Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN

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AUFSÄTZE
Strafrecht
Die Finanzmärkte zwischen Wirtschaftsstrafrecht
und politischem Strafrecht
Von Privatdozent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg/Köln
53
The Penal Policy of Human Rights
By Prof. Dr. Augusto Jobim do Amaral, Porto Alegre (PUCRS)
61
Ausländisches Strafrecht
Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen
Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85 und in der Strafprozessordnung
Italiens
Von Dr. Paola Maggio, Palermo
70
BUCHREZENSIONEN
Strafrecht
Jeff McMahan, Kann Töten gerecht sein?, Krieg und Ethik,
2010
(Prof. Dr. Michael Pawlik, LL.M., Regensburg)
78
Manfred Heinrich/Christan Jäger u.a. (Hrsg.), Strafrecht
als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum
80. Geburtstag am 15. Mai 2011, 2011
(Prof. Dr. Hans-Ullrich Paeffgen, Bonn)
80
Hans-Ullrich Paeffgen u.a. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft
als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe
zum 70. Geburtstag, 2011
(Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht
Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund/Bielefeld)
95
Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht*
Von Privatdozent Dr. Michael Kubiciel, Regensburg/Köln**
Das Wirtschaftsstrafrecht stößt bei der Aufarbeitung der Finanzkrise an seine Grenzen. Die praktischen Hürden des geltenden Rechts versuchen Rechtspraxis und -politik durch die
Etablierung einer Sonderdogmatik zu unterlaufen. Diese Versuche verlassen jedoch den systematischen Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts. Sie laufen vielmehr auf eine Konzeption
zu, die Wolfgang Naucke als politisches Wirtschaftsstrafrecht
bezeichnet. Das Problemlösungspotenzial des politischen Wirtschaftsstrafrechts erweist sich freilich als begrenzt. Es führt
daher kein Weg an einer kleinteiligen Lösung vorbei, die
auch der Regierungsentwurf vom 6. Februar 2013 vorsieht:
der Präzisierung und strafrechtliche Flankierung bankrechtlicher Vorschriften.
The commercial criminal law is stretched to its limits when it
comes to the accounting of the past financial crisis. Law enforcement bodies and political initiatives are trying to break
down the barriers of existing rules by implementing an extraordinary legal doctrine. These attempts exceed the systematic
framework of commercial criminal law and fall within the
concept of a political-commercial criminal law, which has
been developed by Wolfgang Naucke. However, the practicability of this concept is limited. The German government has
thus opted for a preferable option: specifying the rules of
banking law and flanking them with criminal sanctions.
I. Strafrechtliche Rekonstruktion der Finanzmarktkrise
Joseph Stiglitz, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Professor für Wirtschaftswissenschaft, Berater amerikanischer
Präsidenten und frühere Chefvolkswirt der Weltbank, begründet die Notwendigkeit zur Aufarbeitung der Weltfinanzkrise
ebenso klar wie einleuchtend: „Wenn wir die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Krise wiederholt, verringern wollen und
wenn wir die offenkundigen Fehlfunktionen der heutigen Finanzmärkte korrigieren wollen, müssen wir wissen, wer oder
zumindest was verantwortlich für die Krise war.“1 Die Frage
nach der Verantwortung für die Finanzkrise dient danach einem rationalen Zweck: der Verhinderung künftiger Krisen.
Ist von Prävention durch Retrospektion die Rede, hat,
sollte man meinen, auch die Stunde des Strafrechts geschlagen.
Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Vor Gericht ist bislang
nur ein einziger, eher randständiger Fall verhandelt worden.2
* Zugleich eine Besprechung von Naucke, Der Begriff der
politischen Wirtschaftsstraftat – Eine Annäherung, 2012.
** Der Autor lehrt Deutsches und Europäisches Strafrecht,
Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Strafrechtsvergleichung an der Universität Regensburg und vertritt gegenwärtig
einen Lehrstuhl an der Universität zu Köln.
1
Stiglitz, Im freien Fall, 2010, S. 33.
2
Zur Verurteilung des ehemaligen Vorstandssprechers der
IKB, s. Schröder, Legal Tribune Online v. 14.7.2010, im
Internet unter www.lto.de/recht/hintergruende/h/finanzmarktder-ikb-prozess-fuehrt-nicht-zum-kern-der-krise (22.1.2013).
Intensiver hat sich hingegen die Strafrechtswissenschaft mit
der Finanzmarktkrise beschäftigt.3 Dabei stehen sich zwei
Deutungsmodelle gegenüber. Während manche in der Finanzmarktkrise ein systemisches Versagen des Finanzmarktes sehen, dessen Komplexität eine individuelle Zurechnung von
Verantwortlichkeiten verhindere,4 glauben andere, auch in
komplexen ökonomischen Zusammenhängen mit Hilfe des
Wirtschaftsstrafrechts individuell zurechenbares Unrecht sichtbar machen und damit künftige Krisen verhindern zu können.5
Wolfgang Naucke stellt diesen Rekonstruktionsmodellen
eine neue Deutung an die Seite, indem er die Gefahren einer
Finanzkrise für das Gemeinwesen betont.6 Naucke zufolge
enthält das wirtschaftliche Versagen der Bankverantwortlichen
eine besondere Form des Unrechts, weil es geeignet sei, die
persönliche Freiheit und freiheitsschützende rechtliche Institutionen zu zerstören.7 Diese Form des Unrechts bezeichnet er
als „politische Wirtschaftsstraftat“.8 Der Gefahr einer Über-
Über laufende Ermittlungsverfahren informiert Jahn, JZ 2011,
340 (343 f.).
3
Nicht zuletzt auf der Strafrechtslehrertagung 2011 in Leipzig. Dass die Finanzkrise in der Strafrechtswissenschaft nicht
vorkomme, wie Strate, HRRS 2012, 715 (717 f.), meint, trifft
daher nicht zu.
4
Jahn, JZ 2011, 340 (345); Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/
Volk (Hrsg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftssystem und die
Moral, 2010, S. 211. S.a. Rönnau, in: Schünemann (Hrsg.),
Die sogenannte Finanzkrise, Systemversagen oder global
organisierte Kriminalität?, 2010, S. 43 (S. 62): Das Strafrecht
stoße bei derartigem Systemversagen an seine Grenzen. –
Zusammenfassende Darstellung der aus der Komplexität
wirtschaftsstrafrechtlicher Sachverhalte resultierenden Ermittlungs- und Beurteilungsprobleme bei Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts,
2012, S. 11 ff.
5
Schünemann, in: Schünemann (Fn. 4), S. 71 (S. 80 f.). In
der Sache ebenso Krey, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht
als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum
80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 2, 2011, S. 1073;
Schröder, NJW 2010, 1169; Strate, HRRS 2012, 715. Dies
geht einher mit Forderungen nach Versiegelung von Strafbarkeitslücken, s. Kasiske, ZRP 2011, 137; Schünemann,
a.a.O., S. 99 ff. Anders hingegen Wohlers, ZStW 123 (2011),
791 (814 f.), der meint, das Strafrecht sei ein ungeeignetes
Instrument zur Verhinderung künftiger Krisen, könne aber
zur Aufarbeitung der zurückliegenden Krise beitragen.
6
S. dazu bereits Sophokles, übersetzt von W. Kuchenmüller,
4. Aufl. 1955, Vers 295 ff.: „Kein ärgrer Brauch erwuchs den
Menschen als das Geld! Es äschert ganze Städte ein [...].“
7
Vgl. Naucke, Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat,
2012, S. 4 f.
8
Der Begriff „politisch“ steht hier offenkundig für das Öffentliche, das alle Bürger Betreffende, ist also eine Sammelbezeichnung „für sämtliche auf staatliche Ordnung und auf
gesellschaftliche Organisationen bezogenen Formen der Pra-
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Michael Kubiciel
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wältigung der Freiheit durch wirtschaftliches Handeln will er
mit einem politischen Wirtschaftsstrafrecht begegnen, das,
folgt man Naucke, in letzter Konsequenz auf der Ebene des
Völkerstrafrechts zu lozieren ist.9 Der Frankfurter Rechtsphilosoph und Strafrechtslehrer kombiniert damit die bisher diskutierten Deutungsmuster auf innovative Weise: Naucke geht
mit dem wirtschaftsstrafrechtlichen Ansatz davon aus, dass
hinter der Finanzmarktkrise individuelles Unrecht steht; er
betont aber zugleich dessen systemische Voraussetzungen
und vor allem die schädlichen Folgen für die – Freiheit gewährleistende – Wirtschaftsordnung.
Die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes wird im Folgenden
analysiert. Dazu werden zunächst die dogmatischen Grenzen
aufgezeigt, an die der Anwender des geltenden Wirtschaftsstrafrechts bei der Aufarbeitung der Finanzmarktkrise stößt
(II.). Deren Überwindung dient eine Sonderdogmatik, die
Rechtspraxis und Rechtspolitik gegenwärtig in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu etablieren versuchen (III.). Diese
Ansätze unterlaufen aber nicht nur die Hürden der einschlägigen wirtschaftsstrafrechtlichen Tatbestände. Sie verlassen
auch den konzeptionellen Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts.
Naucke bringt dies mit der Bezeichnung „politisches Wirtschaftsstrafrecht“ auf den Begriff (IV.). Das praktische Potenzial dieser Konzeption ist jedoch begrenzt (V.). Kriminalpolitisch vorzugswürdig ist daher die strafrechtliche Flankierung
(präzisierter) kreditwirtschaftlicher Vorschriften, wie sie der
am 6. Februar 2013 vorgelegte Regierungsentwurf eines
„Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und zur Planung der
Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten“ vorsieht
(VI.).
II. Die dogmatischen Grenzen des Wirtschaftstrafrechts
1. Anknüpfungspunkt der wirtschaftsstrafrechtlichen Zurechnung
Im Mittelpunkt der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzmarktkrise steht der Vorwurf, Banken seien unüberschaubare
Risiken eingegangen, die weder abgesichert noch in den Bilanzen ausgewiesen waren.10 Geknüpft wird dieser Vorwurf
an die Bündelung und Verbriefung von Immobilienkreditforderungen, die nach einer Vermischung mit anderen Werten
(etwa: Währungsderivaten) über eigens gegründete Zweckgesellschaften an andere Banken bzw. deren Zweckgesellschaften veräußert wurden. Diese verkauften die Wertpapiere –
häufig nach erneuter Bündelung und Verbriefung – an andere
xis“, so Regenbogen/Meyer, Wörterbuch der philosophischen
Begriffe, 2005, S. 507 Stichwort „Politik“.
9
S. Naucke (Fn. 7), S. 9. Vgl. auch Schünemann, ZStW 123
(2011), 767 (770); ders. (Fn. 5), S. 102, der von einem „Humanitätsverbrechen“ spricht.
10
Vgl. dazu und zum Folgenden Bittmann, NStZ 2011, 361
(362 ff.); Brüning/Samson, ZIP 2009, 1089 (1090); Jahn, JZ
2011, 340 (344 f.); Otto, in: Amelung/Günther/Kühne (Hrsg.),
Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag am 9.7.2010,
2010, S. 375 (S. 379 ff.); Schröder, Handbuch des Kapitalmarktstrafrechts, 2. Aufl. 2010, Rn. 1080 ff.; ders., NJW 2010,
1169; Strate, HRRS 2012, 715.
Investoren weiter. Zur Finanzierung dieser Transaktionen
wandelten die Zweckgesellschaften langfristig verbriefte Forderungen in kurzfristig laufende Schuldverschreibungen um.
Damit erhöhten sie ihr Risiko. Denn wer lang laufende Forderungen mit kurzfristig zur Verfügung gestellter Liquidität refinanziert, kann sich nur durch den ständigen Zufluss von frischem Geld solvent halten. Dieses Risiko vermochten die
Zweckgesellschaften nicht abzusichern. Damit sie weiterhin
auf dem Markt Handel treiben konnten, stellten die hinter
ihnen stehenden Banken Liquiditätslinien zur Verfügung, d.h.
sie gaben Garantieerklärungen für die Verpflichtungen der
Zweckgesellschaften ab. Entsprechende Rückstellungen bildeten die Banken jedoch nicht.
2. Grenzen des Wirtschaftsstrafrechts
Als die Dominosteine zu fallen begannen und die Banken
mitzureißen drohten, verwirklichte sich nicht nur ein systemisches Risiko.11 Es verwirklichte sich auch das Risiko einer
unternehmerischen Entscheidung: der Garantie unüberschaubarer Verbindlichkeiten der Zweckgesellschaften. Soweit diese
Garantiererklärungen zu einer Gefährdung der Existenz der
Banken im Einstandsfall führen mussten, waren sie objektiv
pflichtwidrig.12 Damit ist der erste Schritt in eine Untreuestrafbarkeit getan. Gleichwohl bestehen Zweifel daran, dass
die in den Banken Verantwortlichen wegen Untreue bestraft
werden können.
a) Vorsatz
So lässt sich bereits in Frage stellen, dass die Bankverantwortlichen hinsichtlich der Existenzgefährdung mit Vorsatz handelten, gehen Organe oder Mitarbeiter einer Bank doch gemeinhin davon aus, dass ein Geschäft zum Erfolg führt und
sich die eingegangenen Risiken nicht (oder jedenfalls nicht in
vollem Umfang) verwirklichen. Die Annahme, im Fall der verbrieften Kreditforderungen hätten sie – der Regel zuwider –
mit bedingtem Schädigungsvorsatz gehandelt, bedarf folglich
einer eingehenden Begründung.13 Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass bereits weit im Vorfeld der Krise warnende
Stimmen zu vernehmen waren.14 Es kann aber auch nicht ausgeblendet werden, dass Ratingagenturen den Wertpapieren
lange Zeit Bestnoten gaben und damit deren relative Sicherheit signalisierten. Der verbreitete Einwand, den Ratingagenturen hätte kein Glaube geschenkt werden dürfen, weil ihre
11
Zutr. Kasiske, in: Schünemann (Fn. 4), S. 13 (S. 37 f.);
Schünemann (Fn. 5), S. 81.
12
S. hierzu Schröder, NJW 2010, 1169 (1172); ders. (Fn. 10),
Rn. 1162 ff.; ähnlich Brüning/Samson, ZIP 2009, 1089 (1093).
S. ferner Schünemann (Fn. 5), S. 90 ff., der die Pflichtwidrigkeit in einer dem Risiko nicht angemessenen Prüfung der Papiere seitens der Banken erblickt; s. ähnlich Bittmann, NStZ
2011, 361 (366); Krey (Fn. 5), S. 1081.
13
Wie hier Nestler, in: Schünemann (Fn. 4), S. 63 (S. 66);
Otto (Fn. 10), S. 402. S.a. Bittmann, NStZ 2011, 361 (369).
Anders offenbar Krey (Fn. 5), S. 1085.
14
Gallandi, wistra 2009, 41 (45 f.).
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ZIS 2/2013
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Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht
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Arbeit von den Emittenten der Wertpapiere vergütet wird,15
überzeugt nicht. Denn das deutsche und europäische Wirtschaftsverwaltungsrecht macht die Produktzulassung in vielen
Fällen von einer Konformitätsbewertung („Zertifizierung“)
durch Unternehmen abhängig, die von den Produzenten zu
bezahlen sind.16 Dies zeigt, dass das geltende Recht das Vertrauen in solche Bewertungen für schutzwürdig erachtet, obwohl die bewertenden Unternehmen eigene ökonomische Interessen verfolgen. Auf die Banken und ihr Vertrauen in die
Ratingagenturen übertragen folgt daraus, dass ein bedingter
Schädigungsvorsatz erst zu dem Zeitpunkt angenommen werden kann, in dem konkrete Anhaltspunkte die positiven Bewertungen als unzutreffend auswiesen.17
Nun konnte den Bankverantwortlichen der Eintritt des
Haftungsfalls nicht mehr als ein – im Wirtschaftsleben stets
vorhandenes – abstraktes, sondern musste als ein konkretes
Risiko erscheinen. Bauten sie dennoch das Portfolio aus, handelten sie mit bedingtem Schädigungsvorsatz.18 Diese Konstellation dürfte indes nur selten vorgelegen haben: Als sich die
Verlustträchtigkeit der Papiere abzeichnete, waren viele Banken längst um deren Abstoßung bemüht.19
b) Vermögensschaden
Mindestens ebenso problematisch ist der (verfassungs)gerichtsfeste Nachweis eines Vermögensschadens.20 Denn die vom
BVerfG verlangte wirtschaftlich nachvollziehbare, auf anerkannte Bewertungsverfahren und -maßstäbe gestützte Feststellung der Schadenshöhe sowie die Begrenzung von Schätzungen auf „unvermeidlich verbleibende Prognose- und Beurteilungsspielräume“21 schließen aus, was zur Aufarbeitung der
Finanzmarktkrise notwendig wäre: die Ersetzung wirtschaftlicher Feststellungen durch Wertungen und Schätzungen.22
Zwar stellt bereits die drohende Inanspruchnahme der Banken
aus den Liquiditätslinien bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise einen – teils existenzgefährdenden – Schaden dar.23 In
welcher Höhe aber die Banken riskierten, für die Verbindlichkeiten ihrer Zweckgesellschaften einstehen zu müssen, hängt
vom Wert der verbrieften Kreditforderungen ab. Diesen Wert
15
Vgl. etwa Krey (Fn. 5), S. 1084; s.a. Schünemann (Fn. 5),
S. 78.
16
Ausf. dazu H.C. Röhl, in: Schmidt-Assmann/SchöndorfHaubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005,
S. 154.
17
Im Ergebnis ebenso Schröder (Fn. 10), Rn. 1200. S. ferner
ders., NJW 2010, 1169 (1174).
18
S. Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2011,
§ 14 Rn. 27.
19
Schröder, NJW 2010, 1169 (1174).
20
Vgl. Jahn, JZ 2011, 340 (346); Saliger, NJW 2010, 3195
(3198).
21
BVerfGE 126, 170 (200 ff., insb. 210 ff.).
22
Zu diesem Ausschluss Saliger, NJW 2010, 3195 (3197). Zur
Bestimmung eines Abschreibungs- und Wertberichtigungsschadens Wohlers, ZStW 123 (2011), 791 (811 f.); krit. diesbezüglich Fischer, StV 2010, 95 (101).
23
So Schröder (Fn. 10), Rn. 1190 ff.; s. ferner Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 131 f.
dürften Staatsanwaltschaften und Gerichte mit einem vertretbaren Aufwand an Zeit und (Steuer-)Geldern kaum ermitteln
können. Dies zeigt auch eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom Dezember 2012. Obgleich die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die beschuldigten Vorstände
der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) seit Ende 2006
pflichtwidrig Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe in
hoch riskante Finanzgeschäfte getätigt oder nicht untersagt
und dadurch der Bank einen „Vermögensverlust in Millionenhöhe“ zugefügt hatten, wurde das Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Untreuevorwurfs eingestellt.24 Begründung: Nach
den durchgeführten Ermittlungen lasse sich der Nachweis untreuerelevanten Handelns nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung
führen. Soweit Investitionen nach den Ermittlungen überhaupt
dem Verantwortungsbereich des LBBW-Vorstands zuzurechnen waren, sei es nicht möglich, einen Vermögensnachteil in
einer Weise nachzuweisen, die den Vorgaben des BVerfG gerecht wird.25
III. Ausweg: Wirtschaftsstrafrechtliche Sonderdogmatik?
1. Normalfalldogmatik und Sonderdogmatik
Die Anforderungen des BVerfG an den Nachweis eines Vermögensschadens verwandeln den Untreuetatbestand, der nach
einem viel zitierten Wort Ransieks „immer passt“,26 in eine
Vorschrift für die betriebswirtschaftliche Normallage, in der
sich Vermögenspositionen leicht bilanzieren lassen. Bei der
Bewältigung komplexerer Vorgänge ist der Anwender des
Untreuetatbestandes aber schnell überfordert.27 Bildlich gesprochen müssen Staatsanwaltschaften und Gerichte nämlich
einzelne Salzkörner zusammenzählen, wenn sie nachweisen
wollen, dass mit dem Ausschütten eines Salzstreuers ein
Schaden entstanden ist. Dies führt zu der paradoxen Situation,
dass mit der Größe des Salzstreuers der Schaden zu- und die
Wahrscheinlichkeit seines Nachweises abnimmt.
Vor allem bei Wertpapieren, deren Geldwert fluktuiert, ist
die Bezifferung einer zu einem fixen Zeitpunkt bestehenden
Schadenshöhe kaum möglich. In diesen Wirtschaftsbereichen
hat das BVerfG den Strafverfolgungsbehörden mit dem Untreuetatbestand folglich ein wichtiges Instrument aus der
24
Stuttgarter Zeitung v. 27.11.2012, unter
www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.lbbw-verfahrenstaatsanwaltschaft-klagt-lbbw-vorstaende-an.3fcd84ee-838d421f-9b04-1dab0e4f491a.html (22.1.2013).
25
Staatsanwaltschaft Stuttgart, Pressemitteilung v. 28.11.2012,
http://stastuttgart.de/servlet/PB/menu/1280524/index.html?R
OOT=1177700 (22.1.2013).
26
Ransiek, ZStW 116 (2004), 634. S.a. Dahs, NJW 2002, 272
(274); Kubiciel, NStZ 2005, 353; Seier, in: Bernsmann/Ulsenheimer (Hrsg.), Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen, Vorträge anlässlich des Symposiums zum 70. Geburtstag von Gerd Geilen am 12./13.10.2001, 2003, S. 145.
27
Insoweit mit Recht eine Überforderung der Praxis konstatierend Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 9/1, 12.
Aufl. 2012, § 266 Rn. 163.
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Michael Kubiciel
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Hand genommen. Vor allem den Eigenheiten der Finanzkrise
stehen die Strafverfolgungsbehörden daher mit der an einfach
gelagerten Normalfällen orientierten Untreuedogmatik
gleichsam „fassungslos“ gegenüber.28
Infolgedessen sind in der Rechtspraxis und Rechtspolitik
vielfältige Ansätze zur Etablierung einer strafrechtlichen Sonderdogmatik zu beobachten. Gemeint sind damit Versuche,
de lege lata bestehende Strafbarkeitsanforderungen mittels einer von der Regel abweichenden Auslegung des geltenden
Rechts bzw. durch Gesetzesänderungen auszuhebeln. Diese
Versuche fügen sich ein in die von Rotsch ausgemachte Tendenz des Wirtschaftsstrafrechts, „die Gerichte von spezifisch
wirtschaftsstrafrechtlichen Begründungsnöten (zu) entlaste(n), die aus der Kollision von Phänomenen modernen Strafrechts mit traditionellen dogmatischen Begründungskategorien
resultieren.“29 Ein wesentliches Mittel zu diesem Zweck ist die
Umgehung oder Abschaffung störender Zurechnungsvoraussetzungen.30 Gerade mit Blick auf die Finanzmarktkrise sind
derartige Versuche zur Schaffung eines Sonderrechts nur
konsequent: Wer künftige Krisen verhindern, wer die „Machtprobe“31 mit den Finanzmärkten gewinnen will, muss demonstrieren, dass das Strafrecht einem „sich weitgehend für unkontrollierbar haltenden Wirtschafts- und Finanzsystem“ gewachsen ist.32 Da dies auf dem Boden einer „Dogmatik der
Normallage“ nicht möglich scheint, bilden die – teils bedenklichen – Ansätze zur Etablierung einer wirtschaftsstrafrechtlichen Sonderdogmatik die Kehrseite der von einer rechtsstaatlich-liberalen Intention getragenen Restriktion des § 266 StGB.
2. Erscheinungsformen einer wirtschaftsstrafrechtlichen
Sonderdogmatik
Das bislang deutlichste Anzeichen für das Nebeneinander
von Normalfalldogmatik und Sonderdogmatik ist die bereits
erwähnte Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen die
Verantwortlichen der LBBW. Während die Staatsanwaltschaft
einerseits den hohen Anforderungen des BVerfG an den Nachweis einer Untreue Rechnung trägt (II. 2. b), stützt sie ihre
Anklage andererseits auf den Vorwurf, die Bilanzen der Banken hätten die Risiken ihrer Tochtergesellschaften abbilden
müssen33 – obwohl die zur Tatzeit geltenden bilanzrechtlichen Vorschriften die Einbeziehung der Risiken von Zweck-
28
Prägnant zu dieser Situation C. Schmitt, Politische Theologie, 9. Aufl. 2009, S. 18 f.
29
Rotsch, ZIS 2007, 260 (263); zust. Prittwitz, ZIS 2012, 217
(219 f.), dabei das Wirtschaftsstrafrecht insgesamt als „Sonderstrafrecht“ qualifizierend.
30
Schärfer Prittwitz, ZIS 2012, 217 (219): Modifizierung
„hinderlicher Zurechnungsprinzipien“, der als Beispiel die Etablierung des von Rotsch sog. „ökonomischen Täterbegriffs“
nennt, s. dazu Rotsch, ZIS 2007, 260.
31
Naucke (Fn. 7), S. 2.
32
So Naucke (Fn. 7), S. 52.
33
Zu diesem Aspekt der Anklage FAZ v. 29.11.2012, unter
www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/lbbw-anklaegerhalten-vorwuerfe-aufrecht-11976407.html (22.1.2013).
gesellschaften in die Bilanz der Banken nicht vorsahen.34 Mit
dem im Strafrecht geltenden Verbot einer Analogie zu Lasten
des Beschuldigten dürfte diese Auslegung des zur Tatzeit geltenden Rechts nur schwer zu vereinbaren sein.35 Jedenfalls
kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Beschuldigten mit der einen Hand genommen wird, was ihnen
mit der anderen an rechtsstaatlichen Garantien gegeben worden ist.
Ein weiteres Beispiel für den Versuch der Implementierung einer Sonderdogmatik in Folge der Finanzkrise sind die
Beschlüsse der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom November 2011. Diese zielen offenkundig darauf ab, die Anwendungsprobleme des Untreuetatbestandes
durch einen Verzicht auf das Schadenserfordernis zu beheben.
Dazu soll die vorsätzliche Verletzung kaufmännischer Pflichten kriminalisiert werden. Konkret geplant ist eine Hochstufung kreditwirtschaftlicher Prüfungs- und Informationspflichten von Ordnungswidrigkeiten zu Straftatbeständen, vor allem
aber die strafrechtliche Sanktionierung des in § 93 AktG enthaltenen kaufmännischen Sorgfaltsstandards.36 Letzteres verstößt zwar nicht „eindeutig“ gegen das Bestimmtheitsgebot;37
schließlich lässt sich mit Hilfe einer konkretisierenden Tatbestandsauslegung durchaus ein Kernbereich sanktionswürdiger
Verletzungen kaufmännischer Sorgfaltspflichten identifizieren.38 Dennoch ist der von der Justizministerkonferenz gewählte Ansatz höchst bedenklich. Indem er nämlich die strafrechtliche Sanktionierung kaufmännischer Pflichten von deren Bezugspunkt, dem Schutz des Vermögens der Gesellschaft,
entkoppelt, begründet er eine strafrechtliche Sonderhaftung
für Vorstände und Aufsichtsräte von Kapitalgesellschaften.
Vor dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG kann dieser
Sondertatbestand nur Bestand haben, wenn gerade der Verletzung der kaufmännischen Sorgfalt durch die Organe einer
Kapitalgesellschaft ein besonderer Unrechtsgehalt zukommt,
34
Zur seinerzeit fehlenden Pflicht, die Zweckgesellschaften
in die Bilanzen der Banken einzubeziehen, Ransiek, WM 2010,
869 (870, 872); Rönnau (Fn. 4), S. 54 ff.; Waßmer, ZIS 2012,
648 (649). Im Ergebnis wie die Staatsanwaltschaft Stuttgart
Gallandi, wistra 2009, 41 (45).
35
Zum Analogieverbot Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 8.
36
S. dazu Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins,
Stellungnahme zu dem Beschlussvorschlag der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister v. 9.11.2011
mit einem Vorschlag für „Gesetzliche Maßnahmen zur Stärkung der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität“, 2012,
S. 3 u. 5.
37
So aber Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins
(Fn. 36), S. 21.
38
S. zum Untreuetatbestand auch Lindemann (Fn. 4), S. 146
sowie BVerfGE 126, 170 (200 ff.) und dazu Böse, Jura 2011,
617; Kraatz, JR 2011, 434; Krüger, NStZ 2011, 369; Kudlich,
JA 2011, 66; Kuhlen, JR 2011, 246; Radtke, GmbHR 2010,
1121; Saliger, NJW 2010, 3195; ders., ZIS 2011, 902; Wattenberg/Gehrmann, ZBB 2010, 507; Wessing/Krawczyk, NZG
2010, 1121; Safferling, NStZ 2011, 376; Theile, ZIS 2012, 616
(621).
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ZIS 2/2013
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Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht
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der dem unternehmerischen Fehlverhalten anderer Personen –
etwa Organen einer Personengesellschaft – fehlt. Dieser Nachweis ist nicht zu führen. Denn weder lässt sich dartun, dass
die Verletzung der kaufmännischen Sorgfalt bei allen Kapitalgesellschaften zu einem Sozialschaden führt, der den Einsatz
des Strafrechts legitimiert; noch lässt sich erklären, weshalb
dieselben Handlungsweisen in Unternehmen mit anderer
Rechtsform generell keinen Unwert enthalten sollen. Kurzum:
Der geplante Tatbestand ist nicht hinreichend differenziert
und geht deshalb zu weit.39
Personell enger gefasst ist ein Vorschlag Kasiskes, der
Angestellte oder Mitglieder eines Organs eines Kreditinstituts
einer strafrechtlichen Sonderhaftung auszusetzen beabsichtigt.40 Auch dieses Vorhaben soll die objektiven und subjektiven Zurechnungsvoraussetzungen absenken, um die hohen
Hürden des Untreuetatbestands zu unterlaufen.41 So werden
Handlungen, die den Anforderungen an eine ordnungsgemäße
Wirtschaft widersprechen, bereits dann pönalisiert, wenn sie
den Bestand des Kreditinstituts gefährden. Damit entfällt der
vom BVerfG für § 266 StGB verlangte Nachweis eines konkret bezifferten Vermögensschadens. Zudem ist Strafe auch
für leichtfertiges Verhalten vorgesehen – damit wird der häufig schwierige Nachweis eines Schädigungsvorsatzes obsolet.
Strafbarkeitsbegrenzend wirkt jedoch, dass die Strafe an die
objektive Bedingung einer Gefährdung des Finanzsystems
(§ 48b Abs. 2 KWG) geknüpft wird. Dies macht zugleich die
spezifische Schutzrichtung des vorgeschlagenen Tatbestandes
deutlich. Er will nicht den Schutz des Vermögens der Banken
verstärken; er soll Gefahren für das Finanzsystem vorbeugen.42
In die gängige Rechtsgutsterminologie übersetzt: Geschützt
werden Allgemeinrechtsgüter, nicht Individualrechtsgüter.
Dieselbe Schutzrichtung verfolgen die Straftatbestände,
die der Regierungsentwurf vom 6. Februar 2013 enthält. Sie
sind eine Reaktion auf die „unzureichende[n] Möglichkeiten,
Geschäftsleiter von Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Versicherungsunternehmen strafrechtlich zur
Verantwortung zu ziehen, wenn das Institut bzw. das Versicherungsunternehmen durch Missmanagement in eine Schieflage geraten ist.“43 Ausdrücklich heißt es, die Tatbestände
wendeten sich gegen Pflichtverletzungen, die nicht nur das
39
Kritik an der Weite des Tatbestandes auch bei Waßmer,
FAZ v. 11.April 2012, S. 19.
40
Kasiske, ZRP 2011, 137.
41
Kasiske, ZRP 2011, 137 (138).
42
Vgl. Kasiske, ZRP 2011, 137 (138): „Die spezifische Unrechtsdimension der Finanzkrise besteht aber darin, dass durch
riskante Geschäfte nicht nur das Vermögen von Banken geschädigt wurde, sondern diese Kreditinstitute dadurch teilweise an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht und sie
eine existenzielle Gefahr für das Finanzsystem verursacht wurden [...].“
43
Entwurf eines Gesetzes zur Abschirmung von Risiken und
zur Planung der Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzgruppen, S. 2, 40, 64. Abrufbar unter
http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetze
stexte/Gesetzentwuerfe_Arbeitsfassungen/AbschirmungBankenrisiken.html (13.2.2013).
einzelne Unternehmen, sondern das Finanzsystem als Ganzes
gefährdeten.
Der Verweis auf den Schutz des Finanzsystems bietet Tatbeständen eine konzeptionelle Basis, deren Einsatz zum Schutz
des Vermögens oder anderer Individualrechtsgüter unverhältnismäßig wäre. Denn ohne einen funktionierenden Finanzmarkt ist ein modernes Wirtschaftsleben nicht denkbar. Das
Finanzsystem zu gefährden heißt daher, die ökonomische Basis
des Staates und der Bürger und damit eine grundlegende
Voraussetzung der personalen Freiheit aller zu unterminieren.44 Dies übertrifft den Unwert von Vermögensdelikten,
von Delikten zum Nachteil einzelner Branchen (wie die von
§ 265 StGB besonders geschützte Versicherungswirtschaft)
oder von Straftaten gegen den Wettbewerb bei weitem. Aus
diesem Grund sind auch Sondervorschriften wie jene des Regierungsentwurfs gerechtfertigt, die geringere tatbestandliche
Voraussetzungen enthalten als bspw. § 266 StGB (dazu VI.).
IV. Politisches Wirtschaftsstrafrecht
1. Einordnung
Derartige Vorschriften verlassen indes mit ihren großzügigen
Zurechnungsvoraussetzungen den dogmatischen und wegen
ihrer besonderen Schutzrichtung auch den konzeptionellen
Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts. Um dies deutlich zu machen, hat Naucke die einprägsame Bezeichnung „politisches
Wirtschaftsstrafrecht“ gewählt. Es folgt der beschriebenen
Tendenz zu einer Sonderdogmatik, wie die Ausführungen
Nauckes zu § 283 StGB deutlich machen.
Die Strafbarkeit der Verantwortlichen von Banken wegen
Bankrotts scheitert an § 283 Abs. 6 StGB, der die Strafbarkeit
an die Einstellung der Zahlungen bzw. die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens knüpft. Dem sind Banken wie die IKB
und die HypoRealEstate durch staatliche Rettungsmaßnahmen entkommen. Obschon § 283 Abs. 6 StGB nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lässt, ist für Naucke die Wortlautgrenze „überspringbar“.45 Diese Auffassung ist – um das
Mindeste zu sagen – in hohem Maße begründungspflichtig.46
Naucke bemüht denn auch Argumente unterschiedlicher Ebenen. Auf der staatsrechtlichen Ebene anzusiedeln ist das
Argument, die staatliche Rettung privater Finanzinstitutionen
sei „außerhalb republikanischer Verfassungsregeln“ er-
44
Zum wechselseitigen Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und Freiheit grdl. Eucken, Jahrbuch für die Ordnung
von Wirtschaft und Gesellschaft 2 (1949), 1; zur ordoliberalen
Freiburger Schule Albert, in: Goldschmidt (Hrsg.), Wirtschaft,
Politik, Freiheit, 2005, S. 405.
45
S. Naucke (Fn. 7), S. 64. Rechtsstaatlich einwandfrei hingegen die rechtspolitische Lösung von Schünemann (Fn. 5),
S. 101 f.
46
Vgl. zur Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips statt aller
Roxin (Fn. 35), § 5 Rn. 1 ff. Zur Herkunft umfassend Binding,
Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 17 ff.; Schreiber,
Gesetz und Richter, Studien zur geschichtlichen Entwicklung
des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, 1976, passim.
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57
Michael Kubiciel
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folgt.47. Doch haben die Rettungsmaßnahmen nicht nur die
Zustimmung des Bundestags gefunden.48 Nach allem, was man
weiß, waren sie auch notwendig, um einen gefährlichen Dominoeffekt bei den Banken, einen Run der Bürger auf ihre Einlagen und einen Zusammenbruch der (Finanz-)Wirtschaft zu
verhindern. Die Rettung systemrelevanter Banken entsprach
also dem Gemeinwohl, oder anders: der volonté générale, und
genügt damit den Anforderungen einer republikanischen Demokratietheorie.49
Naucke wendet zudem ein, das Abstellen auf den Wortlaut des § 283 Abs. 6 StGB führe zu einer sachlich unbegründeten Bevorzugung von Bankverantwortlichen.50 Belohnt würden nicht Unternehmer, die durch wirtschaftliches Geschick
die Insolvenz abgewendet hätten; privilegiert würden vielmehr Vertreter der Finanzwirtschaft, weil allein sie die Möglichkeit besäßen, „über das Handeln staatlicher Stellen Straffreiheit zu erlangen.“51 Das daraus abzuleitende methodischteleologische Argument lautet: Die Straffreistellung der
Bankverantwortlichen entspricht nicht dem Zweck des § 283
Abs. 6 StGB, daher findet diese Strafbarkeitsvoraussetzung
keine Anwendung. Dieser Gedankengang überzeugt nicht.
Denn die Strafbarkeit wegen Bankrotts wird nicht an die
Insolvenz geknüpft, um Unternehmer zu belohnen, die durch
wirtschaftliches Geschick ihre Unternehmen zahlungsfähig
halten. Im Hintergrund des Abs. 6 steht nicht der Gratifikationsgedanke, sondern eine utilitaristische Erwägung: Ein
wirtschaftliches Unternehmen, das sich gerade aus einer
Krise he-rauszuarbeiten versucht, soll nicht durch die Einleitung potenziell existenzbedrohender Strafverfahren geschwächt werden.52 Im Fall der geretteten Banken wird diese
47
Naucke (Fn. 7), S. 66.
Zum parlamentarisch-repräsentativen System als verbindliche „Grundform“ der Demokratie des GG BVerfGE 102, 224
(234 f.); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch
des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 3; Ziekow,
Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages, Bd. 1, Gutachten/Teil D: Neue Formen der Bürgerbeteiligung?, 2012,
S. 19 f.
49
Für Rousseau schöpft die Selbstgesetzgebung ihren Sinn
und ihre Berechtigung nicht aus der Form – der unmittelbaren
Beteiligung der Bürger an der Abstimmung –, sondern aus
einer Orientierung der Bürger am Gemeinwohl. S. Rousseau,
in: Brockard (Hrsg.), Vom Gesellschaftsvertrag, 1977, S. 27,
113, 117. S. ferner Böckenförde (Fn. 48), § 34 Rn. 32; Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 (203 f.); Pawlik, in: Joerden/
Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, 2004, S. 115 (S. 120).
Zu diskursiven Demokratiekonzepten Ziekow (Fn. 48), S. 22 f.
50
Naucke (Fn. 7), S. 64.
51
Naucke (Fn. 7), S. 64 f.
52
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
60. Aufl. 2013, Vor § 283 Rn. 4, 5; Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 3. Aufl. 2010, Vor § 283 Rn. 102; s.a. Tiedemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.),
Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 9/2, 12. Aufl.
2009, Vor § 283 Rn. 87.
48
Zweckrichtung nicht offenkundig verfehlt; daher besteht auch
kein Anlass für eine teleologische Reduktion der Vorschrift.
Will man Nauckes Kritik am „Zusammenwirken von Personen in politisch machtvollen Geldorganisationen und finanziell abhängiger Politik“53 ein rechtstheoretisches Argument
abgewinnen, ließe sich sagen: Weil die Banken Regierung
und Parlament zur Rettung gezwungen haben, ist die Berufung
auf § 283 Abs. 6 StGB rechtsmissbräuchlich. Jedoch ist es,
anders als Nauckes Ausführungen glauben machen, kein unzulässiger politischer Einfluss gewesen, der die Politik zur
Rettung der Banken motivierte, sondern die Größe und Verflechtung, kurz: die Bedeutung der Banken für das Finanzund Wirtschaftssystem. An dieser Stelle schließt sich der Kreis
zu Nauckes Hauptargumentationsstrang. Denn wenn sich die
2008 drohenden Gefahren verwirklicht hätten, wäre der Schaden nicht auf „in Ziffern messbare Vermögensschäden“ beschränkt geblieben; Schaden hätte auch das politische und
ökonomische System genommen, das die Freiheit der Bürger
gewährleistet.54 Sein treffendes Resümee lautet daher: „(D)as
Nutzen von Wirtschaftsmacht ist politische Straftat, wenn diese Macht das verfasste gesellschaftliche System, das der Freiheit dienen soll, beschädigt oder zerstört.“55
2. Erscheinungsformen
Naucke nähert sich dem Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat rechtshistorisch. Seine rechtsgeschichtliche Erzählung
beginnt bei den Nürnberger Prozessen gegen Vertreter der
I.G. Farben sowie gegen Verantwortliche der Konzerne Krupp
und Flick.56 Nach Nauckes Auffassung haben diese Verfahren
die „epochemachende“ Regel der Hauptverbrecherprozesse,
dass die Ausübung staatlicher Macht kein Strafausschließungsgrund darstelle, bruchlos auf die Ausübung wirtschaftlicher Macht übertragen.57 Die Verfahren seien nicht von
„anspruchsvollen Präventions- und Steuerungszielen“ geleitet
gewesen, sondern hätten lediglich das durch wirtschaftliche
Macht begangene Unrecht herausstellen und individuell zurechnen sollen.58 Straftheoretisch gewendet ging es in diesen
Verfahren also nicht um Prävention, sondern um Vergeltung.
Dies trifft zwar zu.59 Doch war das Unrecht, das der Internationale Militärgerichtshof den Angeklagten zuschrieb, kein
genuin wirtschaftsstrafrechtliches: Angeklagt waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch die Versklavung und Ausbeutung von Kriegsgefangenen, „Fremdarbeitern“ und KZ-Häftlingen.
Der Identifizierung möglicher Tatbestände eines politischen Wirtschaftsstrafrechts dient Nauckes Analyse des – noch
53
Naucke (Fn. 7), S. 66. S.a. Fischer, ZStW 123 (2011), 816
(820).
54
Naucke (Fn. 7), S. 61.
55
Naucke (Fn. 7), S. 58.
56
S. dazu auch Jeßberger, JZ 2009, 931; Jung, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, Dargestellt am Verfahren
gegen Friedrich Flick, 1992, S. 86 ff.
57
Naucke (Fn. 7), S. 15.
58
Naucke (Fn. 7), S. 16.
59
S. dazu Kubiciel, in: Löhnig/Preisner/Schlemmer (Hrsg.),
Reform und Revolte, 2012, S. 217 (S. 223) m.w.N.
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ZIS 2/2013
58
Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht
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von der Staatsanwaltschaft der DDR betriebenen – Ermittlungsverfahrens gegen Erich Honecker wegen (wirtschaftlichen) Hochverrats. Dieses Verfahren durchzieht nach seiner
Auffassung der „naturrechtliche Satz: wer die Bürger seines
Volkes durch falsche Entscheidungen um die wirtschaftliche
Existenz bringt, muss sich diese Entscheidung objektiv und
subjektiv zurechnen lassen.“60 Eine politische Wirtschaftsstraftat milderer Form stellt für Naucke die „politische Untreue“
dar. Von einer solchen könne gesprochen werden, wenn in
Folge der Ausübung wirtschaftlicher Macht dem Wirtschaftssystem und damit den Einzelnen, die von diesem System abhängig sind, schwere Schäden zugefügt werden.61
Ein aktuelles Beispiel, in dem die Verantwortlichkeit für
eine derartige „bürgerfeindliche Politik“ gerichtlich geprüft
worden ist, sieht Naucke in dem Verfahren eines isländischen
Sondergerichts gegen den früheren Ministerpräsidenten Geir
Haarde wegen seiner Mitverantwortlichkeit für die Bankenund Staatskrise.62 Doch auch in Deutschland ist nach Nauckes
Auffassung das politische Wirtschaftsstrafrecht längst Wirklichkeit – wenn auch in alltäglicher, weniger auffälliger Einkleidung. Die „positivrechtliche Heimat“ des politischen Wirtschaftsstrafrechts in Deutschland sei der Untreuetatbestand.63
Dieser habe beispielsweise bei der sogenannten Parteienuntreue dazu herhalten müssen, ein „zutiefst politisches Geschehen strafrechtlich zu erfassen“.64 Auch diejenigen, die sich
mit dieser Interpretation der von Naucke angeführten Entscheidungen nicht anfreunden können, müssen zugestehen,
dass die Grenzen des § 266 StGB jedenfalls erreicht sind, wenn
nicht nur das Vermögen eines Einzelnen geschädigt, sondern
die Wirtschaftsordnung und damit die Freiheit aller Bürger
bedroht worden ist.65
V. Bewertung
Diese Unrechtsdimension können – wie unter III. 2. gezeigt –
auch andere Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts nicht angemessen abbilden. Sollte die bestehende Tendenz zur „Divisionalisierung“ des Strafrechts fortgesetzt66 und das StGB um
einen Abschnitt über „Straftaten gegen die wirtschaftliche Ord-
nung“ ergänzt werden,67 indem dann besondere Zurechnungsregeln zur Anwendung kämen? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob die Schaffung entsprechender Tatbestände zur Erreichung eines legitimen Gemeinschaftszieles
geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.68
Falls ein Tatbestand wie die „politische Untreue“ lediglich
das besondere Unrecht herausstellen soll, wie Naucke betont,69
liegt der Einwand nahe, es werde bloß symbolisches Recht
geschaffen. Ein solches Strafrecht begründet jedoch die Gefahr, dass mit Verweis auf die strafrechtliche (Schein-)Lösung die Durchführung notwendiger Maßnahmen wie eine
dichtere nicht-strafrechtliche Regulierung der Finanzmärkte
und eine stärkere kreditwirtschaftsrechtliche Aufsicht unterlassen wird.70 Wenn das Strafrecht hingegen auch dazu eingesetzt werden soll, künftige Krisen zu verhindern, wie
Naucke immerhin andeutet,71 stellt sich die Frage, ob ein
politisches Wirtschaftsstrafrecht dazu überhaupt in der Lage
ist. Daran lässt sich zweifeln. Denn in der praktischen Anwendung dürfte ein Tatbestand wie die politische Untreue Schwierigkeiten aufwerfen, welche die unter II. 2. geschilderten
Probleme des Wirtschaftsstrafrechts bei weitem übertreffen.
Im Unterschied zu § 266 StGB müsste nämlich nicht nur
die Verursachung eines Vermögensschadens individuell zugerechnet werden. Zugerechnet werden müsste (auch) eine freiheitsgefährdende Beeinträchtigung des Wirtschaftssystems.
Diese Zurechnung kommt einer Herkulesaufgabe gleich, die
den verfassungsgerichtsfesten Nachweis der Höhe eines
Vermögensschadens als eine leichte Fingerübung erscheinen
lässt. Denn anders als in dem von Naucke gewählten Beispiel
der DDR lässt sich die Spur der Verantwortung in einer global
verflochtenen Finanzwelt nicht entlang der Befehlskette einer
Kommandowirtschaft zurückverfolgen. Der Schaden an der
Wirtschaftsordnung kann in der Regel nicht einem einzelnen
Akteur zugerechnet werden, so dass die von Lüderssen und
anderen gehegten Zweifel an der strafrechtlichen Individualisierbarkeit der Verantwortung für die Finanzmarktkrise im
Hinblick auf diesen Sozialschaden berechtigt sind.72
Ein derart ausgestaltetes politisches Wirtschaftsstrafrecht
vermag die Lücken des geltenden Rechts nicht zu schließen.
60
Naucke (Fn. 7), S. 31.
Naucke (Fn. 7), S. 36.
62
Naucke (Fn. 7), S. 39 ff. Das Gericht hat festgestellt, Geir
Haarde habe während der Krise des Jahres 2008 notwendige
Maßnahmen unterlassen und damit seine verfassungsrechtlichen Pflichten verletzt. Von der Festsetzung einer Strafe – die
Staatsanwaltschaft hatte eine zweijährige Freiheitsstrafe gefordert – hat das Gericht gleichwohl abgesehen. Dazu Spiegel online v. 23.4.2012, im Internet abrufbar unter
www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/finanzkrise-in-island-expremier-traegt-mitschuld-an-finanzkrise-a-829313.html
(22.1.2013).
63
So mit Hinweis auf die Strafverfahren zu den illegal akquirierten Parteispenden, den „schwarzen“ Parteikassen und den
Anerkennungsprämien Naucke (Fn. 7), S. 47 ff.
64
Naucke (Fn. 7), S. 49.
65
Naucke (Fn. 7), S. 47 ff.
66
Dazu Rotsch, ZIS 2007, 260 (265), der damit den Trend
zur Schaffung eigenständiger Unrechtsbereiche bezeichnet.
61
VI. Perspektive: Die „kleine Lösung“
Gleichwohl kann auf das Strafrecht nicht verzichtet werden.
Denn eine ausgeweitete strafrechtliche Verantwortung von
Bankverantwortlichen könnte einen Effekt auslösen, der
bereits auf dem Feld der Korruptionsbekämpfung sichtbar
und durchaus wirksam geworden ist: die Verstärkung von
67
Von „Taten gegen die rechtliche Organisation des Freiheitsschutzes“ und Tatbeständen zum „Schutz einer republikanischen Staatsform“ spricht Naucke (Fn. 7), S. 62.
68
Zuletzt BVerfGE 120, 224 (239 ff.)
69
So Naucke (Fn. 7), S. 5.
70
Vgl. zu dieser Gefahr Hassemer, NStZ 1989, 553 (556);
Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 247 f.
71
I.d.S. Naucke (Fn. 7), S. 9.
72
S.o. Fn. 4.
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Michael Kubiciel
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Compliance-Bemühungen innerhalb der Unternehmen.73
Wenn nämlich Unternehmensleitungen nicht nur für das
eigene Fehlverhalten strafrechtlich haften, sondern ihnen –
unter bestimmten Bedingungen – auch das Verhalten ihrer
Angestellten zu-gerechnet werden kann,74 dürften auch Vorstände und Aufsichtsräte von Banken genügend Anreize für
die Verstärkung der Compliance-Initiativen in ihren Häusern
verspüren.75 Dies könnte sich als lohnend erweisen. Denn
Compliance-Programme führen den Bankmitarbeitern nicht
nur die rechtlichen Grenzen des Handelns vor Augen; die
nachhaltigste Wirkung dieser Programme besteht in der
Schaffung einer betrieblichen „Legalitätskultur“, die dafür
sorgt, dass Regeln nicht nur aus Furcht vor Strafe, sondern
aus intrinsischen Gründen respektiert werden.76
Zur Auslösung einer Compliance-Welle in den Banken
dürfte wegen der Komplexität der zu regelnden Materie indes
mehr notwendig sein als die Schaffung eines Tatbestandes
oder einiger weniger Tatbestände. Anstatt einer „großen Lösung“ ist einer kleinteiligen der Vorzug zu geben: der Präzisierung und strafrechtlichen Flankierung kreditwirtschaftlicher Primärregeln.77 Hinsichtlich der Verzahnung des Bankrechts mit dem Strafrecht ließe sich das Umweltstrafrecht mit
der umweltverwaltungsrechtlichen Akzessorietät seiner Tatbestände als gesetzgeberische Blaupause nutzen. Die Straftatbestände könnten also entweder Bezug auf das Kreditwesengesetz oder auf Verfügungen der kreditwirtschaftlichen
Aufsichtsbehörden nehmen, sollten sich die Primärregeln erst
durch eine Einzelfallkonkretisierung aufstellen lassen. Diesem Ansatz folgt der Regierungsentwurf vom 6. Februar
73
Grundlegend zu Compliance und Strafrecht, Rotsch, in:
Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht,
3. Aufl. 2012, 1. Teil, 4. Kapitel. Allgemein zur Bedeutung
von Compliance für die Korruptionsbekämpfung Dieners, in:
Dölling (Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention, 2007,
4. Kap. Rn. 83 ff. Umfassend zur Thematik Compliance und
Unternehmensstrafrecht Bock, Criminal Compliance, 2011,
passim; Sieber, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen,
Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008,
S. 449.
74
Zur Haftung der Leitungsebene für Compliance-Verstöße
Rotsch, in: Schulz/Reinhart/Sahan (Hrsg.), Festschrift für Imme Roxin am 15. Mai 2012, 2012, S. 485.
75
Dass „Praktiker zu späterer Stunde“ gern auf den Umstand
hinweisen, Compliance-Systeme „seien auch sinnvoll, um für
den Fall der Fälle die Vorstände oder Geschäftsführer vor Haftung zu bewahren“, berichtet Leyendecker, SZ v. 14.1.2011,
im Internet abrufbar unter
www.sueddeutsche.de/wirtschaft/siemens-korruptionsaffaeredas-ist-wie-bei-der-mafia-1.1046507 (22.1.2013).
Zur Compliance in Banken Frisch, in: Derleder/Knops/Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen
Bankrecht, 2. Aufl. 2009, § 7.
76
Dazu Kubiciel, in: Linnan (Hrsg.), Legitimacy, Legal Development and Change, 2012, S. 419 (S. 428). S. ferner Sieber (Fn. 73), S. 474.
77
S.a. Wohlers, ZStW 123 (2011), 791 (794 f.).
2013. Er hebt die bislang in einem Rundschreiben der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht enthaltenen Mindestanforderungen an das Risikomanagement in Gesetzesrang
(§ 25c Abs. 3a und Abs. 3b KWG) und sieht in § 54a Abs. 1
KWG eine strafrechtliche Ahndung diesbezüglichen Fehlverhaltens vor, wenn das Institut in Folge der Pflichtverletzung
in seinem Bestand gefährdet wird. § 54a Abs. 2 KWG lässt
die fahrlässige Herbeiführung einer Bestandsgefährdung für
eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren genügen und umgeht damit die oben unter II. 2. gezeigten Probleme beim
Nachweis eines Schädigungsvorsatzes.78 Die anderen im
vorliegenden Beitrag identifizierten Zurechnungsprobleme
spricht nur die Gesetzesbegründung an. Dort liest man zum
einen, die Strafbarkeit wegen der Verursachung einer Bestandsgefährdung werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass
staatliche Maßnahmen den Eintritt der Unternehmenskrise
verhindern.79 Zum anderen verlangt § 54a KWG keinen
Nachweis einer Gefährdung des Finanzsystems; vielmehr
zeigen die Motive, dass der Gesetzgeber den Eintritt eines
solchen Risikos bei einer Gefährdung eines Finanzinstituts
unwiderleglich vermutet.80 Während letzteres lediglich den
Regelungshintergrund des § 54a KWG erläutert, stellt ersteres eine Strafbarkeitsausdehnung dar, die sich auch im Gesetzestext wiederfinden sollte.
Es sind zwar weitergehende Maßnahmen als die von der
Bundesregierung beabsichtigten vorstellbar.81 Doch sollte
man sich über eines nicht täuschen: Über eines sollte all dies
nicht hinwegtäuschen: Selbst wenn wir der Aufforderung von
Stiglitz folgen und aus der zurückliegenden Krise lernen,
werden wir auch künftig mit Finanzkrisen zu rechnen und zu
leben haben. Sie resultieren nämlich aus dem Gewinnstreben
der Akteure auf den globalisierten Finanzmärkten – und sind
damit Folge zweier unveränderlicher Gegebenheiten. Weder
lässt sich das Rad der Globalisierung zurückdrehen noch
können Finanzkaufleute in wohltätige Beamte verwandelt
werden. Letzteres ist bereits Platon als „lächerliche“ Vorstellung erschienen.82
78
S. o. Fn. 43.
Entwurf (Fn. 43), S. 40 f., 64.
80
Entwurf (Fn. 43), S. 40 („und damit“).
81
Schröder, Europa in der Finanzfalle, 2012, S. 106 ff.
82
Platon, hrsgg. von Apelt, Die Gesetze, Bd. 2, 1917, Vers
918e. Dazu und zur Figur des Kaufmanns in der abendländischen Tradition Hénaff, Der Preis der Wahrheit, Gabe, Geld
und Philosophie, 2009, S. 95 ff.
79
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ZIS 2/2013
60
The Penal Policy of Human Rights
By Prof. Dr. Augusto Jobim do Amaral, Porto Alegre (PUCRS)*
This essay intends to demonstrate the contours of a deleterious configuration of human rights as backing for the punitive
wish, in other words, how the discourse of human rights can
be channeled into punitive demands leveraged by the will to
punish, which sequesters democracy and ultimately neutralizes its political effects and blocks its very achievement.
I. About the meaning of the proposed matter
It is well-known that the configurations of punishment, in
their various strata and not only institutional ones, amount to
a huge public power representation vector to be driven by
various interests. Perhaps in few places the amount with
which the genuine connection between desire and power can
be so well represented.1 Therefore, the penal discourse is the
place where the most profound yearnings are quickly revealed, including those of emancipation. The language of
punishment, even though it may well be associated to the best
of intentions, is deeply seducing, as we know that the discourse has long been more than what the desire expresses or
hides, but it is the very desire, it translates not only the struggles or domination systems, but it reveals that for which one
fights – ultimately, the power we wish to take possession of.
II. The Criminal Law/Right of the Punitive Left
Such considerations only intend to stress the need to renew
the warning about a phenomenon that could be eventually be
named the “punitive left”. It certainly does not specifically
concern legislative practices, but it elevates the very interpretative mechanisms of the legal actors in the confrontation
with matters more sensible to demands against “the ones
above”. In short, it is marked by the “claim for extension of
the punitive reaction to conducts traditionally immune to the
intervention of the penal system”.2
Getting straight to the point, it concerns aspirations of
specific groups (such as the feminist and ecological movement) which have been expanded to the preoccupation with
the so called golden criminality, notably the abuses of the
political and economical powers. A persecutory furor, often
hysterical and irrational, usually monopolized by the right
wing in the legitimization of reactionary forces, ultimately
reintroduces the worst of authoritarianism in criminal law.
This happens because, when encouraging a rupture with the
essential liberties of the Rule of Law, in the excitement of
* Doctor of High Contemporary Studies from the University
of Coimbra – Portugal; Master and Specialist in Criminal
Science from PUCRS and Professor of the Criminal Law and
Penal Procedure Department of the same Institution. Professorresearcher of the Interdisciplinary Study Center of the 20th
Century (CEIS 20) of the University of Coimbra.
1
Foucault, A Ordem do Discurso, Aula inaugural no Collège
de France, pronunciada em 02 de dezembro de 1970, 1996,
p. 10 et seq.
2
Karam, Discursos Sediciosos: crime, direito e sociedade 1/1
(1996), p. 79.
getting to those less affected by the penal system, they often
to not realize that such offense reaches exactly the usual
“clients” of the system3 who routinely suffer its strong interference, because of the very selectiveness of the penal system.
The (not so) new formations of a punitive tendency on the
left, which is another face of the traditional repressive belief,
only brings a new weakening of the essential rights. “Equally
trying to legitimize the penal system, this new tendency conceals punitive wishes under the cloak of an interpretation of
the Constitution and the need to replace liberal and individualist ideas about essential rights for concepts that put the
social rights in action, extracting alleged criminalizing obligations therefrom, under the illusory prospect of turning the
penal system into an alleged instrument of social transformation or emancipation of the oppressed.”4
Quite close to the neoliberal heralds (who are certainly
less deluded), what is achieved in this regard is at most the
punishment of some member or other of some less affected
stratum. In the extremely few cases in which hegemonic
conflicts allow for the overthrowing of some person responsible for facts of this kind, this happens because of such person's vulnerability located in a relation of power.5 However,
the price of this sacrifice is ultimately the awful legitimization of the penal system as a whole6, i.e., of that same repressive, stigmatizing and essentially unequal-selective mechanism.7
They forget that the exceptionality of the penal system's
action is inherent to its essence, and also peremptorily forget
the noticeable functionality of any penal system in handling
illegalities differently, i.e., not caring about overcoming criminality of any nature. It would be frightening and amazing,
unless we could not see the immense willingness of certain
sectors and political forces to adhere to a system willing to
reproduce inequality and suffering under this study focus,
seemingly for some momentary enjoyment of punitive reac3
Batista, Punidos e Mal Pagos: violência, justiça, segurança
pública e direitos humanos no Brasil de hoje, 1990, p. 39.
4
Karam, Recuperar o Desejo da Liberdade e Conter o Poder
Punitivo, Vol. 1, Escritos sobre a Liberdade, 2009, p. 4.
5
The far from contingent but structural aspect of the selectivity of the penal system and especially the illusion of lack of
coverage that such situation attempts to create cannot be
overemphasized. See Zaffaroni/Batista/Alagia/Slokar, Direito
Penal Brasileiro, Vol. 1, Teoria Geral do Direito Penal, 2003,
p. 49-51.
6
Zaffaroni, in: Cóppola (comp.), Derechos Fundamentales y
Derecho Penal, 2006, p. 70.
7
Batista, Introdução Crítica ao Direito Penal Brasileiro, 8th
ed. 2002, p. 24-26. The vast sources about the core point of
the penal system (and it criminal law), both unequal, is a
central issue in Baratta, Criminologia Crítica e Crítica do
Direito penal: introdução à sociologia do direito penal, 2nd ed.
1999, p. 159-170.
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tion channeled to another direction. At some time concerned
with some social transformation utopia, they seem to embark
on the contradiction of intending to use a tool that is part of
the problem for the solution of this same confusion. A certain
left-wing spectrum, under hypocritical political pragmatism,
announces new enemies of social cohesion: now “the ones
above” – the same batteries, with signs reversed. Although
incorporating libertarian ideals and knowing how to recognize and break from any form or authoritarianism, such sectors ultimately serve as protection and revitalization of the
more reactionary discourse of the repressing „penal right
wing“ (obviously under a new guise of defense and achievement of the „real“ Democratic State Ruled by the Law).
Hence the criminal law/right of the punitive left. By accepting the rationale of penal repression, it enlarges the State's
punishing power and finally accepts the dynamics of violence
and the exclusion included therein. Any desire for freedom is
lost in the entanglements of the will to punish.8
8
The stamp of selectivity of the penal system is unavoidable.
As demonstrated for a long time, the penal system works as
an epidemic, affecting preferably those with low defenses
(Zaffaroni, Sistemas Penales y Derechos Humanos en
América Latina [Primer Informe], Documentos y cuestiones
elaborados para el seminario de San José [Costa Rica], 11 al
15 de Julio 1983, 1984, p. 159-165). One does not escape this
dynamics when dealing with higher social strata. It is the very
police provision to govern the society. Such chosen ones,
now from higher floors, will be equally summoned as new
scapegoats (Girard, A Violência e o Sagrado, 1990, p. 91115). Penal pornography (Wacquant, Punir os Pobres: a nova
gestão da miséria nos Estados Unidos [A onda punitive], 3rd
ed. 2007, p. 9), under which we are sensationally submitted
by means of spectacular operations (always given cool names,
since a marketing product must be attractive), forced temporary and preventive incarcerations, often in violation of the
laws themselves, should not fail to convey the image that the
system is legitimate and less selective. The very actions that
allege to reduce selectivity will operate the punishment of the
usual prisoners. Selectivity or rather the inequality of the
penal system does not materialize in an element to be reduced
considering it very application. It is necessary to recognize
when this takes new directions, choosing at certain times
people who are not usually part of the penal system. In order
to reject such arguments, one could say – not without a considerable amount of hypocrisy – that if we chose the „repressivist-emancipatory” direction we would be at least reducing
the inequality of the penal system and beginning to demonstrate that all social strata are eventually controlled. It is a
happy illusion. Selection and punishment are indiscernible:
trying to abolish the former can only lead to the unavoidable
suppression of the latter. And ostentation in the fight against
inequality only contributes to worsen the scenario, thus reaffirming the mechanisms of repression. The alternative to
„democratic incarceration” is accompanied by the Rule of
Law violating Democracy (Santoro, Cárcel y Sociedad Liberal, 2008, p. 162). Otherwise, one forgets that new selective
processes will internally affect these new targets, without ex-
It is extremely important to stress, in short, that such
symptoms of the so called democratic left have sources in
common – which perhaps could even be translated as an ordinary political platform – with parties of such different political structures in the sense of forming some similar political
identity, something as if it were a new mechanism of partisan
“subjectivation”. The derivation of punitive schemes and its
populism of the so called conservative or neoliberal dens are
quite noticeable. However, shifting the focus and getting
closer to how the „emancipation“ discourse can contain penal
authoritarianism inverters can be ever more precious.
This, in a different manner, criminologically speaking, is
part of the inventory (not to say the remains) of the inheritance of a certain critical criminology,9 inattentive to its own
“fire warnings”10. The “paradigm of new criminalization”11,
resulting from the criticism of criminal law as a “class instrument”, can be depicted as we have seen, at least in Brazil,
through the Constitution, since the 90’s. In the event we divided the directions of the results of the critical criminology
criticism in two currents,12 on the one hand, because of the
class nature attributed to criminal law, we could easily conclude that we should reject it. On the other hand, in a manner
more suitable to these left-wing punitive movements, we
would have the demand for equalitarian application thereof.
This sector shall remain faithful to the spirit of it and deals
with reversing the use of criminal law as an additional means
to protect the interest of the weak. It also supports the criminalization and utilization of criminal law properly to protect
and castigate violations to human rights, again making use of
its own reversal for its alleged protection. Formerly, decriminalize because criminal law attacks us, now, criminalize
because criminal law protects us? Deep inside, the criticism
in this regard contained repudiation not to criminal law itself,
to the way it was being used. Such irony: the concept of human rights serving to expand criminalization by the very
cluding the continuous reproduction and creation of spaces of
exception inside the penal system. From a media perspective,
the return may be huge, as it would show its „effective” universality and equality – a false maneuver to bestow legitimacy upon the penal machinery. And when the emphasis on the
crusade against criminals (powerful or otherwise) becomes
everyone's mission, not just between Police-Department of
Justice-Judiciary, but of the people as a moral subject (Foucault, Estratégias, poder-saber, Coleção Ditos e Escritos IV,
2nd edition 2006, p. 163), a police-oriented society is no longer
fiction. If that which is solidly built disappears in the air, i.e.,
time goes by and the memory of spectacular scenes perish,
the door of the exceptional guarantees of yore remains pried
open.
9
Baratta (fn. 7), p. 202.
10
Benjaminian shades, paraphrasing Löwy (Walter Benjamin:
aviso de incêndio, Uma leitura das teses „Sobre o conceito de
história”, 2005, p. 33 et seq.).
11
Cohen, Visions of Social Control, Crime, Punishment and
Classification, 1999, p. 254-260.
12
Larrauri, La Herencia de La Criminologia Crítica, 1991,
p. 223-224.
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sectors of the progressivist movements that used to criticize
the way the penal system works.
They can be new moral entrepreneurs13 supporting the investment in the extremely questionable and previously attacked symbolic function of criminal law, now seen as positive. In a way, they disseminate the hegemonic discourse of
criminal law as a defense means by associating with the control instances. Larrauri says: “a estos nuevos movimientos no
se les escapa la (doble) paradoja de que la ampliación de la
criminalización se debiese, precisamente, a las mismas fuerzas opuestas a la criminalización, y que movimientos normalmente contestatarios con el Estado acudiesen ahora a éste
en busca de ayuda e intervención.”14 Not only by resorting to
penal help but most of all by shifting from the right focus,
they ignore a re-victimization – by the re-regulation of the
conflictive situation – of the same protection targets (for
instance, women and environment protection), precisely
through moving efforts away from more effective solution,
apart from ultimately pulverizing certain suitable mobilization around these issues by seeing them already in the realm
of penal answer.15
The penal system does not relieve suffering. At most, it
replaces suffering with resentment, depression or another
mechanism that will eventually be channeled into producing
greater pain.16 It handles pains, allowing for the legitimization of an even more violent exercise, encouraging the most
perverse feelings of revenge. That is its scandal, which never
ceases to materialize.
It is quite perceptible at this point that our argument
bends to the opposing side. Naturally, there is no reason to
ignore the huge advancement of, shall we say, a more original current of critical criminology: it is correct to say that
criminal law may be accused of protecting essentially the
interests of the powerful, that it is used disproportionately
against more vulnerable social sector; it is correct to implement a radical transformation in order to avoid further suffering. However, its use in the best of cases is ineffective to
resolve social conflicts and it ultimately serves to increase the
caused evil and suspend the conflict rather than resolve it. It
stigmatizes the subject, offers false solutions and does not
satisfy the victim itself in any extent. The line of discussion
must contain the full rejection of criminal law as a way to
prevent punishment or offenses. And in this regard, on a preliminary basis, it does not refrain from taking the problems
raised by social demands seriously.17
13
Becker, Outsiders, Studies in the Sociology of Deviance,
1963, p. 147-162.
14
Larrauri (fn. 12), p. 218.
15
About the „re-regulating is resolving” myth, see Zaffaroni/
Batista/Alagia/Slokar (fn. 5), p. 54-56.
16
Myra y Lopez, Quatro gigantes da alma, O medo, o amor, a
ira, o dever, 1960, p. 112.
17
Anticipating any counterpoint, the elision of the presence
of procedural guarantees is not excluded from this vision. No
other meaning is assigned to penal science but the fixation of
guarantees, but this does not include the argument of the
urgency to see them ultimately association with the punish-
The great enlargement of the punitive power through the
inquisitive elements that are permanently present in the general system operators, further helped on the left by a touch of
constitutional lawfulness, allows our democracy to be categorized, to some extent, as representing a “cool authoritarianism”18. However, the alleged criminalizing obligations, derived from an interpretation of the Constitution, may often be
nothing more than a distortion. The protection of legal assets
is a necessary condition, but it is not sufficient to legitimize
the penal prohibition.19 Assuming that the penal system only
acts in a negative way, i.e., providing remedy, protection or
avoidance of the conducts it criminalizes in an improper
manner, the fact that it is simultaneously an instrument for
positive action is a contradiction. In other words, the penal
system is not an effective mechanism for the protection of
essential rights except on an individual basis – this would be
genuine “penal remedy”. Therefore, the ordinances contained
in section 5 of the Constitution of the Federal Republic of
Brazil, the source from which a large part of the penal constitution that we have will be taken, impose state intervention,
but for the purpose of creating material, economical, social
and political conditions for the achievement of those essential
rights, and not on a criminalizing level. Once again, the so
called left-wing legitimizing discourse slips towards this
rationale.20
III. Will to Punish and Penal Populism: archetypes for a
penal policy of human rights
All this movement is intrinsically attached to an even greater
dynamics. There is a deep constant which, notwithstanding,
emerges as a basic symptom in such political environments,
to some extent, named by Salas as a will to punish. Here a
much more diffuse and enlarged amalgamation is naturally
gathered, apart from the juridical actors involved in the criminal matter. A punitive fervor invades the democratic societies
beyond the courts of justice, with their help and also with the
help of a certain part of the left, on the pretext of some devoment in some legitimized form. The endorsement that is assumed is not the need for punishment, but the submission of
the potestas puniendi to legal control (penal procedure is one
of these avenues), not entailing the acceptance of this punitive model. See Amaral, Violência e Processo Penal: Crítica
Transdisciplinar sobre a Limitação do Poder Punitivo, 2008,
p. 117 et seq.
18
Zaffaroni, O Inimigo no Direito Penal, 2007, p. 70-81.
19
Staechelin, in: Instituto de Ciencias Criminales de Frankfurt (ed.), La insostenible situación del Derecho Penal, 2000,
p. 289-304.
20
Obviously, the repressive network would not be stopped
this way in all cases. Even with this observation of unnecessary criminalization, in the context of the Brazilian constitution, several examples of expansionist thrusts in criminal law
would remain. Even the constitutional level ignores the ineffectiveness of the penal system and invests in it, even when
the protective provisions make no mention to criminalization,
except through the punitive yearning of the legislative actors
involved.
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tion to the “victims”. A judge once involved by state ineptitude, with the demands for judicialization inherent to basic
citizen rights, is now raised to the position of political actor
par excellence in criminal terms: Judges now “are only visible in red”.21 In a social enclosure surrounded by risk, where
the management of dangers has become essential and the
demonization of the other has a captive place, the latency of
the victimizing state channels penal populism. The shaping
triad of this state of things is summarized on the basis of, as
described by Salas: a strong police, a disciplinarian Bench
and right of exception always ready to act. Thus, the central
question about penal populism must consider the figure that
violently embodies the collisions of the yearnings of punishment: a role that is played by the victim
„Loin d´être l´apanage des partis extrêmes, il caractérise
tout discours qui appelle à punir au nom des victimes
bafouées et contre des institutions disqualifiées. Il naît de la
recontre d´une pathologie de la représentation et d´une
pathologie de l´accusation: réduite à une communauté
d´émotions, la société démocratique ‘sur-réagitʼ aux
agressions réelles ou supposées, au rique de basculer dans
une escalade de la violence et de la contre-violence. Toute
hésitation serait l´indice d´une faiblesse. Tout prudence, une
marque de complicité.”22
In this pathology, one does not want the authorities to be
weak and complacent to crime, since security has become an
absolute right straightly aligned with the “public”. Moderation is not compatible with the exacerbation of social reaction, hence a profound deficit − not to say paralysis) of the
21
Justice will only be of interest to the public in its acute
form, where there is crime, a criminal court, a game of life
and death. Maybe this could be explained by a double movement identified by Foucault. Justice enveloped by an „administration” comparable to the other State powers suffered double
movement, according to him, forwards and backwards: it lets
go of an even greater domain of businesses that are regulated
behind themselves (like the struggles on an economic level)
and furthermore it deviates greatly of the „social” functions
of everyday care. It is certain that it should not act only as a
fortress (even if access thereto can sometimes represent such
a thing), but it is ironic that it is flexible, penetrable and transparent. It is in its realm that the organization of disorder produces useful effects. It is in the judiciary mechanism that cares
for us that disorder produces order. In three ways, the author
shall say: it produces „acceptable irregularities” under which
we are in tolerance consented by everyone; it produces „usable asymmetry”, securing advantages to some that other ignore or cannot have; finally, most of all, it produces something of the highest value in civilizations such as ours – social order. Foucault says – not without huge shades of Kafka
– after all the picture of the judiciary appliances as one of
those pieces of machinery of Jean Tinguely, „full of impossible wheels, of blades that drag nothing and gears that feign:
all the things that ‘do not workʼ make ‘it moveʼ.” (Foucault,
O Limão e o Leite, 2010, p. 237-239).
22
Salas, La Volunté de Punir, Essai sur le populisme penal,
2010, p. 12 and 14.
mediation imposed to democratic societies. It is then that the
very democracy is exposed to these threats, which believes to
puts its very fundamentals to the test.
It is interesting to systemize this movement in key points
with some strength. We analyze that the rise of a securityoriented society invades the practices playing a certain leading role, at least in the West beginning in the 70’s. Taken as
the central topic of the political discourse per se, the
(in)security and its war rhetoric (which confounds internal
and external security) attracts not only the right-wing discourses (that were always there: in times of prosperity, with
its politically correct discourse, but which in hard times will
call the shots for a channel giving access to repression –
xenophobia, terrorism, sexual crimes, drugs etc.), not only
political leaders but also, in its determination to fight against
impunity and equality vis-à-vis the law, legal activism, which
now gains public space as a crime-fighting tool. Penal populism clearly becomes a major component of democratic life.
A purely repressive “right to punish” combined with an (effervescent) opinionated democracy is merely a small sample
of attractive promises (to voters) of this political discourse of
media-oriented emotion. Its irruption acquires three essential
elements: radical punishment; the total indifference regarding
any effectiveness of these policies (as it is the impact it has
on public opinion that counts) and strict laws promising to
reduce criminality.23
It is the time of the victims. The first combat and punishment plan is installed by a victimizing imaginary real and
fertilizes the soil for the figure of the avenger, precisely of
the “accusatory victim”. Could we risk saying that the victim
of yore has become the persecutor of today? The demonization of the opponent is only the other side of the rhetoric of
the martyr and the fight against evil. The dramatization of the
penal scenario comes in handy in this radical separation between anger and pity. The fight of good against evil in a
degraded democracy of individuals a role that is played by
the victim exacerbates the return of the victim and especially
places the moment of penal procedure in what could be described as “democracy of the complaining”24. The moral and
populist crusades disrupt any balance that could be between
the force and form that constitutes the Rule of Law. It is as if,
once the irrational portion of power were rehabilitated, there
would be a steep dive in the originating violence that properly inaugurates the state entity. In this critical point, the roles
of victims and executioner become interchangeable.25
23
Salas (Fn. 22), p. 57.
Salas (Fn. 22), p. 84 and 90.
25
For Packer, according to a classic scheme, the legal appliance may operate as an assembly line, assuming two operation levels: initially, crime control, headed by the police and
by the Department of Justice, and a second one, regarding the
respect to due process, under the authority of the judge. In
fact, these would rather be two regulating models of criminal
procedures that would lead us to perceive an antinomy in the
heart of criminal justice. The author says: “Two models of
the criminal process will let us perceive the normative antinomy at the heart of the criminal law. These models are not
24
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The passion for punishment, fed by penal populism, is
imposed most of all by affection. Any understanding look on
the accused one is broken, to the extent that collective indignation relegates this look to evil personified. But how could
one resist the embrittlement that affects democracies involved
in this penal ostentation? How to keep away the intoxication
(hallucination) of a demagogical community of emotion?
Will the danger, as revealed in irrationality, properly come
through the best possible democratic justification: the rights
of men, i.e., the formation of a penal policy of human rights?
The denaturation of its role of limiting the punitive exercise
is the announced archetype of its own corrosion.
The repressive injunction, which leads to the multiplication of cases of incrimination, reinforces not only legislative
and police activism but also the judicial realm, seeking the
(sterile) protection of human rights, which is often equivalent
to exposing an illusory protection through the reinforcement
of the interdict. When the reference was lost, the fruitless
reiteration of the legal (criminalizing) instance only reveals
the failure of its authority. One resorts to the triumph (or
consolation?) in criminal law just like the allies create in the
illusory “Maginot Line”26, as a way to safeguard themselves
against the Nazi approach. The offensive of a punitive moralism seems to have opted for the explicit choice of values
inherent to the total indifference to the rights of offenders.
We are faced with democracy thrown against itself, where
the return of the demands for control, safety and punishment
march triumphantly over the very personal rights. To the
labeled Is and Ought, nor are they to be taken in that sense.
Rather, they represent an attempt to abstract two separate
value systems that compete for priority in the operation of the
criminal process. Neither is presented as either corresponding
to reality or representing the ideal to the exclusion of the
other. The two models merely afford a convenient way to talk
about the operation of a process whose day-to-day functioning involves a constant series of minute adjustments between
the competing demands of two values systems and whose
normative future likewise involves a series of resolutions of
the tensions between competing claims.” (Packer, Limits of
the Criminal Sanction, 1968, p. 153). Thus, the first is a chain
(literally) responsible, programmed and prepared to turn a
suspect into a convict, while the second becomes an obstacle
in this course, which makes the protection of the accused one
a core value. The repressive system, increasingly impregnated by the ideology of the “just deserts”, has been appropriated and represented by penal justice to the detriment of the
second, exactly to bestow credibility upon the institution. By
imposing the corollary of the efficiency paradigm, on the one
hand, this value acts mostly on the smaller criminality with a
number of provisions that pragmatically claim the culpability
of the defendant; regarding the „big” criminality, there is the
penal procedure of exception, not only with special procedures, but most of all with the permanent and general possibility of breaking the rule through the very open provision of
the laws.
26
Metaphor used by Pires, Revue de droit pénal et de
criminologie 2/81 (2001), 145-170.
extent that human rights become a policy, we would add the
term penal to the expression of Marcel Gauchet27. A fundamentalist derivation conducted by the reversal of human
rights through excess is perceived. A left outside the left, to
paraphrase the French author.
The penal effects of a repressing and criminalizing policy,
founded on the protection of essential rights, are experimented signs within the disconcerting faces of the new democracy, identifiable at least since the post-war period and reaching
its peak at least since the 70’s/80’s. Which, it should be noted,
had a deep effect in the Brazilian constitution. A triumphant
democracy now returns – and the Brazilian case is also a
noteworthy example – in a penal activism in the name of its
very supreme values, surreptitiously imploding its own bases.
The statement made in 1980 that the rights of men are not a
policy and restated in 2000, once reread, may reveal precisely
a threatening reversal that can be viewed in the emancipation
of man from the level of his rights: the collective alienation
tends to multiply. Hence the reinforcement of the role of the
state which, in a matter of penal control, triggers a deepening
of social anonymity and an aggravation of the disregard for
the public thing. In other words, human rights cannot be a
policy, except on the condition of being able to recognize and
overcome the alienating dynamics of individualism that they
naturally convey.28
The consolidation of human rights as an undeniably
greater ideological and political factor in recent times, exactly
then violations thereof are becoming so natural, should not
lose sight that, when placed as the epicenter of the democracies, they may become the reason for their difficulty to become a policy. The greatest proof of this is their criminalizing
penal expression. Gauchet’s argument helps us think about
the questioning of the penal culture issue under different
values. Under the focus built so far, we are led to accept the
idea that such platform – the channeling of the demands for
protection of human rights towards a penal bias and all the
punitive and populist vision of their actors implied therein –
comes as an additional variable of the collective impotence to
turn these rights into a material political action measure going
beyond the sterile penal proposition.
When democracy is no longer contested, it triumphs towards the idle consolidation of the rights its states, disregarding any social-historical consideration – Gauchet’s diagnosis – and the practical contradictions start to appear. Its internal substance and even its governing power are depleted.
Furthermore, this could mean a certain loss of power, in this
new conjuncture, of political and social discourses, which are
absorbed by these very principles, which fail to nurture de27
Gauchet, A Democracia contra ela mesma, 2009, p. 360
and 38. It is known that it used to be a current problem in the
seventies and had been covered by other authors such as
Lefort, with Espirit magazine going as far as holding a meeting about the topic at the end of the decade: „Are the rights of
men a policy?”. Lefort, A Invenção Democrática, Vol. 3, Os
limites da dominação totalitária. Coleção Invenções Democráticas, 3rd ed. 2011, p. 59-86.
28
Gauchet (fn. 27), p. 53-54, 62-63 and 69-71.
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mocracy itself. In the penal realm, can this be clearer when
the unchanging discourses of expansion of the punitive power
are similar either at east or at west?29
Hence the weakening of the collective through an alleged
individual affirmation, the realm of the individual in the society to the detriment of the society of the individual – if they
can be separated and do not represent the basic problem of
the matter. Regardless, in the field of political mechanism
itself, human rights as a promise of power become dispossession under the effect of the liberation of the particularities in
which they are translated. Particularities channeled towards
the power to punish point to a complete depletion of its ideals
under the mantle of an alleged emancipatory protection. If
they can affirm the bases on which we are gathered, they
offer little in terms of the effective fabrication of the beingin-a-set, and because of this deficiency the ultimately make
29
When they become a belief and amount to a sheer act of
ideological faith, democracy gains a huge space in long
strides. That is because these rights have the effectiveness of
filling a void and may become a powerful means to transform
the future in the lack of a great vision about tomorrow. But it
must be noted: by doing it, „they say nothing about the reasons that make things be as they are”, frenetically surrendering to the ideas about means to modify them. What does it
mean? There is serious disqualification in the search for explanations – after all, trying to learn, in this regard, means
agreeing to the unacceptable. Thinking in terms of criminal
politics, not thinking in terms of the defense of urgent criminalization, in the swelling of the State in penal persecution
and severe punishment, means being against something that
should be made immediately and being an accomplice of this
crime. A new kind of Machiavellism arises on the foreground
of democracies. The good one, „dedicated to the celebration
of man and right, intended to preach the just causes and good
feelings without failing to witness its humaneness, its compassion for the victims, its concern with the wounds of the
world.” They refer to a separation between the ideal and the
real that the governments now deal in, running the risk of
they themselves becoming the scapegoats of the resistance of
the real to the ideal. The move to consensual ideology is an
escape from the age of confrontations, an agreement made
around the rights leading to a „depoliticization of means”
benefitting the powers that, in this new political art, are its
mere enforcers. Hence the precariousness of any position of
power in the core of our pacified regimes. A necessarily
frustrated expectation will be the core of our policy: „consensus democracy is discontented democracy.” In this new system of the beliefs, there will be room for the appreciation of
the intentions only. For the power, as the vector of the possible, a „policy of intentions” will suffice, of generous good
will, indifferent to the denial of the real. Nevertheless, this
makes prosecutors immune, regardless of the consequences
of their provisions. In this regard, most of all, the problem
will have been felt and will not be attributable to anyone in
particular. A promise of power, of achievement of the rights
of man, ultimately becomes an unintelligible potency, i.e., the
grave of politics. (Gauchet [Fn. 27], p. 340-341 and 348-350).
room for impotent reproduction, which is enabled by relapsing into the excess penal power. It is up to us to know whether this is what we want: to dive into the vertigo of an intimate
degradation of democracy attested by this self-destructive
temptation.30
Thus, the militant ardor tends to disrupt any alliance between justice thinking and the thought of a person’s right,
and the claims for justice start to relate to the representation
of the victims. In short, the protective system of human rights
is ultimately reversed and contradicts its own principles.
Under the mantle of penal policy, they become excellent
narcotics seeking to compensate for the diffuse social evils.
More directly, an ideological reversal31 of human rights is
installed given the identification of its “policy” with the imposition of power and becomes the strongest support of security policies.
The justice institutions, perhaps more than any other, are
faced with populist effects. When, in an initial political moment, democracy reacts voluntarily, pragmatically and immediately to the crime, moved by the partiality of emotion,
the Department of Justice or the Police authorities come to
the rescue of a threatened society. However, the opposite is
assumed in the judicial moment, which is prudently and deliberately stopped by its procedural course. Some cult to
surrender may lead the legal institutions not to resist and
become vulnerable to opinion agitation. And the ineligible
law of the judges as public servants implies – associated to
this greater exposure to media-oriented discussions and the
criticism receive, as it is obvious that it has to deal with any
majorities, hence its counterpower of tutelage of minorities,
hence its legitimacy32 – greater responsibility still tied to the
powers arising therefrom: “un juge enrôlé dans une croisade
contre le crime n´est plus à sa place de tiers impartial; il
prende le rôle d´un ‘saint belliqueuxʼ voué à une mission
sacrée, au risque de briser les principes qui gouvernent sa
fonction.”33
IV. Positions – Repressive Democracy
There is a pronounced force that owes little to any outside
focus except to the dissemination of a viral strategy that corrodes the social body and democracy itself. Today we could
talk about hyperterrorism or any other formation of some
concept of enemy34 without going through what really mat30
Gauchet (Fn. 27), p. 360-365.
Hinkelammert, in: Herrera Flores (ed.), El Vuelo de Anteo:
Derechos Humanos y Crítica de la Razón Liberal, 2000, p. 79113; Herrera Flores, Teoria Crítica dos Direitos Humanos:
Os Direitos Humanos como produtos culturais, 2009, p. 68 et
seq.
32
Ferrajoli, Derecho y Razón: Teoría del Garantismo Penal,
1995, p. 578-581.
33
Salas (fn. 22), p. 234.
34
The more diffuse the concept, the more it suits an opportunist appropriation, as warned by Derrida. The dominant
power will be the one that is able to impose and legitimize,
even legalize (as it is always a matter of law), in a national or
worldwide stage, the terminology and interpretation that is
31
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ZIS 1/2013
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The Penal Policy of Human Rights
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ters. If we want to use Derrida's denomination, there is a
certain internal terror that produces “self-immunization” in
democracy – as it is known that the worst and most effective
form of terrorism, even if it seems foreign or international, is
the one that installs an inside threat and reminds that the
enemy is also lodged within the system – i.e., it destroy its
immunity defenses, subverts its languages and weakens its
institutions. The September 11 event35 only exposed the selfdestruction of the democratic defense mechanisms according
to a mental impact of an evil that leads to counterviolence in
its image. Both torture in the name of democracy allied to
war culture and the punitive rhetoric in the name of the victim bestow a powerful élan upon the political discourse.
“A democracy that does not understand its own global
disposition which constitutes half of its being, that is no
longer attentive to the coexistence of its portions turned into a
purpose in itself, is a democracy that no longer understands
the bases on which it rests and the instruments it needs. It no
longer knows how to confer a statute upon the limits of historical community thanks to which it is capable of acting
upon itself, it no longer has the meaning of authority appliance that allows it to be applied to itself.”36
There is an implacable law that regulates this entire selfimmunity process, i.e., a rationale that leads democracy to
work for itself in an almost suicidal manner, exactly to immunize its own protection. Initially it should be triggered by
an event which, as such, carries some inappropriatability as
we have said, some incomprehensibility. This transgression
of a new kind entails a trauma, a wound marked not only in
memory. In this point it is healthy to rethink this capable
temporality to be conveyed in punitive populism. The idea of
9-11 as a “major happening” (but the scheme remains strict
for our analysis) allows us to clearly perceive that it is the
future that determines this inappropriatability, not the present
or the past. Speaking of traumatism, it is produced by the
threat that the worst is yet to come – “an unpresentable future
(to come)”, the fear of what has happened will not be greater
than the fear and imminence of a future aggression. That is
why the “unpresentable future” governs a rationality of a
permanent state of readiness and anticipation of all kinds of
repressive means in a sort of continuous state of defense that
most suitable to it within a certain situation. Derrida, in:
Borradori, Filosofia em Tempo de Terror: diálogos com
Jürgen Habermas e Jacques Derrida, 2004, p. 112-119. Also
about the troublesome concept of terrorism, see: Zaffaroni
(fn. 18) p. 65-69.
35
Towards a meaning of expropriation according to Derrida:
„an event is what emerges, and when it emerges, it emerges
to surprise me, to surprise and suspend the comprehension:
an event is most of all that which I do not understand. It consists of that, that which I do not understand: that which I do
not understand: my incomprehension. [...] Hence the inappropriabilty, the unpredictability, the absolute surprise, the
incomprehension, the misunderstanding laughter, the unforeseeable news, the purse singularity, the absence of horizon.”
(Derrida [fn. 34] p. 100 and 104.
36
Gauchet (Fn. 27), p. 363.
invents and feeds its own monstrosity that it alleges to exceed: “What will never be forgotten, thus, is the perverse
effect of self-immunity in itself. Now we know that repression, both in the psychoanalytic and political sense – be it
through the policy, the military or the economy, ultimately
produces, reproduces and regenerates the very thing it intended to disarm.”37 The dissolution of politics through collective
emotions exists in an atmosphere of universal war against
crime. The acclamation that makes it all homogeneous is
more viable. The appeal of power is sent to imaginary people
much more suitable to an ideology that presumably categorizes the plurality of the real people as ungovernable. The
empty place of power once supposed by Lefort38 as the principle of democracy, which must represent a perpetual democratic abstaining from accepting ultimate fundamentals
providing about last certainties, is easily filled today by any
punitive demand.
Agamben39 recalls that, in 1928, Carl Schmitt tried to establish the constituent meaning of the acclamations in public
law when dealing of the relationship of the People with the
Democratic Constitution in his Theory of the Constitution.
There the German theoretician indissolubly associates acclamation to democracy and to the public sphere (the people).
For him, the public opinion is a modern form of acclamation
and here is where the essence of its political meaning can be
found. Even not ignoring the dangers of certain social forces
driving the public opinion and the will of the people, this
would be a minor problem, provided the capacity that he
considered decisive for the political existence of the people is
assured:40 the categorical refoundation of politics from the
decision that distinguishes a friend from and enemy (Freund
und Feind).41
As stated by Agamben, it is the acclamation that seems to
belong to the tradition of authoritarianism, most of all, from
the layer of glory (the author’s core preoccupation)42 which,
37
Derrida (fn. 34), p. 106-109.
Lefort (fn. 27), p. 92-93.
39
Agamben, Il Regno e la Gloria, Per una genealogia teologica
dell´economia e del governo, Homo sacer, II. 2., 2009, p. 277279.
40
Schmitt, Teoría de la Constitución, 2001, p. 238 and 241.
41
Schmitt, Concepto de lo político, 2006, p. 31.
42
Power as a political government of men, traces of which
can be found in the researches of Foucault, is also the interest
of Agamben. In this regard, about the genealogy of governability, the government should be placed in its theological
locus in the trinity oikonomia. This provision, which we had
the opportunity to comment on, is conceived as a privileged
laboratory to observe the governmental machine. But it is on
the correlation between oikonomia and glory that it invests,
i.e., the question is asked: why does power need the glory and
what is the relationship between glory and economy? Thus,
between the power as government and effective management
and power as ceremonial and liturgical royalty, a vast field is
opened to identify Glory as the central arcane of power and
ask about the indissoluble connection that ties it to government and oikonomia. In short, we are faced with the acclama38
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Augusto Jobim do Amaral
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in modern democracies, was shifted to the ambit of public
opinion. What is in discussion, in short, is the multiplication
and the dissemination of the function of glory (with all the
hues of liturgy and ritual revamped) now concentrated on the
media, which means the effectiveness of acclamation. What
we have commented about some democracy of consensus
also begins to make sense. On the one hand, stressing even
more the position about the transformation of the democratic
institutions, we can see, according to the author, that the
theoreticians of the “communication-people” – such as Habermas43, who advocates a popular sovereignty totally emancipated from a “substantial people-subject”, but entirely resolved in private communicative processes which, according
to his idea of public sphere, regulate the flow of political
opinion and will formation – ultimately surrender the public
power to specialists and the media. One falls into a kind of
media-oriented and objective glory of social communication.44
The richness of the writing of the Italian professor lies in
the demonstration that both government by consent and social communication actually refer to acclamations: “il consenso può essere definito senza difficoltà, parafrasando la tesi
schmittiana sull´opinione pubblica, come ‘la forma moderna
dell´acclamazioneʼ” (poco importa che l´acclamazione sai
espressa da una moltitudine fisicamente presente, come in
Schmitt, o dal flusso delle procedure comunicative, come in
Habermas)45. Thus, the “society of the spectacle” takes on a
new meaning and strength. Glory ultimately becomes the
substance from which the politicity will take its criteria, and
where the people, either real or communicational, of the
contemporary consensual democracies ultimately lie. Which
warns us about the dangers of consensus in democracy, notably the media-oriented acclamations for punishment via, for
instance, the authoritarianism of human rights in criminal
law.
The populist theme carries the disquieting progress of a
democracy increasingly opposing to a disagreement of opinions. The tyranny of urgency regarding crime leads us to try
to shift especially the scenario of punitive populism, apart
from this own and proper will to punish, so we may obliquely
question the “reason” itself of a punitive desire or populist
acclamation for punishment which may somehow move these
practices in a general fashion. This helps us reduce the scale
and expand the field of vision so we can place, in a jointly
manner, apart from the phenomena of the political-criminal
tory and dexologic aspect of power, identifiable today in the
mass media and contemporary democracies by its government
by consent or consensus democracy. This somehow allows
for the capturing of the central void of the governmental
machine, getting closer to the thoughts of Lefort, the most
power-laden symbol, i.e., the empty throne, which is the very
symbol of Glory (Agamben [fn. 39], p. 187-284).
43
Habermas, Mudança Estrutural da Esfera Pública,
Investigações quanto a uma categoria da sociedade burguesa,
1984, p. 13-41.
44
Agamben (fn. 39), p. 279-280.
45
Agamben (fn. 39), p. 283.
actors and the juridical-penal actors, the social context even
more deeply under the same register.
For this purpose, with the help of Laclau, we can view
populism as a means to build politics, as it is a phenomenon
contained in the entire community space. Even though it is a
social rationale that goes through a number of phenomena,
our concern includes taking it by surprise in configurations
inherent to punitive demands. The rationale of populism and
the very method of formation of the collective identities go
through the assumption of support in the study of smaller
units, not groups, but demands. That is why one bestows
centrality upon affection as a constituent of any social tie. An
alternate view of populism may see it as a constant of political action. And its conceptual vagueness and imprecision
cannot get lost in a mere and crude political operation. On the
contrary, there is a performative act46 endowed with its own
rationale in the indetermination of populism, as it is this very
simplification that allows for the association of heterogeneous demands. Regarding these games of difference that gain a
hegemonic centrality, in the illustration of several penalizing
efforts in various fields, often with contradicting supporting
interests, they are catapulted to empty expressions (these are
the so-called juridical assets) that firmly tie up the chain of
punitive discourse. If populism is vague and undetermined at
this point, it is exactly to be endowed with internal cohesion
in the end.47
In this current, the social demands, when not met, because
of an institutional inability to solve them differentially, end
up potentializing a certain equivalent, shall we say “simplifying” load among them. Which ultimately forms a chain, a
unification of demands, in the case under analysis, easily
around the punitive question.48 Since the construction of the
people is a political act par excellence, the tour court policy –
in which the formation of opposing frontiers within the social
realm summoning new subjects and the productions of empty
expressions for the purpose of unifying equivalence chains in
a set of heterogeneous demands is essential – and the defining spirit of populism, and seemingly of any political intervention, one must exercise the critical patience of following
where these expressions may float to. More straightforwardly, one may ask: what if for the constitution of the people in
this empty expression certain contingency leads to penal
simplification? Aren’t the very provision of the Constitution,
in turn, and more broadly the value Democracy, within a
scenario of punitive ostentation conducted by a game of differences, the empty expressions ready to define a repressive
penal policy within this context? It should be said that there
is such centrality of the punitive power in the current constitutional democratic scheme that it is not risk to see the stage
of the relations of force, contingent historical articulation (in
the discontinuous succession of hegemonic formations) increasingly contain political identities ready to demand the
hegemony of the punitive discourse. In short, this is the stress
on populist trends and the answers have surfaced naturally.
46
Laclau, La razón populista, 2010, p. 32.
Laclau (fn. 46), p. 95.
48
Laclau (fn. 46), p. 99 and 102.
47
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The Penal Policy of Human Rights
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Recover the desire for liberty and not let it be buried by
punitive demands will never be an easy task. If in modern
democratic societies the greatest hazard, as described by
Christie,49 is not offense per se, but that the fight against it
leads to the worst forms of totalitarianism, consequently
resignation and pessimism cannot be greatly emphasized, let
alone in dark times. Not yielding in the discourse of resistance, which is also inherent to criminal law, escaping
from the Zeitgeist that was often used as an attempt to justify
the worst atrocities committed in decadent times, seems to be
the test to be taken repeatedly when facing the barriers overthrown by the State of Police.
49
Christie, La Industria Del Control Del Delito, ¿La Nueva
Forma de Holocausto?, 1993, p. 24.
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Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85
und in der Strafprozessordnung Italiens
Von Dr. Paola Maggio, Palermo
I. Die neueren italienischen Rechtsvorschriften: ein Überblick
Der italienische Gesetzgeber hat kürzlich die Entnahme von
biologischem Material reglementiert und eine nationale DNADatenbank eingerichtet (Gesetz vom 30.6.2009, Nr. 85, Autorisierung der Ratifizierung des Präsidenten der Republik für
den Beitritt zum Prümer Vertrag über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration). Dies wurde ermöglicht durch eine sorgfältige
Abwägung zwischen einer solchen Notwendigkeit positiver
Reglementierung des genetischen Profils, das für die strafrechtlichen Verfahren nützlich ist,1 um Straftäter zu ermitteln
einerseits, und der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Vertraulichkeit von personenbezogenen Daten andererseits2.
Die Notwendigkeit des Schutzes der Privatsphäre geht daraus klar hervor, insb. wenn man die Speicherung genetischer
Profile in Datenbanken betrachtet, die von dem Zentrallabor
typisiert werden (Art. 5-20 Gesetz Nr. 85/2009). Die Bedeutung des Gutes der persönlichen Freiheit wird besonders deutlich bei der Reglementierung der Entnahme biologischen
Materials und genetischer Tests, die von den Behörden während des gesamten Strafverfahrens angeordnet werden können
(Art. 24-29).3 Die beiden Kernpunkte des Gesetzes stellen die
Synthese zweier verschiedener Aspekte4 dar, wodurch die Ge-
1
Der Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale, Beschl.
v. 9.7.1996 – Nr. 238 = Cassazione penale 1997, 315), orientierte sich vor allem an dem Recht auf persönliche Freiheit
nach Art. 13 der Verfassung und erklärte Art. 224 Abs. 2 der
italie-nischen StPO für verfassungswidrig, in dem Ausmaß,
in dem er dem Richter erlaubt, im Rahmen der Ermittlung
Maßnahmen anzuordnen, die zwar in jedem Fall die persönliche Freiheit des Verdächtigen oder Beschuldigten oder eines
Dritten betreffen, aber „außerhalb der speziell vom Gesetz
vorgesehenen Fälle und Verfahren.“
2
Krit. äußerten sich über den tatsächlichen Erfolg dieser
Bilanz: Tonini, in: Tonini/Felicioni/Scarcella (Hrsg.), Banca
dati nazionale del DNA e prelievo biologico, Gli Speciali di
Diritto Penale e Processo, 2009, 3; ders., Diritto penale e
processo 2010, 884; Scarcella (Hrsg.), Prelievo del DNA e
Banca dati nazionale, 2009, passim; Marafioti/Luparia (Hrsg.),
Banca Dati e accertamento penale, 2010, passim; Giostra,
Giurisprudenza italiana 2010, 1217; Conti (Hrsg.), Scienza e
processo penale, 2011, passim.
3
Für eine solche Betrachtung s. im Kern Felicioni, in: Tonini/
Felicioni/Scarcella (Fn. 2), S. 6.
4
Die ursprüngliche Anomalie wird unterstrichen von Tonini,
Diritto penale e processo 2010, 883, wonach die zwei „Entitäten“ interne Konflikte schaffen. Insb. kollidiert die hohe
Aufmerksamkeit auf die strenge Vertraulichkeit mit dem niedrigen Wert des Beweisrechts, das dem Verteidiger zuerkannt
wird.
samtbetrachtung in einigen Punkten ein wenig unharmonisch
wirken mag.
Die italienische Adaption wurde, wenn man die auf eine
Änderung zielende Entscheidung des Verfassungsgerichts5 in
Betracht zieht, spät vorgenommen,6 denn das Verfassungsgericht hatte schon 1996 den Gesetzgeber aufgefordert, den
DNA-Beweis zu reglementieren. Mit der Verfassungswidrigkeit des Art. 224 Abs. 2 der italienischen StPO, hat das Verfassungsgericht beanstandet, dass es in der Praxis zur Gewohnheit geworden ist, die Zwangsentnahmen in die üblichen Maßnahmen der Ermittlung einzureihen, die der italienische Richter in Anwendung dieses Artikels anordnen kann.
In diesem bekannten Urteil hatte das italienische Verfassungsgericht besonderen Wert auf die Notwendigkeit gelegt,
die Verfahrensnotwendigkeiten und das Recht auf persönliche
Freiheit nach Art. 13 der italienischen Verfassung zu harmonisieren.
Zwar betonte die italienische Rechtslehre die Notwendigkeit, das Prozess-System unter Beachtung der unverzichtbaren
Garantien für den Angeklagten7 dem wissenschaftlichen Fortschritt anzupassen. Die Strafprozessordnung von 1988 hatte
aber nicht die Verwendung des DNA-Beweises vorgesehen.
In Folge der Feststellung der Rechtswidrigkeit durch das
Verfassungsgericht war in Italien die Bestimmung des genetischen Profils ausschließlich auf die Fälle beschränkt, in denen
es möglich war, die Probe im Wege der Einwilligung der betreffenden Person zu bekommen, oder durch die Sammlung
der zufällig hinterlassenen Spuren oder sogar durch eine Entnahme ohne Wissen der Person. Zum Beispiel wurde ein Serienmörder, der Täter vieler Straftaten war, durch die Analyse
seines Speichels auf der Tasse Kaffee in der Bar, die er meistens aufsuchte,8 identifiziert.
Erst 2005 griff aber der italienische Gesetzgeber zum ersten Mal ein, allerdings in nicht ganz konsequenter Weise.
Mit dem Gesetz vom 31.5.2005 – Nr. 155 konnte die Kriminalpolizei die Freiheit der Person beschränken, um zwecks
Identifizierung eine biologische Probe (Art. 349 Abs. 2 iStPO)
oder aber eine dringende Untersuchung anzuordnen (Art. 354
Abs. 3 iStPO). Dafür bedurfte es nur einer mündlichen Erklä-
5
Corte Costituzionale, Beschl. v. 9.7.1996 – Nr. 238 =
Cassazione penale 1997, 315. Zu diesem Thema s. Vigoni,
Rivista italiana di diritto e procedura penale 1996, 1022.
6
Giostra, Giurisprudenza italiana 2010, 1217 (1219).
7
Vassalli, Rivista italiana di diritto e procedura penale 1961,
55. Unter den wichtigsten Studien in diesem Bereich seien
erwähnt: Dominioni, La prova penale scientifica, Gli strumenti scientifico-tecnici nuovi o controversie di elevata specializzazione, 2005, 15 ff.; Lorusso, La prova penale, Bd. 1,
2008, 326. S.a. Conti, Rivista italiana di diritto e procedura
penale 2010, 1204.
8
Pinna, Corriere della sera v. 7.5.1998, S. 7, abrufbar unter
http://archiviostorico.corriere.it (20.1.2013).
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Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85
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rung der Staatsanwaltschaft, die jedoch schriftlich bestätigt
werden musste.
Die Besonderheit des Gesetzes bestand vor allem darin,
dass der Staatsanwalt in der direkten Ausübung dieser Befugnis gehemmt war. Die eklatante Verletzung der Garantie des
Schutzes vor Strafverfolgung in Art. 13 der italienischen Verfassung wurde durch die ausschließliche Verwendung der Entnahme zum Zweck der Identifikation ausgeglichen, wobei die
Voraussetzung der dringenden Notwendigkeit Bedenken hervorrief, da die Entnahme normalerweise nicht zeitgebunden ist.
Außerdem hemmte die legislative Lücke bezüglich der
Reglementierung einer nationalen DNA-Datenbank theoretisch eine Verwendung der Entnahme während eines Prozesses
durch einen Vergleich der Profile mit denjenigen, die in der
gleichen Datenbank aufbewahrt wurden. In der Praxis gab es
jedoch in den verschiedenen italienischen Polizei-Datenbanken
nicht vorschriftsmäßig aufbewahrte Daten, die es tatsächlich
erlaubten, Profile in einer Situation gesetzgeberischer Ineffizienz zu vergleichen und zu verwenden.9
Im Hintergrund stand die Einhaltung grundlegender Prinzipien der Freiheit, der Privatsphäre und der Gesundheit des
Einzelnen, die angesichts der Möglichkeit einer Nötigung des
Willens der betroffenen Person gefährdet waren. Ebenso offensichtlich bestand die Gefahr der Verletzung der Würde und
der Privatsphäre der Person.
Weitere internationale Mahnungen, die darauf drängten,
dem Prümer Vertrag beizutreten, bewirkten schließlich, dass
mit dem Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85, die Materie geregelt
wurde. Der italienische Gesetzgeber hat im Wesentlichen ein
System entwickelt, das sich auf Art. 13 Abs. 2 der Verfassung
bezieht und das die Garantie für den Schutz vor Strafverfolgung hinsichtlich aller freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
enthält. Der Richter ordnet mit einer Verfügung, die zu begründen ist, die Entnahme des biologischen Materials an, das
für den Sachverständigen für die Durchführung der Analyse
des genetischen Profils (Art. 224bis iStPO) erforderlich ist.
Die zwangsweise Entnahme ist nur dann zulässig, wenn dies
absolut notwendig für den Beweis einer Straftat ist, die vom
Gesetz als schwerwiegend festgelegt worden ist. Während des
Ermittlungsverfahrens beantragt der Staatsanwalt beim Gericht, wenn eine entsprechende Entnahme unerlässlich ist, deren Autorisierung durch den Richter (Art. 359bis Abs. 1
iStPO); in Eilfällen könnte die Notwendigkeit einer gerichtlichen Entscheidung zu schweren und irreparablen Beeinträchtigungen der staatsanwaltlichen Ermittlungen führen, und der
Staatsanwalt kann daher mit einer zu begründenden Verfügung
die Entnahme anordnen, in den nächsten 48 Stunden muss er
aber die Bestätigung der Verfügung bei Gericht beantragen
(Art. 359bis Abs. 2 iStPO). Art. 349 Abs. 2 iStPO erlaubt in-
9
Der Datenschutzbeauftragte hatte am 19.9.2007 die Notwendigkeit aufgezeigt, diese Thematik explizit und einheitlich
zu regulieren, damit gewährleistet sei, dass die größeren Chancen, die durch die Identifikation einzelner Personen im Strafverfahren gegeben sind, mit spezifischen, effektiven und unmissverständlichen Garantien zum Schutz der betroffenen Personen verbunden werden.
dessen der Kriminalpolizei, eine Zwangsentnahme anzuordnen, die lediglich der Identifizierung dient.
Im heiklen Spannungsfeld zwischen dem Interesse an der
Ermittlung von Straftaten und dem Schutz der Grundrechte
des Einzelnen ist es verboten, Maßnahmen durchzuführen, die
das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Gesundheit der Person sowie eines ungeborenen Kindes gefährden
könnten, oder nach medizinischen Erkenntnissen Leiden von
erheblichem Ausmaß verursachen könnten (Art. 224bis Abs. 4
iStPO). Es ist zwingend vorgeschrieben, alle Maßnahmen unter Beachtung der Würde und Privatsphäre derer, die Gegenstand dieser Untersuchungen sind, anzuordnen (Art. 224bis
Abs. 5 iStPO). Außerdem schreibt das Gesetz ein graduelles
Vorgehen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit vor: Bei
gleichem zu erwartendem Ergebnis müssen Techniken gewählt
werden, die einen möglichst geringen Eingriff im Hinblick
auf die körperliche Freiheit und auf die physische und die
psychische Unversehrtheit des Verdächtigen darstellen. Zudem
ist der Einsatz von Zwangsmitteln nur solange erlaubt, wie es
für eine Durchführung der Entnahme einer Probe unbedingt
nötig ist (Art. 224bis Abs. 6 iStPO).
Damit wird also das Kriterium der „minimalen Beeinträchtigung“ bestätigt, welches erfordert, unter verschiedenen
Optionen diejenige zu wählen, die den Rechten des Einzelnen10 den geringstmöglichen Schaden (minimum vulnus) zufügt.
II. Gemeinsame Kernfunktionen und unterschiedliche
Merkmale im Vergleich mit der deutschen Regelung
Auch wenn man die verschiedenen verfahrensrechtlichen Systeme in Deutschland und Italien klar unterscheidet, die durch
nicht immer vergleichbare Prozessformen charakterisiert sind,
ermöglicht die jüngste italienische Anpassung einen Vergleich11 mit der deutschen Gesetzgebung. Man kann bei einigen Themen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede entdecken, die auch im Hinblick auf das Ziel schrittweiser Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen von Interesse
sind.12
Viele Ähnlichkeiten lassen sich im Bereich der Definitionen finden. Die italienische Regelung, die in Art. 6 Gesetz
Nr. 85/2009 getroffen worden ist, enthält die Definitionen der
DNA, der biologischen Probe, des Profils, und der Beweisstücke. In Deutschland sind dagegen diese obengenannten
Begriffe nur implizit im Inhalt der Paragraphen §§ 81 ff. der
10
Giostra, Giurisprudenza italiana 2010, 1217 (1220).
Nach Donini, Il volto nuovo dell’illecito penale. La democrazia penale tra differenziazione e sussidiarietà, 2004, S. 189
ff., insb. S. 196, trägt der Vergleich, im modernen Sinne verstanden, dazu bei, Konzepte zu relativieren und sie in einen
historischen Kontext zu setzen, ohne dass man sich dadurch
jedoch das Ziel versperrt, Kategorien, die miteinander in Verbindung stehen, aufzubauen und strukturelle Analysen zu den
Fällen und Konzepten durchzuführen. Hierzu s.a: Moccia,
Comparazione giuridica e diritto europeo, 2005, S. 4 ff.
12
Zur Gültigkeit dieser Methode allgemein: Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht,
2009, passim.
11
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71
Paola Maggio
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deutschen StPO enthalten, wo auf die Spuren, auf das genetische Material, auf die biologischen Proben und auf die Untersuchungen Bezug genommen wird (§§ 81e, 81a, 81c StPO).
Der italienische Gesetzgeber und die deutsche StPO benutzen
somit im Wesentlichen ähnliche Begriffe.13 Wesentliche Gemeinsamkeiten findet man auch in den beiden Systemen,
wenn man das Augenmerk auf die Datenbanken und die für
die Kontrollen verantwortlichen Personen richtet.14
In Italien unterstehen die nationale DNA-Datenbank, die
sich im Innenministerium (Amt für öffentliche Sicherheit) befindet, und das Zentrallabor für die nationale DNA-Datenbank, das sich im Justizministerium (Amt für Gefängnisverwaltung) befindet, der jeweiligen Aufsicht des Datenschutzbeauftragten, und dem nationalen Komitee für Biosicherheit
und Biotechnologie. Diese Funktionen zielen im Wesentlichen
auf die Einhaltung der Bestimmungen über die Methoden zur
Analyse von Proben und biologischen Proben (Art. 11) sowie
auf die Modalität der Verarbeitung, des Datenzugriffs und der
Rückverfolgbarkeit von Proben (Art. 12).
Die Notwendigkeit der Professionalität des Personals und
der Geheimhaltung der Daten führte zur Einführung einer besonderen Dienstanweisung, die einem Beamten Strafe androht,
wenn er Daten oder Informationen entgegen den geltenden Gesetzesbestimmungen verwendet oder weitergibt (Art. 14 Gesetz Nr. 85/2009).
Es ist ausdrücklich vorgeschrieben, dass nur die DNA-Sequenzen, die nicht dazu geeignet sind, eventuelle pathologische Umstände einer Person zu identifizieren, Objekt der Analyse sein dürfen (Art. 11 Abs. 3 Gesetz Nr. 85/2009); in perfekter Analogie dazu verbietet das deutsche System gem. § 81g
Abs. 2 DNA-Profile zu benutzen, die anderen Zwecken als
denen strafrechtlicher Ermittlungen dienen, z.B. wenn es um
Erhebungen zur Person geht oder um Erhebungen zum genetischen Erbe des Täters.15 Wie schon erwähnt, wurde in Italien
der Erwerb einer biologischen Probe bzw. die Menge der zu
entnehmenden organischen Substanz einer untersuchten Person
bei Erstellung eines Gutachtens geregelt (Art. 224bis iStPO,
eingeführt durch Art. 24 Gesetz Nr. 85/2009), ebenso der Ablauf einer staatsanwaltlichen Ermittlung (Art. 359bis iStPO,
eingeführt durch Art. 25 Gesetz Nr. 85/2009). Wenn das Einverständnis des Betroffenen fehlt, schreibt die Regelung über
die Zwangsentnahme vor, dass der Richter die Entnahme anordnet, ggf. auch nachträglich.
Viele Zweifel ruft der Begriff des „Einverständnisses“ hervor, weil er eine Art Passepartout darstellen könnte, das es
ermöglicht, für jede Straftat eine Entnahme anzuordnen, auch
in Fällen von lediglich hinlänglicher Relevanz (und nicht nur
in solchen absoluter Notwendigkeit, wie sie für die Zwangsentnahme eigentlich erforderlich ist), und unter Missachtung
der Grenzen, die der Gesetzgeber für die erzwungene Entnah13
S.a. §§ 81e, 81h StPO. In § 81g Abs. 1 wird das „Modell
der DNA-Identifizierung“ in Betracht gezogen. Das deutsche
Strafrecht berücksichtigt den Schutz und die Behandlung von
Daten insbesondere im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG).
14
Man denke an den Datenschutzbeauftragen.
15
Nach § 81g Abs. 2 S. 2 StPO erlaubt es die Analyse, die
DNA und das Geschlecht zu identifizieren.
me gezogen hat, die von dem Schutz für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit geprägt sind.16
Dies weist Analogien zu dem üblichen Verfahren in
Deutschland auf, wo § 81g StPO eine Aufhebung des Schutzes
vor Strafverfolgung vorsieht, falls eine schriftliche Einwilligung der untersuchten Person vorliegt und diese Person vollständig über den Zweck informiert worden ist, der mit einer
Entnahme und der Speicherung der Daten verfolgt wird.
Ähnlich den Bestimmungen des deutschen Gesetzes, das
vorsieht, dass das organische Material, das erhoben und gesammelt wurde, durch Gutachter analysiert wird (§ 81 StPO
und § 244 Abs. 4 und 5 StPO), regelt das italienische System
das Verfahren. Die italienischen Sachverständigen müssen in
speziellen Registern eingetragen sein (Art. 221 iStPO), während die Staatsanwaltschaft und die privaten Parteien des Verfahrens das Recht haben, ihre eigenen Gutachter zu benennen
(Art. 225 iStPO).
Die Ergebnisse aller Untersuchungen werden in die mündliche Verhandlung eingeführt (Art. 501 iStPO). Das Ergebnis
des Gutachtens der DNA stellt einen Beweis dar,17 der nicht
für die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person, sondern
nur für deren Identität ausschlaggebend ist. Das Gericht muss
daher dieses Ergebnis sorgfältig vergleichen mit den zusätzlichen Ermittlungsergebnissen oder mit den Indizien, so dass
selbst dort, wo es einen Zusammenhang zwischen der Identität des Angeklagten und einer DNA-Spur gibt, nur gefolgert
werden kann, dass das Material vom Täter selbst stammt, nicht
auch, dass die Person selbst der Täter ist.18
Die Typisierung, die in Zukunft vor allem dem Nationallabor anvertraut werden soll, wurde in Italien bisher von qualifizierten Polizeibehörden durchgeführt (RIS Carabinieri, Spurensicherung). Die betroffenen Parteien können sich jedoch
weiterhin an Experten oder an private spezialisierte Firmen
wenden.
Bzgl. der biologischen Proben von nicht identifizierten Leichen oder Blutsverwandten von vermissten Personen wurde
in Italien die DNA-Typisierung und Identifikation derselben
mit dem Zweck vorgeschrieben, einen direkten19 oder indi-
16
S. Tonini, Diritto penale e processo 2010, 883 (886 ff.). In
der Rechtsprechung zum Konsens, der die Entnahme von
Proben des Angeklagten legitimiert, s. die Akten des Corte
Cassazine (Sekt. I), Urt. v. 23.10.2008, in: Cassazione penale
2009, 4349.
17
Ubertis, Cassazione penale 2008, 6; Marafioti, in: Marafioti/
Luparia (Fn. 2), S. 11. Analog dazu, Maiwald, in: Marini
(Hrsg.), Bioetica e diritto penale, 2002, S. 7.
18
Vgl. Richter des Ermittlungsverfahrens Brescia, Urt.
17.3.2010, nachzulesen auf der Internetseite der ital. Tageszeitung „La Repubblica“ (www.repubblica.it [20.1.2013]).
Die Maßnahme formuliert klar die Auswirkungen der Anwendung der DNA-Beweise und ihre Einbeziehung auf die
Überzeugung im Verfahren. Der Ausgang eines anderen sehr
be-kannten Gerichtsverfahrens in Italien wird interpretiert
von Caprioli, Cassazione penale 2009, S. 1867 ff.
19
Es sei auf die Leiche eines Toten verwiesen, die auf den
Hinweis eines Mitschuldigen aufgefunden wurde.
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Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85
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rekten20 Zusammenhang mit dem Strafverfahren herzustellen.
Eine solche Typisierung muss nicht vom zentralen Labor vorgenommen werden, da sie auch durch forensische Laboratorien, die die Ergebnisse ihrer Analyse der Datennationalbank
zusenden, durchgeführt werden kann.
In Italien wird das biologische Material von Verdächtigen,
Angeklagten oder Verurteilten, die in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt sind, von Gesetzes wegen auf direktem Wege
abgenommen, ohne dass es einer richterlicher Genehmigung
bedarf. Die Gründe für einen solchen Umgang mit Strafverfolgten sind nachzulesen im Bericht zum Gesetzesentwurf,
welcher zum Gesetz Nr. 85 aus dem Jahr 2009 führte. Sie implizieren eine Art „Absorption“ der Beschränkung des Rechts
auf Privatsphäre i.R.e. weitgehenden Unterdrückung der persönlichen Freiheit. Dieses Vorgehen sollte aber aus meiner
Sicht auch in parte qua das Recht auf einen Rechtsbehelf
gegen die Entscheidung beinhalten.
In Deutschland erfolgt nach dem Gesetz vom 12.8.2005
die einstweilige Entnahme in Folge richterlicher Anordnung
gem. den Vorschriften des § 81g (Genehmigung des Gerichts
oder in dringenden Fällen Anordnung der Staatsanwaltschaft
oder ihrer Hilfsbeamten), verbunden mit der Notwendigkeit,
die betroffene Person über den Zweck der Entnahme aufzuklären. Es gibt daher keine Differenzierung, die auf dem status
libertatis basiert. Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit
des Verfahrens nach § 81g StPO gelten unabhängig von der
Tatsache, ob die betroffene Person Angeklagter,21 in Untersuchungshaft oder bereits verurteilt ist, da die DNA-Analyse
in Deutschland tendenziell direkt darauf ausgerichtet ist,
künftige Straftaten zu vermeiden. Ein systematische Vergleich
der Unterschiede zeigt demgemäß: Der italienische Gesetzgeber erachtet es für notwendig, die DNA-Analyse je nach
Lage des Prozesses oder des Zustandes der von der Maßnahme
betroffenen Person zu regeln.
Ein allgemeines Gesetzesmerkmal sowohl in Italien als
auch in Deutschland ist hingegen der Bestimmtheitsgrundsatz.
Gerade in der italienischen Gesetzgebung sehen die Vorschriften vor, dass eine Entnahme typischerweise nur dann vorgenommen werden kann, wenn es sich um vorsätzliche Straftaten handelt, wenn es sich um begangene oder versuchte vorsätzliche Straftaten handelt, für die das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht oder für andere bestimmte Straftaten, die ausdrücklich im Gesetz festgelegt sind.22
Im Wesentlichen ähnlich geregelt scheinen in den italienischen und deutschen Systemen auch die Bedingungen für den
Zugang zu den nationalen DNA-Datenbanken. Dieser ist in
Italien der Kriminalpolizei und den Justizbehörden erlaubt,
ausschließlich für die persönliche Identifikation und für die
Zwecke der internationalen Polizeizusammenarbeit. Die betroffenen Parteien können zu den gleichen Zwecken Informationen, die in der nationalen DNA-Datenbank enthalten sind,
abfragen. Falls jedoch die Polizei einen Antrag stellt, ist die
Genehmigung des Gerichts erforderlich (Art. 12 Abs. 2 Gesetz Nr. 85/2009). Die italienische Rechtslehre, die die erneu-
erten Regelungen im Wesentlichen positiv beurteilt, hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass die Reglementierung
des Zugangs zur nationalen Datenbank und zum Zentrallabor
der DNA in der Tat nicht dazu beigetragen hat, die genetischen Profile in den Datenbanken, die bereits bei den verschiedenen Polizeibehörden existierten, einer Regelung darüber zu unterwerfen, wie die biologischen Proben aufbewahrt
werden sollten.23 Eine bedeutende Lücke im italienischen System bezieht sich also auf die fehlende Ordnung in der Kette
der Aufbewahrung, angesichts der schwerwiegenden Manipulationen, die vorkommen könnten und die die Ergebnisse
kompromittieren könnten.24
III. Die Verfahrensneuerungen
Wie oben ausgeführt, kann gemäß der jüngsten italienischen
Rechtsvorschriften die Entnahme von biologischen Proben
(Haare, Haut, Schleimhaut) bei lebenden Personen vom Staatsanwalt gemäß Art. 224bis iStPO angeordnet werden, auch
wenn die betroffene Person der Entnahme nicht zustimmt.
Die Ausführung kann auf zweierlei Weise erfolgen: In der
Regel muss der Staatsanwalt einen Antrag auf Ermittlungshandlungen beim Richter einreichen, der diesen bei Vorliegen
der genannten Voraussetzungen genehmigt (Abs. 1). In dringenden Fällen, wenn es Grund zu der Annahme gibt, dass die
Verzögerung zu schweren oder irreparablen Schädigungen
der Untersuchung führen kann, kann die Staatsanwaltschaft
die Durchführung mit einem mit Gründen versehenen Dekret
anordnen, das die gleichen Bestimmungen enthält, wie in
Art. 224bis Abs. 2 iStPO. Der Staatsanwalt verfügt dabei die
zwangsweise Vorführung, wenn die Person, die sich der Entnahme unterziehen muss, nicht vorstellig wird, ohne triftige
Gründe vorzubringen, oder er ordnet die Zwangsmaßnahme
an, wenn die Person sich weigert zu erscheinen.
Es gelten die rechtsstaatlichen Sicherungen die mit den
Vorkehrungen aus Art. 224bis iStPO im Zusammenhang stehen, und die Nichteinhaltung der Bedingungen führt zur prozessualen Nichtigkeit des Vorgangs und zu unverwertbaren
Ergebnissen. Die Palette der von einer eventuellen Entnahme
betroffenen Personen ist sehr breit, tatsächlich weist die im
ersten Absatz des Artikels 224bis iStPO, enthaltene Definition:
Person, „die sich der Untersuchung durch den Sachverständigen unterziehen muss“ eindeutig darauf hin, dass, außer dem
Angeklagten, diese Personen auch Dritte sein können, was
somit auf die Regelung in Art. 133 iStPO verweist, die die
Zwangsvorführung von anderen Personen als dem Beschuldigten regelt.
Der italienische Gesetzgeber hat vorgesehen (Art. 225bis
Abs. 2 lit. f iStPO), dass die Anordnung eines Gutachtens die
Modalitäten der Ermittlung und der Entnahme darzustellen
hat. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Bestimmung
bewirkt die Unverwertbarkeit der Ergebnisse. Nach Art. 72ter
disp. att. (d.h.: Anordnungen zur Durchführung) iStPO, muss
im Bericht über die Maßnahmen zur Entnahme der biologi23
20
Dies gilt für Funde infolge von Unglücksfällen.
21
§ 81g Abs. 4 StPO.
22
Art. 9 Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85.
Tonini (Fn. 2), S. 3.
Kürzlich hat der italienische Gerichtshof die unterlassene
Aufbewahrungskette sanktioniert: Corte Cassazione (Sekt. III),
Urt. v. 19.1.2010, Diritto penale e processo 2010, 1076.
24
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Paola Maggio
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schen Proben oder über die Durchführung der ärztlichen
Untersuchungen ausdrücklich erwähnt werden, ob die Person,
die einer Untersuchung unterzogen wird, eventuell ihre Zustimmung erteilt hat, wodurch sie jede Form von Zwang, der
sie ausgesetzt werden könnte, ausgeschlossen ist. In diesem
Fall leitet sich aus Art. 224b Abs. 2e und Abs. 6 iStPO, die
doppelte Modalität einer Zwangsentnahme ab, zu der eine
Zustimmungsverweigerung führen kann, nämlich, dass einerseits die betroffene Person unter Zwang einer Entnahme zugeführt wird, und andererseits die Zwangsvollstreckung der
Entnahme oder eine ärztliche Untersuchung vorgenommen
wird.25 Die relevanten Regelungen in Bezug auf die Anordnungen werden von Art. 224bis Abs. 2 iStPO, festgelegt und
dienen unter Androhung der Unverwertbarkeit dazu, alle Garantien zum Schutz der betroffenen Person zu verstärken. Die
Ungültigkeit ist von Art. 180 iStPO vorgesehen. Wird aber die
Person, gegen die ermittelt wird oder der Angeklagte durch
keinen Anwalt vertreten, so ist diese Ungültigkeit absolut gem.
Art. 224bis Abs. 7 iStPO.
Nach der neuen Gesetzeslage erscheinen verfahrensrechtliche Sanktionen für Verstöße gegen Anordnungen bei Entnahmen nicht völlig überzeugend. Während bei einer Zwangsentnahme, die den Untersuchungen des Sachverständigen
dient, die Nichteinhaltung der Anordnungen, was die Achtung
der Würde und die Entnahme betrifft, nicht sanktioniert wird,
wird bei einer Entnahme zu Ermittlungswecken die Unverwertbarkeit von Maßnahmen und die Unbenutzbarkeit von
Informationen, die so gewonnen wurden, gemäß Art. 359bis
Abs. 3 iStPO bestimmt.
Zusätzlich zur Gerichtsverhandlung, wo Gutachten in die
Beweiserhebung einbezogen werden können, hat Art. 392bis
iStPO, einen weiteren Fall vorgesehen, der streng genommen
nicht der Anforderung der Unaufschiebbarkeit entspricht.26
Um ein solches Gutachten einzuholen, müssen zwingend bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. In diesem Zusammenhang verfügt das Gericht die zwangsweise Beweisaufnahme
nur, insoweit das Gutachten für die Beweisführung absolut unverzichtbar ist.27
Die gesetzgeberische Entscheidung für ein derart restriktives Vorgehen hat die Möglichkeit für die Polizei eingeschränkt, zwangsweise Proben von Speichel oder Haaren zu
entnehmen. Dies ist ausschließlich zum Zwecke der Identifizierung der Verdächtigen möglich (Art. 349 Abs. 2bis iStPO).28
25
Das italienische Gesetz sieht auch vor, dass „der Einsatz
von körperlichem Zwang nur für die notwendige Zeit für die
Beurteilung der Entnahme oder der Ermittlung zulässig ist.“
26
S. die allgemeinen Beschreibungen des Instituts bei Cuomo/
Sciolfi, L’incidente probatorio, 2008, S. 20.
27
Man muss gegen jedes Verbrechen, das vorsätzlich oder
unbeabsichtigt begangen oder versucht worden ist, für das im
Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorgesehen
ist, vorgehen. Die Untersuchung muss außerdem in Bezug auf
die Erhebung von biologischem Material oder die Vornahme
medizinischer Tests angemessen und verhältnismäßig sein.
28
Das zitierte Gesetz von 2009 hat so die Möglichkeit der
Anordnung aufgehoben, die der Kriminalpolizei, mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft, die Zwangsentnahme von bio-
Nach der Änderung von Art. 349 Abs. 2 iStPO, eingeführt
durch Art. 10 d.l. 27.7.2005 – Nr. 144, konvertiert im Gesetz
v. 31.7.2005 – Nr. 155, ist die zwangsweise Erhebung des
biologischen Materials einer lebenden Person durch die Kriminalpolizei nur noch zur Identifizierung der Person gestattet.29 Diese Einschränkung kann aber den Zweifel an der Folgerichtigkeit der Reglementierung nicht überwinden, da die
Möglichkeit der Kriminalpolizei, Zwangsentnahmen durchzuführen, wenn auch nur zum Zwecke der Identifizierung, sich
nicht mit dem neuen Modell, das auf den Schutz vor Strafverfolgung gestützt ist, verträgt, insbesondere wenn man bedenkt,
dass die gleiche Macht der Staatsanwaltschaft nicht erteilt
wurde.
Die Gewinnung biologischen Materials von Personen oder
Sachen wird durch Art. 354 und 348 Abs. 4 iStPO geregelt,
sowohl für die Durchsuchung vor Ort als auch für die Handlungen oder Maßnahmen, die von den Polizeikräften durchgeführt werden, die mit besonderen technischen Möglichkeiten
ausgestattet sind.30 Da diese Tätigkeit sehr delikat ist, weil sie
oft auch das Ergebnis der gesamten Untersuchung des Falles
in Frage stellen kann, sollte sie jedoch de lege ferenda unter
Anwesenheit eines Rechtsbeistands während des Lokaltermins
stattfinden, unter ähnlichen Formalitäten wie sie für eine technische Ermittlung des Staatsanwalts vorgesehen sind. Nach
Art. 349 Abs. 2bis iStPO folgen die Regeln für die identifizierenden Proben jenen, die für die traditionellen fotografischen Erhebungen und Fingerabdruckuntersuchungen vorgesehen sind, auch wenn keine strenge Reihenfolge i.S.e. Vorzugs der ersteren Beweismittel gegenüber den letzteren erkennbar ist. Die italienische Polizei kann daher das biologische
Material von Dingen oder Orten erheben, während die Entnahme dieses Materials von Personen nur dann möglich sein
wird, wenn diese zustimmen.
Daher hat sich der italienische Gesetzgeber jüngst entschieden, die Vorschriften über die Erfassung und dringend durchzuführende Ermittlung zu regeln, die von der Polizei vorgenommen werden: Die Identifizierung des genetischen Profils
muss durch eine technische Untersuchung, einen Sachverständigenbericht oder ein Gutachten folgen (Art. 10 Gesetz Nr. 85/
2009).
Durch die Rechtsprechung hatte es jedoch schon vorher
eine Unterscheidung zwischen der Entnahme der Probe gegelogischem Material erlaubte (Art. 354 Abs. 3 iStPO). Diese
wird im Regelfall dem zuständigen Richter bei gerichtlichen
Gutachten oder Beweisanhörungen zugestanden.
29
Ein Überblick über die Änderung bei Spangher, Studium
iuris 2006, 40 (41).
30
S. Corte Cassazione (Sekt. II), Urt. v. 24.9.2008, C.E.D.
Cass., Leitsatz Nr. 242094, wonach die Entnahme von biologischen Spuren auf einem Objekt am Ort des Verbrechens
und die anschließende Analyse der DNA-Poly-morphismen
zur Identifizierung der genetischen Profile und für Vergleichszwecke verwendet werden können, wenn es nicht
möglich war, die Garantien für das defensive Vorgehen bei
einmaligen, unwiederholbaren Ermittlungsvorgängen durch
die Staatsanwaltschaft zu beobachten, sofern die Voruntersuchung gegen Unbekannt durchgeführt wurde.
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Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85
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ben, die als Sammlung oder Gewinnung von Daten verstanden wird, und der darauf folgenden technischen Beweisführung, die zu einer kritischen Auswertung und Beurteilung derselben führt.31 Die Möglichkeit, die Ermittlung zu wiederholen, hängt von der Menge des übrigen biologischen Materials
ab und spiegelt sich in ihrer Nutzbarkeit im Prozess.32
In der Kombination der Bestimmungen der Art. 224bis
und 72bis Abs. 2 disp. att. (d.h.: Anordnungen zur Durchführung) iStPO, in Italien durch das Gesetz Nr. 85/2009 eingeführt, wurden einige Voraussetzungen aufgestellt, die für die
Gewinnung von biologischem Material und die medizinischen
Ermittlungen bei Minderjährigen oder bei Personen, die unzurechnungsfähig oder unmündig sind, gelten. Für Kinder und
Unzurechnungsfähige oder Unmündige wurde ausdrücklich
festgelegt, dass sie der Zustimmung eines Elternteils oder eines Vormunds bedarf. Falls kein Vormund anwesend oder erreichbar ist, kommt es zu einem Interessenkonflikt, der dem
Gutachter unterbreitet werden muss. Der Vormund kann bei
den Untersuchungen und bei der Blutabnahme anwesend sein.
Im Hinblick auf Blutsverwandte,33 welche im italienischen
Rechtssystem einen ausdrücklichen Zeugenschutz genießen,
wurde im Zusammenhang mit den Verpflichtungen aus Art. 199
iStPO konsequenterweise analog die Möglichkeit vorgeschlagen, die Entnahme auf die Einwilligung des Betroffenen zu
stützen34.
Im Gegensatz zur deutschen Regelung (§ 81h StPO), hat
das Gesetz Nr. 85/2009 keine besonderen Regeln für einen
Massentest in Italien aufgestellt. Dies führte zu Kritik, wo es
um die Zwangsmaßnahmen geht, die Personen betreffen, welche in die Aufklärung einer Straftat einbezogen werden, wie
z.B. das Opfer, aber auch Verwandte oder Dritte, die völlig
fremd sind.35 In Ermangelung einer Unterscheidung zwischen
einem beschuldigten Dritten, Beschuldigtem oder Angeklag31
Ex plurimis Corte Cassazione (Sekt. I), Urt. v. 13.11.2007,
C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 239101. Laut Corte Cassazione.
(Sekt. I), Urt. v. 2.2.2005, C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 233448,
„geht es um ein Gutachten oder um eine unwiederholbare
technische Untersuchung, so ist die Entnahme der DNA des
Verdächtigen durch die Beschlagnahme von Gegenständen,
die seine Spuren enthalten, nicht als invasiv oder als den
Willen beugend zu betrachten. Bei den folgenden Vergleichungshandlungen durch den Gutachter ist es hingegen auf
alle Verteidigungsgarantien zu achten.“ In der italienischen
Lit. vgl. Giunchedi, Gli accertamenti tecnici irripetibili, Tra
prassi devianti e recupero della legalità, 2009, passim; Montagna, in: Gaito (Hrsg.), La prova pe-nale, Bd. 2, 2009, S. 51
(insbes. S. 58 ff.).
32
Vgl. Corte Cassazione (Sekt. I), Urt. v. 7.10.2005 – Leitsatz Nr. 39826; Giunchedi, Guida al diritto 17/2006, S. 107.
In Bezug auf andere Typologien s.a. Corte Cassazione (Sekt.
I), Urt. v. 1.12.2000, C.E.D. Cass., Leitsatz Nr. 219445.
33
In Bezug auf spezifische Probleme s.: Spriamo, Diritto penale e processo 2005, S. 347 ff.
34
Felicioni (Fn. 3), S. 18 ff.; Santosuosso/Gennari, Diritto
penale e processo 2007, 395 (400).
35
Felicioni (Fn. 3), S. 18 ff. S. jedoch die Zweifel bei Marafioti (Fn. 17), S. 7.
ten, ist die Regelung über das Recht, sich vom Anwalt seines
Vertrauens unterstützen zu lassen, nicht klar. Es scheint jedoch
vorteilhaft, dieses Recht in jedem Fall der geschädigten Person
zuzugestehen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Thematik – mit nachhaltigen
Auswirkungen auf beide Systeme – betrifft das zu entnehmende Material. Die italienische Gesetzgebung scheint hier einen
Mangel an Kohärenz zwischen den verschiedenen Bestimmungen aufzuweisen, die durch das Gesetz Nr. 85/2009 eingeführt worden sind: Im Falle der Entnahme bei Personen, die
in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt sind (Art. 9) bezieht sich das Gesetz in der Tat nur auf die Mundschleimhaut; im Fall der Identifizierung des Verdächtigen durch die
Polizei (Art. 349 Abs. 2bis iStPO), bezieht sich das Gesetz
nur auf den Speichel oder auf die Haare; was andererseits die
Maßnahmen des Gerichts (Art. 224bis iStPO) betrifft, so ist
die Reglementierung komplett, denn sie bezieht sich auf die
Haare, die Schamhaare oder die Schleimhaut des Mundes. Allerdings stellt die Entnahme der Mundschleimhaut, die von
den Mitarbeitern der Polizei oder einer Person des medizinischen Dienstes der Polizei durchgeführt wird, sicherlich einen
größeren Eingriff als die bloße Entnahme von Speichel dar;
außerdem ist sie noch nicht ausdrücklich in ihrer konkreten
Ausführung vom Gesetzgeber geregelt, der lediglich vorschreibt,
eine Niederschrift über die Entnahmen aufzusetzen und bei
der Entnahme bestimmte Vorsichtsmaßnahmen zu gewährleisten. Art. 9 Abs. 5 Gesetz Nr. 85/2009, ordnet über die Forderung eines Protokolls hinaus an, dass die „Maßnahmen tatsächlich unter Berücksichtigung der Würde und Privatsphäre
derjenigen, die diesen Maßnahmen ausgesetzt sind, durchgeführt werden.“36
Analogien gibt es hier in der deutschen Praxis, wo häufig
Körperzellen durch einen Abstrich der Mundschleimhaut37 entnommen werden, wobei diese Form der Entnahme von Speicheldrüsenzellen streng genommen nicht in den Bereich der
physischen Eingriffe fällt, mit der Folge, dass die Entnahme
auch von der Polizei durchgeführt werden kann, ohne notwendigerweise einen Arzt zu beteiligen. Wesentliche Voraussetzung
ist jedoch, dass die betroffene Person kooperiert; wenn sie die
Zusammenarbeit verweigert, wird sie sich einer zwangsweisen Blutentnahme durch einen Arzt stellen müssen.
Art. 224bis iStPO (eingeführt durch das Gesetz Nr. 85/
2009) enthält einen Verweis auf „medizinische Tests“, hält
aber nicht genauer fest, welche Inhalte diese Untersuchungen
haben, die nicht wenige Interpretationsprobleme aufgeworfen
haben. In der Vergangenheit wurde es in der Praxis zugelassen, Röntgenbilder (sie wurden auch durch den begleitenden
Bericht des Gesetzes 85/2009 zugelassen) oder Ultraschall36
EGMR (GK), Urt. v. 11.7.2006 – 54810/00 (Jalloh v.
Deutschland), Rn. 109.
37
Krause, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 2,
26. Aufl. 2008, § 81g Rn. 72. Es sind Entnahmen aus der
Nase, aus dem After oder der Vagina gestattet. Was den Samen des Angeklagten betrifft, ist es ratsam, ihn nicht zu benutzen, wenn man die Möglichkeit hat, andere Körpersubstanzen zu erhalten.
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aufnahmen zu verwenden (die jedoch von dem begleitenden
Bericht zu diesem Gesetz ausgeschlossen werden). Diese wurden bei verdächtigen Personen mit dem Ziel durchgeführt,
Verpackungen oder Hüllen, in denen Drogen versteckt waren,
gezielt zu finden. In diesem Punkt scheint der italienische
Gesetzgeber diejenigen weitverbreiteten juristischen Positionen berücksichtigt zu haben, die allerdings sehr umstritten
sind, welche die oben genannten Maßnahmen in die Gruppe
der Straftaten mit Freiheitsberaubung einreihen, bei denen eine Leibesvisitation38 durchgeführt wird, die mit Hilfe des medizinischen Personals erfolgt. Art. 224bis Abs. 4 iStPO, enthält
überdies ein ausdrückliches Verbot, im Falle von Gutachten
des Gerichts, von gesetzwidrigen Maßnahmen, welche das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Gesundheit der
Person oder des ungeborenen Kindes gefährden können oder
nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der Medizin zu erheblichen Schmerzen führen können. Wenn man diese Regelung
in Verbindung mit Art. 191 iStPO liest, kann man im Falle
einer Zuwiderhandlung die Nichtverwertbarkeit der Handlung
folgern. Art. 224bis Abs. 5 iStPO, erfordert auch, dass die
Maßnahmen „unter Achtung der Würde und der Privatsphäre
derjenigen durchgeführt werden, die diesen ausgesetzt sind.
Auf jeden Fall sind bei gleichem zu erwartenden Ergebnis
weniger einschneidende Techniken zu wählen.“
In vollkommener Übereinstimmung mit der Regelung des
italienischen Gesetzes Nr. 85 aus dem Jahr 2009 gibt es auf
der deutschen Seite einen weitgehenden Schutz für die Gesundheit des Beschuldigten (§ 81a Abs. 1 Nr. 2 StPO) sowie
für andere Rechtsgüter, die eng mit der Würde der Person
und der Respektierung der Privatsphäre in Verbindung stehen.
So werden z.B. Techniken ausgeschlossen, welche die Würde
des Menschen antasten, und zwar auch da, wo es sich um
körperliche Untersuchungen handelt, die an sich vom Standpunkt der körperlichen Integrität aus (wenn es sich nicht um
einen körperlichen Eingriff im eigentlichen Sinne handelt)39
ungefährlich sein sollen. § 81d StPO berücksichtigt die Eingriffe in den Intimbereich und bestimmt im spezifischen Fall,
dass entsprechende Maßnahmen von Personen durchgeführt
werden, die das gleiche Geschlecht wie der Angeklagte haben.
Die genannten Vorschriften nehmen Bezug auf die Systeme beider Länder und wurden vom Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte in einem bekannten Urteil bestätigt. Dieses Urteil kritisiert die Praxis in Deutschland, insofern es hier
eine Verletzung des Art. 3 EMRK sah. Bei dieser Gelegenheit
erfolgte eine Neubestimmung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Werte von Würde und Anstand. Das Gericht
sah diese Werte i.S.e. unmenschlichen und erniedrigenden Be38
Corte Cassazione (Sekt. IV), Urt v. 2.12.2005, Cassazione
penale 2006, S. 3555: „Was die Leibesvisitation betrifft, ist
die Röntgenaufnahme eine legitime Art der Ausführung derselben, die zwingend verwendet werden darf, sofern sie von
geschultem medizinischem Personal durchgeführt wird und
in Übereinstimmung mit dem Stand der Technik erfolgt;
davon nicht umfasst ist die Leibesvisitation im Körperinneren.“
39
Der Fall bezog sich auf eine Phallographie: Krause (Fn. 37),
§ 81a Rn. 56.
handlung40 als beeinträchtigt an. Im konkreten Fall wurde ein
Brechmittel gegen den Willen des Angeklagten verabreicht,
um ein Rauschgift, das vom Angeklagten verschluckt worden
war, zurückzugewinnen.
IV. Der Aufbewahrungszeitraum
Ein weiteres heikles Thema, bei dem der italienische Gesetzgeber eingegriffen hat, ist der Aufbewahrungszeitraum und
die Aufbewahrung der Proben und Profile. So fordert Art. 13
Abs. 2 des Gesetzes Nr. 85/2009, dass nach der Identifizierung einer Leiche oder der Überreste einer Leiche sowie nach
der Entdeckung einer vermissten Person von Amts wegen die
DNA-Profile gelöscht werden, die gem. Art. 7 Abs. 1 lit. c erfasst wurden, sowie die Zerstörung des dazugehörigen biologischen Materials. Was hingegen die Personen betrifft, die in
ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden, besteht von
Amts wegen die Notwendigkeit, das genetische Profil zu löschen und die biologischen Proben zu zerstören, wenn bei der
Entnahme ein Verstoß gegen die Anordnungen von Art. 9 begangen wurde. Art. 9 bezieht sich sowohl auf in die Straftat
verwickelte Personen als auch auf passiv Beteiligte der Ermittlungen und auf das Objekt der Entnahme sowie auf die
Modalitäten der Maßnahmen (Art. 13 Abs. 3). Es ist jedoch
nicht vorgesehen, dass die beteiligten Parteien das Recht haben, i.d.S. einen Antrag auf Löschung an das Gericht zu stellen. Die Löschung wird stets ex officio vorgenommen, und
zwar nach einem endgültigen Freispruch, weil kein Verbrechen
mehr anzunehmen ist oder weil der Angeklagte dieses Verbrechen nicht begangen hat oder weil sie vom Gesetz nicht
als Straftat definiert ist. In diesen Fällen ist es vorgeschrieben
die DNA-Profile zu löschen, die gem. Art. 9 Gesetz Nr. 85/
2009 erfasst wurden, sowie die Zerstörung der dazugehörigen
biologischen Proben (Art. 13 Abs. 1 Gesetz Nr. 85/ 2009) vorzunehmen.41 In allen anderen Fällen (Art. 13 Abs. 4) bleibt
das DNA-Profil in der nationalen DNA-Datenbank für den
Zeitraum gespeichert, der in der Durchführungsverordnung
festgelegt worden ist, in Absprache mit der Behörde für den
Schutz der persönlichen Daten, aber nicht länger als vierzig
Jahre nach dem letzten Umstand, der für die Eingliederung
der Daten bestimmend war; die biologische Probe wird für
den Zeitraum aufbewahrt, der in der Durchführungsverordnung bestimmt worden ist42, im Einvernehmen mit dem Datenschutzbeauftragten, und in keinem Fall länger als zwanzig
Jahre nach dem letzten Umstand, der zur Entnahme geführt
hat. Die Bestimmungen, die vom italienischen Gesetzgeber
eingeführt wurden, dürften durchaus der Verpflichtung entsprechen, die vom Ministerkomitee des Europarats in der Empfehlung R (92) v. 10.2.1992 formuliert wurde. Außerdem geben sie auch eine Antwort auf die präzisen Hinweise, die in
einem anderen wichtigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs
40
EGMR (GK), Urt. v. 11.7.2006 – 54810/00 (Jalloh v.
Deutschland), Rn. 109.
41
Es werden deshalb Freisprüche ausgeschlossen, die sich
z.B. auf die Verjährung einer Straftat stützen.
42
Bislang wurde in Italien die Reglementierung der Durchführung des DNA-Gesetzes noch nicht erlassen.
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Die Regelung der DNA-Untersuchung im italienischen Gesetz v. 30.6.2009 – Nr. 85
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zur Menschenrechtskonvention43 gegeben wurden, wo die Aufbewahrung der genetischen Daten in den Datenbanken einer
strengen Regelung unterworfen wurde. In der Tat legte der
Europäische Gerichtshof einen „angemessenen Zeitraum“ für
die Verfolgung der Zwecke fest, zu denen diese Daten archiviert wurden, mit dem Ziel eines Ausgleichs zwischen dem
notwendigen Einsatz von technischen Hilfsmitteln bei Ermittlungen und der gebotenen Achtung der Privat- und Familiensphäre, die in Art. 8 EMRK verankert ist. Auf der einen Seite
ist es in der Tat erlaubt, das Recht auf Schutz der persönlichen
und genetischen Daten dem Interesse an der „Bestrafung von
Straftaten“ hintanzustellen, gleichzeitig wurde jedoch angeordnet, strenge Kontrollen durchzuführen, um die Maßnahmen
der einzelnen Staaten zu überprüfen, die es erlauben, die Daten von Seiten der Behörden aufzubewahren und zu verwenden, ohne dass der Betroffene seine „Zustimmung“ gegeben
hat. Das Ergebnis war ein generelles Verbot von Formen allgemeiner und undifferenzierter Speicherung der Daten für alle
europäischen Verfahrensordnungen, ungeachtet der Schwere
der Straftaten, für die eine Person verantwortlich gemacht
wird und unabhängig vom Alter. Ebenso unzulässig ist die
unbegrenzte Speicherung von Daten, vor allem wenn es um
Personen geht, die in der Zwischenzeit von den Anschuldigungen freigesprochen worden sind.44 Allerdings hätte das Gesetz
Nr. 85/2009 eine noch intensivere und klarere Unterscheidung
machen müssen (insbes. im Hinblick auf die Datenbank und
das Zentrallabor) zwischen biologischen Proben und genetischem Profil, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die
biologische Probe eine Vielfalt von Merkmalen festzustellen
erlaubt und es gestattet, auch die Krankheiten einer Person
oder ihre Erbanlagen zurückzuverfolgen, im Gegensatz zu dem
genetischen Profil, das demgegenüber engere Verwendungszwecke hat, da es sich nur um einen Bruchteil der DNA handelt.45
Die reformierte Regelung sieht stattdessen nur die Zerstörung von biologischen Proben vor, aus denen im Laufe des
Verfahrens oder bei der Untersuchung und der technischen
Ermittlung, die von den Justizbehörden als Beweismittel angeordnet werden, genetische Profile typisiert wurden, während
es nicht das Schicksal des biologischen Materials und der
DNA-Profile reglementiert, die auf die lebende Person rück43
EGMR (GK), Urt. v. 4.12.2008 – 30562/04, 30566/04 (S.
und Marper v. Großbritannien) = Rivista italiana di diritto e
procedura penale 2009, 345; Sartoretti, Il diritto alla privacy
tra sicurezza e principio di proporzionalità, il punto di vista
della corte europea dei diritti dell’uomo = Diritto pubblico
comparato ed europeo 2009, 585. Diesbezüglich s.a. Canzio,
in: Scarcella (Fn. 2), S. S. 293.
44
Eine effektive Zusammenfassung der Entscheidung befindet
sich bei Chiavario, Diritto processuale penale, Profilo istituzionale, 5. Aufl. 2012, S. 404.
45
Tonini (Fn. 2), S. 4, ist der Meinung, die Beachtung der
Privatsphäre hätte das biologische Spurenmaterials intensiver
als das genetische Profils schützen müssen, denn das besagte
Spurenmaterial gelte als potentielle Quelle zahlreicher und
sensibler Informationen, während das genetische Profil hauptsächlich zur Identifizierung diene.
führbar sind. Analog dazu sind die Ergebnisse nicht biologischen Materials nicht reglementiert (und das daraus resultierende typisierte genetische Profil), das von der Kriminalpolizei
aufgenommen wurde, gem. Art. 349 Abs. 2bis iStPO.
In der Tat hat Art. 72quater Abs. 1 disp. att. (d.h.: Anordnungen zur Durchführung) iStPO die Zukunft der biologischen
Probe geregelt, die aus Entnahmen gem. Art. 224 und 359bis
iStPO stammt: Der Richter, der im Zuge einer Gutachtenserstellung eine Entnahme anordnet, muss die Zerstörung der biologischen Probe unmittelbar nach der Fertigstellung des Berichts anordnen, es sei denn, er hält es für unerlässlich, dass
das biologische Material gespeichert wird. In Italien ist somit
die Verpflichtung die Proben zu zerstören durch die Möglichkeit der Aufbewahrung stark beschränkt und durch das verschwommene Kriterium der Unentbehrlichkeit relativiert.
Die Modalitäten, wie die Profile Eingang in die nationale
Datenbank finden, sind im Wesentlichen zwei: Wenn das
Strafverfahren noch nicht eröffnet worden ist, ist die jeweilige
Justizbehörde (Staatsanwaltschaft oder Gericht) verpflichtet,
die genetischen Profile auf die Datenbank zu übertragen, die
für die Aufbewahrung und den Datenabgleich zuständig ist
(Art. 10 Abs. 1 Gesetz); wenn jedoch die DNA-Typisierung
noch nicht durchgeführt wurde und der Urteilsspruch rechtskräftig geworden ist oder ein Dekret zur Archivierung erlassen worden ist, muss die Staatsanwaltschaft, die beim vollstreckenden Gericht die Analyse der DNA beantragt, für die
Übersendung der biologischen Proben in ein qualifiziertes
Labor sorgen, wobei das Labor auf die Typisierung der Profile und die anschließende Übermittlung der Daten an die nationale DNA-Datenbank spezialisiert sein muss (Art. 10 Abs. 2
Gesetz). Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses
Verfahren wegen der Nichteinhaltung der Kriterien der Verhältnismäßigkeit und der Risikominimierung kritisiert werden kann. Denn so ist potenziell jedes Verbrechen betroffen
und die Rechte von Dritten, Opfern und Zeugen können beeinträchtigt werden.46 Darüber hinaus gibt es im italienischen
Gesetz Nr. 85/2009 eine erhebliche Gesetzeslücke, die von
Anfang an hervorgehoben worden ist, was die fehlende Regelung der Zukunft der genetischen Archive betrifft, die sich
von der Nationaldatenbank unterscheiden, und vor allem, was
die Aufbewahrung von Daten bei der Polizei betrifft oder in
anderen spezialisierten Laboratorien, die von der Justiz zugelassen worden sind.
Dies bestätigt die Risiken eines Missbrauchs von personenbezogenen Informationen, die aus der molekulargenetischen
Analyse stammen, und es zeigen sich zahlreiche Lücken im
Daten- und Personenschutz, die hinsichtlich dieses speziellen
Interesses bis auf den heutigen Tag bestehen.
46
Tonini (Diritto penale e processo 2010, 883 [888]), hat die
Reglementierung des Art. 10 Gesetz besonders hart kritisiert,
denn die in der Datenbank gespeicherte Profile sind sowieso
in den jeweiligen Prozessen identifizierbar.
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McMahan, Kann Töten gerecht sein?
Pawlik
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B uc hre ze ns io n
Jeff McMahan, Kann Töten gerecht sein?, Krieg und Ethik,
aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, 226 S., € 39,90
Sowohl in der Alltagsmoral als auch im Recht ist das Institut
der Notwehr fest verankert. Ein rechtswidriger Angriff bewirkt
danach eine normative Entwaffnung des Angreifers. Dieser
muss die zur Abwehr erforderlichen Gegenmaßnahmen dulden, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn er dadurch
seinerseits zu Tode kommt. Die gleiche normative Asymmetrie
zwischen Angreifern und Verteidigern sollte, wie der an der
Rutgers University lehrende Philosoph Jeff McMahan geltend
macht, auch im Krieg gelten, denn dieser sei als eine Art Notwehr im Großen aufzufassen. Keine legitimen Angriffsziele
stellten deshalb diejenigen Kombattanten dar, „die auschließlich deshalb kämpfen, um sich und andere unschuldige Menschen vor einer unrechtmäßigen Angriffsbedrohung zu schützen, und die, von den unrechtmäßig agierenden Aggressoren
abgesehen, niemanden bedrohen“. Die ungerechten Angreifer
seien demgegenüber zur Duldung der ihnen geleisteten Gegenwehr verpflichtet. „Eine Person kann kein Recht auf Verteidigung gegen eine drohende Schädigung haben, die zu erleiden
sie sich haftbar gemacht hat“, das gelte im Krieg nicht anders
als im Frieden.
Zwar könne die Verantwortung der angreifenden Soldaten
gemindert sein, sei es, weil sie im Fall einer Wehrdienstverweigerung empfindliche Strafen hinnehmen müssten, sei es,
weil sie aufgrund von Informationsmängeln die Ungerechtigkeit des von ihnen geführten Krieges verkennen. Aus diesem
Grund seien „die allermeisten der ungerechten Kombattanten
keine Verbrecher, weder im moralischen noch im rechtlichen
Sinne“. Von einem gänzlichen Fortfall ihrer moralischen Verantwortung könne wegen des hohen moralischen Unwertgehalts eines ungerechten Krieges jedoch allenfalls in Ausnahmefällen die Rede sein. „Das heißt also, dass es im Falle der ungerechten Kombattanten so gut wie immer eine Grundlage
für die Haftbarkeit gibt.“ Das Beste, was ungerechte Kombattanten tun könnten, sei deshalb, sich so rasch wie möglich zu
ergeben.
Der Argumentation McMahans liegt die Überzeugung zugrunde, es sei nicht nur begrifflich möglich, sondern sogar
ethisch geboten, zwischen gerechten und ungerechten Kriegen
zu unterscheiden. Das heutige Völkerrecht teilt diese Auffassung bekanntlich nicht. Statt das Verhältnis der Kombattanten
beider Seiten nach dem Muster der Notwehr zu konstruieren,
geht es von deren normativer Gleichheit aus. Solange die
Kombattanten die Regeln des ius in bello beachten, verhalten
sie sich demnach rechtmäßig, gleichgültig, auf welcher Seite
sie kämpfen. McMahan erkennt ausdrücklich an, dass es für
diese Sicht der Dinge gute Gründe gibt. Zum einen würde der
Verzicht auf die rechtliche Gleichstellung der Kombattanten
es der ungerechten, aber siegreichen Seite erleichtern, den von
ihr besiegten gerechten Kombattanten Strafen aufzuerlegen.
Zum anderen sei das völkerrechtliche ius in bello in erster
Linie daran interessiert, die kriegsbedingte Gewalt und Zerstörung in Grenzen zu halten. Da aber damit zu rechnen sei,
dass all das, was den Gerechten erlaubt sei, auch von den sich
selbst im Recht fühlenden Ungerechten getan werden würde,
sei es aus Gründen der Schadensbegrenzung sinnvoll, die
Handlungsspielräume beider Seiten möglichst eng zu fassen.
Diese Erwägungen dürfen McMahan zufolge jedoch nur
die rechtliche, nicht aber die ethische Bewertung kriegerischer
Auseinandersetzungen bestimmen. An die Stelle der „nahezu
ausschließlichen Beschäftigung mit den Folgen“, wie sie die
Perspektive des Kriegsvölkerrechts kennzeichne, habe die
Moralphilosophie vielmehr vorrangig die „Achtung vor den
Rechten“ der Betroffenen zu setzen. Wo Konsequentialismus
war, soll Kantianismus – oder was sich ein Amerikaner darunter vorstellt – werden, auf diese Formel läuft McMahans
Kritik an der Gleichstellung gerechter und ungerechter Kombattanten letztlich hinaus.
Damit macht McMahan es sich jedoch entschieden zu
einfach. Anfechtbar sind sowohl McMahans These, dass ein
Krieg in normativer Hinsicht einer Notwehrsituation entspreche, als auch seine Annahme, dass die Gleichstellung aller
Kombattanten den Rückgriff auf ein konsequentialistisches
Begründungsmodell erfordere. Krieg und Notwehr unterscheiden sich vielmehr erheblich. So erklärt sich die Weite des
Notwehrrechts daraus, dass dieses Recht ausschließlich das
Verhältnis zwischen Verteidiger und Angreifer betrifft, während zumal moderne Kriege massive Auswirkungen auf
Nichtkombattanten haben. Vor allem aber ist die Verantwortung der meisten ungerechten Kombattanten für den kriegerischen Konflikt weitaus geringer als die des Angreifers in einer
typischen Notwehrsituation. Wie oben erwähnt, spricht
McMahan diesen Umstand zwar an, seine Auswirkungen
sucht er jedoch zu minimieren. Die „Erreichung der gerechten Sache“ habe ein solches Gewicht, dass ihr gegenüber die
geminderte Verantwortlichkeit der angreifenden Soldaten in
aller Regel eine quantité negligeable darstelle.
Diese Behauptung ist allerdings ein drastisches Beispiel
jenes Konsequentialismus, dessen Überwindung McMahan
sich auf die Fahne geschrieben hat. In der Begründungslogik
eines kantianisch geprägten Ansatzes liegt es demgegenüber,
den Haftungsumfang der einzelnen Konfliktbeteiligten an
ihrer individuellen Verantwortlichkeit auszurichten. Der
Einsicht, dass die je individuellen Verantwortungsanteile der
Kombattanten beider Seiten sich zumeist nicht erheblich
voneinander unterscheiden, wird die Annahme eher gerecht,
dass sämtliche Konfliktbeteiligten gemeinsam dafür verantwortlich sind, die Kriegsschäden möglichst gering zu halten
und einen künftigen Friedensschluss nicht durch eine moralische oder gar strafrechtliche Brandmarkung der Gegenseite
zu erschweren. Darin äußert sich jenes Minimum an Solidarität, das selbst diejenigen, die rechtswidrig angegriffen werden,
ihren Kontrahenten schulden. Dies ist zugegebenermaßen ein
anspruchsvolles Ansinnen. Seine Erfüllung wird freilich
dadurch erleichtert, dass nicht nur Gründe der Moral, sondern
auch Klugheitserwägungen zu seinen Gunsten sprechen, denn
wer kann schon darauf rechnen, dass er stets auf der Seite der
Sieger stehen wird? Die Unterstellung sämtlicher Kombattanten unter ein einheitliches Verhaltensregime ist, so gesehen,
nichts anderes als der rechtstechnische Ausdruck jener Minimalsolidarität, die sie einander sogar in der Situation eines
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McMahan, Kann Töten gerecht sein?
Pawlik
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kriegerischen Konflikts schulden. Den äußerst begrenzten
Handlungsspielräumen der einzelnen Soldaten, auf deren
Knochen der Krieg schließlich ausgetragen wird, trägt dieses
Begründungsmodell allemal besser Rechnung als die allzu
abstrakte Notwehrkonstruktion McMahans.
Prof. Dr. Michael Pawlik, LL.M., Regensburg
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Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag
Paeffgen
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Manfred Heinrich/Christian Jäger/Hans Achenbach/Knut
Amelung/Wilfried Bottke/Bernhard Haffke/Bernd Schünemann/Jürgen Wolter (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am
15. Mai 2011, de Gryuter, Berlin 2011, 2000 S., € 399,Wer den Jubilar in jüngerer Zeit erlebt hat, mag nicht glauben, dass er im Jahr 2011 seinen 80. Geburtstag begangen hat.
Ohnehin ist allein sein „summing up“ als Nestor der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft am Ende von Tagungen
schon jede Reise – und manche Vortrags- und Diskussionsödnis – wert: In seiner unnachahmlichen Weise fasst er Vorträge und Debatte zusammen, glossiert sie, mit Charme und
Witz manchen Beitrag überzeichnend, eingehüllt in eine
Suada von Lob, angereichert mit versteckten Widerhaken wie
auch gelegentlicher Ironie – aber immer voller menschlicher
Wärme. An diesen extemporierten Auftritten könnte sich
mancher Rhetorikprofessor oder -coach eine dicke Scheibe
abschneiden – von den kollegialen Schrecken der Hörsäle
ganz zu schweigen.
Aber der schlagende Beleg für das schiere Faktum jenes
bemerkenswerten Ereignisses ist die Existenz der nachfolgend
vorzustellenden, zweibändigen Festschrift. An ihr haben, nachdem die Ehrengabe zum 70. Wiegenfest noch von den (zumeist) älteren Zunftgenossen bestritten wurde, nunmehr – bis
auf Ausnahmen namentlich aus seinem Schülerkreis – vornehmlich jüngere Kolleginnen und Kollegen und solche aus
dem Ausland mitgewirkt. Verlegerisch betreut wurde die
Festschrift, wie ihre Vorgängerin, vom Verlag de Gruyter,
was für eine gediegene, haptisch angenehme Ausgabe bürgt.
Kleiner Wermutstropfen ist lediglich, dass der Verlag sich
bemüßigt gefühlt hat, dem Zeitgeist (Stichwort „Eyecatcher“) hinterherzuhecheln, indem er das noble, graphisch
höchst gelungene, Firmenlogo auf den Rücken der beiden
Bände zu zwei „Goldflecken“ verhunzt hat.
Im Folgenden seien die Beiträge kurz aufgeführt – und, je
nach Neigung des Verf., gelegentlich mit kleinen Anmerkungen garniert, mal etwas gründlicher vorgestellt.
I. Den Reigen eröffnet Hörnle mit einem freundlichkritischen Blick auf „Claus Roxins straftheoretische[n] Ansatz“. Sie teilt den Roxinschen Ansatz, die negative Generalprävention in der Straftheorie beizubehalten, sie aber bei der
Strafzumessung durch den Schuldgrundsatz zu zähmen. Doch
will sie dieses Vorgehen anders, unter Rückgriff auf Hart,
begründen: Institutionen und deren Verteilungsregeln dürften
verschiedenen Grundsätzen folgen – und müssten es hier
sogar: Kriminalstrafe lasse sich durchaus präventiv konzipieren, ohne dass die konkrete Strafverhängung sich ähnlich
orientieren müsse. Dem folgt Prittwitz, Strafrecht als propria
ratio. Hier setzt er sich u.a. mit Haffkes Ablehnung des Strafrechts als „ultima ratio“ kritisch auseinander; Prittwitz
schreibt diesem Rechtsgebiet eine eigenständige Dimension
zu, die zwischen illiberaler (sicherheitversprechender) Kontrolldichte und liberaler Risiko-Akzeptanz changiere. Aber
Strafrecht sei per se riskant, weil es in Kauf nehme, übertreten
zu werden. Wenn man dieses Resultat nicht wolle, etwa im
atomaren Sicherheitsrecht, sei eigentlich kein Platz für diesen
Rechtstyp. Kindhäuser behandelt: „Wie man Verbrechen
vorbeugt“ – Zu Cesare Beccarias Konzeption der Kriminalprävention. Er ordnet Beccaria als frühen Kommunitaristen
ein, eine Sichtweise, die Kindhäuser als (gegenüber dem als
statisch klassifizierten Liberalismus) dynamische, an der
politischen Tugend ausgerichtete Sicht einstuft. Sie verstehe
sich als durch die konkrete Gesellschaft und Zeit geprägt.
Aus ihr erwachse die Obliegenheit zur Rechtstreue, sie zu
verfehlen, führe zur Schuld. Doch sieht Kindhäuser in dieser
Konzeption auch die Gefahr, dass sie eine bestimmte Gesinnung voraussetze, während er dem Recht nur die Aufgabe
vindiziert, nur die äußerliche Befolgung seiner Imperative zu
verlangen. Jiménez wendet sich einer „Annäherung an das
interkulturelle Fundament des Strafrechts“ zu. Jäger (Der
Feind als Paradigmenwechsel im Recht – Zu Existenz und
Tauglichkeit eines Feindstrafrechts als Mittel zur Verteidigung des Rechtsstaats) und ebenso Polaino-Orts (Grenzen
vorverlagerter Strafbarkeit: Feindstrafrecht) greifen das intensiv diskutierte Thema „Feindstrafrecht“ i.S.v. Jakobs auf.
Dabei wiegelt Jäger, bei grundsätzlich kritischer Tendenz,
freilich insoweit zu Unrecht ab, als er, nach Aufzählung allerlei polizeirechtlich konzipierter Befugnis-Erweiterungen
vermeint, noch gebe es kein „Feindstrafrecht“, weil das Recht
noch nicht direkt an den „Feind“ anknüpfe. Da lese ich §§
89a, 89b, 91, 129a, 129b StGB aber anders, von vielen Maßregel-Regeln ganz zu schweigen. Und Polaino-Orts widerspricht ihm denn auch – sachlich – sogleich, indem er eine
Eloge auf das „Feindstrafrecht“ hält und es nicht nur als
durchaus vorhandenes, sondern sogar rechtsstaatsverbürgendes (!) Recht ansieht. Partiell dreht sich um das „Feindstrafrecht“ auch der Beitrag von Wittig (Die Herausforderung des
liberalen Strafrechts durch die politische Philosophie Giorgio
Agambens), wenn auch in einem noch radikaleren Zugriff:
Der „heilige Mensch“, in Agambens Verständnis: der mit
einem Bann belegte Mensch, habe ein „heiliges“ Leben, weil
er zwar getötet, aber nicht geopfert werden dürfe. Dies verknüpft Agamben in dunkler Manier mit C. Schmitts Souveränitätsbegriff: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann,
ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das
Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist“. In verquaster
Assoziation erstreckt er diese Gedanken auf die Biopolitik
(etwa bei Hirntoten) oder KZ-Lagerinsassen („Lager als
nómos der Moderne“). Einleuchtend sieht Wittig diese Konzeption als noch radikaler als die von Jakobs an, weil der
Souverän, unabhängig vom Verhalten des Betroffenen, bestimme, wer homo sacer sei. Auch wenn ein Aufsatz nicht
reichen dürfte, um dem Konzept auch eines umstrittenen
Denkers gerecht zu werden, hat Wittig jedenfalls ihr Urteil
plausibel gemacht, Agamben sei in vielem „unklar“.
Es folgt ein erster deutlicher Themenschwerpunkt, der sich
um den „Rechtsgutsbegriff“ dreht:
Ab S. 131 („Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? – Zur Unverbrüchlichkeit des Rechtsgutsdogmas“)
bläst M. Heinrich zur unverzüglichen Verteidigung jenes
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Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag
Paeffgen
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Topos. Schon Roxin hatte in der Hassemer-Festschrift1 beklagt, dass namhafte Autoren den Rechtsgutsbegriff für untauglich zur Gesetzgebungskritik hielten; so Stratenwerth2,
Hirsch3 und Jakobs4. Heinrich reklamiert sodann eine „Verfeinerung“ des Rechtsgutsgedankens für sich, indem er die
selbstverständliche Teleologik des Rechtsgutsgedankens
(Was soll – für wen – wovor geschützt werden?) in ein „Dreistufenschema“ überhöht. Für eine Wiederbelebung des
Rechtsgutsgedankens, der durch die Inzestentscheidung des
BVerfG5 nur vordergründig als auch verfassungsrechtlich
belangreiche exegetische Potenz liquidiert erschien, spricht
sich auch Polaino Noverete aus (Rechtsgüterschutz versus
Bestätigung der Normgeltung?: Die Norm sei die Form, das
Rechtsgut der Inhalt) – beide Begriffe seien also notwendig
aufeinander angewiesen. Und auch Romano (Zur Legitimation der Strafgesetze – Zu Fähigkeit und Grenzen der Rechtsgutstheorie) bricht, zwischen beiden Vorgenannten, eine
Lanze für den Rechtsgutsgedanken, freilich schon etwas skeptischer. Auch Scheinfeld (Normschutz als Strafrechtsgut? –
Normentheoretische Überlegungen zum legitimen Strafen)
behandelt diese Thematik und wendet sich gegen BVerfGE
120, 224. Wie weit der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum reiche, sei gerade die zentrale Frage. Er veranschaulicht
die Problematik u.a. am Beispiel der Organentnahme bei
Anenzephalen, also Personen ohne Groß- und Mittelhirn. Das
Bundesverfassungsgericht6 hatte noch vermeint, in jenem
Inzest-Falle Stübing sei das Schutzgut „Familie“ nicht berührt.
Eine Bestrafung sei trotzdem verfassungskonform, weil die
Strafvorschrift „hier Gewicht“ gewinne durch die Absolutheit, mit der sie umfassende, situationsunabhängige Beachtung erheische. Roxin, heißblütiger Urteile gewiss unverdächtig, hat dies, vornehm in der Form, vernichtend in der Sache,
dahin charakterisiert: „das ist ein ernsthaft nicht vertretbarer
Gedanke“7. Jedenfalls macht Scheinfeld plausibel, dass der
Normschutz als Strafrechtsgut hochproblematisch ist. Da das
Thema gleichsam „in der Luft lag“, finden sich noch weitere
Beiträge zur Frage des „Rechtsguts“, so von Greco (Gibt es
Kriterien zur Postulierung eines kollektiven Rechtsguts).
Dieser stellt dazu folgende drei Regeln auf: (1) Wenn eine
1
Roxin, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 573 ff.
2
Stratenwerth, in: Eser (Hrsg.), Festschrift für Theodor
Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998. S. S. 377 ff.
3
Hirsch, in: Courakis (Hrsg.), Die Strafrechtswissenschaften
im 21. Jahrhundert, Festschrift für Professor Dr. Dionysios
Spinellis, 2001, S. 425 ff.
4
Jakobs, in: Shiibashi (Hrsg.), Festschrift für Seiji Saito, 2003,
S. 770 (S. 780 ff.).
5
BVerfGE 120, 224 (241 ff.); dagegen Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Vor § 32 Rn. 12.
6
BVerfGE 120, 224 (251).
7
Roxin, StV 2009, 549 (so auch schon in der Sache: Hörnle,
NJW 2008, 2087; zust. auch Scheinfeld, in: Heinrich/Jäger
u.a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für
Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, S. 183
[S. 195 ff.]).
Strafnorm ohne die Prämisse von der Existenz „kollektiver
Rechtsgüter“ nicht legitimierbar wäre, sei dies kein Grund,
ein solches Rechtsgut zu fordern. (2) Wenn eine Vielzahl von
Individuen ein Interesse am Schutz eines Gutes hätte, sei dies
gleichfalls kein Grund, ein „kollektives Rechtsgut“ zu fordern.
(3) Es sei unzulässig, ein „kollektives Rechtsgut“ zu fordern,
wenn die Beeinträchtigung dieses Rechtsgutes immer zugleich
die Beeinträchtigung eines Individualrechtsgutes voraussetze.
Damit hätte er – zumindest – eine Vielzahl von pseudo„kollektiven Rechtsgütern“ eliminiert. Volk (Gefühlte
Rechtsgüter?) spricht sich für eine Erweiterung des Rechtsgutsbegriffs auch in Richtung des Tabu-Schutzes aus, – mit
Rücksicht auf die „Behavioral Ecconomics“ (hier bezieht sich
Volk u.a. auf Kahnemann/ Tversky8). Er verweist darauf, dass
im Bereich der Wirtschaft auch unvernünftige Entscheidungen strafrechtlich geschützt seien. (Das gilt im Privaten an
sich nicht minder – wenn sich der Staat nicht zunehmend
bemüßigt fühlte, dem Bürger vorzuschreiben, was ihm fromme. Exzesshaftes Beispiel: der neuere Nichtraucherschutz.)
Volk sieht zwar (S. 222), dass, wer unvernünftig entscheide
und sich auf Gefühl und Intuition berufe, sich gleichwohl
wegen Untreue strafbar mache, wenn er andere schädige. Die
kühne und unerläutert bleibende These, die sich daran anschließt, lautet aber: „Der Schaden allein kann den Unterschied zum Gefährdungsdelikt nicht ausmachen – welche
Schäden „Unvernunft“ an den Kapitalmärkten zum Nachteil
anderer auszurichten vermag, weiß jeder. Argumentation mit
„Freiheit“ und „Schaden“ liefern keine Letztbegründung.“
Das hat aber auch noch nie einer behauptet: Stets geht es um
das Wie der Schadensgenerierung. Die Topoi, die die „Behavioral Ecconomics“ aufdecken, sind interessant, besagen, wie
Volk selbst einräumt, zunächst aber einmal „nicht viel“. Wer
sein (wohlmöglich Schwarz-)Geld in windige Anlagen steckt,
wird i.d.R: nicht strafrechtserheblich geschädigt („je höher
die Rendite, desto höher ist das Risiko!“). Wenn aber die
Banken im sog. Subprime-Markt Ramschpapiere an ahnungslose Kunden verhökert haben, wobei die Ratingagenturen
ihnen sogar noch Bestnoten verliehen hatten, ist es genau das,
was das Tun zu einem strafrechtserheblichen macht: ein für
die Kunden verschleiertes Glücksspiel mit garantiert schlechtem mittelfristigem Ausgang – um der Maximierung des
kurzfristigen eigenen Profits willen. Die Entdeckung jener
wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten hindern Volk freilich nicht, mit dem Jubilar, bereichsweise dem Tabuschutz
(Schutz „homogener Überzeugungen“) das Wort zureden. Es
ist dann nur nicht recht zu erkennen, was ein solchermaßen
ausgefranster „Rechtsgutsbegriff“ (vgl. dazu noch einmal Volk,
S. 224 f.) noch für eine wirkliche systemische Korrekturleistung gegenüber gesetzgeberischen „Begehrlichkeiten“ erbringen soll. Duttge (Strafbarkeit des Geschwisterinzestes aufgrund „eugenischer Gesichtspunkte“?) stellt zutreffend heraus,
dass für das Inzest-Urteil des BVerfGE die „ergänzend“ als
Strafgrund herangezogenen „eugenischen Gesichtspunkte“
(das strafbewehrte Inzestverbot lasse sich daher [auch] „unter
dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als
8
Kahnemann/Tversky, Prospect Theory, Econometrica, Vol.
47, No. 2 (March 1979), 263 ff.
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Heinrich u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag
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irrational ansehen, BVerfGE) in Wirklichkeit zentraler Argumentationsbaustein gewesen seien: Denn nur so sei erklärlich, wieso das Handlungsunrecht sich auf den Vollzug des
Beischlafes beschränke (was freilich nicht mit dem Umstand
richtig harmonisierbar ist, dass nur erwachsene Geschwister
sich dieser Tat strafbar machen können. Denn der Geschlechtsverkehr von z.B. 17jährigen birgt die gleichen Gefahren!?). Mit Recht betont Duttge, dass auch andere sexuelle
Handlungen zu „familienschädlichen Wirkungen“, Störungen
der „sozialen Rollenverteilung“ und des „familiären Ordnungsgefüges“ (BVerfG), – genauso wie freilich auch andere
sexuelle Handlungen – zu derartigen Wirkungen führen können. Mit Recht sieht er zudem den Aspekt aus dem Max
Planck-Gutachten völlig übergangen, dass der Inzest meist
nicht die Ursache, sondern die Folge zerrütteter Familien, sei.
Mit Roxin beanstandet Duttge, dass „unerfindlich“ bleibe,
„welche „Familie“ unter diesen Umständen überhaupt noch
geschädigt werden könne“. Mit berechtigtem Hohn fragt er,
ob allein die Intensität des staatlichen Zwangseingriffs auf
der Rechtfolgenseite bei ansonsten gleicher Werthaltung
(keine tolerierbare Fortpflanzung bei erwartenden erblichen
Schädigungen) den entscheidenden Unterschied zwischen
dem Erbgesundheitsgesetz vom 14.7.1933 und der heutigen
Rechtslage ausmache. Auch Duttge streicht heraus, dass ein
tiefer Graben in der Argumentation des BVerfG zwischen der
Sprechblase [H.-U. P.] vom Ultima-ratio-Prinzip für Androhung, Verhängung und Vollstreckung von Kriminalstrafe
(BVerfG: das Verhalten sei „in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders
dringlich“9) und dem Mittelsatz im gerichtlichen Syllogismus
sei, dass das Entstehen von Erbschäden „nicht ausgeschlossen werden könne“10. Hier vermisst Duttge mit Recht den
„hinreichenden Rechtsgutsbezug“, wie er verbreitet in der
Literatur gefordert wird, etwa von Roxin11, also ein substantielles, spezifisches Schädigungspotential für das jeweilige
Rechtsgut. Er verlangt mit v. Hirsch die Feststellung eines
„hinreichend manifesten“ Zurechnungszusammenhangs zwischen dem in Frage stehenden Verhalten einerseits und der
„möglichen Gefährdung oder Beeinträchtigung“ andererseits.
Mit Recht betont Duttge, dass jedenfalls nicht das Leid der
Eltern und der präsumtiven Kinder das BVerfG umgetrieben
haben könne, denn das neue Gendiagnostikgesetz lege die
Entscheidungsbefugnis über die Ermittlungen des erbbedingten Schädigungsrisikos ganz in das Belieben der präsumtiven
Eltern. Duttge sieht in dem Anders-Behandeln der geschwisterlichen Entscheidung einen Verstoß gegen die Einheit der
Rechtsordnung gegenüber der sonst betonten Autonomie der
präsumtiven Eltern, ob sie etwas über allfällige genetische
Defekte ihres Nachwuchses wissen wollten. Er betont noch
einmal die Unsicherheit des zugrundeliegenden statistischen
Materials für valide Aussagen über Schadensrisiken. Deswegen gelangt er zu dem Schluss, dass der sexuelle Verkehr bei
nicht ausschließbaren, unbekannten oder nicht leicht zu er9
BVerfGE 120, 224 (240).
BVerfGE 120, 224 (247).
11
Roxin (Fn. 1), S. 573 (S. 589).
10
kennenden Dispositionen zu entsprechenden Erbschäden ein
erlaubtes Risiko sei.
Es folgen Ontiveros Alonso (Die freie Entfaltung der Persönlichkeit – Ein würdevolles Rechtsgut in einem Rechtsstaat) und Peralta (Motive im Tatstrafrecht), ersterer mit
einem traurig stimmenden Blick auf die Verhältnisse in Mexiko, letzterer mit dem Vorschlag, sich von der Betrachtung
der Motive auch in der Strafzumessungslehre soweit zu lösen,
wie diese sich nicht im objektiven Tatbestand niederschlügen.
Es folgen drei Beiträge zu der strafrechtserheblichen Judikatur unseres „höchsten Laiengerichts“, wie ein renommierter Staatsrechtslehrer das BVerfG zu titulieren beliebte:
Hettinger (Auf einen Schelmen anderthalbe? – Zum Fehlgebrauch einer misslungenen Rechtsfigur) befasst sich mit
§ 244 Abs. 3 StGB n.F., der Einführung von „minderschweren
Fällen“ als vermeintlichem Kompensat für den ohnehin dogmatisch durch einen ignoranten, dafür aber immer in Eile
agierenden Strafgesetzgeber im 6. StrRRefG vollends verunklarten § 244 StGB (unter tätigem „Vorschub-Leisten“, wie
das in verquastem Juristen-Deutsch so schön heißt, durch das
BVerfG in re § 113 Abs. 2 StGB, wo man – nachdem man eine rigide Gesetzesdeutung eingestielt hatte, gleich die [scheinbar unverzichtbare] Ausflucht über eine Strafzumessungsregel
[unbenannter „besonders schwerer Fall“] andiente). Besonders
apart: Bevor man sehen kann, ob eine besonders milde Varietät vorliegt, muss man erst einmal die Tatbestandsmäßigkeit
feststellen. Die viel gerügte, völlig unnötige tatbestandliche
Unbestimmtheit wird also durch diesen (maßstabslosen) Zusatz nicht im Geringsten entschärft. Hettingers Philippika endet mit der – leider eher rhetorischen – Frage, ob der gesetzgeberische „Sinkflug“ anhalte. Man muss – sie voller Bedauern
– zutiefst bejahen!
Dannecker behandelt „Das Verbot unbestimmter Strafen:
Der Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich der Deliktsfolgen“
und behandelt dort ablehnend das Judikat des BVerfG zur
Verfassungswidrigkeit der Vermögensstrafe, indem er dem
Minderheitenvotum beispringt und dieses noch vertieft.
Schulz (Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz – Zur Entscheidung
des BVerfG vom 23. Juni 2010) befasst sich ebenfalls mit
einem BVerfG-Judikat, nämlich dem zur Verfassungsmäßigkeit des § 266 StGB. Er streicht heraus, dass das Gericht dem
Art. 103 Abs. 2 GG das Erfordernis der Vorhersehbarkeit von
präzisierenden Änderungen der Rechtsprechung entnehme
und sich behufs der für erforderlich gehaltenen Kontrolldichte eine Überprüfung der entsprechenden Obersätze vorbehalte. Mit Recht moniert er, dass sich das Gericht den Konsequenzen seiner Axiomatik aber partiell sogleich wieder entziehe, indem es dem BGH einen Vertretbarkeits-Spielraum
einräume. Er stellt die Argumentation in einen größeren methodologischen und historischen Zusammenhang und begrüßt
diese Entwicklung – auch vor dem europäischen Rechtshintergrund.
Als zweiter Block schließen sich Beiträge zum Allgemeinen Teil an: Tavares behandelt „Handlungseinheit und Konkurrenz bei nicht zweckorientiertem Handeln“: Auf der Basis
eines von ihm „performativ“ genannten Handlungsbegriffs, in
dem menschliches Verhalten als Kommunikationsverfahren
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zu verstehen sei, in dem sich die Objekte der äußeren Welt
„empirisch und normativ als Umstände der Verhaltensorientierung“ aufdrängten, definiert er Handlungseinheit als Situation, bei der der „Täter nicht bei jedem Akt des Handlungsvollzuges die Umstände seiner kleinen Lebenswelt in seinen
Orientierungsobjekten bzw. Risikoverfahren zu aktualisieren“
brauche. Serrano González de Murillo („Sonderwissen“ des
Handelnden und objektives Gefahrurteil“) betont das Erfordernis, bei dem Fragenkreis auf das abzuheben, was der Täter
gewusst habe – und nicht auf das, was er hätte wissen können. Sanchez-Ostiz fragt: „Ist die „objektive Zurechnung“
objektiv und zurechnend?“ und verneint dies, indem er zu
einer früheren, durch die modernen Zurechnungslehren (die er
als „bloße“ hermeneutische Bewertungen von bereits Zugerechnetem bezeichnet) „überwundenen“ Zurechnungslehre
zurückzukehren und eine Philosophie des Handelns zu erarbeiten empfiehlt. Kontrapunktisch singt Rotsch das hohe Lied
auf die normative Zurechnung: „Objektive Zurechnung bei
‚alternativer Kausalität‘“, die er freilich in manchem für
präzisierungsbedürftig hält. Er greift BGHSt 39, 195 auf, in
dem er den zweiten Schuss als Fall der vollendeten vorsätzlichen Tötung klassifiziert (gegen den BGH, der Versuch und
§ 222 StGB angenommen hatte). Wegen der Ex-postBeurteilung (und weil er die Kumulation der Teilmengen der
Giftgaben betrachtet) gelangt er in dem klassischen Beispielsfall der „alternativen Kausalität“ (unabhängige Verabreichung
von jeweils tödlichen Dosen Gift) zu jeweils versuchtem
§ 212 StGB/§ 211 StGB (wobei das Mischungsargument bei
unterschiedlichen Tötungstechniken natürlich versagt, dafür
aber schönerweise gleich die Anwendung des in dubio und
damit den Versuch „garantiert“). Jedenfalls lehnt Rotsch die
Unterscheidung zwischen kumulativer und alternativer Kausalität ab, weil es lediglich auf eine Ex-post-Betrachtung
ankomme. Wieso jedoch jemand, der mit Tötungsvorsatz eine
tötungstaugliche Technik einsetzt und auch einen Toten produziert, sich „Glückspilz“ (nämlich: bloßer Versuchstäter)
nennen dürfen soll, weil ein anderer just das gleiche tut, wird
nicht erläutert. Beckemper (Unvernunft als Zurechnungskriterium in den „Retterfällen“) hebt als Entscheidungskriterium
für die Strafbedürftigkeit auf die Schutzbedürftigkeit und
nicht auf die soziale Erwünschtheit des Rettungsverhaltens
ab. Dabei soll die Freiwilligkeit in Abhängigkeit von der
jeweiligen Norm gebildet werden, in normativierender Parallele zu Roxins Argumentation bei § 24 StGB. (Ergo: sinnvolle Rettungsversuche unterfielen der Rettungspflicht [incl. der
aus § 323c StGB], unvernünftige nicht). Aus der selbst aufgespannten Falle der Gleichbehandlung von Garanten- und
§ 323c StGB-Pflichten glaubt Beckemper mittels der Zumutbarkeit schlüpfen zu können. Stuckenberg greift das nämliche
Thema auf („‚Risikoabnahme‘ – Zur Begrenzung der Zurechnung in Retterfällen“) und nimmt dabei den jüngeren
gegen den älteren Roxin in Anspruch. Er hält mit jenem die
Trennung der Verantwortungsbereiche, die „Risikoabnahme“
durch Risikosozialisierung, für maßgeblich, um eine sich
perpetuierende Zurechnungskette unterbrechen zu können.
Die strafrechtliche Zurechnung von Retterschäden müsse
unterbleiben, weil sie sonst die Rettungstätigkeit stören könne, wobei er auch auf §§ 24 und 306e StGB verweist. Putzke
bejaht in: „Pflichtdelikte und objektive Zurechnung – Zum
Verhältnis der allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen zu
den Merkmalen des § 25 StGB“ zwar Pflichtdelikte, aber
versteht sie anders als der Jubilar: Die Pflichtenstellung besage nichts für die Täterschafts-Stellung. Täterschaft liege
immer dann vor, wenn sich der Akteur keines tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft handelnden Zwischengliedes
bediene, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. Zwar
erledigten sich dann manche Streitfragen nicht, würden aber
an die gebührende Stelle verschoben, – in die objektive Zurechnung. Wie er dann aber den Fall eines zwischengeschalteten „absichtslos-dolosen“ Werkzeugs in einen solchen Fall
einer Sonderpflichts-Verletzung umdeutet („es spricht nichts
gegen eine Zurechnung“), den mögen die „schiefen Worte“
und die Lokalisierung an der „falschen Stelle“ seitens der
h.M. nicht mehr ganz so zu schrecken. Widmaier (Der Zitronensaft-Fall – Zum Risikozusammenhang nach Aufklärungsmängeln bei der ärztlichen Heilbehandlung) bescheinigt
zunächst dem BGH in dem berühmt-berüchtigten Zitronensaft-Fall eine „erfrischende Entdramatisierung des Geschehens“. Anhand einer Abwandlung des Falles (Saft-Gabe
schon bei Schließung der OP-Wunde) veranschaulicht er
seine Forderung, dass bei einem Einsatz unüblicher ärztlicher
Techniken die Gefahr sich in spezifischer Weise im tödlichen
Verletzungserfolg niedergeschlagen haben müsse (Lehre vom
Schutzzweck der Norm i.S.v. Roxin). B. Heinrich (Der Irrtum
über normative Tatbestandsmerkmale) lehnt in seinem Beitrag einen solchen Irrtum als Fall des § 16 StGB ab und unterwirft ihn dem § 17 StGB. Auch andere Topoi in jene Richtung (Parallelwertung in der Laiensphäre/Kenntnis des Begriffskerns/des sozialen Sinns) verwirft er als zu schwammig
und vermeint mit dem „Irrtum über einen tatsächlichen Umstand“ einen klaren und klar begrenzten Gegenstand des § 16
StGB ausgemacht zu haben. Nun mag man zugestehen, dass
die Abgrenzung von deskriptiven und normativen Merkmalen
schwierig ist – und manche Lösung der h.M., wie Heinrich
zuzubilligen ist, etwas Gewolltes an sich hat. Aber wie man
bei Begriffen wie „Ehre“, „Urkunde“, ja sogar bei „üble,
unangemessene Behandlung“ dieser Dimension stringent
glaubt entraten zu können, ohne die hermeneutische Sinndimension auszublenden, erscheint zweifelhaft. Es ist schon so,
dass, wie bei Midas, dem alles, was er berührte, zu Gold
wurde, alles, was das Recht „anfasst“ (das scheint mir Heinrich [S. 457], zu bagatellisieren), zumindest auch zu etwas
Normativem wird. Wieder anders (und wohl genau gegenteilig) sieht Papathanasiou das nämliche Problem in ihrem
Beitrag „Die Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters – Vorschlag
eines verfassungsbezogenen Kriteriums als Alternative zur
Parallelwertung in der Laiensphäre“. Der Titel offenbar ihre
Zielvorstellung: Im Verständnishorizont des Täters müsse
sich die gesetzgeberische Grundentscheidung hinsichtlich des
Tatbestandsmerkmals widerspiegeln. Das ist eine gewisse
Präzisierung. Wenn Papathanasiou das freilich an der Entscheidung BGH NJW 2007, 524 exemplifiziert, so kann man
an der Leistungsfähigkeit der These schon wieder zweifeln.
Dort hatte der BGH ohne Skrupel „Pilze“ unter die Pflanzen
gezählt und damit – sektoral – dem BtMG zu unterwerfen
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vermocht. Diese wortlautsprengende Auslegung wurde mit
dem besonders eindrucksvollen Argument gestützt, man
kaufe Pilze auch gemeinhin beim Obst- und Gemüsehändler.
In der Konsequenz dieser „Logik“ dürfte man auch Zigaretten und Zeitungen als Pflanzen einstufen, – weil man diese
auch bei vielen Gemüsehändler feilgeboten findet. Rönnau
(Zur Lehre vom bedingten Einverständnis) will sich gleichfalls von Willensfiktionen der h.M. lösen und stärker auf
objektive Komponenten, etwa des Wegnahmebegriffs, abheben. Etwa bei der missbräuchlichen Automaten-Nutzung
fehle es an der diebstahlstypischen Friedensstörung, weil der
Nutzer „nicht ‚sozial inadäquat‘“ in einen „gleichsam ‚für
Eingriffe geöffneten‘ Herrschaftsbereich“ eindringe. Dass das
sozial adäquat sein soll, erscheint mir mehr als zweifelhaft –
dass es von der Risikoaufteilung angemessen ist, nicht: Wer
sich der Automatisierung bedient (um nicht persönlich anwesend sein und selbst Überwachungsdienste leisten zu müssen), muss sich die Folgen seiner „Bequemlichkeit“ entgegenhalten lassen.
Es folgt ein weiterer Schwerpunkt mit Einwilligungsfragen
aus dem medizinischen Bereich:
Cancio Meliá eröffnet mit: „Autonomie und Einwilligung
bei ärztlicher Heilbehandlung – Eine Skizze aus spanischer
Perspektive“. Er stellt das spanische Patientenautonomie-Gesetz vor. Vieles entspricht der deutschen Rechts-/Rechtsprechungslage, wenngleich der Autonomie-Schutz in den §§ 223
ff. StGB nicht ganz unstreitig ist. Dabei sei die Autonomie
aber oft in einen Kampf mit paternalistischen Zügen vermeintlich verobjektivierter Patienteninteressen verstrickt.
Böse (Zur Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen einwilligungsunfähiger Erwachsener) macht den Willen des Betroffenen stark, indem er ihm eine Veto-Macht einräumt, die lediglich bei Todes- oder der Gefahr erheblicher Gesundheitsbeeinträchtigungen von der Betreuer-Entscheidung majorisiert
werde und sogar Zwangsanwendung gestatten könne. Ebenfalls mit den §§ 1901a ff. BGB befasst sich Sternberg-Lieben
(Gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung: offene Fragen im Strafrecht, insbesondere bei Verstoß gegen die prozeduralen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB). Seine (plausible)
These: Verstieße ein Arzt, ein Patientenvertreter (und mutmaßlich selbst ein Dritter) gegen die prozeduralen Anforderungen
der §§ 1901a ff. BGB, so mache er sich nicht strafbar, wenn
er nur der Patientenverfügung folge, wohl aber (nach §§ 223
ff. StGB), wer eine verfügungswidrige Weiterbehandlung verantworte – entgegen entsprechender (interessegeleiteter) Begleitmusik aus mancher Ärzteposaune.
Der Sterbehilfe wenden sich gleich mehrere Autoren zu:
Fischer (der selbst an der bekannten Putz-Entscheidung12 mitgewirkt hat), weist in „Direkte Sterbehilfe – Anmerkung zur
Privatisierung des Lebensschutzes“ noch einmal – mit Recht
– darauf hin, dass die unbeabsichtigte Inkaufnahme von tödlichen Folgen einer Behandlung nichts an der Vorsätzlichkeit
der Tötung ändere. Er betont andererseits die Maßgeblichkeit
der Privatautonomie, hält – mit Recht – die Unterscheidung
von „aktiver“ und „passiver“ Sterbehilfe für „überholt und
irreführend“ und regt an, § 216 StGB in seiner Absolutheit
12
BGHSt 55, 191.
intensiver zu diskutieren (namentlich in Situationen faktischer Unmöglichkeit für den Patienten, sich selbst zu töten).
Rosenau (Aktive Sterbehilfe) spricht sich sogar dezidiert für
eine – begrenzte – Freigabe der aktiven Sterbehilfe aus, obwohl er meint, dass diese Fälle sich bereits über § 34 StGB
erfassen ließen. Doch wegen der Komplexität der Argumentation und der Umstrittenheit der Frage befürwortet er eine
ausdrückliche gesetzliche Regelung. Während mir die Analogie zu § 34 StGB die Möglichkeiten dieses Instrumentes zu
sprengen scheinen, ist der Tendenz der Argumentation, durchaus auch aus den aufgeführten Gründen, uneingeschränkt beizutreten. Auch Joerden knüpft an jenes o.a. Judikat mit einer
Betrachtung eines methodologischen Aspektes an: „Die neue
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und
der Knobe-Effekt“. Zunächst sieht er, mit dem BGH, keine
Möglichkeit, die §§ 1901a ff. BGB als Rechtfertigung zu deuten. Er entnimmt dem o.a. Judikat eine teleologische Restriktion des § 216 StGB im Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Sodann unterscheidet er, traditionell, zwischen Verhaltens- und Zurechnungsregeln. Dieser Sicht stellt er eine gegenläufige Sicht entgegen, in der die Begriffe von ihren Bewertungsgegenständen her bestimmt werden, etwa in der experimentellen Philosophie. Joerden veranschaulicht dies an einem
Beispiel, das jenen Knobe-Effekt veranschaulicht, in dem Beurteiler eines ähnlich gelagerten Falls die subjektive Haltung
eines Protagonisten mal als vorsätzlich und mal als unvorsätzlich einstufen, je nachdem, ob er etwas (für Dritte) Nachteiliges oder etwas Vorteilhaftes in Aussicht nimmt. Joerden fragt
sich, warum der Begriff des Eventualvorsatzes bei supererogatorischem („überpflichtgemäßem“) Verhalten nicht parallelisiert wird und sieht den Grund in der Unterschiedlichkeit
der Situationen: hie Straftat/dort Supererogation. Ähnliches
sieht Joerden in der Argumentation des BGH, sieht aber
auch, dass es für eine methodisch stringente Auflösung eine
gesetzgeberische Entscheidung à la § 214 AE-Sterbebegleitung geben müsste. Núñez Paz (Zur Straferheblichkeit des
Abbruchs der ärztlichen Behandlung in irreversiblen vegetativen Stadien) argumentiert in die nämliche Richtung – auf
der Basis von rechtsvergleichenden Betrachtungen. Ein weiterer Akzent liegt, aus gegebenem Anlass, auf der Frage nach
der Legitimierbarkeit von Folter. Den Reigen eröffnet Gómez
Navajas (Darf der Staat foltern?) der die Frage noch knapp,
aber plausibel, verneint. Mitsch (Verhinderung lebensrettender Folter) schlägt sich bekanntlich auf die Gegenseite. In
seinem Beitrag glaubt er ein zusätzliches Argument für seine
Sicht über die Überlegung zu finden, ob derjenige strafrechtlich für den Tod des Opfers verantwortlich sei, der es unterlasse, das Leben des Opfers durch Anwendung von Folter zu
retten. (Gegenposition etwa: Lüderssen und der Jubilar).
Ähnliche Überlegungen wie bei Mitsch finden sich schon bei
Erb oder Merkel. Schlüsselsatz, und gleichwohl in der Argumentation mir dunkel geblieben, ist S. 646: „Dass ohne das
normative Korrektiv der objektiven Zurechnung an der objektiven Tatbestandsmäßigkeit des folter- und rettungsverhindernden Verhaltens als Totschlag oder gar Mord nicht gezweifelt werden kann“. Wie das Verhindern von verbotswidrigem Verhalten, ob nun mit oder ohne „objektive Zurechnung“, in irgendeiner rechtlich belangreichen Form objektiv
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tatbestandsmäßig sein kann, ist mir offengestanden nicht
recht nachvollziehbar. Der kruziale Punkt bleibt immer, ob es
irgendeine Rechtfertigung für die Folter geben kann. Mit
Rücksicht auf Art. 1 Abs. 1 GG stellt Mitsch die These auf,
einen Schutz des abstrakten Prinzips „Folterverbot“ um jeden
Preis dürfe es nicht geben“ (S. 649/650). Dem folgt die zweite These: „Richtiger Ansicht nach ist die Menschenwürde
nicht abwägungsresistent“ (Mitsch, S. 650 – gegen Roxin
[und auch meine Sicht13]). Bei der Abwägung erscheint
Mitsch als gewichtiger Abwägungsfaktor das im extremen
Maß rechtswidrige Vorverhalten des Gefolterten: „Warum an
der Menschenwürde des Entführers ein wesentlich höheres
Erhaltungsinteresse bestehen soll als an der des Entführten,
ist nach allem nicht einzusehen.“ „Deswegen könne die Tötung des Entführten auch nicht durch Notstand gerechtfertigt
werden“ (S. 651). Ab dann diskutiert Mitsch die Frage der
normativen Zurechenbarkeit. Er rekurriert dabei auf die beiden Topoi „unerlaubtes Risiko“ und „adäquate Verwirklichung dieses Risikos im eingetretenen Erfolg“ als Kriterien
für die objektive Zurechenbarkeit (S. 652/653). Er betont,
dass der Folterverhinderer die Risikolage nicht geschaffen
hat. Deswegen generiert er ein „‚sekundäres‘ Risiko“, durch
welches weder das Primärrisiko ersetzt noch dessen Verwirklichung verhindert worden sei, in Anlehnung an Renzikowski.
Zentralbegriff sei das Zerstören einer Chance, wobei Mitsch
sieht, dass es sich (nach h.M.) um eine „unerlaubte Rettungschance“ handelt (S. 653). Angesichts dessen kommt Mitsch –
im Wege eines argumentum ad absurdum – zu dem Ergebnis
der h.M., dass eine Verhinderung der Rettungsfolter nicht
sein dürfe – wegen deren Prämisse, dass jene selbst ihrerseits
rechtswidrig sei. Da er diese Prämisse aber nicht teilt, ist sein
Fazit (S. 655), dass die Folter zur Lebensrettung straflos sei
und die Verhinderung dieser Rettungsfolter daher strafbar.
Engländer (Die Pflicht zur Notwehrhilfe) entnimmt (S. 658
f.) – mit Stimmen aus der Rechtsprechung und der Literatur
und gleichwohl erstaunlicherweise – dem § 323c StGB die
Pflicht (Pflichtengefälle [?]), bestmögliche Hilfe zu leisten
(die Worte betreffs des Gebotenen changieren: „wirksamste“/„optimale“). (Bei einem Garanten ist dies sicher unumstritten). Sodann diskutiert Engländer Zumutbarkeitsfragen,
die einige erst der Schuld zuordnen. Dies hält Engländer in
den Fällen der Kollision gleichrangiger Interessen für unzutreffend (S. 661/662). Er sieht allerdings darin auch keinen
Tatbestandsausschluss, wie andere Stimmen, sondern, mit
weiteren Autoren, ein Rechtfertigungsproblem (Aufhebung
eines tatbestandlichen Handlungsgebots). Die Rechtfertigung
des Unterlassens der erforderlichen Notwehrhilfe seitens
eines Garanten bestimme sich nach § 34 StGB. Ab S. 665
diskutiert Engländer, wie es sich bei für den Nothelfer ungefährlicher Notwehrhilfe verhalte. Im konkreten Fall müsste
etwa ein Wachmann einen Dieb niederschießen, wenn er
anders das Eigentum seines Geschäftsherrn nicht retten könnte (S. 695). Engländer stört, dass die Verpflichtung des privaten Nothelfers dann erheblich über die der staatlichen Gefahrenabwehrorgane hinausginge (vgl. Art. 4 Abs. 2 BayPAG).
Entgegen manchen Stimmen der Literatur, auch des Jubilars,
13
Vgl. Paeffgen (Fn. 5), Vor § 32 Rn. 151.
lehnt Engländer § 32 StGB als hoheitliche Eingriffsgrundlage ab (§ 32 StGB genügt nicht den verfassungsrechtlichen
Anforderungen einer gefahrenabwehrrechtlichen Befugnisnorm, S. 666). Dann aber sei es axiologisch ungereimt, dem
Privatmann höhere Gefahrtragungslasten aufzuerlegen als
professionellen Gefahrenabwehrorganen. Deswegen stünden
auch dem Privatmann dort, wo der Amtsträger ein Entschließungs- und Auswahlermessen habe, solche Entscheidungsspielräume zu. Aus § 12 Abs. 2 SchwKG und aus Art. 12a
GG schlussfolgert Engländer, dass der Staat auch in „anderen
zugespitzten Bedrohungssituationen von seinem Bürger zur
Verteidigung besonders gewichtiger Interessen ausnahmsweise die Tötung menschlichen Lebens“ fordern dürfe. Während einige die Gewissensfreiheit als rechtfertigende Kraft
ansähen, legten die meisten ihr allenfalls die Qualität eines
Entschuldigungsgrundes bei (S. 670). Engländer möchte
hingegen die verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4,
Abs. 1 GG bei der Ausdeutung der Gewissensfreiheit thematisieren und dabei die Wechselwirkungslehre anwenden
(S. 670). Wenn die Gewissensbetätigung sich innerhalb der
verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4 Abs. 1 GG
halte, die ihrerseits im Lichte des eingeschränkten Grundrechts zu definieren seien, so sei der Täter gerechtfertigt. Sinn
(Recht im Irrtum?) behandelt den irrigen Einsatz staatlicher
Waffengewalt im Rahmen eines UN-Mandates aufgrund
einer nur gemutmaßten Rechtfertigungssituation und gelangt
auf S. 679 zu dem Ergebnis, dass die Putativnotwehr zu einem „Recht im Irrtum“ bei Soldaten führe. Wenn die Handlungsanforderungen „vom Täter nicht erfüllt werden konnten,
weil der Irrtum unvermeidbar war, so kann ihm die Motivation nicht als falsch vorgeworfen werden. Jene Ansicht bleibt
die Erklärung schuldig, wie sich der Irrende richtig verhalten
solle, was die behauptete rechtliche Handlungsanforderung
ist.“ (Dabei übersieht Sinn freilich, dass die Vermeidungsanforderungen bei der Fahrlässigkeit und bei dem § 17 StGB
entschieden unterschiedlich sind – nach h.M.) Sinn begründet
aber sogar eine positive Rechtfertigung (S. 679 ff.): Mit
Roxin hält er einen rechtfertigenden Offensivnotstand auch
dann für möglich, wenn Leben gegen Leben stehe, sofern die
Gefahr aus der Sphäre des Notstandsadressaten/-opfers
komme. Die an sich nicht statthafte Abwägung Leben gegen
Leben sei also, laut Roxin „in Grenzfällen unvermeidbar“.
(Dabei wird allerdings mit keinem Wort begründet, warum
die „Gefahr“ aus der Sphäre des [letztlichen] Notstandsopfers
herrührt – wenn es denn doch nur eine Putativgefahr war.
Sind die Opfer der Attacke des Oberst Klein im Kundus deswegen „zu Recht“ gefallen, weil Taliban-Kämpfer derartige
Überfälle auf Tanklastwagen schon gemacht haben oder
ihnen solche zuzutrauen sind, oder sich einige von ihnen zu
den einfachen Bürgern gesellt haben?!). Auf S. 683 f. bildet
Sinn ein Beispiel eines auf einen Halt gebietenden Posten
zufahrenden Zivilisten: Der schießende Soldat ist nach Sinn
gerechtfertigt (!) – wegen Erlaubnistatbestandsirrtums (ein
Ergebnis, das mir, jenseits der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, verfehlt erscheint: Dem Zivilisten
schreibt er eine Verantwortlichkeit für die Gefahr zu, weil er
sich rechtswidrig verhalten habe, weil er einen pflichtwidrigen Übergriff in eine fremde Rechtssphäre zu begehen droh-
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ten [phänotypisch mag man das im polizeilichen StörerJargon so sehen; – aber vielleicht klemmte auch nur das Gasoder Bremspedal?]).
Ein bei dem Jubilar natürlich zu erwartender Schwerpunkt
der Beiträge liegt bei Schuld-Fragen: Crespo (Schuld und
Strafzwecke) pflichtet Roxins präventiver Vereinigungstheorie
bei; er untersucht den verwandten Schuldbegriff, die Struktur
der Schuld in Relation zum Unrecht und die Funktion der
Schuld bezüglich der Strafzwecke und betont durchgängig
die begrenzende Aufgabe dieses Topos. Nach Schroth (Strafe
ohne nachweisbaren Vorwurf) erscheine es angesichts neuerer Erkenntnisse der Neurobiologie fraglich, ob der Mensch
überhaupt die Fähigkeit besitzt, „anders handeln“ zu können,
ob also überhaupt eine Freiheit nachweisbar sei, die ein Täter
missbraucht haben könne. Allerdings erscheint Schroth die
These, dass Willensfreiheit existierte, „durch die Neurobiologie bisher nicht widerlegt“. Doch könne der Richter die
Handlungsfreiheit nicht nachweisen (vor dieser Aufgabe
könne der „Strafrichter nur versagen“). Hierzu ließen sich
keine beweisbaren Feststellungen treffen, „dies folgt schon
aus der Logik der Beweisführung“. Unter kurzer Skizzierung
verschiedener Kriminalitätstheorien bestätigt Schroth noch
einmal, dass Anders-Handeln-Können jedenfalls im Strafprozess nicht nachzuweisen sei. Aus den Schuldgefühlen des
Täters könne man derartiges nicht ableiten. Stuckenberg u.a.
hielten dafür, dass im Strafprozess nur das durchschnittliche
Können zu ermitteln sei. Davon abgewichen zu sein, begründe die Vorwerfbarkeit des Verhaltens. Dies hält Schroth für
eine „Scheinlösung“. Dem Täter werde vorgeworfen, durchschnittlichem Können nicht genügt zu haben. Damit sei jedoch nicht nachgewiesen, dass er auch in der Lage gewesen
sei, durchschnittlichem Können zu genügen. Auch die Charakterschuldlehre verwirft Schroth wegen mangelnder Beweisbarkeit im Prozess (dem Täter müsste nachgewiesen
werden, dass er sein Leben aus eigenem Antrieb heraus hätte
anders gestalten und einen anderen Charakter hätte bilden
können). Ein derartiger Nachweis könne nicht gelingen. Fazit: Die Idee der Vorwerfbarkeit einer Straftat existiere im
Strafrecht nur als „angemessene Fiktion“. Gegen Jakobs’
funktionelle Schuldlehre wendet er ein, dass, wenn Schuld
aus generalpräventiven Bedürfnissen bestimmt werde, sie
ihren begrenzenden Charakter verliere. Außerdem gehe der
Zusammenhang zwischen der Legitimität einer Norm und der
Schuld des Normbrechers verloren, wenn man den funktionalen Schuldbegriff verwende: „Die Garantie des Erhalts einer
Ordnung bezieht sich auf jede Ordnung, nicht auf die richtige
Ordnung. Zudem fehle bei einem funktionalen Schuldverständnis der notwendige Zusammenhang von Strafe und
Freiheit, auf den nunmehr eingegangen werden soll.“ Stattdessen müsse Strafe von einem „Anspruch des Staates“ her
gedacht werden, „der gegenüber jedem einzelnen Rechtsgenossen begründet erhoben, vom Gesetz festgelegt und sanktionsbewehrt sei. Er sei gerichtet auf „ein Verhalten jedes
Bürgers, das sich in den vom Gesetz abgesteckten Freiheitsräumen hält und die rechtlich geschützten Interessen anderer
nicht verletzt.“ Der sittliche Anspruch des Strafrechts werde
nicht mehr individualethisch mit der Schuld begründet, sondern durch den Schutz von Rechtsgütern mittels Strafdrohung
und Strafverhängung, was Freiheit überhaupt erst ermögliche.
Trotzdem will Schroth an der Notwendigkeit von Schuld
festhalten „Schuld kann nämlich auch verstanden werden als
Verfehlung einer Pflicht, deren Erfüllung von jedem Bürger
erwartet wird, soweit er als Normadressat angesehen werden
kann.“ In Anlehnung an Ellscheid/Hassemer bezieht er sich
hierzu auf eine Aussage von Roxin: „Schuld ist ‚Unrecht des
Handelns‘ (i.S.d. Strafgesetzbuchs) trotz normativer Ansprechbarkeit“, womit er sich schwerlich der Probleme der
prozessualen Beweisbarkeit enthoben haben dürfte. Hoyer
(Normative Ansprechbarkeit als Schuldelement) wendet sich
demgegenüber gegen Roxins gemischt empirisch-normativen
Schuldbegriff, der ein „Bollwerk rechtsstaatlicher Eingriffsbegrenzung“ gegenüber der Verfolgung „der gemeinwohlbezogenen ‚präventiven Ziele des Staates‘“ bilden soll. Strafe
dürfe also „nicht zum Ausgleich der Schuld, sondern nur zu
präventiven Zwecken verhängt werden“. Nach Hoyer müsse
in dubio pro reo deswegen bei rechtswidrigem Verhalten
nicht etwa von fehlender, sondern von bestehender Schuld
ausgegangen werden, insbesondere also auch von Willensfreiheit im Sinne der geistigen und seelischen Möglichkeit
zum rechtmäßigen Verhalten. Die Willensfreiheit sei mit
„wissenschaftlich-empirischen Mitteln nicht möglich zu
beweisen“. Der Täter müsse aber nach Roxin normativ ansprechbar sein – und zwar im Augenblick des Versuchsbeginns. Die Ansprechbarkeit müsse gegenüber einer Verhaltensnorm gegeben gewesen sein, bei deren Erfüllung die
unrechtsbegründende Tatbestandsverwirklichung ausgeblieben wäre. Allerdings setze Roxin normative Ansprechbarkeit
und Willensfreiheit nicht in eins. Diesbezüglich enthalte sich
Roxin jeglicher Stellungnahme, außer derjenigen zum Agnostizismus. Hoyer hält Roxin, m.E. nicht zu Unrecht, entgegen,
dass Willensfreiheit trotz ihrer empirischen Unerweislichkeit
normativ dem Akteur zugeschrieben würde, wodurch sein
gemischter Schuldbegriff in Wirklichkeit ein rein normativer
werde. Hoyer erwägt, die Willensfreiheit anders zu fundieren,
– durchaus in Anlehnung an Roxin, nämlich auf der Basis der
„gesellschaftlichen Realität“, derzufolge „das unbefangene
Selbstverständnis des normalen Menschen auf diesem Freiheitsbewußtsein beruht und […] eine sinnvolle Ordnung des
menschlichen Soziallebens ohne die wechselseitige Zubilligung von Freiheit nicht möglich ist“. Dem hält Hoyer entgegen, dass solche Selbsteinschätzungen nichts über die Realität besagten, und beruft sich dabei u.a. auf Nietzsche. Hoyer
zeigt schön die Zirkularität des deterministischen Weltbildes,
das, wie Roxin zugibt, dazu führe, dass diese Ansprechbarkeit
in Wirklichkeit eine bloße Vermutung sei. Hoyer dagegen
will den Schuldbegriff erweitern und auch auf die Fälle erstrecken, in denen der Täter „sich durch sein eigenes rechtswidriges Verhalten als normativ nicht ansprechbar erwiesen
hat“ – jedenfalls unter gewissen Umständen. Die normative
Ansprechbarkeit dürfte nicht aus der Ex-post-Sicht betrachtet
werden, sondern aus einer Ex-ante-Sicht: „Für den Deterministen ergibt sich die Legitimität der Strafnorm daraus, dass
die Fähigkeit des Täters, sich durch die Verhaltensnorm ansprechen zu lassen, zur Tatzeit nicht eindeutig als defizitär
erkennbar war, so dass ihr Bestehen einkalkuliert und die
Bereitschaft, gegebenenfalls von ihr Gebrauch zu machen,
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durch die Strafnorm gestärkt zu werden“ verdiene. Der ex
ante als normativ ansprechbar geltende Täter möge sich dann
ex post als tatsächlich nicht ansprechbar erweisen. Das wirke
sich aber eben nicht bei der Strafandrohungsnorm, sondern
allenfalls bei der Bestrafungsnorm aus. Merkel (Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit) befasst sich ebenfalls
mit Roxins Schuldverständnis und fragt sich, was genau
„normative Ansprechbarkeit“ bedeute, sowie, ob diese dem
Schuldprinzip und den § 20 StGB genüge, „weil sie dem
‚Andershandelnkönnen‘, ohne es jemals zu erreichen, doch so
nahe wie möglich“ komme und „daher kurzerhand als sein
Surrogat genommen“ werden könne. Als Intermezzo befasst
er sich mit Herzbergs deterministischer Lehre von der Charakterschuld. In dem subjektiven Erleben der eigenen Entscheidungsfreiheit sehe Herzberg das, was er „kleine Willensfreiheit“ nenne. Herzberg lese § 20 StGB so, dass
schuldunfähig nur der Täter sei, „der gerade wegen seiner
‚krankhaften seelischen Störung‘ usw.“ so handele, wie er
handele und nicht etwa, wie ein normaler Straftäter, wegen
seines schlechten Charakters, seiner Gier […] oder irgendeines anderen, vom ‚ersten (biologischen) Stockwerk‘ des § 20
StGB nicht erfassten Motivs. Herzberg wendet sich damit
auch und gerade gegen Roxins These, die Willensfreiheit
müsse normativ gesetzt werden. Merkel habe in seiner Monographie diese Lehre aus materiellen Gründen abgelehnt,
weil sie „ein evidentes und schwer lösbares Gerechtigkeitsproblem“ erzeuge.14 Herzberg sehe zwischen Lob und Tadel
eine unmittelbare Korrelation und rekurriere mit seiner Modellierung einer Charakterschuld auf Schopenhauer. Merkel
bestreitet diese Parallele zwischen Lob und Tadel, stellt aber
gegen Herzbergs universal geteilte Intuition nur eine eigene,
nämlich: Selbst wenn der Helfer nicht anders hätte handeln
können, wäre ihn nicht zu loben ein Verstoß gegen profunde
Regeln des sozialen Lebens, und rekurriert dabei auf „Gründe
anthropologischer, soziologischer, psychologischer, ja evolutionsbiologischer Art“. „Es dürfte für soziale Gruppen ein
Selektionsvorteil sein, über solche Regeln des Lobens und
Dankens ein zwischenmenschliches Klima kooperativer
Freundlichkeit zu begünstigen.“ (Warum das so ist, dafür
bleibt Merkel eine wirkliche Begründung schuldig. Zumindest vor der Hand steckt in diesem Aspekt m.E. aber auch die
Begründung für die Berechtigung von Tadel!). Merkel meint,
dass die Gründe, um einen Schuldvorwurf und Strafe zu
legitimieren, weitere seien als „bloß täterinterne Grundlagen“, nämlich „solche außerhalb seiner Person und seiner
Eigenschaft zur Tatzeit“. „Diese Gründe seien solche der
gesellschaftlichen Normverteidigung und daher utilitaristischer Herkunft.“ Die Auffassung, dass Schuldvorwurf und
Strafe trotz fehlender Willensfreiheit berechtigt seien, weil
das Motiv der Tat (jenseits von §§ 19 und 20 StGB) Ausdruck des Charakters des Handelnden sei, lehnt er ab. Mit
Recht wendet Merkel hiergegen ein, dass man dann, wenn
man für seine Handlung nichts könne, auch für seinen Charakter nichts könne. Merkel problematisiert dann anhand von
verschiedenen, teils stattgehabten Fällen kriminogene Veränderungen an Menschen, teils durch Operationen, teils durch
14
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008.
Medikamentengabe u.ä.m., und fragt, ob die Personen deswegen schon ausnahmslos zu exkulpieren seien. Daraus folgert er, dass die Dichotomie „Krankheit oder Charakter“ als
materielle Grundlage der Schuldunfähigkeits-Bestimmung zu
„grob“ sei. Sodann weist er auf die schwere andere seelische
Abartigkeit hin, die Herzberg – aus seiner Sicht konsequent –
für verfehlt hält. Das Kriterium des „Andershandelnkönnens“
„taugt in seiner Wörtlichkeit nichts“. Stattdessen führt Merkel
den Begriff der Autonomie ein: „Ein hinreichendes Maß an
(sei es determinierter) Fähigkeit zur motivationalen und also
normativen Selbstkontrolle“. Er räumt ein, dass das eine
„sehr abstrakte Formel“ sei. Ansprechbarkeit sei ein Dispositionsprädikat (wie löslich, zerbrechlich, biegsam). Er räumt
ein, dass die Frage, ob der Täter zum Tatzeitpunkt für ein
anderes Handeln ansprechbar gewesen sein müsse, genau so
wenig entscheidbar sei, wie die Frage, ob er die Triebe zur
Tat nicht hätte unterdrücken können. Doch mache die Problematik solcher Erwägungen auch die ganz andere Behauptung sinnlos, der Täter habe im Moment seiner Tat gleichwohl die dispositionelle Eigenschaft der „normativen Ansprechbarkeit gehabt“. „Der Täter habe die Disposition, in
bestimmten Situationen tatsächlich normadäquat zu reagieren“ und „in der Tatsituation hat er aber nicht normadäquat
reagiert“: Verantwortlichkeit sei nicht die Fähigkeit zum
anders Handeln im Zeitpunkt der Tat, „wohl aber eine bestimmte Form von Autonomie, eine hinreichende (dispositionelle) Fähigkeit zur Handlungskontrolle, die selbstverständlich auch in einer determinierten Welt möglich ist“ – womit
Merkel letztlich doch Roxin folge.
T. Walter (Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar?
– Die Regeln zur Nachsicht mit menschlicher Schwäche)
befürwortet die genannte Analogie, soweit Merkmale betroffen seien, die Ursachen menschlicher Schwächen umschrieben
und deshalb nicht nur als äußerer Sachverhalt vorlägen, sondern sich auch in der Täter-Subjektivität spiegeln müssten.
Gropp („Conduct that the Actor Should Realize Creates a
Substantial and Unreasonable Risk – Anmerkungen aus der
Ferne zum Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts.“) betrachtet in
Anlehnung an eine Formulierung in Section 939 (!) der Wisconsin Statutes die Generierung des Fahrlässigkeitsvorwurfs.
Mit dem Jubilar hält er die Feststellung der Sorgfaltspflichtwidrigkeit schon normentheoretisch nicht für ein Tatbestandselement, wie er denn Pflichtverletzungen insgesamt nicht für
Teile der Tatbestandsmäßigkeit hält (sondern für deren „normative Grundlagen“). Stattdessen propagiert er ein Zurückbleiben hinter dem für den Täter erfüllbaren Standard, woraus
dann eine substanzielle Gefahr resultieren müsse. Dem müsse
eine bewusste oder unbewusste subjektive Fahrlässigkeitskomponente korrespondieren. Die Frage der Unerlaubtheit der
Gefahrenverursachung sei kein Tatbestands-, sondern ein
Rechtswidrigkeits-Problem. Fletcher (Strafrecht ohne Straftäter) behandelt die Lubanga-Entscheidung der Pre-TrialChamber des IStGH, in der diese Kammer die von Fletcher
(m.E.: mit Recht, siehe aber sogleich Ambos) als schädliche
Verwischung von Täterschaft und Teilnahme gerügte Sicht
des Jugoslawien-Tribunals zu überwinden sucht (Doktrin
[von einer „Theorie“ zu sprechen, wäre mehr als ein Euphemismus: Es ist ein Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt!]
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des „joint criminal enterprise“, vergleichbar der „Pinkerton
liability des Common law). Doch lanciert die nämliche Entscheidung eine andere Rechtsfigur – mit dem gleichen Effekt
– die „vicarious liability“ aus dem Vertragsrecht (für den
Geschäftsherrn gilt in puncto Verrichtungsgehilfen: „qui facit
per alios facit per se“). Dabei problematisiert Fletcher die
wechselseitige Zurechnung – ohne freilich auf die in Deutschland gängigen Kriterien einzugehen. Sein Vorschlag: Auf das
Erfordernis von „Tätern“ zu verzichten und sich mit GehilfenDelikten zufrieden zu geben. Dabei nimmt er selbst eine
Anleihe aus dem Vertragsrecht des Common law: Der ein
wohltätiges Geschenk Versprechende sei an sein Versprechen
so gebunden, als erhielte er eine Gegenleistung. Das Argument für diese Doktrin lautet: Alle Schenker hätten sich untereinander eine Gegenleistung erbracht. Statt auf den Selbstbindungswillen des Promissors einer Stipulatio abzuheben
(wie es das Römische Recht tut), rekurriert man auf fiktionale
„Gegenseitigkeiten“ und offenbart eine Dogmen-Fixierung,
die die kontinental-europäischen, namentlich deutschen Verschrobenheiten, locker in den Schatten stellt. Das begleitende
Sachproblem, jene wirklichen Täterschaftskriterien (nach
deutscher Doktrin: gemeinsamer Tatplan, gemeinsame Ausführung in arbeitsteiliger Tatherrschaft) auch zu beweisen, sei
von mir keineswegs bagatellisiert. Aber sie mit einer Absenkung der Anforderungen beheben zu wollen, führt dann zu
einer Elastitzität in den Grundlagen, die bemerkenswert zur
Doktrinarität im Detail kontrastiert.
Zu dem im vorigen Beitrag nur indirekt angeklungen Topos der „Organisationsherrschaft“ verhalten sich gleich mehrere Beiträge: Schünemann (Schrumpfende Basis, wuchernder Überbau? – Zum Schicksal der Tatherrschaftsdoktrin nach
50 Jahren) bricht eine Lanze für die Organisationsherrschaftsi.R.d. Tatherrschaftslehre, die sogar der Oberste Gerichtshof
Perus in seinem Fujimori-Judikat (eigentlich „Barrios AltosLa Cantuta“, vgl. den folgenden Beitrag) aufgegriffen habe –
und wendet sich damit dezidiert und detailliert gegen die
Attacken von Haas und Rotsch auf diese „Erfindung“ seines
Lehrers. Freilich sieht er bei jenem Urteil, wie bei dem Aufgreifen jener Konzeption durch den BGH Verunklarungen,
die ihm in Bezug auf die „entgrenzende“ Adaption durch den
BGH gar einem „Pyrrhus-Sieg“ ähnlich zu sein scheint („Wissen des Hintermanns um die Tatgeneigtheit des Vordermanns“). Schünemann arbeitet bei seiner Deutung der Organisationsherrschaft mit „quantitativ abstufbaren“ Topoi:
„Rechtsgelöstheit, strukturelle Zwangsausübung“, „Fungibilität“ der Ausführenden und „fraglose Ausführungsbereitschaft“, die in unterschiedlicher Intensität, nur insgesamt
„deutlich ausgeprägt“ vorliegen müssten. Passend zur vorherigen Thesis befasst sich Abanto Vásquez (Verdirbt die Organisationsherrschaft die Tatherrschaftslehre?) intensiver mit
dem Fujimori-II-Judikat (s.o.) und der iberischen und iberoamerikanischen Judikatur gegen ehemalige Dikatoren. Er
befürwortet die Zurechnungsfigur der „Organisationsherrschaft“, sieht sie auch als in der Praxis bewährt an, zöge
jedoch eine ausdrückliche Regelung vor – auch angesichts
unrühmlicher Fälle der Auslegung durch die junge peruanische Rechtsprechung. Er weist auf die differenzierende portugiesische Lösung hin und darauf, dass man bis 1851 in
Preußen eine intellektuelle Urheberschaft kannte. Ambos (Zur
„Organisation“ bei der Organisationsherrschaft) dämpft die
Einschätzung Roxins, die Organisationsherrschafts-Lehre
habe sich international weitgehend durchgesetzt, ein wenig.
Ambos setzt sich mit der Kritik an einem staatsbürokratisch
verstandenen Organisationsbegriff kritisch auseinander und
empfiehlt eigene Ergänzungen, um einem gemischt individuell-kollektiven Zurechnungsmodell im Völkerstrafrecht zum
Siege zu verhelfen. Um nicht-staatliche, paramilitärische
Gruppen (wie im Katanga-/Ngudjolo-Chui-Fall) einbeziehen
zu können, bedürfe es (noch, H.-U. P.) weicherer Kriterien.
Dazu gehöre freilich nicht das von Roxin bereits akzeptierte
„Tatbereitschafts“-Kriterium als mögliches Substitut für die
„Fungibilität“. Denn Organisationsherrschaft setze Herrschaft über diese, und nur indirekt über die Mitglieder der
Organisation voraus. Ambos zeigt die Mehrstufigkeit des
kolumbianischen Geheimdienstes als „Staat im Staate“ auf,
mit der Todesschwadron „Colina“ als unterster Ebene. Aber
was man hier, mit dem Denckerschen „Zurechnungsprinzip
Gesamttat“ noch der staatlichen Organisationsspitze zurechnen können möge, passe nicht zu den kongolesischen Söldnerbanden. Anders als Fletcher befürwortet Ambos deswegen
die Zurechnungsfigur des „joint criminal enterprise“. Man
müsse deshalb die strikt hierarchische, bürokratisch Machtstruktur in den afrikanischen Fällen durch jene „weicheren“
Kriterien („persönliche Autorität“ selbst bei anonymer Beziehung zum Ausübenden) ersetzen. Dafür möchte Ambos die
mittlere Befehlsebene aus der Zurechnung ausblenden, und
nur die Organisationsspitze in Anspruch nehmen. Andererseits seien „‚teilherrschende‘ Beteiligte“ „allenfalls Mittäter“
(? – gemeint sein sollen die Leiter selbständiger Subsysteme),
was nicht recht zum gerade ausgerufenen Rigorismus passt.
Pariona verteidigt sein Verständnis von Pflichtdelikten, wonach die Verletzung von Sonderpflichten nur die Täterschaft
begründe, dagegen nicht das Unrecht, und dass täterschaftsbegründende Pflichten strafrechtliche seien. Das habe zur
Folge, dass Täter nur sei, wer eine ihm obliegende strafrechtliche Sonderpflicht verletze (namentlich gegen Gössel und
Stein). Heghmanns (Mehrfache Beihilfe) spricht sich für die
im Titel seines Beitrags genannte Möglichkeit einer mehrfachen Beihilfe i.d.F. einer mehrfachen Risikosteigerung aus,
die sich von dem durch den Haupttäter mediatisierten Rechtsgutsangriff löse. Kudlich (Berufsbedingtes Vorschubleisten?)
befasst sich u.a. auch mit Roxins ZurechnungsausschlussFigur der „neutralen Beihilfe“ und erwägt, die für diese entwickelten Korrektive auch auf Fälle wie § 233a StGB zu
erstrecken. Doch zeigt er, dass man damit nicht auskomme,
sondern auf die allgemeine Zurechnungsdogmatik zurückgreifen müsse. Bei bloßem dolus eventualis des Beherbergers, Transporteurs etc. verlangt Kudlich, dass gerade durch
diesen Unterstützungsbeitrag der „späteren Straftat Vorschub
geleistet“ werde. Doch wieso das etwa bei einem „Herbergsvater“ (dem die vorgebliche Mädchenklasse ungewöhnlich
attraktiv, aber gleichzeitig verschüchtert erscheinen mag)
nicht der Fall sein soll, bleibt mir unklar. Da scheinen mir
Roxins „deliktischer Sinnbezug“ des unterstützenden Tuns
und die „erkennbare Tatgeneigtheit“ des Haupttäters schon
eher selektionstaugliche Kriterien. Küper verhält sich zu
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„Anmerkungen zum Irrtum über die Beteiligungsform – Die
irrige Annahme ‚tatherrschaftsbegründender Umstände‘ als
Versuchs-, Teilnahme- und Fahrlässigkeitsproblem“: Küper
diskutiert diese traditionsreiche dogmatische „Hochreck“Konstellation, verwirft die vertretenen Lösungen und gibt
eine Fahrlässigkeits-Haftung des „Hintermanns“ zu erwägen.
Dazu muss er freilich, mit einer Reihe von neueren Stimmen,
die traditionelle Sicht vom Aliud-Verhältnis zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat zugunsten eines Einschlussverhältnisses aufgeben. Olmedo Cardenete (Zum Versuch beim
echten Unterlassungsdelikt) schichtet diesen vom Versuch des
unechten Unterlassungsdelikts dadurch ab, dass ersterer nur
durch Verhaltenstypisierung, unabhängig von dem Erfolg,
definiert werde, während beim letzteren der Erfolg die zentrale Bezugsgröße sei. Pawlik beschließt den ersten Halbband
mit: „Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils – Bemerkungen zur Lehre von den Garantenpflichten“. Er sucht die Diskussion um die Garantenpflichten von
ihrer heutigen Beschränkung auf die Unterlassungsdelikte zu
lösen und auf eine traditionsreiche, viel grundlegendere,
sogar staatstheoretische Fundierung zurückzuführen – die
Differenz zwischen negativen und positiven Pflichten – und
geht der Frage nach, inwieweit man letztere verstraftatbestandlichen dürfe. Er hält Kant vor, zwei unvereinbare Thesen aufgestellt zu haben: die „Parallelität von Pflichtenart und
Begehungsform sowie die Beschränkung des Rechtsbereichs
auf negative Pflichten“. Doch habe er sich immerhin auf die
zentrale Frage kapriziert, welche Pflichten der Staat zwangsweise, notfalls durchs Strafrecht, durchsetzen dürfe; dabei
habe für ihn das Unterlassen nur eine periphere Rolle gespielt. Demgegenüber habe Feuerbach zwar den ersten Fehler Kants beibehalten, aber den zweiten, richtigen Gedanken
verdrängt. Zu unterlassen sei Gegenstand von Pflichten, Gebote gebe es nicht. Für strafrechtliche Unterlassungen habe er
daher einen speziellen Rechtsgrund benötigt, aus Vertrag
oder Anzeige- oder Amtspflichten oder ähnliches. Den Versuch, Unterlassen als Begehung zu deuten, verfolgt Pawlik
dann bis Nagler, der die Garantenpflicht als Handlungsäquivalent für ein Tun herausgearbeitet hat. Im Anschluss an
Hegel, A. Merkel und Jakobs will Pawlik darüber hinaus:
Respekt vor der Rechtssphäre anderer sei die strafrechtliche
Grunderwartung, nicht etwaige Solidaritätspflichten. Dies
ermögliche erst dem Einzelnen, sein Leben zu leben. Doch
könne auch die Organisation des eigenen Rechtskreises oder
die Übernahme bestimmter Tätigkeiten den Schutz jener
Fremdinteressen von eigenem Verhalten abhängig machen,
weswegen negative Pflichten sehr wohl positive Handlungsgebote auslösen könnten. Und damit ist Pawlik bei einer
hegelianischen Zuständigkeitsbegründung: Nicht wie bei
Kant als Folge des kategorischen Imperativs muss ich meinen
Pflichtigkeiten nachkommen, sondern als Folge des Umstandes, dass ich als Person anerkannt sein will; ich könne die mir
„auferlegten Zuständigkeiten nicht zurückweisen, ohne
(mich) selbst als Inhaber einer Sphäre rechtlich garantierter
Organisationsfreiheit aufzuheben“, oder: „Pflichterfüllung ist
der Preis der Freiheit“ (Jakobs). Daraus leitet Pawlik gewisse
Meliorisierungspflichten zugunsten des Rechtsbestandes ab
(etwa: Steuer- oder Zeugenpflichten). Daneben treten laut
Pawlik die Garantenpflichten kraft übernommener Sonderrolle, diejenige (u.a.) zwischen Eltern und Kindern (wegen
Rückzug des Staates aus dieser Relation und Anerkennung
ihrer Autonomie) oder bei interpersonalen (versicherungsartigen) Beistandsversprechen wie etwa der Ehe.
II. Der zweite Band eröffnet mit Fragen des Besonderen
Teils und hier mit Ackermann: „Sträflicher Leichtsinn“ oder
strafbarer Betrug? – Zur rationalen Kriminalisierung der
Lüge“ behandelt die Differenz zwischen dem deutschen und
dem schweizerischen Betrugstatbestand – und singt das hohe
Lied auf letzteren: Wie in der römischen Rechtsparömie „ius
vigilantibus scriptum“ schützt die Schweiz nicht vor plumpen
Täuschungen, auf die nur sehr Leichtgläubige hereinfallen
(allerdings wird auf Opferseite danach differenziert, inwieweit man zur Sorgfalt in der Lage ist.)
Gaede (Die objektive Täuschungseignung als Ausprägung
der objektiven Zurechnung beim Betrug) wendet ähnliche
Überlegung i.R.v. der „objektiven Zurechnung“ an. Dabei
durchmisst er nicht nur allerlei Tiefen und Untiefen des Betrugstatbestandes, sondern auch der Doktrin von der objektiven Zurechnung. Er verlangt eine qualifizierte Gefahrschaffung bei der Täuschung und, dass sich in den Zwischenerfolgen (Irrtum, Vermögensverfügung) die mit der Täuschungshandlung gesetzte Erfolgsgefahr realisiert haben müsse. Isfen
(„Das Leben ist wie ein Schneeball“ oder Strafrechtliche
Relevanz von enttäuschten Zukunftserwartungen im Wirtschaftsverkehr) nimmt mit dem Titel Bezug auf die Biographie von Warren Buffet und kontrastiert dessen Sichtweisen
mit den Vorgehensweisen des Schneeballsystem-„Königs“
Madoff. Isfen behandelt Fälle von Kapitalanlagebetrügereien
unter der wirtschaftsfreundlichen, aber kühnen (und mit den
Überbuchungspraktiken der Fluglinien etwas blässlich unterlegten) Prämisse, dass eine „Erwartungshaltung i.S.e. planerischen und operativen Vorwegnahme eines fortlaufenden bzw.
steigenden Zuflusses von im Einzelnen nicht näher bestimmten Einnahmen immanent“ sei. Er behandelt den Kapitalanlagebetrug, die Umsatzsteuerverkürzung auf Zeit und die
Untreue bei der Kreditvergabe und dort insbesondere die
Fälle „in der Mitte“. Isfen will seine, die wirtschaftlichen
Realitäten (Prognoseunsicherheiten) nach seiner Sicht ernster
nehmenden Erkenntnisse fruchtbar machen, bei der auch die
vom Jubilar als Wertungsakt umschriebene Abgrenzung von
dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit dienstbar
macht. Dabei sucht er den unterschwelligen Ansatz: „Wer die
Kompetenz hat, hat auch stets die Kenntnis“ zu desavouieren.
Dass hier eine vertiefende Gesamtschau erforderlich ist, erscheint unbezweifelbar (obwohl die Analyse der subjektiven
Tatseite bei komplexen Tötungsdelikten deren auch nicht
entraten kann). Die Frage aber, wie man das sich bewusst
Blind-Machen für die Risiken von Kapitalanlagen oder das
Sich-Berufen auf die Urteile von hochstilisierten Ratingagenturen (die doch nichts anderes als Lohnknechte und Kumpane
in einem groß angelegten Täuschungsmanöver u.a. bei den
Sub-prime-Papiere-Emissionen waren) in dem Kontext einordnen soll, wird damit nicht beantwortet. Achenbach (Vermögen und Nutzungschance – Gedanken zu den Grundlagen
des strafrechtlichen Vermögensbegriffes) spricht sich für ein
stärker am Faktischen ausgerichtetes Verständnis des Ver-
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mögensbegriffs aus, das die personalen Entfaltungs- und
Nutzungschancen umfasse (die sich auch auf Objekte von –
liebevoll umschriebenem – Affektionsinteresse erstrecke).
Subjektiver Rechte in Bezug auf die Objekte oder Rechte
bedürfe es nicht; es genüge, wenn die Beziehungen dem
Recht nicht widersprächen. Maiwald (Absatz und Absatzhilfe
im Tatbestand der Hehlerei und die „Formel“ des Bundesgerichtshofs) rügt hier die mangelnde Abgrenzungstauglichkeit
der BGH-Formel, die bei den Modalitäten „Absetzen“ und
„Absatzhilfe“ keinen Erfolg voraussetze: „jede vom Absatzwillen getragene vorbereitende, ausführende oder helfende
Tätigkeit, die geeignet ist, den Vortäter bei seinem Bemühen
um wirtschaftliche Verwertung der ‚bemakelten‘ Sache zu
unterstützen“. Er analysiert die Formel sub specie ihrer Vorverlagerung des Vollendungszeitpunkts in das phänotypische
Vorbereitungsstadium und der „Eignung zur Aufrechterhaltung“. Mit Recht rügt er die durch die Restriktionsbemühungen heraufbeschworenen Unklarheiten sowie die bei „neutralen“ Handlungen (illustriert am Kugelschreiber-Kauf, der den
„Absatz“-Brief ermöglichen soll, und gegeißelt mit der diesbezüglichen Dolus-eventualis-Variante). Auch bei dem Eignungs-Kriterium widerspreche sich der BGH in verschiedenen Fällen der überwachten bzw. von verdeckten Ermittlern
eingestielten Kontakte. Maiwald plädiert für den Verzicht auf
die „Vorbereitungsvariante“ und das „Eignungskriterium“,
indem der BGH den Erfolg (wieder) zur Voraussetzung erheben solle. Zöller (Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen als Vortat der Geldwäsche) rügt, dass bei
den angezogenen Tatbeständen Bestrafungswünsche mit
rechtsstaatlichen Garantien kollidierten. Er schlägt bei § 261
StGB vor, dass für das „Herrühren“ der Akteur „‚als Mitglied‘ einer Vereinigung“ gehandelt haben müsse. Für die
Beteiligung an §§ 129, 129a StGB als Vortat zu § 261 StGB
spielt Zöller die verschiedenen Tatmodalitäten durch und
verlangt überall teleologische Restriktionen. Außerdem beanstandet er mit Recht die judiziellen Lockerungen an den Vortat-Nachweis und sieht dort Verstöße gegen die Unschuldsvermutung, den In-dubio- sowie den Anklage-Grundsatz (Folge: Aufklärung der Vortat-Umstände und Einbeziehung in den
Anklagesatz nach § 200 StPO seien unverzichtbar). Saliger
(Schutz der GmbH-internen Willensbildung durch Untreuestrafrecht?) behandelt das Judikat BGHSt 55, 266 (Trienekens). I dieses Verfahren war Saliger als Verteidiger involviert. Er zeigt auf, dass die vom 2. Senat vorgenommenen
Haftungsausweitungen mit den Restriktionen des BVerfG zu
§ 266 StGB unvereinbar seien. (Letzteres verlange eine restriktive, auf „klare und deutliche [evidente] Fälle“ beschränkte
Deutung). Daran hapere es aber bei der vom BGH statuierten
Loyalitätspflicht gegenüber dem anderen (49 %-)Gesellschafter. Auch habe der BGH die Rechtsgüter vertauscht,
indem er das formlose Einverständnis des Mehrheitsgesellschafters für nicht ausreichend erklärt habe. Krey (Finanzmarktkrise und deutsches Strafrecht – Verantwortlichkeit von
Bankvorständen für hochspekulativen Handel mit Asset
Backed Securities [durch Vermögenswerte besicherte Wertpapiere] auf der Basis von US Subprime Mortgages [minderwertige US-Hypotheken]) befürwortet eine diesbezügliche
Strafverfolgung und rügt das zögerliche Verhalten der Staats-
anwaltschaften. Er sieht zwar die Probleme für die Behörde,
die personell für solche Mammutverfahren nicht zureichend
ausgestattet seien und sich zudem ungern mit wirtschaftlich
potenten, zudem mit der politischen Klasse stark vernetzten
und z.T. personenidentischen Gegnern einließen (zumal sie es
dann mit der Phalanx der tüchtigsten Strafverteidiger zu tun
bekämen, die sich eben nur Bankenvorstände und aufsichtsräte leisten können, was das Verfahren zusätzlich in
die Länge zieht). Krey zeigt auf, dass der § 266 StGB nicht
selten gegeben sein dürfte (incl. subjektiver Tatseite). Nachdem er solchermaßen die Staatsanwaltschaften peitscht, ihre
Arbeit endlich zu tun, zieht er seiner Attacke dann sogleich
wieder die Zähne, indem er meint, als Sanktion reichten §
56b Abs. 2 Nr. 2 StGB oder § 153a StPO. Die Durchführung
des Verfahrens würde schon das allgemeine Normvertrauen
hinreichend wieder stabilisieren. Abgesehen davon, dass das
nach einer Zweckentfremdung des Strafverfahrens „riecht“ –
wo es doch eine Sanktion ermöglichen, aber nicht darstellen
soll (!) –, kann ich die Quelle des plötzlichen Mitleids nicht
erkennen (die armen Banker, die um ihrer Boni willen ganze
Volkswirtschaften in den Ruin geritten haben, hätten gleichsam „schon genug gelitten“, wenn denn überhaupt einmal ein
Verfahren gegen sie durchgeführt wurde). Heine (Der staatliche Ankauf von strafbar erlangten Steuer-Daten deutscher
Steuerhinterzieher) erneuert seine Philippika gegen die deutsche „Datenhehlerei“. Er legt dar, wieso dies strafbares Tun
nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG sei. Was er zur „Unbefugtheit“
ausführt (die Anzeige-Berechtigung erlaube keine Straftatbegehung zur Unterfütterung des Anzeigegegenstandes – wohl
wahr, doch betrifft das nicht das Amtswalterverhalten), überzeugt mich freilich nicht (unter der Prämisse, dass Regelungen wie Kronzeugen, Legitimität der Verwendung von durch
fremde Straftaten erlangten Beweismitteln u.ä.m. nicht aufgehoben werden).15 Die m.E. überzeugende Antwort auf
manche von Heine aufgeworfene Fragen gibt Erb (Inwieweit
schützt § 17 UWG ein ausländisches „Bankgeheimnis“?). Er
hält das Tun der deutschen Steuerfahnder für tatbestandslos,
übersieht aber keineswegs den nicht unproblematischen Beweiswert von Beweisen, die um des eigenen finanziellen
Vorteils willen geliefert werden, sowie wegen der die Grenzen hoheitlicher Verfolgungspraktiken möglicherweise erodierenden Wirkung erfolgreicher Ankaufversuche. Wolfslast
(Gesundheitszeugnis ohne Untersuchung – Zum Tatbestandsmerkmal der Unrichtigkeit im Sinne des § 278 StGB)
nimmt einen für den Betroffenen tragisch endenden, realen
Fall, der aber eher einer Professorenphantasie entsprungen zu
sein scheint, zum Anlass, um die Strafbarkeit des im Titel
umschrieben Verhaltens plausibel zu machen.
Unter dem 4. Abschnitt „Kriminalpolitik und Sanktionen“
eröffnet Lascano mit „Kriminalpolitische Parameter der Verfassung zum Aufbau des Tatbestands“. Lascano diagnostiziert
einen Auffassungswandel beim Jubilar bezüglich des Verhältnisses von Tatbestandsmäßigkeit i.e.S. und Rechtswidrigkeit,
weg von einem zweistufigen Gesamtunrechtstatbestand, hin
zu einem dreigliedrigen, und analysiert, inwieweit die damit
berührten Fragen durch die argentinischen Verfassungsprin15
Vgl. dazu Paeffgen, Bonner Rechtsjournal 2010, 12 ff.
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zipien beeinflusst werden. Lascano sympathisiert mit der
Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen und sucht
die Rechtfertigung schon in die Zurechnungsstrukturen unter
Rückgriff auf Verfassungsbestimmungen zu integrieren.
Zapatero (Die Todesstrafe – Plädoyer für ein weltweites
Moratorium) knüpft an die Millenniumserklärung von Annan
vor der UN an und will sie mit dem im Titel umschrieben
Ziel weitertreiben. Müller-Dietz (Zur sog. „Drittwirkung“ des
Freiheitsentzugs) lenkt den Blick auf die deplorabelen Umstände, unter denen viele Angehörige von zum Freiheitsentzug
Verurteilten leiden, und spricht sich für eine familienfreundliche(re) Handhabung der Strafzumessung aus. Rissing-van
Saan (Neuere Aspekte der Sicherungsverwahrung im Kontext
der Rechtsprechung des EGMR) spricht sich für eine restriktive Berücksichtigung der Judikatur des EGMR zu Art. 7
Abs. 2 EMRK aus, da das Gericht die bürgerschützende
Funktion der Sicherungsverwahrung überhaupt nicht in den
Blick genommen habe. Sie misst der EMRK und dem EGMR
eine weit geringere Bedeutung bei, als es jüngere Verfassungsgerichts-Judikate scheinen lassen. Das sieht Schöch (Sicherungsverwahrung und Europäische Konvention zum Schutze
der Menschenrechte und Grundfreiheiten) partiell anders. Auch
wenn er die die EGMR-Entscheide für „nicht durchweg überzeugend“ hält, sieht er die BRD – unter dem Druck der
EGMR-Judikatur – mit dem Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung auf einem richtigen Weg. Lediglich mit
den Schwierigkeiten der Kriminalprognose bei nur einer Anlasstat empfiehlt er, behutsamer umzugehen, angesichts des
hohen Irrtumsrisikos zulasten der Verurteilten. Hier schlägt
er, anstelle der ihm überfordert erscheinenden zwei Gutachter, nach ausländischem Vorbild vor, interdisziplinär zusammengesetzte Gutachterkommissionen einzuschalten. Sánchez
Lázaro (Eine Dekonstruktion der Maßregeln der Besserung
und Sicherung) versucht, ausgehend von einem Entscheid des
Tribunal Supremo Spaniens, mittels einer schematisierten,
sich mathematisch darbietenden Betrachtung darzulegen, dass
aus Gründen des Freiheits- und Menschenwürdeprinzips die
freiheitsentziehenden Maßregeln fragwürdig und jedenfalls
zurückzudämmen seien. Auch bei der Sicherungsverwahrung
sieht er durch die Rechtsprechung des deutschen BVerfG die
beiden vorgenannten Grundsätze entleert.
Als 5. Abschnitt folgt das Strafverfahrensrecht. Hier betrachtet Jung den „Strafprozess aus rollentheoretischer Sicht“
– bis hin zu dem Bild von der „Justiz als Theater“. In der
Reform der letzten Jahrzehnte macht er zwei Gewinner aus:
die Staatsanwaltschaft (der er als Kompensat für den Machtzuwachs mehr Unabhängigkeit wünscht, um einen „Administrativprozess“ zu vermeiden) – und das Opfer. (Nicht erwähnt
hat er die Polizei [als Arme und Unterleib der Staatsanwaltschaft], der am meisten zusätzliche Kompetenzen zugeflossen
sind. Denn auch die Kulissenschieber gehören zum Theater.)
Wolter (Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht
– Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht) zieht – wie nach dem Titel
nicht anders zu erwarten – herzerfrischend über Gesetzgeber
und Judikatur von BVerfG und BGH her und gelangt zu einem
„niederdrückenden“ Ergebnis: Verfassungswidriges, handwerklich schlecht Gemachtes, Fehlerhaftes mit Verstößen
gegen die Zuständigkeit, Systemloses und Inkonsequentes
findet er dort aneinandergereiht. Schließlich spießt er BGHSt
54, 69 mit dessen Abwägungsfetischismus auf, vor dem Hintergrund einer allgemeinen Idolisierung des ‚ungeschrieben
Verfassungsauftrags‘ zur Aufrechterhaltung und Effektuierung
der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“. Anders als
früher befürwortet Wolter nicht mehr eine Gesamtreform der
StPO, sondern eine solche in Teilen – unter stärkerer Berücksichtigung der österreichischen Errungenschaften. Kühne
(Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im
Strafverfahren – Zugleich eine Stellungnahme zum Beschluss
des BVerfG vom 9.11.2010) greift noch einmal das bereits
angezogene Thema der Steuerdaten-CD auf, sieht die DatenNutzung in einer Schweizer, deutschem materiellem und
Verfassungs- sowie Völkerrecht widersprechenden Weise
bemakelt und spricht sich, in deutlicher Kritik von BVerfG
NJW 2011, 2417, für ein Beweisverwertungsverbot aus.
Pastor (Eine Frist, die keine ist? – Über die Durchführung
des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist)
eröffnet mit einer steilen Aussage, die ich für zumindest dubios halte: „Die Dauer des Prozesses“ bedeute „nichts anderes
als die prozessuale Aufhebung der Unschuldsvermutung“.
(Der Prozess hebt die Unschuldsvermutung nicht auf und
falsifiziert sie auch nicht. Vielmehr ist es seine Aufgabe, den
Tatvorwurf zu klären. Und bis zur Rechtskraft des Urteils
wirkt die Unschuldsvermutung.16) Dennoch ist die von Pastor
vertretene Kernaussage nur allzu berechtigt: Dass überlange
Verfahren ein rechtsstaatliches Kernproblem des Strafprozessrechtes seien. Bei der Ausdeutung dessen, was angemessene Dauer i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ist, findet er die
anschauliche Bezeichnung: „Theorie der Nicht-Frist“, weil in
der Rechtsprechung des EGMR keine wirkliche Befristung
aus der Norm folge, sondern ein „amöbenhaftes“ Gebilde, ein
„offener Maßstab“, in dem viele Parameter Berücksichtigung
fänden, und deren Verletzung einen „Ausgleich“ erfordere.
Pastor verlangt demgegenüber, dass der Gesetzgeber eine
absolute Höchstfrist setzen müsse, deren Überschreitung zur
Einstellung führen müsse. (Da aber Prozesse Interaktionen
sind, haben es auch der Beschuldigte und sein Verteidiger
nicht unbeträchtlich in der Hand, das Verfahren zu verlängern. Solange Pastor nicht geklärt hat, wie mit der Möglichkeit eines selbstinduzierten Prozesshindernisses umzugehen
sein soll, dürfte seine These nicht viele Anhänger bei den
staatlichen und gesetzgeberischen Stellen finden). G. Schäfer
(Vom Umgang mit dem Ermittlungsrichter) befasst sich mit
berechtigtem Unmut mit dem Sachverhalt, der BGH NStZ
2010, 711 = StV 2010, 553, zugrunde lag. Dort war dem
Ermittlungsrichter zwar ein belastendes Gutachten des Verfassungsschutzes, aber nicht das zum gegenteiligen Schluss
gelangende entlastende Gutachten des BKA vorgelegt worden. Das veranlasste diesen zur Anordnung einer Telefonüberwachung, während der Beschwerdesenat, in Kenntnis
beider Gutachten, das Vorliegen eines für § 100a StPO ausreichenden Verdachtes verneinte. Schäfer verlangt mit Recht,
dass entsprechende Anträge – trotz oft bestehender Eilbedürf16
Ausführlich dazu Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 42 ff.
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Paeffgen
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tigkeit – die Funktion des Ermittlungsrichters ernst nehmen,
wofür er verschiedene Vorschläge macht, u.a. die Vorlegung
der vollständigen Akten. (Doch geböte es die intellektuelle
Redlichkeit der zuarbeitenden Dienststellen, um nicht gleich
an § 344 StPO zu erinnern, auf ein derartiges, geradezu
peremptorisch wirkendes Beweismittel hinzuweisen, damit der
Ermittlungsrichter nicht, in der Fülle des Materials erstickend, über diese, möglicherweise nur kurze, Stellungnahme
hinwegblättert). Nach Diskussion eines weiteren Falles weist
Schäfer auf die Möglichkeit einer dadurch ausgelösten
Staatshaftungsklage hin. Wohlers (Vorbefassung durch Erlass
des Eröffnungsbeschlusses) unterfüttert mit Belegen aus der
EGMR-Judikatur und der Empirie (lediglich < 10 % Freisprüche nach einem einmal eröffneten Hauptverfahren), dass
der Beschuldigte sich mit materiellem Grund nicht mehr mit
einem unbefangenen (weil mit dem eröffnenden Richter
personenidentischen) Richter konfrontiert fühlt.17 Ostendorf
(Die Beschuldigtenrechte beim Einsatz eines Verdeckten Ermittlers – dargestellt am Fall eines abgenötigten Geständnisses), behandelt anhand eines hoch bedenklichen Falles beim
LG Kiel, wie die Beschuldigtenrechte gegenüber der Ermittlungsgruppe nicht öffentlich ermittelnder Polizeibeamte gewahrt werden kann. Dort hatte sich ein Verdeckter Ermittler
in das Vertrauen eines psychisch schwerbelasteten Mordverdächtigen eingeschlichen (der diesen schließlich für seinen
„einzigen Freund“ hielt) und diesem unter Ausnutzung der so
erzeugten emotionalen Abhängigkeit ein „Geständnis“ entlockt, das ein Sachverständiger später als falsch einstufte.
Ostendorf plädiert für eine stärker justizielle Kontrolle, zumal
der Sachverständige haarsträubende Vernehmungs-Umstände
zutage gefördert hatte (u.a. hatte der Beschuldigte 1,7 ‰
BAK – und blieb ohne Verteidiger, weswegen die fünfstündige Vernehmung generös auch nur als „Gespräch“ bezeichnet wurde). Zusätzlich fordert er – überzeugend – Informationen aus einem derart erlisteten „Vertrauensverhältnis“ als Fall
des § 136a StPO anzusehen. Renzikowski (Das Recht auf den
Beistand eines Verteidigers im Lichte von Art. 6 Abs. 3 lit. c
EMRK und des 6th Amendments zur US-Verfassung) zeigt
auf, dass bei ähnlicher Ausgangslage zwischen der USamerikanischen und deutschen Rechtslage die Judikatur des
BGH sich die vertrauten Abwägungsschlupflöcher lässt, währen der Supreme Court, wenn auch nur bereichsweise, konsequenter zu Werke gehe. Mit Fug tritt Renzikowski der auch in
der verfassungsgerichtlichen Judikatur (neuerdings) wieder
idolisierten „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ als
„argumentum totum superveniens“ entgegen und betont das
Fairness-Gebot i.S.d. EGMR-Verständnisses und das Erfordernis angemessener Verteidigungs-Möglichkeit bereits im
Ermittlungsverfahren. Jahn (Die Grenzen der Editionspflicht
des § 95 StPO – Ein Beitrag zur Systematik der strafprozessualen Vorschriften über die Beschlagnahme) lenkt die
Aufmerksamkeit auf diese namentlich in Wirtschaftsstrafsachen zunehmend bedeutsam werdende Frage. Denn dort
fänden sich nicht selten betriebsinterne Ermittlungsergebnis17
Vgl. dazu auch Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer
Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. IV, 4. Aufl. 2011,
Vor § 198 Rn. 10, 16.
se, die ohne die Schutzgarantien der StPO erhoben worden
seien. Um flächendeckenden Editionen vorzubeugen, verlangt
Jahn, dass tatsachenbasierte Anhaltspunkte für die Beweiserheblichkeit der Unterlagen vorliegen müssten. Überdies begrenzten Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote diese Pflichtigkeit. Androulakis (Das Wesen des
strafrechtlichen Beweises und seine Bestandteile, unter Einschluss seiner revisionsrechtlichen Kontrolle – Die Falsifizierung durch den vernünftigen Zweifel) spricht sich unter Berücksichtigung der US-Judikatur zu dem ungeschriebenen,
aber für verfassungskräftig gehaltenen Erfordernis des „proof
beyond reasonable doubt“ für eine Überprüfbarkeit der richterlichen Überzeugungsbildung aus. Dabei betont er mit
Recht, dass es nicht um die Substitution der tatrichterlichen
Überzeugung durch die des Revisionsgerichts gehe: Denn dieses sei nicht „Richter der konkreten Sache“, sondern „des
konkreten Urteils“. Er verweist dabei empfehlend auf einen
griechischen Revisionsgrund der fehlenden oder mangelhaften Urteilsbegründung. Murmann (Probleme der gesetzlichen
Regelung der Absprachen im Strafverfahren) zeichnet ein
resignatives Bild von dem per Gesetzgebung und Revisionsjudikatur Erreichbaren zur Korrektur der instanzgerichtlichen
Exzesse (von dem Einfluss der Wissenschaft will man schon
gar nicht mehr sprechen, da deren nur allzu berechtigten Kritiken von der Praxis als das bekannte Schrubben der Wildsäue
an der Rinde von „Deutschlands Eiche“ eingestuft wurde).
Entgegen dem, was in der Praxis läuft (und was der Gesetzgeber als Feigenblatt vor die Blößen seiner unsäglichen Regelung gehängt hat), betont Murmann, dass – mit Rücksicht
auf das (verfassungskräftige) Schuldprinzip – das „Erfordernis
der Sachverhaltsaufklärung nicht zur Disposition“ stehe. Damit ist dem Deal aber an sich schon der gedankliche Todesstoß verpasst. Bei der Analyse des Absprachegegenstandes
i.S.d. § 257c StPO bestreitet er den Belang der „schlanken“
Geständnisse als verhandelbare Strafzumessungstatsache, jedenfalls in der gängigen Nachhaltigkeit (ca. 1/3 Strafrabatt).
Aber auch die erreichbare Verfahrenskürzung oder Schonung
der Opferzeugen pervertiere das Strafverfahren wie die Strafzumessung. Momsen (Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls
bei Verfahrensabsprachen) zeigt das Trauerspiel des Bedeutungsverlustes des Hauptverhandlungsprotokolls nach („natürlich“, muss man nunmehr leider schon sagen) einer Mehrheitsbilligung des schandbaren Entscheides des Großen Senats
durch das BVerfG, durch das Zusammenspiel von Negativattest und Rügeverkümmerung. Er arbeitet die Friktionen zwischen § 273 und § 274 StPO im Absprache-Fall heraus und
spricht sich für die Ausweitung des Ton-Sitzungsprotokolls
aus, das durch die neuen Techniken problemlos möglich wäre.
Radtke (Die Bedeutung der Beschwer im Rechtsmittelsystem
der StPO – Überlegungen anhand von Entscheidungen bezüglich stationärer Maßregeln der Besserung und Sicherung)
spricht sich dafür aus, die Beschwer durch den Tenor (und
nicht allein durch die Entscheidungsgründe) für die Rechtsmittel-Zulässigkeit für maßgeblich zu halten. Für den Fall
diskriminierender Inhalte der Begründung erwägt er Rückausnahmen, die aber wohl außerhalb der regulären Revision
stünden, ebenso bei unterlassenen Entscheidungen, Maßnahmen usw., wenn denn die nicht berücksichtigte Norm be-
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schuldigten-schützend sei. Pérez-Barberá (Die Ausweitung
der Revision – Ein neues Verständnis der sogenannten Leistungsmethode) erinnert anlässlich der Ausweitung der Revisionskontrolle in Argentinien durch die Judikatur des Obersten Gericht an die Leistungsmethode von Peters, die er zu
verbessern vorschlägt. Pérez-Barberá unterscheidet zwischen
Inferenz- (bewertende Aussagen) und Unmittelbarkeitsaussagen in den Urteilsgründen und hält bzgl. der ersteren eine
revisionsgerichtliche Kontrolle für möglich. Dies möchte er jedoch auf beschuldigten-begünstigende Rechtsmittel beschränken.
Den vorletzten, 6. Abschnitt „Europäisches, außereuropäisches und supranationales Strafrecht“ beginnt Hilgendorf
(Von der juristischen Entwicklungshilfe zum Rechtsdialog –
Prolegomena zu einer Außenwissenschaftspolitik des Rechts).
Hilgendorf plädiert für eine Außenwissenschaftspolitik angesichts der Bedeutung, die die deutsche Strafrechtsdogmatik in
Ostasien, Südamerika und der Türkei habe, trotz aller nationalen Besonderheiten. Er befürwortet vielfältige Formen von
Kooperation und wendet sich gegen die anglo-amerikanischen Formen des Wissenschafts-Ratings („Impact-Factor“).
Ferré Olivé (Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt): In einer Tour d’horizon, angefangen vom falangistischen Spanien über die Prozesse in Nürnberg und Tokio bis
zu den Internationalen Strafgerichtshöfen, betrachtet er die
Schwierigkeiten, die Bewältigung der Untaten in den überwundenen Gewaltherrschafts-Formen durch die Strafjustiz
angemessen zu gestalten. Er rügt die Straffreistellungen in
Chile und Brasilien und lobt Roxins Zurechnungsfigur der
mittelbaren Täterschaft kraft organisierter Machtapparate,
exemplifiziert an der Judikatur in mehreren südamerikanischen Staaten. Harms und Knauss (Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der strafrechtlichen Rechtssetzung der
Europäischen Union – Eine Zwischenbilanz) singen das hohe
Lied auf die europäische Einigung und deren Folgen auf eine
vereinfachte grenzüberschreitende Strafverfolgung, sind aber
u.a. der (z.T. hanebüchenen) Unterschiede in den Strafbarkeits-Einschätzungen der einzelnen EU-Länder durchaus
gewärtig. Leider wähnen sie das Problem mit dem Placebo
des Verhältnismäßigkeits-Vorbehalts gelöst. Da beschleichen
mich denn doch schwerwiegende Zweifel, angesichts der
bisweilen auf Lug und Trug beruhenden Ausweitung der EUMitgliedschaften und der von den Altmitgliedern und den
EU-Institutionen mit auf geifernder Erweiterungseuphorie
gegründeter, gewollter Selbstblendung übersehenen Defizite
in dem Justiz- und Grundrechtestandard. Überdies bauen jetzt
sogar einige Mitgliedstaaten im Wege eines materialen
Détournement de pouvoir ihre Rechtsordnung um, und desavouieren diese Sicht noch zusätzlich. Welcher konzeptionelle
Nonsens unter dem Deckmantel „Europa“ auf uns zurollt, hat
Esser in seinem Beitrag „Auswirkungen der Europäischen
Beweisanordnung auf das deutsche Strafverfahren“ auf das
Ernüchterndste auseinandergefaltet, indem wir nahezu durchgängig unter das Niveau des bei uns national Erreichten gehen würden (was ja auch keineswegs als Goldstandard zu
prädikatisieren ist). Um Hettinger zu zitieren, setzt man in
Brüssel noch anderthalben Schelmen auf einen, indem man
auf die EBA (noch vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist) gleich
noch mutmaßlich zwei (!) Entwürfe für eine Europäischen
Ermittlungsanordnung folgen lässt. Satzger (Auf dem Weg zu
einer „europäischen Rechtskraft“?) mahnt zur Vorsicht bei
der gegenseitigen Anerkennung im Zusammenhang mit Art.
54 SDÜ und kritisiert den vom EuGH befürworteten Automatismus. Gleichzeitig erinnert er an einen von ihm schon früher
empfohlenen Ordre-public-Vorbehalt.18 Santana Vega (Strafrechtliche Aspekte der diskriminierenden Meinungsfreiheit:
Eine europäische Perspektive) erinnert an die von Roxin
ausgesprochene Warnung vor der „Flucht in das Strafrecht“
und formuliert dann, in schöner Klarheit: Diese kehre ständig
wieder, „nicht nur [als] staatlichen Eingriff in die kollektiven
oder supraindividuellen Rechtsgüter […], sondern dies auch
unter dem Vorwand der Sicherheit, des punitiven Populismus
oder einer verschärften symbolischen Funktion des Strafrechts“ (man meint, man läse die geheime Handlungsanweisung sowohl an den deutschen wie den europäischen Strafgesetzgeber). Leider erwachse mit dem EGMR gegen strafrechtliche Unterdrückung von Meinungsäußerungen ein eher
schillernder, unsteter Bundesgenosse. Klar spricht Santana
Vega sich gegen Leugnungs- und Verharmlosungs-Tatbestände aus – und damit auch gegen Jakobs’ KlimaschutznormenLehre. Díaz-Aranda bejaht die Frage „Ist die deutsche Strafrechtsdogmatik auf die strafrechtliche Problematik Mexikos
anwendbar?“ grundsätzlich und illustriert dies u.a. an zwei
Zurechnungs-Problemfällen in der mexikanischen Justiz. Er
weist aber auch auf die sich schrecklich verschärfende Kriminalitätslage in seinem Land hin. Sarrabayrouse (Die Gesetzgebungstheorie: Eine Grenze für die Ausweitung des
Strafrechts? Ihre Entwicklung und Perspektiven in Argentinien – Zugleich eine vergleichende Darstellung) zeichnet ein
sehr optimistisches Bild von einer neuen WissenschaftsDisziplin, der Gesetzgebungstheorie, ihren Aufgaben und
Möglichkeiten. Ganz am Schluss deutet er auch Probleme an
– mit dem Stichwort „Blumbergstrafrecht“ (Vater eines Entführungsopfers habe die nachfolgende Gesetzgebung stark
beeinflusst). In Zeiten, in denen Gesetzentwürfe in große
Anwaltskanzleien „outgesourced“ werden, wie dies wohl auf
Pidgin-Deutsch heißt, habe ich Zweifel, ob für die Strukturanalyse dieses – nicht selten kümmerlichen, jedenfalls stark
interessegeleiteten – Tuns das Wort „Wissenschaft“ schon
adäquat ist. Wang (Entwicklung und Probleme der chinesischen Straftheorie) wirft einen interessanten Blick auf die
innerchinesische Strafrechtsentwicklung, namentlich die
Zurückdrängung der Todesstrafe, die Weiterentwicklung der
Nicht-Freiheitsstrafe und – dem zugrundeliegend – auf das
Ringen um die Strafzwecke. Stojanović (Die Verbrechenslehre aus der Sicht des serbischen Strafrechts) stellt die Entwicklung des serbischen Strafrechts seit der Staatsgründung vor
und belegt manche Parallele, z.T. mit zeitlicher Verzögerung,
zur deutschen Dogmengeschichte. Ida (Neuere Entwicklungen
im japanischen Strafrecht im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen) diagnostiziert eine steigende Tendenz zur Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes, was aber – mit Rücksicht
auf die gesellschaftlichen Veränderungen – seine Billigung
findet, aber auch einen Hang zur Verschärfung, was er missbilligt. Yamanaka (Warum ist die Organentnahme in Japan so
18
Dafür i.Ü. in der Sache auch Paeffgen, ZStW 118 (2006),
275 (352 ff.).
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schwierig? – Bemerkungen zum japanischen Organtransplantationsgesetz) zeichnet die Entwicklung von einer sehr strengen Einwilligungslösung (mit der Folge weniger Transplantationen) zu einer, von Yamanaka für widersprüchlich-mehrdeutig gehaltenen, erweiterten Lösung, in der auch die Familie ein Entscheidungsrecht ausüben könne, wenn der Patientenwille undeutlich sei. Novoselec (Die Rezeption der Tatherrschaftslehre im kroatischen Strafrecht) zeichnet die schwankende Geschichte der Rezeption dieser Doktrin in dem noch
jungen Staat nach. Jovančević (Akzessorische Natur der
Teilnahme im serbischen Strafrecht) bietet eine ähnlich Betrachtung vom Siegeszug der limitierten Akzessorietät in
Serbien. Morillas Cueva (Städtebaudelikte zwischen Realität
und Expansion) zeichnet eine unterschiedliche Entwicklung
dieser Deliktstypen zwischen Deutschland und Spanien. Er
befehdet die unsystematische, aber sich ständig verschärfende
Bewältigungstechnik in Spanien und sieht das stark verwaltungsakzessorische deutsche Recht im Vorteil. Carmona
Salgado (Die Neuregelung von Mobbing am Arbeitsplatz und
auf dem Immobiliensektor im spanischen Strafgesetzbuch)
zeichnet ein sehr ausdifferenziertes Bild von der z.T. nicht
eben stimmigen Rechtssituation bzgl. des vertikalen, horizontalen und sexuellen Mobbings in Spanien – und wartet neben
der Fülle der Tatbestände mit einer besonderen Delikatesse
eines „systematisch arbeitenden“ Gesetzgebers auf: Mobbing
im Immobilienbereich – zudem noch in zwei Tatbeständen.
Militello (Die Reform der Delikte gegen den Staat in Italien)
beschreibt die Entwicklung des Staatsschutzes im (faschistisch gegründeten) Codice Rocco und dessen Reform – und
hier speziell auch des in diesen Abschnitt integrierten Bekämpfens von kriminellen Vereinigungen. Cavaliere (Ansätze zur Kritik des Drogenstrafrechts – aus einer italienischen
Perspektive) wendet sich deutlich gegen das prohibitionistisch geprägte italienische Drogenstrafrecht und bezeichnet es
als „inhuman“. Dass es zudem zur Überlastung der Strafrechtspflege und des Strafvollzuges beiträgt, ist ein weiteres,
freilich nicht nur italienisches Problem. Sözüer (Die strafrechtliche Bewertung des tödlichen polizeilichen Schusswaffeneinsatzes gegen Flüchtige in der Türkei) berichtet über die
Novellierung des türkischen Rechts unter dem Einfluss mehrerer Verurteilungen der Türkei durch den EGMR. Er sieht
einen wesentlichen Unterschied zu der früheren Rechtspraxis
darin, dass heute Anklagen auch zu Verurteilungen führten.
Szwarc („Sportdelikte“ im polnischen Strafrecht) stellt die
Anti-Korruptions- und -Doping-Tatbestände vor (wobei in
Polen, scheint’s, Doping gar keine so große Rolle zu spielen
scheint). Cuerda Riezu proklamiert „Die Verfassungswidrigkeit der lebenslangen und sehr langen Freiheitsstrafe im spanischen Recht“. Die – bemerkenswerte – These, die Cuerda
Riezu in seinem Beitrag zu erhärten sucht, steckt schon im
Titel: Verfassungswidrigkeit der langen Freiheitsstrafe. (Man
beachte, dass das Lebenslänglich selbst unter Franco abgeschafft war und seither nicht wieder eingeführt worden ist,
was die Volkspartei jetzt aber zu ändern wünscht). Rivero
García (Das kubanische Strafprozessrecht – Notwendigkeit
einer Reform) bläst zum Aufbruch für eine Prozessreform des
noch stark vom alten spanischen Recht (1889), trotz sowjetischer Einflüsse, geprägten status quo. Ähnliches tut auch
Bejatović (Aktuelle Fragen zur laufenden Reform der Straf-
prozessgesetzgebung in Serbien), der nach der Reform des
materiellen Rechts eine Zeit der Revision des formalen
Rechts angebrochen sieht. Córdoba (Das abgekürzte Verfahren in Argentinien) rügt in schlüssiger Manier, dass Argentinien mit seinem neuen „abgekürzten Verfahren“ den Anforderungen der Verfassung und denen internationaler Verträge
nicht genüge. Queralt (Vorläufige Festnahme und Identitätsfeststellung im spanischen Recht: verfassungsrechtliche und
gesetzliche Bestimmungen) schildert die Neuerungen dieser
polizeilichen Befugnis und betont dabei besonders den Verhältnismäßigkeits-Aspekt. Yoshida (Beteiligung des Tatopfers am Strafverfahren in Japan – Ein Schritt vorwärts und
zwei Schritte zurück?) rügt die neu eingeführten Möglichkeiten des Tatopfers, auf die Strafzumessung Einfluss zu nehmen, wenn und soweit der Angeklagte im Gerichtssaal die
Kommunikation mit jenem verweigert. Kaiafa-Gbandi (Private Überwachung im Sicherheitsstaat und faires Strafverfahren am Beispiel der griechischen Rechtsordnung) sieht eine
ständig um sich greifende Erweiterung von privaten Sicherheitseinrichtungen und verlangt staatliche Schutzmechanismen gegen die solchermaßen generierten Beweismittel wie
auch gegen deren Gewinnung.
Als letztes Kapitel folgt das 7. mit dem Thema „Kriminologie“. Dölling (Über das Böse aus kriminologischer und
strafrechtlicher Sicht) diskutiert die Phänomene des „Bösen“
als soziales Konstrukt und wendet sich dezidiert gegen Jakobs’ Depersonalisierung des Nicht-prinzipiell-Rechtsbefolgungswilligen als „Feind“. Kölbel (Gewissensmobilisierung
durch Strafrecht?) bricht eine Lanze für die Gewissensindifferenz des Strafrechts und weist beiläufig auch auf die
Schwierigkeiten hin, im Strafverfahren konzeptionell „Reue“
zu induzieren. Anastasopoulou (Zur aktuellen Leistungsfähigkeit des viktimologischen Ansatzes) diskutiert den Opferschutz bei verschiedenen Tatbeständen und verlangt eine
Differenzierung nach der Selbstschutzmacht der jeweiligen
Opfertypengruppe
III. Zu den Beiträgen ließe sich leicht mehr, Positives wie
Kritisches, sagen. Aber der Rezensent hofft, mit den gelegentlichen Touchées das Interesse der Leser geweckt zu haben:
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. […], so
gebt es gleich in Stücken.“ Unbestreitbar ist, dass die Festschrift in ihrer imponierenden Gesamtheit ein beredtes – und
würdiges – Zeugnis für das überragende Ansehen von Claus
Roxin in der nationalen wie internationalen Fachwelt ablegt.
Es bleibt nur, dem Jubilar auch von dieser Stelle zuzurufen: Möge er noch lange die Zunft mit seinen anregenden,
immer lösungsfördernden Beiträgen bereichern! Vor allem
aber möge ihm weiterhin die Gesundheit und der Lebenselan
beschieden sein, die Dinge noch zu tun, die er selbst sich
vorgesetzt hat, in Harmonie begleitet von seiner nicht minder
geschätzten Gattin, die, nota bene, in diesem Jahr gleichfalls
für ihr rechtswissenschaftliches, aber auch ihr anwaltliches
Wirken, mit einer Festschrift und einer Sonderausgabe dieser
Zeitschrift19 geehrt wurde.
Prof. Dr. Hans-Ullrich Paeffgen, Bonn
19
ZIS 5/2012.
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Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag
Neuhaus
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B uc hre ze ns io n
Hans-Ullrich Paeffgen /Martin Böse/Urs Kindhäuser/
Stephan Stübinger/Torsten Verrel/Rainer Zaczyk (Hrsg.),
Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion,
Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, Duncker
& Humblot, Berlin 2011, 1697 S., € 298,I. Durch die allein schon vom Umfang her fulminante Festschrift wird eine Rechtswissenschaftlerin geehrt, die über fast
alle Probleme der Strafrechtsdogmatik und deren Methode
geschrieben hat. Ingeborg Puppes Werk zeichnet sich in
besonderer Weise durch analytische Klarheit und methodische Präzision aus. Eigenschaften, die zu vermitteln ihr stets
ein dringliches Anliegen war, zumal in einer Zeit, in der
juristische Halbbildung staatlich organisiert wird: Für die
Grundlagenfächer Rechtsphilosophie, Methodenlehre, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie reicht in fast allen Bundesländern die Teilnahme an nur einer Veranstaltung in einem
der Fächer für die Zulassung zur ersten juristischen Staatsprüfung. Die systematische Erfassung und Auseinandersetzung mit den Methoden der Rechtsgewinnung, die in der
Praxis erforderlich sind, ist also in der Juristenausbildung im
Grunde nicht vorgesehen. Wissenschaftliches Arbeiten kann
aber erst dann beginnen, wenn die Studierenden lernen, den
ihnen vorgelegten Stoff eigenständig zu anlysieren und die
verschiedenen Rechtsaufassungen kritisch zu prüfen.1 Es
verwundert daher nicht, dass Ingeborg Puppe dieser fatalen
Entwicklung entgegentrat, etwa in ihrem bescheiden „Kleine
Schule des juristischen Denkens“ genannten Buch, das in
Wahrheit eine – unbedingt lesenswerte – Hohe Schule juristischer Methodik enthält.
Angesichts der vielen und von der Jubilarin „stets mit
Leidenschaft geführten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen“ waren die Herausgeber, so liest man im Vorwort,
„ein wenig in Sorge“, ob sich das „etwas dämpfend auf die
Bereitschaft auswirken würde, an dieser Festschrift mitzuarbeiten“ (S. VII). Die Festschrift ist der beeindruckende
Nachweis, dass solcherlei Befürchtungen unbegründet waren:
97 Autoren und Autorinnen aus dem In- und Ausland erwiesen Ingeborg Puppe die Ehre. Bei diesem Umfang versteht
sich von selbst, dass nicht alle Beiträge erwähnt werden können, geschweige denn: näher betrachtet. Auch die „verschwiegenen“ sind allemal lesenswert. Die in dieser Rezension angesprochenen Aufsätze sind also das Ergebnis einer
subjektiven Auswahl, ausgerichtet an den Vorlieben des
Rezensenten.
II. Die drei ersten Abschnitte der Festgabe befassen sich
mit „Rechtsphilosophie“ (S. 3 bis 92) sowie „Rechtstheorie
und Methodenlehre“ (S. 93 bis 324) und „Rechtsgeschichte“
(S. 325 bis 342).
Hruschka würdigt in seinem Aufsatz „Kant, Feuerbach
und die Grundlagen des Strafrechts“ (S. 17 ff.) die Leistun-
1
So zutreffend Rüthers, JuS 2011, 865: „Wozu auch noch
Methodenlehre? – Die Grundlagenlücken im Jurastudium“.
gen der Aufklärungsphilosophie für das Strafrecht,2 namentlich zur Funktion des Strafrechts in einem Rechtsstaat.
Hegels Philosophie gilt als schwierig. Die Entwicklung
der Gedanken vollzieht sich nicht selten in überraschenden
Bewegungen, in denen blitzend scharfe Thesen von Wendungen abgelöst werden, die einem den Boden, auf dem man
soeben noch sicher zu stehen glaubte, unter den Füßen weg
zu ziehen scheinen.3 Wolfgang Schild zeigt, dass die verbreitete Auffassung,4 Hegels Theorie von der Strafe sei eine
„absolute“, also eine Vergeltung des verbrecherischen Unrechts, die jede Berücksichtigung eines Strafzwecks – wie
Besserung des Delinquenten, generalpräventive Abschreckung, Bestärkung des Rechtsvertrauens bei der rechtstreuen
Bevölkerung – ablehne, nicht richtig ist. Es gehe vielmehr in
den insoweit allzu oft missverstandenen Passagen der maßgeblichen Werke Hegels nicht um eine Theorie der Strafe,
sondern um eine Theorie der Strafrechtsinstitution (S. 78 ff.).
Wie wichtig diese Klarstellung ist, mag daran deutlich werden, dass Hegels (nicht existierende) Theorie von der absoluten Strafe als Grundlage wirrer Forderungen herhalten muss
wie dem „Anspruch des Opfers auf Wiederverletzung“.5
Volker Haas macht „Methodische, rechtstheoretische und
materiell-rechtliche Anmerkungen zum normativen bzw.
unbestimmten Rechtsbegriff“ (S. 93 ff.). Hans Joachim
Hirsch beklagt mit gebotener Deutlichkeit den Niedergang
der deutschen Strafgesetzgebung: „Der Umgang des Gesetzgebers mit dem StGB und die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Berichtigung unterlaufener gesetzestechnischer Fehler“ (S. 105 ff.). Der Beitrag sei allen Parlamentariern zur
Lektüre empfohlen: Ihnen wird die Schamesröte ins Gesicht
steigen. Ergänzen lässt sich die Reihe der von Hirsch genannten Negativbeispiele um die Regelung des § 81h Abs. 3 S. 1
und S. 2 StPO: Durch den Verweis in Satz 1 (auch) auf § 81g
Abs. 2 S. 1 StPO enthält § 81h StPO zwei voneinander abweichende Vernichtungsregeln. Der Bundesgerichtshof wird
sich in Kürze voraussichtlich mit den daraus ergebenden
Problemen zu befassen haben.6 Bernd Schünemann untersucht „Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz“
(S. 243 ff.) am Beispiel der verfassungsfeindlichen Sabotage
(§ 88 StGB), während sich Hans Kudlich der Bedeutung der
„Regeln der Grammatik“ für die Auslegung zuwendet (S. 123
ff.).
2
Vgl. dazu auch aus neuerer Zeit Greco, Lebendiges und
Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009; Rez. Pawlik, ZIS
2011, 262.
3
Vgl. nur Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie,
2010, S. 113 ff.
4
Etwa Roxin, JuS 1966, 377; Eb. Schmidt, Einführung in die
Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1969,
S. 294 f. Zweifel an diesem Hegel-Bild aber bei H. Mayer, in:
Bockelmann (Hrsg.), Festschrift für Karl Engisch zum
70. Geburtstag, 1969, S. 74.
5
Dornseiff, Recht und Rache – Der Rechtsanspruch auf Wiederverletzung, 2003.
6
Im anhängigen Revisionsverfahren 3 StR 117/12.
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Neuhaus
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Heribert Ostendorf erinnert an den „Düsseldorfer
Majdanek-Prozess“ (S. 325), in dem das Verhalten einiger
(nicht: aller!) Verteidiger beschämend und zum Teil weit
über das erlaubte Maß hinausging. Rechtsanwalt Bock z. B.
reiste offenbar nach Anklageerhebung nach Israel, um dort
unter Verheimlichung seines Verteidigerstatus´ Zeugen zu
beeinflussen;7 Bock war es auch, der – schier unglaublich den Antrag stellte, eine Zeugin wegen Beihilfe zum Mord
festnehmen zu lassen, die als Häftling Zyklon B zur Gaskammer schleppen musste. Ostendorfs Beitrag ist nicht nur
historisch interessierten Lesern zu empfehlen, sondern auch
all solchen Anwälten, die den gebotenen und mitunter auch
hart und entschlossen zu führenden Kampf um die Sache mit
Klamauk8 verwechseln und so nicht nur unmittelbar das Ansehen der Anwaltschaft schädigen, sondern mittelbar auch
das wertvolle Institut der Strafverteidigung als solches.
III. „Strafrecht Allgemeiner Teil“ ist der vierte und längste Abschnitt der Festschrift überschrieben, wobei Manfred
Maiwalds Aufsatz zur „Krise der Tatbestandslehre“ (S. 695
ff.) nach Auffassung des Rezensenten besser im zweiten
Kapitel „Rechtstheorie und Methodenlehre“ untergebracht
gewesen wäre – wie umgekehrt der schöne Beitrag Klaus
Lüderssens über „Spontaneität und Freiheit – Zu neuen Aspekten moderner Hirnforschung für Strafrecht und Kriminologie“ (S. 65 ff.) besser hier im „Strafrecht AT“. Wie auch
immer:
1. Die Diskussion um die einverständliche Fremdgefährdung einschließlich ihres Verhältnisses zur einverständlichen
Fremdschädigung bzw. eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder -schädigung wird in jüngerer Zeit besonders lebhaft geführt, nachdem sich der vierte Strafsenat des BGH in
einer viel beachteten Entscheidung mit einer einschlägigen
7
Der Nebenklägervertreter Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich
Karl Kaul erstattete daraufhin Strafanzeige, worauf RA Bock
um Entpflichtung bat. Das Gericht entsprach dem. Im Memoirenband „In Robe und Krawatte – Vor Gericht der BRD“
ist der Majdanek-Prozess nicht näher beschrieben, wohl aber
der Auschwitz-Prozess vor dem LG Frankfurt/Main (S. 151
ff.) und das Verfahren „Dora-Mittelbau“ vor dem LG Essen
(S. 257 ff.).
8
Der Begriff „Klamauk“-Verteidigung wird hier in bewusster
Abgrenzung zum (zu Unrecht) negativ besetzten Begriff der
„Konflikt“-Verteidigung benutzt. Denn: Was ist am Konflikt,
der – wie gesagt – nichts mit unsinnigem Klamauk gemein
hat, so furchtbar schlimm? Was ist denn das Strafverfahren
anderes als ein regelgeleiteter, ritualisierter Konflikt? Dennoch ist es eine bare Selbstverständlichkeit, dass höfliche
Umgangsformen und ein verbindlicher Ton gewahrt werden.
Die wahre Kunst der Verteidigung wird sich sehr häufig
gerade darin zeigen, dass der Kampf um die besseren Argumente dem Machtkampf oder sogar dem „totalen Krieg im
Gerichtssaal“ überlegen ist. Es gehört zur Aufgabe der Verteidigung, vermeidbare Konflikte auch tatsächlich zu vermeiden. Mit unsachgemäßem „Kuschelkurs“ hat das nichts zu
tun. Beispiele für Klamauk etwa bei Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten – Anträge und Erklärungen im
„Baader-Meinhof-Prozess“, 1992, S. 150 ff.
Konstellation zu befassen hatte.9 Knapp zusammengefasst,
betraf die Entscheidung ein von vier jungen Männern mit
zwei Fahrzeugen auf einer zweispurigen Autobahn durchgeführtes Rennen mit einer Geschwindigkeit von 240 km/h und
mehr. Die beiden Fahrer versuchten, ein unbeteiligtes drittes
Auto gleichzeitig zu überholen, einer rechts, einer links.
Aufgrund einer zu hektischen Lenkbewegung eines der
„Rennfahrer“ geriet dessen Fahrzeug ins Schleudern, und es
kam zum Unfall: der Beifahrer starb. In Frage stand die Verurteilung der beiden Fahrer wegen fahrlässiger Tötung. Der
BGH bejahte sie: „Maßgebliches Abgrenzungskriterium
zwischen strafloser Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -schädigung und der – grundsätzlich tatbestandsmäßigen – Fremdschädigung eines anderen“ sei „die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme“. Beim Überholvorgang aber habe die Tatherrschaft
bei den beiden Fahrern gelegen.
Es befassen sich gleich mehrere Autoren mit diesen Fragen, zumal sich auch die Jubilarin zur Entscheidung des BGH
geäußert hatte.10 Uwe Murmann schreibt zur „Zur Einwilligungslösung bei der einverständlichen Fremdgfährdung“
(S. 767 ff.). Ihm bereitet die argumentative Gemengelage aus
Akzessorietäts- und Zurechnungserwägungen in der erwähnten Entscheidung BGHSt 53, 55 beträchtliches Unbehagen,
und er versucht, eine schärfere Erfassung der Fremdgefährdungsfälle anhand von Maßstäben zu entwickeln, die allgemein für die Fahrlässigkeitstatbestände gelten. Günter Stratenwerth (S. 1017 ff.: „Einverständliche Fremdgefährdung
bei fahrlässigem Verhalten“) macht sich dafür stark, die einverständliche Fremdgefährdung bei fahrlässigem Verhalten
aus dem Katalog besonderer Fallgruppen zu streichen: Die
Rechtsordnung, so argumentiert er in Anlehnung an die Jubilarin, gebe dem Einzelnen zwar nicht die Freiheit, sich vorsätzlich von einem anderen töten zu lassen (§ 216 StGB),
aber sie gebe ihm die Freiheit, sich in Gefahr zu begeben,
auch in eine Lebensgefahr (S. 1023). Rolf D. Herzberg untersucht, ob die frei verantwortliche Selbstgefährdung des Opfers zu einer Entlastung des Täters führen kann (S. 497 ff.).
Herzberg differenziert anhand des von ihm im Beitrag klug
entwickelten Kriteriums der Unausweichlichkeit: Es komme
darauf an, ob sich der Suizident der Wirkung des kausalen
Beitrages, nachdem der Beteiligte ihn geleistet hat, noch aus
eigener Kraft habe entziehen können, z.B. durch NichtSchlucken des ihm verschafften Giftes. Dann sei die Zurechnung unterbrochen. Anders sei es aber etwa beim Erschießen,
dem Hinab-Stoßen in den Abgrund oder dem Injizieren des
unabwendbar tödlichen Giftes (S. 513). Henning Radtke
untersucht „Objektive Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht bei Mitwirkung des Verletzten und Dritter an der Herbeiführung des Erfolges“ (S. 831 ff.). Er gelangt in Bezug auf
9
BGHSt 53, 55 m. Anm. Duttge, NStZ 2009, 690; Kühl,
NJW 2009, 1158; Renzikowski, HRRS 2009, 352; Roxin, JZ
2009, 399. Auch im Fall des bei dem G8-Gipfel in Heiligendamm zu Tode gekommenen Polizisten Benjamin B. wurde
die Problematik virulent; OLG Rostock, Beschl. v. 27.6.2011
– 1 Ss 32/11 I 43/11.
10
Puppe, GA 2009, 486.
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BGHSt 53, 55 zu dem Ergebnis, dass nach dem von ihm
allein für maßgeblich gehaltenen Kriterium der Eigenverantwortlichkeit eine eigenverantwortliche Entscheidung des
Beifahrers, sich dem Risikopotenzial der zum Tode führenden Situation auszusetzen (Überholvorgang bei einer Geschwindigkeit, die die zulässige um beinahe das doppelte
überschritt, und extrem geringer Seitenabstand der am Vorgang beteiligten Fahrzeuge), jedenfalls „auf der Grundlage
der in der Tatsacheninstanz getroffenen Feststellungen“ nicht
angenommen werden könne (S. 846). Auch Horst Schlehofer
hebt hervor, dass die eigenverantwortliche Entscheidung des
Opfers das Unrecht einer Lebensgefährdung durch einen
anderen durchaus beseitigen könne. Erst wenn sie sich nicht
nur auf die bloße Lebensgefährdung, sondern auf die vorsätzliche Tötung durch einen anderen beziehe, dann, so Horst
Schlehofer zutreffend, werde ihr durch § 216 StGB die unrechtsausschließende Wirkung versagt (S. 955). Schwerpunkt
seines Aufsatzes „Pflichtwidrigkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang als Rechtswidrigkeitsvoraussetzungen?“ (S. 953
ff.) ist aber das Problem des Unrechtsausschlusses bei hypothetischer Einwilligung. Schlehofer gelangt zu dem Ergebnis,
dass die „objektive Zurechnung“, sprich: Pflichtwidrigkeit
und Pflichtwidrigkeitszusammenhang, auf die Rechtswidrigkeitsebene zu übertragen seien: Nur so lasse sich auf der
Rechtswidrigkeitsebene eine der Entstehungsgeschichte und
der Systematik des Gesetzes widersprechende Erfolgshaftung
vermeiden (S. 965), weshalb auch die hypothetische Einwilligung den Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht ausschließe (S. 970).
2. Das Thema „Rechtswidrigkeit“ wird auch von anderen
Autoren aufgegriffen. Wolfgang Frisch befasst sich mit der
Regelung des § 34 StGB, von der man rund 40 Jahre nach
ihrer Einführung in das Gesetz meinen könnte, dass zumindest die mit ihr zusammenhängenden grundsätzlichen Probleme hinreichend geklärt seien. Indessen: Es erscheint z. B.
nach wie vor unsicher, ob § 34 StGB nur Fälle des Agressivnotstandes erfasst, bei der die Gefahrenabwehr durch die
Inanspruchnahme eines unbeteiligten Rechtsgutes erfolgt,
oder auch solche des Defensivnotstandes, bei dem sich die
Notstandshandlung gegen die Person richtet, von der die
Gefahr ausgeht. Diese Unklarheiten sind, wie Frisch in seinem grundlegenden Beitrag „Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien“ (S. 425 ff.) herausarbeitet, Folge
von Defiziten in der theoretischen Fundierung des Notstandsrechts. Die Lösung bestehe im Versuch, über das für den
Bereich der Grundrechtskollisionen entwickelte Prinzip der
praktischen Konkordanz11 die konkurrierenden Interessen
durch Abstriche auf beiden Seiten zu versöhnen und in ihrem
Kernbereich zu erhalten (S. 448). Dabei verkennt Frisch
keineswegs, dass es Kollisionsfälle gibt, die sich durch praktische Konkordanz nicht lösen lassen. Man denke an das von
Terroristen entführte Passagierflugzeug, das zum Absturz auf
ein Atomkraftwerk gebracht wird: Die Annahme eines Defensivnotstandes im Verhältnis zu den Flugzeuginsassen
überzeugt nicht. Denn die Gefahr geht ersichtlich vom Flug-
zeug aus, nicht jedoch von den Insassen; und die vom Flugzeug ausgehende Gefahr kann den Insassen schwerlich überzeugend zugerechnet werden.12 Die Entscheidung des Problems hängt, wie Frisch richtig ausführt, entscheidend davon
ab, ob sich in Notstandslagen, in denen der Verzicht auf die
Rettungshandlung (Abschuss des Passagierflugzeuges) dem
betroffenen, ohnehin verlorenen Gut nicht helfen und nur zu
zusätzlichen schweren Folgen an anderen Gütern führen
würde, eine Ausnahme vom sonst notwendigen Erfordernis
des Überwiegens des geretteten Gutes begründen lässt – etwa
mit der Erwägung, dass das Verbot der Rettungshandlung
hier keine sinnvolle Funktion mehr erfüllen könne (S. 450).
Detlef Krauß, am 30. Juni 2010 viel zu früh und unerwartet
vor der Publikation der Festschrift verstorben13, untersucht
kritisch den Grundsatz, dessen Bedeutung als Orientierungshilfe auf dem Pfad der Notwehr bislang unangefochten ist,
nämlich: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“
(S. 635 ff.). Seine Reflexion endet mit der auf den ersten
Blick überraschenden, aber in Anbetracht der zuvor ausgebreiteten Überlegungen dann doch keinesfalls von der Hand
zu weisenden Forderung: „Was die deutsche Notwehrdogmatik völlig unnötig belastet, ist die ideologische Überhöhung
mit allgemeinen Grundsätzen und wertorientierten Bekenntnissen im gedanklichen Umfeld der Rechtsbewährung. Dieser
aufgeladenen Rhetorik ist entgegen zu wirken. Wenn der Satz
„Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ aus allen
Lehrbüchern gestrichen würde, wäre das ein guter Anfang“;
sehr spannend!
3. Eine ganze Reihe von Beiträgen ist dem Komplex „Täterschaft und Teilnahme“ gewidmet. Diethelm Klesczewski
nimmt den Leser mit auf eine tour d’horizon durch die
„Grundformen beteiligungsdogmatischer Systembildung in
Europa“ (S. 613 ff.). Günther Jakobs untersucht die Konsequenzen, die sich aus dem Verständnis der „Mittäterschaft als
Beteiligung“ ergeben (S. 547 ff.), während Rudolf Rengier
„Die Zurechnung von einzelnen objektiven Tatbeiträgen gem.
§ 25 Abs. 2 StGB“ zu seinem Thema macht (S. 849 ff.). Pablo Manalich erläutert „Die Struktur der mittelbaren Täterschaft“ (S. 709 ff.), Kay Schumann den „Täter und sein Opferwerkzeug“ (S. 971 ff.) und Jan C. Joerden stellt Überlegungen zur „Anstiftung als Aufforderung zu freiverantwortlichem deliktischem Verhalten“ an (S. 563 ff.). Die Aufsätze
von Andreas Hoyer „Brauchen wir eine fahrlässige Mittäterschaft?“ (S. 515 ff.) und Thomas Rotsch „Gemeinsames Versagen: Zu Legitimität und Legalität der fahrlässigen Mittäterschaft“ (S. 887 ff.) runden die Themen zu „Täterschaft und
Teilnahme“ ab.
4. Aktuelle Bezüge weisen auch auf die Aufsätze von
Heiko Lesch „Zur Amtsträgereigenschaft der Aufsichtsräte
von kommunalen Gasversorgungsbetrieben“ (S. 685 ff.),
Frank Saliger „Public Private Partnership und Amtsträgerstrafbarkeit“ (S. 933 ff.) und Klaus Bernsmann „Irrtum und
Amtsträgerbegriff“ (S. 361 ff.) sowie Carsten Momsen „Der
12
So zutreffend Merkel, JZ 2007, 373 (384 f.).
Zu seinen Ehren erschien soeben: Heine/Pieth/Seelmann
(Hrsg.), Wer bekommt Schuld? Wer gibt Schuld? – Gesammelte Schriften von Detlef Krauß, 2011.
13
11
Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck 1999, Rn. 317 ff.
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Compliance-Officer als Unterlassungsgarant – Ein neues
Zurechnungsmodell oder ein weiterer Schritt auf dem Weg
der Evaporation von Zurechnungsparametern?“ (S. 751 ff.).
Lesch stellt klar, dass die Amtsträger-Eigenschaft eines solchen Aufsichtsrates jedenfalls deshalb scheitere, weil er keine
Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme (S 693).
Saligers Untersuchung zur PPP, ein für die Strafrechtswissenschaft noch relativ junges Thema, das er anhand des Kölner Müll-Falles14 aufbereitet, endet mit der Feststellung, dass
die Rechtsprechung des BGH zur Amtsträger-Eigenschaft bei
Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Zusammenhang mit
einer „sonstigen Stelle“ im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c)
StGB grundsätzlich billigenswert sei, aber der eingrenzenden
Weiterentwicklung bedürfe. Dies gelte insbesondere für den
Bestellungsakt und die Konkretisierung der Behördenäquivalenz nach der Gesamtbewertungslehre am Bild des „verlängerten Armes“ des Staates. Mitarbeiter, so Saliger, in gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen unterfielen bei aktiver
Beteiligung des Privaten grundsätzlich nicht § 11 Abs. 1 Nr.
2 c) StGB. Sie kämen jedoch unter weiteren Voraussetzungen
(Gesamtbewertungslehre) als Amtsträger in Betracht, wenn
der Private nur passiv beteiligt sei.
5. Aus Praktikersicht seien aus den übrigen Aufsätzen besonders hervorgehoben die Beiträge von Cornelius Prittwitz
„Risikovorsatz und Vorsatzgefahr – zum Verständnis und zur
strafrechtlichen Relevanz des Verdrängens“ (S. 819 ff.) und
Bernd-Rüdeger Sonnen zur „Systematisierung der Strafzumessung“ (S. 1007 ff.). Der schöne Beitrag von Hans-Ullrich
Paeffgen zum beinahe ewig anmutenden Konflikt „Rücktrittshorizont vs. fehlgeschlagener Versuch“ (S. 791 ff.) ist
darüber hinaus auch allen in der Ausbildung befindlichen
Juristen zu empfehlen, lässt sich der Beitrag doch auch als
einprägsames Kompendium der nicht immer einhelligen
Rechtsprechung lesen. Gleiches gilt sicher auch für die Aufsätze von Lothar Kuhlen („Zur Unterscheidung von Tun und
Unterlassen“; S. 669 ff.) und Franz Streng („Der Eintritt der
Regelwirkung in Versuchskonstellationen – ein Beitrag zum
Umgang mit den ‚besonders schweren Fällen‘“; S. 1025 ff.).
Zwar gibt es mehrdeutige Verhaltensweisen, bei denen
die Abgrenzung von Tun und Unterlassen erhebliche Probleme bereiten kann. Auch wer nicht daran glaubt, dass sich
diese einer Lösung zuführen lassen, die in allen Streitfragen
eine sichere und praktikable Entscheidung gewährleistet,
wird nach Lektüre des Aufsatzes von Kuhlen doch einräumen
müssen, dass sie sich zu einem erheblichen Teil mit einfachen dogmatischen Regeln lösen lassen. Streng neigt trotz
spürbaren Unbehagens an der Regelbeispielstechnik (S. 1037:
Es werde „ein bedenkliches Maß an Unbestimmtheit in die
Strafdrohungen hinein getragen“)15 zu einer Analogie mit den
14
BGHSt 50, 299 m. Anm. Noltensmeier, StV 2006, 132;
Radtke, NStZ 2007, 57; ferner: Zwiehoff, in: Putzke u.a.
(Hrsg.) Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für
Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag am 14.
Februar 2008, 2008, S. 155.
15
Diesbezügliche Bedenken auch schon bei Neuhaus, DRiZ
1989, 95: „Die Auswahl der Strafrahmen bei unbenannten
Strafänderungsgründen“.
Regeln über die Versuchsstrafbarkeit, wobei positiv zu vermerken sei die Offenheit der Regelbeispiele für einen Ausstieg aus der Strafrahmen-Erhöhung in Fällen atypisch geringen Handlungs- und/oder Erfolgsunrechts bei nicht (vollständiger) Erfüllung der im Tatentschluss enthaltenen Regelmerkmale.
IV. 26 Beiträge sind in den Kapiteln „Strafrecht Besonderer Teil“, „Nebenstrafrecht, insbesondere Medizinstrafrecht
und Ordnungswidrigkeitenrecht“ sowie „Internationales und
Europäisches Strafrecht sowie Völkerstrafrecht und Europarecht“ versammelt. Nicht wenige dieser Beiträge sind eng mit
Fragen aus dem „Strafrecht Allgemeiner Teil“ verknüpft. So
etwa der Aufsatz von Detlev Sternberg-Lieben, der sich mit
der „Strafbarkeit nach §§ 222, 229 StGB durch Rauschgiftüberlassung an den freiverantwortlichen Konsumenten“
(S. 1283 ff.) befasst. Sein Fazit lautet, dass angesichts des
Schutzzwecks der §§ 29, 30 BtMG – und nur innerhalb ihrer
tatbestandlichen Reichweite – im Fahrlässigkeitsbereich
ausnahmsweise die Mitwirkung an einer entsprechenden
Selbstverletzung strafbar bleibt. Martin Böse stellt die „Vorsatzanforderungen bei Blankettgesetzen am Beispiel des
Kartellrechts“ dar (S. 1353 ff.), und auch Harro Otto schneidet in seinem Beitrag ein Problem des Allgemeinen Teils an,
nämlich das des dolus eventualis. Im Zentrum seines Aufsatzes steht aber die in jüngster Zeit heftig diskutierte Frage
nach dem „Schaden bei der Untreue“ (S. 1247 ff.), namentlich in Form einer schadensgleichen Vermögensgefährdung.
Otto zeichnet schön die Entwicklung der höchstrichterlichen
Rechtsprechung nach16 und gelangt nach eingehender Analyse zu dem überzeugenden Ergebnis, dass man zunächst auf
die „dubiose Konstruktion“ der schadensgleichen Vermögensgefährdung verzichten solle, weil selbst eine konkrete
Vermögensgefährdung begriffsnotwendig niemals ein Vermögensschaden oder Vermögensnachteil sein könne, denn
die Gefahr eines Schadens – ob abstrakt, konkret oder abstrakt-konkret – sei nun einmal nicht identisch mit dem eingetretenen Schaden. Sachlich komme es auf die Bewertung von
z.B. der Forderung einerseits und der Sicherheit anderseits
an. Solche Bewertung sei keineswegs unmöglich, gehöre sie
doch zum alltäglichen Geschäft von Bankkaufleuten und
Finanzbuchhaltern. Notfalls sei die Vernehmung eines in
diesem Bereich ausgewiesenen Sachverständigen erforderlich
(S. 1266). Auch Rainer Keller widmet seine Aufmerksamkeit
§ 266 StGB, d.h. der „Strafbare[n] Untreue und Gemeinwohlbindung von Gesellschaftsvermögen“ (S. 1189 ff.).
Gabriele Zwiehoff untersucht ebenfalls ein aktuelles Problem
des Untreuetatbestandes, nämlich die in der sog. VWAffäre17 bedeutsam gewordene Frage nach dem Verhältnis
von „Untreue und Betriebsverfassung“ (S. 1337 ff.). Sie
gelangt zu dem Ergebnis, dass das „Schmieren“ eines Betriebsratsmitglieds eine Straftat nach § 119 Abs.1 Nr. 3 BetrVG sei. Darüber hinaus aber auch einen Schaden im Sinne
des § 266 StGB zu bejahen, hieße aber, den im Rahmen der
Gesamtsaldierung zu Grunde zu legenden wirtschaftlichen
16
BGH NJW 1979, 512; BGHSt 46, 30; 47, 148; 51, 100; 53,
99.
17
BGH NJW 2010, 92.
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Wert eines reibungslos funktionierenden Betriebsrates zu
ignorieren (S. 1350).
Mit Blick darauf, dass die Jubilarin ihre wissenschaftliche
Karriere mit einer Promotion zum Thema „Die Fälschung
technischer Aufzeichnungen“ begann, kann nicht überraschen, dass den Urkundsdelikten eine ganze Reihe von Beiträgen gewidmet ist. Jörg Eisele nimmt zwei aktuelle (und
gegenläufige) Entscheidungen zum Anlass, der Frage nachzuspüren, ob die „Fälschung beweiserheblicher Daten bei
Anmeldung eines Ebay-Accounts unter falschem Namen“
(S. 1091 ff.) den Tatbestand des § 269 StGB verwirklicht
oder nicht;18 angesichts einer geschätzten Zahl von ca. 15
Millionen Ebay-Nutzern in Deutschland ein Problem von
erheblicher praktischer Bedeutung. Eisele bejaht die Tatbestandsmäßigkeit. Volker Erb legtt überzeugend die „Unvereinbarkeit der Zufallsurkunde mit einem dogmatisch konsistenten Urkundenbegriff“ dar (S. 1107 ff.). Andreas Ransiek
stellt in seinem Aufsatz „Aussteller einer Urkunde und Täter
der Falschangabedelikte“ gegenüber (S. 1269 ff.) und entwickelt, wie und welche Konsequenzen sich aus der Dogmatik
der Urkundsdelikte für die Auslegung der Falschangabedelikte ergeben: Auch bei ihnen mache nur derjenige unrichtige
Angaben, dem eine Erklärung als Urheber zuzurechnen sei.
Bei manchen Tatbeständen folge das schon zwanglos daraus,
dass sie als Sonderdelikte ausgestaltet seien. Gleiches gelte
aber auch, wie Ransiek überzeugend ausführt, für Allgemeindelikte wie § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Alle anderen Personen
kommen, so Ransiek richtig, als Täter oder Mittäter nicht in
Frage.
Thomas Fischer bespricht in „Störung des Öffentlichen
Friedens (§ 130 Abs. 4 StGB): Strafwürdigkeit als Tatbestandsmerkmal“ (S. 1119 ff.) die sog. Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,19 die sich mit einer
Verfassungsbeschwerde gegen ein Revisionsurteil des
BVerwG befasste, durch das das Verbot einer öffentlichen
Versammlung „in Gedenken an Rudolf Heß“ im August 2005
in Wunsiedel letztinstanzlich bestätigt wurde.20 Walter Kargl
greift dass durch die Daschner-Entscheidung21 virulent gewordene Thema „Aussageerpressung und Rettungsfolter“ auf
(S. 1163 ff.). Ein besonders wichtiger Beitrag, denn die ausnahmslose Ächtung der Folter ist inzwischen auch in
Deutschland ins Wanken geraten:
Christian Starck z. B schreibt in seinem GrundgesetzKommentar, unter engen Voraussetzungen – wenn nämlich
Würde gegen Würde stehe und keine andere Rettung möglich
sei – dürfe die Folter zunächst angedroht und gegebenenfalls
unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch vollzogen werden. Der Heidelberger Staatsrechtlehrer Winfried
Brugger geht noch einen Schritt weiter. In der Juristenzeitung
18
Verneinend: OLG Hamm StV 2009, 475 f.; bejahend: KG
Berlin KR 2009, 807.
19
BVerfG NJW 2010, 47 m. Anm. Degenhart, JZ 2010, 306;
Hörnle, JZ 2010; 310; Michael, ZJS 2010, 155; Volkmann,
NJW 2010, 417.
20
BVerwGE 131, 216 m. Anm. Enders, JZ 2008, 1092.
21
Vgl. zum Sachverhalt und den damit verbundenen Rechtsfragen etwa Neuhaus, GA 2004, 523.
kommt er zu dem Ergebnis, unter bestimmten Umständen
dürfe die Polizei nicht nur foltern, sondern „sie muss es
auch“.22 Isensee behauptet in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung, es gebe ein ungeschriebenes, gleichwohl verfassungsimmanentes Notrecht zum Schutz des Bürgers, und dies
fordere unter Umständen den staatlichen Eingriff.23 Und auch
im „Maunz-Dürig“ unternimmt es der Bonner Strafrechtslehrer Matthias Herdegen, die Fundamentalnorm des Art. 1 GG,
die das Folterverbot in seiner Absolutheit und Ausnahmslosigkeit stützt, auf ein normales Grundrecht herunter zu
schrauben, welches man einschränken könne wie die anderen
Grundrechte auch.24 Die Liste ließe sich unter Nennung von
namhaften Strafrechtswissenschaftlern fortsetzen. Kargl legt
den Finger in die Wunde und untersucht das Folterverbot im
Lichte des Rechtsgüterschutz-Konzepts.
Ralf Krack stellt die Frage „Sind Bestellungen zu Belästigungszwecken eine Betrugskonstellation?“ (S. 1205 ff.) und
verneint sie. Klaus Letzgus macht die gesetzgeberischen
Bemühungen für eine „Strafrechtliche Bekämpfung der
Zwangsheirat“ zum Gegenstand seines Beitrages (S. 1231
ff.), Frank Zieschang arbeitet heraus, dass „Das Mordmerkmal ‚mit gemeingefährlichen Mitteln‘“ mit einer ganzen
Reihe von Ungereimtheiten verbunden ist, wenn man die
herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zur
Ausfüllung dieses Tatbestandsmerkmales zu Grunde legt.
Zieschang erläutert, was maßgeblich ist: Ob nämlich aus der
Sicht ex ante in der konkreten Situation durch das Verhalten
des Täters auf Grund des eingesetzten Tatmittels neben dem
ausgewählten Opfer kumulativ andere Menschen ihr Leben
verlieren können. Da es um ein gefährliches Verhalten für die
Allgemeinheit gehe, also für viele Menschen, sei die Mindestzahl der potentiell Beeinträchtigten, so wird man
Zieschang ohne Weiteres beipflichten können, bei zehn Menschen anzusiedeln. Zustimmen wird man Zieschang auch
darin, dass von dem Mordmerkmal die Mehrfachtötung nicht
erfasst ist. Auch Jan Zopfs greift eine Inkonsequenz bei Anwendung der herrschenden Meinung auf, nämlich im Zusammenhang mit „Täterschaft und Teilnahme bei der Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231 StGB)“ (S. 1323 ff.). Er
wendet sich dagegen, dass parteiergreifende psychische Beihilfe vor Ort für ein täterschaftliches Beteiligen ausreiche.
Denn dann würde derjenige als Täter bestraft, der einen bereits Mitraufenden nur bestärkt, während derjenige, der einen
bisher unbeteiligten Zuschauer zum Mitschlagen anstiftet, nur
als Teilnehmer belangt werden würde. Nach der von Zopfs im
Beitrag entwickelten Ansicht kann solches Verhalten hingegen – seinem Unrechtsgehalt entsprechend – als Beihilfe und
Anstiftung eingestuft werden. Außerdem lasse, so Zopfs, sein
Modell die nach h.M. notwendige Unterscheidung zwischen
schlägereikonstitutiver und sekundärer Beteiligung entfallen.
V. Der Beitrag von Karl Heinz Gössel „Verkauf und Erwerb unrechtmäßig erworbener Daten sowie deren Verwertbarkeit im Strafverfahren“ (S. 1377 ff.) leitet über zu den
22
Brugger, JZ 2000, 165.
FAZ v. 21.1.2008, S. 10.
24
Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz
[Stand 51. Ergänzungslieferung 2007] Art. 1, Fn. 43 f.
23
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abschließenden Kapiteln „Allgemeines Prozessrecht“ und
„Verfassungsrecht“. Gössel entwickelt, dass mangels einer
die Erhebung oder Verarbeitung der auf CD übertragenen
Daten der deutschen Kunden der Credit Suisse erlaubenden
Rechtsnorm nicht nur die Verwertung dieses Beweismittels
im Strafverfahren unzulässig wird, sondern auch die Erhebung oder Verarbeitung dieser Daten „unbefugt“ im Sinne
der §§ 44 Abs. 1, 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG sei (S. 1399). „Zum
Zeugenbeistand zwischen Strafvereitelung und Parteiverrat“
lautet der Titel des von Hans Dahs verfassten Aufsatzes
(S. 1545 ff.), in dem er an Hand einiger Fallkonstellationen
ausführt, dass der Rechtsanwalt im Strafverfahren einen „gefahrgeneigten Beruf“ ausübt, bei dem an seinen Scharfsinn,
seine rechtliche Sensibilität und seine Entscheidungskraft
(hier: bei der gebotenen Mandatsbeendigung) hohe Anforderungen gestellt werden. Uwe Hellmann nimmt sich des Themas „Straf- und zivilprozessrechtliche Konsequenzen der
elektronischen Aktenführung“ an (S. 1579 ff.). Henning Rosenau setzt sich mit der seit dem 4. August 2009 auch in
Deutschland gesetzlich verankerten Regelung der verfahrensbeendenden Absprache (§ 257 c StPO) auseinander, einer
Reform, die wohl wie keine andere die Gemüter in der deutschen Strafprozessrechtswissenschaft bewegt hat. Die Literatur hat sich überwiegend ablehnend geäußert, auch hohe
Justizpraktiker schmähen die Entwicklung heftig als Schande
für die Justiz25 und sehen den deutschen Strafprozess „vor die
Wand gefahren“. Man stehe am Grab des deutschen Strafprozesses und singe dessen Todesmesse.26 Möglicherweise, so
Rosenau, wäre die Diskussion weniger schrill und deutlich
versöhnlicher ausgefallen, hätte man einem bestimmten methodischen Aspekt mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen,
nämlich dem der rechtsvergleichenden Analyse. Im Beitrag
„Plea bargaining in deutschen Strafgerichtssälen: Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe am Beispiel der Absprachen im Strafverfahren“ (S.1597 ff.) zeigt Rosenau, dass die
gerade im Strafrecht immer noch allzu oft vernachlässigte
Rechtsvergleichung eine Hilfswissenschaft ist, die als wichtige Erkenntnisquelle zur Klärung von Rechtsfragen beitragen
kann und daher als Methode und Ergänzung des überlieferten
Methodenkanons herangezogen werden sollte. Dabei erläutert
er auch, wie man lege artis vorzugehen hat, wenn man sich
mit ausländischen Rechtsordnungen beschäftigt (S. 1603 ff.).
Torsten Verrel hat sich mit seinen Ausführungen zur „Selbstbelastungsfreiheit und Täuschungsverbot bei verdeckten
Ermittlungen“ (S. 1629 ff.) ein nicht nur brandaktuelles,
sondern auch praktisch höchst bedeutsames Thema vorgenommen: Es entspricht der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des EGMR, dass das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ein Kernstück des von Art. 6 Abs. 1 EMRK
garantierten fairen Verfahrens darstellt. Dieses Recht soll den
Betroffenen vor unzulässigem Zwang durch die Behörden
schützen. Der EGMR hat zwischenzeitlich aber auch ent-
schieden, dass sich der Schutz vor Selbstbelastung nicht auf
Fälle beschränkt, in denen der Beschuldigte Zwang widerstehen musste. Die Selbstbelastungsfreiheit diene prinzipiell der
Freiheit einer verdächtigen Person, zu entscheiden, ob sie
aussagen oder schweigen will. Diese Freiheit werde aber
unterlaufen, wenn die Behörden gegenüber einem schweigenden Beschuldigten eine Täuschung anwenden, um ihn
belastende Geständnisse zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten und die so erlangten Erkenntnisse als Beweise in den Prozess einführen.27 Doch liegt darin
entgegen erstem Anschein keine Ausdehnung des Nemotenetur-Grundsatzes auf einen generellen Schutz vor Täuschungen28, und: Wo wäre dann die Grenze zu ziehen? Eine
wichtige Frage, denn der Bundesgerichtshof befindet sich wie
Verrel im Einzelnen darlegt, auf einem Schlingerkurs
(S. 1632 ff.); schlimmer noch: Geradezu verwirrend und
konturlos ist das jüngste Urteil des 1. Strafsenats, in dem die
akustische Überwachung eines vermeintlich unüberwachten
Ehegattengespräches in dem Besuchsraum einer Untersuchungshaftanstalt auf der Grundlage „einer Gesamtschau der
Umstände“ – im Ergebnis zutreffend – als ein zur Unverwertbarkeit führender Verstoß gegen die Verfahrensfairness
angesehen wird.29 Verrel schreibt dazu richtig, dass solches
Vorgehen mit einer soliden strafprozessualen Argumentation
nur wenig zu tun habe und entwickelt stattdessen einen
„Schutz vor qualifizierter Heimlichkeit“. Ausgehend von dem
Gedanken, dass die StPO verdeckte Ermittlungen als solche
durch §§ 110a ff. dem Täuschungsverbot entzogen und insbesondere die Verwendung einer Legende erlaubt hat, könne es
nur um die Anwendung von darüber hinausgehenden Irrtumserregungen gehen, wie sich im Übrigen auch aus § 110c
S. 2 und S. 3 StPO ergebe (S. 1640). Jedenfalls dürfe die
Beurteilung der Zulässigkeit verdeckter Befragungen nicht
von dem ebenso zufälligen wie manipulierbaren Umstand
abhängen, ob der Beschuldigte bereits offen vernommen
worden ist. In Abgrenzung zu der durch §§ 110a ff. StPO
legalisierten „einfachen“ Täuschung über die Ausforschungsintention Verdeckter Ermittler werde die Schwelle zu § 136a
StPO (oder dessen analoger Anwendung) erst bei einer qualifizierten Täuschung überschritten. Diese liege insbesondere
dann vor, wenn die Kontaktperson ein besonderes Vertrauensverhältnis oder ein Abhängigkeitsverhältnis durch Lügen
aufgebaut und dazu ausgenutzt habe, dem Beschuldigten
Äußerungen zum Tatgeschehen zu entlocken. Darunter falle
etwa die gezielte Anbahnung eines Liebesverhältnisses als
sogar besonders anstößiger Täuschungsfall; oder die Drohung
mit dem Abbruch einer Sonderbeziehung (einzige externe
Kontaktperson, die aktuell für Lockerungen unentbehrlich
war und eine Lebensperspektive nach dem Vollzugsende
bot). Auch im klassischen Zellengenossen-Fall30, in dem sich
der Mithäftling durch Gespräche über eine Flucht, gemeinsame Deliktsbegehungen und eine Strafvereitelung sowie
25
27
Eschelbach, HRRS 2008, 190; Fischer, StraFo 2009, 177
(188); Pfister, StraFo 2006, 349 (352).
26
Schünemann, ZRP 2009, 104 (107); beeindruckend seine
kleine Monografie „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“, 2005.
Grundlegend EGMR StV 2003, 259 m. Anm. Gaede (sog.
Allan-Entscheidung).
28
EGMR NJW 2010, 213 (sog. Bykov-Entscheidung).
29
BGH NStZ 2009, 519.
30
BGHSt 34, 362 m. Anm. Neuhaus, NJW 1990, 1221.
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ZIS 2/2013
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Paeffgen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag
Neuhaus
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durch eine falsche Selbstbezichtigung in das Vertrauen des
zunächst überhaupt nicht mitteilungswilligen Beschuldigten
einschlich, sei das Verhalten des Spitzels deutlich über die
Verheimlichung seiner Absichten hinausgegangen. Dem wird
man uneingeschränkt zuzustimmen haben. Felix Herzog stellt
in seinem Aufsatz „Strafrecht, Armut und soziale Gerechtigkeit“ (S. 1647 ff.) vor allem die neuen Ergebnisse des finnischen Kriminalwissenschaftlers Lappi-Seppälä vor, der sich
mit der Frage auseinander setzte, wie sich soziale Verhältnisse und Modelle der sozialen Wohlfahrt auf die strafrechtlichrepressive Sozialkontrolle und auf die Belegung der Gefängnisse auswirken. Zusammenfassen kann man das Ergebnis
dieser (aber auch anderer neuerer Studien) mit den bekannten
Worten des großen Gustav Radbruch, dass es nämlich „des
Strafrechts fragwürdige Aufgabe [ist]..., gegen den Verbrecher nachzuholen, was die Sozialpolitik für ihn zu tun versäumt hat. Bitterer Gedanke, wie oft die Kosten des Verfahrens und Vollzuges, vor der Tat aufgewendet, genügt hätten,
das Verbrechen zu verhindern!“31. Auch dieser Aufsatz sei
Kriminalpolitikern und solchen, die sich dafür halten, dringend zur Lektüre empfohlen.
Die Menschenwürde steht im Mittelpunkt der die Festschrift abschließenden Aufsätze. Eric Hilgendorf thematisiert
„Instrumentalisierungsverbot und Ensemble-Theorie der
Menschenwürde“ (S. 1653 ff.) und Brigitte Kelker untersucht
„Grundfragen eines Zusammenhangs zwischen Menschenwürde und Strafrecht“ (S. 1673 ff.).
VI. Die Festschrift zu Ehren von Ingeborg Puppe ist ein
wahrlich fulminanter Band, ein im besten Sinne „dickes
Stück“, in das zu vertiefen sich lohnt. Der hohe Preis wird
manchen potentiellen Käufer abschrecken. Aber für den
Strafjuristen, der wissenschaftlich arbeitet oder auch nur
einfach Spaß an intellektueller Auseinandersetzung hat, ist es
eine Freude, den „Ziegelstein“ nach Hause zu tragen und sich
in ihm mit beträchtlichem Gewinn fest zu lesen. Herzlichen
Glückwunsch Ingeborg Puppe zu diesem Geschenk, dieser
besonderen Ehrung!
Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Rechtsanwalt & Fachanwalt für
Strafrecht, Dortmund/Bielefeld
31
Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1929,
S. 105 f.
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
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