
einem neuen Forschungsfeld in der Kunsttheorie geworden. „Hinter dem gesteigerten
Interesse am diagrammatischen Sachbild verbarg sich das unterschwellige Bedürfnis
nach Ordnung im Modus faktischer Sichtbarkeit. Angesichts riesiger Datenmengen [...]
suggeriert das Diagramm ‚plötzlich diese Übersicht‘, jene Übersicht, die aufgrund der
sich beschleunigten Veränderungen in der Welt der Tatsachen zunehmend in Frage
Lisa Sintermann
B
1
Schmidt-Burkhardt, Astrit: Plötzliche diese Übersicht. Kunst unter dem diagrammatischen Imperativ,
in: Leeb, Susanne (Ed): Die Materialität der Diagramme. Kunst und Theorie. Berlin 2012, p. 90.
Schmidt-Burkhardt cites a working title of Fischli/
Weiss in the title of her essay.
2
Frizot, Michel: Notation als graphische Darstellung
und ästhetischer Sprung, in: Amelunxen, Hubertus
von [et.al.] (Ed.): Notation. Kalkül und Form in den
Künsten. Berlin and Karlsruhe 2008, p. 66.
3
Rajchman, John: Die Kunst der Notation, in:
Amelunxen (2008), p. 73.
Jorinde Voigt
aus | from: Scenes of Lovemaking 1-64. 320 Views on Japanese Erotic Art, 2012
38
4
Leeb, Susanne: Einleitung, in: Leeb (2012), p. 22.
ringing William Engelen and Jorinde Voigt together in one exhibition is something
that is obvious yet also surprising. Although their works seem to have something
in common at first glance, their artistic approach in fact differs in many aspects.
However, the common aspect is one of the processes focused on by the exhibition, Drawing a Universe: the transition from one level to another. Transformations of work phases,
materials, media, images and sounds, the senses and imagination. Engelen is a fine artist
and a composer. His interdisciplinary work oscillates between music score, performance,
show, sculpture and installation. Voigt works with the media of drawing, collage and installation. Both artists use notations and diagrams as a representational means, although
in different ways. Since the end of the 20th century, there has been a ‘boom’ in methods that
enable artists to make the networked present perceivable in all its complexity and wealth
of information. Charts, models, designs, notes, design drawings, cartography, algorithms
and graphic music scores have become new fields of research within an autonomous genre
entitled diagrammatics. According to Astrit Schmidt-Burkhardt, “behind the increased interest in diagrammatic, realistic pictures there has always been a subconscious need for
structure in the form of factual visibility. In view of the huge amounts of data [...] a diagram
suggests ‘this sudden overview’, which has increasingly been questioned due to the accelerating changes in the world of data.”1 One could suppose that notations and diagrams are
based simply on calculation and pure objectivity. However, new artistic fields of research
can be accessed once they are freed of this pretence. “Notation contains the certainty of
an objective, visual, mathematic specification and at the same time the uncertainty of an
intellectual reprogramming, the recreation of something else that is mobile, adjustable, unexpected”2, according to Michel Frizot. John Rajchman emphasises that the art of notation
does not only lie in simply making the invisible, visible but much more in making what was
previously inconceivable, conceivable. “It is only then that notation becomes artistic, philosophical. No longer satisfied with content that simply records the codes of a medium or the
rules of a language, notation is used to outline new categories of thought, to explore and
disclose them.”3 Engelen and Voigt do precisely this: they have discovered individual forms
of notations and diagrams, which incorporate their perception, emotion and experience. It
is this subjective aspect in particular that is emphasised in current studies on the theme of
diagrammatics. Susanne Leeb states: “Nevertheless, diagrams in art deal with relationships
and forms of classification. Hence the big question posed by many artists working with diagrams is how does each individual stand in relation to the cosmos, the world, society and
other people – and is hence a question of subjectivity.”4
39
gestellt wurde“1, heißt es bei Astrit Schmidt-Burkhardt. Man könnte annehmen, Notationen und Diagramme basierten auf reinem Kalkül und reiner Objektivität. Doch einmal
von diesem Anschein gelöst, eröffnen sich neue künstlerische Forschungsfelder. „Die
Notation birgt die Gewissheit einer objektiven, bildlichen, mathematischen Festsetzung
und zugleich die Ungewissheit ihrer geistigen Neueinschreibung, der Wiedererzeugung
von etwas Anderem, das mobil, veränderlich, unerwartet ist“2, so Michel Frizot. John
Rajchman betont, die Kunst der Notation liege nicht nur im bloßen Sichtbarmachen
von Unsichtbarem, sondern vielmehr im Denkbarmachen von zuvor Undenkbarem.
„Erst dann wird Notation künstlerisch, philosophisch. Nicht länger zufrieden damit,
einfach die Codes eines Mediums oder die Regeln einer Sprache aufzuzeichnen, wird
sie dazu benutzt, neue Bereiche des Denkens zu skizzieren, zu erkunden und zu eröffnen.“3 Engelen und Voigt tun eben dies: Sie haben individuelle Formen von Notationen
und Diagrammen gefunden, die ihre Wahrnehmung, Emotionen und Erfahrungen einschließen. Es ist gerade dieser subjektive Aspekt, der in aktuellen Studien zum Thema
der Diagrammatik betont wird. So heißt es bei Susanne Leeb: „Gleichwohl geht es bei
Diagrammen in der Kunst um Relationen und Anordnungsweisen. Die diagrammatische
Großfrage vieler Künstler/innen ist entsprechend, wie der Einzelne im Verhältnis zum
Kosmos, zur Welt, der Gesellschaft, zu Anderen steht – und ist damit oft eine Frage
von Subjektivität.“4
Methoden des Aufzeichnens
1
Schmidt-Burkhardt, Astrit: Plötzliche diese Übersicht. Kunst unter dem diagrammatischen
Imperativ, in: Leeb, Susanne (Hg.): Die Materialität
der Diagramme. Kunst und Theorie. Berlin 2012,
S. 90. Schmidt-Burkhardt zitiert in dem Titel ihres
Essays einen Werktitel von Fischli/Weiss.
2
Frizot, Michel: Notation als graphische Darstellung
und ästhetischer Sprung, in: Amelunxen, Hubertus
von [et.al.] (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den
Künsten. Berlin und Karlsruhe 2008, S. 66.
3
Rajchman, John: Die Kunst der Notation, in:
Amelunxen (2008), S. 73.
4
Leeb, Susanne: Einleitung, in: Leeb (2012), S. 22.
Recording Methods
E
ngelens und Voigts eigenständige – oder besser gesagt eigenwillige – Methoden
des Aufzeichnens sind vor dem Hintergrund einer Tradition zu sehen, die sich seit
dem 19. Jahrhundert bis heute stark gewandelt hat. Denkt man Notation im Zeitalter von Soundscapes, Klang- und Videokunst, Internet und Digitalisierung nicht mehr
nur als schriftliche Aufzeichnung, sondern als Aufnahme im weitesten Sinne, könnte
jedes (bewegte) Bild und jeder Ton, selbst Stille, eine Notation sein. Ursprünglich war
dieser Begriff (lateinisch notatio: Bezeichnung, Beschreibung) untrennbar mit der Idee
der Reproduktion von Kunstwerken verbunden: Als Aufzeichnungssysteme hatten sie
das Ziel, Abläufe mittels zuvor festgelegter Symbole und Zeichen schriftlich festzuhalten und kommunizierbar zu machen.5 Ein Klassisches Beispiel aus der Musik sind
Partituren (italienisch partitura: Einteilung): mit Hilfe eines universell verständlichen
Notensystems können die Einzelstimmen einer Komposition von Dirigent und Musikern gelesen und aufgeführt werden. Im Unterschied zum flüchtigen Skizzieren geht
es beim Notieren nicht um das Kennzeichnen von etwas Figürlichem, sondern um das
Bezeichnen von etwas Abstrakten wie Tonverläufen, Bewegungsabfolgen oder komplexen Sachverhalten. So ist die Notation eng verbunden mit wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Diagramme (griechisch diágramma: Umriss, Figur, Zeichnung) als eine
Form der Notation generiert werden, um Informationen grafisch darzustellen und gesichertes Wissen übersichtlich zu veranschaulichen. Charles Darwin schrieb 1837 – in
diesem Sinne programmatisch – „I think“ in eines seiner Evolutionsdiagramme, welche
später die Naturwissenschaften revolutionieren sollten. Während wissenschaftliche
Diagramme als ebensolche Denkräume funktionieren, fokussieren künstlerische Diagramme die Visualisierung von Denkbewegungen selbst. Im Vordergrund steht das
Herstellen von Relationen, so wie beispielsweise Paul Klee in seinem Pädagogischen
Nachlass Ende der 1920er-Jahre mit Hilfe von Farben, Formen und rhythmischen Mustern nach Parallelen zwischen Kunst und Musik suchte.
Im 20. Jahrhundert kamen Fragen nach dem Verhältnis von Original und Reproduktion sowie Ausgangs- und Endpunkt von Kunstwerken auf. Mit der Öffnung des Werkbegriffs in der Bildenden Kunst veränderte sich auch der Notationsbegriff. Der wohl
größte Umbruch geschah in der Neuen Musik der 1960er- und 70er-Jahre. Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis oder John Cage brachten grafische
Partituren hervor, die sich von einer eindeutigen Schreibweise und Lesbarkeit befreiten. Ungewohnte, neue Zeichen wurden geboren, die offen für Interpretationen waren
VON STAUB UND FARBE.
ON DUST AND COLOUR.
—
Lisa Sintermann
5
Vgl. Lammert, Angela: Von der Bildlichkeit der
Notation, in: Amelunxen (2008), S. 39.
E
5
Cf. Lammert, Angela: Von der Bildlichkeit der
Notation, in: Amelunxen (2008), p. 39.
ngelen’s and Voigt’s autonomous – or better said idiosyncratic – methods of recording should be viewed against the background of a tradition that has changed considerably between the 19th century and today. If one no longer thinks of notation
in the age of soundscapes, sound and video art as a written recording but as a recording in
the widest sense of the word - each (moving) image and each sound, even silence, could
be a notation. Originally, the term (in Latin notatio: indication, description) was inseparably
linked to the idea of the reproduction of works of art: as systems of notation they had the
goal of recording and communicating processes in writing, using previously specified symbols and signs.5 A classic example from music are scores (in Italian partitura: arrangement):
with the help of universally comprehensible staves, the individual voices in a composition
can be read and performed by the conductor and musicians. In contrast to quick sketching, notation does not involve the identification of something figurative but the description
of something abstract such as the developments of sound or complex data. As a result,
notation is closely related to scientific disciplines, in which diagrams (in Greek diágramma:
outline, figure, drawing) are generated as a form of notation, in order to present information graphically and to show secured knowledge in a clearly structured way. In this spirit,
in 1837 Charles Darwin wrote – programmatically – “I think” in one of his evolution charts,
which were later to revolutionize the natural sciences. While scientific diagrams function as
concepts of thought, artistic diagrams focus on the visualisation of thought patterns themselves. The main focus is on the creation of relationships, for example in Paul Klee’s work,
Pedagogical Estate, at the end of the 1920s, in which he searched for parallels between art
and music with the help of colours, shapes and rhythmic patterns.
40
6
Cf. Bochner, Mel: Working drawings and other
visible things on paper not necessarily meant to be
viewed as art. Cologne and Paris 1997.
7
Lammert (2008), in: Amelunxen (2008), p. 52.
In the 20th century, questions arose concerning the relationship between originals and reproductions, as well as the starting point and finishing point of works of art. When the
definition of a work was extended in the context of fine art, the definition of notation also
changed. Probably the biggest upheaval was in the New Music of the 1960s and 1970s.
Composers such as Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis or John Cage produced graphic
scores of music, which were not limited to an explicit form of notation or readability. Unfamiliar, new symbols were created, which were open to interpretation or functioned alone
as an image. The classic definition of a music score was discarded and this had an influence
on the fine artists at this time. Fluxus, Concept and Performance Art worked with similar
instructions and incorporated the process of creation and reception in their definition of art.
With the exhibition, Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily
Meant To Be Viewed as Art6, initiated by Mel Bochner in 1966, every kind of sketch was
declared to be an autonomous work of art. “Notation can be perceived as a visual thought
pattern, which can be generated by the conceptual power of the sign or symbol but is
not tied to a system of symbols. Examining notation also includes looking at the structure
of artistic design processes and it makes clear that 20th century art explores a different
relationship between the concept and the work” 7, as Angela Lammert summarises.
41
oder allein als Bild funktionierten. Der klassische Begriff der Partitur wurde gebrochen, was Einfluss auf die Bildenden Künstler dieser Zeit nahm. Fluxus, Konzeptkunst
und Performance arbeiteten mit ähnlichen Handlungsanweisungen und bezogen den
Entstehungs- und Rezeptionsprozess in ihren Kunstbegriff mit ein. Jegliche Art von
Entwurfsskizzen wurden schließlich spätestens seit der von Mel Bochner initiierten
Ausstellung Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily
Meant To Be Viewed as Art6 1966 zu autonomen Kunstwerken erklärt. „Notation kann
als visuelle Denkform verstanden werden, die von der begrifflichen Kraft des Zeichens
ausgehen kann, aber nicht an ein System von Zeichen gebunden ist. Die Frage nach der
Notation schließt die Frage nach der Strukturierung künstlerischer Gestaltungsprozesse
ein und macht deutlich, dass es in der Kunst des 20. Jahrhunderts um ein verändertes
Verhältnis von Idee und Werk geht“ 7, resümiert Angela Lammert.
William Engelen. Zeichnung als Musik – Musik als Zeichnung
6
Vgl. Bochner, Mel: Working drawings and other
visible things on paper not necessarily meant to be
viewed as art. Köln und Paris 1997.
7
Lammert (2008), in: Amelunxen (2008), S. 52.
William Engelen. Drawing as music – music as drawing
I
8
Other versions: Falten for string instrument, 2011;
Falten for accordion, 2010; Falten for quartett, 2010.
9
William Engelen in conversation with the author.
Berlin, November 19, 2012.
10
Other versions: Verstijken voor ensemble, Museum
Boijmans van Beuningen Rotterdam, KNM Berlin,
2008, 44.48 Min; Verstriken for Motion Ensemble,
UNB Gallery Fredericton, Museum Moncton, Struts
Gallery, Sackville, 2011, 33:36 Min; Vertrijken for
string trio, La Chambre Blanche, Québec, 2005,
11:12 Min; Verstijken in Vienna. Viola: Dimitris
Polisoides, Studio 501, Tonspur 33, MuseumQuartier,
Wien, 2009, 47:24 Min; Vertrijken for violin.
Clemens Merkel, La Chambre Blanche, Québec;
Vertrijken for Ko Ishikawa, Yu-un House, Tokyo, 2010,
22:24 Min.
n 1947, with his Symphonie Monoton – Silence, Yves Klein heralded the radical conceptual tendencies of New Music years before John Cage by having a single D-major
accord played for 20 minutes, followed by 20 minutes of silence. Waves of sound followed by silence are created in William Engelen’s Falten für Streichquartett (Folds for a
string quartet, 2012). As in other examples of his methods of composition, there are different versions of the Falten (Folds)8. At KAI 10, the work comprises of a score of music
placed on a table, surrounded by four speakers, from which the sound of two violins, a
viola and a violoncello can be heard. The nine-metre-long and 36 cm-wide paper was
given a precisely timed score. Following this, the paper was folded in different places using
different widths and angles. It was not until this moment that added the staves to the paper. When folded out, the written sheet of paper forms large and small, narrow and wide,
rigid and flexible arcs, which are continuously punctuated by the parts hidden by the folds,
which remain untouched by the staves. The blank spaces, which generate silence during the
performance, also cause a shift in the markings, as well as the entries, breaks and intervals of music, for the strings. Time and space replace the notes. Engelen always rehearses
the performances in dialogue with the musicians, who are required to precisely express
their own sensations on encountering the spaces caused by the folds in sound: “Imagine
you are really small and you are standing in the music score. You walk through the score,
through the differently designed rooms. How do you imagine they sound?” 9 In Falten für
Streichquartett, the artist structures space, time, sound and silence. Without taking sides,
the work oscillates between autonomous drawing, graphic music score, sculpture, object,
(sound) installation and the performance of music.
In addition to Falten für Streichquartett, at KAI 10 a new version of the composition,
Verstrijken for Sonar Quartett (2013), can be heard as a concert. Between 2005 and 2011,
different variations were performed as ensembles and solo pieces, for example in Quebec,
Vienna, Tokyo and Rotterdam10. The possibility of transcribing daily routines into a musical
composition, in which each hour is represented by eight seconds of sound. In 2007, Engelen
asked nine musicians to keep a diary between 18th and 24th June. He specified five categories: sleeping, eating, work, leisure and travel. The task of the musician was to observe
the period of time spent doing each of these activities and document his or her emotions
and frame of mind, for example how the food tasted, how easy or difficult they found it to
practice or what preoccupied them when they were sleeping. Verstrijken was performed
in 2007 in Museum Boijmans van Beuningen and for the first time was also presented as a
space-filling sculpture. On the walls of the sculpture that actually served as the concert
hall, diagram-like, wall-filling scores of music which Engelen had compiled for each member
42
Y
ves Klein nahm 1947 mit seiner Symphonie Monoton – Silence Jahre vor John
Cage die radikalen konzeptuellen Tendenzen der Neuen Musik vorweg, indem
er 20 Minuten lang einen einzigen D-Dur Akkord aufführen ließ, gefolgt von 20
Minuten Stille. Wellen von Klang und Stille entstehen auch in William Engelens Falten
für Streichquartett (2012). Wie auch andere seiner Kompositionsmethoden gibt es die
Falten in verschiedenen Versionen.8 In KAI 10 liegt eine lange Partitur auf einem Tisch,
umgeben von vier Boxen, aus denen der Klang von zwei Violinen, einer Viola und einem Violoncello ertönt. Das neun Meter lange und 36 cm breite Papier wurde mit einer
präzisen Zeittaktung versehen. Danach wurde das Papier an verschiedenen Stellen in
unterschiedlicher Breite und Schräge gefaltet. Erst jetzt brachte der Künstler die Notenlinien an. Aufgeklappt formt sich die beschriftete Papierbahn zu großen und kleinen,
engen und weiten sowie starren und beweglichen Bögen, immer wieder unterbrochen
von den durch die Faltungen verborgenen Stellen, die von den Notenlinien unberührt
blieben. Durch die schrägen Leerstellen, an denen während der Aufführung Stille
herrscht, werden die Einsätze, Pausen und Klangstrecken der Streicher zueinander versetzt. Zeit und Raum treten an die Stelle von Noten. Engelen studiert die Aufführungen
stets im Dialog mit den Musikern ein, die ihr eigenes Empfinden angesichts der durch die
Falten gebildeten Räume präzise in Klang umsetzen sollen: „Stell Dir vor, Du bist ganz
klein und Du stehst in der Partitur. Du läufst durch die Partitur, durch die verschiedenen
Räume, die gestaltet wurden. Wie kannst Du Dir ihren Klang vorstellen?“9 Der Künstler
organisiert in Falten für Streichquartett Raum, Zeit, Klang und Stille. Die Arbeit bewegt
sich – ohne sich auf einer Seite zu positionieren – zwischen autonomer Zeichnung, grafischer Partitur, Skulptur, Objekt, (Sound-) Installation und der Aufführung von Musik.
Neben Falten für Streichquartett wird in KAI 10 eine neue Version der Kompositionsmethode Verstrijken als Konzert zu hören sein: Verstrijken for Sonar Quartett (2013).
Zwischen 2005 und 2011 wurden verschiedene Variationen als Ensemble- und Solostücke u.a. in Québec, Wien, Tokyo und Rotterdam aufgeführt.10 Zu Beginn des Werkes
stand die Frage nach der Möglichkeit, Tagesabläufe in eine musikalische Komposition zu
übersetzen, wobei jede Stunde acht Sekunden Klang ergab. So bat Engelen 2007 neun
Musiker und Musikerinnen, zwischen dem 18. und 24. Juni Tagebuch zu führen. Er gab
fünf Kategorien vor: Schlafen, Essen, Arbeiten, Freizeit und Reisen. Die Musiker sollten
die Zeitspannen ihrer Aktivitäten observieren und ihre Emotionen und Gemütszustände dokumentieren, etwa wie ihnen das Essen schmeckte, wie leicht oder schwer ihnen
das Proben fiel oder was sie im Schlaf beschäftigte. Verstrijken wurde 2007 im Museum
Boijmans van Beuningen aufgeführt und erstmals zugleich als begehbare Skulptur
inszeniert. An den Wänden der als Konzertsaal dienenden Skulptur waren die wandfüllenden, diagrammartigen Partituren ausgestellt, die Engelen für jedes Mitglied des
Ensembles erstellte.11 Grundlage der Partituren waren Auszüge aus den Tagebüchern
der Musiker wie „tief und teilweise unruhig geschlafen“, „Frühstück für Louisa“ oder „gut
gegessen in netter Atmosphäre“. Diese übersetzte Engelen entsprechend der jeweiligen Dauer innerhalb des Tagesablaufs in sekundengenaues „Spielmaterial“.
11
Please see Seyfarth, Ludwig: Still Life with Musical
Instruments. Vertrijken voor ensemble as Performance
and Installation, in: Engelen, William (Ed.): William
Engelen Verstrijken Audioworks 1999-2008.
Nuremberg 2008, pp. 44-46.
12
The examples refer to the music score Grafische
Notation für Streicher. Allgemein for the musician
Ringela Riemke (Verstijken voor ensemble).
Cf. Engelen (2008).
VON STAUB UND FARBE.
ON DUST AND COLOUR.
—
Lisa Sintermann
8
Weitere Versionen: Falten for string instrument, 2011;
Falten for accordion, 2010; Falten for quartett, 2010.
9
William Engelen im Gespräch mit der Autorin.
Berlin, 19 November 2012.
10
Weitere Versionen: Verstijken voor ensemble,
Museum Boijmans van Beuningen Rotterdam,
KNM Berlin, 2008, 44.48 Min; Verstriken for Motion
Ensemble, UNB Gallery Fredericton, Museum
Moncton, Struts Gallery, Sackville, 2011, 33:36 Min;
Vertrijken for string trio, La Chambre Blanche,
Québec, 2005, 11:12 Min; Verstijken in Vienna.
Viola: Dimitris Polisoides, Studio 501, Tonspur 33,
MuseumQuartier, Wien, 2009, 47:24 Min; Vertrijken
for violin. Clemens Merkel, La Chambre Blanche,
Québec; Vertrijken for Ko Ishikawa, Yu-un House,
Tokyo, 2010, 22:24 Min.
11
Siehe hierzu weiterführend Seyfarth, Ludwig:
Stillleben mit Musikinstrumenten. Vertrijken voor
ensemble als Aufführung und Installation, in:
Engelen, William (Hg.): William Engelen Verstrijken
Audioworks 1999-2008. Nürnberg 2008, S. 41-43.
of the ensemble, were exhibited.11 These were based on excerpts from the diaries such as
“I slept deeply but to some extent restlessly”, “Breakfast for Louisa” or “I ate well in nice
surroundings”. After this Engelen transcribed the length of the daily routines into “material
to play”, which is precisely timed to the second.
In the new version of Verstrijken for Sonar Quartett, each hour of the documented
week is transcribed into sixteen seconds of music, so that the composition lasts 44:48 minutes. In the style of headwords, he describes in the texts how the daily routines should be
interpreted. “Very little time to rest. This should be expressed when played. It is more of a
fast, rhythmic staccato.” For example, the artist makes notations in the form of elongated
dashes, arcs or loops, with the instructions “follow the movements of the drawing in the
arc”. For details such as “blurred”, he designs swirling light grey lines, while “focused” was
noted in the form of angular, dark grey contours.12 The interaction between the musicians
43
In der neuen Version Verstrijken for Sonar Quartett wird jede Stunde der dokumentierten Woche in 16 Sekunden Musik übersetzt, so dass die Komposition 44:48 Minuten
dauert. In stichpunktartigen Texten beschreibt Engelen, wie die Tagesabläufe musikalisch interpretiert werden sollen, beispielsweise: „Wenig Zeit zum ausruhen. Im Spiel
soll das zum Ausdruck kommen. Eher schnelles rhythmisches Staccatospiel.“ Der
Künstler gibt darüber hinaus Notationen in Form von lang gezogenen Strichen, Bögen
oder Schlaufen, mit der Anweisung „Folge mit dem Bogen den Bewegungen der Zeichnung“, vor. Für weitere Spielanweisungen wie „unscharf“ entwirft er wabernde hellgraue Linien, während „scharf“ in Form von eckigen dunkelgrauen Konturen notiert ist.12
Das Zusammenspiel der Musiker wird nicht durch einen Dirigenten geregelt, sondern
erfolgt streng nach einer Stoppuhr. Alle Musiker spielen jeweils ein Solostück und sind
angewiesen, nicht auf das Spiel der anderen zu reagieren, was vor allem für erfahrene Ensembleinstrumentalisten sehr ungewohnt ist. Engelen kombiniert – nicht nur in
Verstrijken – die Zeichensprache der Neuen Musik mit seiner eigenen Weise der Notation, die die Zufälligkeiten des Alltags in präzise Strukturen übersetzt, wobei durch den
Verzicht auf eine kompositorische ‚Gesamtentscheidung‘ vieles unvorhersehbar bleibt.
Welch hohen künstlerischen Eigenwert Engelens Notationsweise als Zeichnung besitzt, wird vor allem in den Single Pages Scores deutlich. Anders als die Werke Falten
und Verstrijken bleiben diese grafischen Partituren aus dem Jahr 2010 „einfach still“13.
Einige der Blätter können als Möglichkeiten einer Aufführung gelesen werden, andere
stehen als autonome Zeichnungen für sich. Der Künstler verteilt mit schwarzem Pigmentstift Zeichen über das Weiß des Papiers, verdichtet Linien stellenweise, lässt sie
wieder frei auslaufen, verbindet die losen Enden und zieht Kreise und Quadrate. Mit
einer konkreten Klangvorstellung im Kopf entwirft Engelen je nach Instrument spielbare und nicht spielbare Zeichen. So besteht for quartett aus vier Kreisformationen, die
mit feinen, zitternden Linien verbunden sind. In Study for electronic music notiert er
mehr und weniger ausgefüllte Balken, während die Linienbündel in for violin eine konkrete Klangvorstellung ermöglichen. Andere Blätter wie Round goes the gossip oder
Soundcloud weisen keine eindeutigen musikalischen Zeichen auf sondern vermitteln
vielmehr Geräuschvorstellungen oder bildliche Assoziationen. Die Single Page Scores
bewegen sich als „Kopfpartituren“ an der „Grenze zu Sound“14, wie Michael Glasmeier
diese hoch konzentrierten Blätter treffender Weise bezeichnet.
13
William Engelen in conversation with the author,
Berlin, November 19, 2012.
14
Glasmeier, Michael: On the Happy Loss of the Key, in:
Blomberg, Katja (Ed): William Engelen – Musikbox.
Cologne 2011, p. 77.
Eine räumliche Konstellation mit weniger systematischem als assoziativem Bezug auf
ein akustisches Phänomen ist Urknall (2011), ein großes Mobile aus Staubkugeln, die
durch Metallstäbe verbunden sind. Das Mobile ist seit Marcel Duchamp und der kinetischen Kunst beliebtes Objekt für Bildende Künstler und auch Komponisten der Neuen Musik verwendeten das bewegliche Konstrukt als Motiv für grafische Partituren.15
Während Engelens Mobile im Haus am Waldsee 2011 in einem Raum platziert war, an
dessen Wänden sich eine Tapete mit einem durchgehenden Muster aus horizontalen
und vertikalen Notenlinien befand16, schwebt es in KAI 10 für sich genommen im Ausstellungsraum. Gegensätze prallen in Urknall aufeinander: Die Schwere physikalischer
Kräfte und die Leichtigkeit von Staubfasern, das Wideraufgreifen von etwas Entferntem,
der Mikrokosmos innerhalb des Staubs und die Weite des Weltalls, an dessen Anfang
der Knall stand. Mit seinem Mobile zeichnet Engelen eine Bild- und Klangvorstellung in
unseren Köpfen. Ist das (noch) Notation?
12
Die Beispiele beziehen sich auf die Partitur
Grafische Notation für Streicher. Allgemein für die
Musikerin Ringela Riemke (Verstijken voor ensemble).
Vgl. Engelen (2008).
44
Lisa Sintermann
15
Zum Beispiel Roman Haubenstock-Ramatis Mobile
for Shakespeare, 1958.
16
Siehe hierzu Installationsansicht in: Blomberg (2011),
S. 26-27.
A spatial constellation with a more associative than systematic relationship to the acoustic
phenomenon is Urknall (Big Bang, 2011), a large mobile made of balls of dust connected by
metal rods. Since the time of Marcel Duchamp and Kinetic Art, mobiles have been a popular object among fine artists, and composers of New Music also used the versatile construct
as a motif for graphic scores.15 Whilst in 2011 Engelen’s mobile was placed in a room in the
Haus am Waldsee that was wallpapered with an unbroken pattern made up of horizontal
and vertical staves16, at KAI 10 the work hovers by itself in the exhibition space. Opposites
collide in Urknall: the strong physical power and the lightness of the dust particles, the
rediscovery of something remote, the microcosmos within the dust and the vastness of the
universe that began with the big bang. With his mobile, Engelen sketches an idea of an image or sound in our minds. Is this (still) notation?
13
William Engelen im Gespräch mit der Autorin,
Berlin, 19 November 2012.
14
Glasmeier, Michael: Vom erfreulichen Verlust
des Schlüssels, in: Blomberg, Katja (Hg): William
Engelen – Musikbox. Köln 2011, S. 77.
is not controlled by a conductor but instead by very strictly using a stopwatch. Each of the
musicians plays a solo piece and has been instructed not to react to what the other musicians are playing, something which ensemble players in particular are not accustomed to.
Engelen combines – not only in Verstrijken – the symbolic language of New Music with his
own form of notation, which translates the everyday coincidences into precise structures,
while the fact that a compositional “overall decision” is dispensed with means that many
things remain unpredictable.
In particular the Single Pages Scores show the highly artistic intrinsic value that Engelen’s method of notation has as a drawing. In contrast to the works, Falten und Verstrijken,
these graphic scores from 2010 remain “simply silent”13. Some of the sheets could be read
as an opportunity to perform, while others stand alone as autonomous drawings. The artist
covers the white paper with symbols using black pigment. In some parts he thickens the
lines, while in others he allows them to trail off at will, or he connects the loose ends to
form circles and squares. With a concrete sound concept in mind, Engelen creates playable
and non-playable notes for each instrument. Hence for quartett consists of four circular formations, which are connected by delicate, quivering lines. In Study for electronic
music he has drawn thick lines, some filled in more than others, while the bundle of lines
in for violin make it possible to envisage a specific sound. Other sheets, such as Round
goes the gossip or Soundcloud, do not show any specific musical notes but rather convey
sound concepts or visual associations. The Single Page Scores move along the “border of
sound” in the form of “head scores”14, as Michael Glasmeier aptly describes these highlyconcentrated sheets.
VON STAUB UND FARBE.
ON DUST AND COLOUR.
—
Jorinde Voigt. Different views on pictures
T
15
For example, Roman Haubenstock-Ramati’s
Mobile for Shakespeare, 1958.
16
Please see installation view in: Blomberg (2011),
pp. 26-27.
he collages with the titles, 100 Views Nächtliches Konzert (100 views, nocturnal
concert) and 48 Views Love Scene In The Winter, are part of the work complex, Views
on Chinese Erotic Art. From 16th to 20th Century (2011), in which Voigt combines
notation and collage techniques. The collages are inspired by works that were on view
in the exhibition, Der chinesische Lustgarten - Erotische Kunst aus der Sammlung
Bertholet (The Chinese pleasure garden - Erotic Art from the Bertholet collection) in
the East Asian art collection in the Museen Dahlem. In the pages of the Chinese album, the
erotic love act is explicitly depicted, however the scenery and props have been so artistically designed that the pornographic content becomes less important. Instead, the works
provide an insight into the Chinese culture, for example when the tiny lotus feet of the
women strike the eye – something that was still an ideal of beauty in China at the beginning
of the 20th century. Fascinated by the formal characteristics of the images, Voigt deals with
the colour and form of the depictions in her collages. Each area of colour that is visible in
Voigt’s work represents the artist’s view of the respective album sheet, the title of which
Voigt takes up and supplements. While her first observation is directed to a rough impression of the motif, with each further “view” the artist gets closer to the structure of the composition. Nächtliches Konzert (nocturnal concert) collects 100 of such so-called views,
whilst in Love Scene In The Winter 48 pieces of paper have been installed. With the help
of a colour fan, the artist determines the respective colour numbers of the robes, lovers,
wallpaper or furniture. With this synchronous representation of colour and form, elements
45
Jorinde Voigt. Ansichten auf Bilder
D
ie Collagen mit den Titeln 100 Views Nächtliches Konzert und 48 Views Love
Scene In The Winter sind Teil des Werkkomplexes Views on Chinese Erotic Art.
From 16th to 20th Century (2011), in dem Voigt Notation und Collagetechnik
kombiniert. Sie sind inspiriert von Werken, die in der Ausstellung Der chinesische Lustgarten - Erotische Kunst aus der Sammlung Bertholet (2011) in der Ostasiatischen Kunstsammlung in den Museen Dahlem zu sehen waren. In den chinesischen Albumblättern
wird der erotische Liebessakt explizit dargestellt, jedoch ist die Kulisse mit ihren Requisiten so kunstvoll und detailliert ausgearbeitet, dass der pornografische Inhalt in den
Hintergrund rückt. Vielmehr geben sie Einblicke in die chinesische Kultur, wenn zum
Beispiel die winzigen Lotosfüße der Frauen ins Auge stechen – noch bis zu Beginn des
20. Jahrhunderts Schönheitsideal in China. Fasziniert von den formalen Charakteristika
der Bilder, beschäftigt sich Voigt in ihren Collagen mit der Farbigkeit und der Form der
Darstellungen. Jede Farbfläche, die in den Arbeiten Voigts zu sehen ist, repräsentiert
einen Blick der Künstlerin auf das jeweilige Albumblatt, dessen Titel Voigt übernimmt
und ergänzt. Während ihr erstes Betrachten einem groben Eindruck des Motivs gilt,
nähert sie sich mit jeder weiteren ‚Ansicht‘ der Struktur der Komposition an. Nächtliches Konzert versammelt 100 solcher so genannten views, während in Love Scene In
The Winter 48 Papierflächen montiert sind. Mit Hilfe eines Farbfächers ermittelt die
Künstlerin die entsprechenden Farbnummern der Gewänder, Liebespaare, Tapeten
oder Möbelstücke. Durch diese synchrone Darstellung von Farbe und Form lassen
sich teilweise Elemente wie Tische, Spiegel, Haarschöpfe oder die besagten Lotosfüße
wiedererkennen. Ihre nahezu mimetische Darstellungsweise ergänzt die Künstlerin mit
Hand geschriebenen Notationen, welche die Farbflächen in einen neuen räumlichen
und zeitlichen Kontext stellen. Pfeile und Zahlen geben „Himmelsrichtung Nord-Süd“,
„Rotationsrichtung“, „Rotationsgeschwindigkeit“, „Windrichtung“, „Windstärke“ oder
„Umdrehungen/Min, Woche, Quartal, Jahr“ an, so dass eine imaginäre Drehbewegung
evoziert wird. Darüber hinaus markiert Voigt jede Ansicht der Reihenfolge ihres Betrachtens entsprechend als „Countup“ oder „Countdown“. Auf diese Weise erfahren
wir den Ablauf ihres Sehprozesses, der nicht immer einer linearen Leserichtung folgt.
Durch das vielfache Hineinzoomen in einen Gegenstand findet eine repetitive Vertiefung statt, die musikalischen Prozessen gleicht. Farben und Formen werden von Voigt
so lange variiert und wiederholt, bis die Charaktereigenschaften der betrachteten Bilder – ihres Empfindens nach – hervortreten. Die Künstlerin bezieht sich mit dieser Herangehensweise explizit auf die chinesische und japanische Maltradition, in der hunderte
Ansichten eines Motivs angefertigt wurden, etwa Hundert Ansichten des Berges Fuji
oder Yoshitoshis Hundert Ansichten des Mondes.
such as tables, mirrors, shocks of hair or the previously mentioned lotus feet are to some
extent recognizable. The artist supplements the almost mimetic representation with notes
written by hand, which put the surfaces of colour in a new spatial and temporal context.
Arrows and numbers indicate “Himmelsrichtung Nord-Süd” (compass points north-south),
“Rotationsrichtung” (direction of rotation), “Rotationsgeschwindigkeit” (speed of rotation),
“Windrichtung” (direction of wind), “Windstärke” (strength of wind) or “Umdrehung/Min,
Woche, Quartal, Jahr” (revolutions per minute, week, quarter, year), evoking an imaginary rotation. In addition, Voigt marks each depiction of the sequence of her observations
accordingly as a “countup” or “countdown”. In this way, we are able to follow her gaze,
which does not always trace a linear reading pattern. By frequently zooming in on an
object, a repetitive consolidation occurs, which is similar to musical processes. Voigt keeps
repeating and varying colours and forms until the character traits of the images viewed
ermerge according to her perception. With this approach, the artist refers explicitly to the
Chinese and Japanese painting traditions in which hundreds of views of one and the same
motif were produced, for example, 100 Views of Mount Fujii or Yoshitoshi’s One Hundred
Aspects of the Moon.
46
Der Zyklus Japanese Erotic Art – From 17th to 19th Century 1-64 (2012) ist eine
unmittelbare Fortführung der Collagen, die wiederum nach chinesischen Motiven entstanden. Als Vorlage dienten Voigt hier so genannte japanische Shungas,
auch „Frühlingsbilder“ genannt. Die erotischen Malereien und Farbholzschnitte der
Edo-Zeit gehören dem Ukiyo-e Stil an, was so viel bedeutet wie „Bilder der fließenden Welt“. Abbildungen der Shungas fand die Künstlerin in Gian Carlo Calzas Buch Poem of the Pillow and Other Stories. By Utamaro, Hokusai, Kuniyoshi and
Other Artists of the Floating World.17 Die Shungas hatten bis zu ihrem Verbot im
17. Jahrhundert nichts Anrüchiges an sich, sondern waren in allen Gesellschaftsschichten des Landes zu finden. Ziel der Künstler war, die „Vielfältigkeit der sexuellen Möglichkeiten“18 darzustellen. In den erotischen Bildern, die für ihre stilisierte Darstellungsweise berühmt sind, erscheint die überdimensional große Darstellung der Penisse eigentümlich. „Zudem hatten die Geschlechtsmerkmale in Japan oft die Funktion eines
‚zweiten Gesichts‘ und brachten Leidenschaften zum Ausdruck, die die ‚Alltagsphysiognomie‘ aufgrund des strikten Sozialkodexes zu verbergen verpflichtet war.“19 So sind die
japanischen Shungas weitaus pornografischer als die chinesischen Darstellungen. Ihre
Rahmengeschichten, um den erotischen Liebesakt gesponnen, sind in der symbolhaften Bildkomposition angelegt: Halb geöffnete Vorhänge, geschwungene Vasen oder
der aufwändige Kopfschmuck der Frauen sowie einfahrende Boote oder überbordende
Fratzen erzählen Bände. Voigt nimmt diese ‚lustvollen‘ Bilder mit einem analytischen
Blick auseinander, ebenso wie sie es bei den chinesischen Vorlagen tat. Doch es gibt
Unterschiede: Die vorgezeichneten Umrisslinien ihrer Farbflächen sind hier deutlicher
zu erkennen, so dass sie comicartigen Illustrationen ähneln. Zudem gehen die Formen,
die aus den farbigen Papieren ausgeschnitten sind, auf unterschiedliche Abbildung aus
dem Buch zurück und verteilen sich über alle 64 Blätter der Serie hinweg. Voigt montiert zwischen fünf und sieben unterschiedliche Farbflächen in vertikaler Anordnung
17
Cf. Calza, Gian Carlo: Poem of the Pillow and
Other Stories. By Utamaro, Hokusai, Kuniyoshi and
Other Artists of the Floating World. Berlin 2010.
18
Pilcher, Tim (Ed): Erotische Comics - das Beste aus
zwei Jahrhunderten. Munich 2010, p. 18.
19
Pilcher (2010), pp. 18-19.
VON STAUB UND FARBE.
ON DUST AND COLOUR.
—
Lisa Sintermann
17
Vgl. Calza, Gian Carlo: Poem of the Pillow and
Other Stories. By Utamaro, Hokusai, Kuniyoshi and
Other Artists of the Floating World. Berlin 2010.
18
Pilcher, Tim (Hg.): Erotische Comics - das Beste aus
zwei Jahrhunderten. München 2010, S. 18.
19
Pilcher (2010), S. 18-19.
The cycle, Japanese Erotic Art – From 17th to 19th Century 1- 64 (2012), is a very direct
continuation of the collages, which in turn originated from the Chinese motifs. Voigt based
her work on the so-called Japanese shungas, or “spring pictures”. The erotic paintings and
coloured woodcuts from the Edo period belong to the Ukiyo-e style, which means something along the lines of “images of a flowing world”. The artist found images of the shungas
in Gian Carlo Calza’s book, Poem of the Pillow and Other Stories. By Utamaro, Hokusai,
Kuniyoshi and Other Artists of the Floating World17. The shungas were not considered
offensive prior to their prohibition in the 17th century and could be found in all social classes
throughout the country. The aim of the artist was to show the “diversity of the sexual possibilities”18. In the erotic images, which are renowned for their stylised depiction, the huge
and detailed depiction of penises seems rather peculiar. “In addition, in Japan the sexual
characteristics often had the function of a ‘second sight’ and expressed passion, which the
‘everyday physiognomy’ was compelled to hide due to the strict social code.”19 As a result,
the Japanese shungas are much more pornographic than the Chinese images. Their secondary narratives, spun around the erotic act of love, are set in the symbolic visual compositions: partially open curtains, curved vases or the elaborate headdresses of women,
as well as approaching boats or excessive grimaces speak volumes. Voigt dissects these
“sensuous” images with an analytic gaze, just as she did with the Chinese originals. However, there are differences: the pre-drawn contours of sections of colour are more clearly
recognisable here and resemble comic-like illustrations. In addition, the shapes, which
have been cut out of coloured paper, are based on different images from the book and
cover 64 sheets in the series. Voigt installed between five and seven different coloured
sections in vertical alignment on a sheet and gave them their characteristic notations: “Rotationsrichtung, Umdrehungen/Tag” (direction of rotation, revolutions/day), “Vorgestern
∞” (the day before yesterday
∞), “Gestern
∞” (yesterday
∞), “Heute
∞”
(today
∞), “Morgen
∞” (tomorrow
∞), “Übermorgen
∞” (the day after tomorrow
∞), “shift km/h”, “Himmelsrichtung Nord-Süd” (compass points north-south), and
“Ausrichtung internes/externes Zentrum” (alignment internal/external centre). In this way,
47
auf einem Blatt und versieht diese mit ihren charakteristischen Notationen: „Rotationsrichtung, Umdrehungen/Tag“, „Vorgestern
∞“,, Gestern
∞“,, Heute
∞“,,
∞“,, Übermorgen
∞“, „Shift km/h“, „Himmelsrichtung Nord-Süd“ und
Morgen
„Ausrichtung internes/externes Zentrum“. Auf diese Weise verortet Voigt die Silhouetten, die ihren subjektiven Wahrnehmungsprozess der Shungas widerspiegeln, innerhalb eines objektiven Orientierungssystems. In diese ‚Matrix‘ – ein eigendynamischer,
grafischer Raum – könnte jegliche Art von Information eingespeist werden, nicht nur
Extrakte japanischer Kunst, so Voigt. Das „interne Zentrum“ steht laut Künstlerin symbolisch für unseren „inneren Kompass“, während das „externe Zentrum“ alle „äußeren
Bezugspunkte“ der Gesellschaft mit einbezieht.20 Individuelle Aspekte werden in Relation gebracht. Gleichzeitig und gleichwertig stehen sich diese Pole in Japanese Erotic
Art – From 17th to 19th Century 1-64 gegenüber. Ebenso kontrastiert die Strenge ihres
systematischen Vorgehens mit der Farbigkeit der Serie.
In Voigts Collagen stehen Fragen über menschliche Wahrnehmung, Sprache, Kognition, Intuition und Assoziation im Mittelpunkt. Die Künstlerin untersucht, wie Informationen in Bildern angelegt sind und auf welche Weise sie visuell mit ihrem Gegenüber
kommunizieren. Verändert sich während des Betrachtens von Dingen unsere Erinnerung an das eben noch Gesehene? Gibt es eine Verschiebung auf dem Weg Auge-Gehirn-Hand-Papier? Das Überführen von Inhalten in ein spezifisches System, das offen
für die Anschauung Anderer bleibt, ist eine wesentliche Funktion von Diagrammen als
Produzenten von neuen Bedeutungsebenen: „Das Diagramm präsentiert in gebotener
Knappheit zentrale Argumente und damit einen diskursiven Rahmen für die Rezeption
von Theorie. Der diagrammatische Darstellungsmodus erlaubt es, kognitives Wissen als
visuellen Vorgang, eben als ‚kognitive Kunst‘ zu vermitteln, die ihrerseits des visuellen
Überschusses bedarf, um neue Erkenntnisprozesse anzustoßen.“21
20
Jorinde Voigt in conversation with the author, Berlin,
December 11, 2012.
21
Schmidt-Burkhardt (2012), in: Leeb (2012), p. 74.
22
Jorinde Voigt in conversation with the author, Berlin,
December 11, 2012.
Was passiert nun, wenn wir ebenso spontan wie Voigt mit ihren Vorlagen umging, auf
ihre neue Version der Shungas blicken? Aus der Ferne betrachtet erinnern die Blätter an
fernöstliche Schriftzeichen, die in senkrechter Richtung niedergeschrieben werden. Es
entsteht ein Verweis auf die Einheit von Bild und Schrift, die in japanischer und chinesischer Kunst, wie auch in den Shungas selbst, vorherrscht. Notation bedeutet im klassischen Sinne Zeichnen und Schreiben und ist zentraler Aspekt aller Arbeiten der Künstlerin. Im Raum der Ausstellung erwecken die bunten Silhouetten – aus ihrem einstigen
Kontext herausgerissen – aber auch den Eindruck von schwebenden „freien Teilchen“22,
denen etwas Fragiles anhaftet. Engelens Staubmobile und Voigts Farbextrakte, die sich
in Drawing a Universe gegenüberstehen, rücken (nun doch) zusammen.
Lisa Sintermann
Transformationen
N
20
Jorinde Voigt im Gespräch mit der Autorin, Berlin,
11. Dezember 2012.
21
Schmidt-Burkhardt (2012), in: Leeb (2012), S. 74.
Voigt places the silhouettes, which reflect her subjective perception of the shungas, within an
objective orientation system. According to Voigt, every kind of information, not only
extracts of Japanese art, can be fed into this “matrix” – a graphic space with its own momentum. According to the artist, the “internal centre” symbolically represents our “inner
compass”, while the “external centre” incorporates all the “external points of reference” in
society.20 Individual aspects are brought into relationship with one another. In Japanese
Erotic Art – From 17th to 19th Century 1-64, these poles confront one another at the
same time and with equal importance. Likewise, the stringency of the artist’s systematic
approach forms a contrast to the chromaticity of the series.
Voigt’s collages focus on questions regarding human awareness, speech, cognition, intuition and association. The artist explores how information is stored in images and in what
way they visually communicate with their counterpart. Does our memory of what has just
happened change while we are in the process of looking at something? Is there some kind
of shift during the process of eye-mind-hand-paper? The transferal of content to a specific system, which remains open to being viewed by others, is an important function of
diagrams as the producers of new levels of meaning: “a diagram presents a scarce number
of central arguments and in doing so also a discursive space for reception and theory. The
diagrammatic representation modus allows for cognitive knowledge to be communicated
as a visual process, even as ‘cognitive art’, which itself requires a visual surplus in order to
stimulate new cognitive processes.”21
What happens if we look at Voigt’s new version of the shungas with the same spontaneous approach that Voigt took when viewing the originals? Seen from a distance, the
sheets are reminiscent of Far-Eastern characters, written vertically; a reference to the unity
of images and writing predominant in Japanese and Chinese art, as well as in the shungas
themselves. Notation means symbols and writing in the classical sense of the word and is
a central aspect of all the artist’s works. In the exhibition space, the colourful silhouettes –
removed from their initial context – also create an impression of hovering ‘free particles’22,
in which something fragile is inherent. Engelen’s dust mobiles and Voigt’s extracts of colour,
which are juxtaposed in Drawing a Universe, are able to draw closer (after all).
48
VON STAUB UND FARBE.
ON DUST AND COLOUR.
—
otationen können Endresultate sein, zum Beispiel Claude Heaths Blindzeichnungen oder Morgan O’Haras Live Transmissions23. Bei Engelen und Voigt sind
es Notationen zu eigenen transformierenden Bewegungen, die im Mittelpunkt
ihrer Arbeiten stehen. Engelen übersetzt Klangvorstellungen in grafische Partituren und
davon ausgehend in Skulpturen, Objekte, Musikstücke, Imaginationen der Betrachter
oder sie bleiben für sich stehende Zeichnungen. Voigt hingegen überträgt ein Bild in ein
neues Bild. Sie übersetzt Abbildungen historischer Gemälde und Drucke in Diagramme
aus Bild- und Textelementen. Weder Engelen noch Voigt sind Konzeptkünstler im Sinne Sol LeWitts, der in seinen Paragraphs on Conceptual Art proklamierte: „Die Idee wird
zur Maschine, die Kunst macht.“24 Bei beiden Künstlern sind die ästhetischen Spezifika
des Resultats entscheidend. Jedoch ist ihre Arbeitsweise streng konzeptuell, ordnend
und systematisierend – versehen mit subtilem Humor und sinnlichen Inspirationsquellen. Es ist eben diese „Mischung aus visueller Poesie und analytischer Darstellung“25,
die Astrit Schmidt-Burkhardt kennzeichnend für das künstlerische, diagrammatische
Denken ansieht, das Engelens und Voigts Werke durchzieht. Charakteristika von Orten,
Dingen und Personen aus seinem Alltag aufspürend, setzt Engelen diese Parameter in
musikalische Portraits um, etwa die Wachstumsstruktur seiner Zimmerpflanze Jochen
(Jochen, 2007), die Verteilung von Nüssen in Milkaschokolade-Tafeln (Breaking the
bar, 2008), Wetterdaten (Meteophon, 2010) oder die Lebensrhythmen seiner Musiker
22
Jorinde Voigt im Gespräch mit der Autorin, Berlin,
11. Dezember 2012.
23
Heath zeichnet mit verbundenen Augen oder mit
Hilfe von Vorrichtungen, so dass er Gegenstände
lediglich durch ihr Ertasten und Vorstellen abbildet.
O‘Hara hingegen beobachtet eine menschliche
Aktion und überträgt die Bewegungen mit beiden
Händen zeitgleich auf Papier. Beide Künstler lassen
die Ergebnisse ihrer spontanen Aufzeichnungen für
sich stehen ohne sie später zu modifizieren.
24
Sol LeWitt, 1967, zitiert in: Lee, Pamela; Mehring,
Christine (Hg.): ‚Zeichnen ist eine andere Art von
Sprache‘. Neuere amerikanische Zeichnungen aus einer
New Yorker Privatsammlung. Stuttgart 1997, S. 110.
25
Schmidt-Burkhardt (2012), in: Leeb (2012), S. 74.
Transformations
23
Heath draws blindfolded or with the help of special
equipment so that he pictures objects solely by
feeling or imagining them. O’Hara, on the other
hand, observes a human action and transfers the
movements with both hands at the same time onto
paper. Both artists allow the results of their spontaneous actions to stand alone without modifying
them later.
24
Sol LeWitt, 1967, cited in: Lee, Pamela; Mehring,
Christine (Hg.): ‚Zeichnen ist eine andere Art von
Sprache‘. Neuere amerikanische Zeichnungen aus
einer New Yorker Privatsammlung. Stuttgart 1997,
p. 110.
25
Schmidt-Burkhardt (2012), in: Leeb (2012), p. 74.
N
otations can be final outcomes, for example in Claude Heath’s blind drawings
or Morgan O’Hara’s Live Transmissions.23 In the case of Engelen and Voigt, their
works centre around notations of their own transformative movements. Engelen
translates sound concepts into graphic music scores and, based on these, into sculptures,
objects, music or the imaginative concepts of the viewers, or they remain autonomous
drawings. Voigt, on the other hand, transfers an image into a new image. She translates
reproductions of historic paintings and prints into diagrams made up of image and text elements. Neither Engelen nor Voigt are conceptual artists in the sense of Sol LeWitt, who proclaimed in his Paragraphs on Conceptual Art: “The idea becomes the machine that makes
the art.”24 In the case of both artists it is the specific aesthetic aspect of the result that is decisive. However, their method of working is strictly conceptual, regulatory and systemizing
– incorporating subtle humour and sensual sources of inspiration. It is this “mixture of visual
poetry and analytic presentation”25, which Astrit Schmidt-Burkhardt perceives to be characteristic of the artistic, diagrammatic way of thinking that permeates the work of Engelen and Voigt. On the trail of the characteristics of places, things and people in everyday
life, Engelen transforms parameters into musical portraits, for example the growth structure
of his house plant, Jochen (Jochen, 2007), the distribution of nuts in a bar of Milka chocolate
49
(Verstrijken, 2005-2012). Das Material seiner visuellen, akustischen und verbalen Aufzeichnungen reicht von Interviews, die er auf Audiorecordern aufnimmt (Sag es mit
Musik, 2011) über Fotografien einer Skulptur (In every single way, 2002 ) bis zu geknicktem
Papier (Falten, 2010). Selbst innerhalb eines Werkes verwendet Engelen verschiedene
Notationsformen, wenn etwa Verstrijken zwischen biografischem Log- und Tagebuch,
Diagramm und grafischer Partitur, Rauminstallation und Konzert oszilliert. Auch Voigt
hat seit Beginn ihrer Notationen im Jahr 2003 eine codierte Schreibweise entwickelt
um Charakteristika von akustischen und optischen Phänomenen mittels Parametern
und Algorithmen in komplexe visuelle Kompositionen zu übertragen. Auch sie erstellt
mit ihren Collagen ein Portrait: und zwar jenes ihrer Sichtweise auf fernöstliche Klassiker
aus Kunst- und Kulturgeschichte.
Transformationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Möglichkeit von vielen
bieten: a Universe heißt es im Titel der Ausstellung. Engelens und Voigts Werken ist dieser
Modell-Gedanke immanent. Ihre Arbeiten bestehen aus Variationen, Repetitionen und
Möglichkeitsräumen an der Grenze zu einer realen Umsetzung oder einem fiktiven Entwurf.
So wie Voigt in allen Blättern „Rotation“ als Bezeichnung für eine immer vorhandene,
aber kaum sichtbare Dynamik notiert, so steht auch Engelens Mobile niemals wirklich still.
(Breaking the bar, 2008), meteorological data (Meteophon, 2010) or the pace of life of his
musicians (Verstrijken, 2005-2012). The material containing his visual, acoustic and verbal
recordings ranges from interviews, which he records on audio recorders (Sag es mit Musik /
Say it with music, 2011), to photographs of a sculpture (In every single way, 2002) or folded
paper (Falten Folds, 2010). Engelen even uses different forms of notation within one work,
oscillating, for example, in Verstrijken between biographical logbook and diary, diagram
and graphic music score, spatial installation and concert. When beginning her notations in
2003, Voigt developed an encoded way of writing in order to transfer the characteristics
of acoustic and optical phenomena to complex visual compositions using parameters and
algorithms. She also creates a portrait with her collages: her perception of Far-Eastern
classics from art and cultural history.
Transformations are also characterised by the fact that they offer one possibility among
many: a Universe is part of the title of the exhibition. In Engelen’s and Voigt’s works, this
model-concept is immanent. Their works consist of variations, repetitions and scope for
possibilities. They move along the boundaries to real implementation or fictive design. Just
as Voigt notes “rotations” as a symbol for a dynamic that is scarcely perceivable yet has
always been there on all the sheets, so Engelen’s mobiles are also never still.
Raumansicht KAI 10 | installation view KAI 10
William Engelen
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51