museum villa stuck ricochet

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museum villa stuck ricochet
Die Reihe RICOCHET präsentiert in der ehemaligen Künstlervilla des Malerfürsten
Franz von Stuck (1863–1928) Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, die sich mit
Diskursen unserer Zeit sowie aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Problematiken
auseinandersetzen und diese durch ästhetische Transformation einer Neubetrachtung
öffnen. Für jede der vier Ausstellungen werden gemeinsam mit den Künstlerinnen
und Künstlern Räume im Gesamtkomplex der Villa Stuck ausgewählt, die neben dem
klassischen White Cube-Ausstellungsraum auch historische Repräsentationsräume
des Künstlerfürsten und einen Künstlergarten umfassen. RICOCHET interveniert, prallt
auf, hinterlässt Spuren – auch innerhalb des Ausstellungsprogramms der Villa Stuck –
und legt neue Perspektiven und Positionen offen.
The exhibition series RICOCHET at the former residence of Munich’s “Prince of Art”
Franz von Stuck (1863–1928) presents four contemporary artists. Their works reflect
on the discourses of our time and address topical political or social issues, rendering
them open to reconsideration through aesthetic transformation. For each of the
exhibitions, the artists and curators jointly selected the spaces within the entire Villa
Stuck complex, which encompasses not only the White Cube Exhibition Area, but also
Franz von Stuck’s famous state rooms and the artist’s garden. RICOCHET intervenes,
reverberates and leaves traces – as can be seen in the Museum Villa Stuck’s exhibition
programme – and at the same time opens up new perspectives and approaches to art.
RICOCHET #1 Cris Koch
14. Januar – 14. März 2010 | Kuratorin: Anne Marr
RICOCHET #2 Samantha Dietmar
22. April – 27. Juni 2010 | Kuratorin: Sabine Schmid
RICOCHET #3 Hito Steyerl
21. Juli – 26. September 2010 | Kurator: Michael Buhrs
RICOCHET #4 Ahmet Öğüt
11. November 2010 – 23. Januar 2011 | Kuratorin: Verena Hein
museum villa Stuck
ricochet
inhalt
contents
4–5 Michael Buhrs: vorwort
preface
6–29 ÜBER VIELES. UND NICHTS.
ABOUT MANY THINGS. AND NOTHING.
30–41 samantha dietmar im gespräch
mit sabine schmid
samantha dietmar in conversation
with sabine schmid
44–45 biographien
biographies
46–47 ABBILDUNGSLISTE
LIST OF ILLUSTRATIONS
48 impressum
imprint
ricochet #2
SAMANTHA DIETMAR
Über Vieles. und Nichts.
2
4
vorwort
preface
Der Aufprall war heftig. RICOCHET, die Ausstellungsreihe der Villa
Stuck ging mit den Arbeiten des ersten Künstlers in dieser Reihe,
Cris Koch, unvermittelt und direkt auf Konfrontationskurs mit den
Besucherinnen und Besuchern des Museums. Noch gefangen
in den Farben der Jugendstil-Welt eines Louis Comfort Tiffany
oder auf dem Weg zum Lebens- und Glaubenswerk des Künstlermissionars Karl Wilhelm Diefenbach, wandelt der Besucher entlang
des Stairway to Stuck von Cris Koch, auf dem er in immer neuer
Konstellation der Tentakelfratze von Cthulhu begegnet, dem monströsen Geschöpf des Schriftstellers H. P. Lovecraft. Der Hausherr,
Franz von Stuck, erscheint ebenfalls – verfremdet und in den
Koch’schen Kosmos eingebettet – auf Wänden und Objekten und
wird auf diese Weise in die Ausstellung außerhalb der historischen
Räume der Villa Stuck verstrickt.
RICOCHET, Villa Stuck’s exhibition series, struck visitors to
the museum with high impact. The work of Cris Koch, the first
artist in the series, was certainly something quite unexpected.
Still mesmerised by the colours of the Art Nouveau universe
of Louis Comfort Tiffany, or on the way to the faith-inspired
oeuvre of the artist-missionary Karl Wilhelm Diefenbach,
visitors walked by Cris Koch’s Stairway to Stuck. There, they
encountered, in ever-changing configurations, the tentacled
visage of Cthulhu, the monstrous creation of the writer H.P.
Lovecraft. On walls and objects, the villa’s master, Franz
von Stuck seemed alienated and embedded in Koch’s cosmos,
enmeshing himself in the exhibition even beyond the Villa Stuck’s
historic rooms.
Das Ziel, das RICOCHET erreichen will, die Sensibilisierung für
die Werke junger Künstlerinnen und Künstler, der Einbruch in
die gesicherte Museumswelt auf inhaltlicher und räumlicher
Ebene – es scheint greifbar nah. Nun folgt der nächste Schritt,
die fotografische Bildwelt von Samantha Dietmar in ihrer Arbeit
Über Vieles. Und Nichts., die konzentriert auf einen Raum
im Untergeschoss der Villa Stuck präsentiert wird.
RICOCHET’s goal – to raise appreciation for the extraordinary
work of young Berlin artist Cris Koch, and to break into the
immutable museum world both in terms of content and by
invading its space – seems within reach. Now comes the next
step, the photographic imagery of Samantha Dietmar in her work
ÜBER VIELES. UND NICHTS. (About Many Things. And Nothing.),
which is being presented in a compact form in a downstairs
gallery of the Villa Stuck.
Das Museum Villa Stuck hat eine lange Tradition in der Präsentation der Arbeiten von Fotografinnen, die zu den Pionieren dieses
Mediums im 20. Jahrhundert gehören: Dazu zählen Grete Stern,
Helen Levitt, Madame Yevonde und Herlinde Koelbl. Diese Reihe
ergänzen deren männliche Kollegen Luigi Ontani und Karl Lagerfeld, denen allesamt Einzelausstellungen gewidmet waren. Und
nicht zuletzt zeigte 1996 die Ausstellung Franz von Stuck und
die Photographie, wie intensiv Stuck und mit ihm zusammen
seine Frau Mary dieses Medium nutzten. Mit Samantha Dietmar
präsentieren wir eine 1978 in München geborene Künstlerin mit
ihrer bis dato umfangreichsten Werkschau, die mehr als sechzig
Fotografien aus der Serie Über Vieles. Und Nichts. umfasst.
The Museum Villa Stuck can look back on a long tradition of
presenting the work of women photographers, who are among the
pioneers of the medium in the twentieth century, including Grete
Stern, Helen Levitt, Madame Yevonde and Herlinde Koelbl. Their
ranks are completed by male colleagues such as Luigi Ontani und
Karl Lagerfeld, who have all been showcased in solo exhibitions.
And, last but not least, the 1996 exhibition Franz von Stuck and
Photography revealed the intensive use Stuck, together with
his wife Mary, made of this medium. With Samantha Dietmar,
(b.1978), the Museum Villa Stuck presents a Munich artist in
the largest exhibition of her work to date, comprising over sixty
photographs from her series ÜBER VIELES. UND NICHTS.
Samantha Dietmars Fotografien spüren der Realität des Alltags
nach, wie er sich der Künstlerin auf Reisen oder in ihrer Wahlheimat Berlin zeigt. Ihrer Ausbildung, unter anderem in den Pariser
und New Yorker Büros von Magnum, entsprechend, fühlt sich
Dietmar einer »unverfälschten und unmanipulierten Wiedergabe«
Samantha Dietmar’s photographs trace the reality of everyday
life as it presents itself to the artist on her travels or in her
chosen hometown of Berlin. Trained in such institutions as the
Paris and New York offices of Magnum Photos, the works she
creates are invariably informed by subjective impressions and
verpflichtet, wodurch ihre Arbeiten stets von subjektiven Eindrücken
und Blickwinkeln geprägt sind. Dieser Anspruch beinhaltet in Konsequenz nichts anderes als einen unverhohlen politischen Kontext,
der Über Vieles. Und Nichts. prägt.
Mein herzlicher Dank gilt Samantha Dietmar für die intensive
Arbeit an der Auswahl der Fotografien und der Installation wie
auch der Kuratorin der Ausstellung, Sabine Schmid. Sie hat sich
als Interviewpartnerin von Samantha Dietmar auf die Spur der
Ursprünge und Hintergründe des fotografischen Werks Dietmars
begeben. Das so entstandene und in diesem Buch veröffentlichte
Gespräch geht dabei weit über diese Fragestellung hinaus und
beleuchtet das Thema Fotografie in seiner Relevanz für die heutige
Zeit und in kritischer Relation zur Vergangenheit.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals meinen Dank an die
RICOCHET-Kuratorinnen, Anne Marr, Sabine Schmid und Verena
Hein aussprechen. Die erste Ausstellung wird die Reihe als
Widerhall begleiten. Der vorliegende Band, wie auch alle anderen
der Reihe RICOCHET, erscheint in der Edition Young Art des
Kerber Verlags und wird von Verena Hein betreut – die Reise der
Querschläger geht weiter. Für ihre Arbeit daran bedanke ich mich
bei Samantha Dietmar und Sabine Schmid, den Lektorinnen
Stefanie Adam und Sarah Trenker und bei Bram Opstelten, der für
die Übersetzung der Texte gesorgt hat. Die grafische Gestaltung
durch normal industries ist ein weiterer unverzichtbarer Mosaikstein, für den ich mich bei Petra Kottmair und Jonathan Wood
herzlich bedanke.
perspectives and consistently underpinned by a commitment
to the “undistorted and non-manipulated reproduction of
reality”. Ultimately, this claim implies nothing other than an
overt political context which, indeed, informs the photographs
of ÜBER VIELES. UND NICHTS.
I am deeply indebted to Samantha Dietmar for the great lengths
she went to in selecting the photographs and deciding on the
installation, as well as to the curator of the exhibition, Sabine
Schmid, who, in her interview with Samantha Dietmar, has
endeavoured to elucidate the origins and background of Dietmar’s
work. The resulting dialogue, published in this volume, goes far
beyond that, as it discusses photography in its relevance to our
times as well as with critical reference to the past.
At this point I would like to once again express my gratitude
to the RICOCHET curators, Anne Marr, Sabine Schmid and
Verena Hein. The first exhibition will continue to reverberate,
as the series progresses. The first book, like all volumes in this
series published, under the editorial supervision of Verena Hein,
by Kerber Verlag, is now available. The ricochets continue on
their path. For this volume I am grateful to Samantha Dietmar
and Sabine Schmid, to the copy editors Stefanie Adam and
Sarah Trenker, and to Bram Opstelten who translated the texts.
The graphic design by normal industries is another essential
component for which I would like to extend my warmest thanks
to Petra Kottmair and Jonathan Wood.
Das Begleitprogramm mit einem Künstlergespräch wird von
Bernhard Schneider betreut, ihm und Johanna Berüter danke ich
sehr für die Einbindung auch dieser Ausstellung in FRÄNZCHEN,
dem Kinder- und Jugendprogramm der Villa Stuck. Zu guter Letzt
gilt mein großer Dank unseren verlässlichen und unermüdlichen
Medienpartnern Zündfunk, dem Szenemagazin auf Bayern 2, und
mucbook.de, dem München-Blog, der für www.ricochet-blog.de,
der Diskussions- und Informationsplattform zur Ausstellungsreihe
im Internet, verantwortlich zeichnet.
The supporting programme of special events, including an
artist’s talk, is supervised by Bernhard Schneider, and I am
grateful to him, just as I am indebted to Johanna Berüter for,
again, managing to integrate this exhibition into FRÄNZCHEN,
the Villa Stuck art education programme for children and
teenagers. Finally, I would like to express my sincere gratitude
to our reliable and indefatigable media partners, Bayern 2’s
popular ZÜNDFUNK radio magazine, as well as to mucbook.de,
the Munich blog responsible for www.ricochet-blog.de, the
exhibition's discussion and information platform on the Internet.
Michael Buhrs | Direktor
Michael Buhrs | DireCtor
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SAMANTHA DIETMAR IM GESPRÄCH
MIT SABINE SCHMID
SAMANTHA DIETMAR IN CONVERSATION
WITH SABINE SCHMID
Sabine Schmid: In der Ausstellung ist eine Auswahl
von über 60 Fotografien deiner Arbeit ÜBER VIELES. UND
NICHTS. zu sehen; insgesamt umfasst SIE mehr als 250
Fotografien.1 Mit welchen Inhalten setzt du dich in
dieser Arbeit auseinander?
Samantha Dietmar: Ich habe eine sehr persönliche Bilderwelt zusammengetragen. Mal künstlerisch, mal journalistisch. Mal laut, mal leise.
Es geht um Schönheit im Alltag, Momentaufnahmen, Seltsames und
Banales. Um Konflikte, Missstände und Ungerechtigkeiten. Aber auch
um Glück, Hoffnung und Mut. Ein Fotoskizzenbuch meiner Gedanken,
meiner Sicht der Dinge, entstanden auf Reisen und in meinem Alltag.
Zugänglich als Einzelbilder, aber auch in der Gruppe. Ein Beobachten
und Nachdenken über das Leben. Eine Sinnsuche.
Deine Aufnahmen aus Deutschland sind Beobachtungen des Alltags: die vereiste Autoscheibe im Winter
(Abb. 29), der schmutzige Aschenbecher in einer Kneipe
(Abb. 27), der wolkenverhangene Himmel am Abend,
das nahezu leere Aquarium, das schmutzige, sich
stapelnde Geschirr in der WG-Küche (Abb. 25), ein akkurater Stapel von unzähligen Tageszeitungen (Abb. 2).
Meine alte Nikon ist immer dabei. Ich liebe es, wenn plötzlich auf
den ersten Blick Unscheinbares die motivische Hauptrolle einnimmt.
Es geht ums Hinsehen. Vielen fallen solche Arrangements des Alltags
womöglich gar nicht weiter auf. Oder sie können ihnen vielleicht
nichts abgewinnen. Mir geht es da anders. Alles ist zu finden: von
der banalen Situationskomik bis hin zur Ironie. Eine sich täglich
vermehrende Wand aus Worten und Papier begrüßt beispielsweise
die Gäste in der Wohnung eines Freundes in Berlin. Er kommt mit
dem Lesen nicht hinterher, will all dies Wissen aber lieber um sich
haben, als es wegzuwerfen.
Abstrakter StraSSenverkehr, so der Titel einer in
New York aufgenommenen Fotografie mit Langzeitbelichtung (Abb. 20). Weitere Fotografien zeigen ein
Treppenhaus in Paris, in welches Licht einfällt (Abb. 7),
auf einer StraSSenlaterne sitzende Vögel, eine Reihung
der Schatten von StraSSenlaternen auf einem Bahnsteig in New York (Abb. 19) und die Spiegelung des
Berliner Fernsehturms in einer Regenpfütze (Abb. 10).
Du selbst bist der ansicht, vor dem »analytisch-
Sabine Schmid: THE EXHIBITION INCLUDES A SELECTION OF
OVER 60 PHOTOGRAPHS FROM YOUR FINAL YEAR PROJECT
TITLED ÜBER VIELES. UND NICHTS. (ON MANY THINGS. AND
NOTHING.). IN TOTAL, THE WORK COMPRISES OVER 250
PHOTOGRAPHS.1 WHAT ARE THE THEMES THAT YOU ADDRESS
IN THIS WORK?
Samantha Dietmar: I have compiled a very individual collection
of images. Some are artistic, some journalistic, some loud, some
muted. They are about beauty in everyday life, snapshots, strange
things, mundane things; about conflicts, grievances and injustices,
but also about happiness, hope, and courage. It is a photographic
sketchbook of my thoughts, my view of things, created while
travelling or living my daily life, accessible both as individual
images and as part of a larger whole. It comprises observations
and reflections on life – a search for meaning.
THE PHOTOGRAPHS YOU TOOK IN GERMANY ARE
OBSERVATIONS OF EVERYDAY LIFE: THE ICED-UP CAR
WINDOW IN THE WINTER (FIG. 29), THE DIRTY ASHTRAY IN A
PUB (Fig. 27), THE OVERCAST EVENING SKY, THE ALMOST
EMPTY AQUARIUM, THE PILE OF DIRTY pans IN THE SHARED
FLAT KITCHEN (FIG. 25), A NEAT STACK OF COUNTLESS
NEWSPAPERS (FIG. 2).
My old Nikon is always present. I love it when something ostensibly
unremarkable suddenly takes centre stage as the subject of a
photograph. It is about looking at things. Most people probably
do not really notice these compositions taken from everyday life.
Or perhaps they do not get anything out of them. It is different for
me. Anything can be found: from banal slapstick through to irony.
For example, at the apartment of a friend of mine in Berlin a daily
growing wall of words and paper welcomes guests. He can’t keep
up with reading, but he’d rather have all that knowledge around
him than throw it away.
ABSTRACT STREET TRAFFIC IS THE TITLE OF A LONG
EXPOSURE PHOTOGRAPH TAKEN IN NEW YORK (FIG. 20).
OTHER PHOTOGRAPHS SHOW A STAIRWELL IN PARIS WITH
LIGHT FALLING INTO IT (FIG. 7), BIRDS PERCHED ON A STREET
LAMP, A SEQUENCE OF SHADOWS CAST BY LAMP POSTS
ON A RAILWAY PLATFORM IN NEW YORK (FIG. 19), OR A
REFLECTION OF THE BERLIN FERNSEHTURM (TELEVISION
objektiven« Ansatz sei der »künstlerisch-subjektive«2
vorrangig. Rücken hier spezifisch fotografische
Qualitäten in den Vordergrund? Ähnlich der Subjektiven Fotografie, über welche Otto Steinert schreibt:
»Subjektive Fotografie heiSSt vermenschlichte,
individualisierte Fotografie, bedeutet Handhabung
der Kamera, um den Einzelobjekten ihrem Wesen
entsprechende Bildsichten abzugewinnen.«3 Findet
sich davon auch etwas in deiner Arbeit?
Ja, bei diesen Fotografien gehe ich bewusst weg von der dokumentarischen Übermittlung der Realität. Es geht um den metaphorischen,
poetischen Moment der Fotografie, des Motivs an sich. Und natürlich
hier vor allen Dingen um meine ganz eigene Interpretation. Zumeist
in körnigem Schwarz-Weiß wird Fotografie künstlerisch verwendet.
Ich brauche nicht immer ein Konzept oder ein durchdachtes Projekt,
um zu fotografieren. Manchmal begegnen mir einfach Momente,
die ich für mich festhalten möchte. Nicht selten passiert dies auch
ganz unverhofft und neben meiner eigentlichen fotografischen Arbeit.
Es gefällt mir zu abstrahieren, es bringt eine gewisse Allgemeingültigkeit in die Fotografien.
TOWER) IN A PUDDLE (FIG. 10). ACCORDING TO YOUR OWN
WORDS THE “ARTISTIC-SUBJECTIVE”2 APPROACH TAKES
PRECEDENCE OVER THE “ANALYTICAL-OBJECTIVE” ONE. DOES
THIS MEAN THAT INTRINSICALLY PHOTOGRAPHIC QUALITIES ARE
EMPHASISED? IN THE MANNER OF SUBJECTIVE PHOTOGRAPHY
AS DEFINED BY OTTO STEINERT: “SUBJECTIVE PHOTOGRAPHY
STANDS FOR HUMANISED, INDIVIDUALISED PHOTOGRAPHY,
FOR USING THE CAMERA TO LET INDIVIDUAL OBJECTS INSPIRE
COMPOSITIONAL VIEWS THAT CORRESPOND TO THEIR NATURE.”3
IS SOME OF THAT RELEVANT TO YOUR WORK?
Yes, in these photographs I deliberately move away from the
documentary reproduction of reality. What matters is the
metaphorical, poetical moment of photography, the subject by
itself. And in this case, of course, it is mainly about my very distinct
interpretation. On the whole, grainy, black and white photography
serves artistic purposes. I don’t always need a concept or a well
thought-out project, in order to take photographs. Sometimes it
is just about being confronted with moments that I would like to
record for myself. This often happens completely unexpectedly and
as a corollary of my actual photographic work. I like to abstract;
it infuses the photographs with a certain universal validity.
Bei deinen Motiven und Themen finden sich gleichermaSSen Sprüche und Graffitis von Quertreibern,
Aktionisten und StraSSenpoeten (Abb. 14) wie auch
Zeichen unserer kommerzialisierten Warenwelt,
beispielsweise bei Reklame (Abb. 32), und Spuren
öffentlicher Ordnung, beispielsweise bei Gebotsschildern und Anzeigetafeln. Sind diese Fragmente
Stellvertreter für eine weitere Sinnebene?
Diese Ideen-Fragmente aus den Köpfen Anderer, die einem überall
auf der Welt begegnen, sprechen mir oftmals aus der Seele oder
bekommen ein Rendezvous mit meiner Gedankenwelt. Sie haben
affirmativen Charakter. Kurz und prägnant stellen sie bloß, kritisieren
oder lassen einen einfach nur schmunzeln. Sie bestätigen, dass
überall in dieser Welt wache, kritische Augen weilen. Aber auch die
Isolierung von Gebotsschildern oder Reklame aus ihrem Zusammenhang kreiert eine neue Bedeutungsebene, die ich mir für meine
Gedankenwelt zueigen mache.
YOUR SUBJECTS AND MOTIFS INCLUDE SLOGANS AND
GRAFFITI BY OBSTRUCTIONISTS, PRACTITIONERS OF ACTION
ART AND STREET POETS (FIG. 14), AS WELL AS SIGNS OF OUR
COMMERCIALISED WORLD OF COMMODITIES, FOR INSTANCE
IN IMAGES OF ADVERTISING (FIG. 32) AND MARKINGS OF
PUBLIC POLICY, FOR INSTANCE IN IMAGES OF MANDATORY
SIGNS AND INDICATOR BOARDS. ARE THESE FRAGMENTS
REPRESENTATIVE OF AN ADDITIONAL LEVEL OF MEANING?
These idea fragments conceived in the minds of others, which can
be found anywhere in the world, often strike a chord with me or
‘have a rendezvous’ with my world of thoughts. They are affirmative
in character. Concise and laconic, they expose, criticise or just
make you smile. They confirm that there are wary and critical eyes
throughout this world. Yet at the same time the isolation of mandatory
signs or advertising from their respective contexts creates a new
level of meaning, which I appropriate for my world of ideas.
Findet sich hier bei den Bild-Schrift-Bezügen eine Form
von Ironie? Beispielsweise bei der Arbeit Küchenfenster
DO THE CONNECTIONS BETWEEN IMAGE AND TEXT HERE
INVOLVE SOME FORM OF IRONY? FOR INSTANCE, IN THE WORK
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(Abb. 4) oder auch bei dem fotografischen StillLeben
mit Ananas und dem Bild eines Sandwiches (Abb. 8).
Ja, speziell diese Motive platzen regelrecht vor Ironie. Solche gepaarten Kombinationen sind rar. »Abendfrieden« zum Beispiel hatte wohl im
Vorfeld seine ganz eigene Geschichte im Streit eines Liebespaares.
Manche deiner Arbeiten aus New York und auch aus
Paris lassen sich in die Nähe der Street Photography4
verorten. Du wendest dich dem alltäglichen Geschehen
auf der StraSSe zu, welche zur Bühne deiner Motive
wird. So beispielsweise bei den Fotografien von drei
Amerikanern am Times Square (Abb. 18) oder von einem
kostümierten Mann an einem U-Bahn-Aufgang an
Halloween (Abb. 17).
Mit kleiner Fotoausrüstung kann ich mich im Großstadtgewusel
wunderbar unauffällig und unentdeckt bewegen. Man wird zum
kreativen Voyeur der anonymen Szenerie. Nun geht es darum, den
richtigen Moment zu erhaschen. Zu entdecken. Schnell zu reagieren.
Nichts ist geplant oder die Lichtverhältnisse vorher absehbar. Es
bleibt wenig Zeit für Entscheidungen. Man möchte die Menschen in
ihrem Treiben nicht stören oder ihnen in ihrem Sich-Unbeobachtetfühlen zu nahe treten. Sie sollen in ihrer Abbildung anonym bleiben.
Stellvertreter sein.
Bei deinen Fotografien aus Argentinien (Abb. 26) wie
auch bei den Aufnahmen in Namibia (Abb. 12) rückt
besonders die Natur als Motiv in den Vordergrund.
Diese Eindrücke rufe ich mir in Erinnerung, wenn es im Hier und
Jetzt gerade wieder besonders hektisch ist. Ein Zelt, ein Sternenhimmel. Und einfach NICHTS und gleichzeitig so viel. Die Seele auslüften,
den Kopf durchpusten lassen und abwarten, welche kleinen Wunder
einem begegnen. Das Zebra-Bild ist die Absage an eine gewisse SehErwartungshaltung. Und war der Sonnenuntergang in Patagonien
wohl ein eindrucksvolles Farbspiel, so kommt er dennoch auch in
seiner Schwarz-Weiß-Reduzierung wunderbar auf den Punkt.
Auf dem G8-Gipfel 2007 hast du in Kühlungsborn und
Heiligendamm fernab des Geschehens fotografiert:
Politiker oder Aktivisten sind nicht zu sehen, du
richtest deinen Fokus auf das menschenleere Umfeld,
der Tagungsort selbst ist im Mittelpunkt (Abb. 6).
Küchenfenster (kitchen window, FIG. 4), OR IN THE
PHOTOGRAPHIC STILL LIFE SHOWING Two PINEAPPLEs AND
THE picture OF A SANDWICH (FIG. 8).
Yes, those motifs in particular are positively bursting with irony. Such
pairings are rare. “Abendfrieden” (“Quiet of the evening”), for example,
had its own specific antecedents in the fight between two lovers.
Ich fand es reizvoll, ein paar Tage vor dem G8-Gipfeltreffen anzureisen. Es bot sich ein skurriles Bild: Polizeiaufgebot an jeder Ecke,
Stacheldraht und mittendrin Scharen von Rentnern, die ganz normal
ihrem Kuraufenthalt frönten. Wiederum war ich nicht auf der Suche
nach etwas Bestimmten. Die entstandenen Fotografien bekommen
durch den Hintergrund des Gipfeltreffens ironischen Charakter.
I found it interesting to arrive a few days before the G8 summit.
A bizarre scene presented itself: police presence at every corner,
barbed wire and right in the middle of it throngs of pensioners
happily pursuing their health spa activities. Again I wasn’t looking
for anything in particular. Against the backdrop of the summit
meeting, the photographs I took acquire an ironic quality.
IN MANY WAYS, SOME OF YOUR WORKS FROM NEW YORK
AND PARIS RESEMBLE STREET PHOTOGRAPHY.4 YOU TURN TO
THE EVERYDAY ACTIVITIES ON THE STREET, WHICH BECOMES
THE STAGE FOR YOUR SUBJECTS, AS, FOR INSTANCE, IN THE
PICTURES OF THREE AMERICANS ON TIMES SQUARE (FIG. 18),
OR OF A MAN IN COSTUME AT A SUBWAY ENTRANCE ON
HALLOWEEN (FIG. 17).
When I limit the amount of camera equipment I take with me,
I can be wonderfully inconspicuous and move undetected in the
hustle and bustle of the big city. You become a creative voyeur
of the anonymous setting. It is then just a matter of catching
the right moment, of discovering, of reacting quickly. Nothing
is planned; there is no foreseeing the lighting conditions. There
is very little time to decide. I neither want to interrupt people in
what they are doing, nor disrupt their feeling of being unobserved.
They should remain anonymous in the image, be stand-ins.
Von deiner Reportage in Mexiko 2007 finden sich in
ÜBER VIELES. UND NICHTS. eindringliche Bilder wieder,
so beispielsweise die Aufnahmen vom Alltag und den
Lebensumständen in den zapatistischen Gemeinden
Huixtla oder Oventic (Abb. 13).
Ein weinendes und ein lachendes Auge blitzen auf, wenn ich über
die Eindrücke und Erfahrungen dieser Reise spreche. Meine bislang
intensivste und auch aufregendste Zeit des Fotografierens. Nie zuvor
hatte ich Fotografie so sehr gelebt. Meine Zeit dort beeinflusste mein
Denken und Sehen der Welt drastisch und nachhaltig. Die Indígenas
haben auch in Mexiko absolut keinen guten Stand. Wir besuchten
sie in ihren Dörfern. Vor allem in der zapatistischen Gemeinde
Oventic verweilte ich einige Zeit. Ich war berührt von der Wärme
und Freundlichkeit, die sie mir entgegenbrachten und sprachlos
über die Zufriedenheit in einfachsten Lebensverhältnissen. Weniger
kann eben auch tatsächlich mehr sein.
YOU INCLUDED HAUNTING IMAGES FROM YOUR 2007
PHOTO REPORTAGE IN MEXICO IN ÜBER VIELES. UND NICHTS.,
SUCH AS THE ONES SHOWING EVERYDAY LIFE AND LIVING
CONDITIONS IN THE ZAPATISTA VILLAGES OF HUIXTLA AND
OVENTIC (FIG. 13).
Talking about the impressions and experiences of this journey,
I feel like crying and laughing at the same time. It is, as yet, both
the most intense and most exciting time I have ever had taking
pictures. I had never experienced photography like that before.
The time I spent there had a radical and lasting effect on my way
of thinking and of seeing the world. In Mexico, as elsewhere, the
indígenas have anything but a good standing. We visited them in
their villages. I spent quite some time particularly in the Zapatista
village of Oventic. I was moved by the warmth and kindness I
encountered and humbled by their contentment with the most
basic living conditions. Less can indeed be more, too.
IN YOUR PHOTOGRAPHS FROM ARGENTINA (FIG. 26) AND
FROM NAMIBIA (FIG. 12), NATURE TAKES CENTRE STAGE.
I like to call these impressions to mind when things happen to be
rather hectic: a tent, a starry sky – and simply NOTHING, and yet at
the same time so much. I like to air the soul, to flush the mind and
to wait and see what small wonders will present themselves. The
picture of the zebra is a rejection of certain visual expectations.
And even if the sunset in Patagonia was, indeed, an impressive
colour spectacle, one can also appreciate the point in its black
and white reduction.
Was war das ursprüngliche Thema deiner Reportage
in Mexiko?
Ich war fast am Ende meines Studiums in Würzburg angelangt und
wollte ursprünglich für ein Semesterprojekt im Sinne des klassischen
Fotojournalismus Land und Leute kennenlernen. Begleitet hat mich
eine mexikanische Fotografin und Freundin. Diese Ausgangssituation
war gleichzeitig auch ganz wunderbar für ein besseres Verständnis
der mexikanischen Kultur und natürlich auch für meine Akzeptanz
dort. Wir zogen quer durchs Land. Es war Wahlkampf, eine politisch
sehr geladene Zeit. Ich sprach zu Anfang kaum Spanisch und so
musste ich viel mit den Augen hören. Ich interessierte mich sehr
für Mexikos Ureinwohner und die »einfachen Leute«. Wie sie leben,
für ihre Probleme und Konflikte mit der mexikanischen Regierung.
Es wurde zu einer sehr emotionalen Angelegenheit für mich. Nach
fünf Monaten in Mexiko entwickelte sich das Fotoprojekt zu meiner
potenziellen Diplomarbeit. Doch dann kam alles anders. Ich wurde in
Atenco böswillig von der Polizei verhaftet und bevor ich überhaupt
INITIALLY, WHAT WAS THE SUBJECT OF YOUR PHOTO
REPORTAGE IN MEXICO?
I had nearly finished my degree in Würzburg, and I initially
wanted to get to know the country and its people for a semester
project along the lines of classic photojournalism. I was
accompanied by a Mexican photographer, a friend of mine,
which was, of course, a perfect arrangement, both to learn more
about Mexican culture and to get the people there to accept me.
We trekked through the entire country. Elections were coming
up and it was a politically charged time. At the beginning of the
journey, I hardly spoke any Spanish and so I had to listen with
my eyes a lot. I was very interested in the indigenous Mexicans
and the simple people of Mexico, in how they live, in their problems
and conflicts with the Mexican government. It became a very
emotional affair for me. After five months in Mexico, the photo
project developed into a potential final year project. But then
everything changed. In Atenco I was arrested by the police, and
AT THE G8 SUMMIT IN 2007 YOU TOOK PHOTOGRAPHS IN
THE RESORT TOWNS OF KÜHLUNGSBORN AND HEILIGENDAMM, AWAY FROM ALL THE EVENTS: POLITICIANS OR
ACTIVISTS ARE NOT TO BE SEEN; INSTEAD YOU FOCUS ON
THE DESERTED SETTING, AND THE VENUE ITSELF TAKES
CENTRE STAGE (FIG. 6).
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einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde ich auch schon zurück
nach Deutschland eskortiert. Für meine Diplomarbeit in der bis dato
geplanten Form bedeutete dies das Aus.
before I even managed to think straight I was being escorted back
to Germany. This meant the end for my final year project in the
form in which I had planned it.
eine schwierige Zeit der Neuorientierung und des Hinterfragens.
Viele Dinge hier wirkten so übertrieben, banal und künstlich nach
einer so intensiven und glücklichen Zeit des einfachen Lebens.
Eine politische Dimension eröffnet sich, wenn du die
vermummten Mitglieder der EZLN (Ejército Zapatista
de Liberación Nacional) porträtierst oder deren
Parteiführer, Subcomandante Marcos, bei seinem
Wahlkampf und seinen öffentlichen Kundgebungen
begleitest.
Als Gegenbewegung zum offiziellen Wahlkampf war auch La
Otra Campaña der Zapatisten im Land unterwegs. Immer wieder
kreuzten auch deren Veranstaltungen und Kundgebungen unseren
Weg. Wir machten Bekanntschaft mit einigen AlternativmedienJournalisten und Filmemachern, die die Karawane begleiteten und
wir fotografierten selbst auf zahlreichen Veranstaltungen. Es war
sehr aufschlussreich und meinungsfestigend, die politische Situation
und Lebensumstände so vieler Mexikaner auch von einer anderen,
inoffiziellen Seite beleuchtet zu bekommen.
A POLITICAL DIMENSION PRESENTS ITSELF WHEN YOU
PORTRAY THE MASKED MEMBERS OF THE EZLN (EJÉRCITO
ZAPATISTA DE LIBERACIÓN NACIONAL) OR ACCOMPANY ITS
LEADER, SUBCOMANDANTE MARCOS, DURING HIS ELECTION
CAMPAIGN AND AT HIS PUBLIC RALLIES.
As a countermovement to the official election campaign, the
Zapatistas’ La Otra Campaña was also out travelling the country.
We repeatedly came across their events and rallies as well.
We met some journalists and filmmakers who were working for
alternative media and following the caravan, and at a number of
events we took photographs ourselves. It was highly instructive
and helped form my opinion having the political situation and the
living conditions of so many Mexicans illuminated from a different,
unofficial side.
Wie entstand letztendlich die Idee zu deiner Arbeit
ÜBER VIELES. UND NICHTS. und wie kamst du dazu, die
Arbeit in der jetzt vorliegenden Form umzusetzen?
Mein gescheitertes Diplomprojekt entwickelte sich plötzlich zu einer
konfrontativen Suche nach mir selbst. Beim Sichten meines Archivs
bemerkte ich dann, dass diese Suche schon viel früher begonnen
hatte. Die Antworten auf meine Fragen und Zweifel fanden sich in
meinen neuen und älteren Fotografien vereint. Sie konnten einem
noch etwas mehr mitteilen, als nur das rein Offensichtliche. Das
Zwischen-den-Zeilen. Die Gedanken der Augenblicke. So entstand
ÜBER VIELES. UND NICHTS.
Eine eindringliche Fotografie von Subcomandante
Marcos’ Stiefel (Abb. 28) weckt beim Betrachter
verschiedenste Assoziationen.
Im gesamten Fotobuch kommen nur wenige ausgewählte Fotografien
aus Mexiko vor. Diese sind dafür umso eindringlicher, und oftmals
kann man in den Bildern auch meine emotionale Zerrissenheit
dieser Zeit spüren. Wie ein Fels in der Brandung: Marcos’ Stiefel.
Er hat aber aufgrund meiner persönlichen Erfahrung auch den fahlen
Beigeschmack von Gewalt. Jeder interpretiert Bilder aus seinem
eigenen Erfahrungsschatz heraus.
Du meintest, ein »Aufenthalt in New York zeigte [dir]
die Schnelligkeit, Skurrilität, Widersprüchlichkeit
und Grenzenlosigkeit des Lebens. Eine Fotoreportage
in Mexiko lehrte [dich] über die Relativität des Glücks,
von Zusammenhalt, Ungerechtigkeit und Hoffnung«
und, dass dein »Leben hier in Deutschland [geprägt
sei] von Selbstverständlichkeiten«.5
Zurück in Deutschland hing ich erstmal in der Luft. In meinem
Umfeld und Alltag hatte sich nicht wirklich viel verändert, doch passte
ich selbst nicht mehr so recht in meine alten Fußstapfen. Es folgte
A POWERFUL PHOTOGRAPH OF SUBCOMANDANTE MARCOS’S
BOOT (FIG. 28) TRIGGERS ALL KINDS OF ASSOCIATIONS IN
THE VIEWER.
The entire photo book includes only a few selected photographs
from Mexico, which are all the more powerful for it. Frequently,
the images also bespeak the state of emotional turmoil that I was
in at the time. A bastion of calm is offered by Marcos’s boot –
although, based on my personal experience, it also smacks of
violence. Everyone interprets images based on their own store
of past experiences.
YOU HAVE STATED THAT “VISITING NEW YORK SHOWED [YOU]
THE FAST-PACED, CONTRADICTORY NATURE, THE ABSURDITY
AND THE BOUNDLESSNESS OF LIFE. A PHOTO REPORTAGE IN
MEXICO TAUGHT [YOU] THE RELATIVE NATURE OF HAPPINESS,
SOLIDARITY, INJUSTICE AND HOPE” AND THAT YOUR “LIFE
HERE IN GERMANY [IS CHARACTERISED] BY SO MANY THINGS
THAT ARE TAKEN FOR GRANTED.”5
Upon my return to Germany I initially found myself in limbo. Not
much had changed in my surroundings and in my everyday life,
yet it somehow didn’t feel right to just pick up where I had left off.
A difficult period of questioning and of reorienting myself followed.
Gerhard Schweppenhäuser schreibt, du reflektierst
in deiner Arbeit die Widersprüchlichkeiten des Lebens:
»In ihr [deiner Arbeit] spiegeln sich die Widersprüchlichkeiten des Lebens wider, zum einen geben die Fotos
optische Reflexionen eines Ausschnitts der Wirklichkeit wieder, und zum anderen sind sie im weiteren Sinn
eine Meditation über die Strukturen des Lebens.«6
Mein fotografisches Reflektieren ist Kernpunkt dieser Arbeit.
Es finden sich sicherlich zahlreiche philosophische Ansatzpunkte.
Vieles kann man nur schwer in Worte fassen. Unser Leben ist sehr
widersprüchlich. Wir leben rational irrational.
Es lässt sich nicht sagen, ob deine Arbeit künstlerisch
oder journalistisch ist, deine Bilderwelt ist heterogen: Das Einzelbild ist mal poetisch, mal verstörend,
aber auch gesellschaftskritisch.
So wollte ich mich für diese Arbeit positionieren. In eine fotografische
Schublade passe ich damit nicht. Meine Intention war auch nicht
fotografisches Können in einem bestimmten Bereich unter Beweis zu
stellen. Manche Bilder sind schwächer, manche stärker. Auch sind sie
thematisch unterschiedlich gewichtet. Das Brückenbauen zwischen
den verschiedenen Bilderwelten macht die Arbeit so unmittelbar.
Einzelne Arbeiten sind geprägt von einem spontanen
Moment, wie beispielsweise die Fotografie eines
After such an intense and gratifying time leading the simple life,
so much here seemed overdone, mundane and fake.
HOW DID THE IDEA FOR YOUR WORK ÜBER VIELES. UND
NICHTS. EVENTUALLY EMERGE AND HOW DID YOU COME
TO REALISE IT IN ITS PRESENT FORM?
My aborted final year project all of a sudden developed into a
confrontational search for myself. At some point I was sifting
through my archived material and realised that this search had,
in fact, started much earlier. The answers to my questions and
doubts were to be found both in my recent and older photographs.
They managed to convey more than the merely apparent. They
conveyed the between-the-lines, the thoughts of the moment.
That is how ÜBER VIELES. UND NICHTS. came into being.
GERHARD SCHWEPPENHÄUSER WROTE ABOUT YOUR WORK:
“LIFE’S CONTRADICTIONS ARE REFLECTED HERE, FIRST IN THE
SENSE THAT HER PHOTOGRAPHS SHOW VISUAL REFLECTIONS
OF APERTURES OF REALITY AND SECOND IN THE BROADER
SENSE HER PHOTOGRAPHS ARE MEDITATIONS ON THE
STRUCTURES OF REALITY.”6
Reflecting through photography is essentially what this work is
about. I am sure that there are numerous philosophical starting
points. Many things are difficult to put into words. Our lives are
full of contradictions. We are rational irrational beings.
IT IS IMPOSSIBLE TO SAY WHETHER YOUR WORK IS ARTISTIC
OR JOURNALISTIC: YOUR IMAGERY IS HETEROGENEOUS,
SOMETIMES POETIC, SOMETIMES DISTURBING, WHILE
INDIVIDUAL IMAGES MAY ALSO BE CRITICAL OF SOCIETY.
That is the approach I wanted to take with this work. It makes it
impossible to pigeonhole me photographically. I also wasn’t out
to demonstrate photographic skills in a particular area. Some
pictures are not that strong, others are stronger. Thematically, too,
their weight varies. Building bridges between different types of
imagery is what lends the work its immediacy.
INDIVIDUAL PHOTOGRAPHS EXUDE THE SPONTANEITY OF A
PARTICULAR MOMENT, SUCH AS THE ONE SHOWING A HORSE
tied TO A CAR (FIG. 3). WHAT ROLE DOES COINCIDENCE
PLAY IN YOUR WORKS? DO YOU STAGE YOUR IMAGES?
36
Pferdes, das an ein Auto gespannt ist (Abb. 3).
Welche Rolle spielt der Zufall bei deinem Arbeiten?
Inszenierst du deine Bilder?
Die Zufallsschmiede schenkt mir manchmal ganz unglaubliche
Motive. Ich freue mich sehr, dass ich für das Sehen solcher
Begebenheiten ein wenig sensibilisiert bin. Am Motiv mit dem
Arbeitstitel Autopferd fuhren wir selbst im Auto vorbei. Doch alles
ist relativ. Denn für die mexikanischen Landleute ist dies wohl
eher ein alltägliches Bild. Und sehr wichtig: Nein, in meinen freien
Arbeiten sind die Bilder nie inszeniert oder gestellt. So meine klare
fotografische Auffassung.
Wie war dein Umgang mit den Menschen, die du
fotografiert hast? Hast du dir einen formalen
Rahmen geschaffen, um die Menschen, beispielsweise
in Mexiko, zu porträtieren?
Menschen in ihrer Natürlichkeit zu fotografieren ist wohl eine der
schwersten Herausforderungen in der Fotografie. Man muss ganz
individuell auf sein Gegenüber eingehen können. Das gelingt nicht
immer und ist auch vom eigenen Befinden abhängig. Der formale
Rahmen in Mexiko war einfach mein aufrichtiges Interesse an
den Menschen und ihren Lebensumständen. Ich wartete geduldig,
bis Vertrauen gewachsen war. Ich zeigte den Menschen dort auch
Bilder meiner bisherigen Reise durch Mexiko.
Hat deine Lehrzeit bei der Agentur Magnum Photos7
2005 und 2006 in Paris und New York dein Selbstverständnis als Fotografin geprägt?
Meine Zeit dort hat mich sehr ermutigt, Projekte tatsächlich anzugehen, Sackgassen in Kauf zu nehmen und als wichtige Meilensteine
in der persönlichen Entwicklung zu betrachten. Man wächst ja
bekanntlich an seinen Aufgaben. Im Berufsleben ist dieses Wissen
nun zwar tröstlich, allerdings zahlt es noch nicht die Miete.
Gibt es bestimmte Vorbilder oder Arbeiten anderer
Fotografen und Künstler, die deine Themenwahl oder
die formale Umsetzung beeinflussen?
Es gibt natürlich viele wundervolle Fotografen, die mich seit meinen
fotografischen Anfängen nachhaltig berührt haben. Man nimmt sich
von jedem Beeindrucktsein ein Stückchen mit und verwebt es mit
den eigenen Ideen und Vorstellungen, wie und was Fotografie für
Happenstance sometimes forges moments that offer quite incredible
images. I am very happy to be somewhat sensitised to seeing such
occurrences. The image titled Autopferd (Horse Tied to a Car) was
one that we drove past ourselves. Yet everything is relative, since for
rural Mexicans it is probably quite a common sight. And what is very
important to note is that in my non-commissioned work the images
are never staged. That is not part of my photographic concept.
HOW DID YOU DEAL WITH THE PEOPLE YOU PHOTOGRAPHED?
DID YOU DEVELOP A FORMAL FRAMEWORK TO WHICH
YOU ADHERED WHEN PORTRAYING PEOPLE, FOR EXAMPLE,
IN MEXICO?
Photographing people so that they look natural is probably one
of the greatest challenges in photography. You have to adapt to the
person in front of you. That doesn’t always work out, and it also
depends on your own state of mind at that moment. In Mexico,
the formal framework was simply my sincere interest in the people
and their living conditions. I waited patiently for them to have
confidence in me. I also showed people the pictures I had taken
on my travels through Mexico up to that point.
DID YOUR 2005/2006 APPRENTICESHIP WITH MAGNUM
PHOTOS7 IN PARIS AND NEW YORK SHAPE YOUR SELF-IMAGE
AS A PHOTOGRAPHER?
My time there encouraged me to go out and tackle projects.
You have to accept that there will be dead ends; they should
actually be considered important milestones in one’s personal
development. Challenges make you grow, as you know. In
professional life it is, indeed, comforting to know that, but it
doesn’t do much to pay the rent.
ARE THERE PARTICULAR ROLE MODELS OR WORKS BY OTHER
PHOTOGRAPHERS AND ARTISTS THAT INFLUENCE YOUR
CHOICE OF SUBJECTS OR HOW YOU PERFORM YOUR WORK?
There are, of course, numerous terrific photographers who have
deeply impressed me since I started my career as a photographer.
Every time, you take some part of that which impressed you and
mesh it with your own notions and ideas of what photography
should be for you personally. You develop a style of your own.
The photographs for my final year project were the result of an
intellectual and emotional gestation period, without me being able
einen persönlich zu sein hat. Man entwickelt seinen eigenen Stil.
Die Fotografien für mein Diplombuch entwickelten sich aus einem
gedanklichen und emotionalen Reifungsprozess heraus, ohne dass
ich hier verbindlich den direkten Einfluss von bestimmten Fotografen
nennen könnte. Formal wichtig im Buch war mir die großformatige
Darstellung der Fotografien mit minimalem Beschnitt. Die Bandbreite
Magnum, James Nachtwey, Dorothea Lange, August Sander, Paul
Strand, Sebastião Salgado, Lee Friedlander, Ansel Adams. Ungemein
inspiriert hat mich auch immer schon Lillian Bassmans körnige
Unschärfe. Aktuell interessieren mich die japanischen Fotografen
Daido Moriyama und Hiroshi Sugimoto. Beide arbeiten in SchwarzWeiß. Der eine fokussiert die Straße und Randgruppen der
Gesellschaft, der andere ist Fotokünstler, der unter anderem gerne
über Jahre sehr technisch in abstrakten Serien arbeitet. Ebenso
bewundere ich die Musiker-Fotografien von Anton Corbijn. Ich
verehre außerdem die Natur-Künstler Andy Goldsworthy und
Wolfgang Laib. Nicht zu vergessen die verrückte Sophie Calle,
die mich oft zum Staunen bringt mit ihren aberwitzigen Projekten.
Du meintest, dass dich nach Magnum’schen Vorbild
seit deinen fotografischen Anfängen die »Wahrheit
unserer Welt«8 interessieren würde. Im Sinne einer
Straight Photography respektive einer Fotografie
des »human interest«9 ? Würdest du dich als sozial
engagierte Fotografin bezeichnen und richtest
du deinen Fokus auf soziale Krisen unserer Zeit?
Ja, ich versuche es zumindest aufrichtig. Soziales Engagement liegt
mir nicht nur in der Fotografie sehr am Herzen. Ich möchte gern
Impulse geben, ein kleiner Stolperstein sein, um über das Leben
nachzudenken. Im Sinne der Straight Photography stehe auch
ich zu einer unverfälschten und unmanipulierten Wiedergabe der
Wirklichkeit und somit Wahrheit. Unter dieser Prämisse werden
auch meine zukünftigen Projekte reifen. An neuen Aufgaben
mangelt es leider nicht. Ich muss aber stets achtsam sein, dabei
nicht emotional zu versumpfen.
Es lassen sich zwei Konstanten in deinem Arbeitsprozess ausmachen: Zum einen dein subjektiver
Blickwinkel auf deine Umwelt, wobei kein holistisches
Bild der Realität wiedergegeben wird, da technische
Determinanten einen begrenzten Ausschnitt fest-
to pinpoint any direct influence of particular photographers.
What was important to me in the book was the large-scale
reproduction of the photographs with minimal cropping. My
choice includes Magnum photographers, James Nachtwey,
Dorothea Lange, August Sander, Paul Strand, Sebastião Salgado,
Lee Friedlander, Ansel Adams. The grainy blurriness of Lillian
Bassman has always been immensely inspiring. Currently I am
interested in the Japanese photographers Daido Moriyama and
Hiroshi Sugimoto. Both work in black and white. One focuses
on street life and social fringe groups, the other is a photo
artist who, among other things, has been working for years on
creating a technically highly sophisticated abstract series. I also
admire Anton Corbijn’s photographs of musicians. In addition,
I revere land art artists Andy Goldsworthy and Wolfgang Laib,
and don’t let me forget wacky Sophie Call whose crazy projects
often stun me.
TAKING THE CUE FROM MAGNUM, YOU STATED THAT,
SINCE YOUR PHOTOGRAPHIC BEGINNINGS, YOU HAVE BEEN
INTERESTED IN THE “TRUTH OF OUR WORLD.”8 DO YOU
MEAN THAT IN THE SENSE OF STRAIGHT PHOTOGRAPHY OR
HUMAN INTEREST9 PHOTOGRAPHY? WOULD YOU DESCRIBE
YOURSELF AS A SOCIALLY ENGAGED PHOTOGRAPHER AND
DO YOU FOCUS ON SOCIAL CRISES OF OUR DAY?
Yes, that is at least my sincere intention. Social engagement is
important to me not just in photography. I would like to stimulate
people, act as a small stumbling block, so that they think about
life. Following the example of Straight Photography, I am also
committed to an undistorted and non-manipulated reproduction
of reality and thus to truth. This is the premise on which my
future projects will grow. There is, unfortunately, no shortage
of new causes. I thus have to be careful not to be bogged
down emotionally.
THERE ARE TWO CONSTANTS THAT ARE NOTICEABLE
IN YOUR CREATIVE PROCESS: ON THE ONE HAND, THE
SUBJECTIVE ANGLE FROM WHICH YOU SEE THE WORLD
AROUND YOU, WHICH ALSO MAKES IT IMPOSSIBLE TO
REPRODUCE A HOLISTIC IMAGE OF REALITY, SINCE
TECHNICAL DETERMINANTS DEFINE A CIRCUMSCRIBED
FRAME – AND, ON THE OTHER, THE ANGLE FROM WHICH
38
legen, und auch dein Blickwinkel auf deine Umwelt –
dein Alltag in Deutschland, deine Reisen in Europa,
Afrika, Lateinamerika und in den USA – stets von deinen
persönlichen Lebenskonditionen geprägt ist.
Da wären wir wieder bei meiner Sicht der Dinge. Und den Dingen
in meiner Sichtweise. Ich denke, in dieser freien Arbeit hatte ich die
einmalige Chance, alles miteinander zu vereinen. Ich konnte mich
in meinem fotografischen Werk ohne Begrenzungen frei bewegen.
YOU VIEW YOUR SURROUNDINGS, YOUR EVERYDAY LIFE
IN GERMANY, YOUR TRAVELS IN EUROPE, AFRICA, LATIN
AMERICA AND THE U.S., WHICH IS ALWAYS INFORMED BY
YOUR PERSONAL LIVING CONDITIONS.
And so we return to my view of things – and to the things seen
from my perspective. I think this non-commissioned work gave
me the unique opportunity to combine everything. It allowed me
to feel free and unconfined in my photographic work.
Ursprünglich trug deine Arbeit den Untertitel
Fotografisch-gedankliche Auseinandersetzung mit
dem Leben. Wie kamst du zu diesem Titel?
Eben weil es um meine ganz persönliche Sicht der Dinge geht. Meine
Fragen, Gedanken und Zweifel beantworteten sich in vielerlei Hinsicht mit meinem fotografischen Werk der vergangenen Jahre. Und
andersherum inspirierten meine Gedanken das Sehen neuer Motive.
ORIGINALLY YOUR WORK WAS SUBTITLED A PHOTOGRAPHICINTELLECTUAL REFLECTION ON LIFE. HOW DID YOU ARRIVE
AT THAT TITLE?
Precisely because it is about my personal view of things. In many
ways, my questions, thoughts and doubts have found an answer
in my photographic work of the past years. And, vice versa, my
thoughts were the inspiration to see new subjects.
Die Rede ist wiederholt von einem »visuellen Tagebuch«10, beziehungsweise davon, dass die Fotografien
»Tagebuchauszugshafte Fragmente des Lebens«11
seien. Per definitionem ist ein Tagebuch ein Medium,
um Fakten, Gedanken und Empfindungen zur eigenen
Erinnerung zu fixieren. Es dient dem Dialog und der
geistigen Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich,
ist also Mittel zum Selbstzeugnis und zur Selbstdarstellung. Für die Tagebuchaufzeichnung bieten
sich persönliche Beobachtungen oder Vorkommnisse
an, welche den Einzelnen innerlich beschäftigen,
ebenso öffentliche Ereignisse oder menschliche
Erfahrungen. Die eigentliche Aufzeichnung hat etwas
Momenthaftes und charakterisiert sich durch einen
hohen Grad an Subjektivität.12
Man kann Gefühle und Erlebnisse aufschreiben. Ich schreibe sie
auf, indem ich fotografiere. Jedes Bild ist ein kleiner Tagebucheintrag mit seiner eigenen Geschichte. Mal ganz unspektakulär,
mal bedeutungsträchtig. Das Leben unter die Lupe genommen.
THERE ARE RECURRENT REFERENCES TO A “VISUAL DIARY”,10
OR TO THE PHOTOGRAPHS BEING “DIARY-EXCERPT-LIKE
FRAGMENTS OF LIFE”.11 BY DEFINITION, A DIARY IS A MEDIUM
FOR RECORDING FACTS, THOUGHTS AND SENTIMENTS,
ALLOWING ONESELF TO REMEMBER AND PROVIDING THE
BASIS FOR A DIALOGUE WITH AND INTELLECTUAL REFLECTION
ON ONE’S OWN SELF – IN SHORT, A MEDIUM FOR PERSONAL
TESTIMONIALS AND SELF-PROJECTION. PERSONAL
OBSERVATIONS OR OCCURRENCES THAT MENTALLY
PREOCCUPY AN INDIVIDUAL LEND THEMSELVES AS DIARY
ACCOUNTS, AS DO PUBLIC EVENTS OR HUMAN EXPERIENCES.
THE ACTUAL ACCOUNT HAS AN OF-THE-MOMENT FEEL AND
IS CHARACTERISED BY A HIGH DEGREE OF SUBJECTIVITY.12
You can write down feelings and experiences. I write them down by
taking picture of them. Each photograph is a small diary entry with
a history of its own: sometimes quite unspectacular, sometimes of
great significance. It is life put under the magnifying glass.
Hinsichtlich deines Arbeitsprozesses ist neben deinem
subjektiven Blickwinkel beim Fotografieren eine ebenso zentrale Konstante das Sichten und die Selektion
der Bilder und deren anschlieSSende Zusammenstel-
WITH REGARD TO YOUR WORK PROCESS, AN EQUALLY
PIVOTAL CONSTANT, ALONG WITH THE SUBJECTIVE ANGLE
OF YOUR PHOTOGRAPHS, IS THE PROCESS OF SIFTING AND
SELECTING THE PICTURES, AS WELL AS THEIR SUBSEQUENT
COMPILATION. AT FIRST GLANCE, THE ARRANGEMENT OF
THE PICTURES IN THE EXHIBITION AND IN YOUR VOLUMINOUS
lung. Die Anordnung der Bilder in der Ausstellung
wie auch in deinem voluminösen Bilderbuch scheint auf
den ersten Blick von einer Gleichgültigkeit gegenüber
dem Fotografieren und der einzelnen Fotografie zu
zeugen. Beliebig und unübersichtlich wirkt die Bilderfolge, so der erste Eindruck.13 Welche Methode steckt
hinter der vermuteten Gleichgültigkeit?
Beim In-Beziehung-Setzen der Bilder spielte vor allem das Bauchgefühl eine wichtige Rolle. Das Ergebnis ist natürlich nur EIN
gewählter, möglicher Raum für vielerlei Berührungspunkte und
Gedankengebilde. Doch stehen die im Buch vorzufindenden
Kombinationen für einen abgeschlossenen Gedankenprozess von
damals. Dem Intuitiven bei Projektentstehung. Heute würden die
Geschichten in meinem Buch sicherlich wieder ganz anders und
neu verknüpft werden. Ein Umschlagplatz der Gedanken. Das macht
es für mich nach wie vor spannend, in mein Werk einzutauchen.
Manche Bilder erhalten aufgrund ihrer überlegten
Platzierung im Gesamtkontext eine Bedeutung und
Intensität, die sie als isolierte Fotografien niemals
gehabt hätten.
Mag die Bilderfolge zu anfangs beliebig und unstrukturiert wirken,
wird der Betrachter dennoch sachte in der Verdichtung der Bildsprache an der Hand genommen. Das Auge wandert von einem
Bild zum anderen, wobei sich gerade neue Geschichten verweben,
ein neuer Gedanke an den vorherigen anknüpft. Sich widerspricht.
Oder nachhakt. Ein Los-Denken. Weder nur das Eine, noch nur
das Andere. Graustufen. Das Leben.
Welche Rolle nimmt der Betrachter ein, wenn er deiner
sehr persönlichen Sicht auf die Welt gegenübersteht?
Ich überlasse dem Betrachter ohne Vorgaben meinen fotografischen
Gedankenhaufen. Irgendwohin wird er ihn mitnehmen und für sich
sichten und seinerseits verbinden. Ich wünsche mir, dass ich für den
Betrachter kleine Gedankenanstöße in die richtige Richtung geben
kann. Und dass das Nachdenken dann weitergeht.
Die Fotografien an sich tragen keine Titel, faktische
Informationen über Ort und Datierung werden dem Betrachter in einem Index am Ende des Buches vermittelt.
Angaben oder Seitenzahlen direkt auf den Doppelseiten hätte ich als
PHOTO BOOK SEEMS TO BESPEAK INDIFFERENCE TO
THE ACT OF TAKING PICTURES AND TO THE INDIVIDUAL
PHOTOGRAPH. THE SEQUENCE OF IMAGES AT FIRST SEEMS
RANDOM AND UNCLEAR.13 WHAT METHOD UNDERLIES
THIS SEEMING INDIFFERENCE?
Gut instinct, in particular, played an important role in relating the
images to one another. The result is, of course, the selection of
only ONE possible field for all sorts of points of contact and thought.
Still, the combinations found in the book do represent a thought
process that was completed at the time: the intuitive one at the time
of the project’s realisation. Today, the stories in my book would
doubtlessly be connected in different and new ways and involve
‘reloading’ certain thoughts. That’s why I still find it exciting to
immerse myself in my work.
In the case of some images, their deliberate
placement in the overall context infuses them with
a significance and intensity that they would never
have possessed as isolated photographs.
Even though the sequence of images may, at first, seem random
and unstructured, the viewer is gently led deeper into the imagery.
The eye moves from one image to the next, where new stories
are interwoven and a new thought builds on the previous one –
or contradicts it – or probes deeper – triggering thoughts, never
simply one or the other – shades of grey – life.
WHAT IS THE ROLE OF THE VIEWER WHEN CONFRONTED
WITH YOUR HIGHLY INDIVIDUAL VIEW OF THE WORLD?
I relinquish my pile of photographic thoughts to the viewer without
any conditions. He will take it somewhere, sort through it, and make
his own connections. My aim is to nudge the viewer’s thoughts
ever so slightly in the right direction, hoping that the process of
reflection will continue from there.
THE PHOTOGRAPHS THEMSELVES APPEAR WITHOUT TITLES;
The READERS ARE PROVIDED WITH FACTUAL INFORMATION
REGARDING LOCATION AND DATE IN AN INDEX AT THE END
OF THE BOOK.
I found that including information or page numbers directly on the
spreads was detracting from the images. Place and time are not
immediately relevant to accessing this work. As mentioned, these
40
sehr störend für die Bildwirkung empfunden. Ort und Zeit spielen
für den Zugang zu dieser Arbeit keine direkte Rolle. Diese Informationen sind – wie gesagt – ganz sachlich mit kleinen Bild-Icons
im Anhang zu finden. Vorne hat die Emotion, das Brückenbauen,
das Etwas-Lostreten Vorrang.
Gibt es so etwas wie Eindeutigkeit in deiner Arbeit?
Absolut nicht. Ich transportiere natürlich eine mir wichtige Aussage
in jedem Bild und in der Kombination der Doppelseiten im Buch.
Doch der Betrachter seinerselbst ist frei in seiner Interpretation.
Baut seine eigenen Brücken. Kreiert vielleicht auch ganz neue
Zusammenhänge. Erfahrungsabhängige Eindeutigkeit.
Max Dessoir schreibt, das Tagebuch verfolge die
»Linie des eigenen Lebens« jeden Tag. Der unmittelbare
Eindruck einer Situation oder eines Erlebnisses wird
erlebnisnah in unterschiedlichster Form fixiert
und konserviert. Ein weiteres zentrales Charakteristikum eines Tagebuchs ist die RegelmäSSigkeit
des Schreibens; darüber hinaus ist es prinzipiell
zeitlich unbegrenzt und unabgeschlossen.14 Machst
du weiter mit dieser Arbeit oder ist die Fotoserie
für dich abgeschlossen?
Ein Ende ist nicht in Sicht, solange ich mit offenen Augen durch
die Welt gehe. Das ist das Schöne an dieser Arbeit.
1
Samantha Dietmar erhielt 2008 den BFF-Förderpreis (Bund Freischaffender Foto-Designer) für ihre Abschlussarbeit ÜBER VIELES. UND NICHTS. Der BFF-Förderpreis geht jährlich an die besten Hochschulabschlussarbeiten im Bereich Fotografie und ist einer der renommiertesten und höchstdotierten Förderpreise für Hochschulabsolventen. Weltweit 2000 Studenten von 118 verschiedenen Hochschulen aus 21 Ländern haben sich seit der Stiftung des Preises 1988 bei der Ausschreibung beteiligt. Der Förderpreis wird vom BFF getragen und vom Kodak Kulturprogramm, dem Stern, NEON, Gruner + Jahr, der photokina, dem Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg und der Reinhart-Wolf-Stiftung unterstützt.
2
Samantha Dietmar in ihrer Diplomarbeit.
3
Otto Steinert: Zur Idee dieses Buches. In: Subjektive Fotografie. Ein Bildband moderner europäischer Fotografie. Ausst.-Kat. Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken, Bonn 1952. S. 6. Subjektive Fotografie ist eine Strömung in den 1950er Jahren in Deutschland, welche sich in der Tradition der Neuen Sachlichkeit der 20er und 30er Jahre wägt. Otto Steinert, der die Stilbezeichnung kreierte, formulierte in Veröffentlichungen und zeigte in Ausstellungen das Primat von subjektiver Wahrnehmung in der Fotografie. Mit seinen Maximen formulierte er die Grundlage der konzeptionellen Fotografie und demonstrierte
die Existenz einer persönlichen Sichtweise in der Fotografie, also einer Befreiung von vordergründiger Bedeutung und eine Umwertung in ein subjektives Erfassen. Formal und inhaltlich sind die Fotografien äußerst vielfältig, erstrecken sich von strengen Bildkompo-
data are quite matter-of-factly included with small image icons in
the appendix. In the front section, precedence is given to emotion,
to building bridges, to triggering something.
IS THERE ANY SUCH THING AS EXPLICITNESS IN YOUR WORK?
Absolutely not. Of course, in each image and with each combination of images on the book’s pages I do convey a certain
message that is important to me. But readers are free to interpret
them in their own way, to build their own bridges, perhaps to even
establish relationships that are completely new. It is experiencebased explicitness.
sitionen, starken Schwarz-Weiß-Kontrasten oder Reduktionen zur völligen Abstraktion und umfassen vom ungegenständlichen Fotogramm bis zur psychologisch vertieften Reportage alle Facetten (vgl. Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie. Stuttgart 2002.
S. 196–208).
4
Street Photography entwickelte sich bereits im 19. Jahrhundert aus einem nicht kommerziell orientierten persönlichen Interesse des Fotografen heraus und folgte Charles Baudelaires Aufruf, sich dem Zeitgenössischen und Gegenwärtigen zuzuwenden. Besonders im Amerika der 1960er und 70er Jahre entwickelte und etablierte sich diese Stilform. Die Fotografen zogen durch die Straßen und waren überall dort anzutreffen, wo etwas los war. Die Bildsprache ist persönlich, informell und offen. Die Arbeiten einzelner Fotografen sind sehr vielseitig und unterschiedlich: William Klein bspw. setzt seine Kamera als Mittel ein, um zynisch das Leben auf den Straßen New Yorks und die Gewalt der Straßengangs einzufangen, Robert Frank arbeitet »spontan und scheinbar planlos«, lässt sich stark von seinem Instinkt leiten und bringt seinen Pessimismus und seine Ambivalenz gegenüber seinen Motiven in seiner Serie The Americans zum Ausdruck, Lisette Model prägte eine harte und grobkörnige Ästhetik mit ihren Bildern, Garry Winogrands Arbeiten »enthalten ein Moment von Aggressivität« und Lee Friedlanders Stil ist weniger hektisch als vielmehr »lakonisch, direkt und nahezu unbeteiligt« (vgl. Colin Westerbeck: In der Stadt und auf dem Lande. Die Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten. In: Neue Geschichte der Fotografie. Hg. v. Michel Frizot. Köln 1998. S. 640–659).
5
AS MAX DESSOIR ONCE WROTE, A DIARY TRACES, ON A
DAILY BASIS, THE “LINE OF ONE’S OWN LIFE”. THE IMMEDIATE
IMPRESSION OF A SITUATION OR AN EXPERIENCE IS
RECORDED AND PRESERVED IN MANY DIFFERENT WAYS,
YET ALWAYS CLOSELY RELATED TO THE ACTUAL OCCURRENCE.
HOWEVER, ANOTHER ESSENTIAL FEATURE OF A DIARY IS THE
REGULARITY OF RECORDING; BEYOND THAT IT IS BASICALLY
OPEN AND INCOMPLETE IN ITS TEMPORAL SITUATEDNESS.14
DO YOU INTEND TO CONTINUE WITH THIS WORK OR DO YOU
CONSIDER THE PHOTO SERIES TO BE COMPLETED?
There is no end in sight, as long as I go through life with my
eyes wide open. That is what’s so great about this work.
1
In 2008 Samantha Dietmar received the BFF Promotion Award of the German Association of Freelance Photographers (Bund Freischaffender Foto-Designer; BFF) for her final
year project ÜBER VIELES. UND NICHTS. The annual BFF Promotion Award recognises
the best final year projects in photography and is one of the most prestigious and highly remunerative awards for college graduates. Since 1988, when the award was created, 2000 students from 118 colleges in 21 countries have participated in the prize competition. Under the auspices of the BFF, additional funding for the award is provided by the Kodak Cultural Program, Stern Magazine, NEON, Gruner + Jahr, photokina, the Ministry of Economics of the State of Baden-Württemberg and the Reinhart Wolf Foundation.
2
Samantha Dietmar during her final year project.
3
Otto Steinert: Zur Idee dieses Buches, in: Subjektive Fotografie. Ein Bildband moderner europäischer Fotografie, exh.cat. Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken, Bonn, 1952, p. 6. Subjective Photography emerged as a trend in Germany in the 1950s, placing itself in the tradition of 1920s and 1930s New Objectivity (Neue Sachlichkeit).
In publications and exhibitions, Otto Steinert, who coined the name for this photographic style, posited the primacy of subjective perception in photography. With his precepts he formulated the principles of conceptual photography, demonstrating the existence of a individual perspective in photography, which, in turn, implied an exemption from ostensible meaning and a repositioning as subjective recording. Both formally and thematically, the Samantha Dietmar in ihrer Diplomarbeit.
6
style produced an extremely diverse body of photographic work, ranging from rigidly composed images to intense black-and-white contrasts and images reduced to pure abstractions and encompassing everything from non-representational photograms to psychologically inflected photo reportages (cf. Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie. Stuttgart 2002, p. 196–208).
4
Street photography dates back to the nineteenth century, developing from the personal, non-commercial interests of photographers who were responding to Charles Baudelaire’s call for a turn to the contemporaneous and present. The style emerged and took hold particularly in 1960s and 1970s America: photographers wandered the streets, going wherever things were happening. The pictorial language is personal, informal and candid. The works of individual photographers are highly varied and diverse: William Klein, for instance, uses his camera as a means to cynically capture life on the streets of New York and the violence of street gangs; Robert Frank works “spontaneously in a seemingly haphazard manner”, mostly letting his instinct guide him and expressing his pessimism and ambivalence towards his subjects in his series The Americans; Lisette Model’s photographs establish a grim and grainy visual aesthetics; Garry Winogrand’s works “contain an element of aggression”; and Lee Friedlander’s style is not so much frantic
as it is “laconic, straightforward and almost disinterested” (cf. Colin Westerbeck: On the
Road and in the Street. The Post-War Period in the United States, in: A New History of Photography, ed. by Michel Frizot. New York and Cologne 1998, pp. 640–59).
5
Samantha Dietmar during her final year project.
Gerhard Schweppenhäuser, Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie
an der FH Würzburg und Privatdozent für Philosophie an der Universität Kassel, in seinem Empfehlungsschreiben für Samantha Dietmar.
6
Gerhard Schweppenhäuser, professor of design, communication and media theory at Würzburg University and adjunct professor of philosophy at the University of Kassel, writing in his letter of recommendation about Samantha Dietmar.
7
7
The photographic agency Magnum Photos was founded in 1947 by Henri Cartier
Bresson, Robert Capa, George Rodger and David (Chim) Seymour. What distinguished
this cooperative of independent photographers was that they had full control over
their photographs, without being subjected to editorial constraints, and retained the copyright, which was considered a novelty at the time. Shaped by the impressions of World War II, the individual photographers focused on the documentary potential of photography and its humane function. The agency itself was characterised by the above-average skills of its photographers and the variety of different works and working methods of each of its members. Edward Steichen at one point described the agency’s photographers as “leading photographers whose accounts of the human side of world events of a specific period become timelessly valid, visual documents of history the
next day” (quoted in Walter Koschatzky: Die Kunst der Fotografie. Technik, Geschichte, Meisterwerke. Munich 1987, p. 208; cf. Fred Ritchin: What is Magnum? in: In Our Time. The World as Seen by Magnum Photographers, ed. by William Manchester. New York 1989, pp. 417–45).
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Samantha Dietmar in ihrer Diplomarbeit.
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Die Agentur Magnum Photos wurde 1947 von Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, George Rodger und David (Chim) Seymour gegründet. Die Kooperative unabhängig arbeitender Fotografen definierte sich darüber, dass sie über ihre Bilder frei bestimmte, keiner Auflage einer Redaktion unterlag und die Rechte an ihren Fotografien behielt, was zu diesem Zeitpunkt als Novum galt. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges fokussierten die einzelnen Fotografen das dokumentarische Potenzial und die humane Funktion der Fotografie. Die Agentur selbst charakterisiert sich durch die überdurchschnittliche Qualifikation der Fotografen und die individuellen Unterschiede zwischen den Arbeiten und Arbeitsweisen ihrer einzelnen Mitglieder. Edward Steichen bezeichnete die Fotografen der Agentur einmal als »führende Fotografen, deren Berichte über die menschliche Seite zeitgebundener Weltereignisse morgen schon zu zeitlos gültigen, visuellen Dokumenten der Geschichte werden« (zit. nach Walter Koschatzky: Die Kunst der Fotografie. Technik, Geschichte, Meisterwerke. München 1987. S. 208; vgl. auch Fred Ritchin: Was ist Magnum? In: Zeitblende. Fünf Jahrzehnte MAGNUM-Photographie. Hg. v. William Manchester. München 1989. S. 417–445).
Straight Photography meint eine »direkte und unverfälschte« oder »reine« Fotografie. Entgegen des Piktorialismus, einer bildhaften und weichen Kunstfotografie, welche sich stark an der Malerei orientierte, wandten sich einige Fotografen um 1900 hin zu einer rein bildhaften Anwendung, die der Fotografie eine Unabhängigkeit von Kunstrichtungen und Stildiktaten einräumte. Mediumsspezifische Qualitäten der Fotografie rückten in den Vordergrund, ein nüchternes Erfassen und eine Hinwendung zur sozialen Wirklichkeit und sozialen Problemen prägten den zeitkritischen Ansatz und den Verismus der Straight Photography. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes waren Paul Strand, Philipp Kester, Heinrich Zille, Jacob A. Riis, Dorothea Lange und Walker Evans (vgl. Koschatzky 1987 (siehe Anm. 7), S. 151–158). In engem Zusammenhang mit der Straight Photography steht der Begriff des »human interest«: Aus dem Erleben des Zweiten Weltkrieges heraus waren viele Fotografen bestrebt, mit ihren Arbeiten eine wahrhaft humane Welt zu schaffen und so entwickelte sich in den 50er Jahren eine Form der Fotografie, »die auf poetische und mitfühlende Weise menschliches Leid dokumentierte«. Ihren Höhepunkt fanden diese Bestrebungen in der Ausstellung Family of Man, welche 1955 im Museum of Modern Art in New York stattfand, kuratiert von Edward Steichen, u. a. mit Arbeiten von Henri Cartier-Bresson, André Kertész, Paul Strand, Eugene Smith, Willy Ronis und Robert Doisneau. Die Arbeit des engagierten Fotografen ging mit einer optimistischen – und auch idealistisch und utopisch überhöhten –
Einstellung über eine reine Sozialdokumentation hinaus. Nach dem Besuch der Ausstellung sollte der Betrachter nicht mehr an die Fotografie, sondern an die Menschen denken, im Sinne einer sich selbst humanisierenden Welt (vgl. Jean-Claude Gautrand: Der Blick des Anderen. Humanismus und Neorealismus. In: Neue Geschichte der Fotografie. Hg. v. Michel Frizot. Köln 1998. S. 612–632).
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Samantha Dietmar during her final year project.
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Straight Photography stands for “straightforward and undistorted” or “pure” photography. As opposed to Pictorialism, a soft pictorial style of art photography, which drew heavily
on painting, a number of photographers around 1900 turned to a purely image-based use, making photography independent of art movements and stylistic dictates. An emphasis
on qualities specific to the medium of photography, as well as matter-of-fact recording, and an interest in social reality and social problems shaped the documentary approach and verismo of Straight Photography. Prominent exponents of this approach were
Paul Strand, Philipp Kester, Heinrich Zille and Jacob A. Riis, as well as Dorothea Lange
and Walker Evans (cf. Koschatzky: Die Kunst der Fotografie, op. cit., p. 151–158).
Closely associated with Straight Photography is the term “human interest”: based on
their experience of World War II, many photographers aimed to contribute, with their
works, to a truly humane world, prompting the emergence, in the 1950s, of a style of photography, “which documented human suffering in a poetic and sympathetic manner”. These aspirations culminated in the 1955 exhibition Family of Man at the Museum of Modern Art in New York, which was curated by Edward Steichen and included work by, among others, Henri Cartier-Bresson, André Kertész, Paul Strand, Eugene Smith, Willy Ronis and Robert Doisneau. Adopting an optimistic – if not idealistic and utopian – stance, the work of the socially engaged photographer transcended mere documentation of
social reality. A visit to the exhibition was eventually intended to take the viewer’s reflections from photography to the actual people, in terms of a self-humanising world
(cf. Jean-Claude Gautrand: Looking at Others. Humanism and Neorealism, in: A New History of Photography, op. cit., pp. 612–32.).
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20. Internationaler BFF-Förderpreis und Reinhart-Wolf-Preis 2008. Hg. v. BFF Bund
Freischaffender Foto-Designer e. V. Ausst.-Kat. visual gallery at photokina Köln,
Gruner + Jahr Pressehaus Hamburg, Haus der Wirtschaft Baden-Württemberg Stuttgart. Stuttgart 2008. S. 54.
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20. Internationaler BFF-Förderpreis und Reinhart-Wolf-Preis 2008, exh.cat. visual
gallery at photokina Köln, Gruner + Jahr Pressehaus Hamburg, Haus der Wirtschaft Baden-Württemberg Stuttgart, ed. by the BFF (Bund Freischaffender Foto-Designer) e.V. Stuttgart 2008, p. 54.
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Samantha Dietmar in ihrer Diplomarbeit.
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Samantha Dietmar during her final year project.
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Peter Boerner: Tagebuch (Sammlung Metzger, Abt. E). Stuttgart 1969. S. 5–20.
12
Peter Boerner: Tagebuch (Sammlung Metzger, Abt. E). Stuttgart 1969, pp. 5–20.
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Manfred Schmalriede: Laudatio. In: 20. Internationaler BFF-Förderpreis und Reinhart Wolf-Preis 2008 (siehe Anm. 10), S. 20–36.
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Manfred
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14
Boerner 1969 (siehe Anm. 12), S. 11–14.
Schmalriede: Laudatio, in: 20. Internationaler BFF-Förderpreis und
Reinhart-Wolf-Preis 2008, op. cit., p. 20–36.
Boerner, op. cit., 1969, p. 11–14.
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biographien
biographies
SAMANTHA DIETMAR
Samantha Dietmar (geb. 1978 in München), studierte bis März
2008 Kommunikationsdesign an der FHWS in Würzburg. Nach
einem inspirierenden Design-Praktikum 2004 bei Intégral Ruedi
Baur & Associés in Paris fand sie unter Prof. Dieter Leistner
ihren Schwerpunkt in der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie.
Als langjähriger Mentor begleitete sie der Philosophie-Professor
Gerhard Schweppenhäuser. Das anschließende Lehrjahr 2005/06
in der renommierten Fotografenagentur Magnum Photos in Paris
und New York brachte ihr den klassischen Fotojournalismus näher.
Seither versucht sie, mit geschärftem fotografischen Blick und
einer sehr persönlichen (An-)Sicht, die Fotografie zu leben. Ihre
Diplomarbeit, das Fotobuch ÜBER VIELES. UND NICHTS., wurde
2008 mit dem 20. BFF-Förderpreis ausgezeichnet. Samantha
Dietmar lebt und arbeitet freischaffend in Berlin.
SAMANTHA DIETMAR
Samantha Dietmar (b. in Munich in 1978) studied communication
design at the University of Applied Sciences in Würzburg-Schweinfurt,
graduating in March 2008. Following a design internship in 2004
at Intégral Ruedi Baur & Associés in Paris, her focus shifted to
analogue black-and-white photography, which she studied under
Professor Dieter Leistner. For a number of years, Professor Gerhard
Schweppenhäuser has been her mentor. While she was working for
the renowned photographic agency Magnum Photos in Paris and
New York in 2005/2006, she became very interested in classic
photojournalism. Since then, she has been using her well-trained
eye and highly original perspective to pursue this career. For her
final year project, the photo book ÜBER VIELES. UND NICHTS.
(On Many Things. And Nothing.), she was awarded the 20th
BFF Promotion Award by the Bund Freischaffender Fotodesigner
(German Association of Freelance Photographers) in 2008. Samantha
Dietmar lives and works as a freelance photographer in Berlin.
SABINE SCHMID
Sabine Schmid (geb. 1982), Kuratorin der Ausstellung Samantha
Dietmar. ÜBER VIELES. UND NICHTS., studierte Kunstgeschichte,
Germanistik und Theaterwissenschaft an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und an der Sorbonne, Paris. Seit 2005 leitet
sie Ausstellungsprojekte im Museum Villa Stuck, darunter Haare.
Fotografien von Herlinde Koelbl (2008) und Tiffany in neuem Licht.
Clara Driscoll und die Tiffany Girls (2009). Seit 2007 arbeitet sie
an ihrer Promotion zur Fotografie in der DDR.
SABINE SCHMID
Sabine Schmid (b. 1982), curator of the exhibition Samantha
Dietmar. ÜBER VIELES. UND NICHTS. (On Many Things. And
Nothing.), studied art history, German philology and dramatics
at Ludwig Maximilian University in Munich and at the Sorbonne
in Paris. Since 2005 she has been involved in managing
exhibition projects such as Haare. Fotografien von Herlinde
Koelbl (Hair. Photographs of Herlinde Koelb, 2008) and Tiffany
in Neuem Licht. Clara Driscoll und die Tiffany Girls (A New Light
on Tiffany. Clara Driscoll and the Tiffany Girls, 2009) at the
Museum Villa Stuck. She is currently working on her doctoral
thesis on photography in the GDR.
AUSSTELLUNGEN (Auswahl)
2009
ÜBER VIELES. UND NICHTS., ORi Bar/Galerie/Projektraum,
Berlin (Einzelausstellung)
ÜBER VIELES. UND NICHTS., Haus der Wirtschaft
Baden-Württemberg, Stuttgart
2008
Auszeichnung mit dem 20. BFF-Förderpreis 2008 für ihre
Foto-Abschlussarbeit ÜBER VIELES. UND NICHTS.
Preisverleihung und Eröffnung visual gallery at photokina, Köln
ÜBER VIELES. UND NICHTS., Gruner + Jahr Pressehaus, Hamburg
FOTOGRAFISCH, Hugendubel, Würzburg
2006
academie meets photokina, Köln
2005
Fotoausstellung ARCHITEKTUR, Messe Frankfurt/Main
2004
Kunstausstellung espace 14, Paris
academie meets photokina, Köln
SELECTED EXHIBITIONS
2009
ÜBER VIELES. UND NICHTS., ORi Bar/Galerie/Projektraum,
Berlin (Solo exhibition)
ÜBER VIELES. UND NICHTS., Haus der Wirtschaft
Baden-Württemberg, Stuttgart
2008
20th BFF Promotion Award 2008 for ÜBER VIELES. UND NICHTS.
Award ceremony and opening of visual gallery at photokina, Cologne
ÜBER VIELES. UND NICHTS., Gruner + Jahr Pressehaus, Hamburg
FOTOGRAFISCH, Hugendubel, Würzburg
2006
academie meets photokina, Cologne
2005
ARCHITEKTUR photography exhibition, Messe Frankfurt/Main
2004
espace 14 art exhibition, Paris
academie meets photokina, Cologne
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ABBILDUNGSLISTE
LIST OF ILLUSTRATIONS
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Chile. Santiago 2007. Wandkunst
Berlin 2007. Friedrichshain. Zeitungen
Mexiko. Tlaxcala 2006. Pferd an Auto
Berlin 2005. Friedrichshain. Küchenfenster
Mexiko. Chiapas 2006. Huixtla Zapatistische Gemeinde
Kühlungsborn 2007. Umfeld G8-Gipfel
Frankreich. Paris 2004. Treppenhaus
Mexiko. Tlaxcala 2005. Restaurant
Berlin 2007. Mitte. Wandgedanken
Berlin 2007. Mitte. Alexanderplatz Pfütze
Mexiko. Quintana Roo 2006. Tänzer Festival
Namibia 2004. Etosha National Park
Mexiko. Chiapas 2006. Oventic Zapatistische Gemeinde
Rügen 2006. Prora. Strand Wandgedanken
Frankreich. Paris 2004. Belleville Wandgedanken
Mexiko. Campeche 2006. Am Meer
USA. NY City 2005. Manhattan Halloween
USA. NY City 2005. Nähe Times Square
USA. NY City 2007. Bahnsteig
USA. NY City 2005. Abstrakter Straßenverkehr
Frankreich. Paris 2006. Metro Ausgang
Italien. Umbrien 2007. Tankstellenshop
USA. NY City 2005. Halloween
Rügen 2006. Puttbus. Leerstehende Kaufhalle
Würzburg 2006. Frauenland. Herd
Argentinien. Patagonien 2007. Unterwegs
Berlin 2005. Friedrichshain. Aschenbecher
Mexiko 2006. La Otra Campaña. Kundgebung
Würzburg 2007. Grombühl. Frost
Argentinien. Buenos Aires 2007. Blick Hof
Mexiko 2005. Unterwegs
USA. NY City 2005. Leuchtreklame
Chile. Santiago 2007. Wall Art
Berlin 2007. Friedrichshain. Newspapers
Mexico. Tlaxcala 2006. Horse Tied to a Car
Berlin 2005. Friedrichshain. Kitchen Window
Mexico. Chiapas 2006. Huixtla Zapatista Village
Kühlungsborn 2007. Setting of G8 Summit Meeting
France. Paris 2004. Stairwell
Mexico. Tlaxcala 2005. Restaurant
Berlin 2007. Mitte. Wall Thoughts
Berlin 2007. Mitte. Alexanderplatz Puddle
Mexico. Quintana Roo 2006. Dance Festival
Namibia 2004. Etosha National Park
Mexico. Chiapas 2006. Oventic Zapatista Village
Rügen 2006. Prora. Beach Wall Thoughts
France. Paris 2004. Belleville Wall Thoughts
Mexico. Campeche 2006. At the Seaside
USA. NY City 2005. Manhattan Halloween
USA. NY City 2005. Near Times Square
USA. NY City 2007. Railway Platform
USA. NY City 2005. Abstract Street Traffic
France. Paris 2006. Metro Exit
Italy. Umbria 2007. Petrol Station Shop
USA. NY City 2005. Halloween
Rügen 2006. Puttbus. Vacant Supermarket
Würzburg 2006. Frauenland. Stove
Argentina. Patagonia 2007. On the Road
Berlin 2005. Friedrichshain. Ashtray
Mexico 2006. La Otra Campaña. Rally
Würzburg 2007. Grombühl. Frost
Argentina. Buenos Aires 2007. Courtyard View
Mexico 2005. On the Road
USA. NY City 2005. Neon Sign
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impressum
Imprint
Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung |
This book was published in conjunction with the exhibition
SAMANTHA DIETMAR. ÜBER VIELES. UND NICHTS. |
ON MANY THINGS. AND NOTHING.
Eine Ausstellung des Museums Villa Stuck in der Reihe RICOCHET |
An exhibition organised by the Museum Villa Stuck as part of the
exhibition series RICOCHET
22. April – 27. Juni 2010 | 22 April – 27 June 2010
Museum Villa Stuck www.villastuck.de
Ausstellung | Exhibition
Kuratorin | Curator
Sabine Schmid
Restauratorische Betreuung | Conservation
Susanne Eid
Ausstellungstechnik | Preparation
Robert Matthews, Michael Dietmann, Tommy Jackson,
Mark Späth, Friederike Warneke
Medienpartner | Media partners
Museum Villa Stuck
Direktor | Director
Michael Buhrs
Zentrale Aufgaben/Planung | Executive Affairs
Roland Wenninger
Ausstellungen/Publikationen | Exhibitions/Publications
Verena Hein
Ausstellungen/Vermittlung | Exhibitions/ART EDUCATION
Anne Marr
FRÄNZCHEN. Kinder- und Jugendprogramm | Art education
Kitty von Korff, Johanna Berüter
Ausstellungskoordination | Exhibition Coordinators
Sabine Schmid, Nadja Henle
Ausstellungstechnik | Chief Preparator
Robert Matthews
Sammlungen Franz von Stuck/Jugendstil | Curator of Franz
von Stuck/Jugendstil Collections
Margot Th. Brandlhuber
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit | Press and Public Relations
Birgit Harlander, Bernhard Schneider
Verwaltungsleiter | Administration Officer
Bernhard Stöcker
Die Ausstellung wurde groSSzügig unterstützt von |
The exhibition was kindly supported by:
Friedrich Trautwein
Werstätte für Kaschierungen
und Rahmungen
Katalog | Catalogue
Sachbearbeiter Buchhaltung | Accounting
Nico Nöllner
Verwaltungsmitarbeit | Administrative Assistant
Lisa Elixmann
Technischer Dienst | Facility Management
Wolfgang Leipold
Leitung Aufsichtsdienst | Head of Security
Stefan Perkovic, Erwin Richter
Herausgeber | Published by
Museum Villa Stuck
Projektleitung | Managing Editor
Verena Hein
Lektorat deutsch | German copy-editing
Stefanie Adam
Museum Villa Stuck
Prinzregentenstraße 60
81675 München | Munich
www.villastuck.de
Lektorat englisch | English copy-editing
Sarah Trenker
Übersetzungen | Translation
Bram Opstelten
Ein Museum der Stadt München
Gestaltung | Design
normal industries
Lithografie | Reproduction
Gesamtherstellung | Printed and published by
Kerber Verlag, Bielefeld
Windelsbleicher Str. 166-170
33659 Bielefeld
Germany
Tel. +49 (0) 5 21/9 50 08-10
Fax +49 (0) 5 21/9 50 08-88
[email protected]
www.kerberverlag.com
Kerber, US Distribution
D.A.P., Distributed Art Publishers Inc.
155 Sixth Avenue 2nd Floor
New York, N. Y. 10013
Tel. +1 212 6 27-19 99
Fax +1 212 6 27-94 84
Alle Rechte vorbehalten | All rights reserved
© 2010 Museum Villa Stuck; die Künstlerin |
the artist; die Autoren | the authors
© 2010 Kerber Verlag Bielefeld/Leipzig/Berlin
ISBN 978-3-86678-402-4
Printed in Germany
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar. | The Deutsche Nationalbibliothek holds a record
of this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographical
data can be found under: http://dnb.d-nb.de.