Frankreichs Juden

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Frankreichs Juden
Wolf Scheller
Frankreichs Juden
H
einrich Heine hat die Stadt Paris, die er am 20. Mai 1831 betrat, bis zu seinem Tode am
17. Februar 1856 – sieht man einmal von ein paar kurzen Reisen ab – nicht mehr verlassen.
Der Flüchtling Heine hatte nicht die Hoffnung, dass sich die politischen Verhältnisse in
Deutschland zu seinen Lebzeiten ändern würden. Seine Existenz in Paris wäre ohne Heines
lebenslange Begeisterung für die Seine-Metropole nicht denkbar gewesen. Die Stadt wurde
in seiner Erfindung zum kulturellen Phänomen, zum utopischen Projekt. So wurde Heine
zum intellektuellen Erfinder dessen, was Paris im 19. und 20. Jahrhundert vor den anderen
großen Städten in Europa auszeichnete: Paris als Phantasma, als Beispiel für Schutz und Zuflucht, die es Generationen von Emigranten aus aller Welt bot. Frankreichs Juden hatten sich
hier schon im 13. Jahrhundert niedergelassen, im Marais, dem Pariser »Judenviertel«. Ihr
Dasein war aber schon damals bedroht. Ihr relativer Wohlstand wurde zwar weitgehend
durch die Wucherer abgesichert, die wiederum unter dem stillschweigenden Patronat der
Könige standen. Diese betrachteten die jüdische Gemeinschaft aber als eine Art Milchkuh.
Wenn der Staatskasse wieder einmal der Bankrott drohte, nahm man den Juden einfach ihren
Besitz weg und verwies sie des Landes, um sie dann später irgendwann zurückzurufen. Solche Wechselspiele wiederholten sich im Laufe der Geschichte, begünstigten aber auch das
Aufkommen eines wachsenden Antijudaismus mit Autodafés und Pogromen. Ende des 15.
Jahrhunderts folgte dann die letzte, fast vier Jahrhunderte andauernde Verbannung. In Paris
entstand eine neue jüdische Gemeinschaft erst wieder nach dem Emanzipationsdekret von
1791.
Die Entscheidung in der verfassungsgebenden Nationalversammlung fiel am 27. September jenes Jahres schnell und nach langen früheren Debatten ohne weitere Diskussion. Da
es in der geeinten Nation keine besonderen Korporationen mehr geben sollte und sogar Ausländer die Möglichkeit erhielten, französische Bürger zu werden, bestand kein Grund mehr,
den Juden vorzuenthalten, was ihnen schon seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zugebilligt worden war. Bereits im Dezember 1789 hatte es eine mehrtägige Debatte
darüber gegeben, problematischen Minderheiten die vollen politischen Rechte zu gewähren.
Dazu zählte man neben den Juden Protestanten, Schauspieler und Henker. Die Judenfrage
war damals nicht gelöst worden, weil sich die elsässischen Deputierten querlegten. Im Elsass wohnten etwa 25.000 der insgesamt 40.000 französischen Juden. Sie waren besonders
bei den Bauern verhasst. Doch nun befreite die Revolution erstmals in einem Land Europas
die Juden mit einem Schlag von jahrhundertealter Unterdrückung und Angst, machte sie zu
gleichwertigen Staatsbürgern einer Demokratie. Mit der alten Ordnung, den Ghettos, den
Leibzöllen, den Sondersteuern, Schikanen bei Reisen, Berufswahl und Niederlassung, mit
all der alltäglichen Diskriminierung durch Ämter und Behörden war es jetzt vorbei.
Allerdings waren die Juden auf ihre volle demokratische Emanzipation überhaupt nicht
vorbereitet. 1789 lebten in Paris selbst nur einige jüdische Familien. Königliche Edikte von
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1394 und 1615 hatten die Ansiedlung von Juden auf französischem Territorium untersagt.
Eine Ausnahme bildeten Avignon und das Comtat Venaissin. Dort hatten die Päpste die Anwesenheit der Juden gestattet. Die Entmachtung Ludwigs XVI. kam für die jüdischen Repräsentanten in der konstituierenden Nationalversammlung überraschend, aber sie reagierten schnell und erreichten nachträglich zunächst die Emanzipation der Juden von Bordeaux
und anschließend die aller Juden auf französischem Boden. Allerdings galt das berühmte
Wort des Abgeordneten Stanislas de Clermont-Tonnerre, den Juden müsse man »als Nation
. . . alles verweigern, den Juden als Individuen hingegen alles gewähren«. Das war der Preis,
den Frankreichs Juden zu zahlen hatten: der Verzicht auf einen Status als Gemeinde und Nation. Das wurde dann Jahre später von Napoleon noch einmal ausdrücklich bekräftigt.
Paris wurde jetzt zum Mekka von Juden aus ganz Europa. Die meisten von ihnen optierten für die Sache der Revolution. Und als im Sommer 1792 Reichstruppen in Frankreich einfielen, kämpften die Juden in den eilig aufgestellten Freiwilligenheeren für »la patrie francaise«. Erstmals traten die Juden ins politische Leben der Moderne ein und beteiligten sich
an der Entwicklung historischer Prozesse, von denen sie jahrhundertelang ausgeschlossen
waren. Doch der Terror der religionsfeindlichen Jakobiner machte auch nicht vor den Synagogen halt. Zahlreiche Rabbiner wurden in Paris und anderen französischen Städten durch
die Guillotine hingerichtet. Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft gerieten wegen
ihrer Verbindungen zum Ausland oder zu emigrierten Vertretern des Ancien Régime in arge
Bedrängnis und hatten ihre liebe Not, den fanatischen Anhängern des »unbestechlichen«
Robespierre ihre Unschuld zu beweisen. Trotzdem – unterm Strich muss man sagen: die
französische Nation hatte die Emanzipation der Juden von unten revolutionär und demokratisch durchgesetzt. Am französischen Antisemitismus, der sich auf die starke Judenfeindlichkeit der französischen Aufklärung berufen konnte, änderte das nichts.
Dieser Antisemitismus sah in den Juden ein »unglückselig in die Neuzeit verschlepptes
Stück Mittelalter« (Hannah Arendt) und hasste sie als finanzielle Agenten der Aristokratie
und der Reaktion. In dem Miteinander von Juden und Nichtjuden tauchte immer das »Gespenst des Antisemitismus« auf, wie der Pariser Zeithistoriker Michel Winock schreibt.
Selbst der Weg in die Assimilation brachte längst nicht immer die gewünschte »Normalisierung«. Antisemiten witterten in der Anpassung der Juden eine List, die Gesellschaft zu unterwandern. So nährte beispielsweise der Schriftsteller Edouard Drumont mit seinem Bestseller »La France juive« von 1886 den Mythos von der heimlichen Invasion der Juden. Den
vorläufigen Höhepunkt erreichte dieser auch klerikal grundierte Antisemitismus in der
Dreyfus-Affäre. Die Pariser Juden waren zur Zeit der Dritten Republik glühende Patrioten.
Die Dreyfus-Affäre hätten sie am liebsten im Namen der nationalen Einheit erstickt. Sie
wussten, dass damit die alten Klischees belebt werden würden. Der Hass, der den Juden in
Frankreich damals entgegenschlug, bildete den Nährboden für die spätere Katastrophe.
Doch auch dieser Judenhass chauvinistischer Prägung war in Frankreich niemals ein Monopol der Reaktion, sondern ging quer durch alle Lager. Der Freispruch und die Rehabilitierung des Hauptmanns Alfred Dreyfus wurden zwar vor allem von der konservativen Presse
als »Triumph des Judentums« dargestellt. Tatsächlich kulminierte in der Affäre um den
wegen Spionage angeklagten Hauptmann Dreyfus zwischen 1894 und 1906 aber ein äußerst
aggressiver, allgemeiner Antisemitismus. Nicht nur das antisemitische Blatt »La Libre Parole« bewertete den Ausgang dieser »jüdischen Affäre« als »Triumph der Juden«. Rassismus
und Antisemitismus waren in Frankreich nie auf reaktionäre Kräfte beschränkt: Von Fouriers
Beschreibung des Juden »Ischariot« im Jahr 1808 bis zu Giraudoux’ Darstellung der »hunderttausend Aschkenasim« aus dem Jahr 1939 verläuft eine einheitliche Linie, deren Spuren
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überall zu finden sind. Neuere Untersuchungen bezeugen, dass sich die Franzosen ein gutes
Gewissen in dieser Frage kaum leisten können. An diese Wahrheit hat auf schmerzhafte,
auch polemische Weise Bernard-Henri Lévy mit seinem Buch »Idéologie francaise« erinnert. Lévy – einer der Mitbegründer der »Neuen Philosophen« – behauptet, dass es in Frankreich einen spezifisch originären Faschismus gab – und gibt. Er weist nach, dass dieser Faschismus aus der französischen Geistesgeschichte hergeleitet werden muss und auch die
Linke – etwa in den 1930er Jahren – von Faschismus-Affinitäten keineswegs frei gewesen
ist. Beispiele hierfür bieten die Bücher so bedeutender Autoren wie Drieu La Rochelle und
seines rabiaten Kollegen Louis-Ferdinand Céline, der 1939 das Publikum mit antisemitischen Pamphleten schockierte und zur Ermordung der Juden aufrief. Von dem Antisemitismus der Dreyfus-Affäre, dem berühmten »J’accuse« von Emile Zola, führt ein direkter Weg
nach Vichy und zum Kollaborationsregime des Marschall Philippe Pétain. Zwischen den
beiden Weltkriegen war es vor allem die Ende des 19. Jahrhunderts von dem Philosophen
Henry Vaugeois und dem Literaturkritiker Maurice Pujo gegründete »Action francaise«,
deren elitärer Blut- und Boden-Fanatismus mit ihrem stets virulenten antijüdischen Affront
auch die geistige Ziehvaterschaft für die heutige »Nouvelle droite« für sich in Anspruch nehmen kann. Später wurde dann sogar der Pazifismus in den Dienst des Antisemitismus genommen. Der drohende Zweite Weltkrieg wurde kurzerhand zur »guerre juive« erklärt, weil
nur die Juden Interesse an einem Krieg gegen Nazi-Deutschland haben könnten.
In Paris leben heute wieder rund vierhunderttausend Juden, die meisten im Marais, jenem
Viertel zwischen Beaubourg und Bastille, das sich abseits von den großen Boulevards und
Parks sein Eigenleben bewahrt hat. Es ist in den letzten hundert Jahren als »quartier juif«
zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens in der französischen Hauptstadt geworden. Ein Ghetto war das Viertel nie. Im 13. Jahrhundert hatten sich hier Juden aus Spanien, dem Elsass
und dem französischen Midi niedergelassen. 1881 setzten dann die großen jüdischen Einwanderungswellen aus dem russischen Reich ein. Tausende von Juden retteten sich vor Pogromen durch die Emigration nach Frankreich, und die Franzosen hießen sie während der
Industrialisierung des Landes auch als Arbeitskräfte willkommen. Im Marais entstand der so
genannte »kleine Platz«, «le Pletzl«, eine jüdische Gemeinde, die damals wie heute ihre pittoreske Vielfalt präsentiert. In der Rue des Rosiers sieht man schwarz gekleidete Bartträger
mit breitkrempigen Hüten und Schläfenlocken ebenso flanieren wie junge Leute in Jeans
und T-Shirts, die mit ihren Motorrollern zur Arbeit fahren – oder gelackte Büroangestellte
mit Aktenkoffer. An Cafés und Restaurants wird darauf hingewiesen, dass die Lebensmittel
garantiert »cacher« (koscher) zubereitet werden. Die Luft ist voll von den verschiedensten
Gerüchen: Falafel, Apfelstrudel und Mohnkuchen, Borscht, Moussaka, Bagel, Salzhering
und Delikatessen aus der jüdisch-osteuropäischen Küche. Osteuropa und Nordafrika begegnen sich in dieser jüdischen Enklave, die sich fernab von Modernisierungswut und Abrissfuror der Pariser Stadtväter mit Erfolg gegen urbane Kahlschläge zur Wehr setzt. Jüdisch und
pariserisch zugleich, feudale Fassaden, dann wieder an etlichen Stellen ärmlich und schlicht
– das Marais zeigt sich einerseits weltstädtisch-mondän, andererseits bewahrt es sich die
Substanz traditionellen jüdischen Lebens. Von den großen architektonischen Experimenten
ist das Viertel verschont geblieben. Nach wie vor stehen hier prächtige Adelspaläste aus dem
späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, etliche von ihnen bereits restauriert.
Zwischen 1880 und 1939 lassen sich rund 110.000 Aschkenasim in Frankreich nieder,
viele von ihnen im Marais. Sie kommen aus Polen, Rumänien, Russland und ÖsterreichUngarn. Dazu Sephardim aus der Türkei, aus Marokko, Tunesien und Algerien. Viele dieser
Immigranten sind völlig mittellos. Oft hausen ganze Familien in nur einem Zimmer. Aber
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man kennt sich untereinander, Liberale und Orthodoxe, Arme und Wohlhabende. Sie versuchen sich zu assimilieren. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verfestigt sich bei vielen Franzosen die Vorstellung, dass das Verhalten der Juden nur durch unveränderliche Rassenmerkmale erklärbar sei. Paris wird aber auch zum Fluchtpunkt für die
jüdische Emigration aus Deutschland zwischen 1933 und 1939. Rund 20.000 deutsche
Juden versuchen, sich in Frankreich eine neue Existenz aufzubauen, gut die Hälfte davon in
Paris. Die meisten dieser Flüchtlinge kommen aus Berlin. Ihre Entscheidung für die Weltstadt Paris ist oft eher gefühlsmäßig als rational zu erklären. Insgesamt stammten vier Fünftel dieser Flüchtlinge aus den großen deutschen Städten. Sie hatten überwiegend im Handel
gearbeitet, andere in freien Berufen. Mit offenen Armen wurden sie von den Franzosen aber
nicht empfangen. Auch Frankreich litt unter der Weltwirtschaftskrise und einer erheblichen
Arbeitslosigkeit. Außerdem gab es in der Bevölkerung eine tief sitzende Fremdenfeindlichkeit. Für die jüdischen Emigranten war der Neubeginn also keineswegs einfach. Auch gelang es nur wenigen von ihnen, aus ihrer Ghettosituation heraus zu kommen, weil die meisten die französische Sprache nur mäßig beherrschten. Man blieb unter sich, gründete
Vereine. An erster Stelle die »Association des emigrés israelites d’Allemagne en France«,
eine Art deutsche Synagogengemeinde. Sie kümmerte sich in den folgenden Jahren vor
allem um die materielle Not der vielen jüdischen Flüchtlinge. Aber diese Flüchtlinge litten
nicht nur unter dem Verlust ihrer beruflichen und sozialen Stellung. Sie trugen auch schwer
an dem Verlust der nationalen Identität. Das führte dazu, dass viele versuchten, sich über
eine stärkere Betonung des Judentums neu zu definieren. Als der Krieg immer näher rückte, die ablehnende Haltung der Franzosen sich zunehmend verstärkte, gingen viele Flüchtlinge nach Amerika. Diejenigen, die zurückblieben und auf einen Sieg Frankreichs hofften,
wurden als feindliche Ausländer interniert, nach einiger Zeit aber wieder freigelassen.
Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten etwa 300.000 Juden in Frankreich. 76.000 von
ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert, die meisten ermordet. Aber praktisch allen
wurden Teile ihres Besitzes geraubt. Der Wert des enteigneten jüdischen Eigentums in
Frankreich wird auf etwa 1,3 Milliarden Euro geschätzt. Die Juden im Marais wurden von
1941 an immer wieder von der Gestapo heimgesucht und durch Deportationen dezimiert. Im
März 1942 verlässt der erste von insgesamt 73 Zügen Frankreich in Richtung Auschwitz, der
letzte Konvoi in das Vernichtungslager geht acht Tage vor der Befreiung der Hauptstadt ab.
Am deutlichsten blieb den französischen Juden die Erinnerung an den so genannten
»schwarzen Donnerstag« im Gedächtnis. An diesem 16. Juli 1942 setzte eine ungeheuerliche Massentreibjagd auf die jüdische Bevölkerung von Paris ein. Die mit den Deutschen kollaborierende Vichy-Regierung unter Marschall Pétain ließ auf Anweisung Eichmanns durch
ihre Polizei 13.000 Juden verhaften – Männer, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, Gebrechliche. Man pferchte die Menschen in bereitstehende Wagen und transportierte sie zur Winterrennbahn. Hier mussten sie auf engstem Raum bis zum Abtransport nach Auschwitz ausharren. Ursprünglich hatte man 28.000 Juden festnehmen wollen – bei dieser Aktion
»Frühlingswind«. Die Pariser Bevölkerung war durch die Propaganda schon Wochen zuvor
mental auf das Vorgehen gegen die Juden vorbereitet worden. Der Schriftsteller Lucien Rebatet etwa schrieb im »Petit Parisien«: »Alle Kenner der Materie sind sich in der Ansicht
einig, dass man die Juden nicht wirklich kennt, wenn man sie nicht in ihrem eigenen Lebensbereich, in den riesigen osteuropäischen Ghettos rund um die Karpaten, in Ungarn, vor
allem aber in Rumänien und Russland gesehen hat . . . 80 Prozent aller Juden stammen, in
zweiter oder höchstens dritter Generation, aus diesem europäischen Judäa, wo man seit Jahrhunderten den Christenhass züchtet und in den rabbinischen Schulen und aus dem Talmud
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lehrt, wie man unsere Rasse betrügt und ausplündert und die jüdische Weltherrschaft vorbereitet. Den Juden, denen wir bei uns jeden Tag begegnen, ist es gelungen, sich mit einem
dünnen Firnis französischer Lebensart zu umgeben. Aber unter dem abendländischen Anstrich dieser Fremdlinge, die ihre Tracht und ihre Bärte abgelegt haben, müssen wir den ewigen Juden erkennen, den Eindringling, der sich weder assimilieren kann noch will.« Und im
»Cri du Peuple« vom 3. Juli war unter dem Titel »Im Licht des Gelben Sternes« zu lesen:
»Um sich ein Bild von der jüdischen Gefahr zu machen, genügt es, an einem Sonntag eine
Viertelstunde zwischen der Madeleine und der früheren Place de la République zu spazieren. Man sieht da Judensterne in solcher Menge, dass auch der hartgesottenste Gaullist zum
Schluss kommen muss: Es sind ihrer entschieden zu viele! Am letzten Sonntag hat jemand
auf der Strecke zwischen der Porte Saint-Denis und der Rue Montmartre in weniger als zehn
Minuten auf einer Straßenseite 268 gelbe Sterne gezählt.« Dieselbe Zeitung schrieb am
4. Juli 1942 unter dem Titel »Juden an die Arbeit!«: »Judenbanden, bestehend aus jungen
Leuten zwischen 18 und 20 Jahren beiderlei Geschlechts, treiben sich jeden Morgen stundenlang in den Alleen des Bois de Boulogne herum. Eine feine Gesellschaft, die nichts Besseres zu tun weiß, als sich die neuesten Prophezeiungen des englischen Radios weiterzugeben und die Gefangenenpolitik unserer Regierung in den Schmutz zu ziehen. Andere
Gruppen ziehen es vor, auf dem See oder der Marne Boot zu fahren, und die Schwimmbäder der Stadt sind überfüllt mit arroganten Juden, die sich im Wasser aus vollem Hals zu
schreien: – Mein Lieber, du bist viel eleganter, wenn du den Stern trägst. Im Badeanzug
wirkst du geradezu gewöhnlich! Soll diese Faulenzerbande noch lange geduldet werden? Es
gibt genug Arbeit für sie. An die Arbeit, Juden!«
Sechs Tage nach dem »Schwarzen Donnerstag« tagten in Paris die französischen Kardinäle und Erzbischöfe. Sie verabschiedeten eine Resolution an Marschall Pétain, in der es
heißt: »Wir können die Stimme unseres Gewissens nicht länger unterdrücken. Wir bitten Sie,
sehr verehrter Herr Marschall, unser Gesuch mit Wohlwollen zu prüfen, damit den Forderungen der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe Nachachtung verschafft werde.« Der Erzbischof von Toulouse, Monseigneur Saliège, ließ einen Hirtenbrief verlesen, in dem die
Gläubigen aufgefordert wurden, nicht nur für die Kriegsgefangenen zu beten, sondern auch
für die Franzosen, die mit einem gelben Stern gebrandmarkt wurden. Der nach dem Krieg
hingerichtete Premierminister Pierre Laval beschwerte sich daraufhin beim deutschen Botschafter Otto Abetz und forderte den Nuntius des Vatikans auf, dem Papst deutlich zu machen, dass die französische Regierung eine »solche Einmischung der Kirche in die Angelegenheiten Frankreichs« nicht dulden werde. Wie hatte es im Sendschreiben des Erzbischofs
von Toulouse doch geheißen: »Auch die Juden und Jüdinnen sind Menschen. Auch Ausländer sind Menschen. Diese Männer und Frauen, Väter und Mütter sind kein Freiwild, sondern
unsere Brüder und Schwestern. Ein Christ weiß das und vergisst es nicht. Frankreich, geliebtes Vaterland, Frankreich, das du deinen Söhnen immer die Achtung vor der menschlichen Person gelehrt hast, ich kann nicht glauben, dass du die Schuld an diesen Gräueln
trägst.«
Von den 13.000 Opfern des »Schwarzen Donnerstags« überlebten etwa dreißig. Die Deutschen und ihre französischen Helfershelfer waren in der Folgezeit tagtäglich auf der Jagd
nach Juden. Allerdings konnte sich die Mehrheit der Pariser Juden in Sicherheit bringen.
Nach 1945 sorgen Flüchtlingswellen vor allem aus dem Maghreb für einen erneuten Zustrom von jüdischen Einwanderern, den das Marais aber allein nicht mehr auffangen kann.
Viele Emigranten lassen sich weiter nördlich im Stadtteil Belleville nieder. Das Marais erholt sich nach und nach. Die überlebenden Juden müssen lange Prozesse führen, um einen
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Teil ihres Besitzes zurückzuerhalten. Nach den israelisch-arabischen Kriegen kommen bis
1970 knapp 40.000 Sephardim nach Paris. Die meisten von ihnen sprechen nicht einmal Jiddisch. Es kommt zu Spannungen. Später einigt man sich darauf, dass die Sephardim die
große Synagoge in der Rue des Tournelles übernehmen.
Ende der 1960er Jahre setzt eine Art »Rejudaisierung« ein, die auf drei Säulen beruht: Religion, Solidarität mit Israel und Erinnerung an die Shoah. Allerdings – so schrieb unlängst
»Le Monde« – wachse unter den Franzosen jüdischer Religion, Kultur oder Abstammung
eine spürbare Unruhe, die besonders bei blutigen Zuspitzungen des Nahostkonfliktes zu beobachten sei – etwa während des israelischen Libanon-Feldzugs gegen die dort operierende
Hisbollah. Diese Unruhe, so »Le Monde« weiter, sei ein Symptom für die Unsicherheit jüdischer Existenz angesichts der Spannweite individueller Optionen zwischen prekärer
Selbstbehauptung und Assimilation. Da spielt auch das schwierige Verhältnis Frankreichs
zum Staat Israel eine wichtige Rolle. Als 2004 der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon die französischen Juden auffordert, nach Israel auszuwandern, kommt es zu einem diplomatischen Eklat zwischen beiden Ländern. Frankreich, so wird in Israel gesagt, verfolge
bewusst eine proarabische Politik, die mit einer an Verbohrtheit erinnernden Unterstützung
für die Palästinenser einhergehe. Dabei wird allerdings vergessen, dass es Frankreich war,
das in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Gründung Israels die Rolle der Schutzmacht
ausübte. Dabei kam es den Franzosen zu, Israel mit Waffen zu versorgen. 1957 kam es dann
allerdings zu einem Wendepunkt in den Beziehungen zwischen beiden Ländern. Damals
sprach Charles de Gaulle von den Israelis als einem »Elitevolk, selbstsicher und dominierend«. Er warnte vor einem Staat Israel, dessen Ehrgeiz »unbeirrt und erobernd« sein könnte. De Gaulles Worte entfachten bei den Israelis einen Sturm der Entrüstung und bei vielen
französischen Juden ein Gefühl wachsender Unsicherheit. Seit der Jahrtausendwende steigt
die Zahl antisemitischer Anschläge in Frankreich auffallend an. Auch sie werden mit der
Entwicklung im Nahen Osten in Zusammenhang gebracht. Erklärt werden sie damit, dass
sich junge maghrebinische Einwanderer mit den von Israel unterdrückten Palästinensern
identifizierten und unter dem Banner des Antizionismus gegen Juden und jüdische Einrichtungen in Frankreich vorgingen. Frankreichs Juden, die in Wohnvierteln mit einer muslimisch geprägten Mehrheit leben, fühlen sich dann schnell an die Warnung Scharons vor
einem »wilden Antisemitismus« erinnert. Jüdische Intellektuelle in Frankreich betonen
heute die Notwendigkeit, die in Frankreich lebenden Juden positiv zu einer Definition des
Judentums, der jüdischen Kultur in der Diaspora zu bewegen. Und sie fragen, was von der
jüdischen Identität in hundert Jahren noch übrig sein wird. Jüdisch-französische Identität
lässt sich aber am ehesten in Paris entdecken, jene –mit den Worten Heines – »schönste Zauberstadt, die dem Jüngling so holdselig lächelt, den Mann so gewaltig begeistert und den
Greis so sanft tröstet«.