Claudia Roth

Transcription

Claudia Roth
}
Claudia Roth
Mitglied des Deutschen Bundestages
28.08.2006
Reisebericht
- Mersin/Adana (Türkei) am 26./27.7.06 und
- Syrien/Libanon vom 15.-18.8.06
Nach dem Beginn des Libanon-Kriegs unternahm ich zwei Reisen, die einen gemeinsamen
Schwerpunkt hatten: die humanitäre Situation in der Region und mögliche deutsche Hilfe.
Türkei
Am 26.07.06 reiste ich von meinem Urlaubsort an der türkischen Ägäis in die türkische
Mittelmeerregion Adana und Mersin. In der Hafenstadt Mersin kamen über 20.000
Evakuierte an. Der größte Teil der Menschen stammte aus Kanada, Australien, Frankreich,
Brasilien, Deutschland, den USA und der Türkei.
Die Aufnahme der Ankommenden funktionierte reibungslos, mit großer Gastfreundschaft und
Herzlichkeit. Die Evakuierten, überwiegend Urlaubsgäste und Libanesen mit Doppelpass,
wurden von ihren jeweiligen Botschaften betreut und von den türkischen Behörden
unbürokratisch aufgenommen.
Da die Region Adana ein potentielles Erdbebengebiet ist, ist eine ausreichende
Notfallstruktur vorhanden, einschließlich von Notbetten, die in Sporthallen und in
Studentenwohnheimen aufgestellt wurden. Eine Ambulanz stand bei Bedarf zur Verfügung.
Gesprächspartner berichteten von ihren Erfahrungen mit den Bombardements im Libanon,
den Schwierigkeiten, einen Platz auf einem Schiff zu „ergattern“ und den äußerst
anstrengenden Rahmenbedingungen der Fahrt auf Kriegsschiffen oder Fähren, auf denen
z.B. Kanadier evakuiert wurden. Für Australien war es die größte Evakuierungsaktion seit
dem 2. Weltkrieg. Die so Evakuierten bezeichneten sich in Gesprächen als durchaus
privilegiert, weil sie im Gegensatz zu tausenden Filipinos oder Vietnamesen diplomatische
Hilfe erfahren konnten. Scharfe Kritik erntete der zypriotische Regierungschef Tassos
Papadopoulos, der das Angebot der nordzypriotischen Seite nach humanitärer Hilfe, wie
Zugang zu Häfen, Flughäfen und Krankenhäusern schroff ablehnte und zu unterbinden
suchte.
Platz der Republik 1 y 11011 Berlin y K (030) 227 – 7 20 27 y M (030) 227 – 7 60 28
x [email protected]
Wahlkreisbüro: Maximilianstrasse 17 y 86150 Augsburg y K (0821) 4 53 44 03 y M (0821) 4 53 44 04
x [email protected]
..2
Besonderer Dank gebührt den deutschen Botschaften in Beirut und Damaskus, die über
6000 deutsche Staatsbürger evakuierten - über Zypern, Syrien und die Türkei unter
schwierigsten Bedingungen und mit wenigen Mitarbeitern, aber mit umso mehr Engagement.
In Adana und Mersin habe ich mich mit folgenden Gesprächspartnern getroffen, die über
unterschiedliche Aspekte der Hilfeleistung berichteten:
-
Gouverneure von Mersin und Adana
Bürgermeister von Mersin und Adana
Türkischer Roter Halbmond
Journalistenverein Mersin
Mrs. Dunn, australische Botschafterin
Syrien/Libanon
Ab 15.08.06 besuchte ich gemeinsam mit Josef Winkler, unserem migrationspolitischen
Sprecher in der Bundestagsfraktion, Syrien und Libanon. Auf dem Besuchsprogramm
standen zahlreiche Gespräche und Treffen, deren roter Faden die Erörtung der humanitären
Lage in diesen Ländern, Möglichkeiten der Hilfe aus Deutschland und einer verantwortlichen
deutschen Rolle im Nahostkonflikt waren.
In Syrien haben wir uns am 16.08. und am 18.08. mit Vertretern von DRK, UNICEF UNHCR,
Aga-Khan-Stiftung, Journalisten, Intellektuellen und mit Riad Seif (Träger des
Menschenrechtspreises der Stadt Weimar) treffen können.
Mit der tatkräftigen und engagierten Unterstützung der deutschen Botschaften in Damaskus
und Beirut ist es uns gelungen, am 17.08.06 über den Landweg von Damaskus nach Beirut
zu fahren. In Beirut haben wir die libanesische Sozialministerin Naila Moawed, den
libanesischen Premierminister Siniora, den Christenführer Michel Aoun, Vertreter von
UNIFIL, Greenpeace, Goethe-Institut, Intellektuelle, Journalisten und Raymond Tarabay (aus
Berlin Charlottenburg) treffen können.
Lage in Syrien/ Libanon
1. Etwa 950.000 Menschen waren auf der Flucht, über 250.000 davon wurden in Syrien
aufgenommen. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand machte sich eine
Rückkehrerkarawane auf den Weg, trotz israelischer Warnungen. An den
Grenzübertrittsstellen, die wir besuchten, wurden die Menschen, die mit Bussen und
Autos und zum Teil zu Fuß unterwegs waren, notdürftig vom Roten Kreuz, von
UNICEF und UNHCR, der Aga-Khan-Stiftung u.a. mit Lebensmitteln, Wasser,
Decken, Matratzen versorgt und über nicht explodierte gefährliche Munition
(Streubomben) informiert. Das Ausmaß der Zerstörung ist groß und im ganzen Land
sichtbar. Brücken und Straßen wurden bombardiert, ebenso wie Elektrizitätswerke
und -versorgungssysteme, Sendemasten und Fabriken. Auch
Lebensmittelproduktionsbetriebe wie Zuckerfabriken, Molkereien etc. sind betroffen.
Im Süden des Landes und in Teilen Beiruts ist die Zerstörung flächendeckend.
Militärische oder zivile Ziele sind unterschiedslos davon betroffen. Hunderttausende
haben kein Dach mehr über dem Kopf. Es fehlt an Lebensmitteln und Trinkwasser,
wodurch die Gefahr ansteckender Krankheiten steigt. Aufgrund des Mangels an
Strom und Treibstoff mussten Krankenhäuser schließen und da auch zahlreiche
Medikamente fehlen, ist die medizinische Versorgung der Verletzten und Kranken
nicht mehr gewährleistet.
..3
2. Die Gefährdung durch nicht-explodierte Munition ist erheblich. Mir wurde berichtet,
dass es in den ersten Tagen der Rückreisewelle zu schweren Verletzungen,
teilweise mit Todesfolge insbesondere bei Kindern, gekommen ist..
Militärexperten sprechen von etwa 10% nicht explodierter Munition, die im wahrsten
Sinne des Wortes einen Teppich aus Zeitbomben darstellt.
3. In den ersten Kriegstagen wurde ein Kraftwerk an der Küste bombardiert, wodurch
etwa 15.000 t Öl ins Meer flossen. Durch fehlendes Equipment und Know How, vor
allem aber durch die Seeblockade seitens Israels konnte nicht mit Aufräume- und
Reinigungsarbeiten begonnen werden - mit verheerenden Folgen für Mensch und
Natur. Der Ölteppich hat sich weit ausgebreitet, den Fischern ist de facto die
Existenzgrundlage entzogen, touristische Einrichtungen sind zerstört.
Stimmungslage in der Region
„Humiliation“ ist das in diesem Zusammenhang wohl am häufigsten benutzte Wort in der
gesamten Region. Man spricht vom „Krieg gegen Moslems“, vom „Krieg gegen Araber“.
Verzweiflung, Wut und Hass sind zu spüren und prägen die Stimmung. Die Haltung des
Weltsicherheitsrats wird als zögerlich und als nicht objektiv wahrgenommen. Umso mehr
muss jetzt der Schwerpunkt auf Hilfe und Unterstützung der Zivilbevölkerung liegen, beim
Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, aber auch beim Einsatz für eine Friedenslösung
im gesamten Nahen Osten.
Deutschlands besonderes Verhältnis zu Israel, unsere historische Verantwortung, das
unmissverständliche Einstehen für das Existenzrecht des Staates Israel werden bei den
Gesprächspartnern nicht in Frage gestellt. Gleichwohl gibt es breite Erwartungen und
Vertrauen in die Glaubwürdigkeit einer Deutschen Außenpolitik, die sich für einen
palästinensischen Staat und für die Stärkung staatlicher Institutionen im Libanon einsetzt und
sich bemüht, auch Syrien in eine Friedenslösung zu integrieren. Die sehr kurzfristige Absage
der Reise von Frank Steinmeier nach Damaskus wurde bedauert und kritisiert. Auch die
zögerliche Haltung der Bundesregierung während des Krieges wurde in vielen Gesprächen
mit uns thematisiert.
Der offene Bürgerkrieg im Irak verschärft die Situation zusätzlich. Hier herrscht eine völlig
entgrenzte Gewalt, die in den vergangenen Wochen mehr Todesopfer forderte als der
gesamte Libanon-Krieg. Zahlreiche Beobachter sehen die akute Gefahr eines
Auseinanderbrechens des Landes, was unabsehbare Auswirkungen auf die politischen
Auseinandersetzungen im Iran, der Türkei und Syrien haben kann.
Das Ansehen der USA in der Region ist auf dem Nullpunkt angekommen und hinter der
militärischen Strategie Israels stehen viele Fragezeichen. Zahlreiche Gesprächspartner
gehen von einer Schwächung Israels aus, auch deshalb, weil es im aktuellen Konflikt seinen
Nimbus als „unbesiegbare Militärmacht“ verloren habe. Die Hisbollah dagegen ist gestärkt
als ein wichtiger Faktor im Libanon, der weit über die schiitischen Grenzen hinaus
wahrgenommen wird. Christliche wie sunnitische Kreise sprechen von der notwenigen
„Libanisierung“ der Hisbollah und einer Integration in die libanesische Armee. Wie lang dies
anhält, ist nicht abzusehen, aber bis jetzt hat der Krieg eher zum Entstehen einer
gemeinsamen libanesischen Identität beigetragen. Siniora forderte im Gespräch mit uns,
dieses multikulturelle, multireligiöse Modell des Nahen Ostens und für den Nahen Osten
nach allen Seiten zu unterstützen, in einer Zeit, in der sich Religionen scheinbar
unversöhnlich gegenüberstehen.
Alle Gesprächsteilnehmer bestärken uns in unserer Überzeugung, dass die deutsche Rolle
nicht auf die militärische Beteiligung reduziert werden darf. Folgende Punkte sind die
dringlichsten:
..4
1.) Als erster Schritte muss humanitäre Soforthilfe geleistet werden, die Versorgung mit
Medikamenten und Lebensmitteln und die Bereitstellung von
Trinkwasseraufbereitungsanlagen. Unmittelbar danach ist die humanitäre Wiederaufbauhilfe
von großer Bedeutung: die Instandsetzung von Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäusern
und der Elektrizitätsversorgung.
2.) Ein weiterer dringlicher Aspekt der humanitären Hilfe ist die Kampfmittelräumung. Die
Entschärfung nicht explodierter Munition gehört zu den dringlichsten Aufgaben.
3.) Der Libanon braucht eine koordinierte internationale Hilfe bei der Bekämpfung der
Ölkatastrophe. Durch die Seeblockade konnte aus Sicherheitsgründen 6 Wochen lang nicht
eingegriffen werden. Das Öl hat sich von der libanesischen Küste hin zur syrischen,
türkischen, zypriotischen Küste und den griechischen Inseln ausgebreitet. Große
Wassermassen sind vergiftet und Küsteabschnitte völlig verschmutzt. Dies entzieht den
libanesischen Fischern die Existenzgrundlage und hat schwerwiegende Auswirkungen auf
den Tourismus. Die Region benötigt Expertenwissen und technische Unterstützung.
4.) Dem Libanon muss unter anderem bei der Polizeiausbildung, beim Aufbau von
Zolleinrichtungen und bei der Kontrolle und Sicherung der Grenzen geholfen werden, ohne
dass dabei exekutive Befugnisse übernommen werden.
5.) Nötig ist auch eine diplomatisch-politische Offensive für den Nahen Osten, die eine klare
Perspektive im Israel-Palästina-Konflikt aufzeigt und dem Libanon bei der Lösung von
sozialen Problemen und bei der Organisation von funktionierenden staatlichen Strukturen
unter die Arme greift und auch Syrien in eine Friedenslösung ernsthaft und glaubwürdig mit
einbezieht.
6.) Über eine Entsendung von Friedenstruppen kann erst entschieden werden, wenn ein
klares Mandat der UNO vorliegt, das die „Rules of Engagement“ deutlich benennt und keinen
Raum für willkürliche Interpretationen lässt. Ein „robustes Mandat“ macht wohl Sinn und wird
von allen Beteiligten befürwortet. Wichtig ist, dass die Neutralität der Beteiligten
gewährleistet wird. Strikt ausgeschlossen werden muss die Möglichkeit einer Konfrontation
deutscher mit israelischen Soldaten. Die Bundesregierung hat eine klare und stringente
Antwort auf diese Frage bisher missen lassen. Die Kakophonie innerhalb der
Bundesregierung und in der großen Koalition schaden Deutschlands Rolle und Aufgaben in
der UNO und der Suche nach einer Friedenslösung.