Das unredigierte Mayerling-Manuskript als *

Transcription

Das unredigierte Mayerling-Manuskript als *
Lars Friedrich
alles abgethan
Der Kriminalfall Mayerling
ohne Mythos
Ein neuer Tatsachenbericht zum Tode von
Kronprinz Erzherzog Rudolf von Österreich
und Baroness Marie Alexandrine von Vetsera
am 30. Januar 1889 in Mayerling/Niederösterreich
Das unredigierte MayerlingMayerlingManuskript von Lars Friedrich:
Alle Forschungsergebnisse
von 1989 bis 2009
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
VORBEMERKUNG 2015
Ab dem Jahr 1989 befasste ich mich intensiv mit der Geschichte des Ortes Mayerling und dem so eng mit diesem Namen verknüpften Drama, also dem Tod des Kronprinzen Rudolf von Habsburg und seiner minderjährigen Geliebten Marie Alexandrine Freiin von Vetsera 1889 ebendort. Am Freitag, 17. Oktober 2014, wurde dann das neue Besucherzentrum im Karmel Mayerling eröffnet. Mit diesem denkwürdigen Datum, 125 Jahre nach der Tragödie von
Mayerling, habe ich die Arbeit für mein Mayerling-Archiv eingestellt.
Im Zeitraum von 1989 bis 2009 hatte ich Teile meiner Forschungsarbeit für ein Buchmanuskript zusammengefasst. Diesen Stand mache ich nun mit der Herausgabe dieses unredigierten Manuskriptes für alle Forscher und Interessierte öffentlich. Einige Passagen dieses Manuskriptes wurden bereits in meinen Mayerling-Büchern überarbeitet
und aktualisiert; einige Passagen des geplanten Buches habe ich nicht fertiggestellt (sie sind im Inhaltverzeichnis gestrichen) und einige Passagen sind natürlich auch durch Ereignisse der Zeitgeschichte nicht mehr aktuell – so wurde in
Mayerling ja selbst ein Museum eröffnet, die Abschiedsbriefe der Baroness Vetsera wurden im Original aufgefunden
und zahlreiche Autoren meinten, sie müssen mehr oder weniger Neues zur Causa Mayerling publizieren.
Ich denke jedoch, dass die Zusammenstellung von Quellen, die mir zur Verfügung standen, für weitere Mayerling-Forscher von Interesse sein könnten und wünsche viel Freude an der Beschäftigung mit diesen bislang nicht
redigierten oder lektorierten Manuskript. Wer findet die meisten Rechtschreibfehler?
Lars Friedrich
Hattingen an der Ruhr im November 2015
2
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
VORBEMERKUNG 2009
„Nicht zuletzt dankte ich meiner Frau
für ihre unermüdliche Mithilfe
bei der Verfassung und Korrektur
des Manuskriptes.“
Professor Dr. Fritz Judtmann
Herbst 1968
Das vorliegende Buch folgt der Struktur des 1968 erschienenen Tatsachenberichtes „Mayerling ohne Mythos“
von Fritz Judtmann. Aus diesem bei „Kremayr & Scheriau1“ veröffentlichen Buch, das seit 1984 „out of print“ ist,
wurden Abschnitte und Passagen übernommen und als Zitate gekennzeichnet.
Mit der Übernahme der Ausführung von Professor Dr. Fritz Judtmann würdigt der Autor dieses Buches die Arbeit des Wiener Schriftstellers und zeichnet auf Basis seines Forschungsstandes ein aktuelles Bild vom „Mythos Mayerling“.
Das Buch folgt in Schreibweise und Zeichensetzung bis auf eingefügte Zitate, historische Textpassagen und
insbesondere der Wiedergabe des Textes von Professor Judtmann, der reformierten Rechtschreibung des Jahres 2007.
1
Kremayr, Rudolf, geb. am 25.12.1905, gest. am 17.12.1989 und Scheriau, Wolfgang, geb. am 16.11.1916; beide gründeten 1950
die „Buchgemeinschaft Donauland“, die 1955 bereits 378.000 Mitglieder zählte; der Verlag „Kremayr & Scheriau“ wurde 1951
gegründet, um die Buchgemeinschaft mit eigenen Büchern zu versorgen; 1966 Beteiligung durch den BertelsmannBuchclub/Deutschland (Fusion 1969; seit 01.01.2001 besteht eine 75% Beteiligung durch die Bertelmanns Direct Group), 1989
Eingliederung der Dt. Buchgemeinschaft Alpenland und 1990 des Dt. Bücherbundes Österreich; die Buchgemeinschaft Donauland hatte im Jahr 2007 rund 470.000 Mitglieder. „Mayerling ohne Mythos“ erschien 1968 als Verlagsbuch bei K&S, 1969 als
Buchgemeinschafts-Ausgabe, 1971 in England bei Georg G. Harrap & Co. Ltd, 1982 in überarbeiteter Form erneut bei K&S sowie 1984 wieder in der Buchgemeinschaft Donauland.
3
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
GELEITWORT 2009
„Ich möchte Ihnen
für all Ihre Bemühungen
guten Erfolg wünschen. 2“
+ Ruhrbischof Dr. Franz Kardinal Hengsbach
Essen, 25.05.1990
„Am 4. Jänner 1957 starb in Wien Frau Ella Graf3, Witwe des Regierungsrates Rudolf Graf, einzige Tochter des
Leibarztes Franz Josephs, Dr. Joseph Ritter von Kerzl4, im Alter von 81 Jahren. In ihrem Testament vermachte sie
dem Ehepaar Judtmann die sogenannte Hubertusuhr, die nach dem Zeugnis eines Leibkammerdieners im Arbeitszimmer des Kaisers im Schloß Schönbrunn gestanden ist. Frau Graf hatte sie nach dem Tod des Kaisers von dessen Tochter, Erzherzogin Marie Valerie, erhalten, als Andenken an den Monarchen, dem Kerzl viele Jahre treu gedient hatte. 5“
Mit diesen Zeilen beginnt Fritz Judtmann6 sein 1968 erschienenes Buch über den Tod des Kronprinzen Rudolf
von Österreich. Ich selbst habe diese Uhr, die bereits seit den 60-er Jahren nicht mehr lief, Mitte der 80-er Jahre in der
Wiener Wohnung von Hermann Swistun-Schwanzer7 gesehen: dunkelbraunes Holz mit feinem, aber hier und dort abgebrochenem Zierrat8. Einige Monate vor Swistuns Tod war die Uhr aus seiner Wohnung an der Schönbrunner Straße
verschwunden – er hatte sie wahrscheinlich an einen Sammler verkauft, der die dringend notwendige Reparatur des
Werkes und die Restaurierung des aufwendigen Gehäuses finanzieren konnte9. Angehörige der Familien Vetsera,
Baltazzi und Swistun hatte scheinbar keine Verwendung für diese Memorabilie. Mit der „Hubertusuhr“ verschwand
ein weiterer Anker, der die Jetztzeit mit den Tagen der österreich-ungarischen Monarchie verband …
Für Fritz Judtmann hatte die Uhr angeblich eine ganz besondere Bedeutung: „Es war für mich von historischem
Interesse, festzustellen, von wem und wann der Kaiser diese Uhr zum Geschenk erhalten hatte.“ Er recherchierte im
Haus-, Hof- und Staatsarchiv und ließ sich „einen zweiten Karton mit der Bezeichnung `Briefe und Pakete von und an
2
Dr. Franz Kardinal Hengsbach, Essen, 25.05.1990, an den Verfasser
Ella Graf, gestorben 04.01.1957 in Wien im Alter von 81 Jahren
4
Kerzl, Dr. Joseph von, geb. 1842, gest. 1919, General-Oberstabsarzt, Hofarzt des Kaisers Franz Josef, beigesetzt auf dem Friedhof Hietzing, Gruppe 20, Gruft 58 (Grab auf Friedhofsdauer)
5
Fritz Judtmann, „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
6
Judtmann, Fritz, Dipl.-Ing., Dr. tech., Professor, geb. am 15.06.1899 in Wien, gest. am 10.12.1968 in Wien
7
Swistun-Schwanzer, Hermann, geb. am 23.04.1914, gest. am 26.06.1999 in Wien, beigesetzt am 05.07.1999 auf dem
Zentralfriedhof Wien in der Gruft von Hector Baltazzi
8
Die Uhr war 1935 bei der „Kaiser Franz Joseph Ausstellung“ in Schönbrunn zu sehen, wo sie im Raum 53 (Thema: „Jagd“) gezeigt wurde
9
Ebenfalls im Nachlass Kerzl/Graf befand sich ein Medaillon mit getrockneten Blumen von der Bahre Kaiser Franz Josephs, das
sich heute im Besitz von Frau Ingrid Fritz/Wien befindet.
3
4
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
den Kronprinzen10´ ausheben“. In jenem Behältnis, das nicht dem damals nur 22 Kartons umfassenden Bestand des
Kronprinz-Rudolf-Selektes angeschlossen und somit lange Jahre unbeachtet geblieben war, fand Judtmann einen
„dünnen Aktenumschlag mit der Bezeichnung `Varia´“. Das Kuvert enthielt die Abschrift eines Protokolls11 das aussagte, dass Papier des ehemaligen Ministerpräsidenten Eduard Graf Taaffe zur Tragödie von Mayerling „unter mysteriösen Umständen bei einem Rechtsanwalt in Verlust geraten“ waren.
Das Auffinden dieses Kuverts war für Judtmann Anlass, „die Tragödie von Mayerling von Grund auf zu erforschen“. Mit seinem Buch legte er eine gewissenhafte Analyse zum Tod des Erzherzog Thronfolgers vor, die bis heute
in vielen Aussagen nicht zu entkräften war. Ich selbst habe 1989, einhundert Jahre nach den Ereignissen von Mayerling, erstmals Judtmanns Buch gelesen. Es folgten seither hunderte weitere Bücher und unzählige Artikel, die sich
dem gleichen Thema widmeten. Ebenso wie seinerzeit Fritz Judtmann kam ich zu der Erkenntnis, dass „die meisten
der Bücher und Artikel (...) mehr oder weniger Kopien früherer Arbeiten oder romanhafte Erfindungen (waren), worin
immer wieder die gleichen Legenden oder falschen Behauptungen nacherzählt“ wurden. Nicht zuletzt die Aussage eines Paters aus dem Stift Heiligenkreuz, dass „kein normal denkender Mensch (...) an der Aufklärung dieser Geschichte interessiert“ sei12, hat mich für das Thema eingenommen – vielleicht bin ja auch ich kein normal denkender
Mensch. Auch die fehlende Bereitschaft weiter Teile der Familie Habsburg, sich mit neuen Erkenntnissen zum Tod
des Thronfolgers zu befassen, machte mich neugierig: „Der Selbstmord des Kronprinzen ist die einzig und alleinig
voll glaubhafte und den Tatsachen entsprechende Version seines Todes13“. Ist das wirklich so?
Ich begab mich auf den Spuren Fritz Judtmanns in eine mir fremde Welt und lernte deren letzte lebenden Augenzeugen, oftmals aber nur noch deren Kinder oder Enkelkinder, kennen. Ich konnte Fühlung nehmen mit Baronin
Nancy Vetsera14, der Cousine jener jungen Frau, die tot an der Seite des Kronprinzen Tod in Mayerling aufgefunden
wurde. Ich lernte den Archivar der Familie Vetsera, Hermann Swistun Schwanzer, wenige Jahre vor seinem Tod kennen und konnte mit den Erzherzogen der Salvatorischen Linie, Markus15 (Bad Ischl), Michael16 (Persenbeug) und Johann17 (Traunkirchen) von Österreich sprechen. Besonders freut es mich, auf Gut Persenbeug an der Donau IKH Rosemarie, Erzherzogin von Habsburg-Lothringen18, Gattin von Marie Valeries Sohn Hubert, kennengelernt zu haben.
Ich sprach mit dem Erzabt von Pannonhalma19, dem resignierten Abt von Heiligenkreuz, Prälat Pater Gerhard
Hradil20, und lernte in mehreren Begegnungen jenen Mann näher kennen, der die Gebeine der Mary Vetsera aus ihrem
10
Ministerium des königlichen Hauses und des Äußeren, Administrative Registratur, Karton Fach:76: 9: Briefe und Pakete von
und an den Kronprinzen; Fach 76:5-6: Geschenke von und an den Kronprinzen
11
Protokoll, aufgenommen lt. Judtmann mit Heinrich Graf Taaffe, Sohn des einstigen Ministerpräsidenten, am 18.Oktober 1912
im Präsidium des k.k. Ministeriums des Inneren.
12
Pater Markus Rauchegger O.Cist., ehemaliger Kämmerer des Stiftes Heiligenkreuz, 28.12.1992, gegenüber dem Verfasser
13
Ghislaine Windisch-Graetz, Wien, 18.08.1989, gegenüber dem Verfasser
14
Ferdinande genannt „Nancy“ Baronin Vetsera, geb. 1904, gest. am 24.05.1990
15
SKH Ingenieur Markus Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog von Österreich, geb. am 02.04.1946
16
SKH Dr. Michael Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog von Österreich, geb. am 02.03.1949
17
SKH Johann Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog von Österreich, geb. am 18.09.1947
18
SKH Rosemarie von Habsburg-Lothringen, geb. Prinzessin zu Salm-Salm, Erzherzogin von Österreich, geb. am 13.04.1904 in
Potsdam, gest. am 03.05.2001 in Persenbeug
19
Eminenz András József Szennay OSB, frei resignierter Erzabt von Pannonhalma/Ungarn; Erzabt von 1973 bis 1991; geb.
02.06.1921 in Budapest
20
Altabt Gerhard Karl Hradil OCist, frei resignierter Abt des Stiftes Heiligenkreuz, Abt von 1983 bis 1999, geb. am 28.10.1928
in Wien
5
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Grab in Heiligenkreuz raubte: Helmut Flatzelsteiner. In den Wiener Archiven halfen mir OR Dr. Elisabeth Springer,
.... und wertvolle Hinweise erhielt ich von Hofrat Dr. Rudolf Neck21. Für ihre aufmerksame und Mut machende Fürsprache danke ich dem ehemaligen Bischof von Essen, Eminenz Dr. Franz Kardinal Hengstbach22, dem ehemaligen
Wiener Kardinal, Eminenz Erzbischof Dr. Hans Hermann Kardinal Groër OSB23 und dem emeritierten Gründerprior
des Zisterzienserklosters St. Marien in Bochum, Pater Beda Zilch OCist24.
Mein Dank gilt zudem Frau Ingrid Fritz/Wien, der Historikerin Dr. Mona N. Schubert/Kanada, Dr. Maria Tolnay-Kiss25 und Herrn Ingenieur Paul Tolnay/Budapest sowie Frau Elisabeth Koller-Glück und Frau Pai, beide Wien.
Zudem wäre dieses Buch ohne die Unterstützung meiner Eltern sicher nie entstanden. Ferner gilt Dank und Anerkennung Herrn Reimer J. Grothusen26 und meiner Frau Stephanie. Jene brachte mich dazu, 1989 erstmals nach Mayerling
zu fahren und jener half uns unbürokratisch, diese Fahrt möglich zu machen.
Hattingen an der Ruhr 2009
Lars Friedrich
INHALT
21
Neck, Dr. Rudolf, Oberstaatsarchivar im Staatsarchiv Wien
Eminenz Dr. Franz Kardinal Hengsbach, 1. Bischof von Essen, geb. am 19.09.1910 in Velmede, gest. am 24.06.1991 in Essen
23
Eminenz Alterzbischof Dr. Hans Hermann Kardinal Groër OSB, geb. am 13.10.1919 in Wien, gest. am 24.03.2003 in St. Pölten
24
Pater Beda Bernd Zilch O.Cist war 13 Jahre lang Prior der Heiligenkreuzer Neugründung in Bochum-Stiepel tätig, ehe er im
Sommer 2001 überraschend von Abt Gregor wegen zu „seelsorgerischer“ und angeblich fehlender „monasterischer“ Arbeit abgesetzt wurde. Er ist seither als Pfarrer in Karlstadt-Wiesenfeld, Diözese Würzburg tätig.
25
Tolnay-Kiss, Dr. Maria und Kiss, Paul, Budapest
26
Gründer und bis 1981 Mitinhaber der GROTHUSEN Ges.m.b.H. in Wien 14
22
6
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1: „Unheimlich ist die Stille
1. Über 1000 Jahre Österreich: Babenberg und Habsburg
2. Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I.
3. Das Kronprinzen-Paar
a) Rudolf von Österreich
b) Stephanie von Belgien
4. Rudolf – Name, Hofstaat und Kammer
5. Der Kronprinz als Politiker
6. Der Kronprinz als Schriftsteller
7. Der Kronprinz als Ornithologe und Jäger
8. Der Kronprinz als Textdichter
9. Die Familie Vetsera
a) Helene
b) Albin
c) Johanna
d) Ladislaus
e) Franz
10. Marie Alexandrine Freiin von Vetsera
11. Die Zeitzeugen
a) Baltazzi
b) Bombelles
c) Bratfisch
d) Caspar
e) Coburg
f) Ferenczy
g) Hoyos
h) Larisch
i)
Loschek
j)
Püchel
k) Schuldes
l)
Szögyény-Marich
m) Tobis
n) Zwerger
o) sonstige
Kapitel 2: Stichwort „Mayerling“
1. Einladung zur Jagd
2. Die Zeit drängt – Sonntag, 27. Jänner 1889
3. Die letzte Wiener Audienz – Montag, 28. Januar 1889
7
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Kapitel 3: Die „Flucht“ nach Mayerling
1. Der Vorsprung
a) Tabellarische Zeitübersicht
2. Der Zeitplan der Gräfin Larisch
3. Die Fahrt nach Mayerling
Kapitel 4: Vor der Entscheidung
1. Namensgebung und Namensmythos
a) Legenden aus Mayerling
b) Persönlichkeiten aus Mayerling
2. Die Geschichte Mayerlings
3. Die Geschichte der Laurentius-Wallfahrt
4. Mayerling zur Zeit des Kronprinzen
5. Das Jagdschloss Mayerling
6. Verdacht und Gewissheit
7. Der letzte Tag – Dienstag, 29. Januar 1889
Kapitel 5: Die Kerzen verlöschen
1. Die Auffindung der Toten – Mittwoch, 30. Januar 1889
2. Die Todesnachricht
3. Die Hofkommission
4. Die Abschiedsbriefe
a) Tabellarische Übersicht
Kapitel 6: Die Hofbefehle
1. Die Geschichte des Friedhofes in Heiligenkreuz
2. Das Begräbnis der Baronesse – Freitag, 1. Februar 1889
3. Die Umbettung in die Gruft
4. Die Pressionen gegen die Baronin
5. Die Vetsera-Kapelle
6. Heiligenkreuz im II. Weltkrieg
7. 1959: Ein neuer Sarg
a) Tabellarische Übersicht der Quellen
8. Das Watzl-Protokoll
9. Der juristische Aspekt der Beisetzung
Kapitel 7: Denkschriften und Erinnerungen
1.
Das Phänomen der Erinnerung
2.
Angehörige und Freunde erinnern sich
8
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3.
Persönliche Bedienstete sprechen
4.
Dienstleister und Tatortzeugen erzählen
5.
Angehörige von Tatortzeugen berichten
Kapitel 8: Amtliches und Nichtamtliches
1. Kommuniqués und Obduktionsbefund
2. Der Kampf der Polizei gegen die Presse
3. Der Kronprinz und der Adel
4. Geister, Gauner und Grotesken
5. Legenden um Mayerling
a) Der gelbe Koffer
b) Rudolf in Polen und an anderen Orten
c) Die kanadische Kassette
d) Weitere Erzählungen
Kapitel 9: Der „Kampf“ um das kirchliche Begräbnis
1. Die Telegramme Wien – Rom
2. Das Requiem
3. Der Botschafter
Kapitel 10: Vor und hinter den Kulissen
1. Mord oder Selbstmord?
2. Die Geschichte der Kapuzinergruft
3. Habsburgs Totenkult
4. Leichenöffnung Rudolfs
5. Einbalsamierung
6. Wachsmoulage und Totenmaske
7. Aufbahrung und Begräbnis
8. Leichenöffnung Marys
9. Der Widerstand des Klerus: Stellungnahmen der Diözesen
10. Stift Heiligenkreuz
11. Lanz von Liebenfels, Hitler und die Nationalsozialisten
Kapitel 11: Die Verlassenschaftsabhandlung
1. Die Testamente
2. Die Inventur
3. Die Auflösung des Hofstaates
4. György St. Imre
5. Lacroma
9
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6. Laxenburg
7. Das Erbe des Kronprinzen
8. Der Nachlass der Baroness
Kapitel 12: Das Sühnekloster
1. Die Vorgeschichte
2. Der Orden der Karmelitinnen in Wien
3. Der Bau des Klosters
4. Das Asyl und andere Gebäude
5. Der Karmel St. Josef bis zur Jahrtausendwende
6. Die Kirchen in Mayerling und ihre Kunstwerke
Kapitel 13: Die verschollenen Dokumente
1. Die Kronprinz-Rudolf-Dokumente
2. Graf Taaffe
3. Das Taaffe-Protokoll
4. Die Familie Taaffe heute
5. Das Wassilko-Protokoll
6. Der Krauss-Akt
7. Josef Fitzthum
8. Das Tagebuch der Gräfin Hoyos
Kapitel 14: Verwehte Spuren
1. Die „Mayerling-Papers“
2. Die Mayerling-Autoren I
a) Professor Dr. Ernst Edler von der Planitz/Berlin
b) Dr. Oskar Freiherr von Mitis/Wien
c) Egon Caesar Conte Corti/Wien
d) Professor Dr. Fritz Judtmann/Wien
e) Weitere Autoren
3. Der Griff nach der Stephanskrone
a) Die Geheimehe
b) Die Familie Pachmann
c) Die ungarische Thronfolge
Kapitel 15: Die letzten 30 Jahre
1. Die Mayerling-Autoren II
a) Dr. Brigitte Hamann/Wien
b) Dr. med. Gerd Holler/Baden
10
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c) Professor Clemens Maria Gruber/Wien
d) Weitere Autoren
2. Heiligenkreuz im 21. Jahrhundert
3. Der Raub der Vetsera
a) Zehn Tage im Dezember 1992
b) Helmut Flatzelsteiner
4. Die 3. Umbettung der Vetsera
5. Echte und „unechte“ Nachkommen
6. Mayerling im 21. Jahrhundert
7. Schaustelle Mayerling
a) Die Imagothek
b) Das Museum
8. Der Kronprinz in Ausstellungen und Museen
9. Stimmen und Zitate zu Mayerling
10. Mayerling im Internet
11. Erinnerungen an den Kronprinzen
a) Plätze, Orte und Denkmäler des Kronprinzen
b) Medaillen und Münzen
c) Gemälde
d) Die Kronprinzessin
12. Mayerling im Film und auf der Bühne
13. Musikalisches Mayerling
14. Übersicht zur Mayerling-Literatur
Nachwort
1. Anmerkungen
2. Literaturverzeichnis
3. Personenverzeichnis
4. Nekrolog
5. Bildquellenverzeichnis
6. Maße, Werte, Währung
11
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
1.
Über 1000 Jahre Österreich:
Babenberg und Habsburg
„Viribus unitis“
„Mit vereinten Kräften“
Wahlspruch Kaiser Franz Josephs
„Das erste staatliche Gebilde auf dem Gebiet des heutigen Österreichs war das keltische Königreich Noricum,
das um 15 v. Chr. großteils in das Römische Reich integriert wurde. Unter der Herrschaft der Römer entstanden zahlreiche Siedlungen, so wie Vindobona (Wien), Iuvavum (Salzburg) oder Brigantium (Bregenz). Mit dem Einfall der
Germanen zerbrach das Römische Reich. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts blieb der österreichische Raum Durchzugsgebiet der Wanderungsströme verschiedener Stämme - der Germanen, der Hunnen und Awaren.
800 nach Christi schuf der Frankenkönig Karl der Große zur Grenzsicherung zwischen den Flüssen Enns,
Raab und Drau die Karolingische Mark. 976 wurde das Adelsgeschlecht der Babenberger mit der Verwaltung dieses
Gebiets belehnt, das 1156 zum Herzogtum erhoben wurde. Der Name „Ostarrichi“ findet sich 996 erstmals in einer
Schenkungsurkunde.
Als die Babenberger um die Mitte des 13. Jahrhunderts ausstarben, wurden nach einem kurzen Interregnum
des Böhmenkönigs Ottokar II. die aus der heutigen Schweiz stammenden Habsburger 1282 mit dem Herzogtum Österreich belehnt. Von diesem Zeitpunkt an ist die Geschichte Österreichs über 600 Jahre bis zum Jahr 1918 mit jener des
Hauses Habsburg verbunden.27“
Diese Habsburger also kamen vom Rhein an die Donau und stellten 21 deutsche Könige und römische Kai28
ser . Im Westen begann ihr Aufstieg an die Macht, die mit der Herrschaft in Böhmen (erstmals 1438), Ungarn (erstmals 1526), Spanien (erstmals 1516) und in der Lombardei (erstmals 1815) die ganze europäische Vielfalt widerspiegelte. Und im Osten erfüllte sich 1914 mit den Schüssen von Sarajevo das Schicksal der Großdynastie. Im Kreise der
europäischen Herrscherfamilien haben die Habsburger stets eine Sonderstellung eingenommen – auch wenn kein
Mitglied der „Casa de Austria29“ heute eine Krone trägt.
27
www.eu2006.at
Fünf Habsburger herrschten als deutsche Könige, zwölf waren Römische Kaiser und deutsche Könige, sieben regierten als Könige Spanien, 17 herrschten über das Königreich Ungarn, 17 als Könige von Böhmen, vier Mitglieder des Hauses HabsburgLothringen stellten den Römisch-deutschen Kaiser, vier Habsburger beherrschten als Großherzog die Toskana und ebenfalls vier
Mitglieder der Linie Habsburg-Este über Modena; vier weitere regierten als Kaiser von Österreich.
29
Casa de Austria (Domus Austriae, Casa d´Austria, Maison d´Autriche): 1306 erstmals nachgewiesene und seit dem
15. Jahrhundert übliche Bezeichnung des Herrschaftsbereichs und der Gesamtdynastie der Habsburger; wurde auch als Ersatz für
einen Gesamttitel gebraucht (so noch 1804 bei der Proklamation des Kaisertums Österreich).
28
12
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Folgt man der zur Mitte des 12. Jahrhunderts gefälschten Gründungsurkunde des Schweizer Klosters Muri,
der „Acta Murensia“, ist Guntram der Reiche30 der „Stammvater“ aller Habsburger. Er oder sein Sohn Lanzelin (Landolt) von Altenburg erwarben im Aargau das heutige Eigenamt und, durch einen damals nicht unüblichen Amtsmissbrauch, auch Grundbesitz in Muri. Die Fehde um den Besitz von Muri zwischen Lanzelins Söhnen Radbot, Graf im
Klettgau, und Graf Rudolf I. führte 1027 zur Gründung des Klosters Muri – einer Sühne-Stiftung Radbots. In diesem
Zusammenhang wurde um 1020/1030 von Radbot und seinem Verwandten, dem Bischof Werner von Straßburg31, auf
dem Wülpersberg im Eigenamt eine Burg errichtet – die Habsburg32. Die Burg am Zusammenfluss von Reuß und Aare
sowie der nach Rudolfs kinderlosem Tod wiedervereinigte Grundbesitz ging nach Radbots Tod an seine Söhne Otto I.,
Albrecht I. und Werner I.
Werners Sohn, Otto II.33, nannte sich als Erster „Graf von Habsburg“ und seit 1108 wird der Beiname „von
Habsburg“ durchgängig genutzt 34.
An dieser Stelle weisen wir darauf hin, dass „die“ Habsburger weder zu den Reichsfürsten gehörten, noch mit
auswärtigen Dynastien verwandt waren oder ein in sich geschlossenes Territorium beherrschten. Sie waren Grafen mit
örtlichen Hoheitsrechten und mussten einen zähen aber letztlich erfolgreichen Kampf um den Ausbau ihrer Position
führen, der vielfach durch das Aussterben mächtiger Dynastenfamilien begünstigt wurde.
Mit Rudolf von Habsburg35 wurde am 1. Oktober 1273 in Frankfurt am Main ein Mitglied dieser gräflichen
Familie zum römisch-deutschen König gewählt und am 24. Oktober in Aachen gekrönt. Rudolfs Besitz erstreckte sich
über das obere linke Rheinufer vom Bodensee bis zu den Vogesen und er war bestrebt, diesen Machtbereich in Richtung Osten zu erweitern. Am 26. August 1278 verlor Rudolfs Konkurrent König Premysl Ottokar II. von Böhmen,
Herrscher eines mächtigen Reiches zwischen Adria und Ostsee und als Gemahl der Babenbergerin Margarete seit
1252 Herzog von Österreich, in der Schlacht auf dem niederösterreichischen Marchfeld bei Dürnkrut und Jedenspeigen im Kampf gegen Rudolf und den ungarischen König Ladislaus IV. sein Leben. Fortan waren die Habsburger österreichische Landesherren. Rudolf belehnte 1282 seine Söhne, die Herzöge Albrecht I.36 und Rudolf II.37, mit den Besitzungen Österreich, Steiermark, Krain und Windische Mark in Kärnten und errichtete so eine Herrschaft, welche die
Familie hier bis 1918 kontinuierlich ausüben konnte.
Da die Königskrone nicht erblich dem Hause Habsburg gesichert werden konnte, mussten sich die Habsburger
nach Rudolfs Tod 1291 auf den Ausbau ihrer Hausmacht konzentrieren: 1335 wurde Kärnten, 1363 Tirol, 1368 Freiburg im Breisgau und 1382 Trieste erworben. Gleichzeitig verloren die Habsburger nach dem Tode Rudolfs I. in ihren
30
Er ist, nach Lesart der Gemeinde Habsburg, möglicherweise mit einem 952 bezeugten Grafen gleichen Namens im Elsass identisch ist. Stimmt dies, so stammen die Habsburger von den fränkischen Herzögen der Etichonen ab.
31
Werner von Straßburg, 1002-1028
32
Die Habsburg in der Schweiz ist der namensgebende Stammsitz der Herrscher-Dynastie, die in der frühen Neuzeit über ein
Weltreich herrschte, das neben europäischen Ländern auch Kolonien in Afrika, Asien und Amerika umfasste. Namensgebung:
Havichsberch (1108), Havekgesperch (1150); Habisbruch (1213), Habsburc (1238/39). Der Legende Nach der Legende gab Radbot der Burg den Namen „Habichtsburg“, als sich ein zur Familie der Habichte gehörender Falke bei einem Jagdausflug auf dem
Schlossgemäuer niederließ.
33
Otto II. gest. 08.11.1111
34
Der spätere Kaiser Rudolf residierte aus geographischen Gründen allerdings schon nicht mehr auf der Habsburg und spätestens
ab Mitte des 13. Jahrhunderts war die Burg auch für seine Nachkommen als Residenz ungeeignet und sie wurde von Dienstherren
als Lehen genutzt. 1804, nach fast 300-jähriger Zugehörigkeit zum Kanton Bern, wurde die Habsburg vom jungen Kanton Aargau
erworben und mehrfach restauriert.
35
Rudolf I., römisch-deutscher König, geb. 01.05.1218, gest. 15.07.1291 in Speyer, begraben im Dom zu Speyer.
36
Albrecht I., römisch-deutscher König, geb. 1255, ermordet 01.05.1308 bei Brugg an der Reuß, begraben zunächst im Zisterzienserkloster Wettingen und 1309 in den Dom zu Speyer überführt
37
Rudolf II., Herzog, geb. 1270, gest. 10.05.1290 in Prag, begraben in der Prager Burg und 1373 in den Veitsdom überführt.
13
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Schweizer Stammlanden den Kampf gegen die Eidgenossenschaft. Mit dem feierlichen Verzicht auf alle Ländereien,
welche die Eidgenossen zwischenzeitlich erworben hatten, endete 1474 die Kraftprobe der Habsburg gegen den Eidgenössischen Bund in der Schweiz.
1356 fühlte sich Herzog Rudolf IV.38, genannt „der Stifter“, bei der Festlegung des Kurfürstenkollegs übergangen und reklamierte zwei Jahre später mit einem gefälschten Freiheitsbrief, dem „Privilegium majus“, seine Sonderstellung als Pfalzerzherzog. 1453 wurde diese angemaßten Würden – allen voran das Tragen des Titels eines „archidux“ (Erzherzogs) – durch den ein Jahr zuvor in Rom durch den Papst gekrönten römisch-deutschen Kaiser Friedrich
III.39 zum Gesetz erklärt.
Ab 1438 – ausgenommen die Regentschaft des Wittelsbacher Karl VII. 1742 bis 1745 – bis zur Aufhebung
des Alten Reiches 1803/1806 stellte die Familie der Habsburger nun den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches
deutscher Nation. Eine durch Friedrich III. begründete geschickte Heiratspolitik garantierte den Nachkommen Macht
über ein riesiges Reich: Philipp II.40 war in der Mitte des 16. Jahrhunderts so zum mächtigsten Herrscher in Europa
geworden. 1804 folgte dem Alten Reich das österreichische Erbkaisertum, das Franz II. noch vor Niederlegung der
römischen Kaiserkrone für sein Herrschaftsgebiet proklamierte.
Die Macht der Familie, nach Aussterben der männlichen Linie 1740 mit Kaiser Karl VI. durch die „Pragmatischen Sanktionen“ als neu gegründetes Haus Habsburg-Lothringen auch in weiblicher Erbfolge gesichert, konnte jedoch auf Dauer nicht gehalten werden – es bröckelte ebenso wie die Stellung des Kaiser als Oberhaupt der Familie.
Niemand zuvor musste den Niedergang des Erzhauses Habsburg so intensiv miterleben wie in seinen 68 Regierungsjahren Kaiser Franz Joseph41, zu dessen Gunsten 1848 sein Onkel Ferdinand „der Gütige“ abgedankt hatte.
Zunächst noch konnte Franz Joseph I., überzeugt von seiner monarchischen Sendung und dem Gottesgnadentum seiner Herrschaft, mit Gewalt die revoltierenden Länder zusammenhalten, doch 1859 verlor sein Reich die Lombardei und die Großherzogtümer Toskana und Modena sowie 1866 Venetien. Mit der Niederlage gegen die Preußen
1866 bei Königgrätz bröckelte nicht nur das österreichische Selbst- und das kaiserliche Sendungsbewusstsein: durch
den „Ausgleich“ mit Ungarn 1867 trat an die Stelle des „Kaisertums Österreich“ nun die Doppelmonarchie „Österreich-Ungarn“ als „k.u.k.“-Staat mit zwei Hauptstädten, einem komplizierten Regierungs- und Finanzsystem und vor
allem einer Vorrechtstellung für Deutsche und Magyaren gegenüber den anderen Nationalitäten im Vielvölkerstaat.
Der Imagegewinn, den sich Franz Joseph 1908 durch die Annexion der ehemals türkischen Provinzen Bosnien und
Herzegowina erhoffte, trat nicht ein und brachte statt dessen eine akute Kriegsgefahr mit sich.
Dieses „hausgemachte“ Nationalitätenproblem mündete in den Ersten Weltkrieg, den im Juli 1914 der 84jährige Kaiser mit einer Kriegserklärung an Serbien begann. Sein Nachfolger, der österreichische Kaiser Karl I.42, verzichtete am 11. November 1918 auf jede Beteiligung an der Regierung im verbleibenden „Deutsch-Österreich“ – nicht
jedoch auf den Thron. Am 23. März 1919 verließ Karl auf Drängen der neuen österreichischen Regierung das Land
und ging ins Exil – in die Schweiz, wo die Wurzeln der Familie lagen. Eine Rückkehr an die Macht – zumindest in
Ungarn – scheiterte gleich zweifach und am 6. November 1921 beschloss die ungarische Nationalversammlung, dem
38
Rudolf IV., geb. 01.11.1339 in Wien, gest. 27.07.1365 in Mailand, begraben in der Fürstengruft von St. Stephan/Wien.
Friedrich III., Kaiser (als deutscher König Friedrich IV., als Herzog Friedrich V.), geb. 21.09.1415 in Innsbruck, gest.
19.08.1493 in Linz, begraben im Wiener Stephansdom
40
Philipp II., spanisch Felipe II., geb. 21.05.1527 in Valadolid, gest. 13.09.1598 im Escorial, begraben im Pantheon der Könige
im Kloster San Lorenzo im Escorial
41
Franz Joseph, Kaiser von Österreich, geb. 18.08.1830 in Wien, gest. 21.11.1916 in Wien, begraben in der Kapuzinergruft Wien.
42
Karl I., Kaiser von Österreich (als ungarische König Karl IV. und als böhmischer König Karl III.), geb. 17.08.1887 in Persenbeug/NÖ, gest. 01.04.1922 auf Madeira, begraben in Nossa Senhora do Monte auf Madeira.
39
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
einstigen König Karl V. die Thronrechte zu entziehen. Karl starb 1922 mit 35 Jahren auf Madeira an einer Grippe.
Zuvor jedoch hatte die Nationalversammlung am 3. April 1919 mit dem „Habsburgergesetzt“ für alle Zeiten der Familie das Herrschaftsrecht für verlustig erklärt. Als erster und einziger Kaiser aus dem Haus Habsburg wurde Karl von
Österreich am 3. Oktober 2004 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.
Während Karls Gattin Zita43 zeitlebens den Thronanspruch aufrecht erhielt und erst 1982 als Einundneunzigjährige für einen privaten Besuch nach Österreich zurückkehren durfte, verzichtete der 1912 geborene Kronprinz und
Thronfolger, Otto44, im Jahre 1961 auf seine Thronrechte. Die letzte Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn
verstarb 1989 im St. Johannes-Stift45 in Zizers im Schweizer Kanton Graubünden – nahe jenem Ort, an dem rund 970
Jahre zuvor mit dem Bau der Habichtsburg ihre Familie ihren Namen fand.
„Mit dem Ende des Kalten Krieges rückte Österreich von seiner Randlage im demokratischen Europa in das
Zentrum eines größeren Europa mit neuen Formen partnerschaftlicher Koexistenz. Österreich reagierte darauf mit einer forcierten Nachbarschaftspolitik und intensiven Bemühungen um einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus (1989) intensivierten sich die Beziehungen zu den Ländern
Ost- und Südosteuropas. Im Jugoslawien-Konflikt zu Beginn der neunziger Jahre drängte Österreich mit Deutschland
1991 auf eine rasche Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Enge wirtschaftliche und politische Beziehungen
wurden zu den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien ebenso wie zu den Staaten Mittel- und Osteuropas aufgebaut.
Vor diesem Hintergrund vollzog Österreich 1995 eine bedeutende Weichenstellung: Seit 1. Jänner ist Österreich Mitglied der Europäischen Union (EU) sowie Beobachter bei der Westeuropäischen Union (WEU).46“
43
Zita, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, geb. 09.05.1892 in Pianore, Lucca/Italien, gest. 1989 in Zizers/Schweiz,
begraben in der Kapuzinergruft Wien
44
Otto, geb. 20.11.1912 in Reichenau/NÖ
45
Zita bewohnte seit 1962 einige Räume im St.-Johannes-Stift, einem kirchlich geführten Altenheim. Über ihrem Sterbebett hing
jenes Kreuz, unter dem Kaiser Karl gestorben war; es befindet sich heute in Privatbesitz in Deutschland.
46
www.eu2006.at
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
2
Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph I.
„Ihr lieben Völker im weiten Reich,
So ganz in geheimen bewundre ich euch:
Da nährt ihr mit eurem Schweisse und Blut
Gutmütig diese verkommene Brut!“
Kaiserin Elisabeth
Gedicht, Januar 1887
„Moral“, in „Eine wahre Geschichte“
„Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Monarchie schweren Erschütterungen ausgesetzt gewesen. Es begann mit der Revolution 1848, der 1849 der Kampf mit Ungarn folgte. Die Nationen des Vielvölkerstaates
waren erwacht. Diplomatische und militärische Misserfolge erschütterten das Reich in den folgenden Jahren: Im
Krimkrieg 1853-1856 machte sich Österreich Russland zum Feind, 1859 ging die Lombardei verloren, 1866 Venetien,
und nach der Niederlage von Königgrätz im Kampf gegen Preußen büßte Österreich im gleichen Jahr die Vorherrschaft im Deutschen Bund ein. Für die Verdrängung aus Italien und Deutschland suchte Österreich in der Folge Kompensation auf dem Balkan.47“ Mit- und vielleicht sogar hauptverantwortlich für diese Politik der Niederlagen war Kaiser Franz Joseph I.48, der nach dem ungarischen Ausgleich von 186749 auch Apostolischer König des magyarischen
Reiches geworden war. An dieser politischen Entscheidung, welche die Monarchie in eine österreichische und eine
47
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Franz Joseph I., geboren am 18.08.1830 in Wien-Schönbrunn, gestorben am 21.11.1916 in Wien-Schönbrunn, ältester Sohn von
Erzherzog Franz Karl und Prinzessin Sophie von Bayern; ab 02.12.1848 Kaiser von Österreich. Nahm bei der Thronbesteigung
den Doppelnamen Franz Joseph I. an (ursprünglicher Name Franz). In jungen Jahren stand er stark unter dem Einfluss seiner Mutter und anderer Ratgeber, hatte großes Pflicht-, aber auch Sendungsbewusstsein. Am 24.04.1854 heiratete er Prinzessin Elisabeth
in Bayern. Der äußerst schwierigen Ehe entstammten 4 Kinder. Unter dem Einfluss seiner Frau stimmte er 1867 dem österreichisch-ungarischen Ausgleich mit Ungarn zu. Er begann als absoluter Monarch, respektierte später aber alle Verpflichtungen aus
der Verfassung und regierte als konstitutioneller Herrscher. Durch viele politische Fehlentscheidungen vorsichtig geworden und
durch persönliche Schicksalsschläge (Erschießung seines Bruders Maximilian in Mexiko 1867, Tod seines Sohnes Rudolf 1889,
Ermordung seiner Gattin 1898) schwer geprüft, konzentrierte er sich auf seine Aufgaben und zog sich zurück. Er wurde zum
Symbol der österreichisch-ungarischen Monarchie schlechthin. Nach dem Scheitern seiner Ehe ging er eine enge Beziehung mit
der Schauspielerin Katharina Schratt ein. In den letzten 20 Jahren seines Lebens war er die politische Integrationsfigur des Vielvölkerstaates und wurde von vielen Zeitgenossen als einzige Stütze seines Zusammenhalts gesehen. Im Alter starrsinnig geworden, widersetzte er sich allen Reformen, unterschrieb aber 1914 doch das Ultimatum und die Kriegserklärung an Serbien. Er fühlte sich in erster Linie als Beamter und Soldat, war frommer Katholik, aber tolerant. Trotz der kulturellen Höhepunkte, die in seine
Epoche fallen, war er wenig kunstinteressiert.
49
Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bildete ab 1867 einen Staatenbund unter der Führung eines Monarchen. Die gemeinsamen Angelegenheiten besorgten 3 Reichsministerien (Außen-, Kriegs- und Finanzministerium), aus jedem Parlament wurden 60
Mitglieder für die gemeinsamen Angelegenheiten und die Aufteilung der Beiträge (Quoten) gewählt. Jede Reichshälfte hatte eine
Verfassung, ein aus 2 Kammern bestehendes Parlament, eine Regierung sowie eine eigene Verwaltungsstruktur. Die westliche
Reichshälfte (Zisleithanien, offizielle Bezeichnung: "die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder") hatte bis 1879 libe48
16
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ungarische Reichshälfte teilte, war Elisabeth50, die Gattin der Erbkaisers, viertes Kind des Herzogs Maximilian in
Bayern und der bayerischen Königstochter Maria Ludowika, maßgeblich beteiligt. Am 24. April 1854 war die Ehe
zwischen dem „Ersten Beamtens eines Staates“ und seiner Cousine vor dem Hintergrund der revolutionären Krise gefeiert worden, um dem Haus und der Dynastie Habsburg mit der schnellen Geburt eines Thronfolgers „eine Zukunftsperspektive zu geben51“.
Die Ehe zeichnete sich anfänglich durch große Leidenschaft aus, und vier Kinder erblickten das Licht der
Welt: 1855 Sophie (gestorben 1857), 1856 Gisela, 1858 Rudolf und 1868 Marie Valerie. Doch schon bald verlor die
Ehe der Wittelsbacherin Prinzessin mit dem Habsburger Kaiser ihr Traumhaftes und Elisabeth ging auf Distanz zu
Franz Joseph und dem Wiener Hof. Sie suchte ihre Selbstverwirklichung als Person – nicht als Kaiserin – im Reitsport
und der Dichtkunst und nahm ihre Pflichten als Kaiserin kaum zur Kenntnis. Nach Konflikten mit ihrer Schwiegermutter um Repräsentations- und Erziehungsfragen hielt sie sich fern vom Wiener Hof und lebte meist in ihrem ungarischen Schloss in Gödöllö52, einem Geschenk des magyarischen Volkes an seine Königin. Nach Rudolfs Tod entfernte
sich die wandelnde „Schmerzensmutter“ noch weiter von Pflicht und Familie, erkrankte an Depressionen und litt unter
Selbstmordfantasien. Der Dolchstoß, mit dem der Italiener Luigi Lucheni53 1898 in Genf ihrem Leben ein Ende bereitete, dürfte für die lebensüberdrüssige Kaiserin und Königin eine Erlösung gewesen sein.
Auch die „engelsgleiche“ Kaiserin und Königin vermochte nicht die düsteren Wolken zu verjagen, die der Politik der Franzisko-josephinischen Ära54 erwuchsen, denn mit ihrem Einsatz für den ungarischen Ausgleich55 erschöpfrale Regierungen, die die Aufhebung des Konkordats von 1855, das Reichsvolksschulgesetz von 1869, eine neue Strafprozessordnung 1872 und die Einrichtung des Verwaltungsgerichtshofs 1875 durchsetzen
50
Elisabeth Amalie Eugenie, geboren am 24.12.1837 in München (Deutschland), gestorben am 10.09.1898 in Genf (Schweiz; ermordet), Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, Tochter von Herzog Max in Bayern; ab 1854 Gattin von Kaiser Franz
Joseph I. Am Wiener Hof nie ganz glücklich, hatte sie große Sympathien für das ungarische Volk und setzte sich 1866/67 verstärkt für den Ausgleich mit Ungarn ein. Nach dem Selbstmord ihres Sohnes Kronprinz Rudolf 1889 dehnte sie ihre schon früher
gepflegte Reisetätigkeit noch weiter aus.
51
Heimann, Heinz-Dieter, „Die Habsburger – Dynastie und Kaiserreiche“, C. H. Beck-Verlag, München, 2. Auflage 2004
52
Gödöllö liegt 30 Kilometer nord-östlich von Budapest, seit 1966 Stadt. Königliches Schloss: errichtet nach 1733 nach Plänen
und unter Leitung von Andreas Mayerhofer (geb. 1690 in Salzburg, gest. 1771) durch Antal I. Graf Grassalkovich (geb. 1694,
gest. 1771); kam nach Aussterben der Linie Grassalkovich 1850 in den Besitz des Bankiers Sina, der es 1864 an eine belgische
Bank veräußerte. 1867 erwarb die ungarische Regierung das Schloss zurück und stellet es nach Parlamentsbeschluss dem jeweiligen König zur Verfügung; 1919 war Gödöllö Hauptquartier der Ungarischen Räte-Republik. Von 1920 bis 1944 Sommerresidenz
des Reichsverwesers; 1944 verwüsteten deutsche Truppen das Schloss, in das später ein russisches Feldlazarett einzog. Ab 1950
waren sowjetische und ungarische Soldaten in den Gebäuden stationiert, später wurden dort ein Altenheim und Notwohnungen
eingerichtet; 1981 Verabschiedung des Schlossprogramms des Landesaufsichtsamtes für Denkmalschutz, 1986 bis 1991 erste Sanierung; 1990 Auszug der letzten Soldaten der Sowjetarmee aus dem Südflügel und Schließung des Altenheimes; 1994 Räumung
der Notwohnungen und Beginn umfangreicher Renovierungsarbeiten unter Leitung des Ingenieurbüros Mahill; 17.08.1996 Eröffnung des Hauptflügels mit den 23 Räumen des neuen Schlossmuseums; 1998 Eröffnung der Königin Elisabeth Gedächtnisausstellung und Start der Rekonstruktion des Barockgartens;
53
Lucheni, Luigi, (geb. am 22.04.1873 in Parigi/Italien, gest. am 19.10.1910 in Genfer Haft - Selbstmord)
54
Aufgrund der langen Regierungsdauer von Franz Joseph und der großen Veränderungen ist diese Ära sie in sechs Abschnitte zu
gliedern: der Neoabsolutismus von 1848 bis 1860 (Niederwerfung Ungarns und der Lombardei, die Aufrechterhaltung der Führung im Deutschen Bund sowie die Ausschaltung des 1848 gewählten Parlaments), die Übergangsperiode von 1860 bis 1867 (erfolgloses Bemühungen, eine konstitutionelle Monarchie mit Einbeziehung Ungarns zu installieren), die liberale Epoche von 1867
bis 1879 (stürmische Wirtschaftsentwicklung mit Eisenbahnbau und Gründerzeit, die 1873 von einer Rezession abgelöst wurde.
Im Zeichen des Liberalismus wandelte sich Österreich zum modernen Staat mit industrieller bürgerlicher Gesellschaft), die „Periode des Fortwurstelns" bzw. des politischen Aufbruchs des Volkes von 1879 bis 1893 (Ära Taaffe mit der Rückkehr der Tschechen in den Reichsrat, die Entstehung deutschnationaler Strömungen, die Ausdehnung der politischen Mitsprache und die politische Organisation niedrigerer Volksschichten wie Arbeiter, Bauern, Kleinbürger), die Zeit der heftigen Nationalitätenkämpfe und
der Demokratisierung von 1893 bis 1914 (Ab 1893 erfolgte der Übergang zur Massendemokratie (Eintritt der Volksmassen in die
Politik) mit starken nationalen und sozialen Gegensätzen. Stationen dieser Entwicklung waren die Wahlrechtsreformen 1897 und
1907, durch die die Sozialdemokraten zu einem staatspolitischen Faktor wurden und auch eine föderalistische Umgestaltung des
Staates angestrebt werden sollte) sowie der 1. Weltkrieg und das Ende der Monarchie.
55
Mit dem am 15.03.1867 abgeschlossenen Vertrag über das staatsrechtliche Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn wurde
das bisherige Kaisertum Österreich in die so genannte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt.
17
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
te sich das politische Engagement der Kaiserin56, die in den 60-er Jahren als die „schönste Monarchin der Welt“ galt.
„1878 besetzten österreichisch-ungarische Truppen Bosnien und die Herzegowina. 1879 wurde Eduard Graf Taaffe
zum Ministerpräsident ernannt und mit Bildung einer Koalitionsregierung betraut, der er 14 Jahre lang führte. Mit ihm
wurde die deutschliberale Ära durch eine eher slawenfreundliche Politik abgelöst. 1879 schloss Österreich-Ungarn mit
Deutschland den Zweierbund, der 1882 durch Beitritt Italiens zum Dreierbund erweitert wurde.57“
Schon allein durch die Dauer seiner Regentschaft – der 1830 geborene Franz Joseph saß 68 Jahre auf dem österreichischen Thron – bescherte der Kaiser, aus heutiger Sicht DAS Symbol der Donaumonarchie, seinem Reich dynastische und politische Krisen. Auch familiär bröckelte das Haus Habsburg: Franz Joseph musste nicht nur das Ausscheiden der Erzherzöge Ferdinand Karl58, Johann Salvator59 und Leopold Ferdinand Salvator60 aus dem Familienverbund akzeptieren, sondern auch das Scheitern der eigenen Ehe anerkennen: als sich Elisabeth dem Regenten entfernte,
näherte er sich anderen Frauen – wie Anna Nahowski und ab 1883 mit Billigung Elisabeths der Burgschauspielerin
Katharina Schratt61, die – einzelnen Quellen folgend – nach Elisabeths Tod in einer Geheimehe die zweite Ehefrau
des Kaisers wurde.
56
Der volle Umfang von Elisabeths politischem Engagement kann man vermuten, wenn man ihren wichtigsten bisher bekannten
politischen Brief vom 14. Juli 1866 an den ungarischen Hofkanzler Georg v. Mailáth in Wien liest: „Lieber Herr von Mailáth
...Vor allem eine Bitte, seien Sie mein Stellvertreter beim Kaiser, übernehmen Sie mein Amt, dem Kaiser die Augen zu öffnen
über die Gefahr in die er sich unwiederbringlich stürzt, wenn Er noch immer keine Concessionen an Ungarn machen will, seien
Sie unser Retter, darum beschwöre ich Sie jetzt im Namen unseres armen Vaterlandes und meines Sohnes - und zähle dabei auch
auf die Freundschaft, die Sie, wie ich mir vielleicht einbilde, doch ein wenig für mich fühlen. Das Zugeständnis, zu dem ich den
Kaiser zu bewegen trachtete, das er mir aber leider noch nicht machte, ist, die jetzigen Regierungs-Männer zu entlassen und als
Minister des Äußeren Gf. Gyula Andrássy zu ernennen. Dies wäre eine Concession an Ungarn ohne sich durch Nachgeben jetzt zu
compomittieren. Seine Popularität im Lande würde beruhigend und vertrauenserweckend wirken und das Königreich ruhig halten,
bis endlich die Verhältnisse erlauben, dass die inneren Zustände geregelt werden. Was seine Tätigkeit für das Äußere betrifft, wird
wohl ein Mann, der so lang im Ausland war, so viel durchgemacht hat, glücklichere Erfolge erzielen, als bisher Andere mit all ihrer Ehrlichkeit und guten Willen erlangten. Ist der Kaiser zu diesem durchaus nicht zu bewegen, so sollte Er wenigstens Andrássy
zum Minister Ungarns machen. Für jetzt ist ja das größte Bedürfnis, dass das Land beruhigt und durch einen Mann, der ihm die
Bürgschaft einer besseren Zukunft gibt, dahin gebracht wird, dass es alle Kräfte, über die es nur zu gebieten vermag, dem Kaiser
stellt. Wenn solche Freiwilligen Corps auch keine Armee wie die preußische schlagen können, so halten sie sie doch wenigstens
für kurze Zeit auf, und sind so viele unruhige Elemente aus dem Land gezogen, dass dieses, sei nun das Ende des Krieges glücklich oder unglücklich, so geschwächt sein wird, dass der Landtag gewiss ruhiger und anstandsloser zu Ende geführt werden kann,
als es selbst vor dem Krieg der Fall gewesen wäre. Das sind Zugeständnisse, zu denen in zwei kurzen Tagen den Kaiser vergeblich zu überreden trachtete. In Ihre Hände lege ich nun Alles, Ihr Verstand, Ihre Überredungskraft werden mehr nützen als meine
Bitten und Thränen. Wären nur Sie allein immer gewesen, wie anders stünde jetzt Alles, aber da wir nun einmal so weit sind, so
gehen Sie wenigstens nicht ohne den Einfluss des Grafen Esterházy gebrochen zu haben, ohne das Resultat erzielt zu haben, dass
er vom Kaiser entfernt ist, dessen wohlgemeinter aber verderblicher Rath so viel Unglück über uns bringt. Ohne Rücksicht habe
ich mich an Sie gewendet, mein Vertrauen kann ich nur ganz oder gar nicht geben. Bringen Sie das zu Wege, was mir nicht gelang, dann werden Millionen Sie segnen, mein Sohn aber täglich für Sie bethen, wie für seinen größten Wohltäter. ...“; dieser 7 ½seitige Brief der Kaiserin war bisher nicht bekannt und wurde am 21. Dezember 2005 im Wiener Palais Dorotheum versteigert.
57
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
58
Erzherzog Ferdinand Karl, geb. 27.12.1868 in Wien, gestorben 12.03.1915 München (Deutschland), Bruder des Thronfolgers
Erzherzog Franz Ferdinand und Neffe von Kaiser Franz Joseph I. Sein Interesse galt vor allem dem Theater, doch war er bis 1904
Offizier. Wegen eines Verhältnisses mit Berta Czuber, die er 1909 heimlich heiratete, veranlasste Kaiser Franz Joseph 1904 sein
Ausscheiden aus dem Heeresdienst und 1911 seinen Austritt aus dem Haus Habsburg. Nach dem Reisepseudonym seines Vaters
nannte er sich seither Ferdinand Burg und lebte auf ererbten Gütern in Südtirol.
59
Erzherzog Johann Salvator, geb. 25.11.1852 in Florenz (Italien), 1891 verschollen und 1911 für tot erklärt, jüngster Sohn von
Großherzog Leopold II. von Toskana. Verzichtete 1889 freiwillig auf seinen Titel und nannte sich seither Johann Orth, heiratete
1889 in England die Balletttänzerin der Wiener Hofoper Milli Stubel. Unternahm 1890 mit einem Segelschiff eine Weltreise und
kam wahrscheinlich vor der südamerikanischen Küste um.
60
Erzherzog Leopold Ferdinand Salvator, geb. 02.12.1868 in Salzburg, gest. 04.07.1935 Berlin (Deutschland), ältester Sohn von
Großherzog Ferdinand IV. von Toskana. Verzichtete 1902 auf Titel und Rechte eines Erzherzogs und nannte sich seither Leopold
Wölfling.
61
Schratt, Katharina, geb. 11.09.1853 in Baden (Niederösterreich), gest 17.04.1940 in Wien, Schauspielerin; ab 1873 am Wiener
Stadttheater, 1883-1900 am Burgtheater, ab 1887 Hofschauspielerin, ab 1893 lebenslängliches Mitglied des Burgtheaters.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Während Wirtschaft und Kultur in dieser Zeit eine Blüte erlebten und Industrie und Technik, Wissenschaft
und Kunst aufblühten, trug die schrittweise Liberalisierung und Demokratisierung erste Früchte. Die allgemeine Lage
schien hoffnungsvoll... Dennoch: Franz Joseph wollte kein Risiko eingehen – als hätte er Angst, sein Reich würde
beim nächsten Schicksalsschlag zusammenbrechen.
Da es sowohl zu Kaiserin und Königin Elisabeth, als auch zu Kaiser und König Franz Joseph I. und seine Ära
ausgezeichnete Literatur gibt – und beide Personen nicht Gegenstand unserer Forschung waren – werden wir an dieser
Stelle nicht näher auf diese beiden sicher sehr interessanten historischen Persönlichkeiten eingehen und verweisen
vielmehr auf in diesem Bereich berufenere Quellen.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
3.
A: Rudolf von Österreich
„Er ist noch ein sprudelndes Gemüt und
hat das Herz leicht auf der Zunge“
Friedrich Baron Beck-Rzikowski,
Generalstabschef
über den Kronprinzen
Gödöllö o.D.
„Am 30. Jänner 1889 wurde der einzige Sohn Kaiser Franz Josephs und Kronprinz von Österreich-Ungarn,
Erzherzog Rudolf, in seinem Jagdschloss in Mayerling unter mysteriösen Umständen neben der Leiche der 18jährigen Baroness Mary Vetsera62 tot aufgefunden.63“ Er wurde „am 21. August 1858 [um 22.15 Uhr] als drittes Kind
des Kaisers Franz Joseph und der Kaiserin Elisabeth im Schloß Laxenburg bei Wien geboren. Dem zarten, nervösen
Kind wurde eine äußerst sorgfältige Erziehung zuteil, die ihm aber ein Übermaß an Arbeit und Anstrengung aufbürdete. Ausgewählte Lehrer erteilten ihm Unterricht in den verschiedensten Fächern; seine Tage waren so ausgefüllt, dass
er kaum Zeit fand, seine Eltern zu sehen. Selbst das Familienleben war im Lehrplan eingebaut. So hieß es in den Stundenplänen: 10-11 Uhr: zu den Majestäten.64“
Nachdem die streng militärische Erziehung65 des kränklichen und zugleich hochsensiblen Kronprinzen im Jahre 1865 nach ultimativer Forderung seiner Mutter abgebrochen wurde, erzogen liberale und bürgerliche Lehrer wie Josef Zhisman66, Hyazinth von Rónay67, Anton Gindely68, Hermenegild Jirecek Ritter von Samokov69, Dionysius Grün70,
62
An dieser Stelle irrt Judtmann. Mary Vetsera wurde am 19.03.1871 geboren und war somit zum Zeitpunkt ihres Todes 17 Jahre
alt.
63
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
64
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
65
u.a. durch Wagner, Carl, Oberstleutnant: Terrainlehre, Waffenlehre, Heeresorganisation; von Grünewald, Oberstleutnant: Reglement der Fußtruppen und Exerzieren; von Rößler, Oberstleutnant: Feldbefestigung, permanente Befestigung, Festungskrieg;
Kraus, Anton, Major: Exerzieren im Bataillon; Kerchnawe, Hugo, Hauptmann: Pionierdienst; Rheinländer, Oberst: Taktik und
Strategie; Ritter von Eschenbach, Hauptmann: Reglement für Artillerie und Exerzieren mit der Batterie; Flügeladjutant Freiherr
von Gemmingen, Major: Kavallerie-Reglement.
66
Zhisman, Josef; Slowene, stammt aus ärmlichen Verhältnissen, Professor am Theresianum, ab 1871 Ordinarius für Kirchenrecht
an der Uni Wien; unterrichtet den Kronprinzen in Geschichte und Latein. Veröffentlichungen: „Die Unionsverhandlungen zwischen der orientalischen und römischen Kirche seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts bis zum Kodizill von Ferrara“, Wien 1858.
67
Rónay, Hyazinth von; Benediktinermönch, Titularbischof, Freimaurer; unterrichtet den Kronprinzen in ungarischer Geschichte.
68
Gindely, Anton, Historiker, Landeshistograph, geb. 1829, gest. 1892; unterrichtet den Kronprinzen auf Forderung der Tschechen ab 1873 in böhmischer Geschichte, Werke: „Über die dogmatischen Ansichten der böhmisch-mährischen Brüder, nebst einigen Notizen zur Geschichte ihrer Entstehung“, Wien 1854, „Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für die unteren Klassen der
Mittelschulen“, Prag 1877, „Geschichte des dreißigjährigen Krieges in drei Abteilungen“, Prag 1882, „Lehrbuch der Geschichte
20
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Matthias Wretschko71, Professor Dr. Josef Krist72, Ferdinand Hochstetter73, Adolf Exner74 und Karl Menger von Wolfensgrün75 den Erzherzog. Ob auch der deutsche Siegfried Marcus zu diesen Lehrern des jungen Kronprinzen gezählt
werden kann, ist nicht eindeutig belegt76. Diese in seiner Jugend vermittelten liberalen Ansichten, denen er zeitlebens
treu blieb, brachte Rudolf immer wieder in schwere Konflikte mit dem konservativen, vom Spanischen Zeremoniell
geprägten Wiener Hof, der dem „ständige Drang nach Veränderung des Bestehenden, nach Fortschritt in allen Bereichen des menschlichen Lebens77“ fern stand.
„Im Alter von 15 Jahren widmete [Rudolf] seinem Erzieher Latour ein Heft mit dem Titel „Einzelne Gedanken“, in dem sich erstaunliche Idee finden, die bezeugen, da0ß der Frühreife durch die auf ihn einstürmenden Probleme in einem gefährlichen Seelischen Aufruhr geraten war.78“ Als Beleg für die These der inneren Zerrüttung zitiert
Judtmann den Erzherzog mit folgenden Worten: „Durch meinen Kopf streichen Gedanken aller Art, es sieht wüst
für Bürgerschulen. Ausgabe für Knabenschulen“, Prag 1886, „Waldstein während seines ersten Geralats im Lichte der gleichzeitigen Quellen 1625 – 1630“, 1886
69
Samokov, Hermenegild Jirecek Ritter von; geb. 1827, gest. 1909; unterrichtet den Kronprinzen in tschechischer Sprache. Veröffentlichungen: „Entstehen christlicher Reiche im Gebiete des heutigen österreichischen Kaiserstaates vom J. 500 bis 1000“, Wien
1865, „Über Eigenthumsverletzungen und deren Rechtsfolgen nach dem altböhmischen Rechte. Ein Beitrag zur Geschichte des
Rechtes in Österreich“, Wien 1855, „Geographische Dichter – Bilder“, Wien 1881, „Unser Reich zur Zeit der Geburt Christi.
Zweite Studie zum Historischen Atlas der Österreichisch-ungarischen Monarchie“, Wien 1896
70
Grün, Dionysius, geb. 1872, gest. 1875; in Mähren als Sohn jüdischer Eltern geboren, später Übertritt zum Katholizismus, Professor der Deutschen Universität Prag; unterrichtet den Kronprinzen in Geographie.
71
Wretschko, Matthias, geboren in der Steiermark; unterrichtet den Kronprinzen in Botanik. Werke: „Vorschule der Botanik für
den Gebrauch an höheren Klassen d. Mittelschulen u. verwandter Lehranstalten“, Wien 1917.
72
Krist, Professor Dr. Josef, geb. 05.04.1830 in Altendorf/Stará Ves (Mähren), gest. 13.12.1899 in Graz; Realschullehrer; Wien,
Schulreformer, Kustos am Physikalisch-astronomischen Hofkabinett, Landesschulinspektor für Niederösterreich und Oberösterreich, unterrichtete den Kronprinzen in Naturgeschichte und führte seine sexuelle Aufklärung von 1866 bis 1876 durch; Werke:
„Über Telegraphie, speciel über den Typendruck-Telegraphen von Hughes. Ein populärer Vortrag“, Wien 1869; Teilnachlass in
der Handschriftensammlung, ca. 35 Inventarnummern: Erinnerungen an Kronprinz Rudolf von Österreich. - Briefe an und Briefentwürfe von Krist (Verzeichnung: Zettelkatalog, Ankauf 1891).
73
Hochstetter, Ferdinand, geb. 05.02. 18461 in Schlesien, gest. 1954, beigesetzt am 20.11.1954 auf dem Grinzinger Friedhof in
Wien (Gruppe MR/11); Universitätsprofessor, Hofrat, Geologe und Geophysiker, Präparator; studiert an der Wiener Universität
und habilitierte sich als Privatdozent für Anatomie. 1896 bis 1908 wirkte er als 1. Dekan des Instituts für Anatomie der Universität
Innsbruck, von wo er nach Wien berufen wurde. Im Studienjahr 1910/11 Dekan der medizinischen Fakultät, 1932 Emeritierung.
Hochstetter, Mitglied der Österreichischen und Bayrischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Naturforscher in Halle und der Königlichen physiologischen Gesellschaft in Lund, verfasste Werke wie „Zur Entwicklungsgeschichte des
Gehirns", „Über vergleichende Anatomie", „Entwicklungsgeschichte des Blutgefäßsystems" und zahlreiche Abhandlungen in
Fachzeitschriften. Doktorvater u.a. von Konrad Lorenz. Vermittelt dem Kronprinzen den Kontakt zu Alfred Brehm und unterrichtet ihn ab 1872 in Geologie
74
Exner Adolf, geb. am 05.02.1841 in Prag (Tschechische Republik), gest. am 10.09.1894 in Kufstein (Tirol), beigesetzt am
13.09.1894 auf dem Dornbacher Friedhof in Wien (Gruppe 9/23 A); Jurist, Universitätsprofessor in Zürich, ab 1872 in Wien; Mitglied des Herrenhauses und des Reichsgerichts; unterrichtet den Kronprinzen in Staatsrecht 1875/76. Werke: „Die Lehre vom
Rechtserwerb durch Tradition nach österreichischem und gemeinem Recht“, 1867, „Das österreichische Hypothekenrecht, 2 Bände, 1876/81“, „ Über politische Bildung“ (Rektoratsrede), 1891
75
Menger von Wolfensgrün, Karl, geb. am 23.02.1840 in Neusandez (Nowy Sacz, Polen), gest. am 26.02.1921 in Wien, Nationalökonom; Bruder von Anton Menger von Wolfensgrün und Max Menger von Wolfensgrün, Vater von Karl Menger. Studierte
Jus in Prag, Wien und Krakau; ab 1867 mehrere Jahre im Pressebüro des Ministerratspräsidiums in Wien tätig, ab 1876 Lehrer des
Kronprinzen Rudolf. Ab 1873 Universitätsprofessor für Politische Ökonomie in Wien. Erwarb als Mitwirkender in der Währungsenquete-Kommission 1892 zur Einführung der Goldwährung in Österreich-Ungarn besondere Verdienste. Ab 1900 Herrenhausmitglied auf Lebenszeit. Gilt als Schöpfer der Grenznutzentheorie und als Vater der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Werke: „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“ 1871, „Der Übergang zur Goldwährung“ 1883.
76
Marcus, Siegfried Samuel, geb. 18.09.1831 in Malchin (Deutschland), gest. 30.06.1898 in Wien, Mechaniker und Erfinder. Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof (dort „Siegfried Markus“) . Ab 1852 in Wien; betrieb ab 1860 eine Mechanikerwerkstätte
und baute gleichzeitig mit N. Otto Verbrennungsmotoren und Automobile. Am 21.06.1864 erwarb er ein Privileg auf eine magnetelektrische Zündung, am 30.03.1865 auf einen Vergaser. Er montierte den ersten Benzinzweitaktmotor auf einem hölzernen
Handwagen, der 1864 kurze Strecken fuhr. Ob sein zweiter Wagen 1872/75 oder 1888 fahrbereit war, ist unklar. Marcus erwarb
mehr als 38 Patente für Verbrennungskraftmaschinen, Telegrafie, Gastechnik und Elektrotechnik. Die ihm vom österreichischen
Kronprinzen Rudolf geschenkten Manschettenknöpfe und die Installation einer elektrischen Klingel im Schlafzimmer der Hofburg
für Kaiserin Elisabeth belegen seine Verbindung zu Kaiserhaus.
77
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
drinnen aus, und es kocht und arbeitet den ganzen Tag in meinem Gehirn; ist einer draußen, kommt der andere hinein,
jeder beschäftigt mich, jeder sagt mir anderes, einmal fröhlich und heiter, einmal rabenschwarz, erfüllt von Wut.“ Aus
heutiger Sicht dürfte dieses Zitat weit weniger den „seelischen Aufruhr“ des „Frühreifen“ wieder spiegeln als vermutet; wir meinen, dass es sich um verständliche Gedanken eines jungen Menschen am Ende der Pubertät handelt, denen
nicht zu viel Wertung beigemessen werden sollte.
Ganz den Ideen des Liberalismus hingegeben versuchte Rudolf, die Politik seines kaiserlichen Vaters vom
Reaktionismus fortzuführen. Der Erzherzog verfasste zahlreiche Denkschriften zur Lage der Monarchie, die Nationalitätenprobleme und seine politische Zukunft, die jedoch von Franz Josef kaum beachtet oder ihm erst gar nicht bekannt
wurden.
78
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
3.
B: Stephanie von Belgien
„Durfte ich mich mit einem Manne
auf ewig verbinden, den ich
noch gar nicht kannte?“
Stefanie Gräfin Lónyay
Lebenserinnerungen 1935
Stephanie Clothilde Louise Hermine Marie Charlotte wurde am 21. Mai 1864 als zweitälteste Tochter79 König
Leopold II. von Belgien80 und dessen zweiter Gattin, Erzherzogin Maria Henriette81, auf Schloss Laeken bei Brüssel
geboren82. Die Tochter König Leopolds II. von Belgien war durch ihre Mutter, einer Tochter des Erzherzogs Josef,
selbst eine halbe Habsburgerin. Stephanie verbrachte eine „freudlose Jugend“: in Erinnerung blieb die christliche Erziehung durch ihre bewunderte und verehrte Mutter, einer wohltätigen Frau der würdigen Ergebung und des Leids,
und durch den Vater, der den „Weg der Gleichgültigkeit, der Ungerechtigkeit, der Untreue“ einschlug.
1878 besuchte Erzherzogin Elisabeth Franziska Maria83 ihre Schwester, die belgische Königin MarieHenriette, anlässlich ihrer Silbernen Hochzeit in Brüssel. Zu diesem Zeitpunkt, glaubt Stephanie, sei die Hochzeit zwischen ihr und dem Thronfolger von Österreich erstmals besprochen worden. Zumindest machte Kaiserin Elisabeth im
Winter 1878/79 auf ihrer Reise nach England und Irland in Laeken Station. „Nur wenige Eingeweihte wussten, dass
… der Erzieher des jungen Kronprinzen, General von Latour, den kaiserlichen Eltern geraten hatte, ihren Sohn mög-
79
Geschwister: Louise-Marie Amélie, Prinzessin von Belgien, Herzogin von Sachsen, Prinzessin von Sachsen-Coburg-Gotha,
geb. 18.02.1858 in Brüssel, gest. 01.03.1924 in Wiesbaden, verheiratet mit Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha; Leopold
Ferdinand Elie Victor Albert Marie, Prinz von Belgien, Herzog von Sachsen, Prinz von sachsen-Coburg-Gotha, Graf von Hennegau (1859-1865), Herzog von Brabant (1865-1869), geb. 12.06.1859 auf Schloss Laeken/Brüssel, gest. 22.01.1869 auf Schloss
Laeken/Brüssel an den Folgen des Sturzes in einen Teich (Lungenentzündung); Clémentine Albertine Marie Léopoldine, Prinzessin von Belgien, Herzogin von Sachsen, Prinzessin von Sachsen-Coburg-Gotha, geb. 30.07.1872 auf Schloss Laeken/Brüssel,
gest. 08.03.1955 in Nizza, Frankreich, heiratete das Oberhaupt der Bonapartes, Prinz Victor Napoléon Jérôme Frédéric Bonaparte
(18.07.1862 – 03.05.1926)
80
Leopold II., Prinz von Belgien, Herzog von Sachsen, Prinz von Sachsen-Coburg-Gotha, Herzog von Brabant, seit 17.12.1865
König der Belgier, geb. am 09.04.1835 in Brüssel, gest. am 17.12.1909 auf Schloss Laeken/Brüssel; eigentlich Louis Philippe
Marie Victor. Da durch den frühen Tod seines Sohnes Leopold kein männlicher Nachkomme existierte, ging die Königswürde am
23.12.1909 auf seinen Neffen, Albert I. (geb. 08.04.1875, gest. am 17.02.1934) über.
81
Marie Henriette, Erzherzogin von Österreich, Königin der Belgier; geb. am 23.08. 1836 in Pest/Österreich-Ungarn, gest. am 19.
09.1902 in Spa/Belgien
82
Berger, Günther: „Kronprinzessin-Stephanie-Denkmale in Wien“, in: „Wiener Geschichte – Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, Wien 1993
83
Erzherzogin Elisabeth Franziska Maria (geb. 1831 in Buda, gest. 1903), Witwe nach Ferdinand d´Este, verheiratet in 2. Ehe mit
ihrem Cousin, Erzherzog Karl Ferdinand (geb. am 29.07.1818 in Wien, gest. am 20.11.1874 in Židlochovice)
23
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
lichst bald zu verehelichen, um ihn an ein geordnetes und geregeltes Leben zu gewöhnen.84“ Schon eine Woche später
erschien Herzog Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha in Brüssel – der Chef des herzoglichen Hauses. Er hatte von
den Heiratsgerüchten gehört und wollte sich selbst ein Bild der 14-jährigen Prinzessin machen.
So abgesichert, besuchte am 4. März 1880 der 22-jährige Kronprinz den belgischen Hof in Brüssel, lernte die
belgische Prinzessin kennen und hielt bei den Eltern um ihre Hand an. Immerhin: Eine Nacht gaben der König und die
Königin von Belgien ihrer Tochter Bedenkzeit: „Betend und erwägend verbrachte ich die Nacht. Eine neue Welt stand
verlockend vor meinen Augen. (…) Wie im Träume erblickte ich eine Krone, Edelsteine schmückten den goldenen
Reif. (…) Aber inmitten dieser erhabenen Vorstellung befiel mich ängstliche Unsicherheit. Würde ich die Kraft zu
solcher Mission haben? (…) Und war ich nicht noch viel zu jung für die hohe Stellung, die ich ausfüllen sollte?! Durfte ich mich mit einem Manne auf ewig verbinden, den ich noch gar nicht kannte?85“ Doch allen bedenken trotzend, „in
kindlicher Ehrfurcht fügte ich mich in das Unvermeidliche, mit innerem Zagen, aber vollkommenem Vertrauen auf die
Weisheit meines Vaters. Ich ahnte nicht, wie schwer ich an den Ketten, an die er mich schmiedete, zu tragen haben
würde.86“
Über die erste Begegnung mit dem Kronprinzen nach ihrem „Ja“ schrieb Stephanie: „Der Kronprinz trat (in
einen Empfangssalon der Kaiserin, Anm. d. Verf.) ein. Er trug die Uniform eines österreichischen Obersten mit dem
Großkreuz des Stephansordens und das goldene Vlies. Mein Herz schlug zum Zerspringen. (…) Das Auftreten des
Kronprinzen war vollendet und sicher. Er küsste mir die Hand (…) Dann sagte er mir einige schmeichelhafte, aber
sehr förmliche Worte, und schon nach einigen Minuten stellte er die große Frage, die über unsere Zukunft entscheiden
sollte.
Hierauf reichte er mit den Arm, und so näherten wie uns meinen Eltern und baten sie, die Verlobung zu seg87
nen. “ Am folgenden Tag – Sonntag, dem 7. März – fand nach der Heiligen Messe die offizielle Verlobung statt und
in den folgenden tagen, so erinnert sich die Kronprinzessin, fanden zahlreiche Feste am Hofe statt. „Da ich noch nicht
sechzehn Jahre alt war, wurde meine Trauung erst für das Ende des Jahres festgesetzt. Bald darauf verließ der Kronprinz Brüssel; er versprach im Juli wiederzukommen.88“ Doch die Hochzeit musste verschoben werden, da die Prinzessin körperlich noch nicht voll entwickelt war. Als das Jahr 1880 zu Ende ging und Wien auf eine baldige Hochzeit
drängte, wurde der 10. Mai 1881 festgelegt „ – ein unbegreiflicher Entschluss89“.
Der Kronprinz hatte die gleiche Körpergröße wie Stephanie. „Man konnte nicht sagen, dass er schön war, jedoch war er mir nicht unsympathisch. Der Ausdruck seiner kleinen hellbraunen Augen war intelligent, aber sein Blick
84
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
1935
85
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
1935
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Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
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Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
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Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
unstet und hart; er vertrug nicht, dass man ihm in die Augen sah. Um den von einem schwachen Schnurrbart überschatteten breiten Mund hatte er einen seltsamen, schwer zu deutenden Zug“, erinnerte sich Stephanie über 40 Jahre
danach.
Am 2. Mai 1881 bestieg Stephanie, gerade 17 Jahre alt geworden, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung
und verabschiedet von politischen und geistlichen Würdenträgern des Landes, den Zug nach Österreich. Am Folgetag
empfing sie Rudolf in Salzburg, verbrachte mit seiner Verlobten den Tag und reiste nachts zurück nach Wien. Stephanie und ihr Gefolgte übernachteten in einer Villa am Salzburger Stadtrand bei Anif. „Am Morgen des 6. Mai 18812
trafen wir in Wien ein“, erinnert sich die Gräfin. Sie bezog bis zur Hochzeit Quartier im Schönbrunner Schloss und eine wahre Festwoche begann ihren Lauf zu nehmen, an deren Ende am 10. Mai 1881 die von Kardinal Schwarzenberg
zelebrierte Hochzeit in der Wiener Augustinerkirche stand.
Über die Hochzeitsnacht, die Stephanie und Rudolf in den modrigen, kalten, unbehaglichen Gemächern des
Blauen Hofes im Laxenburger Schloss verbrachten, berichtet die Kronprinzessin: „Welche Nacht! Welche Qual, welcher Abscheu! Ich hatte nichts gewusst, man hatte mich als ein ahnungsloses Kind zum Altar geführt. Meine Illusionen, meine jugendlichen Träumereien waren vernichtet. Ich glaubte, an meiner Enttäuschung sterben zu müssen.90“
Im Spätsommer des Jahres 1881 dürfte Stephanie erstmals schwanger gewesen sein – die Geburt war für Februar 1882 angesagt. Im Oktober, dem vierten Schwangerschaftsmonat, erlitt sie jedoch eine Fehlgeburt. In späteren
Jahren wurde die Schwangerschaft oftmals als Fehldiagnose des behandelnden Gynäkologen, Dr. Carl Ritter von
Braun-Fernwald91, abgewertet. In einem Brief vom Spätsommer 1881 an ihre Schwester Louise schreibt Stephanie jedoch auf Französisch, sie habe an sich „mouvements“ – also Veränderungen – feststellen können92. Wir vermuteten,
dass der Briefwechsel zwischen Stephanie und ihrer Mutter, der belgischen Königin Marie-Henriette, Auskunft über
jene Schwangerschaft geben könnte. Die Korrespondenz der Frauen bricht jedoch im Oktober 1881 ab und fängt erst
im September 1882 wieder an. Wahrscheinlich hat Stephanie die Briefe vernichtet93.
Die zumindest in Grundzügen anfänglich glückliche Ehe entwickelte sich jedoch auf Grund der unterschiedlichen Interessen und gegensätzlichen Wertvorstellungen des Ehepartner ungünstig: Beide suchten und fanden ihre sexuelle Erfüllung außerhalb des Ehebundes. Stephanie: „Meine Ansichten, meine Gewohnheiten, mein Geschmack
zählten nicht, ich musste sie begraben. Ich hatte nur das Zu tun, was mir vorgeschrieben wurde und was der Kronprinz
anordnete. Es hieß, zu folgen und sich zu beugen.94“
Oft wurde Stephanie von ihren Zeitzeugen als wenig attraktiv dargestellt, was jedoch sicher subjektive Wahrnehmung ist95. Am 2. September 1883 wurde Stephanie in Laxenburg von einer Tochter entbunden, die drei Tage später auf den Namen Elisabeth Marie getauft wurde. Die Hoffnung, bald darauf auch einem Thronfolger das Leben zu
89
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
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Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
1935
91
Der Mediziner betreute auch Königin Marie-Henriette von Belgien und Stephanies Schwester, Louise von Coburg.
92
freundliche Mitteilung von Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien , 21.05.2005
93
freundliche Mitteilung von Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien , 21.05.2005
94
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
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Hellblonde Haare der belgischen Prinzessin finden sich in einem kleinen Umschlag im Nachlass der Louise von Coburg, Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Bündel 4
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
schenken, verflogen im Jahre 1886: Zu Beginn des Jahres erkrankte Rudolf und die Ärzte rieten ihm, im Süden auszuspannen. Gemeinsam mit Stephanie reiste er auf der Jacht „Miramar“ auf die Mittelmeerinsel Lacroma. Kaum dort
angekommen, erkrankte auch die Kronprinzessin und lag „mit namlosen Schmerzen“ zu Bett. „Die herbeigerufenen
Ärzte aus Wien und Triest konstatierten Bauchfellentzündung. Auf hohen Befehl wurde das jedoch verheimlicht; die
Ärzte wurden eidlich zum Schweigen verpflichtet.96“ Was war geschehen? „Durch die haltlose Lebensweise wurde
Rudolfs Gesundheit erschüttert“, schreibt Judtmann und räumt mit vielen Vermutungen auf, die in über 70 Jahren Mayerling-Literatur – von Corti bis Zerzawy – angehäuft worden waren: nach einer gonorrhoischen Infektion durch Rudolf erlitt die Kronprinzessin eine von den Eierstöcken oder Eileitern ausgehende Beckenbauchfellentzündung, in deren Folge sich eine Sterilität einstellte. Rudolf hatte Stephanie mit dem Tripper infiziert97!
In der Urfassung ihrer Lebenserinnerungen hatte Stephanie dies auch publizieren wollen: „Ich selbst ahnte den
Grund meines Leidens nicht. Auf hohen Befehl wurde alles vertuscht, die Ärzte auf Schweigen beeidigt. Erst später
entdeckte ich und erfuhr ich, dass der Kronprinz an meinem Leiden schuld war. Auch ihn hatte die furchtbare Seuche
erfasst, die noch vor niemandem … Halt macht, sofern ihr Leichtsinn oder fluchwürdiges Erbe Tür und Tor öffnet98“ –
doch dies verschwieg sie in der späteren Druckfassung. Juliane von Stockhausen jedoch bestätigte Fritz Judtmann gegenüber, „Rudolf habe sie angesteckt! Erinnere ich mich richtig, so schwankte sie zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu sagen (wobei gewisse Antriebe bei ihr zweifellos im Spiel waren) und der Scheu vor der Öffentlichkeit. Da die
Wirkung eben auf die österreichische Gesellschaft nur zu genau vorzustellen war, legten wir ihr nahe, sich mit einer
Andeutung zu begnügen.99“ Eine ähnliche Andeutung hatte die Gräfin selbst in ihren Erinnerungen an Stephanie gewählt: „Nach der Geburt meiner Tochter hat man mir vorgeworfen, ich sei nicht fähig, noch einmal ein Kind zu tragen. Der Hof wusste nur zu gut, wer daran Schuld hatte.100“ Während Judtmann auf Stephanies Erkrankung nur am
Rande eingeht, widmet er sich ausführlich dem Krankheitsbild des Kronprinzen.
Trotz aller Gegensätze, die Rudolf und Stephanie nicht zu überwinden vermochten, trat die belgische Prinzessin stets loyal ihrem Gatten gegenüber in der Öffentlichkeit auf. Ende 1888 versuchte sie – leider vergeblich – das
Augenmerk des Kaisers auf die Veränderungen seines Sohnes zu richten. Doch der „Untergang des Kronprinzen“
schien sie nicht aufzuhalten zu sein…
Zu Stephanies Hofstab zählten im Jahre 1889 insgesamt 18 Personen101. Nach dem Tode des Kronprinzen erhielt Stephanie offiziellen den Titel „Ihre k. u. k. Hoheit, die durchlauchtigste Frau Kronprinzessin-Witwe, Erzherzo96
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, herausgegeben von Graf und Gräfin Gatterburg, Verlag von Hase, Koehler und Amelang, Leipzig
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Gonorrhoe (Tripper) gehört zu den sexuell übertragbare Krankheiten, die durch die Bakterien Neisseria gonorrhoeae, auch Gonokokken genannt, ausgelöst wird. Gonorrhoe wird in erster Linie durch Geschlechtsverkehr übertragen. Ungefähr die Hälfte aller
infizierten Frauen haben keine Beschwerden. Bei den Männern ist nur etwa ein Viertel beschwerdefrei. Diese Menschen wissen
auch nicht, dass sie eine ansteckende Krankheit haben, die sie weitergeben können. Beschwerden bei Männern: brennende
Schmerzen beim Wasserlassen und zunächst schleimiger, später cremiger Ausfluss aus der Harnröhre; Beschwerden bei Frauen:
Möglicherweise übel riechendem Ausfluss aus der Scheide, aufsteigende Entzündung der Gebärmutter, der Eileiter und Eierstöcke, die mit Fieber, Unterbauchbeschwerden, Ausfluss und einer Schmierblutung einhergehen können. Je nach Infektionsweg
kann es zu eitrige Bindehautentzündung oder unspezifische Symptome im Hals/Rachen (Halsschmerzen, übler Geschmack) kommen. Wird eine Gonorrhoe nicht behandelt, kann es zu chronische Entzündungen der inneren Geschlechtsorgane mit anhaltenden
Schmerzen, Verklebungen der Eileiter oder Samenleiter mit Unfruchtbarkeit oder Gelenkentzündungen kommen.
98
in Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
99
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
100
Stockhausen, Juliana von: „Im Schatten der Hofburg. Gestalten, Puppen und Gespenster. Aus meinen Gesprächen mit Prinzessin Stephanie von Belgien Fürstin Lónyay, der letzten Kronprinzessin von Österreich Ungarn“ Kerle, Heidelberg 1952
101
Zum Hofstaat zählten die Obersthofmeisterin Helene Gräfin Sylva-Tarouca geb. Gräfin Kálnoky, die Hofdamen Therese Gräfin Pálffy, Sidonie Gräfin Chotek, Melanie Gräfin Széchényi, der Adjutant Anton Perko und der Kanzlist Johann Riedl im Sekre26
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gin Stephanie“ und rund 2150.000 Gulden Witwenbezüge102. Die Stellung der Kronprinzessin jedoch wurde ihr verwehrt, eine andere Erzherzogin vertrat die Kaiserin bei offiziellen Anlässen. Die Witwe reiste fortan viel, übernahm
die weitere Herausgabe des „Kronprinzenwerkes“, bereicherte mit zahlreichen Affären den Tratsch der Wiener Gesellschaft und entschied sich zehn Jahre nach Rudolfs Tod, erneut zu heiraten. Am 22. März 1900 schloss Stephanie in
der Kapelle von Schloss Miramar bei Triest eine zweite, jedoch nicht standesgemäßer Ehe103: sie heiratete den ungarischen Grafen und k.k. Kämmerer Elemér Lónyay von Nagy-Lónyay und Vásáros-Namény104. In Folge verlor sie alle
Rechte einer österreichischen Erzherzogin und belgischen Prinzessin – ihr Vater enterbte sie. Den Standesunterschied
zwischen der einstigen Kronprinzessin und dem Grafen glich Kaiser Karl I. am 9. Februar 1917 aus, als er ihn in den
erblichen Fürstenstand erhob.
Ihren neuen Lebensmittelpunkt fand das Ehepaar Lónyay 1906 im wuchtigen, neugotischen Schloss105 des
kleines Ortes Oroszvár 106 an der Donau, nur wenige Kilometer von Pressburg/Bratislava entfernt. Österreich hatte seine letzte Kronprinzessin nach dem Ende der Monarchie nahezu vergessen, bis 1935 bekannt wurde, dass Stephanie ihre Lebenserinnerungen veröffentlichen wollte. Das Buch „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten
Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“ wurde dann auch prompt in der jungen Alpenrepublik verboten – auf Antrag
ihrer Tochter, Elisabeth Windisch-Graetz. Jedoch: Bei den Memoiren von Lebenserinnerungen der Kronprinzessin zu
sprechen, ist an dieser Stelle falsch. Das 1935 im Leipziger Verlag von Hase, Koehler und Amelang erschienenen
Buch wurde von Juliane und Ferdinand Gatterburg herausgegeben107. Der Graf und die als „Juliane von Stockhausen“
bekannte Gräfin hatten den Spagat geschafft, Stephanies Manuskript so redaktionell zu bearbeiten, dass es den Anforderungen eines Verlages gerecht wurde. Wie schwer und aufreibend diese Arbeit war, belegen die Erinnerungen des
Herausgeberpaares an die Redaktionsarbeit108. Zuvor war bereits Graf Conte Corti daran gescheitert, eine Struktur in
die Aufzeichnungen der Gräfin Lónyay zu bringen.
tariat, die Kammerdienerinnen Fräulein Sophie von Plancker-Klaps (sie heiratete den Hofjäger Wodiczka und schied im Dezember 1889 mit einer Gnadenpension von 1.000 Gulden jährlich freiwillig aus dem Dienst aus) und Ida Haas, die Kammermädchen
Marie Nehammer und Pauline Drtina, der Kammerdiener Andreas Löw, der Saal-Türhüter Heinrich Wunderbaldinger, die Leiblakaien Joseph Feichter, Eduard Reiner, Johann Christof und Leander Lorenz, der Hausdiener Johann Patzelt und das Kammerweib
Rosa Dornhauser; Quelle: Hof- und Staatshandbuch der österr.-ung. Monarchie für 1889, gedruckt 05.12.1888. Am 08.02.1899
wurde der geheime Rat und Kämmerer Franz Graf Bellegarde zum Obersthofmeister der Witwe ernannt.
102
Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Sep. Bill. Protocolle 1888-1889
103
Österreichisches Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, OMaA 482 III/B 153
104
Lónyay von Nagy-Lónya und Vásáros-Namény, Elemér, geboren am 24.08.1863 in Bodrog-Olaszi/Komitat Zemplén, gest. am
29.07.1946 in Pannonhalma (H), beigesetzt in der Krypta der Stiftskirche Pannonhalma (H); Sohn von Edmund Baron von NagyLónya und Vásáros-Namény und seiner Frau, Wilma Pazmandy.
105
Schloss Oroszvár, in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Grafen Zichy errichtet, von 1840-1850 Umbau des Herrensitzes im Tudor-Stil durch Emanuel Graf Zichy-Ferraris; 1872 verkauft an Hugo Graf von Henckel von Donnersmarck und Installation eines Gestüts. Die Lonyáys erwerben das Anwesen mit seinen 6.000 Joch Besitz nach dem Tode von Laura Gräfin Henckel
von Donnersmarck im Januar 1906 für vier Millionen Gulden.
106
Oroszvár (ungarisch), Gerulata (römischer Name des dortigen Militärlagers), Karlburg (deutsch); bis 1947 war Oroszvár ungarisch, die Pariser Friedenkonferenz sprach die Gemeinde dann am 15. Oktober 1947 der Tschechoslowakei zu. Heutiger Name:
Rusovce/Slowakei. Die Gemeinde im Dreiländereck Ungarn, Tschechien, Österreich gehört zum V. Bratislava Stadtteil, hat jedoch eine eigene Teilverwaltung. Schloss Rusovce, Eigentum der Slowakischen Regierung, steht heute leer und soll komplett restauriert werden.
107
Im Jahre 1937 folgte die erste und zweite Ausgabe der Memoiren auf Französisch unter dem Titel „Come non fui imperatrice“,
vermutlich von Stephanie persönlich genehmigt. Das Buch wurde 1998 neu aufgelegt.
108
Das umfangreiche Material, das die Gatterburgs für das Buch zusammen getragen hatten, konnte einzig Dr. Irmgard Schiel für
ihre Stephanie-Memoiren im März 1975 einsehen - jedoch ohne Kopien anfertigen zu lassen. In den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Gräfin Gatterburg dann den Entschluss gefasst, den Briefwechsel in Sachen Stephanie-Memoiren versteigern zu lassen.
Den Plan konnte sie jedoch nicht verwirklichen, da sie die Unterlagen nicht mehr auffinden konnte. Heute müssen die Papiere als
verloren angesehen werden. Joseph van Loon an den an der Verfasser, Arendonk/Belgien , 16.08.2004
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Stephanies Lebenskreis schloss sich mit 81 Jahren am 23. August 1945 in der ungarischen Benediktinerabtei
Pannonhalma, in der sie auch beigesetzt wurde. Hochbetagt waren die Lónyay´ s waren im Mai 1945 aus ihrem
Schloss in Oroszvár geflohen und fanden in der Abtei ihres Beichtvaters, einem Benediktinermönch, Zuflucht. Elemer
Lónyay verstarb mit 83 Jahren am 29. Juli 1946 und wurde ebenfalls in der Krypta der Unterkirche auf dem Martinsberg beigesetzt109.
109
In Pannonhalma verblieb der schriftliche und persönliche Nachlass der Fürstin Lonyay. Jene Briefe, die Stephanie an ihre Mutter, Königin Marie-Henriette von Belgien, gerichtet hatte, dürften bei einem Brand am Neujahrstag 1890 im königlichen Schloss
von Laeken vernichtet worden sein, denn die Appartements der Königin im ersten Stock des Palastes brannten völlig aus.
28
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
4.
Rudolf – Name, Hofstaat und Kammer
„Rudolph Franz Carl Joseph,
des Kaiserthums Oesterreich Kronprinz und Thronfolger,
königlicher Prinz von Ungarn, Böhmen, der Lombardei und
Venedigs, von Dalmatien, Croatien, Slawonien, Galizien,
Lodomerien und Illyrien etc.,
Erzherzog von Österreich etc. etc.“
Hofschematismus 1888
Bis zum Ende der Monarchie im Jahr 1918 trugen acht männliche Mitglieder des Erzhauses Habsburg den
Vornamen Rudolf. Ihr Leben und Wirken wird im biographischen Familienlexikon dokumentiert110:
Rudolf I.111
Herzog Rudolf II.112
Herzog Rudolf III.113 von Österreich
Rudolf IV.114 der „Stifter“ bzw. „Sinnreiche“
Kaiser Rudolf II.115
Kardinal-Erzbischof Rudolf von Olmütz116
Rudolph Franz117
Kronprinz Rudolf
Nähren wir uns dem Vornamen: „Rudolf“ stammt aus dem germanischen beziehungsweise althochdeutschen
Sprachraum und bedeutet in seiner männlichen Form „ruhmvoller Werwolfskrieger“. Zusammengesetzt ist der Name
aus dem germanischen „hrod“ (Ruhm) und „wolf“ (Wolf). Nebenformen des Namens sind Rodolfo (italienisch), Rudolph, Rudolphe (französisch) und Rudolfo. Verkleinert werden kann der Name zu Rolf, Rollo, Rolof, Roluf (nieder110
Hamann, Brigitte (Herausgeberin): „Die Habsburger – Ein biographisches Lexikon“, Piper Verlag, München 1988
Rudolf I., römisch-deutscher König, geboren 01.05.1218, gestorben 15.07.1291 in Speyer, beigesetzt im Dom zu Speyer
112
Herzog Rudolf II., geboren 1270, gestorben 10.05.1290, ursprünglich beigesetzt in der Prager Burg, 1373 in den Prager Veitsdom überführt
113
Rudolf III., Herzog von Österreich und Steiermark, König von Böhmen und Polen, geboren um 1281, gestorben 03. oder
04.07.1307 an der Otava, begraben im Veitsdom zu Prag
114
Rudolf der IV., der Stifter, geboren 01.11.1339 in Wien, gestorben 27.07.1365 in Mailand, gegraben in der Fürstengruft von St.
Stephan in Wien
115
Kaiser Rudolf II., geboren 18.07.1552 in Wien, gestorben 20.01.1612 in Prag, beigesetzt im Prager Veitsdom
116
Rudolf Johann Josef Rainer, Kardinal-Erzbischof von Olmütz, geboren 08.01.1788 in Florenz, gestorben 24.07.1831 in Baden
bei Wien, beigesetzt in der Kapuzinergruft in Wien; sein Herz ruht in der Krypta des Doms von Olmütz
117
Rudolph Franz, geboren 25.09.1822 in Wien, gestorben 11.10.1822 in Wien, begraben in der Neuen Gruft des Wiener Kapuzinerklosters. Sohn des Erzherzogs Karl Ludwig und seiner Gattin, Henriette von Nassau-Weilburg
111
29
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
deutsch), Rudi, Rudo, Ruedi (schweizerisch), Rul, Rulle, Rolph, Ralf, Ralph und Raoul. Die weibliche Form des Namens stammt aus dem althochdeutschen: Rudolfa mit den Nebenformen Rudolfina und Rudolfine118. Im katholischen
Heiligenkalender werden Abt Rudolf von Hersfeld als Bischof von Paderborn119 und Rudolf von Bern120 genannt.
Namenstag ist nach Rudolf von Bern der 17. April.
Kronprinz Rudolf, einziger Sohn von Kaiser Franz Josef und Herzogin Elisabeth von Bayern, wurde am 21.
August 1858 in Laxenburg bei Wien geboren und am 23. August durch den Fürsterzbischof von Wien, Kardinal Josef
Othmar Rauscher, auf den Namen Rudolph Franz Carl Joseph121 getauft. Im Jahre 1888 verzeichnete der Hofschematismus folgende Titel122: „Rudolph (Franz Carl Joseph), des Kaiserthums Oesterreich Kronprinz und Thronfolger, königlicher Prinz von Ungarn, Böhmen, (der Lombardei und Venedigs, von Dalmatien, Croatien, Slawonien, Galizien,
Lodomerien und Illyrien). etc., Erzherzog von Österreich etc. etc., Ritter des goldenen Vliesses, (Träger des) Großkreuz des königlich-ungarischen St. Stephans-Ordens, (des) Grosskreuz des grossherzoglich toscanischen St. JosephOrdens, (des) Grosskreuz und Ehren-Bailli des souveränen Johanniter-Ordens, Ritter des russisch-kaiserlichen St. Andreas-, des St. Alexander-Newsky-, des weissen Adler- und des St. Annen-Ordens, dann des russischen Schwarzen
Adler-Ordens, (des) Grosskreuz des kaiserlich mexikanischen Adler-Ordens, des französischen Ordens der Ehrenlegion, Besitzer des ottomanischen Osmanié-Ordens erster Classe, (des) Grosskreuz des kaiserlich brasilianischen Ordens
vom südlichen Kreuze, Ritter des königlich italienischen Ordens der Annunciata, (des) Grosskreuz des königlich bayerischen St. Hubertus-Ordens (in Brillanten), Ritter des königlich sächsischen Haus-Ordens der Rautenkrone und des
königlich dänischen Elephanten-Ordens, (des) Grosskreuz des königlich-spanischen Ordens Carl III., des königlichwürttembergischen Verdienst-Ordens der Krone, des königlich niederländischen Löwen-Ordens, des königlich belgischen Leopold-Ordens, des königlich portugiesischen Christus-Ordens und des königlich portugiesischen MilitärOrdens von St. Benedict d´ Aviz, des königlich schwedischen Seraphinen-Ordens, des königlich griechischen Ordens
vom heil. Erlöser, des königlichen Ordens „Stern von Rumänien“, des königlich serbischen weissen Adler- und des
Takowo-Ordens, des grossherzoglich badischen Haus-Ordens der Treue, des grossherzoglich sachsen-weimar´schen
Ordens vom weissen Falken, des grossherzoglich hessischen Ludwig-Ordens, des grossherzoglich mecklenburgischen
Ordens der wendischen Krone und des herzoglich sächsisch-Ernestinischen Haus-Ordens, Ritter des königlich grossbritannischen Hosenband-Ordens, Besitzer der goldenen Erinnerungs-Medaille an das fünfzigjährige RegierungsJubiläum Ihrer Majestät der Königin von Grossbritannien und Irland, Kaiserin von Indien, des königlich-peussischen
Haus-Ordens von Hohenzollern, der Porträt-Decoration des Schah von Persien (in Brillanten), des fürstlich montenegrinischen Danilo-Ordens erster Classe, des kaiserlich japanischen Chrysanthem-Ordens, der ersten Classe des
königlich siamesischen neuen weissen Elephanten-Ordens, des Ordens der Krone von Siam und der grossen Decoration des tunesischen Haus-Ordens vom Blute Nischan-Edden (in Brillanten), (des) Großkreuzes des Ritter-Ordens von
San Marino, Feldmarschall-Lieutnant, Commandant der XXV. Infanterie-Truppen-Division und Vice-Admiral (extra
statum), Inhaber des k.k. Infanterie-Regiments Nr. 19, des k.k. Uhlanen-Regiments Nr. 1 und des k.k. CorpsArtillerie-Regimets Nr. 10, Chef des kaiserlich russischen Infanterie-Regiments „Sevsky“ Nr. 34, des königlich preus-
118
www.urbia.de, Lexikon der Vornamen, 11.99
Rudolf von Hersfeld, Todestag: 06. November 1052, beigesetzt in Paderborn; Festdatum: 06. November.
120
Rudolf von Bern, Todestag: 17. April 1294; die Ermordung dieses Jungen, die fälschlicherweise den Juden untergeschoben
wurde, war Anlass einer Judenverfolgung in Bern; Festdatum: 17. April. In der katholischen Kirche wird dieser Tag heute nicht
mehr gefeiert.
121
Franz Karl nach seinem Großvater, Josef nach seinem Vater
122
„Genealogisches Verzeichnis des regierenden Kaiserhauses“, Wien 1888 (= Hof- und Staatshandbuch)
119
30
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
sischen zweiten brandenburgischen Uhlanen-Regiments Nr. 11, à la suité des königlich preussischen Kaiser FranzGarde-Grenadier-Regiments Nr. 2, mit dem Rangabzeichen eines General-Majors, Inhaber des königlich bayerischen
schweren Reiter-Regiments Nr. 2, Ehrendoctor der Philosophie der Wiener Universität, Ehrenmitglied der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Lissabon“.
Der Kronprinz war bei seinem Tode also Träger von insgesamt 45 Ordensauszeichnungen123.
Der Kosename des Kronprinzen, den in den ersten Jahren nach der Hochzeit sowohl seine Gattin Stephanie als
auch der Erzherzog in seinen Briefen benutzte, war „Coco“124.
Wie den kaiserlichen Eltern, den Geschwistern und allen lebenden Erzherzoginnen und Erzherzögen war auch
„Seiner kaiserl. u. königl. Hoheit dem durchlauchtigsten Prinzen und Herrn Rudolph, des Kaiserthumes Österreich
Kronprinz und Thronfolger, königl. Prinzen von Ungarn, Böhmen, etc., etc.“ ein eigener Hofstaat zugeteilt. Im Jahre
1888 bestand dieser aus:
-
dem Obersthofmeister, Seiner Excellenz Carl Graf Bombelles125,
-
diesem zugeteilten Kämmerer, Major und Flügeladjutant Seiner Majestät des Kaisers, Maximilian Graf
Orsini und Rosenberg126
-
sowie dem zugeteilten Hauptmann und Ordonanzoffizier Seiner Majestät des Kaisers, Arthur Freiherr
Giesl von Gieslingen127
-
und dem Leibarzt Dr. med. Franz Auchenthaler128;
-
dem Leiter des Sekretariats, dem Oberstleutnant und Oberst Heinrich Ritter von Spindler129,
-
diesem zugeteilt Oberstleutnant Victor Fritsche130
-
und dem Sekretariatskanzlisten Wenzel Cihlo131;
-
dem Verwalter von Lacroma, Kustos Franz Kukol132;
Der Kammer des Erzherzog-Thronfolgers Rudolf von Österreich gehörten an:
-
die Kammerdiener Carl Nehammer133 und Carl Beck134
-
der Saaltürhüter Johann Loschek135
-
die Kammerbüchsenspanner Rudolph Püchel136, Franz Wodicka137 und Johann Walter138
123
OmaA III/B 108 1886-1910, 24/166 f 99-108
„Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“; Katalog zur Ausstellung in der Hermesvilla, Wien 1988
125
Bombelles, siehe Kapitel 1, 11 b
126
Orsini und Rosenberg, Maximilian Graf, Kämmerer, Major und Flügeladjutant Sr. Majestät, seit 1885 dem Kronprinzen zugeteilt
127
Giesl von Gieslingen, Arthur Freiherr von, Hauptmann, Flügeladjutant Sr. Majestät, dem Kronprinzen zugeteilt
128
Auchenthaler, Franz, k.k. Leib- und Hofarzt Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen Rudolf; siehe Kapitel 10, 4
129
Spindler, Heinrich Ritter von, geb. 15.12.1822 in Rachen/Böhmen, gest. 02.03.1890 in Wien; Oberst, Oberleutnant der k.k.
Trabantenleibgarde, Leiter des Sekretariats des Kronprinzen
130
Fritsche-Fritschen, Victor von, Oberleutnant, dem Sekretariat des Kronprinzen zugeteilt, später Major der Reserve, Schriftsteller; überbringt im Auftrag des Kronprinzessin Rudolfs Aktentasche und einen Brief an Szögyenyi und erhält Kenntnis des letzten
Schreibens an den Sektionschef (Fritsche an Mitis, Wien, 22.03.1822)
131
Cihlo, Wenzel, Kanzlist im Sekretariat des Kronprinzen
132
Kukol, Franz, Kustos von Lacroma
133
Nehammer, Carl, geb. 21.04.1816 in Kettlasbrunn bei Wilfersdorf/NÖ, Kammerdiener Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des
Kronprinzen Rudolf
134
Beck, Carl, geb. 27.07.1931 in Garden/NÖ, Kammerdiener Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen Rudolf
135
Loschek, Johann, Kammerdiener Sr. Majestät, zugeteilt dem Hofstaat des Kronprinzen als Saaltürhüter Rudolf, siehe Kapitel 1,
11 i
136
Püchel, Rudolph, Kammerbüchsenspanner, siehe Kapitel 1, 11 j
137
Wodicka, Franz, Kammerbüchsenspanner, geb. 1857, gest. 1928
138
Walter, Johann, Kammerbüchsenspanner (provisorisch zugeteilt)
124
31
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
139
-
der Hausdiener Franz Thorand139 und
-
das Kammerweib Anna Schlandt140.
Thorand, Franz, Hausdiener, geb. 1832 in Allersdorf, Teplitz
32
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
7.
Der Kronprinz als Ornithologe und Jäger
„Ich bin stolz darauf,
mit diesem Werk...
durch meinen Namen so eng
verflochten zu sein.“
Dankbrief des Kronprinzen Rudolf
an den Ornithologen Dr. Alfred E. Brehm
anlässlich der Widmung von Brehms Tierleben
08.01.1877
Zweifelsohne werden die politischen Erfolge des Kronprinzen von seinen amateur-ornithologischen Forschungen in den Schatten gestellt. Der Kronprinz galt als hervorragender Beobachter und hatte „die Gabe, ökologische
Zusammenhänge zu erfassen und zu beschreiben141“. Schon von klein auf war die Vogelkunde sein Steckenpferd gewesen142. Rudolf war nicht nur als Förderer, sondern auch als aktiver Freilandornithologe tätig – was jedoch seinerzeit
und seinem Stand entsprechend meist mit dem Erlegen der Tiere verbunden war, die ihn interessierten. Allerdings:
Rudolf distanzierte sich gelegentlich von der Art zu jagen, wie sie im Kaiserhaus üblich war und distanzierte sich so
von den höfischen Trophäenjägern.
Während der Wiener Weltausstellung 1873 lernte der Erzherzog durch Vermittlung des Geologen Ferdinand
von Hochstetters den 29 Jahre älteren Alfred Edmund Brehm143 kennen, den Autoren des „Thierlebens“. Der Deutsche
lehrte Rudolf die Methoden der wissenschaftlich fundierten Vermessung und Beschreibung von Tieren, übernahm
Aufsätze des Kronprinzen144 in sein Standardwerk über Tiere und widmete ihm 1877 nicht wie stets kolportiert nur
zwei Vogelbände, sondern die gesamte zweite Werkauflage: „Seiner Kaiserlich Königlichen Hoheit dem Kronprinzen
Erzherzog Rudolf, ehrfurchtsvoll gewidmet vom Verfasser145“. Darüber hinaus erwähnt Brehm den Kronprinzen
140
Schlandt, Anna, Kammerweib
Böck, Fritz: „Kronprinz Rudolf als Ornithologe“, in „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Katalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989
142
Bereits als 12-jähriger verfasste der Kronprinz den über 100 Seiten langen Aufsatz „Adlerjagden“
143
Brehm, Dr. Alfred Edmund Brehm, geb. 02.02.1829 in Unter-Renthendorf bei Neustadt/Thüringen, gest. am 11.11.1884 in Unter-Renthendorf bei Neustadt/Thüringen, verheiratet seit 14.05.1861 mit seiner Cousine Mathilde Reiz, Vater von fünf Kindern;
Schriftsteller, Ornithologe, Direktor des Zoos in Hamburg (1862 bis 1867), Leiter des Aquariums Berlin (1869-1874)
144
Es handelt sich um die Texte über den Schwarzmilan, den Uhu und den Schwarzmilan, die Wiesenweihe und die Rohrweihe (
Band 4/Vögel 1 von 1878), die Waldohreule (Band 5/Vögel 2 von 1879) und das Rackelhuhn (Band 6/Vögel 3 von 1879)
145
1. Säugetierband von 1876, zitiert nach Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu
Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“, Renthendorf 1989
141
33
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
mehrfach und übernimmt in den Bänden vier bis sechs auch Beobachtungen des Erzherzogs, wie jene über das Biotop
der Wasseramsel oder die Mauerläufer in Budapest146. Rudolf indes danke die Widmung dem Deutschen mit Einladungen zu mehreren Reisen: mit dem damals bereits siebzigjährigen deutschen Ornithologen Eugen von Homeyer,
dem Präparatoren Eduard Hodek und seinem Schwager, Prinz Leopold von Bayern, im Jahre 1878 an die Donau nach
Ungarn und Slawonien sowie im April und Mai 1879 auf dem Dampfschiff „Miramar“ gemeinsam mit Leopold und
dem Grafen Hans Wilczek von Venedig aus nach Barcelona147. In Folge versorgte Rudolf Brehm mit präparierten Stücken aus seiner Sammlung – meist als Geschenk, oft aber auch nur als Leihgabe.
Die Freundschaft zwischen Rudolf und Brehm, der sich teilweise mehrere Wochen auf der Prager Burg in der
Nähe des Thronfolgers aufhielt, war nicht unumstritten. Die Gegner des Kronprinzen – wie z.B. Erzherzog Albrecht –
warfen diesem vor, sich mit einem Protestanten, Darwinisten, Bürgerlichen und bekennendem Freimaurer abzugeben.
Zudem soll der Prager Kardinal und Erzbischof Schwarzenberg beim Kaiser interveniert haben, den Kontakt zwischen
seinem Sohn und Brehm zu verbieten, da sich in dessen „Thierleben“ wohl „sittlich anstößige Stellen“ fänden. Brigitte
Hamann schreibt in Folge dessen gar von einer „Brehm-Krise“, auf deren Höhepunkt Rudolf gar zur Auslandsreise
nach Ägypten aufgefordert wurde, um den Kontakt zu Brehm – der in Folge tatsächlich nachließ – zu unterbinden.
Über Jahre verband Brehm und Rudolf ein intensiver Briefwechsel. Theodor Billroth hatte hierzu in seiner
Denkschrift vom 30. Jänner 1889 festgehalten: „Hoffentlich kommet auch einmal aus dieser schönen Zeit des hochbegabten Jünglings der Briefwechsel mit Brehm ans Tageslicht148“. Schon Freiherr von Mitis hatte nach den Briefen aus
den Jahren 1877 bis 1884 gesucht und musste davon ausgehen, dass diese in den Autografenhandel gekommen und
somit für die Forschung verloren waren, was noch in der Neuauflage seiner Kronprinzen-Biographie 1971 zu lesen
war. Erst 1976 wurde ein Mikrofilm mit 53 von bisher 74 bekannten Briefen und drei Telegrammen Rudolfs an Brehm
aufgefunden149. Sie behandeln vorwiegend ornithologische und zoologische Fragen, Reisen, das Verhältnis des Kronprinzen zur Natur und zu Brehm, seinen Militärdienst, Weltanschauliches, die Freimaurerei und die Politik und in einigen Fällen auch Familiäres. Die Antworten Brehm dürften bereits kurz nach Rudolfs Tod vernichtet worden sein,
worüber es jedoch keine Aufzeichnungen gibt.
Heute kann zusammengefasst werden, dass der Werkanteil des Kronprinzen an „Brehms Thierleben“ in zehn
Bänden aus den Jahren 1876/79 umfangreicher als in bisherigen Würdigungen beschrieben ist. Über Rudolfs Spezial-
146
Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“,
Renthendorf 1989
147
Vor Antritt dieser Reise verfasste Rudolf am 15.04.1879 als 20-jähriger sein erstes Testament
148
Zitiert nach Oskar Freiherr von Mitis: Das Leben des Kronprinzen Rudolf. Neu herausgegeben und eingeleitet von Adam
Wandruszka, Herold Verlag, Wien 1971
149
Brehms Enkel, Hans-Renatus Brehm, hatte zwischen 1920 und 1922 aus finanziellen Gründen die Briefe des Kronprinzen an
die Berliner Autographenhandlung Lippmanssohn verkauft. Freiherr von Mitis hatte diese Spur bereits recherchiert, doch scheiterte eine Einsichtnahme in die Papiere. 1938 wurden die 53 Briefe von der Preußischen Staatsbibliothek Berlin angekauft – sie befinden sich heute in der Staatsbibliothek Berlin/Preußischer Kulturbesitz, Sammlung Darmstaedter Lc 1880 (dort: 50 Briefe, 3
Zettel, 49 Umschläge); das Schicksal der in Verlust geratenen 25 Briefe ist unbekannt. Die Brehm-Gedenkschütte in Renthendorf/Deutschland besitzt die 1914/1915 gefertigten Abschriften der Briefe und stelle diese freundlichst dem Autoren zur Verfügung. Es kann als sicher angesehen werden, dass es sich bei den ursprünglich 77 Briefen auch nicht um den gesamten Briefwechsel zwischen Rudolf und Brehm gehandelt hat. Literatur: Buchda, Gerhard: „Im Jahre 1877 begann der Briefwechsel zwischen
Kronprinz Rudolf von Österreich und Alfred Brehm“ in: Beiträge zur Vogelkunde, 24. Jahrgang, 3. Heft Leipzig 1978 und Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“, Renthendorf 1989
34
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gebiet – die Taxonomie und Biologie von Taggreifvögeln – hinaus forschte der Erzherzog vielseitig ornithologisch
und zunehmend auch säugetierkundlich150.
Einen zweiten, bedeutenden Briefwechsel ornithologischen Inhalts findet sich heute im Naturmuseum St. Gallen/Schweiz. Dort wurden 1991 insgesamt 45 handschriftliche Briefe und vier Telegramme des Kronprinzen an den
Arzt und Naturforscher Dr. med. Georg Albert Girtanner151 wiederentdeckt. Die Fachkorrespondenz zwischen den
zwei Briefpartnern dokumentiert heute in exemplarischer Weise Kontinuität und Wandel im wissenschaftlichen Geist
Europas152. Jedoch auch hier sind die Gegenbriefe des Schweitzers bis auf eine Handschrift, die heute in Wien verwahrt wird153, unbekannt. Der Briefwechsel deckt die Jahre 1878 bis Januar 1889 ab, die Telegramme stammen aus
der Zeit von 1879 bis 1883 bzw. 1889154. Ebenso wie bei Brehm scheinen die beiden Ornithologe im vertrauten,
freundschaftlichen Umgang Präparate getauscht zu haben und Rudolf übersandte lebende Objekte in die Schweiz155.
Während des 1. Ornithologischen Kongresses in Wien hatte Girtanner Rudolf im April 1884 persönlich getroffen,
denn der Kronprinz dankte ihm Schriftlich für das persönliche Kennen lernen. Danach jedoch werden die Briefe an
den Mediziner seltener und kürzer – Gesundheits- und Eheprobleme, gesellschaftliche Verpflichtungen und die Herausgabe des Kronprinzenwerkes werden Rudolf abgelenkt haben.
1876 übernahm Rudolf in Wien den Ehrenvorsitz des neu gegründeten Ornithologischen Vereins und veröffentlichte in den Mitteilungen des Vereins zwischen 1978 und 1886 19 Aufsätze aus seiner Feder und auch für die
Jagdzeitschrift „Cabanis“ griff der Thronfolger zur Feder. Von nun an setzten vogelkundliche Institutionen im In- und
Ausland ihren Stolz daran, den Erzherzog als Ehrenmitglied zu gewinnen156.
1884 übernahm der Kronprinz das Protektorat über den „1. Internationalen Ornithologen-Kongress“ in Wien,
bei dessen Eröffnung er eine vielbeachtete, politische Rede hielt157. Zudem regte er mit den befreundeten Ornithologen Homeyer158, Finsch und Mayer die Gründung eines Komitees an, dass sich die Errichtung von VogelzugForschungsstationen auf dem ganzen Globus zur Aufgabe gemacht hatte. Auch für den zweiten Kongress wollte der
Kronprinz das Protektorat übernehmen, doch als er nach vielen Verschiebungen 1891 in Budapest stattfand, war er
nicht mehr am Leben. Der Kongress dürfte für den Erzherzog der Höhepunkt seiner ornithologischen Tätigkeit gewesen sein, wenn in Folge widmete er sich fast nur noch seinen politischen Schriften bzw. der Herausgabe des vielbändigen Werkes „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“.
Rudolf erste ornithologische Veröffentlichung erschien 1878 und die folgenden bescherten Rudolf eine Fülle
von Ehrungen159. „Diese Würdigungen der von ihm hoch geschätzten Gelehrtenwelt schmeichelte Rudolf sehr.
Gleichzeitig war er sich aber bewusst, solche außergewöhnlichen Ehrungen in erster Linie seiner gesellschaftlichen
150
Haemmerlein, Hans-Dietrich: „Beiträge des Kronprinzen Rudolf von Österreich zu Brehms Tierleben“, in „Brehm-Blätter 3“,
Renthendorf 1989
151
Girtanner, Dr. med. Georg Albert, geb. 25.09.1939 in St. Gallen/Schweiz, gest. 04.06.1907 in St. Gallen; Ornithologe, Mediziner am Bürgerspital St. Gallen, seit 12.11.1872 verheiratet mit Susanna Reisner, Vater von sechs Kindern
152
Bauernfeind, Ernst und Schneider, Bernhard: „Kronprinz Rudolf von Österreich – Sein Briefwechsel mit Dr. G. A. Girtanner“,
Verlag Naturhistorisches Museum Wien, Wien, 1999
153
HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton X/19
154
Telegramm 4, Wien, 31.01.1889, Dank Bombelles an Girtanner für dessen Beileidstelegramm an Stephanie
155
Bauernfeind, Ernst und Schneider, Bernhard: „Kronprinz Rudolf von Österreich – Sein Briefwechsel mit Dr. G. A. Girtanner“,
Verlag Naturhistorisches Museum Wien, Wien, 1999
156
z.B. Ehrendiplom des Deutschen Vereins zum Schutz der Vogelwelt vom 06.12.1882
157
Der Kongress fand vom 7. bis 11. April 1884 in Wien statt
158
Eugen von Homeyer widmete dem Kronprinzen auch sein 1881 in Leipzig erschienenes Buch „Die Wanderungen der Vögel“
159
Ehrenmitgliedschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vom 13.07.1878; Ehrenmitgliedschaft der Kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften vom 16.07.1878; Ehrendoktorat „Dr. h.c. phil.“ der Universität Budapest vom 13.05.1880; Ehrendoktorat der Alma Mater Rudolphina Wien vom 12.06.1884
35
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Stellung zu verdanken.160“ Als Fazit daraus publizierte Rudolf eine Vielzahl seiner vogelkundlichen Artikel meist ohne Namen, um die Anerkennung noch von Rang und Namen abhängig zu machen. Nach der ersten Reise mit Brehm
veröffentlichte Rudolf 1878 anonym seine Reise- und Jagdgeschichte „Fünfzehn Tage auf der Donau“. Ob seiner
Widmung „Meinem Schwager Leopold...“ war das Buch jedoch unschwer als ein Werk des Erzherzogs zu erkennen.
Letztlich gab der deutsche Vogelforscher Otto Finsch dem prachtvollen, von ihm 1884/1885 im Südosten von
Neu-Guinea entdeckten und beschriebenen Blauen Paradiesvogel zu Ehren des ornithologisch interessierten Kronprinzen den wissenschaftlichen Namen „Paradisatrnis Rudolphi“ (heute: „Paradisaea rudolphi“)161. Nur wenige Tage vor
seinem Tod, am 22. Jänner 1889, besuchte Rudolf den Präparator Eduard Hodek162, den Mitbegründer des Ornithologischen Vereins Wien, in dessen Atelier auf der Marianhilferstraße, um sich dort seine zuletzt erlegten Adler anzusehen.
Nach Rudolfs Tod wurde sein wissenschaftlicher Nachlass, der fast 7.000 Objekte – und darunter 1.948 Vögel
– umfasste geteilt: die selbst angelegten Stücke der „Trophäensammlung“ kam an das Hofmuseum (heute: Naturhistorisches Museum Wien), die nahezu 1.000 Präparate der „Studiensammlung“ wurden an Schulen und Lehranstalten
aufgeteilt. Allerdings wurde die wissenschaftliche und wissenschaftshistorische Bedeutung der Vogelsammlung seinerzeit von den Verantwortlichen nicht klar erkannt, so dass es in Folge zu unwiederbringlichen Verlusten kam163.
160
„Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Katalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt
Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989
161
Bauernfeind, Ernst in „Jagdzeit – Österreichs Jagdgeschichte – eine Pirsch“, Katalog zur 209. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 1996/1997
162
Hodek, Eduard, geb. 1827, gest. 1911
163
Von 600 Stopfpräparaten und 308 Bälgen sind im Naturhistorischen Museum heute noch 180 Stopfpräparate vorhanden, von
denen 47 in der Schausammlung zu sehen sind.
36
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
8.
Der Kronprinz als Textdichter
„Die Texte sind doch schon
seit langem bekannt.“
Dr. Elisabeth Springer
18. Oktober 1995
Im März 1994 produzierte der Österreichische Rundfunk ORF im Casino Baumgarten gemeinsam mit Kammersänger Heinz Holecek und dem Wiener Schrammel-Ensemble die CD „Kronprinz Rudolfs letzte Lieder“164. Zwei
dieser Lieder wurden bereits bei der Präsentation des Buches „Kriminalfall Mayerling“ am 29. März 1993 in den einstigen Privaträumen des Kronprinzen in der Wiener Hofburg uraufgeführt165. Sie stießen derzeit auf derart großes Interesse, dass der Hörfunk und die Firma Preiser-Records sich entschlossen, weitere Liedtexte des Kronprinzen zu vertonen.
Insgesamt wurden fünf Lieder, die aus der Feder des Erzherzog Thronfolgers stammten, auf CD gepresst166.
Zwei weitere Lieder hatte Brigitte Hamann bereits 1977 im Rahmen ihrer Doktorarbeit veröffentlicht167. Sie ordnete
die Texte – Zusatzstrophen zu bekannten Wiener Couplets – jedoch einer falschen Provenienz zu. Zwar befanden sich
die handschriftlich auf gedruckten Notenblättern verzeichneten Strophen im Selekt Kronprinz Rudolf, doch stammen
sie ursprünglich aus dem Nachlass von Dr. Albin Schager-Eckartsau168.
Schager-Eckartsau, Sektionschef in der General-Direktion der Privat- und Familienfonde, wurde nach Ende
des I. Weltkrieges 1919 von Kaiser Karl zum stellvertretenden Interessenvertreter des allerhöchsten Hauses in hofärarischen Eigentumsfragen ernannt169. Der Autor Georg Markus irrt wenn er davon ausgeht, Schager-Eckartsau habe
1918 die von Karl erhaltenen Familienpapiere der Habsburger mit ins Exil nach Madeira genommen170. Denn während
die Familie des Regenten Österreich verlassen musste, verblieb Schager-Eckartsau als Verwalter des habsburgischen
Vermögens in Wien und siedelte erst 1919 in seine frühere Sommerwohnung in Wartholz/Reichenau über.
164
„Kronprinz Rudolfs letzte Lieder“, Preiser-Records und Radio Niederösterreich, Wien 1994
Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling - Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea-Verlag, Wien 1993
166
„Na, versteht sich“; „Verschiedene Begriffe“; „Gfrett-Gsangl“; „Ein eigener Zauber“; „Einst und jetzt“: Text: Kronprinz Rudolf; Musik: Herbert Prikopa
167
„Das hat kein Goethe g´schriebn“, Text und Musik: Johann Sioly, Zusatzstrophe von Kronprinz Rudolf; „Das waß nur a Weaner“, Text und Musik: Johann Sioly, Zusatzstrophe von Kronprinz Rudolf
168
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlaß Dozent Dr. Albin Schager-Eckartsau, 1 Karton
169
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Dozent Dr. Albin Schager-Eckartsau, 1 Karton
170
Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling - Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea-Verlag, Wien 1993
165
37
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1925 trat der damalige Dozent mit Bekenntnissen zum Rassenantisemitismus und zum Anschluss Österreichs
an Deutschland an die Öffentlichkeit. Bereits ein Jahr später stellt er als Präsident der „Konservativen Volkspartei Österreichs“ der Ex-Kaiserin Zita als Chefin des Hauses Habsburg ein Ultimatum: Sie solle in Namen des Kronprinzen,
Erzherzog Ottos, die übernationale altösterreichische Idee des Kaisertums aufgeben und sich zum Prinzip des nationalen Königtums bekennen171. Hierauf hin musste Schager-Eckartsau die Villa Wartholz auf Drängen der verärgerten
Exil-Monarchin räumen.
Zwischenzeitlich wurde bekannt, dass Dr. Albin Schager-Eckartsau – im 1. Weltkrieg Militärauditor im Heeresgruppenkommando Tirol und von dort der Kabinettskanzlei des Kaisers überstellt – im Oktober des Jahres 1921
den zweiten Reparationsversuch Karls verriet. Seine Agententätigkeit für die nationalistischen Kreise zahlte sich jedoch nicht aus: Als „Leiter der Verwaltung des Habsburg-Lothringischen Privatvermögens“ nutzte er zwar die Chance, sich persönlich daran zu bereichern. Doch dies führte zu stetiger Erpressbarkeit und Schager-Eckartsau landete
schließlich wegen Betruges, Urkundenfälschung und falscher Zeugenaussage vor dem Landgericht172.
Nach seinem Tode ging der Nachlass Schager-Eckartsau 1941 in die Verwaltung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs über173. Erst Anfang der 70-er Jahre wurde er dort von Hofrat Dr. Peter Broucek wieder entdeckt, der Material
über den Bruder des Operettenkomponisten Franz Lehár, Generalmajor Anton von Lehár, recherchierte. Er war es
auch, der Georg Markus bei der Arbeit zu seinem Mayerling-Buch auf die Existenz der Texte hinwies.
Neben den Liedtexten des Kronprinzen finden sich im Nachlass Schager-Eckartsau Briefe von Frischauer,
Szeps und Kalnoky an den Thronfolger sowie weitere Texte von Kaiser Franz Joseph, Kaiser Karl und dem jungen
Kronprinzen Otto. Sechs der Kronprinzenlieder wurden von Herbert Prikopa174 neu vertont und arrangiert. Zwei weitere – nicht vertonte - Texte fanden sich im Entwurf im Nachlass des Kronprinzen175. Rudolf hatte die Texte wohl allesamt in den letzten beiden Jahren seines Lebens verfasst. Kunstpfeifer Joseph Bratfisch könnte sie interpretiert haben. Hauptadressat dieser Zeilen dürfte Rudolfs langjährige Geliebte, Maria Caspar, gewesen sein, die er zur idealen
Freundin stilisierte.
Vor diesem Hintergrund kann Georg Markus Behauptung, der habe die Lieder Rudolfs aufgefunden, nicht
weiter gelten. Auf der CD von 1994 sind neben den Texten des Kronprinzen auch der „Kronprinz Rudolph Marsch“176
und der Walzer „Rudolfs Klänge“177 veröffentlicht. Nicht veröffentlicht sind die „Kronprinz Rudolf-Lieder“178.
171
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Dozent Dr. Albin Schager-Eckartsau, 1 Karton
Feigl, Erich: „Kaiserin Zita – Von Österreich nach Österreich“, Amalthea, Wien 4. Auflage 1986
173
Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling - Leben und Sterben der Mary Vetsera“, Amalthea-Verlag, Wien 1993
174
Prikopa, Herbert war mit 19 Jahren jüngster Korrepetitor an der Wiener Volksoper, Sänger an der Wiener Kammeroper, Solist
und Dirigent an der Wiener Volksoper, Gründer der Konzertreihe „Für Kinder und Kenner“, Dirigent vieler Wiener Neujahrskonzerte und der Faschingskonzerte der Wiener Symphoniker
175
„Schwarzaugertes Dearndl“; „Feuerwehr-Polka“ von 1888 (siehe auch „Katalog „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“, 119. Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla 1989/90
176
Instrumental, Musik: Johann Schrammel
177
Instrumental, Musik: Josef Strauß, Op. 283
178
Anonymus: „Kronprinz Rudolf Lieder“, Verlag von Georg Szelinski, Wien 1889
172
38
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
9.
Die Familie Vetsera
večer =
Abend =
Abendland =
der aus dem Westen stammende
Dem Ursprung her dürfte der Namen Vetsera aus dem slawischen Sprachschatz stammen – „Večera“, gesprochen wie „Wetschera“. Der Herkunft nach mag der Familienname jedoch keine Ableitung des slawischen Wortes
„včera“, d.h. „gestern“ sein, sondern eher im Zusammenhang mit „večer“, d.h. „der Abend“ stehen. Wie es zur Namenswerdung kam, ist nicht belegt – vielleicht mag Vetsera von „večer = Abend = Abendland = der aus dem Westen
stammende“ herkommen. In Pressburg179, wo die Familie rund 80 Jahre lang ansässig war, erscheint vor 1790 der
Namen nirgends auf. Interessant ist jedoch die Art und Weise der Namensschreibung seither: in ungarischer Form als
„Vecsera“, in slawischer Form als „Veczera“ oder „Wečzera“, in deutscher Form als „Wetschera“ und erstmals 1795
in der V-Form „Vetsera“180.
In Pressburg scheint als Ahnherr ein um 1750/60 geborener und zwischen 1813 und 1828 gestorbene bürgerliche Schustermeister und Hausbesitzer auf. Dieser Josef Vetsera181 [wir werden wegen der besseren Lesbarkeit den
Nachnamen durchgehend mit V schreiben] ist um 1791 nach Pressburg gezogen – vielleicht aus dem Dorf Uszor
(deutsch: „Austern“, ungarisch: „Uszor“) auf der Großen Schüttinsel, 24 Kilometer südöstlich von Pressburg182. Er
wird 1813 als Besitzer des Mietshauses Hummelgasse 6 in der inneren Stadt genannt. Nach seinem Tode verkauft die
Witwe Elisabeth183 zwischen 1842 und 1850 das Haus.
Josef und Elisabeth Vetsera hatte fünf Kinder184. Der jüngste Sohn, Bernhard, wird der Großvater der Baroness Mary Vetsera. Es selbst wird sein Leben in Pressburg verbringen und seinem Sohn Albin, Marys Vater, die Beamtenlaufbahn ebnen. So erhält Albin die Möglichkeit, Pressburg zu verlassen.
Wir berichten an anderer Stelle, wie sich Albin Vetsera und Helene Baltazzi kennen gelernt haben. Nach der
Hochzeit 1864 lebten sie zunächst in Konstantinopel-Pera, ab 1868 in St. Petersburg und seit 1869 in Lissabon. Ende
179
heute: Bratislava
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
181
Vetsera, Josef; geb. 1750/60, gest. zwischen 1813 und 1828
182
Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937, der sich auf
den am 17.02.1925 im „Neuen Wiener Journal“ von Eugen Holly verfassten Aufsatz „Spuren der Familie Vetsera“ bezieht.
183
Vetsera, Elisabeth geb. Killer (oder Giller), geb. um 1754, gest. 18.02.1844 in Pressburg
184
Aus der Ehe von Tochter Anna mit dem Schustermeister Franz Rommer ging der nachmalige ungarische Benediktinermönch
und bekannte Archäologe Franz Rommer (Ferenc Rómer) hervor, geb. 12.04.1815 in Pressburg, gest. 08.03.1889 in Großwardein
180
39
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1870 mietete Helene Vetsera in der Wiener Leopoldstadt185 ein Haus „Am Schüttel“ 11186 gegenüber der Weißgerberlände187. Dort zog sie zunächst nur mit den Kindern Hanna und Ladislaus ein. Ihr Bruder, Alexander, hatte das Haus
mit Teppichen und orientalischer Kunstgegenständen aus der einstigen elterlichen Wohnung in Konstantinopel möbliert. Albin Vetsera lebt aus beruflichen Gründen zwischen 1870 und 1872 in Darmstadt. Im ersten Wiener Familiendomizil188 am Schüttel kamen in den folgenden Jahren die beiden Kinder Marie und Franz zur Welt.
Helene Vetsera hielt sich während Albin Auslandsaufenthalt oft bei ihrem Bruder Heinrich Baltazzi auf, der
zu Beginn der 80-er Jahre in Pardubitz in Garnison lag189. Im Frühjahr des Jahres 1880 mietet die Familie Vetsera im
dritten Wiener Gemeindebezirk „Landstraße“ gegenüber der Zaunergasse ein Palais190 gegenüber mit der Anschrift
Salesianergasse 11.
Um 1882 pachtete die Familie Schloss Schwarzau191 am Steinfeld, wo sie bis 1891 viele Jahre die Sommermonate verbrachte. In der Salesianergasse 11 bleibt Helene Vetsera bis zum Beginn der Offizierslaufbahn ihres Soh185
1850 wurde die Wiener Vorstand Jägerzeile mit weiteren Vorstädten zum 2. Wiener Gemeindebezirk „Leopoldstadt“ zusammengefasst. Der Bezirk trägt seinen Namen nach Kaiser Leopold I. und entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum Wiener Vergnügungsviertel. Ein Teil des damals zur öffentlichen Nutzung freigegebenen kaiserlichen Jagdreviers in den Donauauen besteht heute noch unter dem Namen „Prater“.
186
Das zweistöckige, unterkellerte Haupthaus mit einem großen (heute noch teilweise erhaltenen) Garten am Donaukanalufer
wurde 1816 als Landhaus im Stil des Klassizismus errichtet und lang nordwestlich der Wiener Zuckerraffinerie. An der Straßenfront befand sich das Einfahrtstor für Kutschen. Von dort führte eine geschwungene Steintreppe direkt in den ersten Stock, in dem
sich ein Saal befand. Aus dem Saal trat man auf einen kleinen Balkon hinaus, der sich direkt über dem Eingangstor befand. In der
zweiten Etage wiederholte sich die Zimmeraufteilung – jedoch ohne Balkon. In dem links zum Garten hin angebaute Seitenflügel
befanden sich die Wirtschaftsräume, eine Wagenremise und Stallungen. Durch in Tor in der Mauer des rückseitigen Gartens war
direkt das Pratergelände zu erreichen. Das Haus mit der Inschrift „Agrestia miscet gaudia urbanis“ wurde 1916 von Dr. Hugo
Hassinger im, „Kunsthistorischen Atlas der K. K. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“ (Band 15 der Österreichischen Kunsttopographie) als „eines der hervorragendsten klassizistischen Bauten, ebenso erhaltenswert wie der zugehörige große Garten“ eingestuft.
187
Die heutige Schüttelstraße existiert seit 1876 als Teil der Kronprinzenstraße und „Am Schüttel“; vor der Donauregulierung war
der angrenzende Prater eine sehr wasserreiche Gegend – so wurde eine Straße „angeschüttet“, die höher als die Umgebung lag.
Das demolierte Geburtshaus von Mary Vetsera befand sich östlich der Franzensbrücke im Bereich der heutigen Schüttelstraße 7,
einem 1937/38 errichteten Anbau an die seit 2001 unter Denkmalschutz stehenden Wohnhausanlage der Stadt Wien, den „FranzMair-Hof“ von 1931/1932 (Schüttelstraße 5-7). Der offene Durchgang zwischen den Häusern 7 und 9 gehörte zum Garten des
Geburtshauses.
188
1908 ließ der damalige Hauseigentümer, Heinrich Fürst von Liechtenstein (…) das Fundament des Hauses aus Beton ersetzen
– der zu nahe am Ufer des Donaukanals gelegene Baugrund der Au hatte die hölzernen Fundamente des Hauses faulen lassen.
Dennoch war eine linksseitige Senkung des Gebäudes nicht aufzuhalten. 1928 wurde unter Therese Prinzessin von Liechtenstein
die Fassade erneuert. Ein Jahr später verkaufte sie das Haus mit den sieben Wohnungen an die Gemeinde Wien. Auf Grund der
starken Baumängel (Risse in den Gewölbegurten durch ungleichmäßige Fundamentsetzung, so dass Stiegenhaus und Gartenfront
mit Holzstempeln abgestützt werden mussten) und der damit verbundenen Sanierungskosten von rund 7.500 Euro ließ die Gemeinde Wien das Haus 1936/1937 abreißen (Demolierungsauftrag vom 26.10.1936 mit der Frist, binnen drei Wochen fertig zu
sein; Neubaubewilligung vom 19.05.1937; Bezugsbescheid vom 24.05.1938 für den 5-stöckigen Neubau mit 20 Wohnungen).
Diese neuen Forschungen widerlegen Hermann Swistuns und Heinrich Baltazzi, die beide von einer Zerstörung durch Fliegerbomben im Zweiten Weltkrieg berichten.
189
Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 hatte auch
Albin Vetsera für kurze Zeit einen kleinen Besitz in Pardubitz.
190
Bei dem Palais handelte es sich um einen freistehenden Barockbau aus dem Jahre 1794 an der ehemaligen „Waag Gasse“
(1840 bis zum Rennweg verlängert, seit ca. 1862 „Salesianergasse“; sie wurde nach dem 1717 bis 1719 errichteten nahen Kloster
und der 1730 errichteten Kirche Mariä Heimsuchung der Salesianerinnen [Orden des hl. Franz von Sales, 1716 nach Wien berufen] benannt) im Wiener Aristokratenviertel in der Nähe des Modenapark (auch: Palais Salm); 1855 von Fürst Milos(ch) Obrenovitsch von Serbien erworben und um zwei Seitentrakte vergrößert; dreiseitig geschlossener Vorgarten; rückwärtig Garten mit
linksseitigem Seitentrakt (Gesellschaftsräume; Spiegelgalerie; Stallungen) bis zum Park des Palais Modena; Stallungen im vorderen linken Seitentrakt. Der Mietzins betrug 1885 laut Häuserkataster 3.417 Gulden jährlich. 1902 Einzug der amerikanischen Gesandtschaft; 1911 japanische Gesandtschaft; 1916 beim Durchbruch der Neulinggasse durch den östlichen Teil des Modenaparks
in Richtung Süden zur Zaunergasse demoliert. Im Haus Salesianergasse 12 wird am 01.02.1874 der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal ("Jedermann", "Rosenkavalier") geboren.
191
Das einst zum gräflich Wurmbrand´schen Fideikommiss gehörende Schloss wurde um 1867 an den ungarischen Grafen Koloman Nákó de Szent Miklos verkauft. Nach dem Tode seiner Frau vermietete er es an die Familie Vetsera. 1890 erwarb die Familie
Bourbon-Parma das Schloss als Wohnsitz. Dort fand am 21. Oktober 1911 die Hochzeit zwischen dem nachmaligen Kaiser Karl I.
und der Prinzessin Zita von Bourbon-Parma statt. Heute befindet sich in Schloss Schwarzau eine Justizanstalt für 160 Frauen.
40
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
nes wohnen. Gemeinsam mit Tochter Johanna siedelte sie dann in eine Mietswohnung an der Technikerstraße 10 zwischen Karlsplatz und Schwarzenbergplatz um, wo sie bis zur Hochzeit ihrer Tochter Hanna 1897 wohnen blieb. „Dann
bezog sie eine Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße 10192“, ebenfalls im vierten Wiener Gemeindebezirk193, wo auch
zeitweise ihre Schwiegertochter mit den Enkelinnen wohnte und wo sie letztlich auch verstarb.
Im Semmering-Gebiet kaufte Helene Vetsera zwei Jahre nach der Tragödie von Mayerling eine Villa – den
„Mühlhof“ in Küb, einem Ortsteil von Payerbach194. Nicht nur die Nähe zu Schloss Schwarzau, auch zurückliegende
Aufenthalte in Reichenau – wie z. B. 1883 im „Hotel Thalhof“ – erklären die Vorliege für die Semmering-Landschaft.
Der „Mühlhof“ lag rund 200 Meter nördlich der nach dem 2. Weltkrieg demolierten „Villa Warrens“, in der Kaiserin
Elisabeth 1873 dem Trubel der Wiener Weltausstellung zu entkommen hoffte. Am 21. April 1891 erwarb Helene
Vetsera das seinerzeit „Villa Cary195“ genannte Gebäude und ließ es nach Plänen der französisch-italienischen Architekten Armand Banquè und Albert Pio196 durch die Firma der Wiener Stadtbaumeisters Heinrich und Franz Glaser197
umbauen und vergrößern198.
Der Besucher betrat im „Mühlhof“ zunächst eine holzgetäfelte Halle, aus der nach britischem Vorbild eine
Holztreppe hinauf in die Wohnräume und die gut bestückte Bibliothek führte. Ein kleiner, vorgelagerter Garten
schmiegte sich an die Terrasse an. Hier stehen noch heute die von Helene Vetsera gepflanzten Mammutbäume, eine
Winterlinde und eine Douglastanne.
Helene Vetsera schien sich im „Mühlhof“ wohl zu fühlen, errichtete 1894 im Stil der Bahnwärterhäuser der
Semmeringbahn ein Pförtnerhaus (Mühlhof 6) und ließ schon bald an der Villa einen nach Osten sich erstreckenden
Zubau errichten. So entstand ein stattlicher Adelssitz, der jedoch im Aussehen kaum etwas mit den im Semmering üblichen Sommervillen gemein hatte.
Am 7. September 1921 verkaufte Helene Vetsera – wohl aus finanziellen Gründen – den Mühlhof wieder199
und legte den Erlös in Wertpapieren an. Sie fühlte sich jedoch auch weiterhin dem Semmering-Ort verbunden und
wurde nach ihrem Tode 1925 dort beigesetzt. Der „Mühlhof“ indes verfiel nach einer wechselvollen Geschichte200 und
ist als Ruine heute nicht zugänglich. Das Areal steht unter Natur- und Denkmalschutz.
Schwarzau deckt das gesamte Spektrum des österreichischen Strafvollzugsrechtes ab wie Normal-, Ernst- und Entlassungsvollzug,
Freigängerabteilung, Vollzug an Strafgefangenen mit psychischen Besonderheiten, Maßnahmevollzug, Jugendvollzug und Mutter-Kind-Abteilung mit Kindergarten. Die weiblichen Insassen haben Arbeitsmöglichkeiten in der Wäscherei, Gärtnerei, Gefangenen- und Beamtenküche, Näherei, Fleischerei, Unternehmerbetrieb und Landwirtschaft. Darüber hinaus werden Ausbildungen
zum land- und frostwirtschaftlichen Facharbeiter sowie für Köchinnen und Restaurantfachfrauen angeboten.
192
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
193
Heute befindet sich im Haus Nr. 10 an der Prinz-Eugen-Straße u.a. die Konsularabteilung der Schweizerischen Botschaft.
194
Die historischen Wurzeln des Anwesens gehen auf einen Wirtschafts- und Verwaltungshof des Zisterzienserstiftes Neuberg/Steiermark aus dem 14. Jahrhundert zurück, der später in einen kleinen Adelssitz umgestaltet wurde.
195
Der genaue Zeitraum der Errichtung der „Villa Cary“ ist nicht bekannt, da die Gloggnitzer Grundbücher erst 1880 beginnen.
Bekannt ist nur, dass am 20.10.1877 Karoline von Friedel die Villa erwarb und am 16.11.1885 an Heinrich Prinz von Lichtenstein
verkaufte.
196
Armand Banquè und Albert Pio hatten bereits in Reichenau 1884 das Schloss Rothschild erbaut
197
Glaser, Franz, (geb. 1822, gest. 1885), Bürgermeister von Dornberg
198
Mit dem Neubau eines Gesindehauses und der Anlage eines Parks mit exotischen Bäumen entstand ein einfacher, nicht zu
kostspieliger Landsitz.
199
Neue Eigentümerin wurde Rosa Klinger, geb. Strache (geb. 29.06.1858 in Wien, gest. 18.07.1929 in Mühlhof 3, beigesetzt in
St. Lorenzen/Steiermark am 22.07.1929), die dort eine Fremdenpension einrichtete.
200
Als Erbsache wurde das Anwesen nach dem Tode von Frau Klinger am 07.06.1935 an die Israelitische Kulturgemeinde Wien
verkauft, die dort ein Kinderheim einrichtete und 1936 erste Umbaumaßnahmen u.a. mit einer biologischen Kläranlage durchführte. Als Träger des Heimes erwarb am 18.10.1937 die Eduard und Rosa Gottlieb ´sche Wohltätigkeitsstiftung den „Mühlhof“. 1939
wurde das Anwesen durch Spionageeinheiten der Deutschen Wehrmacht beschlagnahmt; das Stallgebäude wurde unter Baumeister Franz Darrer aus Payerbach zum neuen Kinderheim der NSDAP/Gau Niederdonau umgebaut, der Plan zur Einrichtung einer
Kranken-Isolierstation durch Ingenieur Dutka/Wien wurde verworfen. Am 04.03.1939 ging der „Mühlhof“ offiziell in das Eigen41
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
9.
Die Familie Baltazzi-Vetsera
A: Helene Vetsera
„Liebe Mutter! Verzeih mir,
was ich getan habe,
ich konnte der Liebe nicht widerstehen.“
Mary Vetsera an ihre Mutter
Jänner 1889
„Baronin Helene Vetsera stammt aus der Familie Baltazzi, die ihre Herkunft aus Venedig ableitet. Ihr Vater,
Theodor Baltazzi, war als Bankier in Konstantinopel tätig, wo er durch die Pacht der Maut auf der Brücke zwischen
Galata und Stambul ein großes Vermögen erworben hatte.201“ Sie galt seinerzeit als reichstes Mädchen von Konstantinopel – die Geschwister sollen nach dem Tode der Eltern 10 Millionen Gulden geerbt haben. Geboren wurde Helene
Vetsera am 25. Mai 1847 als Tochter des Bankiers Theodor Baltazzi und seiner Gattin, Eliza geb. Sarell202 in Marseille. Über ihre Kindheit und Jugend mit neun Geschwistern wissen wir so gut wie kaum etwas. Sicher scheint, dass
sie die größte Zeit ihres Lebens in Konstantinopel lebte, wo nach dem Tode des Vaters 1860 ihre Mutter Eliza ein
zweites Mal heiratete.
1864 hielt der österreichische Diplomat und Beamte Albin Vetsera um ihre Hand an und erhielt von Kaiser
Franz Joseph umgehend eine Heiratsbewilligung203. Helene Vetsera führte „ein großes Haus und hatte den Ehrgeiz, ihre Tochter Mary, die sie abgöttisch liebte und ihren drei anderen Kindern vorzog, durch eine Ehe in die höchsten Kreise einzuführen. Schon sprach man in den Salons der Wiener Gesellschaft davon, Mary werde den Herzog Miguel von
Braganza heiraten, aus dessen Familie einst Könige von Portugal hervorgingen.204“
Das Ehepaar – bedingt durch die diplomatische Tätigkeit von Albin Vetsera im Außenamt – lebte die meiste
Zeit getrennt und sah sich oft nur bei den kurzen Wien-Rapporten des Mannes. Mitte Oktober 1887 erhielt Helene
tum der NS-Volkswohlfahrt e.V./Berlin über. Als im April 1945 auch Payerbach Kriegsschauplatz wird, sprengen im Rahmen der
sechswöchigen Kampfhandlungen die angreifenden russischen Truppen das Hauptgebäude des „Mühlhofes“. Nachdem die Ruine
offiziell am 8. Mai 1945 in den Besitz Österreichs kam, wurde am 11.11.1952 die Israelitische Kultusgemeinde Wien Eigentümer
des 52.000 Quadratmeter großen Anwesens. 1979 verließ der letzte Bewohner das Pförtnerhaus des Mühlhofes.
201
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
202
Sarell, Eliza, geb. um 1825 in Konstantinopel, gest. im Winter 1863/64 in Konstantinopel oder Teheran; Tochter des Konstantinopler Bankiers und Schatzmeister der britischen Levante-Company, Richard Sarell und der Griechin Euphrosyne Rhazis. In
zweiter Ehe heiratete sie in Teheran den kgl. großbritannischen außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister
Charles Alison. Ihr Schwager Richard, geb. 1829 in Konstantinopel, gest. 02.09.1900 in Kandili/Bosporus zählt zu den Pionieren
der Chirurgie in der Türkei
203
In ihrem bei Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 erwähnten Trauschein wird als Konfession „evangelisch eingetragen, doch müsste es heißen „anglikanisch“. In späteren Jahren
konvertierte sie offenbar zur römisch-katholischen Konfession.
204
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
42
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Vetsera in Schwarzau über das Außenministerium in Kairo ein Telegramm des Khedive-Club205, das ihr Mann schwer
erkrankt sei. Über Brindisi reiste sie mit den Kindern sofort nach Ägypten, kam jedoch nicht mehr rechtzeitig in Kairo
an – Baron Albin Vetsera war bereits am 14. November verstorben. Die Witwe und ihre drei Kinder nahmen an der
Totenmesse und der anschließenden Beisetzung teil und reisten dann zurück nach Wien206. Dort fungierte als Testamentsexekutor der Anwalt Dr. Sterio, Salzgries 23, und der Anwalt Dr. Ferdinand Gnändinger, Spiegelgasse, als
Helenes Vertreter in Sachen Verlassenschaftsangelegenheiten, Pension und Erziehungsbeiträge für die minderjährigen
Kinder207. Aus den Schriftwechseln der beiden Anwälte geht hervor, dass Helene nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht schlecht gestellt war: neben einem höheren Betrag in Goldfrance hatte der Baron auch ein kleines Kapital in
guten Obligationen bei einer Bank anlegen lassen. Hinzu kam als Erbe ein Teil des im Herbst 1895 auslaufenden
Fruchtgenusses aus der Brückenmaut in Konstantinopel sowie die erst zwischen 1907 und 1917 veräußerten Liegenschaften der Geschwister am Bosporus.
Mary schrieb ihrer Mutter aus Mayerling einen Abschiedsbrief – der jedoch wie andere Dokumente wahrscheinlich nach Helens Tod 1925 vernichtet wurde. So ist der Wortlaut nicht gesichert (siehe Kapitel 5.4): „Liebe
Mutter! Verzeih mir, was ich getan habe, ich konnte der Liebe nicht widerstehen. In Übereinstimmung mit ihm will
ich neben ihm im Friedhof zu Alland begraben sein. Ich bin glücklicher im Tode als im Leben. Deine Mary.208“
Für die Grabtafel in Heiligenkreuz suchte Helene den Bibelspruch selbst aus und kam auf die Zusammenziehung der Verse 1 und 2 des 14. Kapitels im Buch Hiob, in dem der Prophet über die Nichtigkeit des Menschen klagt
und vergeblich Trost such: „Wie eine Blume sprosst der Mensch auf und wird gebrochen209“.
Im Juni 1889 erschien als Denkschrift im Selbstverlag ein Manuskript der Baronin, das bei Johann N. Vernay210 im neunten Wiener Gemeindebezirk gedruckt wurde. Helene hat auf „Gedenkblättern“, wie sie sie nannte, in
vielen einsamen Stunden die Berichte und Erlebnisse ihrer Brüder in Mayerling notiert und die Briefe ihrer Tochter an
Gabriele Tobis abgeschrieben. Der Journalist Philipp Michael Ritter von Newlinsky verfasste aus den Skizzen der
„Gedenkblätter“ eine Rechtfertigungsschrift, die zunächst ausschließlich im privaten Kreis verteilt werden sollte – daher wurden auch bei vielen Zeugen nur die Vornamen genannt, um sie vor der Öffentlichkeit zu schützen. Nach eigenen Worten war die Schrift „nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern geschrieben, um sie ihm zu übergeben.211“ So
war sie nicht als Angriffspamphlet gedacht, sondern sollte den Ruf ihrer Kinder Johanna und Feri sowie den ihrigen
wieder herstellen.
205
Ob es sich bei diesem Club „nur“ um einen Herren-Club, oder um den Club des ägyptischen Vizekönigs handelte, konnten wir
bislang nicht klären.
206
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
207
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
208
nach: Vetsera-Denkschrift, zitiert in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau
Nachf., Wien 1983
209
Hiob, 14: Klage über die Nichtigkeit des Menschenlebens - Vergebliches Hoffen auf Trost nach dem Tod; „1. Der Mensch,
vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
2. geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“ (Luther-Übersetzung 1984)
210
Johann N. Vernay Druckerei- und Verlags A.G, Canisiusgasse 8.10, Wien. Periodika u.a. „Der Tag“, „Die Börse“ und „ Die
Bühne“. Der Verlag und das Druckhaus mit zeitweise mehr als 400 Mitarbeitern bestanden nach wechselvoller Geschichte bis zur
Liquidation 1986. Das Haus in der Canisiusgasse 8-10 ist heute im Besitz der ÖBB Genossenschaften und wurde zum Wohnhaus
umgestaltet.
211
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
43
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Rund 200 gedruckte Exemplare und die Druckstöcke wurden sofort von der Polizei beschlagnahmt und vernichtet, 25 Stück sollen der Zensur entgangen sein212. Der Pariser „Le Temps“ druckte am 26. August 1889 Teile der
Denkschrift ab, der Pariser „L´Eclair“ brachte am 3. September 1889 den vollständigen Text. Judtmann berichtet, dass
auch die Londoner „Times“ die Rechte erwarb, den Text jedoch nicht veröffentlichte. Vor der Vernichtung der beschlagnahmten Drucke schrieb Polizeipräsident Baron Krauß mit Hilfe von drei Polizeibeamten den kompletten Text
ab und hinterlegte die Abschrift in seinem Geheimakt. Zu Beginn der 80-er Jahre des 20. Jahrhunderts waren sieben
händische Abschriften des Originaldruckes bekannt – davon befanden sich je eine im Besitz der mit Johanna befreundeten Geigerin Amalie Müller-Mollner sowie bei den Nachkommen der Firma Rodeck und Schöffels, des Retters des
Wienerwaldes. Eine ebenfalls händische Abschrift befindet sich im Besitz der Galerie St. Etienne in New York sowie
bei einem Privatsammler in Wien. Die von Johanna gefertigte „Denkschrift“ für Hermine Tobis befand sich bis zum
Tode von Hermann Swistun-Schwanzer im Archiv Vetsera-Baltazzi und ist nur in einer Fotokopie erhalten. Ferner besitzt die Österreichische Nationalbibliothek eine händische Abschrift, deren Herkunft jedoch juristisch nicht geklärt
ist213.
Das Originalmanuskript der „Denkschrift“ von Newlinsky wurde ebenso wie die „Gedenkblätter“ von der Baronin vernichtet, so dass die Abschrift durch Hanna die einzige Wiedergabe des Originaltextes darstellen dürfte.
Nachdem Planitz eine kommentierte Neuauflage der „Denkschrift“ in Erzählform auf den Markt brachte, kam 1921
der Verlag „Gebrüder Stiepel Gesellschaft m.b.H“ in Reichenberg mit einem Sonderdruck aus der „Reichenberger
Zeitung“ heraus214. Diese so genannte „Reichenberger Fassung“ enthält jedoch viele Fehler und sinnstörende Änderungen. Dennoch zählen die Drucke der Denkschrift bis heute zu einer seltenen bibliophilen Kostbarkeit.
Für Helene und ihre Tochter Hanna war das Palais an der Salesianergasse spätestens mit dem Beginn der Offizierslaufbahn von Feri Vetsera zu groß geworden, so dass sie eine geräumige Mietwohnung an der Technikerstraße 10
nahe dem Schwarzenbergplatz im vierten Wiener Gemeindebezirk Wieden bezogen. Als Kammerzofe war zu diesem
Zeitpunkt Anna Ungar für sie tätig215.
Wahrscheinlich bis zur Hochzeit Hannas 1897 blieb Helene dort wohnen, dann zog sie in eine kleinere Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße 10. „Sie hatte aber schon früher ein Haus mit einer Landwirtschaft, den Mühlhof in
Küb bei Payerbach an der Semmeringbahn, angekauft. Nach dem Krieg lebte sie in bescheidenen Verhältnissen.216“
Ihr Enkel, Heinrich Baltazzi-Scharschmid, erinnerte sich: „Tante Helene ... war stets eine agile, geistig rege und ungemein interessierte Frau (...) Sie las oft bis zu sechs, sieben Zeitungen am Tag, hielt sich aber von oberflächlichem
Tratsch fern und in Payerbach-Reichenau kannte man sie als eifrige Radfahrerin.“ Rund um die Rax kannte man sie
„als eine umsorgende, verantwortungsbewusste Großmutter, die mit ihren dunklen, tiefliegenden Augen sowohl mit
212
Das Palais Dorotheum Wien versteigerte im Juni 2009 eine gedruckte Fassung der Denkschrift.
Handschriftensammlung der ÖNB Wien, Inventar: Ser.n. 2849; das Objekt wurde 1941 einsigniert und es stammt wahrscheinlich aus einer von der GESTAPO beschlagnahmten Bibliothek eines jüdischen Wohnhauses. Aus diesem Grund hat die ÖNB das
Objekt als „bedenkliche Erwerbung“ qualifiziert, für die das Österreichische Kunstrückgabegesetz (BGBL. 181/1998) die Übereignung an den Nationalfonds der Rep. Österreich für Opfer des Nationalsozialismus vorsieht. Zurzeit (06.2007) wird über die
Kunstdatenbank ein ev. Vorbesitzer oder Erben gesucht; freundliche Mitteilung von Frau Mag. Margot Werner, Archiv/Provenienzforschung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Wien 11.06.2007
214
„Das Drama von Mayerling – Der Tod des Kronprinzen Rudolf u. der Baronesse Mary Vetsera. Gemeinsam verabredeter Tod.
Die Denkschrift der Baronin-Mutter Helene Vetsera.“, Reichenberg 1921
215
Swistun, Hermann: „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus der Sich der Chronik Die Familien
Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Theiss-Druck/Wolfsberg, Selbstverlag des Autoren, Wien 1980
216
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
213
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Lorgnon als auch im Hause mit Brille sehr wachsam blickte.217“ Sie war als Wohltäterin der örtlichen Schule bekannt
und in der so genannten „Barbarakapelle“ in Küb befindet sich ein läuferartiger Teppich, den die Vetsera der kleinen
Kirche stiftete.
Am 25. Dezember 1921 formulierte Sie in Wien ihr erstes Testament, in dem sie als Universalerben die Kinder von Franz Vetsera einsetzte und den Kindern von Johanna nur den Pflichtteil zuwies. Darüber hinaus legte sie fest:
„Ich vermache der Kammerjungfrau Frl. Anna Leschanz eine lebenslängliche Rente von 120.000 Kronen, zahlbar
halbjährlich im Vorhinein. Der Kinderfrau Frl. Minna Mayer eine lebenslängliche Jahresrente von 1.000 Kronen. Ich
ernenne und bitte Herrn Richard von Schoeller es anzunehmen als Testaments Executor und Mit-Vormund mit meiner
Schwiegertochter Margit Baronin Vetsera geb. Gräfin Bissingen.“ In einem „Kodizill“ vom 7. März 1922 fügte Helene ihrem letzten Willen hinzu: „Ich vermache der Alitschi meine Ringe, der Nora meine Rothe Uhr und der Nancy
meine Toilette (silberne) und ein Armband. Anna Leschanz die vollkommene Einrichtung für ein Zimmer mit einem
guten Kanapee und Lehnstuhl, meine zwei Pelzkrägen, meine alte Sealskinjacke und alle meine alten Kleider.“ Drei
weitere Ergänzungen folgten in den kommenden Jahren: „Meine liebe Anna Leschanz muss auf jeden Fall genug zum
Leben bekommen sobald sie nicht mehr im Hause ist. Wenigstens 80.000 (sage achtzig Tausend) monatlich außer das
es nicht genügt“ (17.01.1923), „Anna Leschanz muss unbedingt genug bekommen, dass Sie leben kann wenn Sie nicht
mehr im Dienst bleibt“ (30.04.1923) und „Anna Leschanz muss die eintausend Kronen die ich ihr vermacht habe valorisiert bekommen.“ (16.01.1924).
Helene Vetsera starb 77-jährig am Donnerstag, 1. Februar 1925 – dem Jahrestag der Beisetzung ihrer Tochter
Mary in Heiligenkreuz –, „an Gefäßverkalkung218“ in ihrer Wiener Wohnung in der Prinz-Eugen-Straße219. Ihr Leichnam wurde mit Magistratsdekret 12/2363 am 3. Februar nach Payerbach überführt und auf dem dortigen Friedhof220
am 4. Februar in der Gruft ihres Sohnes221 beigesetzt222.
Die Exekution des durch den Gerichtskommissar und Notar Dr. Richard Wagner „kundgemachte“ und durch
die beiden Wiener Notare Dr. Richard Wagner und Emanuel Tannenberger eröffnete Testaments ergab indes, dass
„mangels eines Nachlassvermögens“ eine „Verlassenschaftsabhandlung nicht stattfindet“. Die Finanzverhältnisse
wurden wie folgt dargelegt: „Bis 1919 hatte [die] Verstorbene eine Pension von 2.400 Kronen. [Der Nachlass besteht
aus einer] Barschaft ca. 15.000 Kronen, Pretiosen, Kleidung, Wäsche, Wohnungseinrichtung sowie [einem] Wertpapierdepot bei [der] N.Ö. Eskompte Gesellschaft, I., Am Hof, bei dem Bankhaus Schoeller & Co., Wien I., Wildbretmarkt, und bei der Anglobank, I., Strauchgasse 10.“. Diesem Vermögen stand ein Passivsaldo gegenüber von „bei
[der] Anglobank per 2.000.000,00 Kronen, bei der N.Ö. Eskompte Gesellschaft per 175.000.000,00 Kronen, bei
Bankhaus Schoeller & Co. per 300.000,00 Kronen“.
217
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
218
Sterbebuch Payerbach, Totenbeschauzettel Nr. 1495
219
Totenschauzettel Nr. 1495; Sterbeeintrag Karlkirche
220
Der Friedhof in Payerbach, 1823 auf dem "pfarrlichen Leithenacker" errichtet und ursprünglich Pfründengut des Pfarrers, war
bis 1907 auch Friedhof für große Teile des Gemeindegebietes von Reichenau. 1880 entstand die Gruftkapelle des Barons Viktor
von Erlanger nach einem Entwurf des Ringstraßenarchitekten Heinrich von Ferstel im Neurenaissancestil. 1901 entstand die
Friedhofsmauer in der heutigen Gestalt. 1982 wurde gegenüber dem Pfarrfriedhof der neue Friedhofsteil, der von der Gemeinde
Payerbach verwaltet wird, angelegt. Am Pfarrfriedhof haben einige bedeutende Persönlichkeiten sowie Ehrenbürger der Gemeinden Payerbach und Reichenau ihre letzte Ruhestätte gefunden.
221
Gruppe II, Gruft 5
222
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Um Helenes Vetsera und vor allen ihren Lebenswandel gab es in der Vergangenheit immer wieder Gerüchte –
meist haltloser Art. Jedoch: Der Archivar der Familie, Hermann Swistun-Schwanzer, wiederholt gegenüber Zeugen
mehrfach, dass Helene Vetsera ein Verhältnis mit einem österreichischen Erzherzog223 unterhalten habe. Dies bestätigte uns gegenüber auch der ungarische Prof. Dr. Kalmar Zoltan – ein möglicher Cousin von Mary Vetsera.
Dass im November 1909 in Caracas/Venezuela ein Baron Luis Vetsera – angeblich ein weiteres Kind von Albin und Helene Vetsera – starb224, ist nur aus dem Briefwechsel zwischen dem Habsburg-Experten Conte Corti mit
dem halb blinden Rudolf-Forscher Wildon Lloyd in den USA bekannt und in das Reich der Fabeln zu verweisen225.
Als „Zeitungsente“ entlarvt Conte Corti den Bericht, Helene Vetsera habe eine ältere Schwester mit Namen Sophie
gehabt, die 1865 oder 1869 tot bei Kaisermühlen in der Donau gefunden wurde.
In den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts erneuerte der damals 36-jährige „österreichische Privathistoriker226“,
der nachmalige Hofrat Dr. Peter Pötschner227, die These, Helene Vetsera habe ein Verhältnis mit Kaiser Franz Joseph
unterhalten und der Kaiser sei Vater der Baroness Mary. Der spätere Landeskonservator von Wien griff damit ein Gerücht auf, über das bereits 1889 Ernst Edler von der Planitz berichtete, und erhärtete es mit einem Bildvergleich: „Die
Ähnlichkeit zwischen Rudolf und der Vetsera geht aus einigen erhaltenen Photographien geradezu schlagend hervor.“
Als Beweis, dass Albin Vetsera nicht der Vater der Baroness war, führte er die im Staatsarchiv aufliegende Personalakte des Diplomaten an228: Albin seine Frau Helene hatten sich letztmalig zehn Monate und zwölf Tage vor der Geburt
Maries gesehen. Zudem meinte Pötschner, eine Entfremdung der Eheleute daran festmachen zu können, dass der Baron seine Urlaube selten daheim in Wien verbrachte. Kern seiner These ist die Annahme, dass Helenes gesellschaftliche Karriere am Wiener Hof mit dem raschen Aufstieg ihres Mannes vom Schusterenkel zum kaiserlichen Diplomaten
zusammen fiele – und gleichzeitig endete. Pötschner: „Vom Moment der Eheschließung an macht der kleine und
scheinbar zukunftslose Gesandtschaftsbeamte die große Karriere.“ Begründung: der Aufstieg sei Lohn für delikate
Diente der Gattin. Nur Helene könne es zu verdanken sein, dass Albin Vetsera innerhalb von nur zwei Jahren zweimal
eine Standeserhöhung erfuhr. Pötschner’s Berechnung nach müsse die – schriftlich nirgends fixierte – Liaison des
Kaisers mit Helene von Vetsera „für die Zeit von 1868 bis 1872 angesetzt werden.“ Franz Joseph habe die damals allein lebende Baronin im Haus am Schüttel 11 mehrfach besucht – seit ca. 1871 lebte sie ja dort. Und warum Mayerling? Nach Pötschner habe der Kaiser seinem Sohn am Morgen des 28. Jänner eröffnet, die junge Geliebte sei die
Halbschwester des Kronprinzen. Einziger Ausweg dieser Geschwisterliebe: der Tod229!
223
Freundliche Mitteilung von Ingrid Fritz an den Verfasser, Wien 21.08.1996
Die Wiener Tageszeitung „Die Stunde“ nennt in der Artikelserie „Die Tragödie von Mayerling“ vom 23.05.1923 einen „Baron
Ludwig Vetsera, gestorben Denver/Colorado, USA, 1909, Bruder der Baroness Mary“
225
Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 nennt die
Wiener Tageszeitung „Die Stunde“ in der Artikelserie „Die Tragödie von Mayerling“ vom 23.05.1923 einen „Baron Ludwig
Vetsera, gestorben Denver/Colorado, USA, 1909, als Bruder der Baroness Mary“
226
„Bratfisch hat wunderbar gepfiffen – Eine neue Version des Dramas von Mayerling“, in : „Der Spiegel“, Ausgabe Nr. 32,
Hamburg, 03.08.1960
227
Hofrat i. R. Dr. Peter Pötschner war viele Jahre als Kunsthistoriker und Gemäldereferent im Historischen Museum der Stadt
Wien tätig, war von 1969 bis 1989 Landeskonservator von Wien, trat dann in den Ruhestand und lebt als Pensionist in Eltendorf/Österreich. Er veröffentlichte zahlreichre Bücher, u.a. „Genesis der Wiener Biedermeierlandschaft“ 1964, „Das Schwarzspanierhaus. Beethovens letzte Wohnstätte“ 1970, „Wien und die Wiener Landschaft“ 1978 und war als Landeskonservator Herausgeber der „Wiener Geschichtsbücher“
228
damalige Zahl „F6 – k.u.k. Missionen im Ausland/Personalia“, HHStaA Wien
229
Auf unsere Nachfrage teilte uns Dr. Peter Pötschner mit, er habe um 1948 mit seinen Nachforschungen begonnen und sich
nach dem „Spiegel“-Artikel nicht weiter dem Thema gewidmet. Alle Unterlagen seien zwischenzeitlich verloren gegangen.
Freundliche Mitteilung von Dr. Peter Pötschner, Eltendorf, 01.07.2003
224
46
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Helene Vetsera, geborene Baltazzi hat in 77 Lebensjahren viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen: sie erlebte 1881 den tragischen Feuertod ihres Sohnes Ladislaus beim Wiener Ringtheaterbrand, 1887 den Schlaganfalltod
ihres Mannes Albin im fernen Kairo, 1889 den gewaltsamen Tod ihrer Tochter Mary in Mayerling, 1901 den Typhustod ihrer Tochter Hanna in Rom und schließlich 1915 den Kriegstod ihres Sohnes Franz Albin in Russland – und nie
konnte sie persönlich in der Stunde des Todes von ihren Lieben Abschied nehmen. Ihr Vater Theodor starb 1860, die
Mutter Eliza 1863 oder 1864. Auch den Tod von drei ihrer vier Brüder erlebte sie mit: 1914 starben Alexander und
Aristides, 1916b Hector. Helenes Schwester starben ebenfalls früh: 1869 Julia, 1901 Elisabeth und Eveline, 1929
Charlotte. Fünf Schwägerinnen und Schwager starben ebenfalls zu Lebzeiten der Baronin.
Helene Vetsera – an ein großes gesellschaftliches Leben gewöhnt – war nach den Ereignissen von Mayerling
nicht mehr Mitglied der Wiener Gesellschaft. Die Vereinsamung muss sie stark getroffen haben. Einen Ausgleich fand
sie in der Bewirtschaftung des „Mühlhofes“, der Lektüre und in karitativem Engagement. Diese Eigenschaften eroberten schnell die Herzen des kleinen Kreises der Payerbacher Bevölkerung, die in großer Zahl an ihrer Beerdigung teilnahm230.
230
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
47
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
9.
Die Familie Baltazzi-Vetsera
B: Albin Johannes Vetsera
„Die Braut … gelte als eines
der reichsten Mädchen…“
Albin Vetsera,
Konstantinopel, 1864
„Marys Vater, Albin Freiherr von Vetsera, war im diplomatischen Dienst Österreich-Ungarns als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister tätig.231“ Geboren wurde Albin Johannes Vetsera als drittes Kindern des Georg Bernhard Vetsera232 und der Caroline geborene Ullmann233 1825 im ungarischen Poszony234, wo er am
28. Februar im Krönungsdom getauft wurde235. Albin hatte insgesamt sieben Geschwister – drei Schwestern236 und
vier Brüder237.
Nachdem sein Vater Bernhard sich vom Stadtschreiber (1820) zum Stadthauptmann (1839/49) und Hilfsamtsdirektor des k.k. Landgerichts (Ruhestand 1870) aufgearbeitet hatte, war für ihn – eigentlich ein eher musisch begabter
Junge, der gerne Musik hörte und zeitlebens als überaus begabter Zeichner und Hobbymaler tätig war – die Amtslaufbahn vorgesehen. Bernhard Vetsera, der als Stadthauptmann 1848/49 mit großer Härte gegen die aufständischen Ungarn vorgegangen und die Hinrichtung des evangelischen Predigers Paul Rázga am 16. Juni 1849 betrieben hatte,
wurde von Kaiser Franz Josef mit Orden und Auszeichnungen bedacht – der Überlieferung nach soll ihm der junge
Kaiser auch das Adelsprädikat angetragen haben, was Vetsera jedoch ablehnte, um die Pressburger Bürger nicht noch
mehr gegen ihn aufzuwiegeln; statt dessen erbat er sich vom Hof, dass sein Sohn Albin die Beamtenlaufbahn einschlagen konnte238.
231
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Vetsera, Georg Bernhard; geb. um den 23.04.1796 in Pressburg, gest. 08.01.1870 in Pressburg, beigesetzt auf dem Sr. AndreasFriedhof in Pressburg; die Vita findet sich bei Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“,
Selbstverlag, Wien 1937
233
Vetsera, Caroline, geb. Ullmann; getauft 31.12.1792 in Pressburg, gest. vor 1870; Hochzeit mit Bernhard Vetsera am
11.07.1820 in Pressburg. Ihr Vater, Johannes Joseph Ullmann (getauft 12.05.1761 in Kamnitz, Sterbedatum unbekannt. Nach
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 ist die Familie Ullmann bis 1602 im böhmischen Kamnitz nachweisbar
234
Poszony/Ungarn = Pressburg = Bratislava/Slowakei
235
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
236
Bernhardine Therese, Serafine Anna und Caroline Maria
237
Karl Johann Victor, Bernhard, Bernhard Theodor und Ladislaus Karl Maria
238
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
232
48
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Albin schloss zunächst die k.k. Orient-Akademie in Wien mit Auszeichnung ab, begann am 27. November
1849 seine diplomatische Laufbahn als Dolmetschergehilfe („ Internuntiusdolmetscheradjunkt“) an der Agentie in
Bukarest und wurde bereits nach einem Jahr 1850 in gleicher Funktion an die Agentie in Konstantinopel versetzt. Am
22. April 1855 wird er zum k.k. Honorar-Legationssekretär, am 23. Mai 1858 zum Wirklichen Legationssekretär und
am 21. September 1864 zum Honorar-Legationsrat in Konstantinopel ernannt239. Dort hatte er den Bankier Theodor
Baltazzi kennen gelernt und hielt – nach dessen plötzlichem Tod 1860 – mit 36 Jahren bei dessen Witwe Eliza um die
Hand der zweitältesten Tochter, der 16-jährigen Helene, an. Im Gegenzug verpflichtete er sich der Mutter gegenüber,
die Vormundschaft über die neun minderjährigen Kinder zwischen 16 und 3 Jahren zu übernehmen240.
Am 17. Februar 1864 genehmigte Kaiser Franz Joseph das ihm unterbreitete Heiratsgesuch241 seines Beamten
Albin Vetsera242. Am 2. April 1864 heiratete der Diplomat dann in der römisch-katholischen Kirche von PeraKonstantinopel sein Mündel, die Bankierstochter Helene Baltazzi. Das Paar bekommt in Folge vier Kinder: 1865 während einer Beurlaubung in Paris243 Ladislaus, 1868 in Konstantinopel Johanna, 1871 in Wien Mary und 1872 ebenfalls
in Wien Franz Albin. Als Träger des Ritterordens des österreichischen kaiserlichen Leopoldsordens244 wird Albin
Vetsera auf eigenes Ansuchen „am 24. März 1867 durch Franz Joseph in den erblichen Ritterstand und nach der am 2.
Oktober 1869 erfolgten Verleihung des Kleinkreuzes des königlich-ungarischen St. Stefansordens [durch Diplom] am
30. Jänner 1870 in den erblichen Freiherrenstand245 erhoben.“246 Gleichzeitig erhält er das Recht, ein Familienwappen247 zu führen.
Das Hochzeitsansuchen von 1864 dürfte den fleißig und korrekte und von seinem Vorgesetzten, dem Gesandten Anton Baron von Prokesch-Osten248 stets belobten Gesandtschaftsbeamten im Wiener Außenministerium aus der
Vergessenheit gerissen zu haben, denn am 14. April 1868 wird er zum Wirklicher Legationsrat und Geschäftsträger in
St. Petersburg ernannt. Am 10. Dezember 1869 erfolgt die Berufung zum außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister in Lissabon und zum 7. Mai 1870 wird er in gleicher Eigenschaft zur „K.u.k. Österreichisch-
239
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983. Die Vormundschaft teilte er sich mit
Helenes verheirateter Schwester Elisabeth Baronin Nugent. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem britischen Seeoffizier Albert Llewelly Baron Nugent, erzogen sie im Wechsel die Geschwister und schickten sie in England zur Schule; dies führte nach Swistun,
Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983 dazu, dass keines der Kinder fehlerfrei die deutsche Sprache beherrschte.
241
Die „Normen, betreffend Ehebewilligungen für diplomatische Beamte“ lauteten: §1 Diplomatische Beamte bedürfen zur Eingehung einer Ehe der fallweise einzuholenden Bewilligung seiner k.u.k. Apostolischen Majestät“; nach: Fuhst, Herbert: „Mary
Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
242
Der Inhalt des Gesuches wurde in den 20-er oder 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts von Dr. Paul Diamant in einer Wiener Zeitung veröffentlicht – mit der Bemerkung, der Kaiser habe so unwissend das Todesurteil für seinen Sohn unterschreiben (nach
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937)
243
Das Ehepaar besuchte damals die in Paris lebenden Verwandten von Helene und lernte dort auf Vermittlung von ProschekOsten den damaligen österreichischen Botschafter, Fürst Richard Metternich und seine Gattin Pauline kennen.
244
Das Verleihungsdiplom anlässlich der verdienstvollen Arbeit in St. Peterburg, wo die Gesandtschaft neu zu organisieren war,
befindet sich im Besitz von Frau Ingrid Fritz, Wien.
245
Das großformatige, aufwendig gestaltete Diplom befindet sich im Besitz von Frau Ingrid Fritz, Wien.
246
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
247
Das Wappen der Familie Vetsera: goldener Schild, durchzogen von einem schrägrechten schwarzen, rechts oben mit einem
Stern durchbrochenen Balken; auf dem Hauptrand des Schildes ruht die Freiherrenkrone mit drei gekrönten Turnierhelmen, von
welchen schwarze mit Gold unterlegte Decken herabhängen; die mittlere Helmkrone trägt einen offenen, rechts von schwarz über
Gold und links abgewechselt quer geteilten Adlerflügel, welchem ein goldener Stern eingestellt ist; aus der Helmkrone zur Rechten wächst ein goldener Lindwurm mit ausgestreckter roter Stachelzunge einwärts gekehrt und aus jener zur Linken ein goldenes
Einhorn hervor. Das Familienwappen ist in die Marmorplatte der Familiengruft in Payerbach eingemeißelt.
248
von Prokesch-Osten, Anton Baron; später Graf, langjähriger Vertreter Österreichs am Hofe des Sultans in Konstantinopel
240
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Ungarischen Gesandtschaft in Darmstadt249“ versetzt250. Die Familie indes zieht nach Wien. Zur Geburt und Taufe von
Tochter Mary 1871 lässt er sich beurlauben, so dass er in die Residenzstadt reisen kann. Marys Vater wird als gutmütiger Mensch beschrieben, der seine Freizeit jedoch mehr unter seinen bevorzugten Bekannten aus dem diplomatischen Dienst als auf der Rennbahn verbrachte. Das einzige von ihm erhaltene Bild zeigt den Beamten zusammen mit
seiner Frau in St. Petersburg: „mit etwas bleichem, von einem dunklen Vollbart umrahmten Gesicht, schütterem Haar,
sehr schönen Händen sowie anscheinend einer guten Figur.251“
Schon am 10. Januar 1872 wurde die österreichische Gesandtschaft am Großherzoglichen Hof aufgelassen –
und Albin Vetsera wurde, vom Großherzog mit dem Orden Philipp von Hessen dekoriert und lobend verabschiedet,
nach Wien abberufen252. Durch die Anstrengungen im diplomatischen Dienst kränkelnd, ließ sich der 53-jährige am
10. Januar 1872 mit Wohnort Wien in den zeitweiligen Ruhrstand versetzen, blieb als Diplomat zur Disposition stehen.
Um seine angegriffene Gesundheit wieder in den Griff zu bekommen – der Hausarzt und zugleich kaiserliche
Leibarzt Dr. Widerhofer diagnostizierte eine seit der Studienzeit angegriffene Lunge – reiste Baron Vetsera in der ersten Jahreshälfte 1875 gemeinsam mit seinem Butler über Süditalien nach Ägypten253.
Ende April 1880 fällt die dienstliche Reaktivierung von Baron Vetsera nach Kairo zur „dette publique égyptienne“ – als „Österr.-ung. Delegierter bei der internationalen Kommission zur Verwaltung der ägyptischen Staatsschulden“. Nachdem der Khedive gegen den Baron nichts einzuwenden hatte – Vetsera sollte in Kairo den österreichischen Anteil an den u.a. durch den Suezkanal entstandenen Staatsschulden ermitteln – , entsandte das Ministerium des
kaiserlichen Hauses und des Äußeren den Baron nach Ägypten. Anfang Mai 1880 schiffte er sich in Triest ein254.
Im Dezember 1881 kehrte er außerhalb der Sommerurlaube ein weiteres Mal für einige Tage nach Wien zurück – zur Trauerfeier für seinen beim Ringtheaterbrand umgekommenen Sohn Ladislaus. Weitere Besuche aus Kairo
in Wien – meist in Zusammenhang mit Rapporte im Außenministerium – sind für den Frühlingsbeginn 1885 und
Sommer 1887. Die Familie traf sich in Paris und reiste gemeinsam für einen Besuch bei den Nugents nach London,
um dort einen Teil der Feierlichkeiten zum Regierungsjubiläum der Queen Victoria zu erleben. Zurück aus England
verbringt die Familie den Sommer auf Schloß Schwarzau im Steinfeld und im August nimmt der Baron nebst Familie
an einem Volksfest in Reichenau teil. Danach reiste er zurück nach Ägypten255.
Im Oktober erkrankte der Baron, diesmal schwer und erlitt am Freitag, 28. Oktober, nachts einen Schlaganfall.
Die Lähmung der Lunge führte am 14. November 1887 im Spital der Diakonissen in Kairo zum Tode – seine Familie
sah er nicht mehr, da Helene und die Töchter nach einem Zwangsaufenthalt wegen falsch gebuchter Schiffsplätze in
Brindisi erst verspätet in Kairo eintraf. Nach der Trauerfeier in „l´Église de la Terre Sainte, au Mousky“ wurde der
Leichnam des österreichisch-ungarischen Beamten und Diplomaten am Freitag, 18. November 1887, in einer feierli-
249
Nach Errichtung einer unter der Leitung von Geschäftsträgern Abi. stehende Gesandtschaftskanzleien im Jahre 1830 waren ab
diesem Jahr bis 1849 die k.k. Gesandten in Karlsruhe (Großherzogtum Baden) beim Großherzog von Hessen mitbeglaubigt. Albin
von Vetsera war nach Ladislaus Graf Hoyos Karl Freiherr von Bruck (im Dienst 19.09.1868-04.05.1870) der siebte Gesandte in
Darmstadt (nach: Agstner, Rudolf: „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin, Philo-Verlag, Berlin 2003)
250
Aus dieser Zeit findet sich einzig in der Bayerischen Staatsbibliothek München ein Brief von Baron Albin Vetsera, und zwar
an Professor an den Himalaja- Und Indienforscher und Reiseschriftsteller Robert von Schlagintweit in Gießen vom 13.11.1870,
251
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
252
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
253
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
254
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
255
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
50
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chen Prozession, an der neben dem Zeremonienmeister des Khediven, S. E. Zulfikar Pascha, mehr als 2.000 Trauergäste teilnahmen, zum katholischen Friedhof von Kairo überführt und dort in einer Gruft beigesetzt256. Die drei Vetsera-Damen blieben fast zwei Monate in Kairo, wo sie das Land und die Leute kennen lernen und sich einen Eindruck
von den Arbeitsverhältnissen des Barons machen konnten257.
256
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
257
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
51
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
9.
Die Familie Baltazzi-Vetsera
C: Johanna „Hanna“ Carolina Elisabeth Vetsera
„Sei glücklich
und heirate nur aus Liebe“
Mary Vetseras an
ihre Schwester
Mayerling, 29.01.1889
Johanna Carolina Elisabeth Vetsera wird als zweites Kind von Helene und Franz Vetsera am 25. Mai 1868 in
Konstantinopel geboren. Die häusliche Erziehung im Palais der Familie Vetsera erfolgte für Hanna, ihre Brüder und
später auch für Mary durch eine eigene Erzieherin sowie verschiedene Hauslehrer, die zu den Unterweisungen in das
Palais im 3. Wiener Gemeindebezirk kamen. Der Unterricht umfasste das Pensum der Volksschule sowie teilweise der
damaligen Bürgerschule, also Lesen, Schreiben, Rechnen, Geschichte, Geographie und Religion. Dazu kamen, dass
die Kinder zweisprachig aufwuchsen: vom Vater – sofern er anwesend war – lernten sie akzentfreies Deutsch und von
der Mutter und durch die Konversation mit den Verwandten Englisch. Um in der Gesellschaft jedoch brillieren zu
können, wurden sie auch in französischer Konversation unterrichtet – durch den Hauslehrer Gabriele Dubray. Gesang
unterrichtete im Palais Vetsera Gabriele Tobis, mit der Mary auch nach deren Weggang aus Wien enge briefliche
Kontakte pflegte.
Nach Abschluss der häuslichen Erziehung mit 13 Jahren kam Johanna während des zweiten Semesters des
Schuljahres 1880/1881 als Schülerin in das „Pensionat religieus du Sacre Coeur à Vienne“ der Schwesterngemeinschaft Sacré-Coeur258 am Wiener Rennweg259. Dort wird sie in Deutsch, Französisch, Englisch, Arithmetik, Religion
und Geschichte unterrichtet, erhält fast durchgehend in den meisten Fächern die Note „très bien“ (sehr gut) und wird
zu jedem Halbjahr – der französischen Klassifikation folgend – mit Auszeichnungen hervorgehoben. Als Resultat der
Examina des 1. Schulsemesters 1881/1882 erreicht sie von insgesamt elf Schülerinnen mit 185 die höchste Note der
Klasse 4 und bekleidet das Ehrenamt der Tisch-Vizepräsidentin260.
258
Sacré-Coeur, Rennweg 31, Wien 3; Klosterkirche und Erziehungsanstalt der Ordensfrauen vom Heiligsten Herzen Jesu. Die
Kirche wurde 1875-77 von Ferdinand Zehengruber in neuromanisch-gotischer Mischform erbaut. Am Hochaltar Darstellung des
Herzen Jesu von Anna Maria von Oer; die Seitenaltäre sind Maria und dem Hl. Josef gewidmet. In der linken Seitenkapelle befindet sich die Grabstelle des geistigen Vaters der „Religieuses du Sacré-Coeur“, P. Léonor Francois de Tournély.
259
Die erste Erwähnung der Schülerin ist im Juli 1881; freundliche Mitteilung Sr. Christl Öhlinger, Schwesterngemeinschaft
Sacré-Coeur, Wien 15.06.2003
260
Provinzarchiv Sacré-Coeur, Wien
52
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Mit einem großen Kostümfest in der Spiegelgalerie des Palais wurde Johanna im Jahre 1885 der Gesellschaft
als „volljährig“ vorgestellt. Hanna erschien als Linzerin kostümiert, Mary als Slowakin und Feri als Spanier. Unter
den Gästen waren der deutsche Botschafter, Prinz Reuß nebst Gattin, Fürstin und Fürst Thurn und Taxis, die gräflichen Familien Clam, Bombelles, Robilant, Harrach, Zichy, Kinsky, Trautmannsdorf, Attems, Berchtold, Bellegarde,
Széchényi, Bourgoing u.v.m261. Im Palais wohnten die Schwestern in der Belletage in zwei nebeneinander liegenden
Räumen – jedoch musste jeder Besucher bei Mary zunächst das Zimmer ihrer Schwester Johanna durchschreiten.
Marys letzten Abend in Wien, den Abend des 27. Jänners, verbrachte ihr Mutter mit ihr und Johanna auf dem
Empfang mit anschließendem Ball im Palais des deutschen Botschafters, Heinrich VII. Prinz von Reuß, im dritten
Wiener Gemeindebezirk in der Metternichgasse. Der Anlass war der Geburtstag des deutschen Kaisers Wilhelm II.
Anwesend war neben dem Kaiser auch ab 22 Uhr das Kronprinzenpaar. Am folgenden Morgen verließ Mary das Palais Vetsera ein letztes Mal.
Johanna erhielt von Mary aus Mayerling einen Abschiedsbrief. Sollte der Brief nicht im Besitz der Familie
Bylandt-Rheyd sein, so dürfte er nach Helenes Tod 1925 vernichtet worden sein. So ist auch der Wortlaut nicht genau
bekannt. In den Schreiben hießt es u.a. (siehe Kapitel 5.4): „„Liebe Hanna, wir gehen beide selig in das ungewisse
Jenseits. Denke hie und da an mich. Sei glücklich und heirate nur aus Liebe. Ich konnte es nicht tun, da ich der Liebe
nicht widerstehen konnte, so gehe ich mit ihm. Deine Mary. Weine nicht um mich, ich gehe fidel hinüber. Bratfisch
hat wunderbar gepfiffen. Es ist wunderschön hier draußen, man denkt an Schwarzau, Denke an die Lebenslinie meiner
Hand. Jetzt nochmals: Lebe wohl.“ Nach diesen Zeilen fällt ihr anscheinend Dubray ein, und sie fügt für ihn herzliche
Grüße an bedauert, ihn nicht mehr im Bräuhaus262 zu sehen. Sie bittet noch Hanna, jährlich am 13. Jänner und an ihrem Todestag eine Gardenie aufs Grab zu senden oder zu bringen, und ihre vertraute Agnes fällt ihr noch ein: „Als
letzten Wunsch einer Sterbenden bitte ich die Mama, für die Familie von Agnes Jahoda auch fernhin zu sorgen damit
sie nicht durch meine Schuld leide.263“
Nach den dramatischen Ereignissen in Mayerling machte sich Johanna im Juli 1889 handschriftlich Notizen
zu den Vorgängen und zitiert dabei auch aus dem Briefwechsel ihrer Schwester mit Hermine Tobis und die Geständnisse von Marys Zofe, Agnes Jahoda. Nach Hermann Swistuns Mitteilung sind diese Aufzeichnungen nicht zu verwechseln mit der Mitte 1889 bei Vernay in Wien gedruckten „Denkschrift“ von Helene Vetsera. Die handschriftlichen
Aufzeichnungen von Johanna – an manchen Quellen ebenfalls als „Denkschrift“ bezeichnet – enthielt u.a. Hermine
Tobis als Zusatz zur gedruckten „Denkschrift“. Diese bis vor wenigen Jahren im Original noch einsehbare Quelle ist
als wichtige Ergänzung zu den gedruckten Erinnerungen der Baronin Vetsera zu betrachten.
In den Monaten nach der Tragödie fertigte Hanna den künstlerischen Entwurf für die Gruft ihrer Schwester in
Heiligenkreuz an – den Bibelvers des Steines formulierte ihre Mutter – und bezahlte aus ihrem Erbteil die Kosten für
die gemauerte Grablege, das schmiedeeiserne Gitter und das Kreuz.
1896 lernte Johanna bei einem Aufenthalt im holländischen Seebad Scheveningen den niederländischen Grafen Hendrik van Bylandt264, kennen. Bereits am 26. Mai 1897 heiratete Johanna265 den holländischen Aristokraten.
261
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
Das „Bräuhaus“ war ein beliebtes Brauereigasthaus im 3. Wiener Gemeindebezirk auf der Hauptstraße.
263
nach: Vetsera-Denkschrift, zitiert in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau
Nachf., Wien 1983
264
Bylandt-Rheyd, Hendrik Graf von; geb am 07.09.1863 in Zoeterwoude auf „Huize Rhijnvreugd“, gest. 15.04.1932 ebenda. Vater: Alfred Edouard Agenor von Bylandt-Rheyd, geb. 14.10.1829 in Brüssel, gest. 08.06.1890 in Haag; verheiratet seit 27.11.1862
in zweiter Ehe mit Petronella Adriana van Massow (geb. 25.11.1835 in Leiden, gest. 16.06.1909 in Zoeterwoude, begraben auf
dem dortigen Friedhof)
262
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Lebensmittelpunkt des jungen Paares wurde das 1791 an einem Fluss errichtete „Huize Rhijnvreugd“ in der niederländische Gemeinde Zoeterwoude266 bei Leiden. Nach Familienberichten soll sich die Ehe zwischen der künstlerisch veranlagten Hanna und dem rüden Grafen nicht die glücklichste gewesen sein und es soll mehr ein nebeneinander, als ein
Miteinander zwischen den Eheleuten gegeben haben267. Johanna wird von Zeitgenossen als nicht so hübsch wie Mary
beschrieben und sie soll auf ihren Vater herausgekommen sein. Sie war jedoch hilfsbereit und gutmütig und besonders
ihre schönen, großen blauen Augen fielen auf268.
1898 kam die gemeinsame Tochter Maria-Elisabeth269 zur Welt, 1900 Sohn Eduard270. Im Winter 1900/1901
hielten sich die Eheleute Bylandt-Rheyd in Rom auf, denn der Graf sollte dort mit der Würde eines päpstlichen Geheimen Kämmerers ausgezeichnet werden. Schon bald jedoch gab es besorgniserregende Nachrichten über Hanna. Die
gerade 33 Jahre alte Gräfin erwartete ihr drittes Kind, erlitt jedoch eine Fehlgeburt. Noch in Rekonvaleszenz, trat unerwartet hohes Fieber auf und die Ärzte stellten eine Typhuserkrankung fest. Helene Vetsera reiste sofort nach Rom –
kam jedoch zu spät. Johanna verstarb dort am 28. Februar 1901271. Wo sie beigesetzt wurde konnte bislang nicht geklärt werden – nach der Dokumentation des Kirchenbuches in Zoeterwoude, das uns ihr Enkel als Grabstätte nannte,
jedoch nicht272.
Graf Hendrik von Bylandt-Rheyd heiratete in zweiter Ehe am 10. Mai 1922 im niederländischen Gorinchem
Johanna Cornelia Wisboom273. Der Geheime Kämmerer verstarb am 15. April 1932 auf „Huize Rhijnvreugd“ und
wurde am 19. April auf dem örtlichen Friedhof „Meerburg“ im Grab seiner Mutter beigesetzt274. „Huize Rhijnvreugd“
stand danach einige Jahre leer und wurde am 31. Januar 1939 abgerissen.
265
Wir sind uns nicht sicher, ob der von Swistun-Schwanzer und Baltazzi für die Hochzeit genannte Ort, nämlich „London“, nicht
ein Übertragungsfehler ist und Leiden heißen müsste.
266
bei Baltazzi-Scharschmid/Swistun Zoeterwoude statt Zoeterwoude
267
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
268
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
269
Bylandt-Rheyd, Maria-Elisabeth Adrienne Helene Gräfin von (geb. 09.04.1898 in Zoeterwoude, gest. 27.10.1985 in Bak Kom
Zala), zum Zeitpunkt des Todes ihrer Großmutter Helene Vetsera wird sie als „Private“ in Wiesbaden, Uhlandstraße 5 geführt;
heiratet am 03.07.1922 in Bonn Edgar von Stryk, Herr auf Helmet. Kinder: Gregor, Schweden (Tochter: Ilona, verheiratete Gräfin
von Stryk-Aulin, Schweden); Georg (Ungarn), Alexander (Ungarn)
270
Bylandt-Rheyd, Eduard Albin Franz Graf von (geb. 19.02.1900 in Zoeterwoude, gest. 20.07.1989 in Ostende), cand. jur., zuvor
Beamter der kgl. niederländischen Petroleum-Gesellschaft und königlicher Gesandtschafts-Attaché in Sydney; zum Zeitpunkt des
Todes seiner Großmutter Helene Vetsera wird er als Beamter der Ariatic Petrol Co. in Singapur geführt; heiratet am 02.05.1925 in
Penang in erster Ehe Murkje Abma (geb. 21.031887 in Hoorn, gest. 28.03.1965 in Amersfoort), keine Kinder. Im Jahr 1937 lebt
das Paar in Amsterdam. In zweiter Ehe verheiratet mit Anna Maria Wilhelmina Bondam (geb. 27.06.1900 in Haag, gest.
16.11.1986 in Ostende)
271
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980. Nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
verstarb Hanna bereits am 20. Februar 1901.
272
freundliche Mitteilung von Joop van der Ploeg, Zoeterwoude, 06.09.2004
273
Johanna Cornelia von Bylandt, geb. Wisboom, geb. 02.06.1890 in Noordeloos bei Gorinchem, gest. 16.11.1948 in Leiden
274
Der Grabstein der Familie „Bijlandt“ befindet sich noch immer auf dem Friedhof Hege Ryndyk 16 in Zoeterwoude. Unter dem
Wappen der Familie Bylandt steht die Einschrift: „HIER RUSTEN VFOUWE DOUAIRIERE GRAVON VAN BIJLANDT GEBOREN VAN MASSOW OVERLEDEN 16 JUNI 1909 ** HENDRIK GRAAF VAN BIJLANDT GEHEIM KAMERHEER
VAN Z.H. DEN PAUS GEBOREN / SEPT 1863 OVERLEDEN 15 APRIL 1932 *** DOUARIERE J.C. VAN BIJLANDT GEBOREN WISBOOM GEBOREN 2 JUNI 1890 OVERLEDEN 16 NOVEMBER 1948“, freundliche Mitteilung von Joop van der
Ploeg, Zoeterwoude, 25.08.2004
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
9.
Die Familie Baltazzi-Vetsera
D: Ladislaus „Lazy“ Vetsera
„Alles gerettet!“
Polizeirat Anton Landsteiner
Wien, 08. Dezember 1881
Vor den Weihnachtstagen des Jahres 1865 wird Helene und Albin Vetsera – sie weilten für einen Monat zu
Besuch bei Baltazzi-Verwandten in Frankreich, da sich Helene bei der Geburt ihres ersten Kindes nicht den Ärzten in
Konstantinopel aussetzen wollte – in Paris das erste Kind geboren: der Sohn Ladislaus – auch „Lazi“ oder „Laszlo“
gerufen. Das genaue Geburtsdatum ist heute nicht mehr feststellbar, schon Herbert Fuhst konnte es bereits 1937 nicht
ermitteln275. Da Planitz kurz erwähnt, Ladislaus sei mit 14 Jahren gestorben, müsste er erst 1867 geboren sein – und
das Pariser Kind wäre ein früh verstorbenes, namenloses Kind der Eheleute Vetsera.
1878 ließ sich Ladislaus in Kalksburg zwei Zähne von Dr. Thomas richten und erhielt eine Gold- und eine
Zementplombe276.
Ladislaus Vetsera erhielt seine Erziehung und Schulbildung in Internaten in Kalksburg und später in Koloscar
und wurde von Zeitgenossen als „hoffnungsvoller, liebenswürdiger Sprössling“ der Familie Vetsera charakterisiert277.
Zur militärischen Vorerziehung – für Ladislaus hatte der Vater eine Karriere beim Militär vorgesehen – trat er in Wien
in das Institut des Major Frieß auf der Schottenbastei 4 ein.
Der Tod des ältesten Vetsera-Sohnes steht in Zusammenhang mit dem Brand des Wiener Ringtheaters278 am
Schottenring. Am Donnerstag, 8. Dezember 1881, stand nach der Wiener Uraufführung am Vortag die zweite, ausverkaufte Vorstellung von Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ auf dem Programm der einstigen „Komischen
Oper“, wie das Ringtheater zunächst hieß. Als vor Beginn der Vorstellung die Saalbeleuchtung erlosch, war dies das
Zeichen zum pneumatisch-elektrischem Anzünden der Gasbeleuchtung im Bereich der Bühne. Da die Zündapparatur
beim ersten Versuch versagte, das Gas aber weiter ausströmte, kam es beim zweiten Zündversuch zu einer Explosion.
Das Feuer griff direkt auf die 30 Prospektzüge über. Zeitgleich setzte die Stichflamme den Vorhang in Brand, der
nach dem Öffnen einer Seitentür im Bühnenbereich durch den Luftzug explosionsartig in den Zuschauerraum schlägt.
In nur sieben Minuten stehen Bühne, Schnürboden und Versenkung in Flammen. Nach 11 Minuten wurde die Feuer-
275
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
Neues Wiener Tagblatt, 14.12.1881
277
Wiener Salonblatt, Nr. 51, 18.12.1881
276
55
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
wehr verständigt, nach 20 Minuten waren die meisten Opfer am Rauchgas erstickt – rund 500 Besucher konnten sich
ins Freie retten, 120 durch einen Sprung von Balkonen und aus Fenstern. Da aus dem Haus keine Hilferufe drangen
und die Feuerwehr keine Ausrüstung zum Betreten des Brandortes besaß, kam es zur legendären Falschmeldung des
Polizeirates Anton Landsteiner an den anwesenden Erzherzog Albrecht: „Alles gerettet!“.
Auf Grund fehlender Sicherheitsvorschriften279 kamen im Inferno des Ringtheaterbrandes 386 - nach anderen
Angaben bis zu 448 bzw. 600 – Menschen ums Leben – darunter der 16-jährige Ladislaus Vetsera. Seine Anwesenheit
in dem Theater resultierte aus einem Zufall: Fünf Zöglinge der Major-Frieß´schen-Militärschule waren für besondere
Leistungen mit einer Eintrittskarte belohnt worden280 und durften mit dem Sohn des Schulleiters und Buchhalter des
Internats, Rudolf Frieß, die Oper besuchen. Da jedoch einer der Schüler erkranke, erhielt Ladislaus als Nächstbester
seines Jahrganges das Billett281.
Helene Vetsera und ihrer Schwester Marie-Virginie Gräfin Stockau war es nicht vergönnt, unter den geborgenen Opfern im Hof der nahe gelegenen Polizeidirektion am Schottenring und im Terrain des Allgemeinen Krankenhauses die Leiche des Jungen zu identifizieren. Zum feierlichen Requiem in der Kapelle des Sacre Coeur am Rennweg
am Samstag, 17. Dezember, reisten Vater Albin Vetsera aus Kairo und Onkel Alexander Baltazzi aus Konstantinopel
an, Kaiser Franz Josef und Kaiserin Elisabeth kondolierten telegrafisch282. Wenige Tage nach dem Brandunglück
überbrachte man der Familie zwei Manschettenknöpfe283, die in der Ruine des Theaters gefunden worden waren –
Helene erkannte sie als jene ihres Sohnes284. Insgesamt konnten nur 250 Toten zweifelsfrei identifiziert werden, für
die in Folge auch ein Totenschein ausgestellt wurden. So kam es bei unzähligen Erbschaftsangelegenheiten zu Problemen, die erst 1883 durch das „Ringtheatergesetzt … zum Zwecke der Todeserklärung und der Beweisführung des
Todes“ gelöst werden konnten.
Am 12. Dezember wurden die Überreste jener 386 Toten, die nicht vollständig verbrannt und nicht zusammen
mit dem Brandschutt entsorgt worden waren, auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt285. Für die Opfer des
Ringtheaterbrandes entstand ein Ehrenmal, auf dem alle Namen der Toten – soweit bekannt – verzeichnet waren.
Nach schwerer Beschädigung im Zweiten Weltkrieg ist nach der Renovierung heute nur noch der Mittelteil des
Denkmales erhalten. Es trägt den Spruch: „Dem Andenken der beim Brande des Ringtheaters am 8. Dezember 1881
Verunglückten. Die Gemeinde Wien.“ Ein bleibenderes Andenken setzte Helene Vetsera ihrem verunglückten Sohn in
der von ihr „zum frommen Gedenken an Ladislaus und Maria“ als Einlösung eines Gelübdes gestifteten Kapelle des
Friedhofes von Heiligenkreuz. Der linke betende Engel, der auf dem Glasfenster oberhalb des Altares zu den Füßen
der Muttergottes kniet, trägt die Gesichtszüge des Jungen.
278
1873/74 nach Plänen von Emil von Förster erbaut und am 17.01.1874 als Gegenpol zur k.k. Hofoper mit Rossinis „Barbier von
Sevilla“ unter dem Namen „Komische Oper“ eröffnet; seit 1878 mit Änderung des Repertoires „Ringtheater“ genannt.
279
U.a. waren die Notbeleuchtung durch Öllampen nicht angezündet, fehlte ein Eiserner Vorhang, gingen die Ausgangstüren im
Zuschauerraum nach Innen auf
280
neben Ladislaus kamen aus der Militärschule beim Ringtheaterbrand ums Leben: Fritz Feix, Sigmund Graf von Festetics de
Tolna (geb. 1866), Anton Ritter von Kaczkowski-Pomian und Emil Schirnhofer (nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte
ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937)
281
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
282
Wiener Salonblatt, Nr. 51, 18.12.1881
283
1913 – 32 Jahre nach dem Brand – wurden im Wiener Palais Dorotheum die von Angehörigen nicht abgeholten Wertsachen
versteigert.
284
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
285
Der Gedenkstein befindet sich hinter der Aufbahrungshalle (Gruppe 30a, R 1 1-3) am Tor 2 links am Beginn der Gräberreihe.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
An der Stelle des Ringtheaters entstand auf dem Stadterweiterungsfond gehörigen Baugrund des Theaters am
Schottenring 7/Ecke Heßgasse aus Privatmitteln des Kaisers – um seiner Anteilnahme „an dem traurigen Schicksale
der bei dem Brande des Ringtheaters Verunglückten einen dauernden Ausdruck zu verleihen“286 – nach Plänen des
Architekten Friedrich Schmidt das so genannte „Sühnhaus“ bzw. der „Sühnhof“ – ein Zinshaus mit Gedächtniskapelle
„Zur Unbefleckten Empfängnis“ im zweiten Stock, dessen Ertrag wohltätigen Zwecken zufloss. Nach fünf Jahren
Bauzeit wurde am 26. Januar 1886 das Gebäude im Beisein des Kaisers – und der Familie Vetsera – mit einer Heiligen
Messe eingeweiht.
Im Zuge der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges brannte das Haus am 11. April 1945 vollständig aus;
die Ruine wurde 1951 abgetragen. In den Jahren 1969 bis 1974 wurde auf dem Areal die neue Bundespolizeidirektion
errichtet. An der Fassade erinnert eine Gedenktafel an das Inferno von 1881.
Letzte Spuren des Ringtheaters finden sich auch heute noch in Wien und Niederösterreich: Vier Attikastatuen
des Theaters stehen am Hauptweg des Pötzleinsdorfer Parks im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing. Ein Portal des
Theaters wurde im Haus Pezzlgasse 24/26 im 17. Wiener Gemeindebezirk Hernals verbaut. Die Fensterrahmen im
dritten Stock des gleichen Hauses auch aus der Brandruine287. Eine fast drei Meter hohe, zweiflügelige Eingangstür
aus Eiche mit den geschnitzten Halbreliefs von Komödie und Tragödie befindet sich ebenso wie eine angebrannte
Krawatte samt Krawattennadel und zwei Eintrittskarten zur letzten Vorstellung im Bezirksmuseum Innere Stadt288.
Eine Säule aus der Theaterfassade wurde im Jahre 1884 in die von Paul und Marianne Wasserburger gestiftete Mariensäule in der Weilburgstraße in Baden bei Wien verbaut. Der verkohlte Kopf eines namenlosen Opfers wird im Wiener Kriminalmuseum289 gezeigt.
286
Handschreiben Seiner Majestät des Kaisers, Wien 24.12.1881
freundliche Mitteilung von Herrn Michael Steindl, Kustos des Bezirksmuseums Wieden, Wien 25.01.1996
288
freundliche Mitteilung von Prof. MA A. R. Mucnjak, Leiter des Bezirksmuseum Innere Stadt, Wien 10.01.1996
289
Wiener Kriminalmuseum, Große Sperlgasse 24, A-1020 Wien, Tel.: +43-1-214 46 78, +43 664 300 56 77
287
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
9.
Die Familie Baltazzi-Vetsera
E: Franz Albin „Feri“ Vetsera
„Eine größere Liebe gibt es nicht,
als wenn einer sein Leben hingibt
für seine Freunde.“
Pate für Franz Freiherr von Vetsera
Dezember 1915
Das jüngste Kind von Helene und Albin Vetsera, Franz Albin, kam am 29. November 1872 im elterlichen
Wohnhaus an der Schüttelstraße 11 in Wien zur Welt. Getauft wurde es in St. Johann Nepomuk, in deren Matrikel Albin nach dem Vater, davor jedoch aber Franz nach dem Patenonkel, Franz Graf von Coudehove290, eingetragen wurde.
Mit der Familie des Paten – besonders aber mit Gräfin Marie – waren die Baltazzis und zuletzt auch Baron Vetsera
lange Jahre befreundet291.
Bei einem Reitkarussel, das 1880 vom Grafen Török in der Hofreitschule zu Gunsten der Not leidenden Provinzen des Reiches organisiert wurde, wirkte neben Helene Vetsera auch Feri mit: In einer Jagdszene führte er eine
große Dogge in die Arena. Allein die Kostüme von Mutter und Sohn – von Hans Makart entworfen – kosteten im Salon der Madame Spitzer über 1.000 Gulden292. Schulisch wurde Feri im Theresianum, einem Wiener Internat, ausgebildet.
Nach dem Obergymnasium mit Matura hatte er sich 1892 als Einjährig-Freiwilliger gemeldet und sich verpflichtet, zehn Jahre plus zwei weitere Landwehrjahre in der Armee Dienst zu tun. Nach Absolvierung aller Offiziersprüfungen kam er zur Kavallerie, wo er als Husarenleutnant vorwiegend in ungarischen Garnisonsstädten stationiert
war293. Zu seinen militärischen Stationen zählen nach den Untersuchungen von Herbert Fuhst u.a.
•
Leutnant in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 11 in Szombathely/Ungarn (ab 01.01.1894)
•
aktiver Leutnant im Husaren-Regiment Nr. 11 in Szombathely/Ungarn (an 01.12.1895)
•
aktiver Leutnant im Husaren-Regiment Nr. 1 in Kronstadt/Rumänien (1900)
•
aktiver Oberleutnant im Husaren-Regiment Nr. 9 in Sopron/Ungarn (ab 01.11.1900)
290
Coudenhove, Franz Graf von, geb. 1825, gest. 1893, k.u.k. Kämmerer, verheiratet seit 1857 mit Marie von Kalegri, geb. 1840,
gest. 1877; Großvater von Richard Graf von Coudehove-Kalegri, dem Begründer der Paneuropa-Bewegung.
291
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
292
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
293
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
58
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
•
Oberleutnant in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 9 in Sopron/Ungarn (1906)
•
Rittmeister in der Reserve im Husaren-Regiment Nr. 9 in Sopron/Ungarn (1915)
Im Jahre 1891 war Franz Baron Vetsera noch bei seiner Mutter polizeilich gemeldet, wohnte zwischenzeitlich
jedoch mit seiner Familie auch bei seiner Mutter in Wien und Payerbach und war zuletzt bis zum 09. Juni 1914 in der
Plößlgasse 13 im vierten Wiener Gemeindebezirk polizeilich gemeldet, von wo er sich nach Ungarn abmeldete294.
Am 12. Juli 1904 hatte er die Tochter eines seiner höheren Vorgesetzten geheiratet, Margit Marie Gräfin von
Bissingen und Nippenburg295. Das Paar bekam drei Töchter: die 1905 in Salzburg geborene Ferdinandine („Nancy“),
die am 31. Juli 1906 in Payerbach geborene Alexandrine („Alitschi“ oder „Alice“) und die am 27. August 1907 in
Szentkereszt (Heiligenkreuz im Lafnitztal) am Gyöngyös im ungarischen Komitat Eisenberg geborene Eleonora („Nora“). Feri war als fürsorglicher Kamerad und Mannschaftsführer bekannt und fand als Offizier Aufnahme im Jockeyclub. In Wien wohnte die Familie bis 1919 am Rennweg 5, 1. Stock, Tür 16 bis 17.
Neben ihrer Mutter Helene und der Schwester Johanna ist auch Franz Empfänger eines vermutlich am 29.
Jänner 1889 geschriebenen Abschiedsbriefes von Mary aus Mayerling. In dem wahrscheinlich nach Helenes Tod 1925
vernichteten Brief hieß es: „Lebe wohl, ich werde über dich wachen – von der anderen Welt, da ich Dich sehr liebe.
Deine treue Schwester296“.
Franz Freiherr von Vetsera stand im Ersten Weltkrieg schon bald im Frontdienst: Als k.u.k. Rittmeister in der
Reserve im Husaren-Regiment Nr. 9 und Führer einer 1. Eskadron stürmte er in Wolhynien297 gegen die feindlichen
Linien. In der Schlacht bei Kolki298 am Styr an der Ostfront wurde er zunächst durch einen Streifzug am Bein leicht
verwundet, kämpfte weiter und fiel durch eine Kugel ins Herz getroffen am 22. Oktober 1915 im feindlichen Feuer299.
Auf seinem Patenzettel hieß es: „Auf dem Schlachtfeld hat er dem Tod unerschrocken ins Auge geblickt, er war bereit, als dieser Kam.“
Nachdem seine Leiche zunächst provisorisch auf dem Friedhof in Rozyscze in Wolhynien beigesetzt worden
war, wurde sie auf Wunsch der Angehörigen exhumiert und nach Payerbach überführt. Am 18. Dezember 1915 trafen
die sterblichen Überreste von Franz Vetsera dort ein. Die neuerliche Beisetzung in einem Erdgrab nahe der Gruft von
Onkel Alexander durch Pfarrer Stefan von Kulesár fand als vorletzte des Jahres 1915 statt – jedoch ohne Trauerfeier.
Das Grab erhielt zunächst ein einfaches braunes Holzkreuz, auf dem eine Tafel mit der Aufschrift angebracht war
„Hier ruht Rittmeister Franz Freiherr von Vetsera – k.u.k. Husaren Reg. 9 1. RSK – gefallen 22.10.1915 bei Kukli“.
Nach Fertigstellung der neu errichteten Familiengruft wurde sein Leichnam ein weiteres Mal umgebettet300. Die Inschrift auf dem Kreuzsockel lautet: „Hier ruht Rittmeister Franz Freiherr von Vetsera – k.u.k. Husaren Reg. 9 1. RSK
– geboren 20.XI 1872 gefallen 22.X.1915 bei Kukli301“. Auch Helene Vetsera fand 1925 dort ihre letzte Ruhe.
294
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
Bissingen und Nippenburg, Margit Marie Gräfin von, geb. 22.02.1883 in Jám als Tochter des k.u.k. Kämmerers Maria Ferdinand Anton Grafen von Bissingen und Nippenburg und der Irma, geb. Adamovich de Csepin
296
Vetsera-Denkschrift, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau,
Wien 1968
297
Wolhynien liegt im Nordwesten der heutigen Ukraine; Nord-Süd-Ausdehnung rund 200 km, Ost-West-Ausdehnung rund 450
km.
298
Kolki, Ort ca. 50 km nordöstlich von Luzk (Luzk liegt rund 300 km nördlich von Shitomir); freundliche Mitteilung von Nikolaus Arndt, 04.07.2003
299
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
300
4 Stellen in Gruppe II, Gruft 5 auf Friedhofsdauer
301
ein Ort namens Kukli ist den Kennern von Wolhynien nicht bekannt (siehe oben).
295
59
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Um 1969 wurde die Gruft von Alexander Baltazzi an die Familie Michelfeit verkauft und der Leichnam des
1914 verstorbenen Onkels von Franz Vetsera wurde ebenfalls in die Familiengruft überführt.
Das letzte Pferd des Offiziers wurde – auf eigene Kosten der Familie – von der Front ebenfalls nach Österreich gebracht und bekam in den Stallungen von Schloß Leesdorf sein Gnadenbrot. Nach einigen Monaten erhielt die
Witwe Margit für ihren gefallenen Mann den Orden der Eisernen Krone als letzte Kriegsdekoration – „posthum und
taxfrei“302.
Margit Gräfin von Vetsera-Bissingen lebte nach dem Tode ihres Gatten zusammen mit ihren Kindern meist in
Wien, so zum Beispiel 1925 am Rennweg 10 im dritten Wiener Gemeindebezirk und nach dem Tode ihrer Schwiegermutter in deren Wohnung an der Prinz-Eugen-Straße 10, wo sie bis zum 03. Oktober 1927 gemeldet war und dann
nach Salzburg verzog303. Margit von Vetsera verstarb 1945. Es gelang uns, Kontakt aufzunehmen mit den Nachkommen der Ankleidefrau von Nora, Nancy und Alitschi, Rosa „Roserl“ Wümmer304. Im Familienbesitz befinden sich neben einer Pate von Franz von Vetsera auch eine Fotografie von Margit Vetsera-Bissingen, das handschriftliche
Dienstzeugnis der Baronin vom 12. November 1919 sowie ein Monatsnotizbüchlein der Ankleidefrau aus dem Jahre
1916.
302
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
303
Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937
304
Wümmer, Rosa; geb. 09.12.1891 in Eferdingen/OÖ als 13. von 16 Kindern der Bindermeister-Familie Wümmer; von April
1914 bis November 1919 bei Gräfin Margit Vetsera in Dienst, d.h. in Payerbach und in Wien. Sie beendete das Dienstverhältnis,
als sie im Februar 1920 Anton Leib, einen Chauffeur von Kaiser Karl, heirateten. Sie bezogen zusammen eine Wohnung am
Rennweg, wo die gemeinsame Tochter, Maria Leib, zur Welt kam. Freundliche Mitteilung des Enkels Robert Schoppe, Wien, an
den Verfasser, 30.11.2003
60
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
10.
Marie Alexandrine Freiin von Vetsera
„Ein Wunsch an Dich, Geliebter!
Wenn endet mein Geschick,
Dann weih´ mir eine Thräne! –
´s war nur – ein Augenblick!“
Mary Vetsera
Herbst 1888305
Als 72. Eintrag des Jahres 1871 vermerkt Cooperator306 Eduard Audersky im Geburts- und Taufbuch des römisch-katholischen Pfarramtes St. Johann Nepomuk im II. Wiener Gemeindebezirk die Geburt und Taufe eines Mädchens, das den Vornamen „Marie Alexandrine“ erhielt. Als Geburtsdatum wird der 19. (ein Sonntag) und als Taufdatum der 27. März 1871 notiert. Der Vater: „Vetsera, Albin, Freiherr von, kath. Rel., k.k. Gesandter, gebürtig von
Pressburg, ehel. Sohn des Bernhard … [nach Fuhst, Herbert: „Mary Vetsera im Lichte ihrer Abstammung und Verwandtschaft“, Selbstverlag, Wien 1937 „Freiherrn“ von] Vetsera“. Die Mutter: „Helene geb. Baltazzi, evangelischer307
Rel., Tochter des Theodor Baltazzi, von Constantinopel gebürtig“. Die Patin: Maries Tante „Marie St. Julien, Marie
Komtesse St. Julien308“. Und unter Anmerkungen verzeichnete der Eintragende: „ Kruschinek Barbara, gepr. Hebamme, Wien I. B., Renngasse Nro. 2. Getraut laut … römisch-kath. Pfarre in Pera-Constantinopel“. Als Adresse des
Täuflings wird „Am Schüttel 11“ in Wien angegeben. Die Taufzeremonie durch den Priester Eduard Audersky fand
am 27. März, einem Montag, in der Pfarrkirche St. Johann Nepomuk309 statt. Als Taufgäste werden neben den Eltern,
dem sechsjährigen Bruder Ladislaus und der dreijährigen Johanna, das Ehepaar Marie Virginie und Albert Graf St. Julien, sowie Alexander, Charlotte und Eveline Baltazzi mit ihrem Verehrer Georg Graf Stockau310 vermerkt. Allerdings: Getauft wurde damals nicht über dem heute noch erhaltenen Taufbecken von 1846, sondern in der Sakristei der
Pfarrkirche.
305
Zwei Gedichte von Mary Vetsera – wahrscheinlich von ihrem Eislaufpartner Gundakar Wurmbrand weiter geleitet – erschienen „Grazer Illustriertes Wochenblatt (?)“, 2. Februarnummer 1889.
306
vicarius cooperator = Vikar oder Hilfspriester
307
Der Eintrag „evangelischer Religion“ ist falsch, es muss zu diesem Zeitpunkt „anglikanischer“ heißen
308
Baltazzi, Marie Virginie; geb. 01.12.1848 in Konstantinopel, gest. 22.11.1927 in Wien; 1. Ehe am 19.11.1866 in Wien geschlossen mit Johannes Albert von Saint-Julien Graf von Walsee, geb. 1811, gest. 10.02.1897 in Wien; geschieden 04.03.1875; 2.
Ehe am 05.09.1875 in Baden-Baden mit Otto Graf von Stockau, geb. 1835, gest. am 01.03.1890 in Napajedl
309
St. Johann Nepomuk, Praterstraße, 1020 Wien. Ab 1780 unter Baumeister Franz Duschinger als Nachfolgebau der hölzernen
Johannes Nepomuk-Kapelle erbaut, am 17.03.1782 geweiht und 1786 zur Pfarrkirche erhoben. 1841 aus Kapazitätsgründen abgerissen und unter Professor Carl Rösner (1804-1869) Neubau einer größeren Kirche, 18.10.1846 Weihe der neuen Kirche. Der von
Josef von Führich von 1844 bis 1846 gemalte Kreuzwegzyklus ist das wohl bedeutendste Werk der Kirche und besteht aus 14 240
x 185 cm großen Freskobildern. Diesen Kreuzweg findet man als Kopie in hunderten Kirchen in aller Welt.
310
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983
61
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Neben ihrer Geburt sind nur ihr letztes Lebensjahr und ihr Tod besser dokumentiert. Doch was lag in den
siebzehn Jahren dazwischen? Zusammenfassend kann gesagt werden, dass fast ausschließlich Alltägliches das Leben
der Marie Alexandrine Freiin von Vetsera bestimmte. Die ersten neun Jahre wuchs das Mädchen im elterlichen Haus
Am Schüttel 11 in der Umgebung der Wiener Praterauen auf. Drei Jahre lang fährt die Familie im Sommer nach
Gmunden ins Salzkammergut311, ehe die vierjährige Mary zusammen mit ihrem Bruder Feri die Sommermonate bei
ihrem Onkel auf dessen Gestüt Napajedl verbringen darf312. Nach dem Tode ihres Bruders313 wird sie im Trauerjahr
für eineinhalb Jahre zur Erziehung bei den Salesianerinnen angemeldet314. Da die Familie ab 1882 das Schloss
Schwarzau gemietet hatte, gehen künftig die Sommeraufenthalte ins Steinfeld – auch wenn diese nicht alle belegt
werden konnten315.
Im Herbst 1884 wird der Sommerurlaub unterbrochen und Mary ist als Blumenmädchen bei der Hochzeit ihres Onkels zu sehen316. Sie tritt, ebenfalls im Herbst, dem Wiener Eislaufverein317 bei, erlebt am 20. Februar 1886 zu
Fasching den ersten Ball im elterlichen Palais und im April wird sie als Gast der Weißen-Kreuz-Revue im Palais
Schwarzenberg genannt318. 1887 reist sie mit Familie nach London – und nach dem Tod des Vaters im Herbst gleichen
Jahres mit der Schwester und Mutter für drei Monate nach Kairo. Ab November 1888 – nach dem ersten gemeinsamen
Fototermin mit Marie Gräfin Larisch im Wiener Atelier Adele – ist Marys Leben nahezu komplett rekonstruierbar:
Aktivitäten in Wien319, ihre Reisen320, ihre Besuche beim Kronprinzen321 und ihre Fahrt nach Mayerling322.
Und ihr Wesen, ihre Art, ihr Aussehen?
…
Hartnäckig hält sich auch heute noch das Gerücht, Mary Vetsera habe den Witwe Michael von Braganza323
heiraten sollen.
Natürlich ranken sich auch um Mary Vetsera unzählige Legenden, von denen wir an dieser Stelle der Vollständigkeit halber einige wiedergeben. Der Schauspieler Jack Trevor324, als Anthony Cedric Sebastian Steane am 14.
311
Sommerfrische in Gmunden, Salzkammergut: 1872, 1873, 1874
Sommerfrische in Napajedl mit Feri: 1875
313
Ringtheaterbrand, Wien, 08.12.1881
314
Salesianerinnen, Wien, ab 1882 für 18 Monate
315
Sommerfrische auf Schloss Schwarzau am Steinfeld, Niederösterreich: 1882, 1883, 1887, 1888 (auch Bad Homburg)
316
Hochzeit Aristides Baltazzi, Wien, 08.08.1884
317
Der „Wiener Eislaufverein“ wurde 1867 gegründet und eröffnete 1913 seine neue KUNSTEISBAHN, um von schwankenden
winterlichen Temperaturen unabhängig zu sein.
318
Weißes Kreuz Revue, Palais Schwarzenberg, April 1886
319
Renntage in der Freudenau/Wien: 12.04., 06.05. und 23.09.1888; Diner mit dem Herzog von Braganza und Graf und Gräfin
Larisch im Palais Vetsera mit nachfolgendem Opernbesuch: 01.12.1888; Erster Wiener Abend-Korso auf der Ringstraße,
27.10.1888; Eröffnung des neuen Hofburgtheaters Wien: 14.10.1888; Verfassen eines Testaments: 18.01.1889; Besuch bei einer
Wahrsagerin in Wien: 25.01.1889; Französischunterricht im Palais Vetsera, Wien: 26.01.1889; Nachmittagsspaziergang mit der
Mutter in Wien und Aussprache (Auffinden des Testaments): 26.01.1889; Flucht aus dem Palais und Besuch bei der Gräfin Larisch im „Grand Hotel“, Wien: 26.01.1889; Praterausfahrt mit der Gräfin Larisch: 27.01.1889; Ball in der Deutschen Botschaft
Wien: 27.01.1889
320
Venedig: Februar 1888; Paris und London: Juli 1888; Reichenau: Oktober 1888
321
Besuche beim Kronprinzen in den Hofburg: 05.11., 11.12., 17.12., 21.12.1888 sowie 13.01., 19.01., 24.01. und 28.01.1889.
Treffen mit dem Kronprinzen im Prater: 19.01.1889
322
28.01.1889, 10:30 Uhr – Abfahrt Salesianergasse und spätere Fahrt nach Mayerling
323
Dom Miguel de Braganza, geb. 19.09.1853, gestorben am 11.10.1927 auf Schloss Seebenstein
312
62
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Dezember 1893 in London geboren, hatte in erster Ehe eine Frau namens Alma geheiratet, die der Liaison zwischen
dem Kronprinzen und der Baroness entstammen soll – und sich ein Jahr nach der Hochzeit das Leben nahm.
In Texas gibt es noch heute zwei Gräber, in denen auch eine Marie Vetsera bestattet wurde: In Plum, wo auf
dem alten katholischen St. Peter und Paul Friedhof im Jahre 1906 die am 12. September 1873 geborene Marie Vecera
beigesetzt ist und im nur wenige Kilometer entfernten La Grange in Fayette Country, wo sich das Grab der Familie
Vecera befindet325.
324
Trevor, Jack; eigentlich Anthony Cedric Sebastian Steane, geb. 14.12.1893 in London, gest. 19.12.1976 in Deal/UK. In zweiter
Ehe soll er mit der Witwe eines des reichsten Landbesitzers Englands verheiratet gewesen sein. In den 20-er Jahren kam Trevor
zum Film, siedelte 1925 nach Berlin über und spielte in Stummfilmen meist Adelige und Offiziere, später auch Nebenrollen im
Tonfilm. Bei Kriegsausbruch wurde er in seinem Wohnort Oberammergau in Deutschland von der Gestapo verhaftet und zur
Mitwirkung in antienglischen Propagandafilmen wie „Carl Peters“ und „Ohm Krüger“ (beide 1941) gezwungen. Nach Kriegsende
wurde er wegen Mitwirkung in diesen Filmen in England zu drei Jahren Haft verurteilt, nach drei Monaten jedoch begnadigt. Filme drehte er keine mehr.
325
Die noch heute existierenden Gräber waren bereits dem Kronprinz Rudolf-Forscher Hermann Zerzawy in den 50er Jahren des
20. Jahrhunderts bekannt.
63
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
A: Die Baltazzis
„Der Prinz of Wales … hatte vor allen Mitgliedern des Clubs
den Brüdern Baltazzi seine Achtung erbracht und damit
die letzten Schatten, die der Tod Marys auf ihre Onkel
geworfen hatte, vertrieben.“
Heinrich Baltazzi-Scharschmid
Wien, 1980
Neben fünf Schwestern326 hatte „Helene Vetsera vier Brüder: Alexander, Hector, Aristide und Henry, die alle
vorzügliche Reiter und Sportsmänner waren.327“ Da alle vier in der Causa Mayerling mehr oder weniger eng eingebunden sind, stellen wir an dieser Stelle kurz ihre Biographien zusammen. Alexander, Hector und zuletzt Aristides
Baltazzi verbrachten ihre Erziehung abwechselnd in England und im ungarischen Poszony (Pressburg, heute: Bratislava), wo sie um 1871 für einige Jahre eine große Wohnung in einem in italienischem Stil erbauten Haus des Prinzen
Arthur Rohan an der Ivan Simonyi-Lände Nr. 1 bezogen hatten328.
Freiherr Alexander329 war Besitzer des sagenhaften Rennpferdes Kisbèr330, das 1876 das Derby von England
gewann. In den Tagen der Katastrophe stand Alexander seiner Schwester Helene hilfreich zur Seite.331“ 1874 wurde er
326
Elisabeth „Lizzi“ (geb. 1845, gest. 1901), Marie-Virginie „Bibi“ (geb. 1848, gest. 1927), Eveline (geb. 1854, gest. 1901) und
Julia (geb. 1861, gest. 1869)
327
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
328
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
329
Baltazzi, Alexander Freiherr von, (geb. 16.05.1850, gest. 29.11.1914 in Wien) unverheiratet; beigesetzt in einer „Gruft mit 3
Stellen auf Friedhofsdauer“ auf dem kath. Friedhof von Payerbach/Rax. Das Sterbebuch der Pfarre Payerbach enthält keinen Eintrag über eine Beisetzung von Alexander Baltazzi in 1914. Nach einer Zeichnung von Fritz Judtmann im HHStaA erhielt die Gruft
einen Grabstein mit Kreuz und Tafel (Inschrift: Alexander Baltazzi geb. 16. Mai 1850 gest. 29. Nov. 1914“), der sehr stark an das
Grab der Baroness Vetsera in Heiligenkreuz erinnert. Die Grabstätte wurde am 22. März 1969 von der Familie Michelfeit nach
dem Tode von Josef Michelfeit für die Zeitdauer von 1970 bis 1980 um 1.500,00 Schilling eingelöst. Die Nutzungsrechte der zuletzt Nora Hoyos gehörenden Gruft verkaufte (unberechtigt) Heinrich Baltazzi-Scharschmid für 20 bis 22.000 Schilling. Daraufhin wurden die sterblichen Überreste von Alexander Baltazzi in einen Kindersarg gebettet und in der Gruft seiner Schwester
Helene erneut beigesetzt. Eine kuriose Erzählung kursiert in Payerbach: Im Bereich der Gruppe3, Reihe 6, Grab 4 (Gruft Lenneis,
jetzt Fasching) befand sich ein Sammelgrab mit den sterblichen Überresten aus 14 Adelsgrüften, die in einer viertägigen Aktion,
bei welcher der Friedhof u.a. wg. Geruchsbelästigung geschlossen blieb, ausgegraben und umgebettet wurden – darunter auch
Alexander Baltazzi; der für die Aktion zuständige Pfarrer Ritter verstarb nach Parkinsonerkrankung im Jahre 1986. Bestätigung
für diese Geschichte haben wir bisher offiziell nicht erhalten. Es stimmt jedoch, dass 1945 russische Soldaten in das Mausoleum
der freiherrlichen Familie Erlanger eindrangen, die Gruft öffneten und nach Wertgegenständen suchten.
330
Kisbér war der erste Deckhengst in Napajedl. Als Jährling wurde er für 5.160 Forint von den Brüdern Aristide und Alexander
Baltazzi ersteigert und ins englische Training gegeben. Auf den britischen Inseln zählte er schon als zweijähriger zur Elite seines
Jahrgangs, als er die Dewhurst-Stakes gewann. Ein Jahr später siegte er im Derby Stakes und später auch im Grand Prix de Paris.
Nach einem vierten Platz im Saint Leger ging er in die Zucht des Gestütes Park Paddock in Newmarket. Im Jahre 1886 kam
64
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
zusammen mit seinem Bruder Hector anlässlich einer Fuchsjagd bei Schloss Belvoir in England durch die Ex-Königin
von Neapel, Sisis jüngerer Schwester Marie, der Kaiserin vorgestellt. Mit seinen Brüdern Hector und Aristides zählt er
zu den Gründungmitgliedern des Jockeyclubs für Österreich332. Alexander hatte unter den Baltazzi-Geschwistern die
Stellung eines Wirtschafts- und Finanzexperten inne und kümmerte sich zur Zeit des Aufstandes in der Herzegowina
1875 um die Einnahmen aus dem Erbe von Theodor Baltazzi, hauptsächlich Ländereien und der Mautpacht der Brücke zwischen Galata und Stambul333. 1881 lebte Alexander Baltazzi in Konstantinopel334. 1887, nach dem Tode von
Marys Vater Albin Vetsera in Kairo, wurde Alexander Baltazzi zum Vormund der Minderjährigen Halbwaisen Johanna und Marie Ladislaus bestellt. Nach der Schreckensmeldung aus Mayerling fuhr er gemeinsam mit Georg Graf
Stockau ins Jagdschloss, musste dort die Tote identifizieren und überführte schließlich seine Nicht nach Heiligenkreuz, wo er bei ihrer Beisetzung mithelfen musste. Im März begleitete Alexander seine Schwester Helene erstmals
zum Grab nach Heiligenkreuz. Alexander Baltazzi dürfte nach den Ereignissen einen großen Teil dazu beigetragen
haben, dass neben den Mitglieder des Jockeyclubs auch Wiener Adelige durch Einsicht in Marys Briefe, ihre tagebuchähnlich geführten Kalender und die Denkschrift ihrer Mutter eine andere Sicht auf die Ereignisse bekamen335. Im
Herbst 1889 traf er im Club mit dem Prince of Wales zusammen, sprach mit diesem über die Affäre und beseitigte so
„die letzten Schatten, die der Tod Marys auf ihre Onkel geworfen hatte336“. Ebenso wie Hector Baltazzi wurde auch
Alexander bis in den Herbst des Jahres 1889 von Konfidenten der Polizei bespitzelt. Alexander Baltazzi starb am 24.
November 1914 im Wiener Sanatorium von Dr. Anton Löw337 trotz Notoperation an einem Blinddarmdurchbruch. Er
wurde in der griechisch-orthodoxen Kirche zur hl. Dreifaltigkeit am Wiener Fleischmarkt eingesegnet und auf
Wunsch seiner Schwester Helene in Payerbach beigesetzt.
Freiherr „Hector Baltazzi338 war ein waghalsiger Reiter und Spieler.339“ Bereits als 12-jähriger gewann er in
England ein Ponyreiten und mit 16 Jahren auf der Pressburger Bahn 1867 sein erster Turnier340. „Er war Herrenreiter,
Sport- und Pferdemann und Amateurjockey, der auch Pferde fremder Eigentümer ritt“ und zuletzt Trainer. Seine Vita
verzeichnet von über 568 Ritten auf 57 Rennplätzen in vier Königreichen insgesamt 184 Siege.341 In der Herrenreiterelite hatte er 1873 sowie in den Jahren 1881 bis 1886 den ersten Platz inne und gewann gleich drei Mal in den großen Wiener Steeplchasen sowie 1881, 1883 und 1887 das Steeplechase von Pardubice. Als Liebling des Publikums
Kisbér nach Napajedl, wo er für zwei Jahre verblieb. Danach ging er nach Bad Harzburg/Deutschland, wo er als Vater von drei
Siegern des Deutschen Derby einen guten Ruf hatte
331
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
332
Kaiserliches Wien…
333
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
334
Wiener Salonblatt, Nr. 51 vom 18.12.1881
335
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
336
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
337
Wien, 9. Mariannengasse 20
338
Baltazzi, Freiherr Hector von (lt. Judtmann „Hektor“), (geb. am 21.09.1851 in Theraphia bei Konstantinopel, gest. 02.01.1916
in Wien) verheiratet mit Anna Gräfin Ugarte (geb. 1855, Selbstmord im Mai 1901 in London), geschieden 1890; mit der minderjährigen Clementine Krauss (geb. 1876, gest. 1938) hatte er einen unehelichen 1 Sohn, den er jedoch gerichtlich anerkannte: Clemens Krauss, Dirigent und Operndirektor (geb. 1893, gest. 1954), 2 Enkel: Oktavian (geb. 1923) und Oliver Hector (geb. 1926,
gest. 2001); beigesetzt auf dem Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 82A, Reihe 7, Nr. 15. Hermann Swistun-Schwanzer kaufte um
8.000,00 Schilling von Heinrich Baltazzi-Scharschmid das der Familie Baltazzi-Stockau gehörende Gruftbegräbnis ab, um dort
beigesetzt zu werden.
339
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
340
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
341
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
65
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
und der Presse war er bis 1893 aktiv. Am 26. Dezember 1874 heiratete er im mährischen Jaispitz bei Znaim mit 23
Jahren Anna Gräfin Ugarte, eine Halbwaise, die bei der Hochzeit selbst erst 19 Jahre alt war. Hector verwaltete zunächst die Güter der Familie Ugarte, brachte das beträchtliche Kapital jedoch mehrfach durch leichtsinniges Glücksspiel durch und ließ sich 1890 scheiden. Um finanziell festen Boden zu bekommen, nahm er ein Angebot des Geldgebers des toten Kronprinzen Rudolf, des bayerischen Bankier Baron Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth, an und
übernahm einen Posten in der obersten Leitung seiner Rennställe in Franzreich und Belgien. Zunächst pendelte er
mehrmals jährlich zwischen Wien und Paris, löste jedoch nach dem Tode des Barons 1896 sein Wiener Junggesellendomizil in der Lothringerstraße 5 auf und übersiedelte 1897 nach Paris, wo er bis 1914 lebte und sich zuletzt als
Kunst- und Antiquitätenhändler über Wasser hielt342. Nach dem Eintritt Frankreichs in den Ersten Weltkrieg flüchtete
Hector über Spanien und Italien nach Österreich und quartierte sich zunächst im Wiener „Hotel Erzherzog Karl“ in der
Kärntnerstraße ein. Hector Baltazzi starb am 2. Januar 1916 im Lesezimmer des Jockeyclubs. 1903 erschien bereits in
Leipzig das Büchlein343 „Ungeschminkte Wahrheit über das Liebesdrama des Kronprinzen Rudolf und der Baronesse
Mary Vetsera“, in dem der Autor Stephan Maroszy behauptete, Hector Baltazzi sei von seiner Schwester Helene nach
Mayerling geschickt worden, habe dort den Kronprinzen als Liebhaber seiner Nichte zur Rede gestellt und sei von
diesem erschossen worden. Weiteres behauptet der Autor, in der Gruft in Heiligenkreuz sei Hector Baltazzi beerdigt,
während Mary in Venedig oder Pardubitz beigesetzt worden sei344.
Freiherr „Aristides Baltazzi345 war der bedeutendste der vier Brüder, da er die Liebe zum Pferdesport mit Genialität und Fleiß verband. Er war Besitzer des berühmten Gestüts Napajedl346 in Mähren.347“ Durch seine Heirat mit
342
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
343
Maroszy, Stephan: „Ungeschminkte Wahrheit über das Liebesdrama des Kronprinzen Rudolf und der Baronesse Mary Vetsera“, Leipziger Verlags-Comptoir, Leipzig 1903
344
Tatsächlich gibt es noch heute in Pardubice das Gerücht, dass kurz nach der Tragödie von Mayerling dort eine Kiste ausgeladen wurde, vor der Marie Gräfin Larisch kniete und betete – Maries Sarg!
345
Aristides, Freiherr von, (geb. 1853, gest. 24.10.1914 in Wien)m seit 1887 Bürger von Napajedl, zuvor Bürger von Pressburg/Bratislava verheiratet seit 08.08.1884 mit Maria Theresia Gräfin Stockau (geb. 1859, gest. um 1931), 1 Tochter: May (geb.
1885), verheiratet seit 1909 mit Ferdinand Graf Wurmbrand (geb. 1879), 2 Enkeltöchter: Maria (geb. 1914), Sophia (geb. 1917)
346
heute: Napajedla bei Zlin/Tschechien. Die Blütezeit von Napajedl endete mit dem Tod von Aristide Baltazzi 1914. Das Gestüt
konnte zwar noch Erfolge erzielen, dann aber kam die Krise. Der Grund dafür war nicht nur die schwere Nachkriegszeit, sondern
auch absichtlich verbreitete Gerüchte, dass sich im Gelände des Gestütes wertvolle Ölquellen befinden (Noch in den 80-er Jahren
des 20. Jahrhunderts wurden in der Umgebung Probebohrungen durchgeführt, doch es kamen nur geringe Ölmengen zu Tage).
Noch zu Lebzeiten veräußerte Aristides die Zuckerfabrik und für einen Aktienanteil er die Brauerei der Bierbrauerfamilie Braun
aus Ungarisch Hradisch. Diese Aktien wurden im 1. Weltkrieg gegen Kriegsanleihen getauscht. Nach dem Krieg konnte ein Drittel des Wertes gerettet werden. Zudem besaßen Marie und Aristides Aktien der Britisch-ungarischen Aktiengesellschaft, Wien.
Nach dem Zerfall der Monarchie wurden die Aktien erst nach der Begleichung des Kredits in der Höhe von 210.000 österreichischer Kronen sowie 5.000 Kronen Zinsen zum Verkauf freigegeben. Dazu war es notwendig, einen neuen Privatkredit bei Helene
Neubert in Wien aufzunehmen. 1919 kam es in der Tschechoslowakei zu Bodenreform, Marie Baltazzi verlor rund 1000 Hektar
Grund. So gehörten 1935 zum Großgut nur noch 360 Hektar Wald, Feld, Wiesen, Gärten und Grundstücken. 1921 betrug das Defizit 1.120.000 tschechoslowakischer Kronen, wobei die Summe Gnadenpensionen in der Höhe von 30.000 Kronen, Patronatsverpflichtugen gegenüber örtlichen Kirchen sowie Reparaturen, und Holzlieferungen in Höhe von 3.500 Kronen beinhaltete. Marie
Baltazzi musste wegen Inflation die Anhebung der Pacht und Miete einklagen. Das Gericht gab ihr Recht, doch die Schulden
wuchsen weiter. In diese Zeit fallen die Probebohrungen nach Ölvorkommen, die allerdings die Schulden noch vergrößerten. 1921
bewilligte die Cyril und Method-Sparkasse in Brünn einen weiteren Kredit in der Höhe von 1.650.000 tschechoslowakischer
Kronen gegen den Versatz des Wertpapierdepots (2.500.000 tsch. Kronen) und eines Brilliantendiadem im Wert von 556.000
Kronen. 1923 wurden alle Schulden mit dem Betrag von 11.075.000 tsch. Kronen bewertet. Die Inneneinrichtung des Schlosses
wurde zum Teil 1934 öffentlich versteigert, das Archiv im Rathaus für ein Museum deponiert. Die öffentliche Versteigerung des
Gutes wurde dann von der Mährisch-schlesischen Hypobank am 11. September 1935 durchgeführt. Nur der enormen Hingabe des
damaligen Gestütsleiters Eduard Gerscha ist es zu verdanken, dass Napajedl diese ernste Krise überstanden haben. Da eine große
Gefahr bestand, dass das wertvolle Zuchtmaterial im Ausland verschwand, griff das Tschechoslowakische LandwirtschaftsMinisterium ein und die Pferde wurden zum Staatseigentum. Die Initiative zum Ankauf ging von einem Angestellten des Ministeriums, dem Herrenreiter Bohumil Tichota (1942 von der Gestapo verhaftet und hingerichtet) aus. Der Schätzwert betrug
4.204.825 tsch. Kronen 60 Heller, der Ausrufpreis 2.850.000 Kronen. Das Schloss wurde auf 91.081 Kronen geschätzt, das Gestüt
66
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Maria Theresia „Mizzi“ Gräfin Stockau am 8. August 1884 in der Prälatenkapelle bei den Schotten in Wien wurde er
quasi Neffe seiner eigenen Schwestern Eveline und Bibi, die mit den Brüdern des Brautvaters Friedrich, Georg und
Otto Stockau, verheiratet waren. 1884 gab er zunächst alle Funktionen im Direktorium des Jockeyclubs auf und begann aus Schloss Napajedl, dem Erbe seiner Frau, mit der Errichtung eines Gestüts und eigener Zucht348. Marie und
Aristides bewohnten das im italienischen Barockstil zwischen 1764 und 1769 im Süden der Stadt errichtete Schloss
Napajedl349.
Bereits 1886 stellte er in Wien bei der Allgemeinen Pferdeausstellung seine ersten Hengste zum Verkauf vor.
Besondere Popularität in Rennkreisen errang er durch den Hengst Kisbèr, der nach seiner Rückkehr aus England ab
1886 auf seinem Gestüt als Deckhengst eingesetzt wurde350. Aristides war um die Jahrhundertwende wieder als Obmann des Renndirektoriums im Jockeyclub für Österreich tätig. Aus gesundheitlichen Gründen erwarb er um 1914 eine Villa in Abbazia. Von dort sterbenskrank in seine letzte Wiener Wohnung in der Belvederegasse 34 zurückgekehrt,
verstarb er am 24. Oktober 1914 an den Folgen des seit mehr als zwei Jahren quälenden Rückenmarksleiden im Restaurant des „Hotels Imperial“ in Wien.
auf 81.950, die Meierei in Prusinky auf 120.857, die Jagd auf 25.000 und die Fischerei auf 30.000 Kronen. Insgesamt wurde der
Preis von 3.200.000 tsch. Kronen erzielt. Das Gut und das Schloß kamen in den Besitz der Schuhfabrik Bata. Erst 1937 gelang es
dem Staat, die Grundstücke zu erwerben. Den zweiten Weltkrieg überlegte das Gestüt unter der Leitung von Dr. Ludvík Ambroz.
1945 wurde das Gestüt verstaatlicht und 1967 verwaltungstechnisch dem Gestüt Tlumacov (15 km von Napajedl entfernt) zugeschlagen. Bis 1989 war Napajedl die Nr.1 der tschechoslowakischen Vollblutzucht. Im Jahre 1976 wurde Dr. Lerche als Gestütsleiters durch Ing. Zdenek Hlacík abgelöst, der im Gestüt bis heute arbeitet. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Gestütes wurde ab dem 1.5. 1992 geschrieben, als Änderungen im Zusammenhang mit der Privatisierung die Existenz des Staatlichen Gestütes
Napajedl beendeten. Das Gestüt wurde zur einer Aktiengesellschaft mit dem Namen „Hrebcin Napajedla a.s.“. Mit dieser Entscheidung konnte man einerseits Spekulationen verhindern, gleichzeitig gab man Züchtern und Galoppfreunden die Möglichkeit
Aktien zu erwerben und sich somit an der weiteren Entwicklung des Gestütes zu beteiligen. Heute ist 75% der Aktien im Besitz
von fünf Aktionären, deren Interessen im Bereich der Fortsetzung der Traditionen des Gestütes liegen. Das leer stehende SchlossGebäude befindet sich aktuell im Besitz der ALIACHEM AG, die zwischen 1997 und 1999 eine teilweise Renovierung der Fassade durchführte. Nach 1945 wurden große Teile der Einrichtung des Schlosses gestohlen bzw. die Reste vom späteren Nutzer, dem
Volksbetrieb FATRA, verkauft. Noch heute finden sich in vielen Haushalten in Napajedla Einrichtungsgegenstände aus dem
Schloss; freundliche Mitteilung von Frau Renata Fleischner, 19.05.2006
347
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
348
Bereits Aristides Schwiegervater, Friedrich Graf Stockau, erbte mit Napajedl, das dessen Mutter in ihre 2. Ehe einbrachte, ein
mit 2.703.000 Gulden schwer belastetes Gut. Bei den Schulden machten Schenkungen, Apanagen, Stiftungen und Zuwendungen
an Familienmitglieder, Freunde, Angestellte und karitative Zwecke etwa 1.060.000 aus. Auch durch den Verkauf zahlreicher Güter, die Modernisierung der Landwirtschaft und neuer Kredite gelang es nicht, den Schuldenberg zu verringern. Als Friedrich Graf
Stockau 1884 ohne Testament verstarb, betrauten seine Töchter Marie und Pauline, verheiratete Gräfin Esterhazy, Maries Ehemann Aristides Baltazzi mit der Verwaltung von Napajedl. Aristides investierte zunächst 100.000 Gulden an Eigenmitteln. Bereits
1886 kaufte er seiner Schwägerin Pauline ihre Hälfte des unbeweglichen Besitzes um 1.460.000 Gulden sowie die Hälfte der beweglichen Erbschaft ab. Von der gesamten Erbmasse in der Höhe von 1.525.000 Gulden wurden verschiedene Schulden und
Verpflichtungen abgezogen, die auf Gut Napajedl lasteten, vor allem die Hälfte der Schulden, deren Höhe sich insgesamt auf
1.188.000 Gulden belief, weiteres z. B. Stiftungen für die Pfarrer in Napajedla Tlumacov, für die Armen, Apanagen für Familienmitglieder etc.
349
Schloss Napajedl: Im Erdgeschoss befanden sich 15 Wohnräume, 2 Vorzimmer, 1 Pförtnerraum, 3 Zimmer für Dienstpersonal,
1 große Küche, Kaffeeküche, Tafelkammer, 2 Vorratsräume, 1 Hauptstiegenhaus, Nebentreppe und 4 Toiletten. Im 1. Stock befanden sich 16 Salons, großer Ovalsaal, der in der Höhe bis zum 2. Stock reichte, 1 Vorsaal, Gang, 1 Vorzimmer, 1 Zimmer für
Adjutanten, Kapelle. Im 2. Stock 18 Zimmer, 2 Vorzimmer, Gang, 2 Bügelzimmer, 2 große Garderoben, 4 Toiletten. Zu den Nebengebäuden zählte: Pförtnerhaus an der Haupteinfahrt, Pförtnerhaus am hinteren Parktor, Orangerie und weitere Glashäuser, Wäscherei. Ursprünglich gehörte zum Schloss das Gestüt für acht Reit-, acht Zug- und zehn Zuchtpferde. Die Einnahmequellen lagen
neben der Land- und Forstwirtschaft in Vermietung der verschiedenen zum Gut gehörigen Häuser, Verpachtung der Maut und
vor allem in Betreiben der Zucker-, Ziegelfabrik und der Brauerei am Ort. Heute (2006) steht Schloss Napajedl für 3,5 Mio. Euro
zum Verkauf (18 Räume, 240 qm Wohnfläche, 6.600 qm Grundstück)
350
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
67
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Freiherr „Henry351 (Heinrich) widmete sich der Offizierslaufbahn und hatte als einziger der vier Brüder einen
Sohn, Heinrich, der heute352 in Baden bei Wien lebt.353“ Heinrich Baltazzi wurde 1858 in Theraphia bei Konstantinopel geboren und hatte zunächst Ambitionen, Architekt zu werden, doch bestimmte sein Vormund – Marys Vater Albin
Vetsera – für ihn die Militärlaufbahn, so dass er den Gymnasialzug am Wiener Theresianum besuchen musste354. In
den Jahren 1878 bis 1880 war er als Kadett Offiziersstellvertreter und Leutnant im Dragonerregiment Nr. 3 sowie im
Husarenregiment 5 „Graf Radetzky“ in Pardubitz, wo er fortan an der Trida Miru wohnte. 1886 trat er aus der Armee
aus und ließ sich in die Reserve versetzen, nahm 1888 an einer Waffenübung teil und wurde fortan als Oberleutnant in
der Reserve geführt. 1891 wird er wieder aktiv, tritt jedoch nach der Heirat 1896 in die Reserve zurück. In diesem Jahr
wird er in seiner Qualifikationsliste als „verschuldet“ bezeichnet. Ab der Hochzeit wohnt das Ehepaar in Wien im
„Hotel Imperial“ oder in der Giselastraße 7 (heute: Bösendorferstraße), bis das durch die Gattin in die Ehe gekommene Gut Tannenmühle bei Alt-Lengbach bezogen werden konnte. 1907 kaufte der k.u.k. Rittmeister das Schloß Leesdorf in Baden und ließ es durch Walcher Ritter von Moltheim restaurieren. Im Jahre 1889 war Henry Baltazzi militärisch nicht aktiv, wohnte vermutlich in Wien355 und weilte Ende Januar gerade auf Madeira356. Der Herzog von Parma357 sowie der Mayerling-Forscher Professor Hermann Zerzawy358 vertraten die These, Heinrich Baltazzi habe den
Kronprinzen in einem Raufhandel mit einer Champagnerflasche erschlagen. Letzterer berichtete gar, Heinrich Baltazzi
habe nach dem Kampf schwer verwundet sechs Monate lang auf Gut Petershof bei Baden gelegen.
Die Vita der vier Brüder Baltazzi belegt, dass Ihnen nach der Tragödie von Mayerling langfristig keine Nachteile entstanden sind. „Durch diese Einstellung eines großen Teils der adeligen Clubmitglieder (d.h. durch die Verurteilung von Rudolfs Verzweiflungstat, Anm. des Verfassers) gab es eben nur eine vorübergehende, kurz andauernde
Erschütterung in der gesellschaftlichen Stellung der Brüder Baltazzi. So dachte mein Vater (d.i. Henry Baltazzi, Anm.
des Verfassers) zum Beispiel auch nur im erste Schock der Situation, die er in Wien vorfand (…), als Blutsverwandter
der Todesgefährtin des Prinzen werde seine Stellung als kaiserlicher Offizier in der Armee nun eine entwurzelte sein.“
Alle vier Brüder waren über das Jahr 1889 hinaus geachtete Sportler und Geschäftsleute, die augenscheinlich nicht
mehr als Schuldige mit der Tat des Kronprinzen in Zusammenhang gebracht wurden, nachdem der Prinz of Wales
halb öffentlich Ihnen die Hand gereicht hatte.
351
Baltazzi, Henry (Heinrich) Freiherr von, (geb. 05.08.1858 in Theraphia (Grabsteininschrift: Therapia) , gest. 17.02.1929
Schloß Leesdorf/Baden; beigesetzt auf dem Helenenfriedhof/Baden) verheiratet seit 1897 mit Paula Freiin Scharschmid von Adlertreu (geb. 19.08.1866/Dornbach, gest. 22.09.1945), 3 Kinder: Pauline (geb. 1898), verheiratet mit Otto Freiherr von Skrebensky
(geb. 1887, gest. 1953), 4 Kinder; Heinrich (geb. am 01.06.1900 in Manzing, gest. am 15.03.1983 in Baden (NÖ), beigesetzt am
22.03.1983 auf dem Helenenfriedhof Baden), verheiratet mit Johanna geb. Kögl (geb. 02.05.1916 /Baden, gest. 21.03.1988), 1
Tochter: Christine (geb. 1944), verheiratet mit Bernhard Hollemann; Franziska (geb. 1903), verheiratet mit Constantin Bébis, 1
Tochter.
352
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich, ist am. am 15.03.1983 in Baden (NÖ) verstorben
353
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos – Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
354
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
355
Mitteilung von Hofrat Dr. Egger an Fritz Judtmann, Wien 27.03.1968; Nachlass Fritz Judtmann/HHStaA Wien
356
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
357
Wagemut, Karl: „Was ich im Elternhaus der Exkaiserin Zita von Österreich erlebte“, Dresden 1920
68
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeugen
B: Bombelles
„ Er war der treueste Diener zweier Herren,
die Oesterreich vermisst und bitter beweint hat.“
Wiener Salonblatt Nr. 31,
Juli 1889
Carl Albert Maria Graf von Bombelles359, der am 17. August 1832 in Turin geboren wurde, entstammt einem
nach der französischen Revolution von 1789 mit Marc Marie Marquis de Bombelles360 aus Frankreich nach Österreich
geflohenen und von Kaiser Franz Joseph am 12. Dezember 1880 in den Grafenstand erhobenen Adelsgeschlecht361.
Sein Vater, der von Fürst Metternich protegierte Heinrich „Heini“ Graf Bombelles, war Erzieher des künftigen Kaisers
und fungierte ab dem sechsten Lebensjahr Franz Josefs als dessen oberste Aufsichtsperson, „Primo Ajo“. Sein Onkel
Charles-René362, von Metternich als Obersthofmeister und Minister am Hof zu Parma vorgeschlagen, galt als Liebhaber der Erzherzogin Marie Ludovica363, als Erzherzogin Maria Louise seit 1810 als zweite Gattin Napoleon I. und vereidigte Regentin Kaiserin der Franzosen und Mutter des Herzogs von Reichstadt364. Carl Bombelles selbst war ab
1848 einer der engsten Spielgefährten des jungen Franz Joseph.
358
„Der Samstag“ 1967
Vater: Heinrich Franz Graf Bombelles (26.07.1789 Versailles – 31.03.1850 Savenstein/Unterkrain), Mutter: Sophia (Sophie)
Maria Johanna Fraser (1804 England -07.02.1884), Hochzeit: 1828 in Lissabon. Geschwister: Markus Heinrich Wilhelm
(18.10.1858, Opeka – 08.09.1912, Opeka), Maria Luise Sophia (29.07.1836; Hochzeit am 08.07.1860 in Laxenburg mit Richard
Graf von Elam-Martinicz), Sophie (30.10.1843; Hochzeit am 17.08.1870 in Vinica/Kroatien mit Victor Freiherr von Puthon). Aus
der ersten Ehe des k.k. Kämmerers Markus Graf Bombelles mit Maria zu Salm-Reifferscheidt-Raitz (05.06.1859, Wien –
29.06.1897, Opeka) entstammt der Sohn Joseph Hugo Markus Maria (26.05.1894 Opeka, 1942 oder 43 in kroatischer Gefangenschaft erschlagen. Mit seinem Tod erlöscht die Familie Bombelles im Mannesstamm; aus der zweiten Ehe von Markus Graf Bombelles entstammt die Tochter Ferdinandine (08.03.1904 Gries – 04.07.1984 Biot/Frankreich; Hochzeit mit Franz Graf von Marchant und Ansembourg, 20.10.1902 – 18.08.1982 Biot/Frankreich). Die Grafen Bombelles besaßen in einen Großgrundbesitz zwischen Vinica und Majerje, 10 km westlich von Varazdin. Auf Gut Zelendvor etablierte Graf Markus Bombelles einen Fasanenzucht und Fasanenjagd. Seit dem 2. Weltkrieg sind die Besitzungen jedoch nicht mehr im Familienbesitz.
360
Marc Marie Marquis de Bombelles, gestorben 1822 ; als französischer Resident am Reichstag erlebte er u.a. am 14.05.1782 die
Regensburger Erstaufführung von Schillers „Räubern“
361
Der Wahlspruch der Grafen Bombelles lautet „Pax decet“
362
Charles-René de Bombelles (1784-1856)
363
Marie Louise, Kaiserin der Franzosen, seit dem Wiener Kongress auch Herzogin von Parma, Piacenza und Guastalla, erstes
Kind des späteren Kaisers Franz II. (I.) und dessen zweiter Gemahlin Maria Theresia, Prinzessin beider Sizilien, geb. Wien
12.12.1791, gest. an einer „rheumatischen Brustfellentzündung“ in Parma 17.12.1847; beigesetzt in der Wiener Kapuzinergruft
(nach Hamann, Brigitte Hrsg. „Die Habsburger – Ein biographisches Lexikon. Piper Verlag, München 1988)
364
Marie Louise heiratete Napoleon im März 1810 Napoleon; nach seinem Sturz residierte sie ab 1816 in Parma, wo sie zunächst
mit ihrem verwitweten Reisebegleiter Adam Adalbert Graf Neipperg (1775-1829), den sie am 5. Mai 1821 heiratete, und nach
359
69
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Die Familie war in dieser Zeit in Kärnten ansässig, wo Carl sechs Klassen eines privaten Gymnasiums absolviert. Am 29. April 1849 tritt er dem 5. Husarenregiment „Graf Radetzky“ als Regimentskadett bei und wird am 25.
Mai 1849 zum Unterleutnant befördert. Am 26. Januar 1850 erfolgt mit dem Wechsel zum 1. Husarenregiment „Kaiser“ die Beförderung zum Oberleutnant. In den Jahren 1852 und 53 fährt er als Oberleutnant auf der Fregatte „Bellena“, auf der er am 12. März 1854 zum Fregattenleutnant befördert wird. 1956 und 57 reist er als Linienschiffsleutnant
und Ordonanzoffizier des Erzherzog Ferdinand Maximilian (bis 1860) auf der Fregatte „Radetzky“ nach England365.
Bis 1862 dem Marinekommandanten Erzherzog Ferdinand Maximilian zugeteilt, folgte er als Dienstkämmerer
dem Erzherzog nach Mexiko und tritt am 30. April in kaiserlich mexikanischen Dienst. Nach der Ermordung Maximilians wird Bombelles auf Grund seines Majestätsgesuches mit Wirkung zum 20. Juli 1867 als Linienschiffskapitän „ad
honores“ in den vorzeitigen Pensionstand erhoben. Am 31. Juli erhält er das Eiserne Kreuz II. Klasse366.
Bereits am 29. Mai 1869 wird Bombelles in den Präsenzstand der Kriegsmarine übersetzt und als Kommandant der Korvette „Minerva“ am 24. Oktober zum Linienschiffskapitän ernannt. In den Jahren 1870 und 71 findet er
beim Militärhafenkommandant Pola Verwendung. 1872 erhält er nach der Fahrt mit dem Avisodampfer „Miramar“
von London nach Pola das Ritterkreuz des Leopold Ordens verliehen und wird am 28. Oktober zum Dienstkämmerer
des Erzherzog Franz Karl ernannt, wo er bis zum 24. Juli 1877 in gleicher Anstellung verbleibt367.
Am gleichen Tag wird er nach Rudolfs Volljährigkeitserklärung als Geheimrat zum Obersthofmeister des
Kronprinzen ernannt und blieb in dieser Stellung bis zur Auflösung der Kammer368. Nach einer seinerzeit verbreiteten
Meinung war diese Bestellung an die Spitze des kronprinzlichen Hofstaates keine gute Wahl, den Bombelles sei ein
„ausgesprochene Lebemann und echter Höflingstyp“ gewesen369. Dennoch – oder gerade deswegen – scheint Rudolf
den Grafen gemocht zu haben, was u.a. ein umfangreicher Briefwechsel belegt. In seinem Prager Testament vom 15.
April 1879 bittet der Kronprinz Bombelles, „alle meine Schriften, Briefschaften und Papiere, die sich in meinen
Schreibtischen in Wien und Prag befinden“, zu vernichten. Bombelles wird nach seiner Ernennung zum Vizeadmiral
1888 schon bald nach Rudolfs Tod am 1. März 1889 pensioniert und mit dem Großkreuz des Leopoldordens ausgezeichnet370. Aus dem Nachlass des Kronprinzen erhält er eine Uhrkette.
Der k.k. Kämmerer a.D. und geheime Rat stirbt tief gezeichnet von seiner Krankheit und mit dem Segen der
Kirche versehen am Montag, 29. Juli 1889, um 14:00 Uhr im Alter von 57 Jahren an „Lungenblähung“ bzw. „Lungenentzündung371“ in Rodaun im späteren 23. Wiener Stadtbezirk Liesing. Laut Clemens M. Gruber gibt es „unidentifizierte Quellen“, nach denen Bombelles Selbstmord begangen haben soll. Ein ehemaliger Leibgardist berichtete in
der „Deutschösterreichischen Tageszeitung“ vom 2. Oktober 1927, dass Bombelles Tod eine „Affäre Redl Nr. 1“ gewesen sei, bei der man dem Grafen den Revolver auf den Tisch legte wie später bei Oberst Redl372.
Der Verstorbene wurde vom Vormittag des 30. Juli an, in eine Admiralsuniform gekleidet, in der kleinen,
schwarz ausgeschlagenen Totenkammer des Rodauner Friedhofes in einem offenen Metallsarg aufgebahrt. Am Fuße
dessen Tod mit Bombelles, den sie 1834 heiratete, lebte. Neipperg gebar sie noch vor der Eheschließung drei Kinder: Albertine
(1817), Mathilde (kurz nach der Geburt verstorben) und Wilhelm Albrecht (1819), den späteren Fürsten Montenuovo (ab 1864).
365
Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925
366
Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925
367
Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925
368
Außerhalb des Turnus wurde er bei Belassung seiner Anstellung im Dienste des Kronprinzen am 20. April 1879 zum Konteradmiral ernannt.
369
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
370
Wien, Marienarchiv, „Qualifikation“ zum Geschäftsstück des Kriegsarchivs Nr. 272/1925 vom 10.03.1925
371
„Wiener Salonblatt“ Nr. 31
372
Gruber, Clemens M:: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
70
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
des einfachen Katafalks standen vier Kränze: ein gelber Rosenkranz der Kronprinzessin-Witwe Erzherzogin Stephanie
sowie Kränze des Admirals Baron Sterneck, des Grafen Latour und des Grafen Hans Wilczek. Schriftlich kondolierten
der kaiserliche Generaladjutant Graf Paar, der Außenminister Graf Kálnoky, Ministerpräsident Graf Taaffe, Kriegsminister Freiherr von Bauer, Generalstabschef Beck, Oberstleutnant Graf Rosenberg und andere373.
Am 31. Juli wurde der Leichnam in Rodaun vom Ortspfarrer eingesegnet. An der Zeremonie nahmen Obersthofmeister Franz Graf Bellegarde mit Gattin, Admiral Baron Sterneck, Vizeadmiral von Eberan, Geheimrat Josef
Hoyos, die Hofdame Gräfin Chotek, Graf Széchényi, Graf Dubsky, Oberst von Bertevizy, Generalmajor Kodolitsch,
Linienschiffskapitän v. Littrow, Oberstleutnant Graf Rosenberg, Ordonanzoffizier Hauptmann Baron Giesl, Hofrat
Ritter von Klaps, die Regierungsräte beim Obersthofmeisteramt Poliakovits und von Rauch sowie einige Freunde des
Verstorbenen teil. Nach der Einsegnung bringt ein geschlossener Leichenwagen den Sarg zum Liesinger Bahnhof, von
wo er nach Grünhof im Warasdiner Komitat (Kroatien) überführt wurde. Am 3. August um 11:00 Uhr wird der Tote in
der Schlosskapelle abermals eingesegnet und im Anschluss in der Familiengruft beigesetzt374.
Am Tage nach Bombelles Tod empfing Rudolfs Witwe, Erzherzogin Stephanie, am Vormittag den langjährigen Kammerdiener des Grafen, Dionisio Radoslavich375. Er erstattete Bericht über die letzten Stunden seines Herren
und Stephanie entließ ihn mit den im „Wiener Salonblatt“ überlieferten Worten: „Sie haben einen guten Herrn verloren, ich begreife Ihren Schmerz.“
In der Sterbewohnung des Grafen hatte das Obersthofmeisteramt eine Nachlasssuchung vorgenommen und die
aufgefundenen Papiere in drei Paketen sichergestellt376 und dem Bezirksgericht Neubau übergeben377. Aus diesem
Verlassenschaftsakt stammen wahrscheinlich auch die Briefe des Kronprinzen an Bombelles aus den Jahren 1876 1888378 sowie die Qualifikationstabelle des Grafen. Aus dem Nachlass des Vizeadmirals stammen auch die vier Journale des Flügeladjutanten des Kronprinzen für die Zeit 24. Juli 1877 bis 30. September 1887 und 1. August 1884 bis
30. Januar 1889, die an eine Privatperson gelangen und von dieser durch das Obersthofmeisteramt käuflich erworbenen und dem Staatsarchiv übergeben wurden379. Ein Teil des Nachlasses soll an seine Schwester, Baronin von
Puthon380, gegangen sein bzw. an seine Haushälterin, Maria Friedberg Deutsch.381 Nach weiteren Informationen war
Bombelles auch als Verfasser und Komponist von Liedtexten, Lustspielen, Klavierstücken und Quartetten tätig, doch
konnten bisher keine Stücke namentlich identifiziert werden.
373
„Wiener Salonblatt“ Nr. 31
„Wiener Salonblatt“ Nr. 31
375
„Wiener Salonblatt“ Nr. 31
376
Wien, Bezirksgericht Neubau, 448 ex 1922
377
Heute befindet sich dieser Teil des Nachlasses wahrscheinlich unter der Signatur „Oberst-Marschall-Amt III b, Nr. 102 + 108“
im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien; HHStaA, Dr. Mraz an das Bezirksgericht Innere Stadt, Wien, 06.02.1996
378
Wien, HHStaA, KA 394 es 1899
379
Wien, HHStaA, KA 394 es 1899; dazu Kurrentakten Zl. 394/1889. Heute ist nur mehr der Band 3 für die Jahre 1884-1888 vorhanden, die übrigen Bände sind Kriegsverluste des II. Weltkrieges.
380
Sofie Bombelles (10.1843/Wien - 16.12.1828/Salzburg [Herzlähmung]) verheiratet mit dem Statthalter von Oberösterreich
(Dienstzeit 24.06.1890-13.02.1902) Freiherr Viktor von Puthon (03.03.1842/Wien - 11.01.1919/Salzburg [Arteriensklerose]).
Nach Ende der Amtszeit zog das Ehepaar von Graz nach Salzburg (bis 1902 Mirabellplatz 4, dann Haydnstraße 13). Das Ehepaar
Puthon wurde auf dem Friedhof III von Lambach, Gruft 155, beigesetzt. Ca. 1997 wurde die Gruft an eine Frau Rödig verkauft.
Die exhumierten Überreste wurden auf dem Friedhof I von Lambach links der Kirche an der Friedhofsmauer erneut beigesetzt und
eine Tafel mit den Namen oberhalb angebracht. Mitteilung von Stiftspfarrer Pater Pius Hellmair, Lambach 09.09.2002. Im Besitz
der Nachkommen von Viktor Puthon, die heute in England leben, befinden sich keine Aufzeichnungen oder anderen Gegenstände
aus dem Besitz von Carl Bombelles, freundliche Mitteilung von Lady Marie Crostthwaite-Eyre, Bramshaw, 29.01.2003. Das Familienarchiv auf Burg Clam konnte zwischenzeitlich noch nicht ausgewertet werden.
381
Gruber, Clemens M:: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
374
71
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeugen
C: Bratfisch
„Er ist ein
Quartalstrinker.“
Franz Freiherr von Krauß
02.02.1889
Was auf die Überlieferung des sogenannten Dramas von Mayerling zutrifft, trifft auch auf die Biographie vieler Zeitgenossen und Augenzeugen zu: Im Laufe der Jahre entstanden Legenden, Ungenauigkeiten und Verfälschungen. So auch auf die Vita von Josef Bratfisch zutreffend, „Hauseigentümer und Leibfiaker Sr. K.k. Hoheit des Kronpr.
Rudolf, Erzherzog von Österreich“382. An dieser Stelle wollen wir versuchen, den Lebensweg dieses Tatortzeugens
möglichst genau zu rekonstruieren. Zeitgenössische Informationen aus dem Leben des Volkssängers und Fiakers
sammelte der Lokalhistoriker Dr. Alfred Pick383, der am 16. Juni 1921 auch ein längeres Gespräch mit Bratfischs
Adoptivtochter Antonia, Gattin des Textilkaufmanns Konhäuser, führte. 1957 nahm der Mayerling-Forscher Hermann
Zerzawy mit der 86-jährigen „Toni“ Konhäuser ein Gedächtnisprotokoll auf. Darüber hinaus sind bislang wenige Details aus dem Leben des Kutschers, Sängers und „Wiener Originals“ bekannt.
Josef Bratfisch wurde am 26. August 1847 in Wien384 als Sohn der Johanna385 und des k.k. Riemermeisters
Franz Bratfisch386 geboren. Noch am gleichen Tag wurde seine Geburt in die Taufmatrikel der Pfarre Schottenfeld
eingetragen387. Einzelheiten aus den Jugendjahren Bratfischs und seine Geschwister, den Bruder Heinrich und die
382
Grabsteininschrift von Josef Bratfisch, Hernalser Friedhof/Wien, Gruppe K/130. Das auf seinem Grabstein montierte Bild
wurde mindestens 1-mal von Touristen entwendet und von der Wiener Fiakergesellschaft ersetzt.
383
Pick, Dr. Alfred, Oberlandesgerichtsrat und Lokalhistoriker, Mitglied der „Kronprinz Rudolf-Arbeitsgemeinschaft“ in Wien;
Pick hat nach Zerzawy, Hermann: „Vor 100 Jahren: Eine Welt ging auf – und bald unter“, Artikelserie in der „Neuen illustrierten
Wochenschau“ ab 20. Juli 1958 in Mayerling noch blutige Scheiben und Tapeten mit Blutspritzern gesehen – jedoch nicht im
Schlafzimmer
384
Apollogasse 14 (nach Zerzawy, Hermann: „Vor 100 Jahren: Eine Welt ging auf – und bald unter“. Artikelserie in der „Neuen
illustrierten Wochenschau“, ab 20. Juli 1958, war es die Apollogasse 8), Wien Bezirk Neubau. Die Wohnung des Bratfischs lag
im Parterre rechts des Haustores.
385
Johanna Bratfisch, geborene Rosenecker. geb. 1822 in Hausleiten, gest. 26.03.1865 mit 42 Jahren, beigesetzt am 28.03 auf dem
Schmelzer Friedhof. Nach ihrem Tode heiratete Franz Bratfisch Josefa Kraus (1822-21.01.1892), beigesetzt auf dem Wiener
Zentralfriedhof.
386
Franz Bratfisch, geb. 1820-16.08.1872, beigesetzt am 18.08. auf dem Schmelzer Friedhof, Sohn des Andreas Bratfisch aus
Breitenlee (ca. 1785 – nach 1831); Großvater: Josef Bratfisch, Viertellehner aus Breitenlee. Der Bruder von Franz Bratfisch, Michael, lebte ebenfalls in Wien, seine Nachkommen in Schweden.
387
Nachlass Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Pick (Zettelkatalog); der Nachlass wurde nach Picks Tod im Jahre 1937 im
Dorotheum angeboten und befindet sich heute im Besitz des Archivs der Stadt Wien
73
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Schwester Franziska „Fanni“388, sind bislang nicht überliefert. Erst ab Mitte der 80er Jahre – er lernte damals den
Kronprinzen kennen – gibt es wieder sichere Quellen über sein Leben.
Anlässlich einer Hofjagd hatte der Thronfolger im November 1887 das bekannte „Schrammel-Quartett“ nach
Schloss Orth an die Donau eingeladen389. Hierzu brachte Johann Schrammel seinen Freund, Josef Bratfisch, mit ins
Marchfeld, der als „Überraschungsgast“ den Abend musikalisch krönen sollte390. Rudolf soll über diese Gesangseinlage – und nicht zuletzt auch über die Natürlichkeit des Fiakerkutschers mit dem Spitznamen „Nockerl“391 – so begeistert gewesen sein, dass er ihm spontan das Du-Wort anbot und ihn in seinen Kreis aufnahm392. Fortan war Bratfisch
der private Fiaker-Lenker393 des Kronprinzen.
Zwei Besuche des Kronprinzen in der Parterre-Wohnung des Fiakers in der Loudongasse 52394 sind verbürgt.
Rudolf, der Hofküche und den kulinarischen Angeboten des „Sachers“ überdrüssig, ließ sich dabei gerne von Bratfischs zweiter Frau Johanna bekochen395. Zu Bier und Wein aß Rudolf – beim zweiten Besuch in Begleitung von Maria Caspar, gerollten Rostbraten und garnierten Liptauer, während der Hausherr pfiff und sang396. Bereits beim ersten
Besuch hatte Rudolf seinem Kutscher ein paar silbereingelegte Pistolen mitgebracht, die der Fiaker in seine kleine
Waffen- und Trophäensammlung einreihte397.
Wiederholt kutschierte Bratfisch den Kronprinzen in „privater Mission“ als dessen „Leibfiaker“, während Anton Pechtler für Hoffahrten sein „offizieller“ Kutscher blieb. Josef Bratfisch, der die Fiaker-Lizenznummer 104 hatte
und der seine Standplätze mit Leopoldstadt, Aspernbrücke und Ferdinandsbrücke angab, fuhr „offiziell“ in Anstellung
für den Fuhrwerksunternehmer Leopold Wollner398. Überliefert ist eine Episode, die von einer Ausfahrt des Thronfolgers mit seinem „Privatfiaker“ berichtet: Ein Sicherheitswachmann verlangte, Bratfisch solle wie andere Kutscher
langsam und im Schritt eine Straßenkreuzung passieren, worauf der Fiaker entgegnete: „Halt die Gosch´n, sonst hat
388
später verehelichte Ferdl
Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling“, Amalthea Verlag, Wien 1993
390
Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der
Stadt Wien“, 1963/64
391
Der Spitzname des Kutschers dürfte sich auf dessen Leibesfülle beziehen.
392
Markus, Georg: „Kriminalfall Mayerling“, Amalthea Verlag, Wien 1993
393
Fiaker, meist zweispännige Lohnwagen, wurden um 1670 in Wien heimisch, nachdem sie sich bereits in Paris und London bewährt hatten. Im Gegensatz zu den unnummerierten Stadtlohnwagen hatten die Fiaker auf drei Seiten deutlich eine weiße Nummer
zu tragen und hatten fixe Standplätze zugewiesen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Fiaker bestimmten Ordnungen unterworfen und sollten sich an vorgeschriebene Taxen halten. Im Laufe der Zeit wiesen die Wagen verschiedene Varianten auf, von
denen neben dem offenen und dem geschlossenen Fiaker, dem sogenannten „Coupé“, der „Einspänner“ oder „Comfortable“ oder
der für Überlandfahrten bestimmte „Landauer“ besonders bekannt. Quelle: „Drei Jahrhunderte Straßenverkehr in Wien“, Katalog
zur Sonderausstellung des Historischen Museums und des Archivs der Stadt Wien, Wien 1962
394
Heute Laudongasse, Wien VIII
395
Johanna Bratfisch, geborene Werli. Ihr erster Mann – aus dieser Verbindung brachte sie die Kinder Antonia und Johann mit in
die Ehe – ein gewisser Linka (a.a.O. Linke) – hatte sich ertränkt. Antonia verstarb in den 60er Jahren, ebenso wie ihr Bruder Johann (er war zunächst als Sattlerlehrling, später als Kutscher führ Bratfisch tätig), kinderlos.
396
Nachlass Judtmann
397
Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
398
Wollners Stallung lag in der Breitenfelder Gasse 13/Ecke Bennogasse im VIII Bezirk. Zeitweise fuhren für Wollner vier nummerierte und zwei unnummerierten sowie zwei einspännige Wagen. Die Stallungen des Unternehmens lagen im Erdgeschoss eines
1811 errichteten Eckhauses (655 Quadratmeter Grundstück) mit insgesamt acht Wohneinheiten und zwei Geschäftslokalen. Das
Gebäude wurde 1924 an Franz Wellner verkauft; Ende der 20er Jahre wurden die Stallungen zu Garagen umgebaut (Nachlass
Judtmann).
389
74
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
dir mei Gast `s Goldene Vlies um die Pappn“399. Über andere Fahrten – insbesondere jene mit der Vetsera – soll Bratfisch jedoch nie gesprochen haben400.
Bratfisch soll unter den vielen Kutschern, die bei Wollner in Lohn standen, jener mit dem elegantesten
„Zeugl“ und einer der feschesten Fiakerlenker seiner Zeit gewesen sein. Oft trug er eine lichte, quadrallierte Hose sowie einen Rock aus dunkelbraunem Samt und meist einen stets glatt gebügelten Zylinder. Bevor er auf den Kutschbock stieg, pflegte er Rock und Zylinder abzulegen und reinigte mit Bürste und Leder den Wagen und das Pferdegeschirr401.
Am 28. Januar 1889 bracht Bratfisch in Wien mit seinem Gespann Richtung Mayerling auf. Das alte Kassenbuch seines Arbeitgebers, das dessen Schwester Theresia führte, hatte für den Tag den Vermerk „Bratfisch fährt nach
Mayerling, 30 Gulden“402. In Mayerling hat Rudolf am Abend des 29. Jänner seinem Kutscher offenbar einen dickeren
Brief mit der Anweisung gegeben, diesen zu vernichten, falls die Nacht nicht ohne Störung vorbeiginge. Nach dem
Tod des Erzherzogs verbrannte Bratfisch den Inhalt des Umschlages, behielt jedoch den Begleitbrief mit dem Text
„Fürst Hohenlohe sendet beifolgende Depesche und frägt an, ob dieselbe verständlich ist. Antwort ist sofort in die
Burg zu senden, Rudolf“.
Nach der Tragödie soll Bratfisch vier Tage lang nicht zu Hause gewesen sein403, möglicherweise tauchte er bei
Bekannten in Salzburg unter. Nach seiner Rückkehr fand sich in seinem Besitz eine goldene Damenuhr mit Brillanten
an einer perlenbesetzten Sportkette mit eingehängtem Goldring. Diese soll die Vetsera Bratfisch in Mayerling mit den
Worten übergeben haben: „Nehmen Sie das zum Andenken, es ist ohnehin das letzte Mal“404. Die Uhr ging später gegen eine Ablöse an den Grafen Stockau, Marys Onkel.
Zu Beginn des Februars 1889 wurde Bratfisch mehrfach durch den Wiener Polizeipräsidenten Franz Freiherr
von Krauss einvernommen – ohne jedoch besondere Aussagen zum Tathergang zu machen; dies hatte er zuvor dem
kaiserlichen Obersthofmeister, Fürst Montenuovo, versichert405. Bis zum 2. Februar verhörte Krauss den Fiaker und
bot ihm an, einen anderen Aufenthalt zu nehmen. Zum Ende der Verhöre musste er jedoch dem Ministerpräsidenten
melden, weder Geld noch gute Worte könnten Bratfisch zum Verlassen der Stadt bewegen. Einzige Schwachstelle bei
dem aus Loyalität seinem toten Auftraggeber gegenüber so schweigsamen Kutscher war seine Leidenschaft: der Alkohol. Krauss: „Er ist Quartalstrinker"406. Aus diesem Grunde ließ ihn der Polizeichef auch zeitweise durch Agenten
überwachen. Noch in den 50er versuchte seine hochbetagte Stieftochter Toni vergeblich, gegen den Ruf ihres Vaters,
Alkoholiker zu sein, anzugehen407. Zeitgenossen berichteten, dass es nach der Tragödie von Mayerling „um Bratfisch
399
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968 nach Pick
Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
401
Kunschak, Leopold: „Steinchen vom Wege“, Typographische Anstalt Wien, o.D.
402
Der Eintrag ist nicht überprüfbar, da das Wollner´sche Kassenbuch im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurde.
403
Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
404
Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
405
Zerzawy, Herrmann, Protokoll mit Frau Antonia Konhäuser, zitiert u.a. bei Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
406
Krauss, zitiert in Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins
für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64
407
„Große Österreichische Illustrierte“, 24.02.1951
400
75
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
geschehen“ war: „Der einst so frohe und lebenslustige Mann wurde wortkarg wie ein Karthäusermönch, nie mehr hörte man ihn singen, nie mehr spielte ein frohes Lachen um seinen Mund.408“
Zum 14. März 1889 gab Bratfisch ein Angeld von 1.000 fl. für den Kauf eines Hauses409 der Maria Raidl in
Hernals, damals Annagasse 8 – jetzt Lacknergasse 8 - und übersiedelte in den 17. Wiener Gemeindebezirk. Der Kauf
selbst wurde am 18. März 1889 abgeschlossen410 und der restliche Kaufpreis bar beglichen.
Josef und Johanna Bratfisch hinterlegten am 24. Juli ein gemeinsames Testament zu wechselseitigen Gunsten411; Hintergrund mag gewesen sein, dass sich Bratfisch zu dieser Zeit als Kutscher selbstständig machte. Wie schon
zu Wollners Zeiten, ließ er auch weiterhin alle Reparaturen beim Sattler Czermak richten. Nach Meinung von Zeitgenossen hatte der Hof die Ausgaben für das Haus übernommen sowie aus den kaiserlichen Stallungen Pferde und Wagen bereitgestellt412. Ähnliches berichtet auch Wollners Sohn Egon413.
Am 16. Dezember 1892 starb Josef Bratfisch mit 45 Jahren in seiner Wohnung in den Armen seines Freundes,
des Fiakers Chochola, genannt Chocoladi414 und wurde in der Pfarrkirche „Zum heiligen Bartholomäus“ eingesegnet.
Das Totenschauprotoll415 nennt „Luftröhrenentartung“, eine Art Kehlkopfkrebs, als Todesursache416. Bestattet wurde
der Leibfiaker des Kronprinzen am Sonntag, 18. Dezember, „im eigenen Grabe417“ auf dem Hernalser Friedhof.
Im Nachlass des Kronprinzen fanden sich Schmuckstücke im Wert von 20 Gulden, Kleidung und Wäsche für
95 Gulden, Mobiliar um 155 Gulden, Pferde und Kutschierwagen im Wert von 840 Gulden und Realitäten für 13.104
Gulden. Von der Gesamtsumme wurden Schulden in Höhe von 8.827,06 Gulden abgezogen – inklusive zweier Hypotheken auf das Haus mit insgesamt 6.200 Gulden418, so dass im Nachlass 5.386,94 Gulden verblieben419. Nach der
Beisetzung mussten weitere offene Rechnungen – insgesamt 28 – für Arzt, Medikationen, Begräbnis und Grabstein
beglichen werden. Bratfisch litt wahrscheinlich bereits seit längerer Zeit am Krebs, da allein für Medikamente Rechnungen von über 200 Gulden vorlagen420.
Zwei Jahre nach dem Tode von Bratfisch wurden in der 69. Auktion der Firma A. Einsle421 unter dem Titel
„Aus dem Nachlasse des Johann Schrammel, Volkssänger, und Josef Bratfisch, Natursänger und Fiaker“ Teile seines
Nachlasses, darunter die Geschenke des Kronprinzen, versteigert. Der Erlös der Auktion kam der Witwe und den neun
Kindern des Johann Schrammel422 zu Gute423.
408
Kunschak, Leopold: „Steinchen vom Wege“, Typographische Anstalt Wien, o.D.
Kaufpreis von 9.762 fl. und 74 kr. wurde in bar beglichen
410
Kaufvertrag zitiert in Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64
411
Archiv der Stadt Wien, Bezirksgericht Hernals, IV-1672/1892, Fol. 5u.6
412
Kunschak, Leopold: „Steinchen vom Wege“, Typographische Anstalt Wien, o.D.
413
Kommerzienrat Egon Wollner (gest. 09.05.1985 im 85. Lebensjahr) an Fritz Judtmann, Wien 07.01.1966, zitiert in Judtmann,
Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968: „Dass Bratfisch von der Hofkanzlei einen größeren
Geldbetrag als Schweigegeld erhielt, steht für mich fest, da er sich meines Wissens und nach Erzählungen meines Vaters bald danach selbstständig gemacht hat.“
414
Nachlass Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Pick (Zettelkatalog), Archiv der Stadt Wien
415
Archiv der Stadt Wien, Totenschauprotokoll, 1892-B, Fol. 7957
416
Totenschauprotokoll, zitiert nach Hummelberger: „
417
Totenbrief des Josef Bratfisch im Besitz der Familie
418
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968
419
Verlassenschaftsabhandlungen Bratfisch, zitiert bei Hummelberger
420
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968
421
Firma A. Einsle, Sonnenfeldgasse 21; Auktionsdatum: 22. Januar 1894 und folgende Tage
422
Johann Schrammel, gestorben am 17.06.1893
423
Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der
Stadt Wien“, 1963/64
409
76
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Am 20. Juli 1923 verschenke dann Bratfischs Schwägerin, Amalia Bratfisch, das letzte Paar Handschuhe des
Kutschers an Dr. Pick424. Ein Jugendbildnis des 16-jährigen Kronprinzen befand sich im Besitz von Toni Konhäuser.
Heute finden sich im Heeresgeschichtlichen Museum „Arsenal“ in Wien zwei Geschenk Rudolfs an den Fiaker, eine
Spazierstock und eine Peitsche425. Das Historische Museum der Stadt Wien besitzt einen Stösser aus schwarzem Haarfilz426 und das Bezirksmuseum Hernals je eine Meerschaumzigarren- und Zigarettenspitze mit Bernsteinmundstück
und einen Galazylinder427. Darüber hinaus befinden sich in Familienbesitz: ein goldener Siegelring mit Blutstein und
Waffen, Geschenke des Kronprinzen. Außerdem besitzt die Familie zwei Pfeifenköpfe428, einen bernsteinfarbenen Zigarettenhalter, ein Paar Lederhandschuhe und zwei Paar weißer Baumwollhandschuhe. Eine Krawattennadel des Fiakers wurde im April 2002 im Dorotheum versteigert429. Der Pferdeschlitten430 von Josef Bratfisch könnte sich im Besitz der Fahrzeug- und Schlittensammlung des Weinviertler Museumsdorfes in Niedersulz befinden. Am 19. September 1950 würdigte die Stadt Wien ihren wohl bekanntesten Kutscher mit einer Gedenkfeier: Am Hause Lacknergasse
60 wurde eine Gedenktafel für die drei Altwiener Fiaker Karl „Hungerl“ Mayerhofer, Franz „Schuster-Franz“ Reil
und Josef „Nockerl“ Bratfisch enthüllt.
Mit Josef Bratfisch starb 1892 ein äußerst einfacher, honoriger Mann, den der Kronprinz – vielleicht mit mehr
Berechtigung als viele andere – seinen Freund nannte. Davon soll auch eine Uhr zeigen, in die der Erzherzog die Worte „Von Deinem Freund Rudolf“ gravieren ließ431. Welche Rolle Bratfisch in Mayerling spielte, wird an anderer Stelle
beleuchtet.
424
Nachlass Oberlandesgerichtsrat Dr. Alfred Pick (Zettelkatalog), Archiv der Stadt Wien
Heeresgeschichtliches Museum der Stadt Wien, Katalog zur ständigen Ausstellung des „Arsenals“
426
Stösser (melonenartiger Hut), Weite 54,4 Zentimeter; der Hut stammt aus der Sammlung Otto H. Schick und wurde vom Verein für Kultur und Mode 1968 der Firma „Hut Schick“ abgekauft. Quelle: „Kultobjekte der Erinnerung“, 185. Sonderausstellung
des Historischen Museums der Stadt Wien, 1994/95
427
Bezirksmuseum Hernals, Wien 17, Elterleinplatz. Der oben zitierte Brief unter der Überschrift „Bratfisch brach vor seinem
Tod das Schweigen“, veröffentlicht im „Montagmorgen“, Wien 19.06.1950, und eine ebenfalls dort erwähnte Erinnerungsmedaille aus dem Besitz des Kutschers sind nicht mehr in den Hernalser Museumsbeständen nachweisbar, gelangte jedoch über einen
Freund Bratfischs an den Gatten der langjährigen Museumsleiterin, Professor Stephanie Zabusch
428
Meerschaumpfeife mit Frauenkopf und Holzpfeifenkopf aus dem Jahre 1819
429
Dorotheum, Los 245 der Auktion „Kaiserhaus und Ballspenden“, Wien 09.04.2002: Silber, mit grünem Stein, Länge 8 cm, dazu Herkunftsbeschreibung: „Diese Krawatten Nadel war Eigentum des Leibfiakers Kronprinz Rudolfs (Bratfisch), der sie meinem
Bruder Rudolf Schneider, Wr. Fiaker genannt „Papierene“ zum Präsent machte.“ 1948 wurde die Nadel von Schneiders Bruder
einem Karl Finz zum 55. Geburtstag überreicht.
430
Hierbei handelt es sich um einen bürgerlichen, reich verzierten Schlitten aus dem Biedermeier mit der rückseitigen Jahreszahl
1838. Einen Beweis seiner Authentizität gibt es jedoch nicht.
425
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeugen
D: Maria Caspar
„Was von Geld sich vorfindet
bitte ich alles Mizi Caspar
zu übergeben“
Kronprinz Rudolf an
Ladislaus von Szögyény-Marich
Wien, 1889
Die letzte Nacht in Wien vom 27. auf den 28. Januar 1889 verbrachte Rudolf mit und bei seiner langjährigen
Freundin Maria Caspar432, die er „Mizi“ nannte. Lange Zeit war die Beziehung des Kronprinzen zu Maria Caspar wenig bekannt – oder wurde von Biographen und Autoren als unwichtig angesehen. Mitis433 erwähnt sie 1928 kurz und
ohne biographische Angaben, da sie in der Hoyos-Denkschrift erwähnt wird434. Viktor Bibl435 erwähnt Caspar 1938 im
gleichen Zusammenhang und Carl Lónyay436 bezeichnet sie 1949 als „Rudolph´s girl friend“. Selbst Albert E. J. Hollaender437 erwähnt 1957 ihren Namen nur unter Zitierung des Kraus-Aktes, der 1955 als „Mayerling-Original“ veröffentlicht worden war. Erst die Veröffentlichung von Dr. Rudolf Neck438 1958 macht ihre wichtige Stellung im Leben
des Kronprinzen deutlich – im Schreiben an Ladislaus Szögyény-Marich nennt der Kronprinz als Empfänger seiner
vier Abschiedsbriefe an letzter Stelle Mizi Caspar. Der dritte Abschiedsbrief an Baron Hirsch war bis zu diesem Zeitpunkt sogar gänzlich unbekannt, steht aber in enger Verbindung zum Schreiben an die Caspar439. Dass Rudolfs
431
Nach Florian Meißner, zitiert bei Hummelberger, Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch – Biographische Notizen“, Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, 1963/64
432
Caspar, Marie (eigene Schreibweise laut Testament) – auch Mizi oder Mitzi Caspar oder Maria Kaspar; der Polizeiinformant
„Milarow“ nennt sie „Mizerl“. Marie Larisch macht aus ihr gar eine „Mizzi Hauser“, da die Legende des Findelkindes seinerzeit
oft besprochen wurde (siehe auch Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch ... Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee - Vertraute der
Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1988)
433
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
434
„Fräulein Maria Kaspar wurde im letzten und vorletzten Lebensjahr vom Kronprinzen öfter gesehen und auch zu den in militärischen Angelegenheiten nothwendigen Reisen oft mitgenommen und in den betreffenden Nachtquartieren gesehen (Zeuge
Oberstlieutenant Graf Orsini Rosenberg).“ zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, InselVerlag, Leipzig 1928Im Februar 1887 begleitete Maria Caspar den Kronprinzen bei einem Garnisonsaufenthalt nach Enns, Quelle: Franz Ferdinand an Rudolf, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 19, Enns 17.02.1887
435
Bibl, Viktor: „Kronprinz Rudolf“, Gladius-Verlag, Leipzig/Budapest 1938
436
Lonyay, Count Carl: “Rudolf – The tragedy of Mayerling”, Hamish Hamilton, London 1950
437
Hollaender, Albert E. J.: „Streiflichter auf die Kronprinzen-Tragödie von Mayerling“, Festschrift für Heinrich Benedikt, Wien
1957
438
Rudolf Neck, Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von
der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501
439
Augenscheinlich hatte Rudolf nur mit seiner Hilfe erreichen können, dass Maria Caspar nach seinem Tode finanziell unabhängig blieb.
78
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Schwägerin, Louise von Coburg440, 1926 behauptete, „dass Rudolf mit der von der Polizei unablässig inviglierten
Soubrette Mitzi Kaspar bis zum frühen Morgen vor seiner Abreise nach Mayerling Beziehungen unterhielt“ schien zu
keiner Zeit einem Biographen von besonderer Wichtigkeit.
Marie Caspar wurde am 28. September 1864 in Graz geboren, besuchte die Volksschule und spielte 1877 bis
1879 in ihrer Heimatstadt am Theater ein paar Kinderrollen441, ehe sie mit ihrer Mutter Anna442 nach Wien übersiedelte443. Sie war aber weder „ehemalige Tänzerin444“, eine „Tänzerin der Staatsoper445“ noch „Tanzsoubrette446“ oder
„Malermodell447“, wie oft behauptet wurde. Judtmann nennt sie „eine Dame der Demimonde“, andere Autoren eine
„Halbweltdame448“. „Sie war eine rassige Erscheinung mit dunklem Teint, von natürlichem Wesen, der Rudolf sehr
offenherzig seine Ansichten mitteilte.449“ Auch Erzherzog Franz Ferdinand schwärmte von ihr als „eine[r] wunderschöne[n] Frau450“, während Erzherzogin Stephanie sie in ihren Memoiren lange nach Rudolfs Tod als „grande cocotte von Wien“ bezeichnete. Hierzu gibt es eine – nicht sicher verbürgte – Episode, nach welcher zur „Rushhour“ ein
Hofwagen neben dem in der Nähe des Hauses in der Wieden wartenden Fiaker Bratfisch anhielt, die Kronprinzessin
ausstieg und mit Bratfisch zurück in die Burg fuhr. Der nun vor dem Hause stehende Hofwagen lockte hunderte
Schaulustige an, die den Kronprinzen dann beim Verlassen des Hauses stürmisch begrüßten451.
Nach übereinstimmenden Berichten lernte Rudolf Marie Caspar 1886 kennen, „nachdem er aus dem ehelichen
Schlafzimmer ausgesperrt worden war.452“ Er dürfte sie im Wiener Etablissement der Kupplerin Wolf kennen gelernt
haben.453 Auf jeden Fall war er 1887 und 1888 öfters mit Caspar gesehen worden. Salvendy454 vermutet, dass der
Kronprinz in Marie Caspar nicht nur „eine angenehme Abwechslung von dem steifen und formellen Gehabe Stephanies und des ganzen Hofes“ fand, sondern auch sexuelle Befriedigung - sie blieb bis zu seinem Tode seine ständige
Mätresse. Allerdings soll – nach Konfidentenberichten – Rudolf in jenen Jahren nur nach dem Genuss von reichlich
440
Coburg, Luise von: „„Throne die ich stürzen sah“, Amalthea-Verlag, Wien 1926
Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
442
Caspar, Anna geb. Safran, Mutter der Marie Caspar
443
Weissensteiner, Friedrich: „Frauen um Kronprinz Rudolf“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1991
444
„Das Mayerling-Original – Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums - Facsimilia der Dokumente - Der authentische Bericht“,
Wilhelm Frick-Verlag, München 1955
445
Andics, Helmuth: „Mayerling und kein Ende“, in: Neues Österreich, Wien 30.01.1949
446
„Das Mayerling-Original – Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums - Facsimilia der Dokumente - Der authentische Bericht“,
Wilhelm Frick-Verlag, München 1955
447
Fugger, Fürstin Nora: „Im Glanz der Kaiserzeit“, Wien 1932: ein „auffallend hübsches Mädchen, das von Künstlern oft gemalt
wurde“, zitiert bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
448
Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
449
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
450
zitiert in: „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Ausstellungskatalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen
Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989. Franz Ferdinand an Rudolf, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 19, Enns 17.02.1887
451
Hamann, Brigitte: „Kronprinz Rudolf – Der Weg nach Mayerling – Eine Biographie“, Goldmann Verlag, 2. Auflage, München
1983
452
Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
453
Brigitte Hamann nennt dieses extravagante Bordell den „vornehmsten Salon Wiens“, was jedoch übertrieben erscheint. Nachforschungen über Frau Wolf, die Peter Broucek für seinen Artikel „Kronprinz Rudolf und k.u.k. Oberstleutnant im Generalstab
Steininger“ in den Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 26, 1973, im Allgemeinen Verwaltungsarchiv Wien, im
Archiv der Polizeidirektion Wien, im Niederösterreichischen Landesarchiv sowie im Archiv des Landes und der Stadt Wien
durchführte, brachten kein Ergebnis. Nach einem Brief Rudolfs an Steininger, Wien 09.04.1887, hatte neben seinem Schwager,
Prinz Philipp von Coburg, auch der preußische Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm II., Kontakt zur Kupplerin Wolf und
dieser auch einen handschriftlichen Brief zugesandt, den der Kronprinz seit ca. 1882 besaß.
454
Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
441
79
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Champagner zum Liebesakt fähig gewesen sein: „Mizi sagt, der K. R. war impotent und nur dann zum Coitus fähig,
wenn er Champagner getrunken hatte.455“
Rudolf dürfte tiefes Vertrauen zu Maria Caspar gefasst haben. Im Krauss-Akt heißt es: „K. R. äußerte sich zu
Mizzy: Er scheißt auf die Regierung und der Franzl [Franz Ferdinand] solle die Geschichte fortmachen.456“ Mit Marie
Caspar war Rudolf auch bei der Familie seines Kutschers Josef Bratfisch zu Gast, wie dessen Tochter Antonia Konhäuser am 15. Juni 1921 zu Protokoll gab: „Kronprinz Rudolf war mit der Caspar sehr oft abends im Hause Bratfisch
zu Gast und aß dort deftige Hausmannskost: am Dienstag Zwiebelrostbraten und am Freitag Blutwurst mit Sauerkraut457“. Seine Liebe drückte Rudolf u.a. in den für Mizi gedichteten Couplets zur Melodie „Das was nur a Weaner“
und „Das hat ka Goethe gschrieben, das hat ka Schiller dicht“ aus. Darin heißt es u.a.
„Zur schwarzen Mitzi sagt a Herr ganz leis
Mei Schatzerl `s Herz brennt für Dich gar so heiß.
Sei mir mitsamm´ bekannt auch schon sehr lang,
So ist uns doch für d´ Zukunft no nit bang,
Denn wenn auch Eifersüchtige uns trennen woll´n
Sag m´r höchstens arm Tschaperl´n, die ihr seid
Denn mir kennen uns ja doch gar zu gut
Wir zwei Echten vom Weanerblut.458“
Nach der Denkschrift des Grafen Hoyos fand das letzte Treffen der Beiden in der Hofburg statt. Er beruft sich
auf eine Meldung des Burghauptmanns Kirschner, dass der Kronprinz „die letzte Nacht in Wien vom 27. auf den 28.
Jänner in der Burg selbst mit der ihm längst bekannten Frl. Mitzi (Marie Kaspar) zugebracht459“ habe. Im Akt des Polizeipräsidenten Baron Krauß liegt jedoch ein Bericht des Polizeikonfidenten Dr. Florian Meißner460, der durch die
„Kupplerin“ Wolf Informationen von Mitzi Caspar bezog461. Darin heißt es im Gegensatz zu Hoyos: „Montag den
28/1.1889 war E. R. [Erzherzog Rudolf, Verf.] bei Mizi bis 3 Uhr morgens, trank sehr viel Champagner und gab dem
Hausmeister 10 f. Sperrgeld462. Als er sich von Mizi empfahl, machte er ganz gegen seine Gewohnheit ihr an der Stirn
das Kreuzzeichen. Von Mizi fuhr er (direct?) nach Mayerling. (…) Vom Erschießen sprach K. R. seit Sommer 1888.
455
Faksimile in Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Krauss-Akt, Folio 121, zitiert bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
457
Protokoll von Dr. Alfred Pick, zitiert bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
458
zitiert in Hamann, Brigitte: „Kronprinz Rudolf – Der Weg nach Mayerling – Eine Biographie“, Goldmann Verlag, 2. Auflage,
München 1983
459
zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
460
Meissner, Leopold Florian, k.k. Regierungsrat, Hof- und Gerichtsadvokat, Ehrenbürger von Währing; geb. 10.06.1835/Wien,
gest. 29.04.1895/Wien; verheiratet mit Fanny, geb. Diemer, Bundesvizepräsidentin der österr. Gesellschaft vom Roten Kreuz
(gest. 06.1910); Erzähler, Polizeikommissär von 1870-1872, dann pensioniert und als Rechtsanwalt bzw. Informant des Polizeipräsidenten tätig. Veröffentlichungen: „Weihnachtsspiele“ (1896), „Aus den Papieren eines Polizeikommissars: Wiener Sittenbilder“, Verlag Philipp Reclam jun., 5 Bände, Leipzig 1892. Das Buch diente 1895 dem Komponisten Wilhelm Kienzle (geb.
17.01.1857 Waizenkirchen /Oberösterreich, gest. 03.10.1941/Wien) als Stoff seiner Oper „Der Evangelimann - Musikalisches
Schauspiel in zwei Aufzügen. Nach einer in den Erzählungen `Aus den Papieren eines Polizeicommissärs` von Dr. Leopold Florian Meißner mitgeteilten Begebenheit“. Nach Meißner wurde im 19. Wiener Gemeindebezirk der Dr.-Meißner-Park an der Koschatgasse benannt.
461
Salvendy vermutet, dass der Kronprinz der Caspar voll vertraute; sicher war es ihr nicht bewusst, dass die Mitteilungen an die
„Wolf“ direkt über den Agenten Meißner beim Polizeipräsidenten landen würden.
462
Der Hausmeister als Informant wurde später von Marie Caspar entlassen und schimpfte fortan über sie als „die Huren Bagage“;
zitiert nach Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
456
80
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Er machte auch der Mizi den Vorschlag, sich mit ihm im Hußaren Tempel463 zu erschießen. Mitzi lachte darüber u.
glaubte es auch nicht wahr als er ihr montags, den 28./1.1889 sagte, er werde sich in Mayerling erschießen … K.R.
äußerte sich Mizi gegenüber wiederholt, aber immer erst seit dem Sommer 1888 – er erheische seine Ehe, dass er sich
erschieße. Warum er seine Ehre erheische, detaillierte er nicht näher – also ist ein amerikanisches Duell nicht ausgeschlossen. Übrigens soll K.R. sehr verschuldet gewesen sein, die Möbel der Mizi sind nicht bezahlt und er soll bei Baron Hirsch bedeutende Summen geborgt haben.464“ Krauß übernahm Meißners Meldung und notierte, er habe diese
am 3. Februar an den Ministerpräsidenten Graf Taaffe weitergeleitet465. Ob der Bericht der Hoyos-Denkschrift stimmt
oder Meißner Recht hat, ist nicht klar – von Bedeutung ist nur, dass der Kronprinz die letzte Nacht vor der Abreise
nach Mayerling mit Marie Caspar verbrachte. Das Wohnhaus der Dame lag im 4. Bezirk, Wieden, an der Heumühlgasse 10466.
Auch nach seinem Tode hatte Rudolf für „Mizi“ gesorgt: An Szögyény-Marich schrieb er ins einem Kodizill,
„Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben. Mein Kammerdiener Loschek weiß ihre Adresse genau.467“ Zudem hinterließ er ihr einen „letzten, von Liebe überströmenden Brief468“, den er über den Sektionschef zugestellt wissen wollte. Über die Summe, die der Caspar ausgefolgt wurden, gibt es verschiedene Angaben:
Hoyos berichtet unter Bezug auf Erzherzog Otto, sie habe sich um 60.000 Gulden ein Haus auf der Wieden im 4. Bezirk gekauft469; Slatin erwähnt in seiner Denkschrift, dass die im Schreibtisch aufgefundenen 30.000 Gulden „einer
Dame zweifelhaften Rufes“ ausgefolgt wurden; Krauß erwähnt, Taaffe habe bemerkt, „der Kronprinz habe Mizi
10.000 Gulden vermacht470“. Nach Spekulation von Hoyos war das Geld – der mit 100.000 Gulden beschriftete Umschlag soll nur 30.000 Gulden enthalten haben – durch den Prinzen Louis Eszterházy471 bei Baron Hirsch beschafft
worden, damit das kronprinzliche Sekretariat davon nichts erfahre. In Maria Caspars Nachlass befand sich „einige
Barschaft, Spareinlagen und Wertpapiere per ca. 100.000 Kronen, einige Pretiosen etc.472“ Und: „Das Secretariat des
Kronprinzen war nicht wenig über[r]ascht, vor kurzem eine quittierte Rechnung per 1500 fl. von einem Juvelier zuge-
463
Husarentempel, ältestes Kriegerdenkmal Österreichs, 1812/1813 als dorischer Tempel in der Brühl (Briel) auf dem 494 Meter
hohen Kleinen Anninger von Josef Georg Kornhäusel (geb. 17.01.1857/Waizenkirchen/OÖ, gest. 03.10.1941/Wien) im Auftrag
von Johann I. Joseph Fürst Liechtenstein (geb. 26.06.1760/Wien, gest. 20.04.1836/Wien) zur Erinnerung an die in den napoleonischen Kriegen gefallenen österreichischen Soldaten erbaut; Inschrift: „Für Kaiser und Vaterland. Den ausgezeichneten Völkern
der österreichischen Monarchie gewidmet.“
464
zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 sowie in
originaler Diktion bei Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des
Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64
465
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Maria Caspar wohl bereits im Herbst 1888 von Rudolf gefragt worden
war und sie dies – ggf. über den Umweg Wolf/Meißner – an den Polizeipräsidenten meldete – jedoch bis Ende Jänner 1889 nichts
geschah. Vielleicht legte der Polizeipräsident doch keinen großen Wert auf die Aussage eine Dame aus der Halbwelt?
466
Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen
Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64. Im Haus Heumühlgasse 9, nach einer seit dem 13. Jahrhundert hier nachweisbaren erzbischöflichen Heumühle auch „Zur Heumühle“ genannt, starb 1925 der Salonkapellmeister Cal
Wilhelm Drescher. Über den Erwerb des Caspar-Hauses spekulierte am 06.01.1957 die „Neue Illustrierte Wochenschau“ aus
Wien, nach deren Bericht Rudolf in den Tagen vor der Tragödie von Mayerling 100.000 Gulden erhalten habe, weil er Baron
Hirsch dem Prinzen von Wales vorgestellt haben soll – 60.000 Gulden von diesem Geld erhielt demnach Maria Caspar. Diese
Darstellung ist falsch. Ab 1887 ist bei Anna Caspar, der Mutter von Maria, als Adresse Heumühlgasse 10 angegeben. Dort wohnt
sie bis 1891. Der Kauf des Hauses dürfte im Jahre 1886 erfolgt sein, der Verkauf 1891.
467
Rudolf Neck, Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von
der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501
468
Hoyos-Denkschrift, zitiert in Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
469
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
470
zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
471
nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 war Eszterházy Legationsrat an der österreichischen Botschaft in London
472
Bezirksgericht Wieden, Gesch. Zahl A 151/1907/2 Todesfallaufnahme
81
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
schickt zu erhalten, ohne eine Zahlung geleistet zu haben.473“ Hofbeamte machten sich gar Gedanken, welchen Titel
die Caspar führen können: „k.k. Hofbusenschlange, k.k. Hofleibspitzel, k.k. Hofratte, Durchl. Leibbetthase, Durchl.
Leibbetthupfel, Durchl. Kammermensch, Hofleibbereiterin, Hofleibk(n)utscherin“474. Glaubt man den Mitteilungen
der Polizeispitzel, so führte die Caspar weiterhin ein angeregtes Leben: „Die Mizzy soll nach Paris reisen wollen und
ihre Koffer gepackt haben. Sie soll dann beabsichtigen, nach König Humberto [Umberto I. von Italien] ihre Netze
auszuwerfen.475“
Nach Rudolfs Beisetzung wurde Marie Caspar nicht polizeilich einvernommen, was sicher im akkurat geführten Akt des Polizeipräsidenten vermerkt gewesen wäre476. Die im Text des gedruckten „Mayerling-Originals477“ aufgestellte Behauptung, „der Akt bewahrt die Aussagen der Tänzerin Mitzi Kaspar und genaue Mitteilung über Rudolfs
Schenkungen“, ist – so die Überprüfung durch Hummelberger – unrichtig. Dennoch soll es ein Protokoll mit ihr gegeben haben478, dass 1927 beim Brand des Wiener Justizpalastes vernichtet wurde479. Conte Corti erwähnt in seinem Elisabeth-Buch480, dass es einen Brief über den geplanten Selbstmord am Husarentempel gegeben habe, gibt jedoch über
Verfasser und Aufbewahrungsort keine Informationen.
Zeit ihres Lebens scheint Maria Caspar nicht in „Lehmann´s allgemeinen Wohnanzeiger“ für Wien und Umgebung auf, sondern ab 1880 bis zu ihrem Tode 1917 ihre Mutter, „Caspar Anna, Kaufm. Wwe.“ Marie Caspar erhielt
am 7. November 1889 das Wiener Bürgerrecht und gab bei der für diesen Verwaltungsakt notwenigen Befragung am
13. Februar 1889 zu Protokoll: „Charakter oder Beschäftigung: Hauseigenthümerin, Wohnort: IV. Heumühlg. 10,
Einkommen: Ertrag des Hauses und des Vermögens, Besonderes Vermögen und worin dasselbe besteht: ca. 10.000 fl.
in Wertpap., Haus Nr. 10 Heumühlgasse im Wert von ca. 60.000 fl. unbelastet, Moralische und politische Haltung:
unbeanständet, Anfang des Aufenthaltes in Wien: 1882481“. Von 1886 bis 1891 wohnte sie gemeinsam mit der Mutter
in der Heumühlgasse, nach dem Verkauf des Hauses in der Paniglgasse 19, ebenfalls im 4. Bezirk482.
Am 18. Januar 1902 verfasste Marie Caspar ihr Testament483 - wahrscheinlich in Anbetracht ihrer fortschreitenden Krankheit. Als Exekutor bestimmte sie den Wiener Hopf- und Gerichtsadvokaten Dr. Emil Kohn.
Sie starb, unverheiratet und kinderlos484, am 29. Januar 1907 mit 42 Jahren an „Rückenmarksverhärtung485“,
einer Folgeerkrankung der Syphilis, und wurde nach katholischem Ritus in Mödling beigesetzt486. Im Testament heißt
473
Hoyos unter Berufung auf Orsini Rosenberg, zitiert in zitiert nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
474
Judtmann-Nachlass im HHStaA
475
Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
476
Bibl ist der Meinung, im Akt des Polizeipräsidenten habe sich „das sehr aufschlussreiche Protokoll, das mit Mitzi Caspar aufgenommen worden war“, befunden; zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr
& Scheriau, Wien 1968
477
Mayerling, Das Original - Offizieller Akt des k.k. Polizeipräsidiums - Facsimilia der Dokumente - Der authentische Bericht;
Wilhelm Frick-Verlag, München 1955
478
Zur Zeit der Amtseinführung des Polizeipräsidenten Johann Schobers (11.06.1918-19.08.1932) war das Protokoll noch erhalten, wie Conte Corti mitteilte; zitiert in Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“,
Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64
479
Nach Dr. Walter Hummelberger, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr
& Scheriau, Wien 1968
480
Corti, Egon Cäsar Conte: „Elisabeth - Die seltsame Frau“, Pustet-Verlag, Salzburg 6. Auflage 1935
481
Archiv der Stadt Wien, Hauptregistratur P 11-36 132/1889, Magistrat Wien
482
Anna Caspar wohnt in der Paniglgasse 19 bis zu ihrem Tode 1917
483
Bezirksgericht Wieden, Gesch. Zahl A 151/1907/1; ebenda Todesfallaufnahme vom 04.02.1907
484
Die u.a. bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 erwähnte uneheliche Tochter „Maria“
ist uns in keinem Originaldokument – siehe das Testament, in dem sie sicher erwähnt worden wäre – aufgefallen; es handelt sich
wohl um eine Verwechselung mit der Stiefschwester.
485
Archiv der Stadt Wien, Totenbeschauprotokoll, 1907-C.
82
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
es dazu: „Mein Leichenbegängnis soll einfach sein, doch wünsche ich in einem eigenen Grabe beigesetzt zu werden.487“ Dass die Wahl des Friedhofes nicht zufällig war, vermutet Hummelberger mit Blick auf die nahe gelegenen
Orte Heiligenkreuz und Alland488. Als gleichberechtigte Erben setzte Maria Caspar neben ihrer Mutter Anna489 ihre
Halbschwester Anna Krüzner490 ein. Über ihren Bruder Rudolf491 heißt es im Testament: „Doch ist es nicht mein
Wunsch, dass mein Bruder Rudolf Caspar irgendetwas aus meinem Nachlasse erhalte.“ Der Grund mag sich hinter der
Formulierung verbergen, dass sie durch ihn „Kränkung“ erlitten habe. Der noch in der Todesfallaufnahme erwähnte
Bruder Gottfried492 scheint im Testament nicht auf493.
Zeit ihres Lebens gelang des Marie Caspar, dass ihre Beziehung zum Kronprinzen nicht ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. Das bei Conte Corti erwähnte Portrait einer Frau, das sich im Nachlass des Kronprinzen befand, konnte erst zu Beginn der 60-er Jahre durch Dr. Walter Hummelberger als jenes von Marie Caspar identifiziert
werden494. Neben diesem Bild finden sich mehrere Fotografien von Maria Caspar im Bildarchiv der Nationalbibliothek495. Im Nachlass des Kronprinzen existierte zudem eine freizügige Marmorstatue der Caspar, die in diesem „versteckten Portrait“ (portrait historicé) als Lautenspielerin dargestellt ist. Lange Zeit wurde die Figur trotz fehlender
Ähnlichkeit als „Mary Vetsera“ bezeichnet. Kurz nach dem Tode des Kronprinzen holte jedoch Maria Caspar das
Gipsmodell der Statue bei dem Bildhauer Johannes Benk496 ab, was durch die Berichte des Advokaten Meißner dokumentiert ist497. Der Verbleib des Modells ist unbekannt.
486
Eintrag Friedhofsbuch Mödling: „Zahl 123/II Kaspar Marie (14.07.1961 exhumiert auf Gruppe L, Grab 9)“, ein Grabstein existiert nicht mehr; nach Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des
Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64. Die Grabstelle existierte bis 1981 und
wurde 1984 neu belegt.
487
Testament der Marie Caspar, Wien 18.01.1907
488
Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des Österreichischen
Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64
489
Caspar, Anna, geb. Safran, Kaufmannswitwe und „Private“, gest. 1917
490
Anna Krüzner, geb. Kaspar, Ingenieurswitwe; Tochter von Marias Vater und einer unbekannten Frau
491
Caspar, Rudolf, Opernsänger; war 1907 40 Jahre alt
492
Caspar, Gottfried
493
Friedrich Weissensteiner irrt, wenn er von einer unehelichen Tochter der Caspar berichtet – es handelt sich vielmehr um ihre
Halbschwester Anna.
494
HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf; das Bild wurde aufgenommen von Horváth Zsigmond, dem „Ersten amerikanischen
Schnellphotographen“ im Budapester Stadtwäldchen auf der Margareteninsel.
495
Portraitsammlung und Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, u.a. Nr. 800.138 A(B) und Nr. Rv 3440 B(r)F
496
Benk, Johannes, geb. 27.07.1844 in Wien, gest. 12.03.1914 in Wien, Bildhauer. Wichtiger Vertreter der Ringstraßenkunst mit
teilweise neobarockem Einschlag; tätig vor allem als Bauplastiker und Schöpfer von Denkmälern und Grabmonumenten. Atelier
in Wien VII, Kaiserstraße 10
497
Im Vorfeld der Ausstellung „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“ konnte festgestellt werden, dass es sich bei dieser mit „Benk“ signierten, 70 Zentimeter hohen Marmorstatue der Lautenspielerin im Maria Caspar handelt. Das Original befindet
sich im Legat Petznek, Bundesmobiliensammlung/ehemaliges Hofmobilien- und Materialdepot; abgebildet in: „Rudolf - Ein Leben im Schatten von Mayerling“, Ausstellungskatalog zur 119. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien, Wien 1989
83
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
E: Coburg
„Bei dieser Sachlage
ist es müßig, noch weiter über das
Mayerling-Drama zu forschen.“
Edith Prinzessin von
Sachsen-Coburg und Gotha
19. Juli 1990
Der Schwager des Kronprinzen, Ferdinand Philipp Maria August Raphael Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha, ist neben Johann Loschek und Josef Hoyos einer der wenigen, namentlich bekannten Tatortzeuge, die vom Auffinden der Toten in Mayerling an vieles aus nächster Nähe gesehen haben dürfte. Nach Aussagen der Familie hat er
jedoch bis zu seinem Tod „absolutes Stillschweigen gegenüber jedermann“ gewahrt498.
Prinz Coburgs Rolle im Drama von Mayerling ist nicht leicht zu durchschauen. War er tatsächlich der äußerst
rationale Denker, als den ihn Ernst Edler von der Planitz würdigt? Ließ er gar das Personal unter Eid nehmen und das
Schloss kurzerhand für die Öffentlichkeit absperren?499 Oder hat der damals fünfundvierzigjährige Adelige den Kopf
verloren, wie sich Julius Schuldes erinnert? War er tatsächlich vom Geschehen so benommen, dass er keinen Entschluss hatte fassen können und kümmerte er sich schließlich nur um das Verschwindenlassen der Vetsera?500
Prinz Philipp, ältestes von fünf Kindern der Marie Clementine von Orleans und des August von SachsenCoburg und Gotha, erblickte am 28. März 1844 im Tuilerien-Palast in Paris das Licht der Welt. Sein Bruder Ferdinand
wurde zum Zar von Bulgarien gekrönt, Bruder Ludwig August heiratete Leopoldine von Brasilien, Schwester Clothilde ehelichte Erzherzog Josef von Österreich und Schwester Amalie heiratete Maximilian Emanuel von Bayern501.
Philipp selbst heiratete am 4. Februar 1875 in Brüssel seine erst 16-jährige Großkusine, Luise Prinzessin von
Belgien, die älteste Tochter des belgischen Königs Leopold II. und Schwester der späteren österreichischen Kronprin-
498
Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990. Die Prinzessin war mit dem 1945
ermordeten Großneffen des Coburgers verheiratet.
499
Planitz, Ernst Edler von der: „Die volle Wahrheit....“, München, 2. Auflage 1889
500
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, Halbritter-Abschrift, Rollett-Museums Baden 1990
501
Sokop, Brigitte: „Stammtafeln europäischer Herrscherhäuser“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1989
84
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
zessin Stephanie502. Die junge Frau galt schon damals, zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung, als zeitweise Mätresse des
Erzherzog-Thronfolgers Rudolf von Habsburg503.
Trotz seines finanziellen ungarischen Koháry-Erbes galt Philipp als Geizhals, der Spaß daran fand, seine junge
Gattin betrunken zu machen. Und auch sonst neigte er zu allerlei skandalträchtigen Geschichten und zu exzessivem
Leben504. Mit seinem Nasenkneifer soll der Coburger, immerhin vierzig Jahre älter als seine belgische Frau, mehr dem
Bild eines Oberschullehrers als eines Angehörigen der Adelsklasse entsprochen haben. Luise wird bei Ihrer Hochzeit
besser als sein mäßiges Aussehen die gute Aussicht gefallen haben, an der Seite des Prinzen in Wien an einem der
größten Höfe Europas ein mondänes Leben zu führen505.
Mit Rudolf durch die Eheschließung verwandt und durch die Jagd als gemeinsame Passion mit ihm verbunden, fand Prinz Philipp von Coburg in der Villa Leiningen in Mayerling – nachmalig auch „Coburger-Schlössel“ genannt – einen permanenten Jagdsitz in Mayerling506. Die Güter des Prinzen lagen in Pohorella507, und in Wien lebte
die Familie in einem feudalen Palais auf der ehemaligen Braunbastei an der Seilerstätte. Wegen der hohen, schlanken
Säulen der 21-achsigen Gartenfront taufte der Volksmund das Palais „Spargel-Burg“508. Kaum war das Palais fertig
gestellt, wurde es 1849 von Franz Neumann in ein Zinshaus umgewandelt. Noch drei Jahr zuvor hatte Baron Sina das
Palais erwerben und dort die Börse sowie das Wechselgericht unterbringen wollen. Die Pläne zerschlugen sich jedoch
und das Palais verblieb im Familienbesitz. Zum Ende des Jahres 1851 führte Johann Strauß hier auf Wunsch des Earl
of Westmorland die Albert von Sachsen-Coburg und Gotha gewidmete „Albion Polka“ auf.
Philipp von Coburg sammelte in seinem Palais, das von Friedrich Ittner mit prachtvollen Fresken ausgestattet
worden war, neben vielen anderen Dingen auch ostasiatische Skulpturen in obszönen Posen509. Ebenso wie sein
Schwager Rudolf war der Coburger literarisch tätig, verfasste Aufsätze für Hugo´s „Jagdzeitung“ und die „Deutsche
Revue“ und publizierte sein Reise- und Jagdtagebuchskizzen der Jahre 1886 bis 1892 in Buchform510.
Die eheliche Verbindung zwischen dem pervers scheinenden Coburger511 und dem „üppigen Rubensweib, das
an Dekolletage das Unmöglichste leistete“512, gestaltete sich schnell als unglücklich513. Schon die Hochzeitsnacht
502
Gothaer Adelskalender, Band VIII, Abt. Sachsen, o.D.
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
504
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
505
Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990
506
Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990
507
Pohorella (heute: Pohorelà/Bezirk Brezno; 75 km östlich von Banska Bystrica, 290 km von Bratislava/Slowakei). Die 1616
entstandene Gemeinde an den Hängen des Berges Orlová im Bereich der Mikroregion Horehron im einst oberungarischen Grantal war Standort der „Herzoglich Philipp von Sachsen-Coburg-Gotha´schen Eisenwerke.
508
In den Vorgängerbauten des Palais Coburg starben 1766 Feldmarschall Leopold Josef Graf Daun und 1801 Feldmarschall
Franz Moritz Graf Lacy. Danach kamen die beiden hier stehenden Häuser durch Heirat in den Besitz der herzoglichen Familie
Coburg-Koháry und wurden ab 1839 von Karl Schleps, nach dessen Tode im Jahre 1840 von Baumeister Adolph Korompay
umgebaut, jedoch bis 1849 nicht bewohnt. Als Auftraggeber ließ August von Sachsen-Coburg-Kohary, seit 1843 mit Prinzessin
Clementine d´ Orleans (1817-27.02.1907/Palais Coburg), der Tochter des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe vermählt, an
dem stadtseitigen Zugang zur einstigen Braunbastei das Palais als Wiener Familiensitz errichten. Bezogen wurde das prachtvoll
ausgestattete Palais mit Prunkräumen im 1. Obergeschoss um 1849. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Palais lange Zeit von
der Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahnen angemietet. 1978 gelangte das Anwesen aus dem Besitz der Sarah Aurelia Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha – die Teile des Palais bis 1994 bewohnte – an eine Liegenschaften-AG, später an
eine Bank. 1999 erwarb die Privatstiftung des deutschen Investors Peter Pühringer für 54,5 Millionen Euro das Palais. Seit 2000
wird es einer Generalsanierung unterzogen, wobei eine Einkaufspassage, ein Konzertsaal sowie Wohnungen und Büroräume entstehen sollen. Mit der Familie Sachsen-Coburg und Gotha liefen Verhandlungen über die zur Verfügungstellung der Exponate aus
der einstigen Bildergalerie. Auch das Palmenhaus im Garten und die Stadtmauer von 1560 sollen rekonstruiert werden.
509
Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990
510
Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990
511
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
512
Redwitz, zitiert bei Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
513
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Kremayr & Scheriau, Wien 1968
503
85
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
wurde zum Fiasko: Luise, sexuell gänzlich unaufgeklärt, floh im Nachthemd aus dem ehelichen Schlafzimmer und
versteckte sich im Gewächshaus. Und auch im Wiener Palais der Coburger konnte sich die Belgierin nie heimisch fühlen: überall standen ausgestopfte Vögel, grinsende Buddhas, fernöstliche Pagoden und schwere Waffen. Nirgends ein
Anschein von Freundlichkeit, keine Blumen, kein Komfort514. Die Ehe mit dem „Dicken“, wie Rudolf seinen Schwager burschikos nannte, war für die junge belgische Prinzessin ein Graus. Dem Prinzen bald überdrüssig, flüchtete sie
in die Arme des kroatischen Ulanenoberstleutnant Géza von Mattachi-Keglevich und floh mit ihm an die Riviera – ein
gesellschaftlicher Skandal, der ein Duell zur Folge hatte515.
Am 18. Februar 1898 standen sich Philipp von Coburg, sekundiert von Geza Freiherr Fejerváry de KomlosKeresztes und Hugo Graf Wurmbrand-Stuppach, und Mattachi gegenüber. Nach zweimaligem, erfolglosem Kugelwechsel wurde der Kampf mit Degen fortgesetzt, wobei sich der Coburger nach Durchtrennen der Daumensehne für
kampfunfähig erklärte und das Duell beendete516. 16 Jahre nach der Mayerling-Affäre ließen sich Philipp und Luise
von Sachsen-Coburg und Gotha am 15. Januar 1906 in Gotha scheiden. Die belgische Prinzessin nahm ihren Jugendnamen wieder an517.
Doch nicht nur am Scheitern der eigenen Ehe, auch jener des Kronprinzen soll Luise nicht unschuldig gewesen sein. Alles, was sie vor ihrem Mann erfuhr – also auch mögliche amouröse Affären des Kronprinzen – berichtete
sie sicher ihrer Schwester518.
Amouröse Abenteuer, fast grenzenlose Verschwendungssucht und ein gefälschter Wechsel über 600.000 Gulden, den Luise mit dem Namen ihrer Schwester Stephanie unterzeichnet hatte – und für den Mattachi las Anstifter
Adelstitel und Militärrang verlor und sechs Jahre Haft im Militärgefängnis Möllerdorf verbüßen musste - , machten
aus Luise von Coburg „die verrufenste Frau des Kontinents“519. Insgesamt saß der kroatische Liebhaber der Coburgerin bis zu seiner Begnadigung im August 1902 vier Jahre lang im Kerker. Und Philipp von Coburg zahlte Luises
Wechsel in Gesamthöhe von 3,5 Millionen Gulden zurück.
Noch bis zum Ende des 1. Weltkrieges blieb Philipp von Coburg in seinem Familienpalais in Wien wohnen,
ehe er nach Coburg übersiedelte. Im sogenannten Bürgerlaß-Schlösschen der bayerischen Stadt starb er am 4. Juli
1921. Der k.k. General der Kavallerie und Großkreuzträger des Souveränen Malteserordens wurde zwei Tage später in
der Gruft der katholischen Stadtpfarrkirche St. Augustin beigesetzt.
Luise, von Kaiser Franz Josef unter dem Vorwand der Unzurechnungsfähigkeit 1898 von Agram aus in das
Sanatorium Oberstein in Döbling eingewiesen520, wurde als vermeintlich „Geisteskranke“ weiter in das Sanatorium
nach Purkersdorf und dann – bis zum Jahr 1904 – in das Sanatorium Lindenhof bei Dresden abgeschoben521. Völlig
verarmt und vergessen starb am 1. März 1924 „die Privatiere Prinzessin Luise Maria Amalie von Sachsen-CoburgGotha, geborene Prinzessin von Belgien, Herzogin von Sachen522“ im Hotel „Nassauer Hof“ am Kaiser Friedrich Platz
3-4 in Wiesbaden. 1940 übernahm Louises Tochter mit einer Abstandszahlung für 34 Jahre die gärtnerische und bauli-
514
Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990
Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990
516
Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990
517
Gothaer Adelskalender, Band VIII, Abt. Sachsen, o.D.
518
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
519
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
520
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
521
Schiel, Irmgard: „Stephanie – Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, Heyne Verlag 1990
522
Eintrag der Sterbeurkunde 353 vom 04.03.1924, Standesamt Wiesbaden (freundliche Mitteilung von Joseph van Loon, Arendonk/Belgien, 01.07.2006)
515
86
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
che Pflege der Gruft auf dem Wiesbadener Südfriedhof523. Die Pflege ging dann an die belgische Botschaft über524, die
1994 die Grabnutzung bis ins Jahr 2024 verlängerte525.
Luise und Philipps gemeinsame Tochter Dorothea erblickte am 30. April 1881 in Wien das Licht der Welt.
Am 2. August 1898 heiratete sie in Coburg den königlich-preußischen Kavallerie-General Ernst Günther Herzog zu
Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustusburg, der jedoch schon am 22. Januar 1922 auf dem schlesischen Schloss
Primkenau verstarb526. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee floh die Herzogin aus Schlesien in die amerikanische Besatzungszone und fand im württembergischen Aalen Unterschlupf. Sie verstarb einsam und verarmt am 21. Januar 1967 aus Schloss Taxis bei Aalen. Finanziell hatten sie zuletzt die Fürsten Thurn und Taxis unter die Arme gegriffen. Herzogin Dorothea wurde 1967 neben ihrem Vater beigesetzt. Ein Sohn der Coburger – Dorotheas 1878 geborener Bruder Leopold Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha – soll 1916 bei einem Attentat den Tod gefunden haben527.
Dorotheas Mann, Herzog Günther, hatte zwei Kinder des Prinzen Albert von Schleswig-Holstein-SonderburgGlücksburg adoptiert: Johann Georg und Marie Luise. Der Sohn fiel 1941, die Tochter – zweite Gattin des Prinzen
Friedrich von Schaumburg-Lippe – verstarb 1969528.
Nach nicht näher zu definierenden Quellen soll Philipp von Coburg Memoiren hinterlassen haben, die in der
30er Jahren publiziert werden sollten529. Angeblich habe man in einem Geheimfach seines Schreibtisches Notizen
über Mayerling gefunden. Eine geplante Veröffentlichung in Deutschland, Ungarn und England erfolgte jedoch nie.
Nachforschungen zeigen, dass sich der schriftliche Nachlass des Prinzen zusammen mit den Manuskripten seiner Zeitungs- und Buchpublikationen530 in dem ungarischen Archiv der Koháry-Linie des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha
befanden. Reste dieses Archivs wurden Anfang der 90er Jahre in einem Müllcontainer gefunden und vom Coburger
Staatsarchiv erworben531. Das eigentliche Hausarchiv der Koháry, das sämtliche Schriften zu den ungarischen Besitzungen der Familie aus dem 19. und 20. Jahrhundert erhielt, wurde beim sogenannten Ungarn-Aufstand 1956 fast
vollständig vernichtet532. 24 Briefe des Philipp von Coburg an seine Frau aus den Jahren 1883 bis 1890, verfasst größtenteils in Schladming – darunter jedoch auch ein Schreiben mit Datum 27. Juni 1886 aus Alland – befinden sich im
Nachlass der Luise von Coburg, verwahrt im Wiener Staatsarchiv. Der wenig umfangreiche Nachlass der Herzogin
Dorothea, zur Zeit der Mayerling-Tragödie acht Jahre alt, ging an das Archiv des Schlosses Glücksburg über, das jedoch der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist533.
523
Wiesbaden, Südfriedhof, Abteilung C.2 Nr. 67
Grünflächenamt Wiesbaden an den Verfasser, 24.01.1994
525
Bedingt durch die politischen Veränderungen Ende des 20. Jahrhunderts in Europa wurden die belgischen Konsulate in Frankfurt und München geschlossen und die Botschaft siedelte von Bonn nach Berlin um. In dieser Zeit geriet das Grab in Wiesbaden
in Vergessenheit und verwilderte. Im Jahre 2007 hat auf Initiative von Lars Friedrich das Büro des Belgischen Königs (Liste Civile du Roi, Brüssel) gemeinsam mit der Belgischen Botschaft Berlin ein Procedere zur Sicherung des Grabunterhalts erarbeitet und
realisiert.
526
Ernst Günther Herzog von Schleswig-Holstein (1863-1921); diese im Sterbejahr abweichenden biographische Daten entstammen dem Buch „Coburg im 20. Jahrhundert“ von Harald Sandner
527
Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
528
Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
529
Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
530
Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990
531
Staatsarchiv Coburg an den Verfasser, Coburg im Mai 1990. Das aus dem Antiquariatshandel erworbene Koháry-Archiv stellt
den Rest der umfangreichen Zentralkanzlei-Registratur im Wiener Palais Coburg dar. Er umfasst u.a. persönlichen Schriftwechsel
unter den Familienmitgliedern sowie Unterlagen der Verwaltung für den umfangreichen Grund- und Fabrikbesitz in Niederösterreich, der Steiermark sowie in Ungarn (heute z.T. Slowakei) (377 AE, 1,3 lfm, 1792–1914).
532
Ungarische Nationalbibliothek an den Verfasser, Budapest im November 1990
533
Edith Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha an den Verfasser, München 19.07.1990
524
87
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Während Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha stets nur als Tatortzeuge im Mayerling-Drama erwähnt wird, fand seine Frau Luise auch im Kino Anerkennung. Schon Mitte der 20er Jahre erschien der IndraKinofilm „Luise von Coburg“, produziert von Rolf Raffé. Dieser hatte bereits 1921 mit Marie Larisch einen Film über
Kaiserin Elisabeth gedreht, in dem die Gräfin sich selbst spielte534. Und auch als Literatin war die belgische Prinzessin
tätig: 1926 veröffentlichte Sie im Züricher Amalthea-Verlag ihre Memoiren unter der Überschrift „Throne die ich
stürzen sah“. Die Rolle des Coburger in Mayerling wird an anderer Stelle beschrieben.
534
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau Verlag, Wien 2. Auflage 1988
88
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
F: Ferenczy
„Das Farkas-Archiv
enthält kein einziges
Wort über die Tragödie
von Mayerling. “
Maria Tolnay-Kiss
07. August 1993
Der Werbefachmann Clemens M. Gruber geht in seinem Rudolf-Buch davon aus, dass die Vorleserin der Kaiserin Elisabeth, Ida von Ferenczy, in ihren Memoiren „interessante Hinweise auf die Tragödie“ von Mayerling gegebene habe535. Seine Nachlass-Forschung blieb jedoch Ergebnislos, so dass er alle nachgelassenen Papiere als verschollen einstufte. Unsere Recherche ergab, dass dies nicht der Fall ist. Dennoch enthält der Nachlass Ida von Ferenczys
keine Sensationen im Kronprinzen-Drama.
Ida von Ferenczy wurde 1839 im ungarischen Kecskemét als viertes von sechs Kindern des Gergely von
Ferenczy de Vecseszék geboren. Scharfsinn, hohe Intelligenz, Entschlossenheit und Charakterfestigkeit führten die
aus einer Kleinstand kommende Tochter alten Adels bald an den kaiserlichen und königlichen Hof. Idas Erziehung
entsprach den Möglichkeiten der Provinz, und ihre Allgemeinbildung eignete sie sich größtenteils selbst an. Hauptsächlich jedoch interessierter sie sich für Geographie, Geschichte und klassische Philologie.
Mit 25 Jahren kam das Landedelmädchen 1864 nach Wien. Wie sie die Stellung einer Gesellschafterin und
Sprachlehrerin im Hofstaat der Kaiserin bekam, ist nicht genau überliefert. Entweder setzte eine mysteriöse „Unbekannte“ Idas Namen auf jene Liste, die Gräfin Almássy mit geeigneten Damen handschriftlich für den Hof zusammengestellt hatte536. Oder aber die Gräfin selbst – mit den Ferenczys befreundet – ergänzte die sechs Namen umfassende Aufstellung, obwohl Ida die Hauptanforderung für diese Position nicht erfüllte: ihre Familie gehörte nicht dem
Hochadel an537.
535
Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987
537
Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987
536
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Schon die erste Begegnung der Kaiserin mit Ida von Ferenczy war positiv. Die Kaiserin wirkte durch Schönheit, Charme und Liebenswürdigkeit, Ida durch ihr natürliches und einnehmendes Wesen538. Wegen der niederen Herkunft konnte das Mädchen aus Kecskemét jedoch offiziell nicht zur Hofdame ernannt werden. So gab man ihr zunächst den Titel „Brünner Stiftsfrau“, was ihr bei Hofe die Anrede „Frau“ statt Fräulein einbrachte. Erst später wurde
sie offiziell zur „Vorleserin der Kaiserin“ mit anfänglich 150 Gulden Monatslohn nebst Kost und Logis539.
Obwohl Ida, zwei Jahre jünger als die Kaiserin, nie wirklich am täglichen Leben ihrer Herrin teilnahm – weder ritt, noch turnte oder mehrstündige Fußmärsche mitmachte -, wurde sie schon bald zur engsten Vertrauten der
Herrscherin. Wie nah sich die beiden Frauen bereits nach acht Monaten standen, zeigen Briefe des Jahres 1865. In ungarischer Sprache verfasst, schriebt die Kaiserin am 17. Juli aus Waldhall und am 18. Juli aus Klaushof an Ida, die
sich in Kecskemét aufhielt: „Meine liebe Ida (Kedves Idám)! ... Ich bin schon so erregt, endlich etwas (von dir) zu hören, dass ich es fast nicht ausdrücken kann. (...) Ich bin sehr glücklich, dass du in Ordnung bist. (...) Oh, wie freue ich
mich auf die Minute, wenn ich dich wiedersehen werde und Du mir alles erzählen wirst. (...) Ich verbleibe aber Deine
treue Freundin, E.“540
Durch die Freundschaft zu Ida lernte Elisabeth die Ungarn, ihre Mentalität und ihre Sprache immer besser
kennen. Weit mehr als alle anderen Hofdamen wurde Ida von der Kaiserin ins Vertrauen gezogen und war eine der
ersten, die im Konflikt der Kaiserin mit dem Wiener Hof auf der Seite der jungen Frau stand541. Ida, stets fern vom
Hoftratsch und gegen jeden mit Leib und Seele verschlossen, war Elisabeth mit Leib und Seele ergeben und verbrachte an manchen Tagen viele Stunden mit der Kaiserin. Doch schon bald galt sie als Fremdkörper bei Hof542. Doch erst
nach Elisabeths Tod musste sie die ganze Verachtung des Hofes ungeschützt ertragen.
Ida von Ferenczy war es, die gemeinsam mit dem Wiener Sparkassenangestellten und polizeibekannten Journalisten Max Falk543 der Kaiserin die politischen Ansichten des ungarischen Adeligen Julius Graf Andrássy nahebrachte. Kennengelernt hatten sich Elisabeth und der Aristokrat anlässlich des Empfangs einer ungarischen Delegation
am 29.Januar 1866 in Wien.
Ida dürfte wohl viele Geheimnisse der jungen Kaiserin gekannt haben, denn sie erledigte fast deren gesamte
persönliche Korrespondenz in ihrer Wohnung im 3. Stock des Hauses Ballhausplatz 6. In dieser Wohnung im großen
Komplex der Wiener Hofburg, vom Ballhausplatz aus zugänglich und direkt mit den Appartements der Kaiserin verbunden, wurden auch Elisabeths literarische Notizen handschriftlich kopiert544, um durch die bekannte Schrift die Autorin nicht an die Drucker und Setzer zu verraten. In diesen Räumen vernichtete Elisabeth auch eigenhändig die Originale545. So verwundert es auch nicht, dass die Korrespondenz zwischen der Kaiserin und dem ungarischen Adeligen
über die Adresse von Ida von Ferenczy lief. Heute ist jene Verbindungstür zwischen dem kaiserlichen Appartement
und der einstigen Wohnung der Vorleserin vermauert, da diese nun durch den österreichischen Bundespräsidenten genutzt wird.
538
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
539
Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987
540
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
541
Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987
542
Hamann, Brigitte: „Elisabeth – Kaiserin wider Willen“, Ex Libris Ausgabe, Ullstein Verlag Frankfurt, November 1987
543
Der Jude Max Falk unterrichtete Elisabeth in den Jahren 1866 und 1867 in Sprachlehre und ungarischer Literatur
544
Meist schrieb eine Nichte der Gräfin Larisch, Henny Peicz, die Texte ab.
545
Praschl-Bichler, Gabriele und Cachée, Josef: „...von dem müden Haupte nehm´ ich die Krone herab“, Amalthea Verlag, Wien
1995
90
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
In späteren Jahren war es nicht nur Elisabeth, die Idas Diskretion zu schätzen wusste – auch der Kaiser bediente sich der Vorleserin als Ratgeberin. Ein Brief der Kaiserin vom 9. Dezember 1893 gibt Aufschluss: „Gestern
frug ich bei Frau v. Ferenczy an, ob ich zu ihr kommen könne, da ich wegen der Weihnachtsgeschenke (für die kaiserliche Familie, Anmerkung des Verfassers) mit ihr sprechen wollte“546. Zu einem ersten Zusammentreffen lud der Kaiser die Burgschauspielerin Katharina Schratt auch zunächst in Idas Wohnung ein, von wo Elisabeth selbst die Besucherin abholen wollte547.
Mit der Zeit ergab es sich, dass Ida den Kaiser und seine Altersfreundin auch bewirten musste. Während die
Kaiserin rastlos durch Europa reiste, weilte die gesundheitlich oft angeschlagene Vorleserin in Wien und konnte ihre
Herrin nur in Gedanken begleiten. Da Elisabeth in den letzten Lebensjahren auch immer nur kurze Zeit in Wien weilte, kann die ungeheure Bedeutung des umfangreichen Briefwechsels mit der Kaiserin oder deren Reisebegleitern für
die Vorleserin nur erahnt werden.
Der Tod der Kaiserin 1898 am Ufer des Genfer Sees traf Ida von Ferenczy schwer – sie verlor über Nacht den
Inhalt ihres Lebens. Am 16. September quittierte sie im Obersthofmarschallamt den Empfang von Sisis letztem Willen: Sie erhielt 4.000 Gulden Pension und ein Goldherz mit Edelsteinen in den ungarischen Nationalfarben.
Da der ungarische Hofstaat der Königin und Kaiserin nach ihrem Tode schon bald die Burg verlassen musste,
mietete Ida zunächst eine Wohnung in der Reinerstraße an. Ein Jahrzehnt später bezog sie als Alterssitz die Schönbrunner „Hofvilla“, die frühere Villa Schleinitz in der Grünberggasse. Gemeinsam mit der jungen Erzherzogin Marie
Valerie – einst eifersüchtig auf Idas gutes Verhältnis zur Kaiserin und Mutter - kam es der einstigen Vorleserin zu bestimmen, wer welches Andenken aus den persönlichen Gegenständen der Herrscherin zu erhalten habe.
In den Beginn der 90er Jahre fiel die Realisierung des Planes, in Ungarn ein Museum für Elisabeth zu errichten, Die Töchter der ungarischen Königin boten dem Nationalmuseum in Ansprache mit Ida von Ferenczy zahlreiche
Andenken an, darunter das Millenniumkleid Elisabeths, das Ida am 31. Mai 1899 dem Budapester Museum übergeben
konnte548.
Am 11. März 1907 unterbreiteten Leontine Gräfin Andrássy, Adele Markgräfin Pallavincini und Illona Gräfin
Batthyány dem Kaiser die Bitte, in der Budaer Burg ein Gedenkmuseum für Elisabeth einrichten zu dürfen. Der Kaiser
stimmt zu und übertrug Ida als sachkundige Person die Aufgabe, die Exponate auszuwählen549.
Das Museum in den Räumen der Burg wurde am 15. Januar 1908 eröffnet, und neben den Kindern Elisabeths
scheint besonders Ida von Ferenczy als Spenderin auf550. Ausgestellt wurde neben vielen Dingen aus Elisabeths Privatbesitz auch jene Taste der elektrischen Glocke, die das Zimmer der Kaiserin mit dem Idas verband und mit
„Ferenczy“ beschriftet war.
Das „Königin Elisabeth Museum“ in der Burg wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, einige Stücke
konnten aus den Trümmern gerettet werden und sind heute im Budapester Nationalmuseum zu sehen.551
546
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
547
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
548
Tolnayn´ Kiss, Maria: „Kedves Idam“, Akadémiai Kiadó, Budapest 1992
549
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
550
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
551
Tolnay-Kiss, Maria: „Sisi / Elisabeth / Erzsébet“, Katalog zur Ausstellung des Museums Österreichischer Kultur, Eisenstadt
1991
91
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Nach dem tödlichen Attentat auf die Kaiserin und Königin am Genfer See 1898 musste Ida von Ferenczy
auch den Tod des Kaisers und seiner jüngsten Tochter, Marie Valerie miterleben. Nach und nach verlor sie dann weitere Weggefährtinnen: die Hofdamen Marie Gräfin Festetics (
1923) und Charlotte Gräfin Mailáth (
1928). Nur
wenige Tage nach ihr verstarb am 28. Juni 1928 Ida von Ferenczy in Schönbrunn. Sie wurde in der Loretto-Kapelle
der Wiener Augustinerkirche aufgebahrt und am 3. Juli 1928 auf dem Szentháromság-Friedhof in Kecskemét in der
Gruft ihrer Familie beigesetzt. Das letzte Mal hatte sie ihre Geburtsstadt 1913 gesehen552.
Nach ihrem in Ungarn aufbewahrten Testament zu Gunsten ihrer Familie gelangte der Nachlass der Sternkreuzordensdame, die unverheiratet und kinderlos starb, an ihren Neffen Lászlo von Farkas und wurde in das Familienschloss im ungarische Badápuszta, das heutige Felöbadád, gebracht. Dort hatte in den 30er Jahren Egon Caesar
Conte Corti die Gelegenheit, durch Elisabeth und Maria von Farkas unterstützt553, den in vier Kisten verwahrten Nachlass einzusehen554. Corti, der nach den neuen Eigentümern dem Nachlass den Namen „Farkas-Archiv“ gab, konnte alle
Schriftstücke einsehen, kopierte daraus jedoch nur die für ihn interessanten Textteile und übersetze diese ins Deutsche555. Da viele ausländische Autoren die Texte dann weiterübersetzten, entstellt eine Rückübertragung ins ungarische die Passagen heute extrem.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kehrten im Mai 1945 Elisabeth von Farkas – als geborene „von
Mailáth“ nun Witwe nach László von Farkas – und anderen Familienmitgliedern in das von Russen besetzte und geplünderte Schloss zurück. Da die Besatzungstruppen noch immer im Hauptgebäude wohnten, musste die Familie zunächst in ein Nebengebäude ziehen. Gemeinsam mit einem russischen Soldaten gelangte Hubert von Kiss – dem Gatten Maria von Farkas, eines Tages ein Zufallsfund: auf dem Dachboden entdeckte er Teile des Farkas-Archives, sammelte sie ein und rettete so ein wichtiges Stück Zeitgeschichte. Die Briefe der Kaiserin und Königin, ihrer Hofdamen,
des Kaisers, der Katharina Schratt und anderer Personen ging nach dem Tod Maria von Kiss´ in den Besitz von Laszlo
und Maria von Kiss über.
Während das Schloss der Familie Farkas in den Nachkriegsjahren dem landwirtschaftlichen Staatsgut
Felöbadád (heute AG) einverleibt wurde, kam das Farkas-Archiv nach Budapest und bleibt als öffentlich nicht zugängliches Material bis heute in Familienbesitz556. Der jetzigen Besitzerin und ihrem Mann, Dr. Maria von Kiss und
Ingenieur Dr. Paul Tolnáy, gelang es, die teils brüchigen und verknitterten Dokumente zu sichten, aufzuarbeiten und
restaurieren zu lassen557. Einige Briefe der Königin und Kaiserin wurden 1991 in Eisenstadt, weitere Originale 1992 in
Budapest vorgestellt und erstmals veröffentlicht558. Weitere Briefe und Bilder befinden sich im Besitz des Münchener
Medien-Managers Josef von Ferenczy559.
Da durch Kriegseinwirkung, Flucht und Vertreibung Teile des Farkas-Archives verloren gingen (so der Briefe
Katharina von Schratts an Ida von Ferenczy vom 31. Jänner 1889), können einige Briefe nur in der Übersetzung Cortis
bearbeitet werden560.
552
Schreiben der Gemeinde an den Verfasser, 13.10.1993
Conte Corti, Egon Caesar: „Elisabeth, die seltsame Frau“, Vorwort zur 6. Auflage
554
Ungarische Nationalbibliothek Széchényi, Budapest, an den Verfasser, 08.11.1990
555
Tolnay-Kiss, Dr. Maria: “Kedves Idam”
556
Tolnay-Kiss, Dr. Maria an den Verfasser, Budapest 25.07.1993
557
Tolnay-Kiss, Dr. Maria an den Verfasser, Budapest 07.08.1993
558
Tolnayn´ Kiss, Maria: „Kedves Idam“, Akadémiai Kiadó, Budapest 1992
559
Josef von Ferenczy an den Verfasser, Grünwald 28.07.1993
560
Ungarische Nationalbibliothek Széchényi, Budapest, an den Verfasser, 08.11.1990
553
92
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Um den lange Zeit als verschollen geltenden Nachlass Ida von Ferenczys ranken sich viele Legenden. Fest
steht: Die Vorleserin der Kaiserin und Königin Elisabeth schrieb nie Tagebuch oder Memoiren, weder zu Lebzeiten
ihrer Herrin noch nach deren Tod. Als Vertraute Elisabeths war zwar bis zu ihrem Lebensende ein gesellschaftlicher
Mittelpunkt einiger Hofkreise. Ida von Ferenczy hat sich jedoch nie zum Drama von Mayerling geäußert, auch wenn
sie viele Einzelheiten gekannt haben dürfte. Am 30. Januar 1889 führte sie Baronin Vetsera selbst zur Kaiserin und
berichtete darüber auch deren Tochter, Marie Valerie. Ida dürfte wohl auch den Abschiedsbrief Rudolfs an seine Mutter gekannt haben, den sie nach Elisabeths Tod aber gemeinsam mit anderen Dokumenten vernichtet haben dürfte. In
ihrer Diskretion und Ergebenheit gegenüber Elisabeth und Franz Josef dürfte sie vor ihrem Tod alle geschriebenen
Hinweise auf den Tod des Kronprinzen vernichtet haben561. Somit stellt das Farkas-Archiv in seiner heutigen Form
mit ungefähr 75 Prozent des ursprünglichen Nachlasses Ida von Ferenczy562 und den heranzuziehenden Kopien Conte
Cortis sicher einen großen Fundus an originalen Quellen aus dem direkten Umkreis des Herrscherpaares dar. Das Archiv darf jedoch nicht als Schlüssel zur Lösung der Tragödie von Mayerling angesehen werden.
561
Tolnay-Kiss, Dr. Maria an den Verfasser, Budapest 14.11.1995
93
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
G: Hoyos
„Die ist die reine Wahrheit,
so wahr mir Gott helfe.“
Josef Graf von Hoyos-Sprintzenstein
Juli 1889
Neben dem Prinzen von Coburg, Saaltürhüter Loschek und Leibfiaker Bratfisch wird Josef Theodor Graf
Hoyos-Sprintzenstein in der Mayerling-Literatur stets namentlich als Tatortzeuge genannt563. Doch wie kam der Graf
ins kronprinzliche Jagdschloss?
Hoyos-Sprintzenstein war ab 1879 einer der engsten Jagdfreunde des Erzherzog Thronfolgers. Dies belegen
zahlreiche persönliche Einladungen zu Jagden im Lainzer Tiergarten, in den niederösterreichischen Donauauen und
dem Wienerwald564. Zwar erwähnen alle Mayerling-Autoren Hoyos als Gast in Mayerling, doch ist über sein Leben
nach der Tragödie nur wenig bekannt565.
„Josl“, so sein Spitzname, wurde am 9. November 1839 als jüngerer Bruder des Ernst Karl d. Älteren Graf
Hoyos-Sprintzenstein566, in Wien geboren. Dieser war Mitbegründer des „Hilfsvereins“, eines Vorgängers des Roten
Kreuzes, und mit Leonore Gräfin Paar, der Schwester des kaiserlichen Generaladjutanten, Eduard Graf Paar, verheiratet. Der Ursprung der Familie führt entgegen oftmals publizierten Quellen jedoch nicht nach Ungarn, sondern in das
Kernland Spanien, nach Brunos in Altkastilien567.
Ernst Karl errichtete in den Jahren 1861 bis 1863 gemeinsam mit Ludwig Förster beim Kärntner Tor in Wien
das Palais Hoyos, das 1892 an die „Hotel Bristol“-Gesellschaft verkauft wurde. 1898 wurde das neue Hotel um das
ebenfalls von Förster erbaute Hoyos-Sprintzenstein´sche Majoratshaus erweitert und 1913 nochmals umgebaut. Nach
wirtschaftlichem Auf und Ab bezog nach Ende des Zweiten Weltkrieges die amerikanische Besatzungsmacht das Gebäude und gab es erst 1955 wieder frei. 1992 wurde dann die Generalsanierung des Hotels abgeschlossen568.
562
Tolnay-Kiss, Dr. Maria im Gespräch mit dem Verfasser, Budapest 22.07.1994
Vergleiche auch Holler, Gruber, Judtmann u.a.
564
Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, Hoyos-Archiv Horn, an den Verfasser, 13.11.1991
565
Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, Hoyos-Archiv Horn, an den Verfasser, 13.11.1991
566
Ernst Karl der Ältere, Graf von Hoyos-Spritzenstein, 1830-1903, ab 1861 Kämmerer und als wirklicher Geheimer Rat Vizepräsident des Herrenhauses
567
Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, in: „Adel im Wandel“, Katalog zur NÖ. Landesausstellung, Rosenburg 1990
568
„Die Wiener Ringstraße“, Modulverlag, Wien 1995
563
94
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Nach dem erfolgreichen Verkauf der Ringstraßen-Immobilien ließ Ernst Karl zwischen 1900 und 1902 ein
zweites Palais in der Hoyosgasse im 4. Wiener Gemeindebezirk errichten, das noch heute in Familienbesitz ist569.
Ernst Karls 1856 geborene Sohn gleichen Namens heiratete 1883 Marie Leontine Gräfin Larisch von Moenich, eine
Schwägerin „jener Gräfin Larisch“570.
Der k.k. Kämmerer Josef Hoyos, Jagdfreund des Kronprinzen und Herr des Gutes und Schlosses Kreuzstetten
in Niederösterreich571, wird meist als Mann simplen, einfachen Gemütes beschrieben, der als Junggeselle anspruchsvoll lebend dem Thronfolger treu ergeben sei572. Die größte Zeit seines Lebens verbrachte er auf Schloß Gutenstein im
südlichen Voralpengebiet, nahe den Bergen. Noch heute trägt ein Klettersteig im Großen Höllental hinauf auf die
Raxalpe den Namen „Graf-Hoyos-Stieg“. Am 28. Januar 1889, dem Vortag der Tragödie von Mayerling, wurde
Hoyos in Wien zum Geheimen Rat ernannt573.
In den ersten Februartagen des Jahres 1889 soll Hoyos eine „Denkschrift“ verfasst und – mit zehn Siegeln verschlossen –im Haus-, Hof- und Staatsarchiv hinterlegt haben. Ein händischer Sperrvermerk besagt: „Bei Lebzeiten des
Grafen Hoyos durch niemand als durch ihn selbst, nach dessen Tod aber nur durch den jeweiligen Archivdirektor unter strengster Beobachtung der erforderlichen Geheimhaltung zu öffnen. Im Staatsarchiv deponiert am 15. Juli 1889,
Josef Graf Hoyos“574. Die Kopie der 30-seitigen Denkschrift im Hoyos-Sprintzenstein ´schen Zentralarchiv Horn trägt
den handschriftlichen Vermerk: „Dieses Schriftstück ist während meiner Lebzeit nur mit meiner Einwilligung, nachher nur mit jeder der fidei commiss Besitzers von Horn zu öffnen“575. Anders als andere Tatortzeugen – bemerkt
Hellmut Andics – habe Hoyos nicht geschwiegen, sondern sich zum Reden gedrängt. Der amerikanische RudolfForscher Wildon Lloyd nennt die Denkschrift sogar „The official version of a true lie.“576
Am 27. August 1917 ließen der österreichische Außenminister Graf Czernin durch Archivdirektor Schiffer
und am 29. August des gleichen Jahres Kaiser Karl die im Staatsarchiv deponierte Denkschrift öffnen und gaben sie
versiegelt an den Leiter des Hauses, Dr. Hans Schlitter, zurück577. Am 30. Januar 1922 – also genau 33 Jahre nach der
Tragödie – öffnete der amtierende Leiter des Archivs, Oskar Freiherr von Mitis, im Beisein von Michael Hainisch sowie einem Herrn Klastersky das Paket ein weiteres Mal, versiegelten es jedoch erneut578. Erst 1928 wurde der Text –
mit Zustimmung der Familie Hoyos579 – in Mitis Biographie „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“ publiziert580, ein
weiteres Mal 1948 in den Ausgaben 75 bis 82 der Wiener „Weltpresse“.
Zahlreiche Briefe und Telegramme des Kronprinzen an Hoyos bezeugen heute die Freundschaft der beiden
Männer – so ein Schreiben vom 23. Februar 1888, das Rudolf seiner Gattin Stephanie diktierte, da er selbst wegen einer Augenkrankheit nicht schreiben könne. Der letzte (bekannte) Brief des Kronprinzen an Hoyos, datiert Wien am
569
„Adel im Wandel“, Katalog zur NÖ. Landesausstellung, Rosenburg 1990
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1989
571
Habsburg-Lothringen, Dr. Michael Salvator, Hoyos-Archiv Horn, an den Verfasser, 13.11.1991
572
Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989
573
Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989
574
HHStaA, Nachlaß KP Rudolf, Karton 21
575
HHStaA, Nachlaß KP Rudolf, Karton 21
576
Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989
577
Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989
578
Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989
579
Publikationsermächtigung K.A. 1025 ex. 1922
580
Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
570
95
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
31. Mai 1888581, stimmt in den ersten Worten mit jenen überein, den Hoyos in der Denkschrift anlässlich einer Jagd
im Revier Orth am 20. und 21. Januar 1889 anführt: er erhielt „vom durchlauchtigsten Kronprinzen in folgenden Worten eine Einladung: `Hoyos, wenn sie Zeit und Lust haben, kommen Sie gegen Ende nächster Woche mit mir nach
Meyerling, um im Wienerwald (...) noch Kahlwild abzuschießen!´“ Hoyos dankte für die Einladung und erfuhr dann
vom Hof-Jäger Wodiczka am 26. Januar vom Reisetermin, dem 29. und 30. Januar582.
Die erste Einladung des Kronprinzen an seinen Jagdfreund, ihn nach Mayerling zu begleiten, ist für das Jahr
1887 dokumentiert. Am 12. Dezember schreibt der Erzherzog: „Lieber Hoyos! Morgen, Dienstag um 3 Uhr fahre ich
vom Südbahnhof nach Mayerling; es würde mich sehr freuen, wenn Sie mit mir kommen wollten, um das neue Haus
anzusehen und einige Tage auf Hochwild zu jagen. Mit herzlichsten Grüßen, Ihr Rudolf“583. Und ein Brief vom 22.
Dezember 1887584 mit einer Bitte an Hoyos, ihn erneut nach Mayerling zur Jagd zu begleiten, kann als Beweis angesehen werden, dass der Kaiser dort mit seinem Flügeladjutanten Graf Eduard Paar am 27. des Monats „einen Tag in
guter Luft“ verbringen wollte.
An den Rand einiger Briefe des Kronprinzen machte Hoyos nach den dramatischen Tagen von Mayerling eigene Notizen. So an ein Schreiben vom 5. Februar 1883. Rudolf bedankte sich darin für einen Hirschfänger mit eingraviertem Gedicht, der ihm stets Erinnerung an „die schönen Tage sein (werde), die wir zusammen in drei Weltteilen
verlebten“. Diesen, in Prag verfassten Brief, kommentiert Hoyos nach einer kurzen Beschreibung des Säbels: „Die
Waffe kam nach dem Ableben des Kronprinzen wieder in meinen Besitz“585. Der Hinweis auf die drei Erdteile spielt
auf die gemeinsame Orientreise an, die – aus Europa kommend – über Asien nach Afrika führte. Das Gedicht auf den
beiden Seiten der Klinge lautete: „Rudolfus dich führ, dem Weidwerk zur Zier“, und „Dem Schwarzwild zum Trutz,
Dir selber zum Schutz“586.
Nach dem Tode des Kronprinzen erhielt Hoyos aus dessen Nachlass einige Geweihe587. Rudolf Witwe Stephanie schrieb hierzu am 15. Februar 1889: „Lieber Graf, Sie haben keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne
meinem unvergesslichen Mann Beweise von wahrer und aufrichtiger Freundschaft entgegenzubringen, sowohl in
Freud, wie auch im Leid. Der Himmel möge es Ihnen lohnen. Ich kann Sie nur bitten, diese Andenken an den theuren
Todten anzunehmen. Sie sollen Ihnen nur jene Tage zurückrufen, wo Sie an seiner Seite so glückliche Stunden verlebten. Bleiben Sie mir, was Sie meinem geliebten Rudolf waren und vergessen Sie nicht Ihre stets dankbare Stephanie“588. Die Beziehung zwischen der Witwe und dem Freund des Toten brachen lange Zeit nicht ab. So bat Stephanie
Hoyos noch im Juli 1891, ihr einen „schönen schwarzen Dackel“ zu beschaffen, da der Graf ein ausgewiesener Hundekenner sei589.
581
Text: „Lieber Hoyos! Falls Sie Zeit und Lust hätten im Wiener Wald zu pürschen, stehen Ihnen alle Reviere zur Verfügung
und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie viel abschießen würden, womöglich auch schwache Hirsche. Mit besten Grüßen, Ihr
treuer Rudolf.“
582
Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
583
KP Rudolf an Hoyos, Wien 12.12.1887, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann
584
Text: „Lieber Hoyos! Dienstag, 27.ten wird S.M. der Kaiser mit Edi Paar nach Mayerling respektive Lamme rau kommen. Er
wünscht hauptsächlich einen Tag in der guten Luft zu verbringen und will mit Hunden jagen. Ich habe auf das wenig Sichere und
eher fragliche dieses Vergnügens aufmerksam machen, doch der Kaiser hält wenig auf viel Schießen und will kommen. Ich bitte
Sie, am 26. gegen Abends zum Diner nach Mayerling zu kommen, wir werden alle den Kaiser am 27.ten früh dort erwarten. Ich
bitte hier nichts zu erzählen, dass der Kaiser hinaus kommt; Er möchte ungeniert und ohne Empfang bleiben. Mit herzlichen Grüßen Ihr treuer Rudolf“. KP Rudolf an Hoyos, Wien 22.12.1887, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann
585
PK Rudolf an Hoyos, Prag 05.02.1883, Notiz des Grafen Hoyos, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann
586
PK Rudolf an Hoyos, Prag 05.02.1883, Notiz des Grafen Hoyos, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann
587
HHStaA, Nachlaßabhandlung KP Rudolf, OmaM 421 III/B 101-108 1886-1910
588
Kronprinzessin Witwe Stephanie an Hoyos, Fiume 25.02.1889, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann
589
Kronprinzessin Witwe Stephanie an Hoyos, Szent Antal 17.07.1891, Hoyos Archiv Horn; zitiert im Nachlass Judtmann
96
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Schon kurze Zeit nach der Tragödie müssen Umstände eingetreten sein, die Hoyos nötigten, eine Denkschrift
zu verfassen, die seinen „Namen auch in künftigen Zeiten rein erhalten“ solle und der er eine Sammlung von Aussagen „vollkommen glaubwürdiger Zeugen“ beischloss590. Da Hoyos in seinem Text bereits auf einen Zettel eingegangen war, den Rudolf an Loschek richtete und nach dessen Text die Vetsera den Kämmerer grüßen ließ, sah er sich nun
gezwungen, diese „Gruß-Bekanntschaft“ zu begründen591. In einem an der Obersthofsmeister, Constantin Prinz zu
Hohenlohe gerichteten Brief stellte Hoyos klar, er habe zwar die Baroness gekannt und gegrüßt, sei aber an jenem 27.
Jänner592 von ihr angesprochen worden. Zudem stellte er fest: „Beziehungen Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen zu Baronesse Marie Wecsera hörte ich von keiner Seite erwähnen oder andeuten und waren mir solche daher vollständig unbekannt. Dies ist die reine Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.“593
Zehn Jahre nach dem Tod des Kronprinzen schloss sich auch für Graf Hoyos sein Lebenskreis. Im Mai hatte
er – an einem Herzleiden laborierend – trotz der Warnung seines Arztes eine Reise nach Edlach an der Rax angetreten594. Eleonore Hoyos, Josefs Schwägerin: „Er war in traurigem Zustand, sah elend aus (...) Aber diese Hast, diese
Unruhe waren schon schlechte Symptome und sein Blick so starr und ängstig ...595“
Acht Tage wollte Hoyos im „Edlacherhof“ bleiben und dann nach Wien zurückkehren596. Als sich sein Gesundheitszustand jedoch verschlechterte, reisten sein Neffe Ernst und seine Schwester, Mariette Gräfin Szechenyi,
nach Edlach. Doch Josef Hoyos war bei ihrer Ankunft bereits tot. „Schon Samstagabend konnte er plötzlich nicht
mehr aufstehen und gehen, Sonntag war es besser und Montag hat er noch gut gefrühstückt, geraucht, und ist länger
liegengeblieben und als Jaque um 11 Uhr nachsah, fand er seine Augen stier, er winkte nur mit der Hand, konnte nicht
mehr sprechen.597“ Man rief einen Arzt und einen Geistlichen, Hoyos empfing die heilige Kommunion und wurde mit
den Sterbesakramenten versehen. Am 22. Mai 1899 starb er.
Ernst Karl Graf Hoyos, der Diener seines Onkels, Jakob „Jaque“ Zak, und ein weiterer Mann kleideten den
Toten in die Kluft eines Jägers und gegen Mitternacht wurde der Leichnam in einem einfachen Holzsarg auf einem
Leiterwagen aus dem Hotel zu einer kleinen Kapelle eines Schwesternordens gebracht. Es regnete in Strömen598. Nach
der Einsegnung am 24. Mai um 5 Uhr, zu der sich auch Rudolfs Tochter Elisabeth angekündigt hatte599, fuhren die
drei Brüder des Toten mit Graf Szechenyi mit zwei Wagen durch das Höllental nach Gutenstein. Mit einem Fourgon
wurde Hoyos Leiche, begleitet von Forstrat Keller und den beiden Jägern des Verstorbenen, durch das Tal zunächst
nach Weinzettel gebracht, wo der Graf oft auf Gämsen saß. Die Nach über hielt man dort und am Morgen des 25. Mai
1899 kam der Leichenzug um 9 Uhr in Gutenstein an, wo er erneut in der Pfarrkirche aufgebahrt wurde. Bei der Trauerfeier war neben der gesamten Familie auch Erzherzog Ludwig Viktor anwesend. Josef Hoyos wurde zunächst in einem provisorischen Erdgrab auf dem Gutensteiner Friedhof beigesetzt, die Trauergemeinde kehrte zu einer „reforcierten Jause“ in das Schloß zurück und reiste am selben Abend um 6 Uhr zurück nach Wien600. Die Neffen des Toten, al590
Hoyos, zitiert bei Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
Textfragment des Originals im Besitz der Familie Habsburg-Lothringen: „...Excellenc Hoyos, ich lasse ihn grüßen und bitten,
nicht zu telegraphieren, es soll um einen Geistlichen nach Hl. Kreuz schicken, damit in der Nacht gebetet wird. Die Baronin lässt
Graf Hoyos auch grüßen, er soll nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat.“
592
Ball zu Ehren des deutschen Kaisers in der deutschen Botschaft
593
Hoyos, zitiert bei Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
594
Eleonore Gräfin Hoyos an ihre Schwiegertochter, Wien 23.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann
595
Eleonore Hoyos, Wien 23.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann
596
Eleonore Hoyos, Wien 25.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann
597
Eleonore Hoyos, Wien 25.05.1899, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann
598
Ernst Hoyos an Kunigunde Hoyos, Gräfin Westphal, Wien 24.05.1889, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann
599
Ernst Hoyos an Kunigunde Hoyos, Gräfin Westphal, Wien 23.05.1889, Hoyos Archiv Horn, zitiert im Nachlass Judtmann
600
Ernst Hoyos am 24.05.1899
591
97
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
len voran Ernst Graf Hoyos-Sprintzenstein, ließen später eine gemauerte Gruft mit Denkmal errichten, in die Hoyos
umgebettet wurde601.
Bei der Veröffentlichung der Denkschrift durch Mitis, 29 Jahre nach dem Tode des Grafen, stellte der Text
das einzige authentische und zeitnah aufgenommene Protokoll der Ereignisse von Mayerling dar. Diese positive Bewertung revidiert sich jedoch bei einem kritischen Vergleich mit den Erinnerungen von Johann Loschek (1932 veröffentlicht) und denen des Telegrafen Julius Schuldes (komplett 1980 veröffentlicht). Fazit: In den entscheidenden Stellen weichen alle drei Berichte stark voneinander ab. Seine eigenen Aufzeichnungen wertet Hoyos bewusst ab, denn er
erklärt Loschek zum einzigen Augenzeugen und seinen eigenen Aussagen damit zu jenen „aus zweiter Hand“. Auf
den Text der Denkschrift wird an anderer Stelle eingegangen. Zwischenzeitlich erhärten sich die Hinweise, dass
Hoyos seine Erinnerungen nicht nach selbst Erlebtem schrieb, sondern von anderer Stelle diktiert bekam.
Das von Clemens M. Gruber mit Datum vom 01. Mai 1898 datierte Testament des Grafen Hoyos findet sich
nicht im Zentralarchiv der Familie in Horn auf. Ein Testament des Neffen Carl (1867-1947) ist dort ebenso wenig
vorhanden wie Aufzeichnungen von Diener Jakob Zak und der Bedienerin Regine Schöber602.
601
Ortstermin auf dem Friedhof Gutenstein, Gruft Hoyos, Inschrift: „Excellenz Josef Graf Hoyos, geboren 9. November 1839, gestorben 22. Mai 1899. In dankbarer Erinnerung von seinen Neffen“.
602
Dr. Michael Salvator Habsburg-Lothringen, Hoyos-Archiv Horn, 15.03.1993 an den Verfasser
98
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
H: Larisch
„...mitunter gibt es Schicksale,
–
die man in einem Roman
unwahrscheinlich fände – die es
aber im Leben doch gibt“
Marie Gräfin Larisch
„Gräfin Marie Larisch-Wallersee603 wurde am 24. Februar604 1858 als uneheliches Kind geboren und erst
sechs Monate später, am 28605. Mai 1859, durch Heirat des Herzogs Ludwig in Bayern606 mit der Schauspielerin Henriette Mendel607 legitimiert. Dieser war kurz vor der Hochzeit, am 19. Mai 1859, der Titel Freifrau von Wallersee verliehen worden.608“
Die junge Marie Freiin von Wallersee fand bei Kaiserin Elisabeth als Kind einer „morganatischen Ehe“ ihres
Bruders Ludwig schnell gefallen und wurde in späteren Jahren oft in die Umgebung ihrer Tante eingeladen. 1876 lernte Marie den um drei Monate jüngeren Kronprinzen kennen. Nachdem die Kaiserin eine Ehe mit Nikolaus „Nicky“
Graf Eszterházy609 abgelehnt hatte, ging sie am 20. Oktober 187 in Gödöllö eine Vernunftehe mit Georg Graf Larisch
von Moennich610 ein. Während der Zeremonie in der Schlosskapelle war das Kaiserpaar anwesend und steuerte eine
603
eigentlich Louise Marie Elizabeth
Fritz Judtmann irrt, wenn er vom 24. November 1858 schreibt.
605
Fritz Judtmann irrt, wenn er vom 28. November 1858 schreibt.
606
*Wittelsbach, Königliche Hoheit Ludwig Wilhelm von, Herzog in Bayern, geb. am 21.06.1831 in München, gest. am
06.11.1920 in München. Verheiratet in erster morganatischer Ehe mit Henriette Mendel. Nach deren Tod seit 19.11.1892 verheiratet in zweiter morganatischer Ehe mit Barbara Antonie Barth, seit 1892 Freifrau von Bartolf, geb. 25.10.1871 in München, Ehe
geschieden am 11.07.1913 in München, gest. am 23.05.1956 in Garmisch Partenkirchen, Tochter von Ludwig Barth und Marie
Clara Beyhl (sie heiratete in zweiter Ehe am 14. Juni 1914 in München den am 02.08.1878 in Bayreuth geborenen und am 30.
11.1960 in Garmisch Partenkirchen verstorbenen Maximilian Mayr).
607
Mendel, Auguste Henriette Friederike, geb. 31.07.1833 in Darmstadt, gest 12.11.1891 in München und beigesetzt in der Gruft
auf Schloss Tegernsee, Tochter von Johann Adam Mendel (geb. Darmstadt 1807, gest. Darmstadt 1851) und Anna Sophie Müller
(geb. Egelsbach 1806, gest. Darmstadt 1856); Adam Mendel stand als „Leibjäger modo Leiblaquai“ im Dienst des hessischen
Großherzogs in Darmstadt, der die Familie unterstütze. Henriette Mendel und Herzog Ludwig hatten noch einen gemeinsamen
Sohn, Karl Emanuel Mendel, geb. am 09.05.1859 in Augsburg, gest. am 01.08.1859 an „Bauchschwindsucht“ in Augsburg.
608
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
609
Esterházy von Galántha
610
Graf Georg Larisch von Moennich, Freiherr von Ellgoth und Karwin, geb. am 27.03.1855 in Schönstein/Kreis Troppau, Anerkennung des preußischen Grafenstandes an Bord der Jacht Hohenzollern vor Bergen am 25.06.1900, gest. am 07.01.1928 auf
Schloss Roy/Freistadt; Sohn von Leo Graf Larisch von Moennich und Helene Prinzessin Stirbey. Neffe von Johann und Vetter
von Heinrich Graf Larisch. Graf Georg heiratete in zweiter Ehe am 26.04.1906 in Paris Caroline Horn, geb. 12.12.1864 in Paris,
gestorben zwischen 1936 und 1938 auf Schloß Roy.
604
99
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
fürstliche Aussteuer bei. Der Thronfolger schenke seiner Cousine eine Brosche mit einer schwarzen Perle, die sie jedoch aus ängstlichem Aberglauben nie trug.
Der Ehe mit dem Grafen entsprossen fünf Kinder:
1. Franz-Joseph Ludwig Maria, geboren am 24. September 1878 in Schönstein, gestorben am 1. November 1937 in Tegernsee611.
2. Marie Valerie Franziska Georgine, geboren am 22. September 1879 auf Schloss Piersna, gestorben am
31. Oktober 1915 in Lausanne.
3. Marie (Mary) Henriette Alexandra, geboren am 14. November 1884 in Wien, gestorben am 25. März
1907 in Metz.
4. Heinrich Georg Maria, geboren am 3. Februar 1886 in Wien, gestorben am 3. Juni 1909 in Neapel – er
verübte Selbstmord nachdem er erfuhr, welche Rolle seine Mutter im Drama von Mayerling gespielt
hatte.
5. Friedrich Karl Ludwig Maria, geboren am 5. September 1894 in Rottach am Tegernsee, gestorben am
10. Oktober 1929 in München612.
Sieben Jahre nach den Ereignissen von Mayerling „wurde die Ehe (1896) geschieden, wobei jedoch … kein
Zusammenhang mit der Mayerling-Affäre bestand. Sie heiratete am 15. Mai 1897 ein zweites Mal, und zwar den königlich-bayerischen Kammersänger Otto Brucks613 in München, ein drittes Mal 1924 den Farmer W[illiam]. A. Mayers614 in den USA und später angeblich einen gewissen Fleming, der ihr bei der Abfassung ihrer Erinnerungen behilflich war.615“
Marie und Graf Georg lebten nach der Hochzeit bis 1883 und ein weiteres Mal von 1885 bis 1886 in einem
palaisartigen Haus an der Wiener Praterstraße 38, danach logierte sie in Wien meist im „Grand Hotel616“ und lebte
hauptsächlich auf dem Landsitz ihres Mannes, Schloss Pardubicek, in Pardubitz in Böhmen617, wo sie auch den dritten
Bruder der Baronin Vetsera, den Offizier Henry Baltazzi, kennen lernte. Da die Gräfin öfters die Reitbahn des Barons
nutze, kam sie dort auch in engeren Kontakt mit Helene Vetsera, die ihren Bruder oft besuchte. Kennen gelernt hatte
611
Graf Franz Joseph Larisch von Moennich, Freiherr von Ellgoth und Karwin heiratete am 27.06.1901 in Buffalo/New York Mary G. Satterfield, geb. 10.07.1879 in Titusville, gest. 27.02.1946 in Newbury, Tochter von John Micheltree Satterfield und Mathilda S. Martin (Scheidung Wien, 12.06.1909). Kinder: Hans Heinrich und Demeter.
612
Graf Karl Friedrich Larisch von Moennich, Freiherr von Ellgoth und Karwin heiratete am 20.05.1926 in Budapest Utta von
Klas (geb. 1876 in Erbeck), Tochter von Otto von Klas und Augusta Bund. Die Ehe wurde noch im gleichen Jahr geschieden. Die
Braut war vor der Hochzeit verheiratet und heiratete in 3. Ehe am 03.07.1931 in Attleboro/USA Donald Grey Colp
613
Brucks, Otto, geb. am 28.11.1854 in Brandenburg, gest. 15.01.1914 in Metz, Sohn von Robert Brucks und Berthe Kahn. Aus
der Ehe mit Otto Bruck entstammt Otto Brucks jun. geb. am 10.03.1899 in Rottach, gest. am 22.11.1977 in Schwindegg, verheiratet von 1937 bis zur Scheidung 1946 mit Eva Schiller, gest. 24.01.1977 in Bayreuth
614
Meyers, William H., geb. am 20.08.1859, Sohn von Louis Meyers und Josephine Kapel.
615
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
616
Grand Hotel Wien, Kärntner Ring 9 (www.grandhotelwien.com): 1870 Eröffnung des von dem Architekt Carl Tietz (gestorben
1875; weitere Bauten u.a. Arbeitersiedlung „Tschechenring“ in der Marktgemeinde Felixdorf; der erste Entwurf der Wiener Börse
stammte von Tietz, doch nach dessen Tode verwirklichte Theophil Hansen seinen eigene Entwurf) entworfenen, ersten Grand Hotels der Stadt Wien; 1958-1979 Hauptsitz der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA; 1989 Erwerb der Immobilie durch die
All Nippon Airways und Umbau; Planungsbeginn: 1989, Baubeginn 1991, Fertigstellung 1994, Neueröffnung am 15.06.1994 als
Hotel der Luxuskategorie, Bauherr: Erste Wiener Hotel AG/Grand Hotel GmbH/All Nippon Airways („ANA Grand Hotel“); der
Westtrakt entstand unter Beibehaltung der historischen Prunkfassade des Palais Corso; Architekten: Arbeitsgemeinschaft Dipl.
Ing. Heinz Neumann, Hlawenicka & Partner, Dipl. Ing. Hannes Lintl; Umbaukosten: 1,6 Milliarden Schilling, Technikkosten 24
Mio. Euro; seit 31.07.2002 als „Grand Hotel Wien“ im Besitz der JJW Hotels & Resorts des Scheichs Mohamed Bin Issa Al
Jaber/Saudi Arabien. Bruttogrundfläche 66.000 Quadratmeter, Grand Hotel 27.000 Quadratmeter, Palais Corso 29.000 Quadratmeter inkl. 10.000 Quadratmeter Garage, 15 Geschosse, 205 Zimmer und Suiten, Ballsaal mit 535 Quadratmetern. Seit 01.08.2002
Mitglied der Vereinigung „Leading Hotels of the World“.
617
heute Pardubice
100
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
sie Helene und ihre Brüder Aristide und Hektor bereits in Gödöllö, als diese den Grafen Eszterházy besucht hatten.
„Es entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen den Damen, desgleichen später auch zwischen der heranwachsenden Mary Vetsera und der Gräfin.618“
Maries Rolle in der Mayerling-Affäre beginnt aktiv mit der Zusammenführung der jungen Baroness Vetsera
mit dem Kronprinzen im November 1888. „Als aus den vorgefundenen Briefen der Gräfin Larisch an Kronprinz Rudolf ihre Rolle als Vermittlerin des Verhältnisses eindeutig hervorging, fiel sie bei der Kaiserin in Ungnade und wurde
bei Hof nie mehr empfangen. Sie rächte sich, indem sie in ihren Büchern, Memoiren619 und einem Buch über Kaiserin
Elisabeth620 das ihr geschenkte Vertrauen missbrauchte und intimste Details aus deren Leben veröffentlichte621“ - allerdings fast „ausschließlich unter Mithilfe von Journalisten und Berufs-Ghostwritern622“.
Das von Legenden umrankte Leben „jener Gräfin Larisch“ hat in ausgezeichneter Weise die Wiener Autorin
Brigitte Sokop nachgezeichnet und in detektivischer Kleinarbeit viele bislang unbekannte Fakten zu Tage gefördert.
Dieser ausgezeichneten Biographie können wir an dieser Stelle keine neuen Informationen hinzufügen623.
Marie Larisch stirbt am 4. Juli 1940 in Augsburg und findet ihre letzte Ruhe in einem Erdgrab rechts neben
der Gruft ihres Vaters auf dem Ostfriedhof in München624. Im Jahre 1979 war das Grab in einem völlig verwahrlosten
Zustand und kaum zu erkennen. Die Recherche von Brigitte Sokop veranlasste jedoch die Familie Wittelsbach, die
Pacht über die Belegungsdauer von 40 Jahren hinaus zu verlängern.
618
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Wallersee, Marie Freiin von: „My Past - Reminiscences of the Courts of Austria and Bavaria; Together with the True Story of
the Events Leading Up to the Tragic Death of Rudolph, Crown Prince of Austria“, London 1913; „Mon passé - Le drame de
Mayerling”, Paris 1916; „Meine Vergangenheit“, Leipzig 1937
620
Wallersee, Marie Freiin von: „Her Majesty Elizabeth of Austria-Hungary, the Beautiful Tragic Empress of Europe's Most Brilliant Court”, New York 1934; „Kaiserin Elisabeth und ich”, Leipzig 1935; „Secrets of A Royal House“, 1936; „Les secrets d'une
Maison Royale”, 1936.
621
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
622
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch ... Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee - Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1988
623
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch ... Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee - Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 2. Auflage 1988
624
Auf dem Ostfriedhof München ist seit 1999 auch der deutsche Sänger Rex Gildo und seit 2003 die Filmemacherin – und frühe
Kinodarstellerin der Mary Vetsera – Leni Riefenstahl beigesetzt.
619
101
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
10.
Die Zeugen
I: Loschek
„Ich bin stolz darauf,
als armer Mann
zu sterben.“
Johann Loschek
19. Januar 1928
Zwei steinerne Platten bedecken die Gruft 228/229 auf dem katholischen Friedhof von Klein Wolkersdorf,
Markt Lanzenkirchen. Sechs goldene Namen wurden in den polierten Stein eingeschlagen. Der Zweite zieht noch immer Besucher an: Johann Loschek625. Der Grund: Er, Kronprinz Rudolfs Leibkammerdiener626 und Saaltürhüter627,
war einer der wenigen Tatortzeugen in Mayerling. Was hatte er wirklich gewusst?
Loscheks Wissen lüfteten am 24. April 1932 die „Berliner Illustrierte Zeitung“ und das „Neue Wiener Tagblatt“. „Die Wahrheit über den Tod des Kronprinzen Rudolf“ wurden Johann Loscheks Erinnerungen betitelt – sein
Lebenslauf und die „richtige Darstellung des Dramas“, die er am 19. Januar 1928 im Beisein des Bürgermeisters von
Lanzenkirchen628 seinem Sohn Johann629 diktierte630. Ebenso wie andere Tatortzeugen hatte auch Loschek das Bedürfnis, sich am Ende seines Lebens für sein Schweigen zu rechtfertigen. Seine Erinnerungen wurden 43 Jahre nach der
Tragödie und zwei Monate nach seinem eigenen Tode631 veröffentlicht.
Doch wie kam es dazu? Schon zwei Tage nach dem Tod des Kronprinzen wurde Johann Loschek zu einer
Audienz bei Obersthofmeister Fürst Hohenlohe geladen. Wieder Tage später fand dann im Roten Saal der Burg eine
Konferenz statt, bei der ein in Mayerling aufgenommene Protokoll über Rudolfs Tode verlesen wurde. Anwesend waren hier neben Ministerpräsident Taaffe auch Fürst Hohenlohe, Graf Bombelles, Dr. Wiederhofe und einige Attachés –
625
Ortstermin Klein Wolkersdorf, Mai 1990
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
627
Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Mlakar-Verlag, Judenburg 1989
628
Holler, Gerd: „Mayerling, die Lösung...“, Fritz Molden-Verlag, Wien 1980
629
Loschek, Johann jun. * 19.07.1891 in Oberwaltersdorf; + 05.04.1978
630
Im Januar 2003 wurde durch das Wiener Antiquariat Inlibris ein kleines Konvolut mit Dokumenten zum Drama von Mayerling
angeboten, das aus dem Besitz eines Alois Fischer stammte. Er protokollierte u.a. einen Besuch von Johann Loschek bei ihm am
5. Oktober 1910, der ihn wegen der Aufnahme seines Sohnes in die Mödlinger Brauereischule befragen wollte. In diesem Zusammenhang berichtet Loschek über die Zeit vom 28. bis 31. Januar 1889 in Mayerling. Augenscheinlich – so Inlibris – widerspricht das Protokoll in keiner Weise der Hoyos-Denkschrift. Loschek will sogar auf den eigenen Armen die tote Baroness ins
Dienerzimmer getragen haben, „damit die Leiche nicht im Schlafzimmer des Kronprinzen gefunden wird“.
631
Johann Loschek starb am 13. Februar 1932 mit 87 Jahren auf dem Auerhof.
626
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
zudem auch Johann Loschek. Einzig Graf Hoyos war nicht anwesend. 1927 erfuhr nun Loschek angeblich, dass dieses
Mayerling-Protokoll „auf einem Schloß in Chechien des Grafen Taffee bei einem Brand vernichtet wurde“632 – was
jedoch nicht zutraf. Dies mag der Anlass für Loschek gewesen sein, seine Erinnerungen zu diktieren.
40 Jahre lang hatte der Mann geschwiegen, nun war es für ihn Zeit, sich ohne Anklage zu verteidigen: „Es ist
eine Fabel wenn behauptet wird, Loschek war nun ein reicher Mann geworden. Das kleine Kapital hatte ich mir ehrlich und redlich verdient“633, erinnert er sich in seinem Altersdomizil, dem 1896 von Johann Michael Schreyer erworbenen und 1897 mit einer neuen Straßenfront versehenen Auer-Hof in Klein Wolkersdorf634. Loschek musste – da er
wohl die von Mitis veröffentlichten „Erinnerungen“ des Grafen Hoyos nicht kannte – davon ausgehen, dass er nach
dem Brand in Ellischau alles behaupten konnte, was er wolle. Niemand hätte den Bericht auf seinen Wahrheitsgehalt
abklopfen können, glaubte Loschek doch, dass „diese zwei Bögen wirklich die einzigen noch existierenden authentischen Begebenheiten über das Drama von Mayerling darstellen“635.
Johann Loschek wurde am 18.Juli 1845 im Forsthaus der Wiener Neustädter Akademie geboren636, wo sein
Vater637 in kaiserlichen Diensten stand. 1863 trat er als Waidjunge im k.k. Jagdrevier Weittau in den Hofdienst ein.
Ab 1875 tat er Dienst im Forstmeisteramt Auhof. Über seine erste Begegnung mit dem damals 11jährigen Kronprinzen schrieb Loschek: „Ich fand in den damals weit ausgedehnten kaiserlichen Revieren Verwendung. (...) Da lernte
ich den (...) Kronprinzen Rudolf kennen und lehrte ihm die ersten Anleitungen zur Jagd“638. Am 1. September 1876
wurde Loschek zum Kammerbüchsenspanner ernannt und am 1. Oktober 1877 hielt der 32jährige sein „Anstellungsdekret“ für den Wiener Hof in Händen. Loschek heiratete am 15. Januar 1878 Antonia Meissner639.
Am 4. September 1883 wurde Johann Loschek zum Saaltürhüter des Kronprinzen ernannt, nannte sich aber
noch selbst bis zu seinem Tode „Leibkammerdiener“. Eigentlicher Inhaber dieses Titels war jedoch Karl Nehammer640. In dieser Position war er „nun an der Seite Rudolfs bis zu seinem Tode in Mayerling“641. Loschek begleitete
den Erzherzog Thronfolger bei dessen Reisen und „so kam es, dass ich bald der Vertraute Rudolfs wurde“642. Kurz
nach dem Drama von Mayerling wurde Loschek auf eigenen Wunsch mit einer einmaligen Personalzulage von 2.600
Gulden643 und dem Goldenen Verdienstkreuz644 mit Krone645 in Pension geschickt. Als Pension erhielt er weitere
1.300 Gulden jährlich646.
Hoftelegraf Julius Schuldes beurteilte kurz nach dem Erscheinen die Erinnerungen von Loschek: „Er schildert
breitspurig und in selbstgefälliger Absicht, um sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen“647. Schuldes, im Januar 1889
ebenfalls in Mayerling anwesend, mag zu Loschek kein besonders gutes Verhältnis gehabt haben. Vielmehr sah er
632
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
634
Ortstermin 1990; was der Wappenstein in der neuen Fassade bedeutet, ist bislang nicht geklärt
635
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
636
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
637
Die Familie dürfte aus Benedik in Böhmen stammen und bereits der Uhrgroßvater von Johann Loschek, Josef Loschek, war
Oberjäger auf den Gütern des Erzbischofs Graf Tun, später als Jäger bei Kaiser Franz I/II in Wien.
638
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
639
HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21
640
Gruber, Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
641
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
642
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
643
HHStaA, 14/10855 ad 489/1889
644
Schiel, Irmgard: „Stephanie“, Heyne-Verlag 1990
645
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
646
nach Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
633
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
durch Loscheks Erinnerungen die Publikation seiner eigenen Mayerling-Skizzen gefährdet. Schuldes kommt zu dem
Schluss: „Diese (...) Ausführungen haben augenscheinlich den Hauptzweck, den Erzähler über alle Hauptsächlichkeiten hinweg gehörig in den Vordergrund der Ereignisse zu schieben und seine Bedeutung zu heben und ihn von dem oft
zu Gehör gebrachten Verdacht reinzuschwaschen“648.
Rudolf hatte in der Tat so großes Vertrauen zu seinem Saaltürhüter, dass er Loschek ab 1887 dazu benutzte,
an Morphium zu gelangen649. Weitaus wahrscheinlicher als eine Verwendung als „Drogenkurier“ dürfte sein Einsatz
sein als Kurier für Anordnungen, Befehle und ähnliches650. So erhielt er auch durch Marys Zofe alle Briefe der Vetsera an den Kronprinzen, die stets an ihn adressiert gewesen sein sollen. Auch hat er Mary einige Male bei ihren nächtlichen Besuchen durch die Hofburg geführt651. Dass Johann Loschek eine besondere Bedeutung im Leben des Kronprinzen gehabt haben dürfte, mag ein von Slatin erwähnter Brief an diesen belegen. Diesen Brief, der auf einem Tisch
im Jagdschloss Mayerling lag, zitiert Loschek in seinen Erinnerungen: „Lieber Loschek, holen sie einen Geistlichen
und lassen sie uns in einem gemeinsamen Grabe in Heiligenkreuz beisetzen. Die Pretiosen meiner teuren Mary nebst
Brief von ihr überbringen sie der Mutter Marys. Ich danke ihnen für ihren jederzeit so treuen und aufopferungsvollen
Dienste während der vielen Jahre, welche sie bei mir dienten. Den Brief an meine Frau lassen sie ihr auf kürzestem
Wege zukommen. Rudolf“652. Doch zurück zum Beginn der Tragödie, wie sie von Loschek beschrieben wird.
„Ich fuhr mit meinem Hofwagen am 29.Jänner 1889 um ¾ 9 Uhr vormittags zum Südbahnhof, um nach Baden
einzusteigen.653“ Vom Badener Bahnhof aus reiste er mit „seinem“ Fiaker weiter nach Mayerling, das „er“ nach den
Wünschen des Kronprinzen eingerichtet haben soll. Als „einzigen Jagdgast“ nennt Loschek namentlich den Grafen
Hoyos. Prinz Coburg will er selbst mit der Nachricht des Kronprinzen zum Kaiser geschickt haben, Rudolf könne wegen Halsschmerzen nicht zum Familienessen kommen. Diesen Auftrag will Loschek jedoch schon lange Zeit vor der
Ankunft Rudolfs und der Vetsera im Jagdschloss getan haben. Wenig glaubhaft liest es sich, wenn Loschek sich erinnert, Rudolf sehe ihn nach dem Abendessen mit Hoyos an, als „wollte er sagen, du bist es, welcher bald seinen guten
aber unglücklichen Herrn tot finden wird“654.
Loschek meint fast 40 Jahre nach dem Geschehenen, Mary habe das Abendessen allein eingenommen. Als der
Kronprinz zu ihr ging, ermahnte er Loschek, niemanden zu ihm zu lassen, „und wenn es der Kaiser ist". Loschek will
sich wie gewöhnlich im Nebenzimmer sich zur Ruhe gelegt haben, doch konnte er in dieser Nacht keine Ruhe finden,
denn „ich hörte die ganze Nacht über Rudolf und Vetsera in sehr ernstem Tone sprechen. Verstehen konnte ich nicht.“
Um fünf Minuten vor ¼ sieben Uhr kam der Kronprinz „ganz vollständig angezogen zu mir in das Zimmer
und befahl mir einspannen zu lassen.655“ Im Hof angekommen, hörte Loschek zwei Detonationen, eilte zurück, will
Pulverdampf gerochen haben und fand die Tür zu Rudolfs Schlafzimmer „entgegen der Gewohnheit“ versperrt. Loschek will nun den Grafen Hoyos geholt und mit einem Hammer die Türfüllung eingeschlagen haben. Mit der Hand
griff er hinein, sperrte auf und sah einen „grauenhaften Anblick – Rudolf lag entseelt auf seinem Bette – ganz angezogen“.
647
Schuldes, Julius: Abschrift einer Gedächtnisskizze über den Bericht Loscheks, Rollett-Museum Baden; Transkription Ing.
Halbritter
648
Hamann, Brigitte: „Kronprinz Rudolf“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
649
Holler, Gerd: „Mayerling, die Lösung...“, Fritz Molden-Verlag, Wien 1980
650
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau-Verlag, Wien 1983
651
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau-Verlag, Wien 1983
652
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
653
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
654
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Auch Mary Vetsera will er bekleidet auf ihrem Bett gesehen haben. „Die Betten standen nicht wie Ehebetten
nebeneinander, sondern an den beiden Wänden.“ Dennoch meint Loschek, er habe nach dem neuerlichen Absperren
der nun zerstörten Tür den Kronprinz und die Baroness in ihre Betten gelegt. Zuvor jedoch will er „Leibarzt Baron de
Widerhofer (und die) zwei Adjutanten Baron Geist und Graf Rosenberg“ telegrafisch verständigt haben. Als erfahrene
Waidmann stellte er fest, dass nur „zwei wohlgezielte Schüsse“ aus Rudolfs Armeerevolver gefallen waren und dass
„Rudolf zuerst Mary Vetsera erschossen hatte und sich dann selbst entleibte“. Nun las Loschek den an ihn gerichteten
Abschiedsbrief und brach zusammen: „Ich kniete nieder, meinen Kopf auf Rudolfs Arm legend, und weinte bitterlich“, bis gegen ½ neun Uhr Widerhofer klopfte. Der nach Loscheks Bericht in erstaunlich kurzer Zeit aus Wien herbeigeeilte Arzt brachte einen Sekretär mit, welcher „nach meinen Angaben“ den Tatbestand aufnahm. Zusammen mit
Widerhofer will Loschek dann den Toten gegen neun Uhr abends nach Baden und weiter mit der Bahn nach Wien in
die Hofburg gebracht haben. „So lautet einfach und ohne Romantik genau wie ich es erzählt habe das Drama von Mayerling“656.
Loscheks Erinnerungen stehen nicht nur in vielen Punkten in Widerspruch zu jenen des Grafen Hoyos, sondern auch zu seinen eigenen, früheren Aussagen. Nach dem Tode des Kronprinzen erhielt Loschek neben Geld und
Orden einen Artilleriesäbel, einen Kugelstutzen, ein Lancasterschrotgewehr Kaliber 20, einen Drilling der Marke Lancaster und ein Repetirkugelgewehr657. Drei der Gewehre waren mit Gold verziert und trugen eine Goldlamelle mit der
Aufschrift „Rudolf“658. Die Waffen sind jedoch nach dem 2. Weltkrieg aus dem Besitz der Familie verschwunden.
Von den Kleidungsstücken, die Loschek erhielt, erwarb Oberst Zerzawy einige Teile, darunter Rudolfs letzte Lederhose. Jener Zettel, den der Kronprinz Loschek hinterlassen haben soll, galt bislang als verschollen659. Auf Grund des Zettels sah sich bekanntlich Graf Hoyos veranlasst, seine „Denkschrift“ zu verfassen. Zwischenzeitlich wissen wir, dass
er im Besitz der Familie Habsburg-Lothringen ist. Hier erstmals ein authentisches Zitat aus dem gut erhaltenen, vom
Kronprinzen handschriftlich abgefassten Brief: „... Excellenc Hoyos, ich lasse ihn grüßen und bitten, nicht zu telegraphieren, es soll um einen Geistlichen nach Hl. Kreuz schicken, damit in der Nacht gebetet wird. Die Baronin lässt Graf
Hoyos auch grüßen, er soll nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat.“
Nach dem Tode Johann Loscheks ging der 60 Joch große Auer-Hof, ein bereits 1380 erwähntes Lehen des
Geschlechtes der Auer, an seinen Sohn Johann660 und dessen Frau Margarete über. Nach dem Tode von Margarete661
und Johann Loschek jun. sowie seiner Schwester Antonia662 erwarben Rotraut und Eduard Witetschka den Hof.
Der Kronprinz Rudolf-Forscher Prof. Hermann Zerzawy nahm am 27. August 1955 im Auerhof mit dem
Großwirtschaftsbesitzer Johann Loschek jun. ein Protokoll auf. Er berichtet, sein Vater habe den Selbstmord des
Kronprinzen auf eine „Gemütsdepression“ zurückgeführt: „Beide sind durch Revolverschüsse durch die Hand des
Kronprinzen gestorben.“ Zerzawy dürfte enge Kontakte zur Familie Loschek gehabt haben, denn er erhielt am Tag des
Protokolls auch den Ahnenpass der Loscheks als Geschenk.
655
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
„Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932
657
„Verzeichnis der Säbeln und anderer Jagdwaffen weiland Seiner k.k. Hoheit des Kronprinzen Rudolf“, HHStaA, III/108 ab
1026 ex 1889
658
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
659
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Kremayr & Scheriau, Wien 1968
660
Bürgermeister in Lanzenkirchen von 1931-1934; sein einziger Sohn Johann „Hansi“ ist im 2. Weltkrieg in Polen vermisst und
wurde am 08.05.1945 für Tod erklärt
661
Margarete Loschek, gestorben 1987
656
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
J: Püchel
„Die Hirnschale war oberhalb
der rechten Schläfe zerschmettert
und diese Verletzung musste zweifellos
den sofortigen Tod herbeigeführt haben.“
Rudolf Püchel
Jagderlebnisse
Als eine interessante Quelle zum Leben des Kronprinzen können wir die Erinnerungen des KammerBüchsenspanners663 Rudolf Püchel heranziehen. Er begleitete Rudolf im Januar 1889 zwar nicht nach Mayerling, gibt
jedoch rückblickend Auskunft über die letzten Stunden des Erzherzogs in der Hofburg und die Überführung des Toten
nach Wien. Mitte der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Püchel zwei Artikel aus seinen Erinnerungen
Zeitungen – an die gemeinsamen Jagden mit dem Thronfolger664 und dessen Tod665. Mit diesen Quellen arbeitete bereits Oskar von Mitis666.
Durch einen Zufall wurden Mitte der 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts die Lebenserinnerungen des Jägers in
einer Truhe auf dem Dachboden des Püchel ´schen Einfamilienhauses am Standrand von Wien gefunden: 418 handgeschriebene Seiten, mit Zwirn zu Stößen mit je 40 Seiten zusammengenäht667. Mit 13 eigenhändig gezeichneten, naiven
Bleistiftzeichnungen hatte Püchel die Texte illustriert, die seither immer wieder in verschiedenen Ausstellungen zu sehen waren. Als Quellenmaterial darf man die Aufzeichnungen nicht zu gering schätzen. Sie entstanden unmittelbar
und zeitnah als Notizen von Reisen, Reden und Ereignissen in einem Tagebuch, aus dem Püchel dann seine Erinnerungen zusammenstellte668.
662
Antonia Loschek, 1893-1987
Hof- und Staatshandbuch der öst.-ung. Monarchie für 1889, gedruckt 05.12.1888, HHStaA. Dort wird Püchel jedoch „Rudolph
Püchel“ genannt.
664
„Die drei Bärenjagden des Kr. Rudolf“ von Rudolf Püchel, Neues Wiener Tagblatt, 11.10.1925
665
„Die letzten Stunden des Kronprinzen Rudolf in der Wiener Hofburg“ von Rudolf Püchel, Reichspost Wien, 31.01.1926
666
Sektionschef a. D. Dr. Oskar Freiherr von Mitis sen., „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag Leipzig, 1. Auflage
1928
667
Anlässlich einer Jagdausstellung 1978 publizierte die Kulturjournalistin Dr. Elisabeth Koller-Glück, eine Cousine der PüchelErbin Christine Pai, die von ihrem Mann, Medizinalrat Dr. Friedrich Koller transkribierten Texte, leicht gekürzt im Verlag des
Niederösterreichischen Pressehauses St. Pölten
668
Das Originalmanuskript der „Jagderlebnisse“ befindet sich, ebenso wie das Originaltagebuch, im Besitz von Rudolf Püchels
Enkelin, Christine Pai.
663
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Rudolf Püchel war, ebenso wie Franz Wodicka669 und Johann Walter, als Leibjäger im Hofstaat des Kronprinzen beschäftigt und trug den Titel „k.k. Kammerbüchsenspanner bei Seiner k.k. Hoheit, dem durchlauchtigsten Erzherzog Kronprinz Rudolf“670. Als Büchsenspanner (Jäger) bekleidete er eine Vertrauensstelle im Hofstaat des Kronprinzen: bei Jagden trug er Gewehr, Munition und Verpflegung seines Herrn und wich auch außerhalb der Pirschgänge
nur selten von dessen Seite. Rein äußerlich manifestierte sich seine Position bei Hofe durch eine besondere Uniform,
bestehend aus einem stahlgrünen Waffenrock mit Silberkragen und Goldepauletten, Hosen mit Silberlampas, einem
Dreispitz mit weißen Federbuschen, einem breiten Goldbandelier und einem Hirschfänger.
Am 1. Februar 1881 trat Rudolf Püchel bei dem um zwei Jahre jüngeren Thronfolger in Stellung und begleitete ihn bis zu dessen Tod auf vielen Jagden, aber auch auf Reisen, u.a. nach Ägypten und England. Hugo Graf von Abensperg-Traun empfahl Rudolf knapp vor dem Jahreswechsel 1880/81 seinen damals 24-jährigen Forstadjunkten Püchel als Leibjäger. Graf Abensperg-Traun hatte zwischen Weihnachten und Silvester als Gast an einer Jagd des Kaisers und des Kronprinzen im Hofjagdrevier Mürzsteg teilgenommen. Nach Beendigung einer Jagd soll es der Kronprinz selbst gewesen sein, der dem jungen Mann im Vestibül des Jagdschlosses die Hand auf die Schulter legte und
sagte: „Da ich einen Leibjäger brauche, will ich sie fragen, ob sie in meine Dienste treten wollen.671“ Püchel begann
seinen Dienst – mit allen guten Wünschen der bisherigen Herren versehen – zum Beginn des Februars 1881. Da Rudolf zu dieser Zeit auf Brautschau in Brüssel war, begegnete der Kronprinz seinem neuer Jäger erstmals am 5. des
Monats. Der Thronfolger eröffnete ihm, dass am 9. eine Reise nach Ägypten starten werde.
Der Reise in den Orient folgten weitere – und auch bei Ausstellungseröffnungen und anderen offiziellen Anlässen wich Püchel nicht von der Seite seines Herrn. Er sollte Rudolf auch auf einer Reise nach Ceylon begleiten, die
jedoch durch eine große Truppenverschiebung an der Westgrenze Russlands und der entsprechenden Gegenmaßnahmen in Deutschland und Österreich vereitelt wurde. Püchel: „Infolge der bedenklichen außenpolitischen Verhältnisse
kam die Reise nach Indien nicht zustande. Es kam überhaupt alles anders...672“
Für den 29. Januar, einen Dienstag, hatte Rudolf eine Hochwildjagd um Alland geplant. Davon setzte er Püchel am Samstag, 26. Januar, in Wien in Kenntnis: „Püchel, ich atme schon wieder längere Zeit Stadtluft und habe
jetzt Sehnsucht nach dem Walde. Die Schusszeit des Hochwildes geht zu Ende – vielleicht kann ich noch ein schlechtes, nichts versprechendes Stück in Alland abschießen, oder auf einen Fuchs jagen.673“ Der Jäger sollte am Montag,
28. Januar, vormittags nach Mayerling fahren und dort alle notwendigen Vorbereitungen treffen: „...setzen Sie sich
diesbezüglich mit Forstmeister Hornsteiner ins Einvernehmen. Ich werde Dienstag nach Meyerling fahren und wahrscheinlich Mittwoch abends zurückkehren; weitere Weisungen werde ich Ihnen jedoch erst Montag früh geben, wenn
669
Franz Wodicka , a.a.O. auch in der Schreibweise Vodicka (geboren 1857, gestorben nach einem Schlaganfall am 01.04.1928
in Göching/Mähren, heute: Uzhorod in Ungarn; verheiratet mit Valerie, verstorben um 1960); Wodicka war nach 1918 als Direktor des Staatsforstes der Provinz Karpatho-Russland im tschechischen Staatsdienst; erhielt nach dem Tode des Kronprinzen einen
Revolver mit vier Patronen, die Luxusausführung des Offiziersrevolvers von 1887/88 in einem Etui mit blauem Samtfutter; seine
Frau verschenkte die Gabe an ihren Arzt Felix Moser, der den Revolver samt Etui verkaufen wollte; ihm wurde beides jedoch gestohlen. 1977 verliert sich die Spur von Felix Moser.
670
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
671
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
672
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
673
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai,
Wien
107
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Sie – Sie sind morgen dienstfrei – von Laxenburg zurückgekehrt sein werden. Avisieren Sie den Wirtschaftsinspektor
damit dieser veranlasse, dass eine Wirtschaftsabteilung sich Montagvormittag bereithalte.674“
Als Püchel am 28. in der Früh vom Wochenende kommend aus Laxenburg in Wien eintraf, erfuhr er, dass der
Kronprinz seine Pläne geändert hatte und noch am gleichen Tag nach Mayerling fahren wolle.
Wir stellen die zeitlich identischen Passagen für den 28. Januar 1889 aus dem Zeitungsbericht von 1926 hier
den 1978 veröffentlichten Erinnerungen gegenüber:
„Nach 10 Uhr verließ der Oberstleutnant das Arbeitszimmer, und der Kronprinz trat dann zu mir heraus und
sagte: Püchel, ich muss leider mein Programm bezüglich Mayerling ändern – ich fahre heute schon hinaus; Loschek,
Vodicka und das Wirtschaftspersonale sind bereits vorausgefahren und mein Wagen ist für 12 Uhr bestellt. Ich erwarte
aber noch dringend einen Brief und ein Telegramm.675“
„Um zehn Uhr vormittags verließ der Offizier das Arbeitszimmer. Seine kaiserliche Hoheit kam dann zu mir
heraus und sprach: Püchel, ich musste leider spät nachts mein Programm bezüglich Mayerling ändern – ich fahre heute schon hinaus. Loschek, Vodicka und das Wirtschaftspersonal sind bereits vorausgefahren und mein Wagen ist für
zwölf Uhr bestellt. Ich erwarte aber noch einen dringenden Brief und ein Telegramm.676“
Letztlich verabschiedete sich der Kronprinz am Montag, 28. Januar 1889, mit den Worten „Ich danke, ich
brauche nichts mehr“ von Püchel677. Da er am Dienstag gegen Nachmittag zurück in Wien sein wollte, entließ er den
Jäger. Am 29. Januar, dem Folgetag, erschien Püchel erneut in der Hofburg – statt des Kronprinzen kam jedoch aus
Mayerling ein Telegramm das meldete, der Erzherzog komme wegen Unwohlsein nicht zurück. Kronprinzessin Stephanie war es dann, die Püchel kurz vor 18:00 Uhr zurück nach Laxenburg schickte und für den Vormittag des folgenden Mittwochs in die Burg zurück bestellte. Daheim in Laxenburg, bei seiner Frau und seinem Sohn, konnte er
kaum schlafen und träumte schlecht; am Südbahnhof erfuhr er dann am folgenden Morgen (Mittwoch, 30. Januar)
von einem Bahnbeamten, dass der Kronprinz tot sei. Am frühen Morgen des 31. Januar (Donnerstag) sah er seinen
Herren wieder – Rudolf lag auf dem Totenbett in seinem Junggesellenappartement. Püchel betete an seinem Sarg und
erhielt gegen Mittag vom Kaiser den Befehl, „dem Kronprinzen das Band zum Großkreuz des St. Stephansordens auf
die Brust zu legen678“. Nach seinem Bekunden war dies der letzte Dienst, den er für den Kronprinzen tat. „Am 5. Februar fand die Beisetzung des Kronprinzen Erzherzog Rudolf, gleichzeitig mit der österreichisch-ungarischen Monarchie in der Kaisergruft bei den Kapuzinern statt. Friede seiner Asche.679“
Rudolf Püchel wurde als Sohn eines Försters am 13. Juli 1856 in Wilken680, und nicht wie stets angenommen
im niederösterreichischen Enzersfeld bei Bisamberg681, geboren. Er besuchte die Haupt- und Unterrealschule in Korneuburg und strebte eine bürgerliche Ausbildung an, während sein Bruder Jakob Landwirt wurde. Am 24. Oktober
674
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai,
Wien
675
„Die letzten Stunden des Kronprinzen Rudolf in der Wiener Hofburg“ von Rudolf Püchel, Reichspost Wien, 31.01.1926; zitiert
bei Hamann, Brigitte: „Rudolf – Kronprinz und Rebell“, Kremayr & Scheriau, Wien 1982
676
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
677
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
678
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
679
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai,
Wien
680
Wilken bei Radonitz, heute: Vlkau, Tschechien, Kreis Komotau/Chomutov
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1885 fand um 17:00 Uhr in die Wiener Hofburgkapelle die Trauung mit Anna Karoline Kummer682, Tochter des Wiener Hoteliers Michael Kummer und seiner Frau Therese, statt. Als Kammerbüchsenspanner wohnte er zusammen mit
seiner Frau Anna in einem Nebengebäude des Schlosses in Laxenburg. 1887 kam dort Sohn Rudolf zur Welt683. Nach
dem Tode des Kronprinzen wurde Püchel vom Kammerbüchsenspanner zum Saaltürhüter befördert, bat jedoch, in den
Hofjagddienst zurückversetzt zu werden684. So wurde er als Förster in der Lobau beschäftigt und zog mit seiner Familie von Laxenburg nach Breitenleh. Dort arbeitete er wohl bis zu seiner Pensionierung am 05. April 1901. Während
seiner Zeit in der Lobau erwarb er das Gut Kroisbach Nr. 2 bei Graz. Sein Vermögen legte er in Kriegsanleihen an, so
dass der Witwer – seine Frau Anna war am 4. Februar 1912 gestorben – nach Ende des Krieges mittellos dastand.
1921 verkaufte er den Gutshof, doch fraß die Inflation den Erlös fast vollständig auf.
Schon bald nach dem Tode des Kronprinzen zeichnete sich für Rudolf Püchel der gesellschaftliche Abstieg ab,
den er zeitlebens nicht verkraften konnte. Als Mittelpunkt seiner äußerst bürgerlichen Familie ließ er zwar alle Kinder
studieren, wurde selbst jedoch depressiv, melancholisch und verschlossen. Püchel vermochte nicht zu akzeptieren,
dass mit Rudolfs Tod auch seine hohe Stellung und Deputation bei Hofe beendet war – aus dem angesehenen, uniformierten Begleiter des Kronprinzen war wieder ein einfacher Förster geworden685. Nach Ende der Monarchie wurden
die Depressionen so stark, dass sich Püchel in ein Sanatorium begeben musste.
Als ambulanter Patient der Niederösterreichischen „Kaiser-Franz-Joseph-Heil- und Pflegeanstalt MauerÖhling“ bei Amstetten wohnte Rudolf Püchel nach Kriegsende bei Olga Bothe, die er in zweiter Ehe heiratete. Sie
dürfte es gewesen sein, die ihn animierte, seine Erinnerungen an den Kronprinzen niederzuschreiben und ggf. zu Geld
zu machen686. Sein zweites Testament vom 17. Dezember 1935 bekundet jedoch, dass Geldwerte zu dieser Zeit nicht
mehr vorhanden waren. Püchel starb am 11. Mai 1938 im Alter von 82 Jahren im Krankenhaus von Amstetten/Niederösterreich und wurde im Grab seiner ersten Frau Anna auf dem Friedhof der Pfarrkirche St. Leonhard in
Graz beigesetzt687.
Aus dem Nachlass des Kronprinzen erhielt Püchel „den einzigen vorhandenen Armeerevolver mit Kugel- und
Patronentasche688“ sowie einen kleinen russischen Infanteriesäbel und fünf Gewehre: eine Kugelstutzenflinte der Marke Lancaster, einen Scheibenstutzen der Marke Werndl, einen Repetierstutzen, ein Lancasterschrotgewehr und eine
681
In Bisamberg leben heute Nachkommen der Familie, die sich jedoch „Püchl“ schreiben. Freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Koller-Glück, Wien 28.02.2003
682
Anne Karoline Kummer, geboren 1865, gestorben am 04.02.1912 in Wien, beigesetzt am 06.02.1912 auf dem Friedhofs der
Pfarrgemeinde St. Leonhard in Graz
683
Püchel hatte insgesamt fünf Kinder: Anna (1886-1976; zu ihrer Geburt gratulierte die Kronprinzessin Stephanie telegrafisch.
Sie heiratete einen Sektionschef des Eisenbahnministerium, lebte in Perchtoldsdorf bei Wien; Tochter Gertrud heiratete den römisch-katholischen Pfarrer Schmied und bekam 5 Kinder; Tochter Hedwig ging zur Buße ins Kloster); Rudolf (1887-28.10.1912;
verstarb wahrscheinlich an TBC); Hubert (1889-1965; Diplom-Ingenieur, Ministerialrat im Vermessungswesen, Vater der Erbin
Christine Pai, geb. Püchel); Franz (1892-1927; Apotheker, gab seine Wiener Apotheke auf und wanderte mit seiner Frau nach Kanada aus, kam jedoch nach Europa zurück nachdem ihn seine Frau verlassen hatte); Siegfried (1906-1943; nach dem frühen Tod
der Mutter von seiner Schwester Anna aufgezogen; Stationsvorstand bei den Österreichischen Bundesbahnen, starb an TBC).
Freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Koller-Glück, Wien 06.11.2002
684
HHStaA, Separatakte, Mappe Separate Billetts 1889, Vortrag vom 24.05.1889, zitiert aus dem Nachlass Judtmann im HHStaA
685
Mitteilung von Frau Dr. Elisabeth Koller-Glück an den Verfasser, Wien 22.09.2002
686
am Ende des Kapitels „Die letzten Stunden Seiner kaiserlichen Hoheit des Kronprinzen Erzherzog Rudolf in der Wiener Hofburg“ befindet sich der Vermerk „Nachdruck verboten – Alle Rechte vorbehalten“.
687
Erdgrab Neu IV, 7, 62, Grabbuch der Pfarre St. Leonhard, Graz. Im benachbarten Grab Nr. 8 war der ebenfalls 1912 verstorbene gemeinsame Sohn Rudolf Püchel beigesetzt; beide Gräber gibt es heute nicht mehr; Freundliche Mitteilung Pfarrer Franz Fink,
Graz 13.11.2002
688
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
109
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Flinte Marke Lancaster689. Keines dieser Gewehre ist im Nachlass erhalten. Bis zu seinem Tode hatte Rudolf Püchel
kein einziges Mal über die „Kronprinzenaffäre“ gesprochen. Die Familie hält es für möglich, dass auch er zu jenem
Kreis der ehrenwörtlich zum Schweigen Verpflichteten gehörte690.
Im Nachlass Püchels sind heute ein geschnitzter hölzerner Rauchtisch sowie diverse Originalfotografien vom
Kronprinzen und seines Jägers erhalten. Neben zwei Originalfotografien des Karmels St. Josef in Mayerling birgt der
Nachlass ein großes Jagdmesser mit eingelassenem „R“, eine silberne Taschenuhr des Erzherzogs mit eingelassenem
„R“ auf dem Boden, ein kleines Silberfeuerzeug mit Darstellung eines Jagdhundes und der Beschriftung „Nimes
1882“, ein orientalischer Dolch mit zerbrochenem Elfenbeingriff, eine silberne Anstecknadel zum „1.000 Hirschen“
des Erzherzogs Franz Ferdinand aus dem Jahre 1901 sowie diverse Korrespondenz, die Püchel von den Jagdreisen mit
dem Kronprinzen an seine Eltern schrieb691. In der Familie wird zudem das bereits schwer beschädigte Fell jenes Bären verwahrt, der den Kronprinzen angriff und dabei von Püchel erlegt wurde. Aus dem Fußknochen des Tieres wurde
der Griff eines Hirschfängers gearbeitet, der jedoch von den Nachkommen Püchels verkauft wurde. In den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden in Baden einige Bleichstiftzeichnungen des Jägers durch eine örtliche Galerie verkauft.
689
„Verzeichnis der Säbeln und anderer Jagdwaffen weiland Seiner k.k. Hoheit des Kronprinzen Rudolf“, HHStaA, III/108 ab
1026 ex 1889
690
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
110
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
K: Schuldes
„Ich hörte, dass Sie nunmehr eine
Abänderung des Bildes dahingehend
wünschen, dass das Bett
vollständig leer sei.“
Pressefotograf Max Fenichel an
Regierungsrat Julius Schuldes
10. Mai 1932
Im städtischen Archiv der niederösterreichischen Kur- und Quellenstadt Baden bei Wien wird seit 1934 der
Nachlass des Obmanns der Deutsch-Österreichischen Schriftstellergenossenschaft, des Regierungsrates Julius Schuldes, verwahrt. Er war es, der am 29. Januar 1889 von Alland aus das Telegramm des Kronprinzen mit den Worten
„Ich komme nicht zum Diner. Rudolf“ nach Wien sandte. Neben zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen, einer Visitenkarten- und Autographensammlung sowie einigen Kisten mit Text- und Buchmanuskripten liegen in Baden die
„Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“ – Schuldes Erinnerungen an seine Zeit als Hoftelegraf, der das Drama
von Mayerling vor Ort erleben musste692. Dieses Erleben wurde im Nachhinein zum zentralen Ereignis im Leben des
deutsch-national orientierten und vom Leben enttäuschten, pensionierten Regierungsrates.693
Schuldes, 1935 verwitwet in Baden verstorben, schildert in den handschriftlichen Notizen sein Leben im
Dunstkreis des Kronprinzen. Er hatte Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre – wohl auf Drängen seiner späteren
Lebensgefährtin – zur Feder gegriffen, um die „damaligen Vorgänge in zusammenhängender Folge nach meinen persönliche an Ort und Stelle gemachten Wahrnehmungen und Erlebnissen niederzuschreiben“694. Als Basis diente ihm
691
Freundliche Mitteilung von Christine Pai, geb. Püchel, an den Verfasser, Wien 24.09.2001
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
Der Nachlass enthält u.a. private Dokumente und persönliche Gegenstände (u.a. Ölbild seiner Mutter, das Andenkenbuch seiner
Gattin) sowie politische Zeitungsartikel des Jahres 1923 (Schuldes stand dem freigeistig-nationalen Kreis um Schönerer nahe) und
Erinnerungen an das Kaiserhaus. Separat werden die Erinnerungsstücke an Mayerling verwahrt, darunter fünf unterschiedliche
Ausführungen von Briefpapier und Umschlägen aus Schloss Mayerling, zwei Reststücke der Tapete des Sterbezimmers, ungenutzte Telegrammbögen sowie chiffrierte Telegramme (Dechiffrierversuche), Bleistiftszeichnungen der Jagdschlösser in Mayerling nebst dem Sterbezimmer und Neuberg und andere Architekturskizzen. Der Nachlass wurde zu Beginn der 90er Jahre erstmals
von Diplom-Ingenieur Heinz Halbritter / Baden ehrenamtlich durchgesehen und Teile des handschriftlichen Nachlasses von ihm
transkribiert.
693
Einschätzung nach Rudolf Maurer, Leiter des Archivs der Stadt Baden
694
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden
692
111
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
rund ein Dutzend karierter Kalenderblätter, auf denen er sich im Januar und Februar 1889 flüchtige Notizen gemacht
hatte.
Doch Schuldes hatte nicht nur 40 Jahre nach der Tragödie seine Erinnerungen niedergeschrieben, um die „unglaubwürdigsten Gerüchte über den Tod des Kronprinzen“ zu korrigieren – er wollte aus seinen Erinnerungen auch
Kapital schlagen. Er suchte – gemeinsam mit Dr. Hans Bauer vom Kleinen Volksblatt – in Österreich und Deutschland nach einem Verleger für die Aufzeichnungen, die durch seine Zeichnungen und eine Darstellung des Sterbezimmers illustriert werden sollte – jedoch vergeblich. Mit der Darstellung wurde ein Wiener Pressefotograf beauftragt, mit
dem es aber zu Unstimmigkeiten kam: Schuldes zog aus nicht definierten Gründen sein Einverständnis zurück, auf
dem Sterbebett zwei Personen dargestellt zu wissen695.
Schuldes schriftliche Unterlagen zum Tode des Kronprinzen – darunter auch verschiedene Abdrücke eines
Poststempels aus Mayerling696 – wurden in Baden in einem dicken, verschnürten und versiegelten Packpapier-Paket
aufbewahrt. Schuldes Lebensgefährtin und Universalerbin Herma Clarson-Jeschek hatte verfügt, dass die am 16. Februar 1937 im Archiv hinterlegten „Familiendokumente“ frühestens 1985 veröffentlicht werden sollten697.
Doch bereits in den ersten Jahren nach dem II. Weltkrieg, vermutlich jedoch schon durch brandschatzende
deutsche Truppen auf dem Rückzug oder vorrückende russische Truppen, wurden im Frühjahr 1945 die Siegel gebrochen und der Umschlag geöffnet. So kann heute nicht mehr festgestellt werden, ob der Mayerling betreffende Nachlass des Regierungsrates komplett ist – einige Seiten der handschriftlichen Aufzeichnungen fehlen. Zehn Jahre lang
hatten sich russische Soldaten im Rollett-Museum eingelagert. Fast alle Unterlagen des Stadtarchivs, die man aus Sicherheitsgründen zum Ende des Krieges in die Kellergewölbe geschafft hatte, fielen in dieser Zeit einem Wasserschaden zum Opfer – wohl auch Material von Schuldes698.
Julius Schuldes kam am 2. März 1849 in Hettau, dem heutigen slowakischen Bilin, zur Welt. Um nicht das
Schicksal seines Vaters zu erleiden – er war als kleiner Beamter an das Bezirksgericht im provinziellen Tetschen versetzt worden – nahm ihn sein Onkel als 10-jähriger auf und schickte ihn ans Brünner Piaristen-Gymnasium. Nach dem
preußisch-österreichischen Krieg von 1866 absolviert er einen Staatslehrkurs für Telegraphie in Prag und kam zur
Weiterbildung in die Grenz-Telegrafenstation Bodenbach, von wo er aus personellen Gründen nach Karlsbad versetzt
wurde, um den dortigen Telegrafen zu unterstützen. Über Pilsen kam er 1869 nach Prag, das er jedoch bald wieder
verlassen musste: der Deutschböhme Schuldes weigerte sich, tschechisch zu lernen und versah tschechische Telegrammtexte bei der Übertragung ins lateinische Morsealphabet nicht mit Häkchen und Akzenten699.
Aus Prag wurde Schuldes 1871 nach Wien versetzt, wo sein Leben eine „unvermutete folgenschwere Wendung“ nahm700. Im „Helios Geselligkeitsverein“ lernte er die 18-jährige Eugenie Ebenhöh kennen, die er am 28. Mai
1873 „in aller Stille“ zum Traualtar führte. In seinen Erinnerungen beschreibt Schuldes die Zeit mit Eugenie, die am
21. Juni 1923, kurz nach der Goldhochzeit, starb: „Ich will mein Familienleben nicht – das karge Glück und die qual-
695
Schuldes, Julius, Briefwechsel mit Max Fenichel, Archiv der Stadt Baden
Drei runde Stempelabdrücke auf der Rückseite eines Telegrammformulars, „MAYERLING 1.2.89“, beschrieben von Heinz
Halbritter in „Die Briefmarke“, Nr. 8/August 1990, und eingestuft als Unikat. Darüber hinaus gab es noch einen ovalen Stempel
mit der Aufschrift „K.K. HOF-TELEGRAFENSTATION MAYERLING“
697
Text des Umschlages: „Über seine persönliche Verfügung darf der Inhalt dieses Pakets erst 50 Jahre nach seinem Tode, frühestens also am 1. Jänner 1985 veröffentlicht werden“.
698
Dr. med. Gerd Holler an den Verfasser, Baden 06.09.1991
699
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden
700
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden
696
112
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
vollen Enttäuschungen meines Lebens in allen Einzelheiten – noch einmal durchleben. Fünfzig Jahre haben wir bei an
dieser Last des Schicksals und zum Teil unserer eigenen Schuld getragen“.
Nach dem Tode des erst zweijährigen Sohnes Erwin 1876 zog sich Eugenie immer mehr von ihrem Mann zurück und verfiel einem „Herz- und Nervenleiden“. Einzig Besuche im Theater, kleinere Gesellschaften und der enge
Kontakt zu Hans Makarts weiter Frau und Witwe, der gesellschaftlich nicht akzeptierten Primaballerina Bertha Linda,
hielten ihre Interessen und ihren Geist wach. Auf dem Krankenlager jedoch verfasste sie Gedichte und stellte sogar ein
französisches Vokabelheft zusammen, um die Sprachkenntnisse ihres Mannes zu erweitern. Die erloschene Liebe
scheint nur einseitig gewesen zu sein...
Julius Schuldes hingegen bedauerte immer wieder die Teilnahmslosigkeit seiner Frau und ihr Desinteresse an
seinen Hobbies, dem Reisen, der Schifffahrt und dem Zeichnen von Grundrissen und Gebäuden. „So ergab sich dann
schließlich eine Kette von Ursachen, aus welchen unsere ungleichen Neigungen und Lebensansichten uns allmählich
unmerklich immer mehr auseinander führten und wir entfremdet nebeneinander hergingen, ohne das Glück zu finden“701.
Im Jahr der Wiener Weltausstellung wechselte Schuldes erneut seine Stellung. Statt seiner Berufung als Dichter zu folgen, ergab er sich seinem Schicksal und ließ sich als Telegraf in eine sächsische Grenzstadt versetzen – nach
Tetschen an die Elbe, wo schon sein Vater gearbeitet hatte. Doch dort fand er bald Gelegenheit, seinen literarischen
Vorlieben nachzugehen: Für die zweimal pro Woche erscheinende Stadtzeitung schrieb er Leitartikel, Theaterkritiken
und Berichte. Schließlich wurde er für die in Prag erscheinende deutsche Zeitung „Bohemia“ und andere „deutsche“
Parteiblätter tätig, verfasste – teilweise auch unter seinem Pseudonym Julius Hettauer – ein Reisehandbuch, eine
Sammlung von Volkssagen und einen Epos702.
Doch schon bald ermüdete ihn das journalistische Tagesgeschäft und die Tag für Tag gleiche Arbeit im Telegrafenamt und er suchte nach einer Herausforderung, denn „der Pegasus wiehert ungeduldig“. In Folge des preußischfranzösischen Krieges verließ die Familie Tetschen und zog nach Wien. Seinem Vorbild Walter von der Vogelweide
gleich zog es Julius Schuldes an den Kaiserhof: er versuchte, dem Hoftelegrafenamt zugeteilt zu werden.
Der Zufall half ihm: Schuldes Schwiegermutter war eine Jugendfreundin des ungarischen Kabinettsrates Baron Pápy, und sollte seine Fürsprecherin bei Hofe werden. Nach einiger Zeit – und dem Tod eines Kollegen – wurde
Schuldes tatsächlich in den Staatsdienst übernommen und wurde zur weiteren Ausbildung zwei erfahrenen Telegrafen
des kronprinzlichen Hofstaates in Laxenburg zugeteilt. Fortan wohnte Schuldes mit seiner Frau im Sommer im sogenannten „Uhlenfelder Haus“, einer Villa im Laxenburger Schlosspark, in der sich auch das Telegrafenamt befand.
Ständig pendelte er nun zwischen den Höfen in Wien und Laxenburg, bis 1887 seine Zuteilung zum „temporären Telegrafenamt“ nahe des neuen Jagdschlosses in Mayerling ausgesprochen wurde. „So wurde Mayerling sozusagen meine ausschließliche dienstliche Domäne“703.
Dass Schuldes im Telegrafenamt im Erdgeschoss des Coburger Schlössels in Mayerling nicht nur den Telegrafendienst versah, bestätigt ein Erlass der „K.k. Post & Telegrafen-Direction für Österreich unter der Enns“ von November 1888704, in dem von einem zeitlich eingeschränkten „Postamt Mayerling mit Brief- und Fahrpost-Auf- und
701
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden
„Taschenbuch für Touristen durch die böhmische Schweiz“, Tetschen 1879; „Nordböhmische Volkssagen in ihrer Bedeutung
für die germanische Mythologie und die Geschichte des Landes“, Tetschen 1879; „Iduna – Gedichte“, Tetschen 1883. Alle drei
Bücher erschienen im Verlag des Tetschener Chefredakteurs Stopp.
703
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden
704
Erlass-Nr.39941 ex 1888 vom 24.11.1888
702
113
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Abgabe-Dienst“ die Rede ist. Hiervon zeugt auch die Stempelprobe im Rollett-Museum. Da jedoch alle Briefe des
Kaiserhauses Portofrei zugestellt wurden, der Kontakt des Hofes und der Gutsverwaltung mit Wien hauptsächlich telegrafisch erfolgte und die wenigen Einwohner des Ortes kaum von der Existenz dieses nur an wenigen Tagen – nämlich immer wenn der Kronprinz in Mayerling weilte – geöffneten Amtes wussten, dürfte der Stempel für die „gefassten Postwertzeichen“ äußerst selten, wenn überhaupt, genutzt worden sein705. Zeit und Gelegenheit dazu gab es nur
wenig: Schuldes Postamt öffnete erstmals im November 1888 und schloss am 9. Februar 1889 den Schalter. In Folge
versah ab Oktober 1890 die Post- und Telegrafen-Expeditorin Wilhelmine Kaiser aus Alland auch für Mayerling den
Telegrafendienst706.
Nach dem unerwarteten Tod des Kronprinzen wurde Julius Schuldes zunächst übergangsweise Kronprinzessin-Witwe Stephanie in Laxenburg zugeteilt. Als der Hofstaat des Kronprinzen jedoch aufgelöst und entschädigt wurde, änderte sich das Leben des hochdekorierten Telegrafen. Schuldes wurde zunächst Kassierer, dann Kontrolleur und
zuletzt Abteilungsleiter im Wiener Haupttelegrafenamt. Im Frühjahr 1897 kam er als Telegraf in das Außenamt Lainz.
Der Grund: Kaiserin Elisabeth weilte für längere Zeit in Wien und Schuldes hatte nun in der „Waldeinsamkeit“ des
Tiergartens seinen Dienst zu versehen. Mit Episoden aus dem Leben der Kaiserin, das Schuldes knapp ein Jahr verfolgen konnte, enden seine persönlichen Aufzeichnungen.
Wahrscheinlich bis 1919 lebte Schuldes in Wien (19. Bezirk), und zog dann in die Pergerstraße 14 nach Ba707
den . Beim Bau-Departement der Verwaltung des Hofärars I, dem früheren Obersthofmeisteramt, fragte zu diesem
Zeitpunkt der Regierungsrat an, ob man ihm in einem ehemaligen Hofgebäude in Baden eine „angemessene“ 2- oder
3-Zimmer-Wohung zur Verfügung zu stellen. Um 1920 erschien dann als Sonderdruck sein deutsch-nationales Heft
„Zur Geschichte des Verfalls der Literatur“. Julius Schuldes starb am 6. Dezember 1935708 in Baden und wurde auf
dem städtischen Friedhof in Baden beigesetzt.
705
Heinz Halbritter in „Die Briefmarke“, Nr. 8/August 1990
GDpff 9/1 No. 3794 vom 14.08.1891
707
Unter dieser Adresse war auch Schuldes Frau Eugenie 1923 gestorben
708
Sterbebuch der St. Stephan-Pfarre Baden, tom. XXX f. 207
706
114
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeugen
L: Szögyény-Marich
„Sie kennen eben alle diese Schwierigkeiten so genau,
dass ich mich ganz Ihrem Urteil fügen will.“
Kronprinz Rudolf an
Ladislaus Szögyény-Marich
Wien, 17.12.1887
„Als 1886 der Kaiser seinen Außenminister Graf Kálnoky709 beauftragte, den Kronprinzen über die Außenpolitik zu informieren, kam Rudolf in ständige Verbindung mit dem Ersten Sektionschef des Ministeriums des kaiserlichen Hauses und des Äußeren710, Ladislaus von Szögyény-Marich711, der als „Honvédposten712“ am Ballhausplatz die
Interessen Ungarn vertrat. Zwanzig Jahre älter als Rudolf713, wurde er diesem ein väterlicher Freund und Berater.714“
Wer war dieser Ungarn, den Rudolf testamentarisch715 mit der Sichtung seines Schreibtisches und damit seines schriftlichen Nachlasses beauftragte716?
709
Kalnocky von Köröspatak (auch: Kálnoky von Köröspatak), Gustav Sigmund Graf, geb. 29.12.1832 in Lettowitz/Letovice,
Tschechische Republik, gest.13.02.1898 in Prödlitz/Brodek u Prostějova, Tschechische Republik; Staatsmann und Diplomat. 1874
Gesandter in Kopenhagen, 1880 Botschafter in St. Petersburg, vom 20.11.1881 bis 16.05.1895 längster amtierender k.u.k. Außenminister unter Kaiser Franz Joseph; war maßgeblich am Abschluss des Dreierbundes (Österreich-Ungarn, Italien, Deutsches
Reich) beteiligt; vermittelte zwischen den Balkanstaaten und Mitteleuropa in der Bulgarienkrise und der "Battenbergaffäre" 188587. Vorgänger: Heinrich Freiherr von Haymerle (1879-1881) bzw. Josef von Szlavy (12. bis 20.11.1881); Nachfolger: Agenor
Graf Goluchowski von Goluchovo (1895-1906).
710
richtig für die Zeit von 1848 bis 1918: „I. K.u.K.Ministerium des kaiserlichen Hauses und des Äußeren“
711
richtig: Ladislaus Szögyény-Marich von Magyarszögyén und Szolgaegyháza jun., seit 17.04. 1910 Graf; Hamann schreibt
durchgehend falsch „Szögyenyi-Marich“
712
Judtmann bringt hier ein Zitat aus einem Leitartikel des „Neuen Wiener Tagblattes“ vom 03.05.1883, in dem der Sektionschef
als „Honvédposten am Ballplatz“ bezeichnet wird; nach Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, InselVerlag, Leipzig 1928
713
richtig müsste es heißen, „18 Jahre älter als Rudolf“.
714
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
715
Zweites Testament vom 02.03.1887, hinterlegt am 03.03.1887 im Obersthofmarschallamt in Anwesenheit von Kanzleidirektor
Dr. Rudolf Kubasek, Protokollführer Hugo Ritter Imhof von Geißlinghof und Heinrich Ritter von Spindler, dem Leiter des kronprinzlichen Sekretariates; darin beauftragt Rudolf Szögyény ohne dessen Wissen, er möge gemeinsam mir Kronprinzessin Stephanie seinen Schreibtisch öffnen. In seinem Kodizill von 1889 korrigiert er dies dahingehend, dass Szögyény-Marich allein den
Schreibtisch zu sichten habe.
716
Ludwig Freiherr von Flotow beschreibt Ladislaus Szögyény-Marich als „schwarzgelben Ungar“ („Bécsi Magyar“), der das
Deutsche mit übertrieben starkem ungarischen Akzent sprach, „damit seinen eigenen Landsleuten gegenüber jeder Zweifel an seinem reinen Ungartum vorwegzunehmen“ sei; trotz aller „staatsmännischer Intelligenz, zielbewusster Arbeit, rascher Auffassung,
ruhigem Urteil“ arbeitete der Botschafter jedoch getreu der Devise „Pro me“ und suchte in allem lediglich seinen Nutzen; in
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
115
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
László Szögyény-Marich wurde am 21. November 1840717 in Wien als ältestes von sechs Geschwistern geboren718. Nach standesgemäßer Ausbildung arbeitete er ab 1861 zunächst als Vizenotär im Weißenburger Komitat719, ab
1863 als Praktikant bei der königlichen Tafel in Budapest. 1865 wurde er zum Stuhlrichter im Weißenburger Komitat
ernannt und zwischen 1867 und 1869 war er als Obernotär erneut im Weißenburger Komitat tätig. Der Ungar war mittelgroß, gut gebaut, hatte ein hübsches, markantes, recht magyarisches Gesicht mit scharf blickenden Augen und
„stark gefärbtes“ dunkles Haar. „Die deutsche Sprache beherrschte er vollkommen in Wort und Schrift.720“ Nach Jahren des Sturm und Drangs soll ihn die Hochzeit „in ernstere Bahnen“ zurückgeführt haben. Im Alter galt der „geistreiche und ausgezeichnete Diplomat“ als „ein liebenswürdiger Ungar als Stils“. Täglich lud seine Gattin zum Tee in die
Berliner Botschaft ein, der im Arbeitszimmer des Gesandten stattfand, was ihn „absolut nicht störte721“. Zuweilen fegte auch „eine Schar kläffender Dackel“ durch die Salons.
Von 1869 bis 1882 war Szögyény-Marich Abgeordneter im ungarischen Reichstag. Am 15. Juni seine Berufung zum 2. Sektionschef im Ministerium des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußeren722. Als 1. Sektionschef war zu diesem Zeitpunkt der Berufsdiplomat Ladislaus Graf Hoyos tätig. Schon nach kurzer Zeit schien
Szögyény-Marich die Arbeit neben Hoyos nicht mehr möglich zu sein, so dass er Außenminister Kálnoky um dessen
Position bat. Kálnoky stimmt zu und ab dem 2. Mai 1883 bekleidete er die Position des 1. Sektionschefs723, während
Hoyos als Botschafter nach Paris gesandt wurde724. Nach den Ereignissen von Mayerling wurde Szögyény-Marich am
24. Dezember 1890 im Kabinett des Grafen Julius Szápáry zum königlich ungarischen Minister am Allerhöchsten
Hoflager berufen725 und zog am 29. Dezember als Mitglied der Magnatentafel in den ungarischen Reichstag ein. Als
außerordentlicher und bevollmächtigter k.u.k. Botschafter sandte ihn der damals in Gödöllö weilende Kaiser Franz Joseph I. mit Entscheidung vom 24. Oktober 1892 als Nachfolger des dritten am kaiserlich deutschen und königlich
preußischen Hof akkreditierten Botschafters Emmerich Graf Széchényi von Sarva-Felsövidek726 nach Berlin, wo er
am 12. November – dem Tag der offiziellen Übernahme der Amtsgeschäfte – von Kaiser Wilhelm in Audienz emp-
717
bei Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen
der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003, jedoch 12.11.1841
718
Vater Ladislaus von Szögyény-Marich von Magyarszögyén und Szolgaegyháza, geb. 02.01.1804 in Pest, gest. 19.11.1893 in
Székesfehérvár, beigesetzt in der Familiengruft in Csór; wirklicher geheimer Rat, k.u.k. Kämmerer, Reichsrichter (Judex Curiae)
und Richter an der königlichen Kurie, Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies, Träger des Großkreuz des kaiserlichen österr. Leopoldordens, Commendator des St. Stephanordens, Mitglied des Direktionsausschusses der ung. Akademie der Wissenschaften,
Hofkanzler von Ungarn, Obergespan des Komitates Fejér, Präsident des Magnatenhauses. Mutter Maria Szögyény-Marich von
Magyarszögyén und Szolgaegyháza, geborene Marich von Szolgaegyháza, Sternkreuzordensdame, geb. 11.05.1815 in Székesfehérvár, gest. 08.02.1890 in Székesfehérvár, beigesetzt in der Familiengruft in Csór.
719
Komitat = ung. Verwaltungsbezirk; Weißenburg = Szekesfehervar
720
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
721
Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der
Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003
722
Das Ministerium bestand zunächst aus zwei, ab 1913 dann aus drei Sektionen. Die II. Sektion bestand aus 10 Departements
und umfasste Kaiserhaus, Protokoll, Wirtschaft, Konsularwesen und Verwaltung
723
Zum 2. Sektionschef wurde Marius Freiherr von Pasetti-Friedenburg ernannt. Die 1. Sektion umfasste vier Referate (1:
Deutschland, 2: Russland und Orient, 3: Frankreich, Großbritannien, Italien und andere europäische Staaten und 4: alle anderen
Staaten). Heute (2003) besteht die Politische Sektion aus 10 Abteilungen mit 15 Referaten (nach: Agstner, Rudolf: „Ladislaus
Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre
Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003)
724
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
725
er residierte damals in der ehemaligen ungarischen Hofkanzlei (2003: Ungarische Botschaft, 1010 Wien, Bankgasse 4).
726
Széchényi von Sarva-Felsövidek, Emmerich Graf (geb. 15.02.1825 in Wien, gest. 11.03.1898 in Budapest), k.u.k. Botschafter
am kaiserlich deutschen Hofe vom 27.12.1878 bis 23.10.1892. Seine Vorgänger: Ferdinand Graf Trautmannsdorf (ernannt und
sistiert am 03.11.1878) sowie Alois Graf Karolyi und Nagy-Karolyi (Botschafter vom 10.12.1871 bis 03.11.1878)
116
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
fangen wurde727. Fortan bestand ein reger Austausch mit dem deutschen Herrscher, der weit über die Amtsgeschäfte
und die jährlichen, einstündigen Zusammenkünfte zur Erinnerung an den Tod des Kronprinzen in der erst im April
1889 im „Palais Ratibor“ an der Moltkestraße 3 eingerichteten österreichischen Botschaft728 hinausging729. Kaiser
Wilhelm weilte auch der Hochzeit von Szögyény-Marich´ s Tochter Camilla mit dem Attaché Josef Graf von Somssich in der katholischen Kirche von Berlin-Moabit und dem folgenden Hochzeitsessen bei730. Als Szögyény als Botschafter aus Berlin abberufen wurde, schrieb der deutsche Kaiser an seinen österreichischen „Vetter, Bruder und
Freund“: „Eure K.u.k. Majestät wissen, wie gut Graf Szögyenyi verstanden hat, sich mein volles Vertrauen und Meine
Anerkennung zu erwerben und wie hoch ich seine ausgezeichneten persönlichen Eigenschaften und seine Verdienste
um die Pflege der deutschen und österreichisch-ungarischen Bundesfreundschaft bewerte. Umso lebhafter bedauere
Ich, ihn jetzt aus seinem hiesigen erfolgreichen Wirkungskreis scheiden zu sehen.731“
Kaiser Franz Joseph I. erhob Szögyény-Marich am 17. April 1910 in den Grafenstand, rief den 73-jährigen jedoch am 4. August 1914 aus Berlin ab732. Als Pension erhielt er jährlich 20.000 Kreuzer, rund 70.000 Euro, und als
Dank das Großkreuz des St. Stephansordens mit Brillanten. Hintergrund für den Machtwechsel an der Spree: Nachdem 42 Jahre lang drei Botschafter mit ungarischer Muttersprache den multinationalen Charakter der Donaumonarchie
in Berlin wieder spiegelten, wurde mit dem ehemaligen Offizier und seit 1907 Gatten der Erzherzogin Henriette, Gottfried Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst733, angesichts des zwischenzeitlich an mehreren Fronten lodernden Krieges
erstmals ein Diplomat deutscher Muttersprache zum k.u.k. Botschafter im verbündeten Deutschen Reich bestellt.
Aus der 1884 mit der Palastdame Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Elisabeth, Irma Baronin Geramb734,
geschlossenen Ehe entstammen die drei Töchter, in Berlin nur „die wilden Pußtamädchen735“ genannt - Camilla736,
727
Mit gleicher Entscheidung wurde der Ungar zum Gesandten bei den großherzoglichen Höfen von Mecklenburg-Schwerin,
Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg und Braunschweig ernannt. Sein Gehalt belief sich auf jährlich 8.400 Gulden plus Funktionszulage von 43.400 Gulden sowie weitere 4.200 Gulden für die Tätigkeit als Gesandter bei den anderen Höfen = gesamt 56.000 Gulden (2003 ca. 500.000 Euro). Hinzu kam eine Übersiedlungspauschale von 10.000 Gulden (2003 ca. 90.000 Euro). Für seine Tätigkeit als Gesandter bei den Senaten der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck – ab 05.03.1893 – bezog er kein Gehalt. Als
mit Einführung der Kronen-Währung am 01.01.1900 das Gehalt neu Bemessen wurde, erhielt er fortan komplett 135.701 Kronen
(2003 rund 600.000 Euro).
728
Die Botschaft war in erworbenen dem „Palais Ratibor“ untergebracht, das 1890/91 rückwärtig zum Kronprinzenufer 4 um ein
Kanzleigebäude erweitert wurde, und beschäftigte neben dem Botschafter zwei Legationsräte, einen Legationssekretär, einen
Kanzleirat und einen Militärbevollmächtigten.
729
Ludwig Freiherr von Flotow beschreibt in seinen Erinnerungen das Verhältnis von Kaiser Wilhelm und Ladislaus SzögyényMarich detailliert und spricht gar von einem Vertrauensverhältnis zwischen dem preußischen Herrscher und dem Diplomaten; in:
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
730
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
731
zitiert bei Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im
Rahmen der Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003
732
Bereits am 13.06.1914 war Szögyenyi angewiesen worden, seine Ablösung zu betreiben. Sein Enthebungsersuchen erreichte
den österreichischen Außenminister, Leopold Graf Berchtold, am 27.07.1914 und wurde dem Kaiser im Vortrag am 01.08.1914
unterbreitet.
733
Hohenlohe-Schillingsfürst, Gottfried Prinz zu (geb. 08.11.1867 in Wien, gest. 07.11.1932 in Wien), k.u.k. Botschafter am kaiserlich deutschen Hof vom 04.08.1914 bis 14.11.1918
734
Irma Baronin von Geramb, geb. 11.01.1850, gestorben 02.10.1926 in Csór. Nach Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem
Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien 1982 war die Botschafterin „viel leidend und
beinahe ganz taub“.
735
nach Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag,
Wien 1982
736
Camilla Gräfin von Szögyény-Marich, gest. 1966 in St. Georgen/Attergau (A), verheiratet mit Josef Graf von Somssich; Trauzeuge des Paares war u.a. Otto von Bismarck.
117
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Maria737 und Lilly738. Ein Sohn starb im Kindesalter an Scharlach739. Die Familie verbrachte während der Berliner Zeit
die Urlaube in der Regel an der See und lebte außerhalb Preußens meist auf den knapp 20 Hektar großen ungarischen
Besitzungen in Csór, wo sich das Familienschloss befand740. Ladislaus Graf Szögyény-Marich von Magyar-Szögyén
und Szolgaegyháza starb am 11. Juni 1916 mit 75 Jahren auf seinem Landsitz und wird in der Familiengruft auf dem
Friedhof von Csór beigesetzt741. Die Witwe erhält eine Pension von 6.000 Gulden, die der Kaiser jedoch nach einem
Ansuchen der Gräfin am 6. Juli 1916 um eine zusätzliche Gnadenpension in Höhe von 2.000 Kronen jährlich erhöht742.
Rudolf korrespondierte mit Szögyény-Marich bereits seit 1884, doch engeren Kontakt gab es wohl erst ab
1886, als der Sektionschef auf Wunsch des Kaisers den Erzherzog mit der österreichischen Außenpolitik näher vertraut macht. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen dem Kronprinzen und dem um 14 Jahre älteren Sektionschef, die in zahlreichen – von Rudolf meist schmeichelnd auf Ungarisch verfassten – Briefen manifestiert ist. Bereits
1887 betraute ihn Rudolf – ohne Rücksprache oder späterer Information – testamentarisch mit der Sichtung seines
Nachlasses. Dass dies nur auf Freundschaft fußte, kommentierte Gräfin Festetics mit Blick auf den Abschiedsbrief so:
„Nicht dass Szögyény ihm so nahe gestanden wäre, aber er wählte jemanden, der von dem Hofgetriebe etwas abseits
stand und an den der Brief bestimmt kommen musste.743“ Rudolf hatte Szögyény-Marich dennoch in den Direktionsrat
des von ihm initiierten Kronprinzenwerkes „Die Österreich-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ berufen, wo der
Ungar „die Oberleitung der die ungarische Reichshälfte betreffenden Arbeiten übertragen worden war744“. Dort nahm
er nach dem Tod des Erzherzogs auch dessen Platz als Vorsitzender des Direktionsrates ein.
Rudolf suchte bei dem ungarischen Freund Rat und Hilfe – so etwa bei der Veröffentlichung eines Aufsatzes
zur österreichischen Verfassungsgeschichte, den Szögyény-Marich Ende Dezember 1887 zur Korrektur erhielt745.
Szögyény-Marich wiederum versuchte, Rudolfs Temperament zu zügeln und ihn dahingehend zu beeinflussen, private
Äußerungen zur Politik nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen746. Dass er jedoch – vielleicht unbewusst – zu einem „Doppelagenten“ wurde, übersah der „sonst als vorsichtig und klug beschriebene747“ Sektionschef. War Rudolf
einerseits bestrebt, alle Informationen des Sektionschefs begierig aufzusaugen und sich als interessierter, politisch ak737
Maria Gräfin von Szögyény-Marich, verheiratet mit Geza von Somssich; der gemeinsame, später von Camilla adoptiert Sohn
Joseph lebte in New York
738
Lilly von Szögyény-Marich, verheiratet mit Graf Chovinsky
739
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
740
Schloss Csór (rund 320 km von Wien und 90 km von Budapest entfernt an der E66 zwischen Vesprém und Székesfehérvár gelegen) war ein lang gestreckter, zweistöckiger Bau mit großer Parkanlage und einem bronzenen Artemis-Brunnen; 1956 wurde
das Schloss gestürmt, die Bibliothek und die Silberkammer geplündert. In den folgenden Jahren wurde der Park aufgelassen und
die Brunnen und Teiche zerstört. In das Schlossgebäude, das teilweise umgebaut wurde, zogen später das Rathaus, die Polizei und
ein Kinderheim ein. Im Obergeschoss wurden sieben Wohnungen eingerichtet.
741
Die Familie Szögyény-Marich und ihre Nachkommen nutzen nach Franz Graf zu Eltz zwischenzeitlich bis zu drei Grablegen:
jene in Csór (wahrscheinlich im Verlauf des Ungarn-Aufstandes 1956 geplündert und geschändet), eine in der Stiftskirche von St.
Florian/Oberösterreich (nur für jene Familienmitglieder, die im Winter verstarben) und eine Gruft in der Seminarkirche von
Székesfehérvár.
742
Agstner, Rudolf: „Ladislaus Graf Szögyenyi-Marich von Maggyar-Szöggyen und Szolgaegyhaza“, Manuskript im Rahmen der
Buchpräsentation „130 Jahre Österreichische Botschaft Berlin“, Berlin, 23.09.2003
743
Staatsbibliothek Wien, Nachlass Dr. Heinrich Friedjung: „Gespräche mit Marie Festetics“, 06.03.1913 zitiert bei: Hamann,
Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978
744
Matsch, Erwin: „November 1918 auf dem Ballhausplatz – Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow“, Böhlau Verlag, Wien
1982
745 HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21; zitiert bei Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, AmaltheaVerlag, Wien 1978
746
Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, Österreich 70 geheim; Wien 19.12.1885; zitiert bei Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978
118
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
tiver Erzherzog zu präsentieren, so gab er andererseits offen und eifrig viele Informationen, der er über seine privaten
Nachrichtenkanäle erhalten hatte, an den Ungarn weiter. Dieser leitete die Informationen nicht nur an den österreichischen Außenminister Kálnoky weiter – was Rudolf gerne instrumentalisierte –, sondern auch an die deutsche Botschaft in Wien, zu der er die besten Verbindungen hatte. Über diesen Weg erfuhr die Führung des Deutschen Reiches
auch von Rudolfs Kontakten zum Franzosen Clemenceau – und die Einstellung zur Politik des jungen Thronfolgers
wurde in Berlin noch schlechter748. Einen Verdacht gegen den Ungarn hegte, so Brigitte Hamann, der Kronprinz jedoch nie und lud ihn zwischen Oktober 1887 und Januar 1889 mindestens einmal zur Jagd nach Mayerling ein749.
Den Inhalt von Rudolfs Testament und die damit verbundene Aufgabe der Nachlasssichtung erfuhr Ladislaus
Szögyény-Marich schriftlich – jedoch erst am 03. Februar 1889 durch Obersthofmarschall Anton Graf Szécsen von
Temerin750. Dem Kodizill und Abschiedsbrief folgend – nach den Erinnerungen von Hofsekretär Dr. Heinrich von
Slatin jedoch auf Wunsch des Kaisers zusammen mit Hofrat Dr. Rudolf Kubasek751 – hatte er bereits in den Morgenstunden des 31. Januar 1889 das Apartment des Kronprinzen durchsucht. Szögyény-Marich gehörte später auch jener
offiziellen Kommission an, die gegen 12 Uhr des gleichen Tages die „letztwilligen Anordnungen Weiland seiner
k.u.k. Hoheit des durchl. Herrn Kronprinzen Rudolf“ auffinden sollte752. Dazu heißt es in dem von Slatin verfassten
Protokoll: „Zufolge hoher Anordnung verfügte sich die Kommission in das von … Rudolf bewohnt gewesene Appartement in der k.k. Hofburg, um durch Nachforschungen in dem im Arbeitszimmer des Höchstverblichenen befindlichen Schreibtisches die … etwa noch vorhandenen letztwilligen Verfügungen aufzufinden. Nach Eröffnung des
Schreibtisches mit dem von dem h. Verblichenen … Szögyény-Marich in einem Brief übersendeten und von diesem
mitgebrachten Schlüssel, fanden sich daselbst Schriften politischen und militärischen Inhalts, Privat-Correspondenzen,
Aufzeichnungen etc., jedoch keine letztwillige Anordnung. … Die Schlüssel wurden von seiner Exzellenz dem genannten Sektionschef zum Erweis ihres Einschreitens auf dem Boden der untersten Lade rechts in rotem harten Siegelwachs aufgedrückt.“ Die Kommission stellte die Schriften sicher, die in vier Pakete verpackt der Kabinettskanzlei
übergeben wurden.
Im Februar und März war Szögyény-Marich mit der Sichtung der Pakete beschäftigt – er teilte sie zunächst in
29 Einzelpakete auf und hinterlegte sie als Privatdepot im Ministerium des kaiserlichen und königlichen Hauses und
des Äußeren. Am 16. November 1910 gingen die Pakete in den Besitz des Archivs über und kamen in das Politische
Archiv753. Am 21. September 1914 wurden sie dann dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv übertragen754 und dort in den
so genannten geheimen Urkundenkassetten hinterlegt. Die Eröffnung der 29 gesiegelten Pakete erfolgte mit Genehmigung des Bundeskanzleramtes durch Oskar von Mitis im Oktober 1921. Dabei wurde festgestellt, dass zwei Briefe
Kaiser Friedrichs und ein Brief der Kaiserinwitwe Viktoria am 26. Januar 1890 von Szögyény-Marich entnommen
747
Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978
Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978
749 Hoftelegraf Julius Schuldes, zitiert bei Holler, Dr. Gerd: „Mayerling - Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“,
Amalthea-Verlag, Wien 1988
750 Szécsen von Temerin, Anton Graf, Obersthofmarschall, 1889 Verleihung des kais. preuß. Sonnen- und Löwenordens, Ritter
des Ordens vom Gold. Vlies, Kommandeur des königl. ung. Stephan-Ordens, Großkreuz des toskanischen St. Josef-Ordens, gest.
23.08.1896 mit 77 Jahren, Beigesetzt auf dem Ortfriedhof von Markt Aussee
751
Kubasek, Dr. Rudolf, geb. 1838, gest. 1910, verheiratet mit Susanne, geb. Griensteidl (gest. 1929 in Baden/NÖ); Hofrat und
Kanzleidirektor des Obersthofmarschallamtes
752
weitere Mitglieder der Kommission waren Hofrat Dr. Theodor Ritter von Westermayer und sein Adjunkt Carl Kuhn (beide
Obersthofmeisteramt), Kanzleidirektor Dr. Rudolf Kubasek und Hofsekretär Dr. Heinrich von Slatin als Protokollführer (beide
Obersthofmarschallamt) sowie Carl Graf Bombelles und Heinrich Ritter von Spindler.
753
Politisches Archiv, geheim XXVII/3-475
754
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
748
119
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
und dem Kaiser übergeben worden waren; ein Paket war zudem vollständig verschwunden755. Ferner wurde festgestellt, dass sich auch Briefe und Akten aus dem Nachlass Bombelles in den Paketen befanden – sie dürften nach Ansicht Mitis in der Strebewohnung beschlagnahmt worden sein.
Bislang sind nur wenige Quellen bekannt, die Äußerungen des Sektionschefs zum Drama von Mayerling wiedergeben. Im Tagebuch des russischen Außenministers Vladimir Graf Lambsdorf756 wird Szögyény-Marich u.a. zitiert: „Es gibt viele ernste Staatsmänner, die das Unglück ausschließlich politischen Ursachen zuschreiben. Sie meinen, der Kronprinz habe sich durch seine immer mehr und mehr hervortretende Feindseligkeit gegenüber der aktuellen
Politik des dermaligen Kabinetts so kompromittiert, seine Stellung zu Kaiser Wilhelm II. und Deutschland habe sich
so verschlechtert, eine Umkehr sei so unmöglich geworden, dass er einsehen musste, dass er für sein Vaterland zu einer Quelle ernster Schwierigkeiten und sogar von Gefahren werden würde, falls er fortführe, diesem Wege zu folgen.757“ Eine weitere Aussage liefert der deutsche Botschafter in Wien, Prinz Reuß758, an Fürst Bismarck: „Trotz der
genauesten Nachforschung ist es Herrn von Szögyény aber nicht gelungen, auch nur eine Zeile zu finden, welche auf
eine sichere Spur hätte führen können. Ebenso wenig wäre etwas zu entdecken gewesen, was auf beginnenden Irrsinn
hätte schließen lassen.759“ Loyalität erwies er dem toten Kronprinzen ein weiteres Mal, als er – zusammen mit Freuden
und Gefährten – die sieben Fenster der St. Josef-Kapelle in Mayerling stiftete760.
Aus dem Nachlass des Kronprinzen erhielt Ladislaus von Szögyény-Marich ein Paar Manschettenknöpfe sowie vier eigenhändige Zeichnungen von Kaiser Franz Joseph I. Dieser hatte sie im Alter von 15 Jahren angefertigt und
eigenhändig französisch beschriftet und seinem Sohn Rudolf, der Pferde über alles liebte, zum 15. Geburtstag geschenkt761. Der Nachlass des Botschafters verblieb zunächst im Besitz der Witwe und wurde von der damals in Rom
lebenden Tochter Camilla und dem Bruder des Botschafters, Geza von Szögyény-Marich762, verwaltet. Beide gewährten im Jahre 1922 Oskar Freiherr von Mitis Einsicht in die Bestände des Gräflich Szögyény-Marich´schen Archivs in
Csór und gaben den umfangreichen Briefwechsel mit dem Erzherzog als Quelle frei. Geza Szögyény-Marich fertigte
für Mitis zudem eine Abschrift von Kodizill und Abschiedsbrief des Kronprinzen an, die dieser – ebenso wie die übrigen, entliehenen Briefe – von Dr. Alexander Bischitz übersetzen ließ. Camilla Somssich verweigerte jedoch die Publikationserlaubnis für den letzten Brief, so dass Mitis daraus nur dem Sinn entsprechend zitieren konnte. In der Familie
war das Thema Mayerling stets Tabu763.
Aus dem Nachlass des Sektionschefs existieren heute nur wenige Objekte, da vieles – darunter auch die umfangreiche Bibliothek – in den turbulenten Wochen des so genannten Ungarn-Aufstandes 1956 in Csór vernichtet
755
Zusammen mit dem von Feldmarschall Latour dem Archiv übergebenen Material bildeten die Pakete den Grundstück des
Kronprinz Rudolf-Selekts.
756
Lambsdorf, Vladimir Graf; von 1900 bis 1906 russischer Außenminister. Der Bricht von Szögyény-Marich, wie er in einer Audienz beim Kaiser den Abschiedsbrief erhält, ist Lambsdorf nur durch den Bericht des russischen Geschäftsträgers in Wien, Fürst
Kantakuzene, bekannt.
757
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928. Das Zitat bei Hamann, Brigitte:
„Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978, ist dem Sinn nach abgeschwächt und in der Wortwahl verändert
758
Reuß, Heinrich VII. Prinz, deutscher Botschafter in Wien von 1878 bis 1894
759
Auswärtiges Amt, Bonn, Österreich 86 Geheime Akten 6.3.1889, zitiert in: Hamann, Brigitte: „Rudolf - Kronprinz und Rebell“, Amalthea-Verlag, Wien 1978. Den vollständigen Text – jedoch mit Datumsangabe vom 08.04.1889 bringt Holler, Dr.
Gerd: „Mayerling - Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988
760
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
761
Die Bilder befinden sich seit Ende des 2. Weltkrieges im Besitz der Familie Rothschild, die diese in London ersteigerte. Die
Aquarelle wurden erstmals veröffentlicht in Markus, Georg (Herausgeber): „Der Kaiser. Franz Joseph I. - Bilder und Dokumente“, Amalthea Verlag, Wien 1985. Zusammen mit den Aquarellen ließ die verarmte Gräfin Camilla Somssich auch Kodizill und
Abschiedsbrief in London versteigern.
762
Geza von Szögyény-Marich, geb. 1847, gest. 1927
120
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
wurde. Das Ungarische Staatsarchiv besitzt zwei Briefe des Kronprinzen aus den Jahren 1884 und 1888764 , die Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek zwei Schreiben an Nikolaus Dumba765 und das Haus-,
Hof- und Staatsarchiv den Briefwechsel mit dem Kronprinzen766, die Notizen des Sektionschefs, die dieser während
der Nachlasssichtung anfertigte767 und das Manuskript der Memoiren von Ladislaus Szögyény-Marich Senior768. Die
Originale der Briefe ließ der Enkel eines Bruders des Botschafters, Franz Graf zu Eltz769, zu Beginn der 50-er Jahren
wohl durch den damaligen österreichischen Missionschef in Ungarn, Dr. Karl Braunias, aus Csór nach Wien bringen
und übergab sie 1954 als Schenkung dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien770. Jene Ledermappe, in der nach der
Überlieferung Kodizill und Abschiedsbrief sowie andere Dinge des Kronprinzen waren, verschenkten Graf zu Eltz im
Jahre 1977 an Otto von Habsburg. Eine Bronzebüste des Botschafters von Sandor Járay771 kam als Schenkung vom
Franz Graf zu Eltz/Wien und Joseph Somssich/New York 1998 in den Besitz des Auswärtigen Amtes und wurde am
23. September 2003 im Rahmen eines Festaktes in der neuen österreichischen Botschaft an der Stauffenbergstraße 1 in
Berlin aufgestellt772.
763
persönliche Mitteilung von Franz Graf zu Eltz, Wien 31.12.1995
Ung. Staatsarchiv Budapest, Collectio Postmohacsiana R 313, Karton 3, Fol. 1-3
765
Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, 458/12-1 vom 06.05.1889 und 458/12-2 vom
03.09.1889
766
Oskar Freiherr von Mitis deponierte seine Abschriften des Briefwechsels 1923 in einem versiegelten Paket im Haus-, Hof- und
Staatsarchiv mit dem Hinweis, dass der Inhalt nur mit Bewilligung der Gräfin Camilla Somssich, geb. Szögyény-Marich zu benützen sei (Kurrentakten Zl. 46 ex 1923). Von diesen Briefen fertigte Egon Caesar Conte Corti Abschriften an, die auch Hans Sokol
eingesehen hat.
767
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 23
768
Darüber hinaus existiert im HHStaA eine Personalakte über Ladislaus Szögyény-Marich unter AR F 4, K 343, die jedoch bislang von uns nicht eingesehen wurde.
769
Franz Graf zu Eltz, geb. 12.04.1924/Steinamanger, gest. 15.04.1998/Wien, beigesetzt in der Seminarkirche von Székesfehérvár
770
HHStaA Wien, Zl. 1528; die Briefe befinden sich im Karton 23 des Selekts Kronprinz Rudolf (Archivbehelf X/10, S. 8)
771
Bronzebüste von Sandor Jaray, gegossen bei der „Aktiengesellschaft H. Gladenbeck & Sohn“ in Berlin Friedrichshaben, Inhaber Kunstgießer Hermann Gladenbeck (geb. 24.01.1827/Berlin, gest. 11.11.1918/Berlin)
772
Nach Mitteilung von Presserat Georg Schnetzer, Österreichische Botschaft, Berlin 31.03.2003, stand der dortigen Niederlassung zunächst keine Büste zur Verfügung. Die Büste wurde auf Nachfrage des Mayerling-Archives im Lager des Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten in Wien ausfindig gemacht und am Dienstag, 23.09.2003, in Berlin von Botschafter Dr.
764
121
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeugen
M: Hermine, Gabriele und Ernst Tobis
„Ich habe zwei Freundinnen,
Sie und Marie Larisch; Sie arbeiten
für mein seelisches Glück
und Marie für mein
moralisches Unglück.“
Mary Vetsera an Hermine Tobis,
Wien, Oktober 1888
Über viele Jahre bekamen Mary und Johanna Vetsera in Wien Klavierunterricht bei Hermine Tobis, einer
„Vertrauten bis in den Tod“. 1888 erhielt jedoch Hermines Schwester, die Sängerin Gabriele, ein Engagement an die
Frankfurter Oper, so dass die Familie Tobis gezwungen war, in Domizil in der Dreihufeisengasse773 9 im 6. Wien
Gemeindebezirk Mariahilf aufzugeben und fort zu ziehen. Im fernen Frankfurt wurde aus Marys Vertrauter Hermine –
durch zahlreiche Briefe stets mit den neuesten Informationen unterrichtet – eine gut informierte Mitwisserin der Liaison zwischen der jungen Baroness und dem Kronprinzen.
Der Vater von Hermine und Gabriele, Josef Tobis774, stammte aus dem Sudetenland und betrieb im 3. Wiener
Gemeindebezirk Landstraße als Geschäftsführer seine eigene Porzellanwarenhandlung. In Wien erblickte auch 1876
das „Nesthäkchen“ Ernst das Licht der Welt. Mit der Umsiedlung der Gattin Catharina775, den Töchtern und dem Sohn
1888 an den Main begann der Vater, das Geschäft zu liquidieren, verstarb jedoch unerwartet in Wien im Jahre 1890.
Die Familie musste in Frankfurt nun auf eigenen Beinen stehen: Gabriele sang als Koloratursopran an der Frankfurter
Christian Prosl in Anwesenheit von Gräfin Eltz sowie dem Enkel des k.u.k. Botschafters, General Chorinsky nebst Gattin, enthüllt.
773
seit 17.11.1948 Lehargasse/6. Bezirk
774
Josef Tobis, geb. in Schlaggenwald/Böhmen, gest. 1890 in Wien. Vater: Georg Tobis, Porzellanmaler in Schlaggenwald, Mutter: Anna Tobis, geb. Glatz, Großvater: Wemnzel Tobis (1766-1813)
775
Tobis, Catharina (a.a.O. Katharina), geb. Hofmeister, geb. am 08.08.1835 in Purschau/Bezirk Tachau (= Porejov/Westböhmen,
heute: Tschechien), gest. am 01.11.1923 in Frankfurt/Main (D). Mutter: Anna Hofmeister. Ob Catharina Tobis in Frankfurt beruflich tätig war, ist nicht bekannt; Catharina Tobis war seit 31. August 1888 in Frankfurt/Main gemeldet, zog am 20.08.1890 nach
Mannheim, ist ab 30.09.1899 in Mainz gemeldet und zieht am 01.07.1902 zurück nach Frankfurt. Vom 17. Juni bis 9. September
1916 lebt sie dann erneut in ihrem böhmischen Geburtsort Purschau, siedelt jedoch wieder zurück nach Frankfurt (nach: Institut
für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 08.03.1996). Ihre Beisetzung erfolgte auf dem Frankfurter Hauptfriedhof Gewann XII Nr.
267; die Grabstätte wurde 1923 durch Gabriele Tobis, wohnhaft Feldbergstraße 23/Frankfurt erworben. In diesem Grab wurden
auch Gabriele und Hermine Tobis beigesetzt. Die Grabnutzung endete 1959; danach wurde das Grab abgeräumt und im Jahre
122
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Oper, Hermine fand Anstellung als Klavierlehrerin und Erzieherin bei angesehenen Familien der Stadt und Ernst begann eine Lehre als Ziergärtner im Frankfurter Palmengarten.
Wir fassen an dieser Stelle die Informationen zusammen, die wir über die drei Geschwister Tobis recherchieren konnten.
Gabriele Tobis776 wird – nach den Angaben ihres Bruders – im Herbst 1888 als Erste Koloratursopranistin an
das Frankfurter Opernhaus engagiert777, wo sie Mitte September ihr Debüt als Gilda in Rigoletto hinter sich brachte778.
Das Adressbuch der Stadt führt sie 1905 als Klavierlehrerin779. Ebenso wie ihre Schwester war sie in Wien bei Fräulein Hermine Granichstaedten780 ausgebildet worden. Um 1887 scheint Mary Vetsera von Gabrieles Engagement gehört zu haben, denn schreibt ihr: „Meine liebe alte Gabi – meine innigsten Wünsche für ihren neuen, es hat mich riesig
gefreut zu erfahren das sie engagiert, auch Mama hat sich sehr gefreut und wünscht Ihnen viel Glück.781“ Am 12. September 1889 verzieht Gabriele Tobis zunächst nach Aachen, am 20. August 1890 nach Mannheim und am 1. Juli 1902
zurück zu ihrer Mutter nach Frankfurt, die in der Fahlbergstraße 28 bei Arnold wohnt. Wir vermuten, dass dies in Zusammenhang steht mit noch nicht bestätigten Engagements.
Die Frankfurter Meldekarte der Familie Tobis besagt, dass Gabriele „seit 1913 ohne Beruf“ gewesen sei782. Gabriele
Tobis, „eine Seele von Mensch“, war zweifellos die „Lieblingsschwester“ von Ernst, über die er auch viel erzählte783.
Hermine Tobis784 ist in Frankfurt zunächst als Klavierlehrerin und Erzieherin tätig. Mary Vetsera nahm in
Wien bei ihr Klavierunterricht; sie war es auch, die Marys stimmliche Begabung entdeckte785 und sie an Hermine
Granichstaedten verwies. Den Briefwechsel der vom Kronprinzen schwärmenden Vetsera mit der Vertrauten in Frankfurt kennen wir hauptsächlich aus Zitaten in der so genannten „Denkschrift“ der Baronin. Mary sandte gar im Dezember 1888 die Abschrift eines Liebesbriefes von Rudolf an Hermine786 und berichtete auch von den erzherzoglichen
Liebegaben: einem Armband mit Steinen, einem einfachen Medaillon und dem eisernen Ehering mit der Gravur
„I.L.V.B.I.D.T.“ (In Liebe vereint bis in den Tod)787.
In ihren stets prompten Antwortbriefen gab Hermine Tobis dem Backfisch in Wien zahlreiche Ratschläge, so
zum Beispiel, sich von der Liebe zum Kronprinzen frei zu machen – nicht nur aus Rücksicht auf die eigene Familie,
sondern auch auf den Stand des Erzherzogs. Zuletzt forderte Hermine Mary in ihren Neujahrswünschen 1889 auf, „die
1964 an andere Nutzungsberechtigte abgegeben; freundliche Mitteilung des Garten und Friedhofsamtes der Stadt Frankfurt,
Frankfurt/Main 22.04.1997
776
Tobis, Gabriele, geb. am 19.01.1863, gest. am 02.12.1932 in Frankfurt/Main, zuletzt wohnhaft in der Feldbergstr. 28; beigesetzt auf dem Hauptfriedhof
777
Eine Personalakte der Gabriele Tobis als Mitglied des Ensembles der Frankfurter Oper ist nicht nachweisbar; freundliche Mitteilung von Volker Harms-Ziegler, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 20.12.1996
778
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
779
freundliche Mitteilung von Volker Harms-Ziegler, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main 20.12.1996
780
Nach Marys Tode hatte Hermine Granichstaedten Kontakt zur Baronin Vetsera gesucht und ihr von den letzten Gesangsstunden ihrer Tochter berichtet – dort hatte sie sich einen recht düsteren Text ausgesucht, der wohl ihr momentanes Gefühlsleben im
Januar 1889 wiedergab; zitiert ist der Liedtext in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann
Böhlau Nachf., Wien 1983
781
eigenhändiger Brief der Mary Vetsera, ohne Ort, ohne Datum, wahrscheinlich um 1887 an Gabriele Tobis; Mayerling-Archiv
782
Meldekarte im Archiv des Instituts für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main.
783
Seifert, Wolfgang: „Patty Frank – der Zirkus, die Indianer, das Karl-May-Museum“, Karl May Verlag , Bamberg 1998; zudem
freundliche Mitteilung von Wolfgang Seifert an den Verfasser, Berlin 13.05.2003
784
Tobis, Hermine, geb. 13.11.1865, gest. 29.06.1929 in Frankfurt/Main, zuletzt wohnhaft in der Schwindstr. 19.; beigesetzt auf
dem Hauptfriedhof
785
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
786
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
787 Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980
123
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Unmöglichkeit ihrer Beziehung zum Kronprinzen doch einzusehen und die momentane Gegebenheit doch für eine
Beendigung ihrer gefährlichen Affäre zu nützen.788“ Der gute Rat machte Mary wohl erstmals schwankend, denn
Hermine teilte der Mutter später mit, Mary habe mit dem Kronprinzen gesprochen, könne aber ihre Liebe nicht unterbinden, da „Rudolf sich unglücklich fühle“789.
In einem letzten, wichtigen Brief vom 13. oder 14. Januar 1889 berichtet Mary ihrer Freundin: „Wir haben
beide den Kopf verloren. Jetzt gehören wir uns mit Leib und Seele an.790“ Dieses Geständnis zeigt einmal mehr, dass
Hermine Tobis mit Mary „sehr befreundet“ war – und auch nach den Ereignissen von Mayerling stand sie lange mit
der Baronin in Verbindung791. Hatte es Hermine selbst nie gewagt, aus Frankfurt der Mutter einen Hinweis auf die Affäre zu geben – zumal sie Mary am Ende jedes Briefes unter Schweigepflicht nahm, „denn wenn Mama darauf käme,
dann würden sie beide an einem Ort, den niemand weiß, nach einigen glücklichen Stunden sich gemeinsam den Tod
geben.792“ – so stellte sie nach dem 30. Januar 1889 erschüttert der Baronin ihren Briefwechsel zur Verfügung.
Johanna Vetsera schrieb für Hermine Tobis die Denkschrift ihrer Mutter im Juli 1889 ab fügte die im Druck
weg gelassenen zwei weitere Geldforderungen der Gräfin Larisch an den Kronprinzen wieder ein793. Nach Hermines
Tod wurde die Denkschrift von ihrer Schwester Gabriele an Ferdinande Vetsera zurückgegeben794. 1893 besuchte die
Schwägerin von Marys Onkel Heinrich Baltazzi, Serafina Gräfin Rainer von Harbach, geb. Scharschmid von Adlertreu, Hermine Tobis in Frankfurt auf – nach ihrer Überlieferung soll die Musikerin und Pädagogin „ein überaus sympathisches Wesen“ gehabt haben795. Ein Nachlass der Schwestern ist bislang nicht bekannt796.
Ernst Tobis797 wurde am 19. Januar 1876 in Wien geboren. Bereits mit zehn Jahren begeisterte der sich nach
einem Besuch der Wiener Rotunde für Indianer – wahrscheinlich besuchte er auch 1885 im Circus Eduard Wulff „Carl
Hagenbeck´s Singhalesen-Karawane“ und 1886 in der Menagerie A. Bach die dort auftretenden „Rothäute“798. Ein
Jahr später, zwischen Januar und September 1887, las Ernst in „Der Gute Kamerad - Spemanns Illustrierten KnabenZeitung“, den 39-teiligen Fortsetzungsroman „Der Sohn des Bärenjägers“ über den Bärenjäger Baumann und lernte so
das Werk des Schriftstellers Karl May799 kennen. Fortan wollte er das Leben der Indianer selbst erkunden und wollte
788 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
789 Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
790 Johanna Vetseras Abschrift der „Denkschrift“, zitiert in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag
Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
791
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
792
Johanna Vetseras Abschrift der „Denkschrift“, zitiert in: Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag
Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
793
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
794
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
795
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera - Gefährtin für den Tod“, Verlag Hermann Böhlau Nachf., Wien 1983
796
Im Nachlass dürften sich die Originale des Briefwechsels mit Mary Vetsera und die Denkschrift nach Johanna Vetseras Abschrift befunden haben, die in den Besitz der Baronin Nancy Vetsera und so ins Archiv des Hermann Swistun-Schwanzer kam.
Hermann Swistun-Schwanzer will zu Beginn der 80-er Jahre in München mit einer „angeheirateten Nichte“ der Geschwister Tobis
in Kontakt getreten sein. Sie berichtete, dass die Freundschaft der beiden Frauen in der Familie bekannt gewesen sei und dass es
noch längere Zeit Kontakte zur Baronin Vetsera gegeben haben soll. Von Interesse ist unser Hinweis, dass die Schwestern unverheiratet blieben und Bruder Ernst, der erst 1941 heiratete, ebenfalls keine Kinder hatte.
797
Tobis, Ernst, geb. am 19.01.1876 in Wien, getauft am 02.02.1876, gest. 23.08.1959 in Radebeul/D (damals: DDR). Das Kind
wurde unter dem Namen „Ernest Johann Franz Tobis“ in das Geburts- und Taufregister der Pfarre St. Josef ob der Laimgrube,
Wien 6, eingetragen. Als Taufpaten fungierten Lederwarenfabrikant Johann Hofmeister/Paris und der Beamte der Fürsorge, Johann Kaihe (?)
798
„20 Jahre österreichisches Circus- und Clownmuseum“, Broschüre im Selbstverlag des Circus- und Clownmuseums, Wien
1988
799
May, Karl, geb. am 25.02.1842 in Ernstthal/Sachsen, gest. am 30.03.1912 in Radebeul/Sachsen.
124
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
im Alter von 14 Jahren Seemann werden. Der frühe Tod des Vaters und Förderers des Marine-Traumes machte die
Pläne zunichte und Ernst begann mit seiner Lehre.
Als 1890 aus Wien kommend mit „200 Indianern“ im Frankfurter Palmengarten Oberst William Frederick
Cody800 mit „Buffalo Bill´s Wild West“-Show gastierte, verließ er über Nach die Familie und bewarb sich für sechs
Monate als Stalljunge. Als Cody die Stadt verließ, um ab Mitte Mai 1891 mit (doch nur) 91 Indianers, 18 Büffeln und
180 Pferden in Dortmund zu gastieren, blieb Ernst in Frankfurt zurück und beendete seine dreijährige Lehre. Das Abschiedsgeschenk der Sioux aus der Buffalo Bill-Truppe, ein paar alte Mokassins, bildet den Grundstock seiner späteren Sammlung.
Mit 17 Jahren jedoch zieht es ihn es ihn erneut in die Welt des Zirkus und der Bühne. Als „Ernst Teuber“ sing
er heitere Couplets bei einer Wanderbühne im Süddeutschen und arbeitet dort auch als Bühnenkraft801. Als er spontan
für einen verletzten Artisten in einem kleinen Wanderzirkus auftritt, ist sein Lebensweg bestimmt. Bald schon arbeitet
er in der Akrobatentruppe des Zirkus Montrose und1896 oder 1897 stellt er unter dem Künstlernamen „Patty Frank802“
seine eigene „Patty Frank Troupe – The Acrobatic Wonders“ zusammen. Sie treten in Varietés auf und reisen in Folge mit den Unternehmen von Carl Hagenbeck, Hans Stosch-Sarrasani, Alfred Schumann und Barnum & Bailey durch
Europa und Amerika803. Seine Gage investierte der Untermann der Parterre-Akrobatik-Truppe in indianische FolkloreGegenstände und beschrieb 1936 seine erste Begegnung mit dem Wilden Westen in der Broschüre „Ein Leben im
Banne Karl Mays804“ – sein großes Vorbild indes lernte er nie kennen805. Angeblich „ein Manegenunfall in den 20-er
Jahren“ machte Tobis zum Zirkus-Invaliden806, die Inflation von 1919 und 1923 forderte zusätzlich finanziellen Tribut. Aus der Not heraus reiste er 1925 ins sächsische Radebeul und bot Klara May807, der zweiten Frau des Schriftstellers, seine rund 540 Objekte umfassende Indianer-Sammlung als Ergänzung zur 1908 in den USA erworbenen May´schen Sammlung mit gerade 56 Objekten zu Kauf an808. Klara May und Ernst Tobis wurden schnell einig: als Gegenleistung für die Übergabe der auf 30.000 Reichsmarkt geschätzten Sammlung erhielt der einstige Artist eine Leibrente in Höhe von 300 Goldmark monatlich und ein Dauerwohnrecht auf Lebenszeit im Dachgeschoss der „Villa Bärenfett“ in Radebeul.
1926 richtete man im Garten der „Villa Shatterhand“ gemeinsam ein Blockhaus mit dem Namen „Villa Bärenfett“ ein, in dem am 1. Dezember 1928 das „Karl May Museum809“ eröffnet wurde. Als „Patty Frank“ führte Ernst Tobis als liebenswürdiger Kustos durch die Ausstellung und gab den Besuchern obendrein noch Völkerkundeunterricht.
Mit 65 Jahren heiratete Tobis am 12. März 1941 vor dem Standesbeamten der Kreisstadt Radebeul die Wirtschafterin
des Hauses, Marie Barthel810, und verstarb starb 18 Jahre später in Radebeul811. Seine Grabstätte auf dem Ortsfriedhof
800
Cody, William Frederick alias Buffalo Bill, geb. 1846, gest. 1917
Anfang 1915 ist Ernst Tobis in Wiesbaden gemeldet, ab 25. November 1915 in Stuttgart
802
Ernst Tobis nennt sich auch „Isto Maza“, was „Eisenarm“ bedeutet.
803
Tobis USA-Aufenthalte sind 1901 und 1904
804
Darüber hinaus schrieb Ernst Tobis 1951 das bei Ueberreuter verlegte Buch „Wilder Westen – Leben und Sterben der Indianer
Nordamerikas“ und das 1957 im Militärverlag der DDR erschienene Buch „Die Indianerschlacht am Little Big Horn“
805
Zwar steht Tobis 1908 in Bremen am Pier, als das Schiff mit dem erstmals in Amerika weilenden Karl May anlegt, doch
schafft er in im Gedränge nicht, sein Idol zu treffen. Von diesem Vorfall berichtet Tobis auch selbst, verlegt ihn jedoch auf die
Ankunft Mays in den USA.
806
An anderer Stell heißt es, dass sich nach dem Krieg die Artistenkarriere Ernst Tobis ´ dem Ende zuneigte. Dies scheint nach
jetzigem Wissen auch viel wahrscheinlicher, zumal Ernst Tobis nie etwas von einem Unfall berichtet.
807
May, Klara, geb. 1864, gest. 1944
808
Seinem ersten Besuch in Radebeul 1916 ging seit 1912 ein Briefwechsel mit Klara May voraus
809
Erst 1985 wandelte sich die Ausstellung von einer „Ständigen Exposition“ zum Museum
810
Tobis, Marie Anna, geb. Barthel, geb. am 28.11.1902, gest. am 18.04.1961 in Radebeul/D (damals: DDR)
801
125
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
liegt nur wenige Schritte von der des von ihm so verehrten Karl May entfernt. An den Artisten, Weltreisenden, Courmacher812 und Museumsführer erinnert in der Sammlung des Karl-May-Museums sein Indianer-Gürtel mit gesticktem
Namenszug „Isto Maza“ und seit 1999 in einem Radebeuler Neubaugebiet der „Patty-Frank-Weg“.
Dem Karl-May-Museum in Radebeul sind keine Verbindungen zwischen Ernst Tobis und Mary Vetsera bekannt – auch der dort erhaltene Nachlass des Sammlers gibt keinen Hinweis. Sowohl ein in den USA als Arzt lebender
Neffe als auch dessen österreichische Verwandtschaft haben keine Nachlassgegenstände von Ernst Tobis813. Von Gabriele und Hermine Tobis sind bis auf die auf Auktionen angebotenen Briefe der Baroness bisher keine Nachlassgegenstände bekannt geworden814. Es existieren indes einige Fotographien der Schwestern815.
811
Den Todesfall zeigte die Ehefrau an; freundliche Mitteilung des Standesamtes der Großen Kreisstadt Radebeul, Radebeul
28.02.1997. Der Verstorbene vermachte seine Hinterlassenschaft testamentarisch seiner Ehefrau, wohnhaft in der gemeinsamen
Wohnung Hölderlinstraße 15. Das Paar hatte keine Kinder; freundliche Mitteilung des Nachlassgerichts beim Amtsgericht Dresden, 02.04.1997
812
freundliche Mitteilung von Helmuth Grimmer, seit 1986 Kustos der Indianersammlung des Karl May Museums, der Patty
Frank noch persönlich kannte; Radebeul, 02.1996
813
freundliche Mitteilung von Wolfgang Seifert an den Verfasser, Berlin, 28.03.2004
814
Die Familienkorrespondenz zwischen Ernst Tobis und seinen Schwestern ging ebenso verloren wie der Briefwechsel von Ernst
Tobis mit seinem 1892 in Wien geborenen Onkel bei einem Bombenangriff im Februar 1945; Seifert, Wolfgang: „Patty Frank –
der Zirkus, die Indianer, das Karl-May-Museum“, Karl May Verlag , Bamberg 1998
815
abgebildet in Seifert, Wolfgang: „Patty Frank – der Zirkus, die Indianer, das Karl-May-Museum“, Karl May Verlag , Bamberg
1998
126
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
N: Zwerger
„Insbesondere trägt Herr Zwerger
den Schlüssel zum Haupteingang
des Schlosses Tag und Nacht
bei sich.“
Dr. Heinrich Slatin
31. Januar 1889
Mehr als nur eine kleine Nebenrolle im Drama von Mayerling könnte Schlosswart Alois Zwerger gespielt haben. Als einer der ersten Tatortzeugen war er vor Ort in die dramatischen Ereignisse eingebunden, erlebte die Tage
danach und verließ als einer der letzten das Jagdschloss. Trotzdem widmeten sich weder die ersten MayerlingForscher, noch später die Historiker dem Leben des Garde-Unteroffizier.
Alois Zwerger könnte in den 80-er Jahren als Verwalter der Leining´schen Villa nach Mayerling gekommen
sein816. Nachdem der Kronprinz 1886 die Ländereien des Grafen und des Stiftes an der Schwechat erworben hatte,
dürfte sich Zwerger auch um die Gebäude des späteren Jagdschlosses gekümmert haben. Bis ins Jahr 1891 scheint er
jedoch nicht im Hofschematismus auf, war also kein „Angestellter“ des Hofes.
Zwerger hatte seine Unterkunft – ebenso wie die Jagdgäste, die Leibjäger und der Gärtner – in der Meierei des
Mayerling-Hofes817 nahe der Bezirksstraße. Als Verwalter818 hatte er für die Instandhaltung der Schlossräume zu sorgen, während der knapp 60-jährige Strubreiter als Hauswart arbeitete. Darüber hinaus erledigte er Botengänge für den
Hausherrn. Am 29. Januar 1889 schickte ihn Rudolf mit einem Telegramm an Graf Piesta Károlyi nach Alland, um
ihn an ein gemeinsames Treffen am 31. Jänner in Wien zu erinnern. Am Nachmittag des gleichen Tages sollte Zwerger zwischen 14:00 und 17:00 Uhr (Ankunft der Depesche am Zielort) ein weiteres Mal für den Kronprinzen ein Telegramm aufgeben: Rudolf hatte in der Villa Leiningen – er wartete dort auf die Rückkehr des Coburgers von der Jagd –
eine kurze Nachricht an den Kaiser verfasst und sein Erscheinen beim Familiendiner in Wien abgesagt. Zwerger traf
816
Ein amtliches Meldebuch wird in Alland erst ab dem Jahre 1898 geführt.
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
Für diese Arbeit durfte freundlicherweise eine Abschrift des Herrn Ingenieurs Heinz Halbritter/Baden benutzt werden.
818
„Hausdiener“ lt. Friedrich Wolf, zitiert bei Gruber, Clemens: „Die Schicksalstage ...“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989; „Zimmerwärter“ lt. Dr. Heinrich Slatin, Mayerling-Protokoll vom 31.01.1889; „Zimmerwart“ lt. Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem
Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
817
127
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
jedoch auf den Telegrafen Julius Schuldes, der für ihn das Telegramm in Alland aufgab819, das der Telegraf in der Villa defekt war.
Im Morgengrauen des 30. Jänner schickte Johann Loschek den Schlossverwalter zum Mayerling-Hof, um Graf
Hoyos zu holen, da der Kronprinz nicht zu wecken sei820. Auf dem Weg begegnete er Schuldes, der sich zum Frühstück in Richtung Küchentrakt des Schlosses aufgemacht hatte. Der Verwalter rief ihm zu „Keine Jagd heute“ und lief
weiter. Zwerger kam gegen acht Uhr bei Hoyos an821 und meldete, Loschek könne den Kronprinzen nicht wecken.
Zudem soll er Hoyos berichtet haben, Rudolf sei gegen 6:30 Uhr im Morgenanzug bei Loschek erschienen und habe
nach Frühstück gefragt und das Erscheinen des Fiakers Bratfisch für 8 Uhr befohlen. Gemeinsam gingen Hoyos und
Zwerger zurück zu Loschek ins Schloss und warteten gemeinsam auf die Rückkehr des Prinzen Coburg. Wahrscheinlich weilte Zwerger auch während der gewaltsamen Türöffnung noch im Schloss und könnte auch einen Blick ins
Sterbezimmer geworfen haben.
Zwar wird die Anwesenheit Zwergers weder von Loschek, noch von Hoyos und Schuldes während der kommenden Stunden erwähnt, doch dürfte er ab jetzt fast ständig im Schloss gewesen sein. Dies belegt auch ein Protokoll822, das an dieser Stelle erstmals veröffentlicht wird:
„Protokoll vom 31. Jänner 1889 aufgenommen im Schloß weiland seiner k.u.k. Hoheit des durchl. Herrn
Kronprinzen Erzherzog Rudolf zu Mayerling. Gegenwärtig: die Gefertigten. Bei der absoluten Unmöglichkeit, in einer
in jeder Beziehung des Vorschriften des Gesetzes entsprechenden Weise die ausgedehnten Räumlichkeiten in Mayerling unter Sperre und Siegel zu nehmen, beauftragte der gefertigte Abgeordnete der Obersthofmarschallamtes den erzherzoglichen Zimmerwärter Alois Zwerger, die sämtlichen erzherzoglichen Räumlichkeiten zu versperren. Herr Alois
Zwerger erklärte, dass die Haupteingangstür der erzherzoglichen Gebäude in Mayerling, und zwar: des Schlosses, des
Elisabethtraktes, Dienertraktes, der Hofküche, der Villa, des „Mayerlingerhofes“ (Jagdgastzimmer) von ihm versperrt
gehalten werden und die Schlüssel zu denselben sich stets in seiner Verwahrung befinden. Insbesondere trägt Herr
Alois Zwerger seit dem Hinscheiden seiner k.u.k. Hoheit den Schlüssel zu dem Haupteingang des Schlosses Tag und
Nacht bei sich an seinem Körper. Dr. Heinrich Slatin, k.k. Hofsekretär, Zwerger Alois, erzh. Zimmerwärter“.
Alois Zwerger war es, der am 31. Januar gegen Abend Hofsekretär Dr. Heinrich Slatin und Rudolfs Leibarzt
Dr. Franz Aukenthaler sowie Graf Georg Stockau und dessen Schwager Alexander Baltazzi im Schein einer Laterne in
den versiegelten Raum des Schlosses führte, in den man die Leiche der Vetsera gelegt hatte. Und er leuchtete auch, als
man wenig später die angekleidete Tote zu wartenden Kutsche brachte823.
Am Abend des 1. Januar 1889 verpflichtete sich Zwerger in der Kanzlei der Meierei – ebenso wie Julius
Schuldes und andere Bedienstete in Mayerling – gegenüber dem Aktuar der Badener Bezirkshauptmannschaft, Dr. jur.
Albert Novotny-Managetta, zu absolutem Stillschweigen über die vorangegangenen Ereignisse im Schloss824.
Bis in den April hinein half der ortskundige Zwerger Dr. Heinrich von Slatin825 und seinen Helfern, Franz
Sattler und Josef Krause, bei der Erstellung des Mayerling-Inventares und berichtete u.a., welche Einrichtungsgegen819
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
Nach den Aufzeichnungen von Loschek will er jedoch selbst in die benachbarte Villa gegangen sein. Lt. Mitis und Schuldes
war es jedoch Zwerger.
821
Hoyos-Denkschrift, zitiert bei Mitis, „Kronprinz Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
822
Wien, HHStaA, OMaA 421 III/B 101-108 1886-1910
823
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
824
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
825
Dr. jur. Heinrich Slatin, geb. 09.10.1855, Bruder des General-Inspektors des englisch-ägyptischen Sudans, Rudolf Freiherr von
Slatin, dem „Slatin-Pascha“. Slatin war als Hofsekretär im Obersthofmarschallamt, der Gerichtsbehörde des kaiserlichen Hofes,
820
128
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
stände nach dem Auffinden der Toten vernichtet wurden. Als Schriftführer des Inventars fungierte der Offizial Hugo
Ritter von Imhof von Geißlinghof, als Urkundenzeuge Johann Loschek826. Darüber hinaus koordinierte Zwerger bis
zum Herbst größtenteils selbständig die Rückführung der Mobilien nach Wien827. Gleichzeitig musste er jedoch den
Architekten Josef Schmalzhofer und andere Bauleute durch das Schloss führen, da Schmalzhofer in allerhöchstem
Auftrag den Umbau des Anwesens in ein Kloster plante. Bei diesen Ortsbegehungen soll er in der hölzernen Umrandung des Nachtkastens die Kugel des zweiten Schusses gefunden haben und diese vor dem 4. Februar auch Julius
Schuldes gezeigt haben828.
Im Juni 1890 wurden im ehemaligen Mayerlinger-Hof das Asyl für erwerbsunfähige Jäger und Forstarbeiter
eröffnet. Für die zwölf geschaffenen Asylplätze lagen 27 Bewerbungen vor, darunter 20 aus dem Wienerwald. Zehn
Plätze wurden zur Einweihung belegt. Ab 18. November 1891 leitet Alois Zwerger provisorisch das Asyl und wird
erstmals im Hofschematismus erwähnt. Zu dieser Zeit bewohnte er Zimmer im so genannten Turm des Asyls. 1892
wird er offiziell zum Verwalter bestimmt. Bis 1893 bekleidet er die Stelle bei der k.u.k. Privat- und FamilienfondsCassa, danach wird der Titel nicht mehr im Schematismus verwandt und Zwerger zum 1. Juli der Stelle mit der Begründung „z.Zt. keine Verwendung“ enthoben. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde das Asyl nämlich aus der Obhut
der Generaldirektion der Privat- und Familienfonde in die Betreuung des „Dritten Ordens des hl. Franz von Assisi“,
einem Frauenorden aus der Wiener Hartmanngasse, gegeben. Erste Oberin war Schwester Gonzaga Zimpel.
1894 scheint Zwergers Name als provisorischer Kanzlist der k.u.k. Privat- und Familienfonds-Güter-Direktion
in Wien auf, 1897 wird er Inspektor der kaiserlichen Villa „Hermes“ im Lainzer Tiergarten, wo er bis zum Zusammenbruch der Monarchie arbeitet. 1918 tritt er als Lehrkraft in den Dienst der Fachschule für Holzbearbeitung in Grulich829. Alois Zwerger war Träger des goldenen Verdienstkreuzes, der silbernen Jubiläums-Hofmedaille, der bronzenen Jubiläums-Erinnerungs-Medaille für die bewaffnete Macht, des Jubiläums-Hofkreuzes, des königlich preußischen
Roter-Adler-Ordens 4.Klasse sowie des königlich preußischen Kronen-Ordens 4. Klasse. Er stirbt am 13. Dezember
1919 in Wien. Rudolfs Tochter Elisabeth soll seinen gesamten Nachlass aufgekauft haben.
tätig. Er verfasste das Protokoll der ersten Hof-Kommissionen in Mayerling, schrieb den Obduktionsbefund der Vetsera nieder
und war für die Inventarisierung der Schlossgebäude verantwortlich. Slatin wurde später Sektionschef im Oberststallmeisteramt
und am 24. Oktober 1906 in den Freiherrenstand erhoben. Auf Grund seiner Notizen verfasste Slatin 1924 eine Denkschrift, die
nach seinem Tode im Neuen Wiener Tagblatt (verschiedene Sonntagsbeilage des Jahres 1931) veröffentlicht wurde. 1929 verfasste er einen „Nachtrag, zugleich Überprüfung“.
826
HHStaA Wien, OMaA 422, Gruppe III/B 108 „Inventare 1889“, Nr. 109-115, 1889-1916
827
HHStaA Wien, GDpff, Rubrik 9/1 „Mayerling“, 9.f.35-40 u.a.a.O.
828
Schuldes, Julius: „Zeitbilder aus dem Leben eines Unbekannten“, unveröffentlichte Aufzeichnungen, Archiv der Stadt Baden.
829
„Handbuch des allerhöchsten Hofes und des Hofstaates seiner k. und k. apostolischen Majestät“, Jahrgänge 1889 bis 1918
129
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 1
„Unheimlich ist die Stille“
11.
Die Zeitzeugen
O: Sonstige
„Insbesondere
bei sich.“
Dr. Heinrich Slatin
31. Januar 1889
Mitglieder des Kaiserhauses
Erzherzogin Gisela, Schwester des Kronprinzen.
Erzherzogin Marie Valerie, Schwester des Kronprinzen.
Erzherzogin Elisabeth, Tochter des Kronprinzen.
Erzherzog Albrecht.
Erzherzog Franz Ferdinand.
Erzherzog Johann Salvator von Toskana, seit 1889 Johann Orth.
Erzherzog Leopold Salvator von Toskana, Leopold Wölfling.
Mitglieder des Hofstaates und des Hofes
Albert von Margutti, Flügeladjutant des Kaisers.
Maximilian Graf Orsini und Rosenberg, Flügeladjutant des Kaisers.
Arthur Freiherr Giesl von Gieslingen, Ordonnanzoffizier des Kaisers.
Heinrich Ritter von Spindler, Leiter des kronprinzlichen Sekretariats.
Victor Fritsche, Sekretär.
Cihlo Wenzel, Kanzlist.
Carl Beck, Kammerdiener des Kronprinzen.
Carl Nehammer, Kammerdiener des Kronprinzen.
Journalisten
Moritz Szeps830, Verleger, Journalist und Herausgeber.
830
Szeps, Moritz (auch: Moriz), geb. am 05.11.1835 in Busk/Galzinien (heute: Ukraine), gest. am 09.08.1902 in Wien. Sohn eines
jüdischen Arztes, Studium der Medizin in Lemberg und Wien. 1855-1867 Chefredakteur der 1850 gegründeten „Wiener Morgenpost“, ab 13.07.1867 Verleger des am 10. März 1867 gegründeten „Neuen Wiener Tagblattes“ (erscheint bis zum 07.04.1945),
nach seiner Entlassung 1886 Kauf der „Morgenpost“ und Umwandlung in das „Neue Wiener Tagblatt“, das er bis 1899 leitet (ab
130
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Dr. Berthold Frischauer, Pressereferent des Kronprinzen.
Julius Futtaki, Journalist.
Sonstige
Stephan Graf Karoly, Freund des Kronprinzen.
Samuel Graf Teleki von Szék, Freund des Kronprinzen.
Vita Mary Vetsera
Datum
1871, 19.03.
1871, 27.03.
Aktion
Geburt
Taufe
1872, Sommer
1873, Sommer
1874, Sommer
1875, Sommer
1880, Frühjahr
1881, 08.12.
1882
Sommeraufenthalt
Sommeraufenthalt
Sommeraufenthalt
Sommeraufenthalt
Umzug
Ringtheaterbrand
zu den Salesianerinnen
1882, Sommer
1883, 19.03.
1883, Sommer
1884, 08.08.
Sommeraufenthalt
Kindergeburtstag
Sommeraufenthalt
Blumenmädchen
1884, Herbst
1886, 12.01.
1886, 20.02.
1886, April
Beitritt Eislaufverein
Weihe Sühnehaus
Faschingsball
Weißes Kreuz Revue
Ort
Am Schüttel 11, Wien II.
St. Johann Nepomuk,
Praterstraße, Wien II.
Gmunden/Salzkammergut
Gmunden/Salzkammergut
Gmunden/Salzkammergut
Napajedl
Salesianergasse 11
Wien
Wien
1887
1887
1887, 15.11.
1888
1888
1888, 05.11.
1888, 01.12.
Herbstaufenthalt
Ankunft in Kairo
Sommeraufenthalt
Sommeraufenthalt
Fotoaufnahmen
Abenddiner
Schloß Schwarzau
Wien, Palais Vetsera
Schloß Schwarzau
Wien, Hochzeit des Onkels Aristides
Wien
Wien
Wien, Palais Vetsera
Wien, Palais Schwarzenberg
London
Schloß Schwarzau
Kairo
Schloß Schwarzau
Bad Homburg
Wien, Studio Adele
Wien, Palais Vetsera
1888, 01.12.
Besuch der Oper „Mar-
Wien, Hofoper
sonstiges
mit Familie
mit Familie
mit Familie
Mary und Feri
Familie
Mary daheim
Zeit während des Trauerjahres; für
1,5 Jahre
Mary, Helene, Feri, Hanna
Kostümfest
mit Familie
Unterbrechung des Sommeraufenthaltes
Mary, Helene, Feri, Hanna
Mary als Teilnehmerin
Mary als Zuschauerin
mit Familie
mit Familie
14.11.1887: Tod von Albin Vetsera
mit Familie
mit Familie
mit Gräfin larisch
mit Graf und Gräfin Larisch, Herzog
von Braganza
mit Graf und Gräfin Larisch
1901: „Wiener Morgenzeitung“, 1905 eingestellt). Vater von Julius (von 1899 bis 1909 Chefredakteur der „Wiener allgemeinen
Zeitung“; Herausgeber des Briefwechsels zwischen Kronprinz Rudolf und Moritz Szeps 1922 unter dem Titel „Politischen Briefe
an einen Freund 1882 – 1889“), Sophie (Ehefrau von Paul Clemenceau, dem Bruder des französischen Politikers Georges Clemenceau) und Berta (geb. am 13.04.1864 in Wien, gest. am 16.10.1945 in Paris, Schriftstellerin und Journalistin, Ehefrau des
Anatomie-Professors Emil Zuckerkandl [geb. 01.09.1849 in Raab (Györ/Ungarn), gest. am 28.05.1910 in Wien); Mitbegründerin
der Salzburger Festspiele, 1938 nach Paris, später nach Algier emigriert. Residiert von 1885 bis 1897 im Palais Damian im 8. Bezirk (1700 errichtet, 1774 umgebaut, von 1865 bis 1866 Heilanstalt, 1931 Gastwirtschaft im Parterre, während des Zweiten Weltkrieges Heim der Wiener Sängerknaben, heute Sitz der Kriegsopferfürsorge).
131
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1888, 05.11.
1888, 06.05.
1888, 11.12.
1888, 12.04.
1888, 14.10.
1888, 17.12.
1888, 21.12.
1888, 23.09.
1888, 27.10.
1888, 28.02.
1888, Juli
1888,Oktober
garethe“
Besuch beim Kronprinzen
Renntag
Besuch beim Kronprinzen
Frühjahrsrenntag
Eröffnung des Hofburgtheaters
Besuch beim Kronprinzen
Besuch beim Kronprinzen
Renntag
Erster Wiener AbendKorso
Ferien
Sommerreise
Besuch bei Bourgoing
Wien, Hofburg
Vorstellung durch Gräfin Larisch
Wien, Freudenau
Wien, Hofburg
Mary als Gast
allein; Helene, Hanna und Feri in der
Oper (Wagner-Ring) ; wohl nach 19
bis vor 21 Uhr
Mary als Gast
Helene, Hanna, Mary
Wien, Freudenau
Wien
Wien, Hofburg
Wien, Hofburg
Wien, Freudenau
Wien, Ringstraße
Venedig
Paris, London, Wien
Reichenau, TheresienVilla
Wien, Hofburg
1889, 13.01.
Besuch beim Kronprinzen
1889, 15.01.
Wien, Rodeck
1889, 28.01.
Kauf einer goldenen Zigarettendose
Verfassen eines Testaments
Besuch beim Kronprinzen
Treffen mit dem Kronprinzen
Besuch beim Kronprinzen
Besuch bei einer Wahrsagerin
Aussprache mit der
Mutter; Auffinden des
Testaments etc.
Nachmittagsspaziergang
Besuch bei Gräfin Larisch
Französischunterricht
Ausfahrt mit der Gräfin
Larisch
Ball in der Deutschen
Botschaft
Einkaufsfahrt
1889, 28.01.
1889, 28.01.
Flucht aus Wien
Flucht aus Wien
Wien, Hofburg
Rother Stadl
1889, 28.01.
1889, 29.01.
Flucht aus Wien
Aufenthalt im Jagdschloss
Auffinden der Leiche
Mayerling, Schloss
Mayerling, Schloss
1889, 18.01.
1889, 19.01.
1889, 19.01.
1889, 24.01.
1889, 25.01.
1889, 26.01.
1889, 26.01.
1889, 26.01.
1889, 26.01.
1889, 27.01.
1889, 27.01.
1889, 30.01.
allein; Helene, Hanna und Feri in der
Oper (Wagner
allein; Helene, Hanna und Feri in der
Oper (Wagner
Mary als Gast
mit Mary als Teilnehmerin
mit Familie; 4 Wochen
mit Familie
mit Familie
von Mary im Kalender besonders bezeichnet; auf der Tabatiere erwähnt,
ggf. erster Geschlechtsverkehr
mit Gesellschafterin des Hauses
Vetsera
Wien, Palais Vetsera
Wien, Hofburg
Wien, Prater
Helene und Hanna beim Faschingsball im Palais Dietrichstein
Helene und Hanna in der Hofoper
Wien, Hofburg
Wien
Wien, Palais Vetsera
Wien
Wien, Grand Hotel
Wien, Palais Vetsera
Prater
Wien
Wien, „Weiße Katze“
Mayerling, Schloss
132
Abends mit der Gesellschafterin des
Hauses
nach Information durch Marys Gesellschafterin
zusammen mit der Mutter
Flucht aus dem Palais Vetsera gegen
18 Uhr
durch Dubray
gegen 15:30 Uhr
Helene, Hanna, Mary; bis nach 0:30
Uhr
10:30 Uhr: zusammen mit Gräfin Larisch
10:55: Mary fährt mit Bratfisch ab
13:00: Zusammentreffen zwischen
Mary und dem ankommenden Kronprinzen
15:30 Uhr: Eintreffen des Fiakers
nach 8:00 Uhr
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
133
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 2
Stichwort „Mayerling“
1.
Einladung zur Jagd
„...ich atme schon wieder
längere Zeit Stadtluft
und habe jetzt Sehnsucht
nach dem Walde...“
Kronprinz Rudolf,
26. Jänner 1889
„Hoyos, wenn Sie Zeit und Lust haben, kommen Sie gegen Ende der nächsten Woche mit mir nach Mayerling,
um im Wienerwald noch Kahlwild zu schießen831. Den Tag vermag ich noch nicht genau anzugeben, da ich viel zu
thun habe.
Mit diesen Worten, schreibt Graf Josef Hoyos in seiner Denkschrift, richtete Kronprinz Rudolf bei den Jagden
am Sonntag, 20. und Montag, 21. Jänner 1889, im k.k. Jagdrevier Orth an der Donau eine Einladung an ihn, die er
dankend annahm.832“ Für Mittwoch, 23. Jänner, hatte Rudolf zu einer weiteren Jagd eingeladen – in den kaiserlichen
Tiergarten Lainz im Jagdrevier Hütteldorf. Rudolf erlegte dabei fünf Stück Edelwild und zwei Edelmarder – seine
letzte Beute.
Es ist zu rekonstruieren, dass der Kronprinz bereits Mitte Jänner 1889 den Plan hatte, nach Mayerling zu fahren – am 20. oder 21. wird der Name des privaten Jagdschlosses erstmals erwähnt. Zunächst jedoch sollte, so Judtmann, die Jagd erst am 1. und 2. Februar stattfinden. Sie wurde jedoch vorverlegt: Am Dienstag, 29. Jänner, sollte in
den beiden benachbarten Revieren Groß-Krottenbach und Glashütten, beide östlich von Alland an der Grenze zur
Gemeinde Klausen-Leopoldsdorf gelegen, und am Mittwoch, 30. Jänner, im Revier Schöpflgitter eine Treibjagd auf
Hochwild stattfinden. Doch bei nur einer Verschiebung blieb es nicht...
Über den Jagdtermin am Dienstag und Mittwoch verständigte am Samstag, 26. Jänner, der Hofleibjäger Wodicka den Grafen Hoyos. Auch Rudolf Jäger Rudolf Püchel erfuhr am Samstag durch den Kronprinzen von der anstehenden Jagd: „Püchel, ich atme schon wieder längere Zeit Stadtluft und habe jetzt Sehnsucht nach dem Walde. Die
Schusszeit des Hochwildes geht zu Ende – vielleicht kann ich noch ein schlechtes, nichts versprechendes Stück in All-
831
Originaltext der Denkschrift: „Hoyos, wenn sie Zeit und Lust haben, kommen Sie gegen Ende nächster Woche mit mir nach
Meyerling, um im Wienerwald (...) noch Kahlwild abzuschießen!“
832
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
134
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
and abschießen, oder auf einen Fuchs jagen.833“ Rudolf hatte allerdings am Vortag bereits mit dem Gedanken gespielt,
früher nach Mayerling zu fahren. Am Freitag, 25. Jänner, teilte er Hofrat von Weilen in einem Nebensatz brieflich mit,
er werde „Montag nach Mayerling kommen“ – also schon am 28. Jänner.
Am Samstag, 26. Jänner, könnte Rudolf bei einem gemeinsamen Frühstück dann auch den Grafen Hans
Wilczek eingeladen haben, ihn zur Jagd nach Mayerling zu begleiten. Wilczek lehnte ab und erinnerte sich später: „In
den letzten Lebensjahren des Kronprinzen trübte sich leider der Himmel in schwerer Weise und ich zog mich von ihm
zurück. (...) Ich dankte Gott, dass ich diese Jagd, mit der sein Leben einen so tragischen Abschluss fand, nicht mitgemacht habe.834“ Am Sonntag, 27. Jänner, bat Rudolf schließlich den Grafen Hoyos, sich wegen der Fahrt am Dienstagmorgen, 29. Jänner, mit dem Prinzen von Coburg zu verständigen.
In der Nacht von Sonntag auf Montag (27./28. Jänner) änderte Rudolf erneut seine Pläne und drängte, schon
am Montagmittag herausfahren: „Püchel, ich musste leider spät nachts mein Programm bezüglich Mayerling ändern –
ich fahre heute schon hinaus. Loschek, Vodicka und das Wirtschaftspersonal sind bereits vorausgefahren und mein
Wagen ist für zwölf Uhr bestellt.835“ Püchel sollte jetzt jedoch in Wien bleiben, da der Kronprinz am Dienstagnachmittag schon wieder zurück sein wollte. Wahrscheinlich war beabsichtigt, nach dem für Dienstag geplanten Familienessen in der Burg am Mittwoch erneut nach Mayerling zu reisen. Püchel hielt sich daher am 29. Jänner zur Jagd bereit
und wollte am Mittwoch, dem 30. Jänner, früh mit der Südbahn nach Baden herausfahren. Loschek war nach eigenen
Angaben tatsächlich bereits am Montag, 28. Jänner um ¾ 9 Uhr mit einem Hofwagen zum Südbahnhof und weiter mit
der Bahn nach Baden gereist, um von dort nach Mayerling zu fahren.
Fritz Judtmann stellt die These auf, die neuerliche Vorverlegung der Fahrt könne mit den turbulenten Ereignissen im Hause Vetsera zusammen hängen, wo am Samstag, 26. Jänner, Baronin Helene Vetsera nach eigener Aussage erstmals von der Verbindung ihrer Tochter mit dem Kronprinzen erfahren hatte. Was war genau in der Salesianergasse geschehen?
„Die Gesellschafterin des Hauses meldete der Baronin, sie sei am Vorabend von der Baroness genötigt worden, sie zu einer Wahrsagerin zu begleiten, und weiters, dass Mary am 15. Jänner in ihrer Begleitung beim Juwelier
Rodeck eine goldene Zigarettendose gekauft habe und etwas hineingravieren haben lasse, wobei sie dringend bat, der
Mutter nichts darüber zu sagen.836“ Da die Gesellschafterin glaubte, es handle sich um eine Überraschung für die Mutter der Baroness schwieg sie – zumindest bis zu diesem Moment. „Nun aber seien ihr in Verbindung mit dem Besuch
bei der Wahrsagerin, die der Baronesse einen jähen Todesfall in der Familie vorausgesagt habe, Bedenken gekommen,
und sie fühle sich verpflichtet, Mitteilung zu machen.837“
Baronin Helene Vetsera stellte daraufhin wohl ihre Tochter zur Rede und erfuhr, dass die Dose tatsächlich für
den Kronprinzen bestimmt gewesen sei und er diese, anonym durch einen Dienstmann überbracht, auch schon erhalten
habe. Die Mutter muss nach eigenen Angaben der Tochter schwere Vorwürfe gemacht haben, da sie „durch diese verrückte tat furchtbar kompromittiert werden könne838“. Helene Vetsera zwang die Tochter, ihre eiserne Kassette zu öffnen. Inhalt: ein eisernes Zigarettenetui mit einem Saphir und dem eingravierten Namen „Rudolf“ sowie das Testament
833
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf“, zitiert nach dem handschriftlichen Original im Besitz der Frau Christine Pai,
Wien
834
Zitiert in Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
835
„Meine Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf – Die bisher unveröffentlichten Memoiren des Leibjägers Rudolf Püchel sowie
13 Zeichnungen desselben.“ Herausgegeben von Elisabeth Koller-Glück, Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1978
836
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
837
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
838
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
135
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
der Baroness vom 18. Januar 1889. Mary log, sie habe das Etui auf Grund ihrer Schwärmerei von der Baroness Larisch erhalten.
Trotz des Streits machten Mutter und Tochter am Nachmittag wie gewohnt ihren gemeinsamen Spaziergang,
doch gegen 18 Uhr war Mary aus dem Palais verschwunden. Helene Vetsera eilte ins Grand Hotel zur Gräfin Larisch,
in deren Begleitung sie ihre Tochter vermutete. Vom Portier erhielt sie die Auskunft, beide seien gerade in die Salesianergasse gefahren. Dort fand Helene ihre Tochter im Bett liegend vor, „leichenblass und unfähig zu sprechen“. Einen
ähnlichen Fieberanfall, so die Gräfin, habe sie bereits im Grand Hotel erlitten839.
Von Marie Larisch erhielt Helene Vetsera die Bestätigung, dass es sich bei dem Zigarettenetui tatsächlich um
ein Geschenk des Kronprinzen an seine Cousine gehandelt habe, dass sie der schwärmerischen Baroness weiter gegeben habe. Die Larisch versprach indes, das Etui dem Kronprinzen zurück zu geben, was Helene Vetsera beruhigte.
Und auch dem Testament maß sie keine weitere Bedeutung mehr zu.
Und Marys Geschenk von Rodeck an Rudolf? Wie wir wissen, gab es im Besitz des Kronprinzen tatsächlich
eine goldene Tabatiere, die er auch dem Prinzen Coburg und Erzherzog Otto gezeigt haben soll, wie Hoyos in seiner
Denkschrift berichtet. Die Inschrift habe gelautet: „Dank dem glücklichen Geschicke! 13. Jänner 1889“. Hierbei, so
Judtmann, müsse es sich um jenen Tag gehandelt haben, an dem der Erzherzog und die Baroness erstmals intim miteinander waren.
Fritz Judtmann vermutet, dass Mary die Larisch besucht habe um mitzuteilen, dass die bisher geheime Verbindung zwischen ihr und dem Kronprinzen drohe offenbar zu werden. Sicher habe die Larisch nun versucht, sich
umgehen mit Rudolf in Verbindung zu setzen. Dokumentiert ist, dass die Gräfin am Sonntag, 17. Jänner, um 11 Uhr
durch den Dienstmann Nr. 198 dem Kronprinzen ein Paket und einen Brief senden ließ840 und Rudolf direkt antwortete: „Ich muss dich allein sprechen. Erwarte mich um fünf Uhr heute Nachmittag. Sorge dafür, dass Du allein bist. Jenny soll Acht geben, dass die Luft auf der Dienstbotentreppe rein ist.841“ Der Inhalt des Paketes könnte das Zigarettenetui gewesen sein. Belegt ist ebenfalls, dass am Sonntag der Kronprinz plötzlich in der Bierschwemme des Grand Hotels, deren Eingang zur Maximilanstraße zeigte, erschienen ist, diese jedoch umgehend wieder verließ. Offensichtlich
hatte er den rückseitigen Hoteleingang mit dem Zugang zum Fiakerlokal verwechselt. Da die Larisch mit ihrer Kammerfrau seit dem Vortag, dem 26. Jänner, das Zimmer 21 im Maximilanstraßen-Trakt des Hotels bewohnte, kann Rudolf tatsächlich versucht haben, seine Cousine dort zu besuchen. Wann aber?
Polizeioberinspektor Jurka als Leiter des k.k. Polizei-Agenten-Instituts berichtet, Rudolf sei in Uniform am
Sonntag um 10 Uhr mit einem Zweiräder und begleitet von einem Lakaien in der Maximilanstraße vorgefahren und
habe sich zur Gräfin Larisch begeben842. Polizeirat Heider berichtet, der Kronprinz habe um 10.30 Uhr zunächst die
Schwemme betreten und danach dann den Hoteleingang genutzt843. Polizeipräsident Krauß notierte, um 9.30 Uhr sei
der Erzherzog ins Hotel gekommen844 und die Gräfin selbst will ihren Cousin erst um 17 Uhr begrüßt haben845.
839
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Bericht vom 12.02.1889 des Polizeirates Heide als Leiter des Polizeikommissariates Innere Stadt im Geheimakt des Polizeipräsidenten Krauß, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
841
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
842
Bericht vom 07.02.1889 im Geheimakt des Polizeipräsidenten Krauß, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos,
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Unmittelbar vor Rudolfs Eintreffen sei die Kammerfrau der Gräfin mit deren Hund auf
die Straße gegangen und habe dann Rudolf ins Hotel geführt.
843
Bericht vom 12.02.1889 des Polizeirates Heide als Leiter des Polizeikommissariates Innere Stadt im Geheimakt des Polizeipräsidenten Krauß, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
844
Protokoll des Polizeipräsidenten vom 29. Jänner 1889, der sich auf ein Gespräch mit Baronin Vetsera und Alexander Baltazzi
beruft
840
136
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Der Besuch um 17 Uhr, an den sich die Larisch 25 Jahre später erinnert, kann zu diesem Zeitpunkt nicht stattgefunden haben, da eine Fahrt des Kronprinzen am Nachmittag im Prater belegt ist. Die Zeitangabe von Jurka und die
von Krauß notierte Angabe stimmen in etwas überein, so dass der Besuch im Grand Hotel am Sonntag, 27. Jänner
1889, zwischen 9.30 und 10 Uhr stattgefunden haben muss. Judtmann schlussfolgert, dass der mehr als zwei Wochen
später verfasste Bericht von Heide nicht glaubwürdig sein könne, was „für die Beurteilung seiner Meldung über die
Entführung der Baronesse Mary wichtig846“ sei.
845
Memoiren der Gräfin Larisch
137
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 2
Stichwort „Mayerling“
2.
Die Zeit drängt – Sonntag, 27. Jänner 1889
„Lieber Rudolf!
Du weißt, dass ich dir
blind ergeben bin...“
Marie Gräfin Larisch,
Wien 27. Jänner 1889
Gehen wir davon aus, dass der Kronprinz tatsächlich am Sonntagvormittag bei der Gräfin Larisch im Wiener
Grand Hotel am Ring zu einer Aussprache erschienen ist. Hierbei könnte auch ein neuerliches Treffen des Erzherzogs
mit Mary Vetsera in der Hofburg geplant worden sein, denn die Gräfin hatte bereits am Samstag im Hause Vetsera
nachgefragt, ob Mary sie zur „Besorgung von Kommissionen“ begleiten könne. Bei dieser Gelegenheit, so Judtmann,
wollte die Gräfin bei Rodeck auch die Rechnung der goldenen Tabatiere auf ihren Namen umschreiben lassen. Augenscheinlich hat Judtmann nicht bedacht, dass es sich beim 29. Januar um einen Sonntag gehandelt hat!
Über den Verlauf der Unterredung informiert uns ausschließlich die Gräfin Larisch selbst in ihren Memoiren.
Rudolf will ihr eine Kassette mit Geheimdokumenten überreicht haben, die sie später Erzherzog Johann Salvator von
Toskana, dem späteren Johann Orth, bei einem nächtlichen Treffen am Schwarzenbergplatz übergeben haben will.
Wie lange Rudolf und seine Cousine zusammen getroffen waren, ist nicht mehr zu ermitteln. Am Nachmittag indes
„fuhr der Kronprinz in seinem Kutschierwagen, den er selbst lenkte, in den Pater und kehrte über die Sophienbrücke
in die Stadt zurück, wie ein Polizeibericht nachträglich meldete.847“ Im Prater will Louise Prinzessin von Coburg den
Kronprinzen in erregtem Gespräch mit der Gräfin Larisch gesehen haben. Rudolf habe sich dann aus der Unterhaltung
gelöst, sei zur Coburgerin gegangen und habe sie gebeten ihrem Mann auszurichten, er solle erst am Dienstag nach
Mayerling kommen. Wie sicher diese Information ist, können wir nicht sagen. Judtmann jedoch wies bereits darauf
hin, dass sich die Coburgerin beim Datum des Treffens irrte – es war nicht am Montag, sondern bereits am Sonntag.
Bei diesem Zusammentreffen zwischen Gräfin Larisch und Kronprinz Rudolf könnte auch Mary Vetsera dabei
gewesen sein. Als sich in der Salesianergasse die Gemüter wieder beruhig hatten, habe ihr Helene Vetsera erlaubt, wie
gewöhnlich um 14.30 Uhr mit der Gräfin Larisch ausgefahren. Mary kehrte jedoch erst um 17.30 Uhr zurück. Judtmann vermutet, dass Rudolf und Mary am Nachmittag die Fahrt nach Mayerling am kommenden Tag besprachen, „da
dies bei der Soiree des Prinzen Reuß, wo sie sich am gleichen Abend wiedersehen sollten, unter den Augen der zahlreichen Gäste kaum denkbar war.848“
846
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
848
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
847
138
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Tatsächlich fand an diesem Sonntagabend ab 21 Uhr im Palais des deutschen Botschafters, Prinz Heinrich VII.
von Reuss849, zur Ehren des Geburtstages des deutschen Kaisers Wilhelm II. ein festlicher Empfang statt. Der deutsche Kaiser hatte erst wenige Monate zuvor den Thron bestiegen und das Erscheinen des Kaisers, des Kronprinzenpaares, vieler Erzherzoge, des diplomatischen Korps und der Spitzen der Wiener Gesellschaft sollte die besondere Beziehung zum Deutschen Reich und seinem neuen Herrscher demonstrieren. Insgesamt waren zu dieser Soiree 600 Einladungen850 ausgesprochen worden, wie die Wiener Presse vermeldete851. Die deutsche Botschaft lang nur wenige
Gehminuten vom Palais Vetsera entfernt, ebenfalls im III. Wiener Gemeindebezirk, in der Metternichgasse 3852. „Der
Empfang fand im ersten Stock im Festsaal und den anschließenden Salons... statt853“. Kurz nach 22 Uhr erschienen
Rudolf – gekleidet in der Uniform seines königlich preußischen zweiten brandenburgischen Ulanenregiments Nr. 11 –
und Stephanie, in einer dunkelroten mit Spitze besetzten Samtrobe und einem Diamantendiadem. Kaiser Franz Joseph
in der Oberstuniform seines preußischen Garde-Grenadier-Regiments kam gegen 22.15 Uhr und blieb „mehr als eine
Stunde854“. Gegen 0.15 Uhr war das Fest beendet.
Unter den Gästen des Empfangs befanden sich auch – als Witwe eines österreichischen Diplomaten – Baronin
Helene Vetsera und ihre Töchter Hanna und Mary, auch wenn diese in der lokalen Presse nicht genannt wurden. Helene trug zur Soiree ein schwarzes Samtkleid, „welches ein lauter Efeublätter darstellendes Diamantenhalsband abschloss, ihr volles, noch immer schön schwarzes Haar mit dem Schmuck von Brillantennadeln neben einer weißen
Reiherfeder zusammenhaltend.855“ Hanna erschien ganz in Weiß mit einer Perlenkette als einzigem Schmuck, während Mary in hellblauer ärmelloser Abendtoilette mit gelbem Besatz erschien856. „Ihr üppiges dunkelbraunes, fast
849
Heinrich VII. Prinz von Reuss (jüngere Linie), geb. 14.07.1825 in Klipphausen, gest. 02.05.1906 in Trebschen, Kreis Züllichau; verheiratet seit 06.02.1876 mit Marie Alexandrine Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. 20.01.1849 in Weimar,
gest. 06.05.1922 in Trebschen; aus der Ehe entstammen sechs Kinder, von denen zwei im Kindesalter verstarben. Prinz Reuss war
zunächst an den Gesandtschaften in Wien, Dresden und Paris attachiert, ab 1863 Gesandter in Kassel, ab 1864 Gesandter in München, ab 1867 Gesandter in St. Petersburg (dort ab 1871 als Botschafter), ab 1877 Botschafter bei der Hohen Pforte, ab 12.06.1878
Botschafter des Deutschen Reiches in Österreich; am 08.03.1894 auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzt und am
18.04.1894 abberufen.
850
Anwesend waren u.a. Kardinal Fürsterzbischof Dr. Ganglbauer, der päpstliche Nuntius Erzbischof Galimberti, die Erzherzoge
Karl Ludwig, Albrecht, Karl Leopold Franz, Wilhelm und Rainer, die Prinzen Philipp von Coburg und Gustav von SachsenWeimar, Außenminister Graf Kalnoky, Ministerpräsident Graf Taaffe, die Botschafter Paget (England), Robanoff (Russland), Decrais (Frankreich), Don Merry del Bal (Spanien), Nigra (Italien), Saadnllah Pascha (Türkei), die Gesandten Bray (Bayern) und
Toda (Japan), die Adeligen Familien Metternich, Schönburg, Eszterhazy, Trauttmansdorf, Liechtenstein, Batthyanyi, Schwarzenberg, Colloredo-Mannsfeld, Pallavicini, Harrach, Schönborn, Clam-Gallas und Bellegarde, die Politiker Präsident Dr. Unger und
Bürgermeister Uhl, sowie die Wissenschaftler Baurat von Schmidt, Hofrath von Arneth, Professor von Zumbusch und Professor
Tilgner sowie die Mediziner Billroth, Müller, Frisch und Benndorf.
851
Neues Wiener Abendblatt, Wien 28.01.1889
852
Kaiserlich Deutsche Botschaft, Metternichgasse 3: 1877 wurde zwischen der britischen und der russischen Botschaft auf dem
Grundstück des aufgelassenen Parks des Palais Metternich nach Plänen des Architekten Viktor Rumpelmayer die Deutsche Botschaft im Stil der italienischen Renaissance errichtet, während die Repräsentationsräume – u.a. Empfangssalon, Musiksaal – im
Wiener Barock eingerichtet wurden. Der Zugang in die Botschaft (1918-1920: Deutsche Diplomatische Vertretung, 1938-1945:
Dienststelle des Auswärtigen Amts) erfolgte über die Reisnerstraße. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Josef Hoffmann
neu adaptierte Gebäude wurde durch Kriegseinwirkung des II. Weltkrieges teilweise zerstört und ging nach 1945 in die Verfügungsgewalt auf das Königreich Britannien über, 1955 auf die neue Republik Österreich (Einrichtung eines Büros der Kriegsgefangenen-Fürsorge), 1957 schließlich auf die Bundesrepublik Deutschland. 1957/58 wurde das Gebäude abgerissen und in den
Jahren 1959 bis 1964 durch den Architekten Professor Rolf Gutbrod/Stuttgart neu errichtet. Die Deutsche Botschaft wird seit dem
01.12.1964 wieder genutzt.
853
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
854
Neues Wiener Abendblatt, Wien 28.01.1889
855
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
856
Dass dieses Kleid aus dem Salon Spitzer war, berichtete vor Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag, Wien 1980 bereits Gräfin Larisch in Wallersee, Marie Freiin von:
„Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy, Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin ca. 1913
139
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
schwarzes Haar, zu Zöpfen geflochten, war zu einer Krone kunstvoll arrangiert, auf der ein glitzernder Diamantenhalbmond befestigt war.857“
Hoyos, den die lokale Presse als Gast auch nicht erwähnt, erinnerte sich: „Nachträglich auffallend war mir,
dass mich diesen Abend Baronesse Marie Wecsera, eine Dame, die ich sehr wenig kannte, zweimal ansprach. Die junge Dame von etwa 20 Jahren fiel mir diesmal durch ihre blendende Schönheit auf. Ihre Augen, die diesmal viel größer
erschienen, funkelten schier unheimlich und ihr ganzes Wesen glühte. Das erste Mal theilte sie mir mit, sie habe mich
an ihrer Wohnung (Salesianergasse) vorbeigehen gesehen, sei aber zu schüchtern gewesen, sich zu zeigen. Bei der
zweiten Ansprache frug sie mich beiläufig, ob ich manchmal mit dem Kronprinzen jage. Ich weiß nicht mehr genau,
was ich antwortete, beiläufig aber mag ich erwidert haben, dass ich demnächst Gelegenheit haben werde, bei Meyerling im Wienerwald zu waidwerken.858“ Dieses Gespräch sollte später die Begründung werden, die Hoyos für seine
Rechtfertigungsschrift anführte.
Bei diesem Empfang sollen sich unerhörte Szenen abgespielt haben, über die es in der Forschung verschiedene Berichte gibt. Gräfin Larisch – die Mary nach 22 Uhr mit ihrer Kutsche bis zum Botschafter-Palais gebracht haben
will, selbst jedoch nicht eingeladen war – schrieb in ihren Memoiren beispielsweise davon, dass Mary Vetsera beim
Vorüberschreiten der Kronprinzessin nicht den vorgeschriebenen Hofknicks machte: „(...) als die Kronprinzessin an
ihr vorüberkam, blickte sie ihr voll ins Gesicht, ohne sie zu grüßen. Die Augen der beiden Frauen trafen sich, und man
erzählte mir, dass sie wie zum Sprung bereite Tiger ausgesehen hätten. Die Zuschauer blickten verdutzt drein, und gerade als jeder gespannt wartete, was jetzt wohl erfolgen würde, stampfte Mary einmal, dann noch einmal mit dem Fuße auf und warf den Kopf mit einer Bewegung tiefster Verachtung zurück. Jetzt stürzte die Baronin Vetsera herbei, die
den Vorgang mit Entsetzen beobachtet hatte, hochrot vor Ärger und Scham über die öffentliche Beleidigung der
Kronprinzessin durch ihre Tochter. Sie fasste Mary am Arm und zog sie schleunigst aus dem Ballsaal hinaus.859“
Dr. Konrad Ritter von Zdekauer, ebenfalls Gast der Soiree, berichtet über einen weiteren Zwischenfall der
sich ereignete, als das Kronprinzenpaar den Empfang verließ. Während Stephanie bereits den Saal verlassen hatte,
sprach der Kronprinz in der Tür stehend noch mit Graf Hoyos, fixierte dabei jedoch die Baroness Vetsera. „Bei einem
späteren Besuch (...) bei der Prinzessin Reuss erzählte ihm diese, dass sich an diesen Vorfall beim Hinabschreiten des
Kronprinzenpaares über die Treppe ein so heftiger Wortwechsel der beiden geknüpft habe, dass er auch von der im
Vestibül befindlichen Dienerschaft vernommen wurde, die hierüber als von etwas ganz Ungewöhnlichem berichtet
hätten.860“ Allerdings: der Legationsrat der Deutschen Botschaft, Anton Graf Monts, konnte sich an ein Wortgefecht
nicht erinnern. Stattdessen sprach er längere Zeit mit dem Kronprinzenpaar am Fuße der mit Teppichen ausgelegten
Haupttreppe, da der „rote Hermelinsamtmantel der Kronprinzeß“ – nach Judtmann ein langer graue Mantel – durch
ein Versehen nicht zur Stelle war861.
857
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
858
Denkschrift des Grafen Hoyos, zitiert nach Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
859
Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy,
Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin ca. 1913
860
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
861
Nowak, Karl Friedrich und Thimme, Friedrich: „Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts“, Berlin
1932
140
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Von anderen Affronts berichten jedoch andere Augenzeugen wie der englische Botschafter, Sir Augustus Paget, und seine Gattin, Lady Paget, Louise von Coburg862, Italiens Botschafter Costantino Graf Nigra 863 oder Nora Gräfin Fugger nichts864. Sogar Kronprinzessin Stephanie, gegen die sich das Benehmen der jungen Baroness gerichtet hätte, erwähnt in ihren Erinnerungen den Abend nur in einem Satz – Rudolf und sie seien dort gemeinsam erschienen.
Helene Vetsera erwähnt in ihrer Denkschrift auch keine peinliche Szene, berichtet jedoch über die Gespräche ihrer
Tochter mit dem Grafen Hoyos. Der Einzig in der Familiengeschichte der Vetseras dokumentierte Vorfall an diesem
Abend bezog sich auf den Verlust eines Saphirs aus Maries Armband, was Helene am folgenden Montag mit einem
Billett bei Graf Monts reklamierte865. Die „Brillantriviére“ wurde tatsächlich nach langem Suchen im Kies des Hofes
gefunden und am gleichen Tag in die Salesianergasse gebracht866.
Fritz Judtmann folgert auf Grund der viele verschiedenen Äußerungen, „dass Mary Vetsera die Kronprinzessin beim Empfang des Prinzen Reuss nicht brüskiert haben dürfte.867“ Auch die Presse dieser Tage erwähnte keinen
Zwischenfall. Es ist dennoch interessant, dass sich diese Behauptung bis heute immer noch unwidersprochen in der
Forschung hält.
862
Louise von Coburg sprach auf der Soiree mit dem Kronprinzen, der ihr gegenüber sagte: „Sie ist hier, ach, wenn ich mich doch
nur von dieser unseligen Leidenschaft befreien könnte“. Der Kronprinz erschien seiner Schwägerin an diesem Abend „entsetzlich
nervös und enerviert“. Um von der Baroness, die Rudolf meinte, loszukommen riet Louise von Coburg zu einer Reise ins Ausland: „Reise, wenn du wirklich von Liebe krank und zerrüttet bist, wirst du dadurch gesund werden.“ Prinzessin Louise von
Coburg: „Throne die ich stürzen sah“, Amalthea Verlag, Wien 1927
863
Botschafter Costantino Graf Nigra (von 1885 bis 1904 in Wien) berichtet dazu am 06.02.1889 an den italienischen Ministerpräsidenten Francesco Crispi (geb. am 04.10.1819 in Agrigent, gest. am 11.08.1901 in Neapel): „Ich selbst sprach (mit der Baronin) und stand einige Zeit neben (der Baroness), nicht ohne zu bemerken, dass ihre Augen fortwährend auf den kaiserlichen Prinzen gerichtet waren. Man sagte mir, dass dieser zu ihr gesprochen habe. Ich habe es nicht gesehen. Aber es scheint sicher, dass die
junge Dame während der Soiree entweder mündlich oder, wie man auch sagt, durch ein tags darauf übersandtes Billett den Prinzen benachrichtigte, dass sie ihn in Mayerling treffen wolle“, zitiert nach „Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und
Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane & Co, Berlin 1912.
864
Lady Paget indes hatte beim Empfang lange mit dem Kronprinzen gesprochen und will ihn „frappanter Weise wie alle Welt
verändert“ an getroffen haben: „Er schien niedergeschlagen, traurig, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.“ Dies berichtet Alexander Graf Hübner ins einem Tagebuch nach einem Zusammentreffen mit Lady Paget am 03.02.1889 in Paris, zitiert nach Judtmann,
Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
865
Nowak, Karl Friedrich und Thimme, Friedrich: „Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts“, Berlin
1932
866
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familie Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Böhlau-Verlag,
Wien 1980
867
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
141
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 2
Stichwort „Mayerling“
3.
Die letzte Wiener Audienz – Montag, 28. Januar 1889
„Du bist nicht würdig,
mein Nachfolger zu werden!“
Rudolfs Kammerdiener Carl Beck an
Stephanies Kammerfrau Sophie von Planker-Klaps
Wien, 28. Januar 1889
„Gegen Mitternacht in die Hofburg zurückgekehrt, begab sich der Kronprinz in sein Appartement (...) und soll
dort noch den Journalisten Moriz Szeps empfangen haben, wie dessen Tochter Berta Zuckerkandl-Szeps in ihren Erinnerungen zu berichten weiß.868“ Der Kronprinz soll sehr erregt gewesen sein, was die Autorin mit der unbewiesenen
Behauptung in Zusammenhang bringt, der Papst habe Rudolfs Ansuchen auf Annullierung der Ehe abgelehnt und den
Brief an den Kaiser zurück geschickt. Ferner berichtet die Autorin, beim vorangegangenen Empfang im Hause des
deutschen Botschafters habe der Kaiser so abweisend gewirkt, dass er den Kronprinzen brüskiert und dessen Gruß
nicht mal erwidert habe. Allerdings: auch für diesen Umstand gibt es keinen Beweis. Mag vielleicht bei so vielen Ungereimtheiten auch das Zusammentreffen mit ihrem Vater an diesem Abend nicht stimmen?
Gesichert ist indes, dass der Kronprinz in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar noch seine Geliebte Maria
Caspar traf – nach Hoyos in der Wiener Burg, nach Agentenberichten der Polizei in deren Wohnung. Am Montagmorgen, dem 28. Jänner, war Rudolf jedoch wieder in der Burg. Schon vor neun Uhr soll er in Paradeuniform beim
Kaiser erschienen sein. Welchen Grund der Besuch „in Parade“ hatte, ist nicht bekannt. Judtmann zitiert die Erinnerungen von Stephanies Kammerfrau, Sophie von Planker-Klaps, die ihr Sohn Erwin von Planker-Klaps veröffentlichte: „ (...) ungefähr um 9 Uhr früh, befand ich mich in einem der Garderobenzimmer (...), als der Kronprinz auf dem
Weg nach seiner Audienz durchkam.“ Rudolf soll verstört und verfallen ausgesehen haben, seine Hand habe gezittert.
Von Franz Josephs Kammerdiener Beck habe sie später erfahren, dass es während der Audienz „etwas Schreckliches
gegeben haben [muss], denn der Kaiser soll gesagt haben: Du bist nicht würdig, mein Nachfolger zu werden!869“
Über die Gründe der Audienz spekuliert Judtmann und kommt zu drei Möglichkeiten, die er anführt:
1.
Rudolf könnte den Papst gebeten haben, seine Ehe mit Stephanie zu annullieren. Da dies für den
Heiligen Vater nicht in Frage kam und eine Erschütterung der katholischen Monarchie ohne Beispiel bedeutet hätte, könnte der Brief an den Kaiser zurückgesandt worden sein. Bei einer Aussprache zwischen Vater und Sohn hätte es zu einer Szene kommen können, an deren Ende die kolportierte Aussage des Kaisers stand.
2.
Der Kaiser könnte von der Affäre des Kronprinzen mit Mary Vetsera gehört haben und von seinem
Sohn verlangt haben, sich von der Baroness zu trennen und mit seiner Frau zu versöhnen. Der
868
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
142
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kronprinz könnte nach Judtmann ein letztes Zusammentreffen mit Mary verlangt haben. Die Aussage des Kammerdieners passt zu dieser Version jedoch nicht.
3.
Rudolf könnte sich in Ungarn anlässlich der Wehrgesetzesnovelle engagiert haben und eine AntiHabsburg-Haltung eingenommen haben. Franz Josef könnte seinen Sohn politisch zur Rechenschaft
gezogen haben – der zitierte Ausspruch passt zu dieser Version.
Welche Bewiese gibt es für dieses Treffen? Hollaender zitiert einen Brief, den Fürsten von Bismarck an die
Witwe von Kaiser Friedrich III. geschrieben hat, in dem er von „violent scenes and altercations“ berichtete, was ihm
aus Wien gemeldet worden war. Auch der englische Botschafter, Sir August Paget, berichtete an Lord Salisbury von
„violent and serious altercations“. Lassen wir die Berichte der gewöhnlich gut unterrichteten Diplomaten gelten, so
kann tatsächlich die Unterredung zwischen dem Kronprinzen und dem Kaiser hitzig verlaufen sein – doch die neueste
Forschung verlegt sie vom Montag (28.02.) auf Samstag (26.01.), was auch Sophie von Planker-Klaps so mit Datum
berichtet.
Wenn Rudolf am Montag also nicht zunächst auf seinen Vater traf, so ist der erste dokumentierbare Besuch an
diesem Tag der Journalist Berthold Frischauer870. Der Kronprinz hatte ihn angewiesen, „ihm die in der Nacht eingelaufenen Resultate der französischen Wahlen mitzuteilen. Der Kronprinz interessierte sich für den Ausgang dieser für
die europäische Politik wichtige Wahl.871“ Frischauer erinnerte sich später, er habe dem Erzherzog die Abschriften der
offiziellen Pariser Depeschen übergeben und dann die Burg verlassen. Er geht davon aus, dass Rudolf um 9.30 Uhr die
Burg Richtung Mayerling verließ. Zwar ist diese Abfahrtszeit falsch, doch schließen wir daraus, dass der Kronprinz
den Journalisten vor 9.30 Uhr empfing.
Über eine zweite Unterredung des Thronfolgers mit Moriz Szeps an diesem Vormittag, wie sie Berta Zuckerkandl erwähnt, fand Judtmann im Szeps´ schen Nachlass keine Hinweise. Auch dieser Besuch muss daher als nicht
gesichert angesehen werden muss.
Nach Frischauer und Szeps soll Alexander von Battenberg872 den Kronprinzen in der Burg besucht haben. Battenberg hatte als Fürst von Bulgarien abdanken und den Namen Graf von Hartenau annehmen müssen. Jetzt wollte er
in die österreichische Armee eintreten. Er erhoffte sich hierzu Hilfestellung durch den Kronprinzen. Im Verlauf des
Gespräches soll Rudolf den Grafen mit den Worten „Ich habe morgen eine Jagd in Mayerling und würde mich freuen,
wenn du auch dazu kämest“ eingeladen haben. Battenberg lehnte ab, da er in Wien lediglich Zwischenstation auf seiner Fahrt über Venedig nach Mentone gemacht hatte, wo die Frau auf ihn wartete, die er heiraten wollte. Über dieses
Treffen berichtet einzig Conte Corti873. Tatsächlich war Battenberg zur Zeit der Tragödie nicht in Wien, denn Judtmann kann aus seinem Kondolenzschreiben vom 1. Februar 1889 zitieren in dem er erwähnt, dass er „noch vor einer
869
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Frischauer, Dr. Berthold, Journalist, stammt aus der Steiermark, geb. 1851, gest. 1924; am 21.08.1921 veröffentlichte die Neue
Freie Presse seine „Kronprinzenlegenden. Aus meinen Erinnerungen an den verstorbenen Kronprinzen Rudolf“.
871
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
872
Battenberg, Alexander von; hessischer Adeliger; am 29.04.1879 auf Bestreben des russischen Zaren, Alexander II., von der
bulgarischen Nationalversammlung als Alexander I. zum Fürsten von Bulgarien gewählt; annektiert 1885 Ostrumelien und beschwört damit einen Balkankrieg gegen Serbien; muss 1886 angesichts österreichischer Drohungen und unter dem Druck Russlands einen Waffenstillstand mit Serbien akzeptieren und verzichtet im „Frieden von Bukarest“ auf alle Gebietsanforderungen; im
gleichen Jahr auf Befehl des russ. Zaren in Sofia verhaftet und nach einigen Wochen Haft in Russland zum Thronverzicht gezwungen; muss darauf hin Bulgarien verlassen und heiratet 1889 als Graf von Hartenau die Schauspielerin Johanna Loisinger
(seine angestrebte Ehe mit der preußischen Prinzessin Viktoria, Tochter von Kaiser Friedrich III., wird von Fürst Bismarck hintertrieben und findet nicht statt); Battenbergs Nachfolger wird Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha, der 1908 die formelle Unabhängigkeit Bulgariens durchsetzt und sich zum Zaren krönen lässt.
873
Conte Corti, Egon Cäsar: „Leben und Liebe Alexanders von Battenberg“, Verlag Anton Pustet, Graz, 2. Auflage 1950
870
143
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Woche das Glück hatte, S. K. H. den Kronprinzen wohl und gesund in vollster Manneskraft zu sehen, zu sprechen und
sich an dem Anblicke dieses herrlichen Prinzen zu erfreuen und zu erbauen.874“ Dies kann nicht der Beweis sein, dass
Battenberg tatsächlich am 28. Jänner noch den Kaisersohn sah875.
Als möglicher vierter Besucher an diesem Vormittag wird von Judtmann Oberstleutnant Meyer, Generalstabschef der 25. Infanterietruppendivision, genannt876. Der Kronprinz war Kommandeur dieses Truppenteils und die Besprechung dürfte Routine gewesen sein. Mayer soll den Kronprinzen „nach zehn Uhr“ verlassen haben877. Botschafter
Reuß berichtet dazu an Fürst Bismarck: „Am 28. früh ist dem dienstthuende Adjutanten die unaufmerksame und
flüchtige Art aufgefallen, mit der der Prinz ganz wider seiner Gewohnheit die zum Vortrag gebrachten militärischen
Angelegenheiten erledigt hat. Der Erzherzog hat sich zum Schluss mit der sehr heftigen Kopfschmerzen entschuldigt,
das beste Mittel gegen Kongestionen würde Landluft sein und er möchte daher so bald als thunlichst nach Mayerling
fahren, um darselbst ein paar Tage zu jagen.878“
Damit sind von vier möglichen Besuchen nur der von Frischauer bestätigt; Mayer kann aus Routine gekommen sein, doch dies muss nicht so sein. Szeps ist nicht nachzuweisen, Battenberg unmöglich.
Als feste Termine des Kronprinzen sind an diesem Tag der Besuch des Erzbischofs von Prag879, Dr. Franz
Graf Schönborn-Buchheim-Wolfstal880, und die Sitzung des Museumsvereins im Heeresmuseum im Wiener Arsenal881
überliefert. An beiden Treffen nahm Rudolf nicht mehr teil – er sagte aber auch nicht mehr ab! Der Kronprinz war bereits auf dem Weg nach Mayerling...
874
zitiert in Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Battenberg will am Montag, 28.01.1889, den Kronprinzen getroffen haben. „Dieser fragte: Wie lange bleibst du noch in Wien?
– Ich fahre heute Abend nach Italien weiter. – Bleib doch noch da, ich habe morgen eine Jagd in Mayerling und würde mich freuen, wenn du auch dazu kämest.“, zitiert nach Conte Corti, Egon Cäsar: „Leben und Liebe Alexanders von Battenberg“, Verlag
Anton Pustet, Graz, 2. Auflage 1950. Wir halten es nicht für wahrscheinlich, dass der Kronprinz an diesem Tag mit Battenberg
zusammentraf, sondern am Samstag oder Sonntag.
876
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
877
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
878
Archiv Auswärtiges Amt Bonn. Österreich 86 Nr. 1a Band 2, Wien 31.01.1889
879
Judtmann beruft sich bei der Zeitangabe 13 Uhr auf Mitis, der diesen Termin aus dem Tagebuch des Flügeladjutanten zitierte.
Allerdings war auch um 13 Uhr das Treffen im Arsenal geplant.
880
Schönburg-Buchheim-Wolfstal, Dr. Franz von, gest. 25.06.1899 in Sokolov; 1883-1885 5. Bischof von Ceské Budejovice; von
Papst Leo XIII. am 24.05.1889 zum Kardinal ernannt; 1885-1899 28. Erzbischof von Prag
881
Die Sitzung war für 13 Uhr anberaumt, die Teilnehmer warteten zwei Stunden lang bis 15 Uhr auf das Erscheinen des Erzherzogs, der 1885 das Protektorat über den Verein übernommen hatte. Quelle: Gästebuch des Heeresgeschichtlichen Museumsvereins
für den 29. Jänner 1889, Inv. Nr. I/21.536
875
144
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 3
Die „Flucht“ nach Mayerling
1.
Der Vorsprung
„Es ist der Wunsch,
dass die Vergangenheit
so viel als möglich
unergründet bleibt.“
Marie Gräfin Larisch an Baron Krauß
Wien, 28. Jänner 1889
„Wir haben die Ereignisse und Daten, die Charaktere und Äußerungen der handelnden Personen erforscht und
Rudolf auf seinem Lebensweg verfolgt.882“ Fritz Judtmann geht davon aus, dass sich ab Montag, 28. Januar 1889, alle
Ereignisse nach einem Plan des Erzherzogs entwickeln. An dieser Stelle versuchen wir, die parallel verlaufenden und
oftmals verwirrenden Zeit- und Handlungsstränge aufzuzeigen. Zu Erläuterung ist die nachstehend wiedergegebene
Tabelle (Kapitel 3.1.A) zu nutzen.
Um zu untersuchen, wie Mary Vetsera aus Wien verschwand und auf welche Weise Gräfin Larisch darin eingebunden war, stehen derzeit folgende Quellen zur Verfügung:
die Selbstdarstellung der Baronin Vetsera in ihrer Denkschrift (Juni 1889)
das offizielle Einvernahme-Protokoll des die Gräfin Larisch kutschierenden Fiakers Franz Weber
(28.01.1889)
die Memoiren der Gräfin Larisch (1913)
das offizielle Protokoll mit dem Kutscher Josef Bratfisch (Februar 1889)
diverse Zeitungsmeldungen (Februar 1889)
882
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
145
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 3
Die „Flucht“ nach Mayerling
2.
Der Zeitplan der Gräfin Larisch
„Ich bitte Sie dringend,
auch in diesem Falle
meine Confidenzen
zu verschweigen.“
Marie Gräfin Larisch an Baron Krauß
Wien, 28. Jänner 1889
„Bevor wir die Fluchtwege der Baroness Vetsera und die Fahrten der Gräfin Larisch rekonstruieren883“, wollen die Schauplätze der Geschehnisse am Montag, dem 28. Januar 1889, betrachten. Das Palais der Familie Vetsera in
der Salesianergasse 11 haben wir bereits im Kapitel 1 beschrieben. Vom Stadtpalais der Familie im 3. Bezirk zur Hofburg im 1. Bezirk fuhr man seinerzeit am besten folgende knapp 1,7 Kilometer lange Route, die Fritz Judtmann bereits
1968 veröffentlichte (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von 1895):
Palais Vetsera
Salesianergasse
Rennweg
Hochstrahlbrunnen
Schwarzenbergbrücke
Schwarzenbergplatz
Schwarzenbergstraße
Walfischgasse
Philharmonikerstraße
Albrechts Platz
Hofburg
Gräfin Larisch hatte das Palais Vetsera in der Salesianergasse per Fiaker vom Grand Hotel884 aus erreicht, wo
sie abgestiegen war. Hierbei nutzte sie den Fiaker Nr. 58, den Franz Weber an diesem Tag lenkte885. Er war vom Hotel
883
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Die Errichtung des „Grand Hotels Wien“ geht auf das Jahr 1870 zurück, in dem nach den Entwürfen des Ringstraßenarchitekten Carl Tietz der prachtvolle Bau an der Wiener Ringstraße entstand – und so das heute das älteste Wiener Ringstraßenhotel.
Nach zahlreichen umsatzstarken Jahren war das Hotel von 1958 und 1979 Hauptsitz der Internationalen Atomenergieagentur
884
146
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
von seinem Standplatz an der Schwarzenbergstraße – d.h. wahrscheinlich an der Kreuzung der Schwarzenberg Straße
und dem Kärntner Ring – „für eine Gräfin“ bestellt worden. Weber kutschierte die Gräfin, so Judtmann, den gesamten
Vormittag über, d.h. auch von der Burg über den Zwischenstopp am Kohlmarkt zurück zur Salesianergasse, dann zum
Polizeipräsidium und zuletzt zum Grand Hotel retour. Dies ist außergewöhnlich, da Josef Patzler886 mit dem Fiaker
Nr. 359 in Wien ständiger Kutscher der Gräfin war und dieser in seiner Abwesenheit vom Fiaker Nr. 880 bei der Gräfin vertreten wurde887.
Auf der Fahrt von der Salesianergasse aus in die Burg machten die Gräfin und die Baroness, wie die Larisch
später berichtet, noch im Wäschegeschäft „Zur weißen Katze“ Besorgungen. Das Ladenlokal befand sich im Gebäudekomplex des „Hotel Sacher“, also dem Eckhaus Kärntnerstraße 38888. Von hier musste der Fiaker nur der Walfischgasse entlang der Rückseite der Hofoper (heute: Philharmonikerstraße) folgen und dann am Albrechts Platz zur Anfahrt vor die Burg zwischen den beiden Varianten Augustinerstraße (zum Josefsplatz) oder über die heutige Hanuschgasse auf die Augustinerrampe (zum Augustinergang) wählen.
„Die Augustinerbastei ist einer der wenigen Reste der alten Befestigungsanlage der mittelalterlichen Stadt, der
nach der Stadterweiterung von 1857 erhalten blieb. Früher war das hochgelegene Plateau mit dem Palais des Erzherzogs Albrecht – heute graph. Sammlung Albertina889 – über drei Rampen zugänglich. Über die Auffahrt hinter dem
Burggarten fuhr Marie Larisch mit Mary Vetsera am Vormittag des 28. Jänner zu dem Eingang in die Hofburg.890“
Die Verbindung zwischen dem Palais des Erzherzogs Albrecht und dem Schweizerhof-Trakt der Burg schuf ein, nach
IAEA. 1980 zogen die Österreichische Nationalbank und die Bundesbaudirektion ein, ein Großteil des Gebäudes stand jedoch in
diesen Jahren bereits leer. 1989 wurde das Gebäude von der Japanischen Fluggesellschaft All Nippon Airways gekauft. Die historische Prunkfassade des Palais Corso, dessen Westtrakt das Hotel einnimmt, wurde bei der folgenden Rekonstruktion erhalten und
das Innenleben wurde von Grund auf neu gestaltet. Auf einer Gesamtfläche von rund 27,000 m² entstand ein Luxushotel mit insgesamt 205 Zimmern und Suiten. Darunter eine Präsidenten Suite, 9 Deluxe Suiten, 19 Junior Suiten und 47 Deluxe Zimmer. Seit
der Wiedereröffnung im Jahre 1994 hat sich das Luxushotel "Grand Hotel Wien" (bis Oktober 2002 "ANA Grand Hotel") sowohl
im In- als auch im Ausland einen hervorragenden Ruf aufgebaut.
885
Polizei-Cimmissär Habrda nahm – nachdem Gräfin Larisch dem Polizeipräsidenten vom verschwinden der Baroness Vetsera
berichtet hatte, mit dem damals 32-jährigen Fiaker noch am 28. Januar 1889 ein Protokoll auf, in dem die Lüge der Baronin von
der Flucht Mary Vetseras aus seinem wagen bestätigt wurde.
886
Josef Platzer fuhr für den Fuhrunternehmer Fux in Penzing, Schmidtgasse 20, und hatte seinen Standplatz in der Walfischgasse, d.h. zwei Querstraßen hinter dem Grand Hotel.
887
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
888
auch: Kärnthnerstraße
889
Die Stadtmauer, die unter Pr¡emysl Ottokar im 13. Jahrhundert errichtet und ab 1435 mit Bollwerken verstärkt wurde, hatte eine Länge von 4,5 Kilometern und war zuletzt mit neunzehn Türmen und sieben Toren ausgestattet. Die Mauer dürfte rund sechs
Meter hoch und ein bis zwei Meter mächtig gewesen sein. Wegen der steten Türkengefahr wurden die hoch- und die spätmittelalterliche Stadtbefestigung 1544 bis 1564 mit einzelnen Bastionen ausgebaut. Die Kurtine zwischen Kärntner- und Burgbastei vor
dem Augustinerkloster wurde erst 1596 provisorisch in Form einer mächtigen Erdanschüttung errichtet. 1745 erhielt der Hofbaudirektor Emanuel Teles Graf Sylva-Tarouca von Kaiserin Maria Theresia die Erlaubnis, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf der Augustinerbastei errichtete Hofbauamt zu einem eigenen Palais um- und auszubauen. Von 1859 bis 1863 wurde
schließlich der zwischen Hofburg und Albertina gelegene Teil der Befestigungsanlage geschleift. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts an bis zum Ende der Monarchie diente das Palais Herzog Albert und seinen Erben als Wohngebäude. Im Frühjahr 1919 ging
das Objekt in den Besitz der Republik Österreich über. Der Trakt der schmalen Stirnseite hinter dem Reiterdenkmal Erzherzog
Albrechts wurde im März 1945 durch Fliegerbomben schwer beschädigt und in vereinfachter Form wieder errichtet. Der gestreckte, dem Burggarten zugewandte Trakt der Albertina wurde zwischen 1801 und 1805 nach Plänen des belgischen Architekten
Louis von Montoyer unter Herzog Albert errichtet. Das Gebäude mit einer Länge von rund 240m war seit 1994 für Besucher geschlossen. Vor Beginn der Albertina-Sanierung 1997 konnte man durch die Hanuschgasse über eine Rampe mit einer Kehre auf
den Vorplatz der Albertina gelangen. Durch die Neuschaffung eines Studiengebäudes wurde die Kehre zum Teil auf das Dach des
Studiengebäudes verlegt und die Rampe aufgesteilt. Die historische Basteimauer inklusive der Baumzeile wurde nach Fertigstellung der Rohbauarbeiten wieder errichtet. Eine neu errichtete Freitreppe, deren Fuß in unmittelbarer Nähe des Einganges in den
Burggarten liegt, ermöglicht ebenfalls den Zugang zur Bastei. Die „neue“ Albertina wurde im Herbst 2003 als Museum neu eröffnet.
890
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
147
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
dem benachbarten Augustinerkloster „Augustinergang891“ benannter, einstöckiger Flachbau gegenüber der Hofbibliothek892. An der Kehre der Auffahrtsrampe befand sich eine Eisentür, durch die man u.a. – durch ein ovales Stiegenhaus – auf das zur Terrasse mit Geländer ausgebaute Flachdach des Traktes kam. Hier hatte Kaiser Franz I.893 einst
Glashäuser errichten lassen, um auch im Winter seiner gärtnerischen Leidenschaft nachzukommen. Am Ende des Augustinerganges konnten die Appartements des Kronprinzen betreten werden – entweder über die Dachterrasse und
durch den Wintergarten in das Billardzimmer oder durch ein Fenster in den Raum der Garderobe bzw. im Parterre
durch einen langen Korridor und eine zweite Treppe im Schweizerhoftrakt.
Mit äußerster Akribie und auf Basis eines Bauplanes der Burghauptmannschaft hatte bereits 1968 Professor
Fritz Judtmann das Appartement des Kronprinzen im zweiten Stock des Schweizerhoftraktes, wie es bis zur Hochzeit
1881 bzw. den diversen Umstellungen durch Rudolfs Witwe Stephanie Mitte Februar 1889 bestanden hatte, genauer
beschrieben. Auf Grund neuer Publikationen und eigener Forschung sind wir in der Lage, diese Beschreibung nun zu
präzisieren.
Nach dem Tode von Carolina Augusta894 am 9. Februar 1873 wurden die Räume der Großtante für den damals
15-jährigen Kronprinzen frei und zunächst umfangreich saniert895. Die Entwürfe für die Inneneinrichtung mit Wandverkleidungen aus geschnitztem Nussbaumholz im Stil des Neorokoko stammten vom Hauptmann der Burghauptmannschaft, Ferdinand Kirschner896. Die Decken wurden stuckiert, die Gumpendorfer „Firma für Maschinenparquetten897“ von Carl Leistler898 legte Parkettfussböden, die „Erste österreichische Thüren-, Fenster- und FussbodenFabriks-Gesellschaft“ von Matthias Markert erneuerte die Türen und Fenster. Teppiche und Stoffe lieferte die Firma
Philipp Haas & Söhne899, während die Möbelstoffe für das Billardzimmer die Pariser Firma L. Berchoud & Guereau
fertigte900.
891
„Neuer Augustinergang“. Es handelt sich um mehreren Sälen, mit deren Bau noch zu Lebzeiten Kaiser Franz I. begonnen
wurde und die die kaiserlichen Sammlungen aufnehmen sollten. Er löste einen bereits Mitte des 16. Jahrhunderts erbauten Gang,
der vom Schweizerhof zur Augustinerkirche und zum Erzherzog-Karl-Palais führte, ab. Der Gang begann an der Südecke der ältesten Burgteile, am Schweizerhof, und verlief, drei kleine Höfe bildend, in geringem Abstand parallel zur Hofbibliothek in Richtung auf die heutige Albertina, die in ihrer damaligen Form ein aus den Gebäuden der aufgelassenen niederländischen bzw. italienischen Staatskanzleien zusammengesetzter Palaiskomplex war.
892
Als 1893 die „Neue Burg“ gebaut wurde, wurde der Augustinergang weitgehend abgetragen.
893
Kaiser Franz I./II., geb. 12.02.1768, gest 02.03.1835. Er war als Franz II. der letzte Kaiser des Hl. Römischen Reiches und als
Franz I. der erste Kaiser von Österreich; beigesetzt in der Kaisergruft bei den Kapuzinern in Wien/Franzensgruft.
894
Carolina Augusta (auch: Karolina Augusta), geb. 08.02.1792, gest 09.02.1873. Sie war die vierte Gemahlin von Kaiser Franz
I./II.; beigesetzt in der Kaisergruft bei den Kapuzinern in Wien/Franzensgruft.
895
Kirschner, Ferdinand: Grundriss des Appartements von Kronprinz Rudolf, 1874; HHStaA, Plansammlung: K II F 10
896
Kirschner, Ferdinand, geb. 18.05.1821 in Wien, gest. 03.03.1896 in Wien, Architekt. Ab 1850 Baubeamter im Staatsdienst,
1858 Hofarchitekt, 1865-68 führte er Restaurierungen auf dem Hradschin in Prag aus; 1870-95 Burghauptmann in Wien, besorgte
Adaptierungen und Planungen im Bereich der Hofburg (unter anderem Dekoration der Redoutensäle 1892, zum Teil 1992 verbrannt) und Sargentwürfe für die Kapuzinergruft (Kronprinz Rudolf, 1889). Sein Hauptwerk ist der Michaelertrakt der Wiener
Hofburg (1889-93).
897
Von 1942 bis 1849 war bei dem Wiener Tischlermeister Carl Leistler Michael Thonet (1796-1871) als Subunternehmer beschäftigt.
898
Leistler, Carl, beigesetzt am 12.01.1903 auf dem Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 46E, Nr. 2.
899
Haas, Philipp, geb. 07.06.1791 in Wien, gest. 31.05.1870 Bad Vöslau (Niederösterreich), Industrieller. Begann 1825 nach Absolvierung der Manufakturzeichenschule in einer eigenen Werkstätte mit der Erzeugung von Kleiderstoffen, 1831 von Möbelstoffen und 1845 von Teppichen; nach Eintritt seiner Söhne Eduard Haas (1827-1880) und Robert Haas (1825-1876) führte das Unternehmen, das bis 1982 bestand, ab 1851 den Namen „P. Haas & Söhne“. 1866-67 entstand am Stock-im-Eisen-Platz 6, gegenüber dem Stephansdom, ein prunkvolles Gebäude im Auftrag des Teppichhauses „Philipp Haas & Söhne“ von August Siccard
von Siccardsburg und Eduard Van der Nüll. Es war Wiens erstes Warenhaus in Eisenständerbauweise, verkleidet mit einer schweren Steinfassade des Strengen Historismus. Nach seiner Zerstörung 1945 wurde dieses Gebäude 1951-53 durch einen Neubau von
Carl Appel, Max Fellerer und Wörle ersetzt. Dieses Haus wurde 1985 zugunsten des am 19.09.1990 eröffneten, heutigen HaasHauses abgetragen.
900
Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und
die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997
148
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Der Hauptzugang in die Räume Rudolfs erfolgte vom Schweizer Hof901 über die so genannte Säulenstiege902
in das zweite Geschoss und dort einen längeren Korridor aus. Fünf von insgesamt 15 Zimmern hatten Fenster zum
Schweizer Hof – nämlich das Vorzimmer I903 am Gang zur Säulenstiege, der Sammlungs-Raum der „Privat-Studium“
Bibliothek904, das Studienzimmer905, eine Küche906 sowie das an die Burgkapelle angrenzende Vorzimmer II907 mit einem Zugang zur Kapellenstiege908. Die anderen Räume – das Speisezimmer909, ein Salon910, das Lernzimmer911, ein
kleiner Salon als Kabinett912, das Schlafzimmer, ein Kavalierzimmer913, ein Kammerdiener-Zimmer, die Garderobe
und das Billardzimmer914 mit vorgebautem Glaserker und Türen auf das Terrassendach des Augustinerganges – boten
Ausblick auf den äußeren Burgplatz. An diese Fassade schließt sich nach einem Innenhof der anfangs des 20. Jahrhunderts begonnene und teilweise erst nach dem zweiten Weltkrieg fertig gestellte Festsaaltrakt als Verbindungsbau
zwischen Alter und Neuer Burg an. Das Türhüterzimmer hatte ein kleines Fenster zum Kapellenhof sowie Zugang zu
einer weiteren Stiege. Die zwei innerhalb des Appartements liegenden Korridore und die vom Lernzimmer abgeteilte
Kapelle von Kaiser Franz I. waren ohne Fenster. Mit dem Einzug des minderjährigen Erzherzogs war die Umgestaltung der Räume noch nicht abgeschlossen, denn 1877 erfolgte der Einbau eines Bades915 im Kavalierszimmer; zudem
wurden nach und nach auch weitere Möbel angeschafft.
901
Schweizer Hof, Hof der ältesten Burganlage, seit 1494 gepflastert; benannt nach der Schweizer Garde, die von Kaiserin Maria
Theresia zur Bewachung eingesetzt wurde.
902
Die Säulenstiege liegt linker Hand zum Schweizertor und vis-á-vis der Botschafterstiege.
903
heute: Bundesdenkmalamt
904
Bibliothek: nach der Hochzeit wurde die Bibliothek in ein Speisezimmer umwandeln; nach Rudolfs Tod wurden die Bestände
seiner Bibliothek laut testamentarischer Verfügung in die kaiserliche Fideikommiß-Bibliothek übertragen. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation
905
Studienzimmer: nach der Hochzeit 1881 als Kabinett genutzt. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation
906
Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation
907
Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation
908
Auf einem Plan der Burghauptmannschaft, abgebildet bei Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs –
Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der
Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997 von 1874 heißt diese Stiege indes Kapellenstiege
909
Speisezimmer als „Ahnensaal“: 12 Meter Breite mal neun Meter Tiefe; dunkle Holzvertäfelung, in die großformatige Ölgemälde mit Habsburger-Portraits eingelassen sind. Rudolf hatte sich hierfür 12 Familienportraits in Lebensgröße gewünscht; drei Bilder wurden nach einer Restaurierung der Galerie im Belvedere entliehen, die fehlenden neun Kaiserportraits wurden bei verschiedenen Malern in Auftrag gegeben, 1876 fertig gestellt und montiert. Nach Rudolfs Hochzeit diente der Raum als Durchgangssalon. Heutige Bezeichnung: Ahnensaal des Bundesdenkmalamtes. Er wird für Veranstaltungen bzw. Besprechungen genutzt.
910
Gobelinsalon: in dem von Ferdinand Kirschner mit Tapisserien aus den Beständen der kaiserlichen Sammlungen und edlem
Holz ausgestattetem Gobelinsalon (Burghauptmannschaft Wien, Plansammlung: K III F 8) wurde nach der Hochzeit 1881 das
„Türkische Zimmer“ als Herren- bzw. Arbeitszimmer eingerichtet. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation
911
Lernzimmer: In diesem Zimmer, dem Schlafzimmer des Kaiserpaares, starb am 02. März 1835 Kaiser Franz II./I. an einer
Lungenentzündung. Eine Mauer trennt die schmale Privatkapelle des Kaiserpaares mit einem Altarbild des Biedermeierkünstlers
Leopold Kuppelwieser (geb. 1796, best. 1862), Professor der Malerei an der k.k. Akademie der bildenden Künste, vom übrigen
Zimmer ab, das nach der Hochzeit 1881 als „olivgrüner Salon“ bezeichnet wurde. Das großformatige Altarbild zeigt den neben
einer Krone knienden Herrscher im Ornat vor der Kulisse Wiens; ihm gegenüber thront auf einer Wolke der sich an einem Kreuz
lehnende auferstandene Christus. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation.
912
Kabinett: nach der Hochzeit 1881 ließ Erzherzogin Stephanie das Kabinett zu einem Boudoir umwandeln. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung und Inventarisation
913
Kavalierzimmer: für Rudolfs Erzieher, Feldmarschalleutnant Latour bestimmt. N ach Rudolfs Tod ließt Erzherzogin Stephanie
das Kavalierzimmer in ein großes Badezimmer umwandeln. Heute: Büro Bundesdenkmalamt, Abteilung für Denkmalforschung
und Inventarisation
914
Billardzimmer: nach der Hochzeit 1881 wurde das Billardzimmer als Wintergarten ausgebaut. Heute: Verwaltung Wiener
Hofmusikkapelle
915
Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und
die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997
149
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Nach Rudolfs Hochzeit am 10. Mai 1881 wurde das Junggesellen-Appartement erweitert916. Die Umgestaltung
erfolgte durch die in Wien als Hoflieferant ansässige französische Firma „Société commercial de Paris“ von August
Portois – allerdings gegen den Widerstand der Wiener Möbelproduzenten und Ausstattungsunternehmen. Die Erweiterung des Appartements erfolgte über zehn Räume in den Leopoldinischen Trakt der Hofburg hinein. Dort wurden u. a.
zwei Salons für die Kronprinzessin mit Blick auf den Burgplatz sowie eine Kindkammer eingerichtet. Auch einige
Räume des ehemaligen Junggesellen-Appartements wechselten ihre Funktion – und somit bereits acht Jahre früher, als
Judtmann vermutet hatte917.
Nach Rudolfs Tode erfolgte eine weitere Umgestaltung – für 14.300 Gulden wurden die Räume für die junge
Witwe hergerichtet. 1892 lieferte die Firma Kowy & Iwinger neue Möbel für 1.249 Gulden und fünf Jahre später
überarbeitete die gleiche Firma die Möbel und Dekorationen im Toilettraum der Erzherzogin918. 1902 wurde nach der
Hochzeit von Rudolfs Tochter Elisabeth deren Kammer aufgelöst und die Rekonstruktion – vor allem des Arbeitszimmers von Kaiser Franz I., das bis 1881 im Originalzustand erhalten war – in Angriff genommen919. Nach der Wiedervermählung Stephanies wurde das Appartement von Erzherzog Peter Ferdinand von Toskana920 bewohnt und anscheinend weiter verändert. Heute beherbergen die Räume die Büros des Bundesdenkmalamtes sowie die Verwaltung
der Hofmusikkapelle921.
Moritz Szeps berichtete, er habe den Kronprinzen einmal gegen Mitternacht in seinem Appartement besucht
und sei dabei von Rudolfs Diener Nehammer vom Josefsplatz aus in die Burg und dort über verschiedene Gänge und
Stiegen in den dritten Stock geführt worden, von wo es über eine steile und unbeleuchtete Holztreppe in ein Vorzimmer des Kronprinzen gegangen sei. Hier musste der Journalist warten und konnte die an den Wänden hängenden Ahnenbilder betrachten. „Eine Überprüfung dieses nächtlichen Weges brachte das überraschende Ergebnis, dass diese
Holzstiege tatsächlich vom dritten Stock, wo die Garderobenräume des Kronprinzenpaares untergebracht waren, in
das zweite Vorzimmer hinabführte und anscheinend auch sonst für diskrete Besuche des Kronprinzen verwendet wurde.922“ Die Burghauptmannschaft hatte dieser Stiege XXXIII auf einigen Plänen und im zugehörigen Widmungsbuch
über die Verwendung von Räumen den Namen „Vetsera-Stiege“ gegeben. Noch einige Jahre vor Fertigstellung des
Judtmann-Buches war diese Stiege erhalten – sie wurde erst 1962 beim Neubau der Orgel923 in der Burgkapelle aus
Platzgründen abgetragen924.
916
Kirschner, Ferdinand: Grundriss des Appartements von Kronprinz Rudolf nach dessen Hochzeit, gezeichnet 1889, Burghauptmannschaft Wien, Plansammlung: K III F 8
917
Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und
die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997
918
1897 hatte dazu Sandor Jaray einen Kostenvoranschlag für „Die Herrichtung und Neubeziehung der Möbel und Decorationen
in dem Toilettraum Ihrer kaiserlichen Hoheit der durchlauchtigsten Kronprinzessin-Witwe Stephanie“ eingeholt; Österreichische
Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege“, Hefte ¾, Wien 1997
919
Ottilinger, Eva B. und Hanzl, Lieselotte: „Kaiserliche Interieurs – Die Wohnkultur des Wiener Hofes im 19. Jahrhundert und
die Wiener Kunstgewerbereform“, Band III der Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots, Böhlau-Verlag, Wien 1997
920
Erzherzog Peter Ferdinand Salvator Karl Ludwig Maria Joseph Leopold Anton Rupert Pius Pancrazwas von Toskana, geb.
12.05.1874, gest. 1948.
921
Freundliche Mitteilung von Magister Andrea Böhm, Bundesdenkmalamt, Wien 27.01.2004
922
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
923
1862 wurde dem schlesischen Orgelbauer Carl Friedrich Ferdinand Buckow der Auftrag für den Bau einer neuen Orgel im
hochromanischen Stil für die Burgkapelle erteilt. Die Buckow-Orgel stand jedoch von Anfang an im Gegensatz zu den aufführungspraktischen Anforderungen der Hofmusikkapelle; u.a. wirkte Anton Bruckner als Hoforganist an diesem Instrument. 1940
wurde mit der Göttinger Firma Paul Ott ein Vertrag über eine neue Orgel mit 28 Stimmen auf drei Manualen abgeschlossen. Die
großen Zinnpfeifen der alten Orgel werden bei einem Bombenangriff in Göttingen vernichtet; der Neubau wird nicht ausgeführt.
Aus Platzgründen erfolgte 1951 die Versetzung der alten Buckow-Orgel in den Turmbogen; das Gehäuse wurde entfernt, ein
"blinder" Zinkprospekt errichtet, Traktur und Windladen mangelhaft repariert. 1962 wurde die historische Orgel endgültig durch
einen Neubau der 1957 in Guntramsdorf von Werner Walcker-Mayer (geb. 01.02.1932 in Ludwigsburg/D, gest. 13.11.2000) ge150
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Doch zurück zum 28. Januar 1889: Durch vorstehende Untersuchung können wir den Weg der Gräfin Larisch
und Maries genau rekonstruieren – die beiden Frauen wurden, vielleicht von Loschek925, an der Eisentür an der Augustinerrampe abgeholt, über die Stiege auf das Dach des Augustinerganges geführt und – so die Gräfin später – durch
die Fenster der Garderobe oder der benachbarten Kammer in das Apartment gelassen. Durch das Türhüterzimmer, den
ersten Korridor, das Vorzimmer II und den zweiten Korridor gelangten sie dann in das von einem orientalischen Zelt
dominierte „Türkische Zimmer926“, das der Kronprinz nach der Hochzeit 1881 im Gobelinsalon hatte einrichten lassen. Der Raum machte, so ein Journalist, den „Eindruck eines Künstler-Ateliers“ und war dem Zeitgeist folgend ein
Produkt des Gründerzeit-Historismus und der Makart-Ära927.
Nach der Unterredung mit ihrem Cousin verließ Gräfin Larisch vermutlich ebenfalls über den Dach des Augustinerganges die Hofburg und fuhr mit dem dort noch wartenden Fiaker zur Galanteriewarenhandlung der „k.u.k.
Hoflieferanten Gebrüder Rodeck928“ am Kohlmarkt 7929 und von dort zurück zum Palais Vetsera. Dabei nutzte sie,
Judtmann folgend, diese rund 2,5 Kilometer lange Wegstrecke (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von
1895):
Hofburg
gründeten niederösterreichischen Orgelbau-Firma Walcker-Mayer ersetzt. Die abgetragene Buckow-Orgel wurde 1968 dem Technischen Museum Wien überlassen, wo sie heute noch ausgestellt ist. Zuletzt erforderte der Zustand der Walcker-Orgel monatliche
Reparaturen für einen Notbetrieb, eine Generalsanierung kam nicht in Frage. 2001 wurde der Auftrag für einen Neubau an die
Schweizer Orgelbau Kuhn AG erteilt, deren Orgel am 18. September 2003 geweiht wurde. Die Walcker-Orgel indess wurde 2004
im Wienerwalddom zu Eichgraben wieder aufgestellt; freundliche Mitteilung von Michael Walcker-Mayer an den Verfasser, Guntramsdorf, 19.08.2004
924
Pläne über die Errichtung der Walcker-Mayer-Orgel und die notwenidigen Umbauten gibt es beim Hersteller nicht mehr;
freundliche Mitteilung von Michael Walcker-Mayer, Guntramsdorf, 19.08.2004
925
Die Larisch berichtet, Loschek habe sie „stumm und mit blasierter Mine“ am 28. Januar geführt. Glaubt man indes Püchel, wo
war der Kammerdiener bereits am Morgen mit dem Wirtschaftspersonal nach Mayerling gefahren, was dieser auch in seinen Erinnerungen bestätigt: Abfahrt ¾ 9 Uhr (= 8:45 Uhr) vormittags mit einem Hofwagen zum Südbahnhof, um den Zug nach Baden zu
erreichen. Da Loschek also nicht mehr in Wien war, dürfte Rudolf Carl Nehammer für den Dienst des verschwiegenen Führers
eingesetzt haben.
926
„Türkisches Zimmer“; diesem Raum kommt eine besondere Bedeutung zu, da dort der Schreibtisch des Kronprinzen stand.
Das Aussehen des Raumes ist aus einer um 1855 entstandenen Gouache in Grisaille auf Papier (HM, Inv. Nr. 166.515) des Illustratoren Wilhelm Gause bekannt, die u.a. in der „Neue Illustrierten Zeitung“ vom 17.02.1889 veröffentlicht wurde. Der Raum war
größtenteils mit Möbel eingerichtet worden, die der Kronprinz von seiner Orientreise 1881 mitgebracht hatte. Da es sich dabei
weitgehend um Privateigentum des Erzherzogs handelte, sind die 151 Einzelpositionen detailliert im Nachlassinventar aufgeführt.
Eine erste Rekonstruktion des Raumes wurde zur Ausstellung „Rudolf – Ein Leben im Schatten von Mayerling“ 1988/1989 in der
Wiener Hermesvilla versucht; eine Dauerhafte Rekonstruktion findet sich in den Schauräumen der Bundesmobiliensammlung
Wien.
927
In den 80-er und 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten z.B. auch der der Orientforscher Max Freiherr von Oppenheim
(15.07.1860 - 15.11.1946) in Wiesbaden ein ähnlich gestaltetes Zimmer voll Illusionen aus 1000 und einer Nacht.
928
Die „Leder-, Holz- und Bronze-Galanteriewarenhandlung“ wurde von den Brüdern Emil und Ludwig Rodek geführt. Eine Darstellung der Ladenfront findet sich bei Judtmann, der in den 60-er Jahren mit dem Erben, Dr. Wilhelm Rodeck, Kontakt hatte.
Dieser wohnte in der Auhofstraße 28-30 in 1130 Wien. Er verstarb am 28.08.1974 und wurde am 03.09.1974 auf dem Hietzinger
Friedhof, Gruppe 14, Nr. 65 beigesetzt. Seine Gattin, Margaretha, wurde am 17.11.1994 in gleicher Gruft beigesetzt. Das Grabnutzungsrecht ist auf Friedhofsdauer angelegt. Unsere Recherche zum Nachlass des Dr. Wilhelm Rodeck brachte das Ergebnis,
dass Margaretha Rodeck viele Objekte – u.a. auch aus der Rodeck´ schen Kunstsammlung – nach dem Tode ihres Mannes an einen Antiquitätenhändler aus der Schweiz verkaufte und hierbei „über den Tisch“ gezogen wurde. Weder der Name des Käufers,
noch die verkauften Objekte waren zu recherchieren; ebenso fanden sich keine weiteren Bilder der Geschäfts oder Informationen
zum Besuch der Baroness Vetsera im Geschäft. Freundliche Mitteilung eines Großneffen des Dr. Wilhelm Rodeck, Wien,
25.06.2006
929
Das 4-geschossige klassische Bürgerhaus mit mittig liegendem Hof und gegliederter Fassade wurde 1841 am Kohlmarkt 7 von
Architekt Leopold Meier errichtet. Im Vorgängerbau wohnte von Februar bis 23. April 1783 Wolfgang Amadeus Mozart mit Familie. Star-Architekt Hans Hollein gestaltete 1981/1982 das im Erdgeschoss ansässige Juweliergeschäft von Herbert Schullin.
Von 1901 bis Ende 2001 befand sich im Haus Kohlmarkt 7 die „Papierhandlung Huber & Lerner“ (heute übersiedelt zur Weihburggasse 4). Auf diesem historischen Unterbau wurde 2006/2006 im Auftrag der Raiffeisen Leasing durch das renommierte Architekturbüro "w.quadrat" von Arch. Dipl.-Ing. W. Ullrich ein dreigeschossiger Dachaufbau der Luxusklasse realisiert werden:
„The Max“.
151
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Hanuschgasse
Albrechts Platz
Augustinerstraße
Josefsplatz
Reitschulgasse
Michaelerplatz
Kohlmarkt
Gebrüder Rodeck
Graben
Stock im Eisen-Platz
Stephansplatz (wird nicht berührt; dient Judtmann wahrscheinlich nur der Orientierung der Leser)
Kärntnerstraße
Johannesgasse
Ring (wird am ehemaligen Kollowrat Ring überquert)
Tegetthof Brücke (die Johannesgasse wird nach Querung des Wienflusses automatisch zur Salesianergasse)
Salesianergasse
Palais Vetsera
Aus der Salesianergasse kommend, fuhr die Gräfin dann im Anschluss an den kurzen, unerfreulichen Besuch
im Palais Vetsera zur Polizeidirektion, dem Sitz des Wiener Polizeipräsidenten am Schottenring. Dabei dürfte sie für
die Hinfahrt die gleiche Strecke wie am Vormittag bis zur Burg gewählt haben – zumindest bis zum Albrechtsplatz.
Von dort rekonstruiert Judtmann die Weiterfahrt zum Präsidium und zurück ins Hotel wie folgt (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von 1895):
Albrechts Platz
Augustinerstraße
Josefsplatz
Reitschulgasse
Michaelerplatz
Herren Gasse
Schotten Gasse
Schotten Ring
Polizeidirektion (heute: Schottenring 7-9)
Schotten Ring
Franzens Ring
Burg Ring
Opern Ring
Kärnther Ring
Grand Hotel
Professor Fritz Judtmann konnte auf Basis der im Kapitel 3.1 genannten Quellen (Vetsera-Denkschrift, Larisch-Memoiren, Protokolle mit den Fiakern Bratfisch und Weber) feststellen, dass die von der Gräfin Larisch angege-
152
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
bene Zeitübersicht durchaus stimmen könne. Judtmann ermittelte dazu aus verschiedenen Quellen Durchschnittsgeschwindigkeiten für Fiaker930 und rekonstruiert die Fahrtzeit der Gräfin für die über sieben Kilometer lange Fahrt am
Montag, 28. Januar 1889, wie folgend (kursiv: unsere Ergänzungen):
ca. 09:50 Uhr: Abfahrt der Gräfin Larisch im Grand Hotel mit Fiaker 58
ca. 10:00 Uhr: Ankunft der Gräfin im Palais Vetsera
ca. 10:20 Uhr: Abfahrt der Gräfin von dort mit Baroness Vetsera
ca. 10:30 Uhr: gemeinsamer Einkauf im Geschäft „Zur weißen Katze“
ca. 10:40 Uhr: Ankunft in der Hofburg
ca. 10:55 Uhr: Abfahrt der Baroness von dort mit Fiaker Bratfisch
ca. 11:10 Uhr: Abfahrt der Gräfin zu „Rodeck“
ca. 11: 15 Uhr: „Komödie“ vor dem Geschäft „Rodeck“
ca. 11:30 Uhr: Ankunft der Gräfin im Palais Vetsera
ca. 11:50 Uhr: Abfahrt der Gräfin Larisch von dort
ca. 12:00 Uhr: Ankunft im Polizeipräsidium
ca. 12:30 Uhr: Abfahrt der Gräfin von dort
ca. 12:45 Uhr: Ankunft der Gräfin im Grand Hotel mit Fiaker 58
930
Nach Judtmann rechnete man durchschnittlich 12 Kilometer pro Fahrstunde, d.h. ca. fünf Minuten pro Kilometer Wegstrecke.
153
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 3
Die „Flucht“ nach Mayerling
3.
Die Fahrt nach Mayerling
„Sr. k. Hoheit Kronprinz Rudolf
passiert soeben den 5. Bezirk
gegen Schönbrunn zu ohne Hindernis.“
Carl Wiligut
Telegramm Nr. 2791, Station M
28. Januar 1889, 11:50 Uhr
Durch ein Telegramm von Carl Wiligut931, Officiale beim Polizeiposten Margarethen im 5. Wiener Gemeindebezirk932, ist die Abfahrt des Kronprinzen aus Wien bestens dokumentiert. Zu Dr. Judtmanns Zeiten, d.h. Mitte der
60-er Jahre des 20. Jahrhunderts, befand sich das Polizeikommissariat noch an der gleichen Stelle wie 1889: in der
Wehrgasse 1. Heute ist das für die Bezirke 4, 5 und 6 zuständige Polizeikommissariat in der Viktor-Christ-Gasse 10
untergebracht933. Judtmann befördert Wiligut zum „Polizeiagenten“, dem Polizeiagenteninstitut „unter der Leitung des
Obersinspektors Anton Jurka, dessen Name aus dem Geheimakt des Baron Krauß bekannt ist934“ zugehörig. Wir gehen indes davon aus, dass Carl Wiligut als „Polizei-Officiale“ dem Polizeiposten zugeteilt war935. Die Telegrafenstation936, von der Wiligut das Telegramm an das Polizeipräsidium versandte, befand sich nach Judtmanns Recherche
wahrscheinlich ebenfalls im besagten Kommissariat Wehrgasse 1/Margaretenstraße und damit nur rund 100 Meter von
der Kreuzung Wehrgasse/Hundsthurmstraße (auch: Hundsturmer Straße; heute: Schönbrunner Straße) entfernt, die der
Fiaker mit der Kronprinzen passiert hatte. „Die Entfernung von der Hofburg bis zur Polizeistation im 5. Bezirk betrug
931
Wiligut, Carl (auch: Karl), gest. 13.11.1934, beigesetzt auf dem Zentralfriedhof Wien, Gruppe 125, Reihe 14, Nummer 26.
Sein Sohn, der völkische Esoteriker Karl Maria Wiligut (geb. am 10.12.1866 in Wien, gest. 03.01.1946 in Arolsen/Deutschland),
stieg als ehemaliger k.u.k. Oberst unter dem Pseudonym Karl Maria Weisthor zum SS-Brigadegeneral auf, war Schöpfer des SSTotenkopfrings, Vorsteher des Departements für Vor- und Frühgeschichte innerhalb des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS
und übte als „Himmlers Rasputin“ in den Jahren 1933 und 1938 Einfluss auf den Reichführer SS aus. Karl Maria Wiligut war verheiratet und hatte zwei Kinder. Als 1939 bekannt wurde, dass er die Jahre 1924 bis 1927 in einer Salzburger Nervenheilanstalt
verbracht hatte, wurde er aus der SS entlassen.
932
Polizeiposten Margarethen, Wehrgasse 1. Bezirksleiter: Polizeirat Dr. Camillo Altenburger, zugeteilt ein Oberkommissär, zwei
Kommissäre, ein Konzipist-Praktikant, zwei Officiale und ein Inspektor der Sicherheitswache. Die Sicherheitswachstuben befanden sich an der Hundsthurmerstraße 75, der Wehrgasse 1, der Siebenbrunnengasse 46a, der Mauthausgasse 4 und der Matzleinsdorferlinie („Niederösterreichischer Amtskalender für das Jahr 1889“, XXIV. Jahrgang)
933
Neben dem Polizeikommissariat gibt es heute noch zwei Wachzimmer im 4., drei im 5. und zwei im 6. Bezirk.
934
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
935
„Niederösterreichischer Amtskalender für das Jahr 1889“, XXIV. Jahrgang
936
Die Postämter für den 5. Bezirk befand sich 1889 in der Hundsthurmer Straße 26 (Margarethen) sowie am Hundsthurm Platz 7
(Hundsthurm)
154
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ca. 2800 Meter; es ist also mit einer Fahrzeit von ca. 15 Minuten zu rechnen, wenn wir kein Rekordtempo, sondern
fünf Minuten pro Kilometer annehmen.937“
Theoretisch hätte der Kronprinz also um 11:35 Uhr die Burg938 verlassen können – was auch mit der Abfahrt
der Vetsera gegen 11:00 Uhr und jener der Gräfin Larisch um 11:15 Uhr korrespondiert. 15 Minuten nach seiner Cousine brach Rudolf auf. Dies widerspricht jedoch dem Bericht von Rudolf Püchel, der sich daran erinnert, dass der
Kronprinz erst gegen 12 Uhr die Burg verließ – doch wissen wir, dass Püchel seinen Bericht erst sehr viel später aus
der Erinnerung heraus schrieb.
Aus dem erwähnten Telegramm, das als Original dem „Krauß-Akt“ beiliegt, ist nicht nur die Zeit ersichtlich,
zu der Rudolf durch Margareten939 fuhr, nämlich 11:50 Uhr, sondern auch die Fahrtrichtung – gegen Schönbrunn. „Im
Jahre 1889 konnte man aus dem Stadtkern nicht durch eine beliebige Straße in die Vorstädte gelangen, denn an Stelle
der heutigen Gürtelstraße umspannte der so genannte Linienwall die Bezirke I bis IX. Nur durch bestimmte Linientore, kurz Linie genannt, war es möglich, den inneren Bezirk zu verlassen.940“ Rudolf hatte nur an einer Stelle die Gelegenheit, bequem und auf kurzem Weg in Richtung Schönbrunn zu gelangen – über die „Hundsturmer Linie941“ bzw.
der mit ihr identischen „Schönbrunner Linie942“.
„Über die Wagen, die Rudolf benützte, sind wir gut unterrichtet, da darüber mehrere Berichte und Abbildungen vorliegen.943“ So soll der Kronprinz nach Judtmann für Privatfahrten einen einspännigen Wagen, einen so genannten „Zweiradler“ genutzt haben. Nach den Aufzeichnungen von Rudolf Püchel stieg er bei der Abfahrt aus Wien am
28. Januar 1889 jedoch in einen von Lipizzanern gezogenen Zweispänner944. Er soll den Wagen945 selbst gelenkt ha937
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Hofburg, Wien 1, heute zwischen Josefsplatz, Michaelerplatz und Burgring gelegen, (urkundlich seit 1279) Regierungssitz der
österreichischen Landesherren ab dem 13. Jahrhundert, der deutschen Könige und Römischen Kaiser ab dem 15. Jahrhundert bis
1806 (mit Ausnahme der Jahre 1740-45) und der Kaiser von Österreich bis 1918. Heute Sitz des Bundespräsidenten und verschiedener Bundes- und Landes-Ämter, Tagungs- und Kongresszentrum, Heimat diverser Museen und Institutionen sowie teilweise als
Wohnraum vermietet.
939
Margareten (auch: Margarethen; erhielt den Namen nach einer 1395 gestifteten, der heiligen Margareta von Antiochia geweihten Kapelle), 5. Gemeindebezirk von Wien, 2,03 Quadratkilometer; entstand 1861 durch Abtrennung vom 4. Bezirk (Wieden).
Umfasst die Vorstädte Margareten (ursprünglich frei stehender Hof, urkundlich 1373 erwähnt mit einer der heiligen Margarete
geweihten Kapelle), Matzleinsdorf (urkundlich 1136, Name von Gründer Mazilo), Hundsturm (Hunczmühle ab 1408, Gutshof, im
17. Jahrhundert Jagdgebiet und Weingärten), Laurenzergrund (2. Hälfte 16. Jahrhundert), Nikolsdorf (zwischen 1555 und 1568
gegründetes Straßendorf) und Reinprechtsdorf (urkundlich 1270). Margareten wuchs im 19. Jahrhundert zu einem geschlossenen
Wohnviertel zusammen und wandelte sich mit zunehmender Industrialisierung vom Kleinbürger- zum Arbeiterbezirk.
940
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
941
Linienwall, ehemalige äußere, zweite Wiener Befestigungsanlage, 1704 wegen der Kurruzeneinfälle als Erdwall mit Gräben
erbaut, im 19. Jahrhundert mit Ziegeln ausgemauert. Er umgab Wien weitgehend an der Stelle des heutigen Gürtels auf einer Gesamtlänge von 13 Kilometern im Halbkreis vom Donauarm bei St. Marx über den Fuß des Wienerbergs bis Lichtental. An Tore
mit ärarischen Gebäuden („Linien“ genannt), in denen ab 1829 die Linienämter untergebracht waren, mussten eingeführten Waren
versteuert werden („Verzehrungssteuer“). Infolge dieser Besteuerung war das Leben innerhalb des Linienwalls teurer als außerhalb, wodurch der Linienwall gleichzeitig eine soziale Grenze bildete. Der Linienwall trennte die alten Vorstädte (heutige Bezirke
3-9) von den ländlichen Vororten (10.-19. Bezirk) und wurde nach deren Eingemeindung 1893 abgetragen; stattdessen wurde der
Gürtel mit Grünflächen und Stadtbahn-Linie (heute U 6) angelegt. In unmittelbarer Nähe der Zugbrücken über den LinienwallWassergraben standen Linienkapellen, die dem Brückenpatron Johann von Nepomuk geweiht waren. Die an der Hundsturmer Linie 1759 erbaute einfache barocke Kapelle (Höhe Schönbrunner Str. 124) war ursprünglich von acht lebensgroßen Heiligenstatuen
flankiert. Vier dieser Statuen (Florian, Josef, Ludwig und Rochus) stehen seit 1896 im Garten des Hauses in der Linzer Str. 466
(14. Bezirk).
942
Freundliche Mitteilung von Magister Heinrich Spitznagel/Bezirksmuseum Margareten an den Verfasser, Wien, 15.12.2003
943
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
944
Im Nachlass des Kronprinzen, so Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968, sind vier Wagen aus dem Besitz Rudolfs genannt: ein zweisitziges, vierrädriges geschlossenes Coupe (Post No. 42), eine offene, zweirädrige
Gig als Selbstkutschierwagen im Grünen und am Lande, weniger für Stadtfahrten (Post No. 43), ein sportlich leichter, offener
zweisitziger, vierrädriger Ausbring-Phaëton als Selbstkutschierwagen (Post No. 44) und ein kastenartiger, gelber Fourgon zum
Gütertransport mit gedecktem Kutschbock (Post No. 45). Darüber hinaus befinden sich in der Wagenburg-Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien aus dem Besitz des Kronprinzen ein zweisitziger Vis-á-Vis-Kinderwagen (KHM Wgbg W-069), ein
938
155
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ben, als er den Schweizerhof verließ – Hofkutscher Anton Prechler946 saß jedoch auf dem Rücksitz, um den Wagen
zurückzubringen947. Baron Krauss notierte dazu: „Der Kronprinz fuhr auf einem Kutschierwagen948, den er lenkte, mit
einem Kutscher ohne Begleitung. Von dem Kutscher wurde dann in Erfahrung gebracht, dass der Kronprinz über rothen Stadl nach Breitenfurt gefahren ist und in rothen Stadl den Kutscher mit dem Wagen zurückgeschickt habe. Im
rothen Stadl habe der Kronprinz einen anderen Wagen, der dort gewartet hat, bestiegen.949“ Dies bestätigt auch Jahre
später die Stieftochter von Josef Bratfisch, Antonia Konhäuser950, gegenüber Oberst Zerzawy: „Die letzte Fahrt mit
dem Kronprinzen Rudolf ging (…) in Vaters Wagen über Mauer und Roter Stadl nach Mayerling.“ Diesen Darstellungen folgend dürfte Rudolf in einem klassischen Selbstkutschierwagen, dem Phaeton951, in der Burg losgefahren
sein. Der Kutscher nahm auf einer Bank im Kasten Platz. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob Rudolf im tiefsten Winter
in einem offenen Wagen so eine lange Strecke zurückgelegt hätte…
Auf welchem Weg gelangte nun Rudolf aus der Burg zu den knapp 18 Kilometer entfernt, zwischen Mauer
und Breitenfurt gelegenen, benachbarten Ausflugslokalen „Roter Stadel“ und „Grüner Baum952“? Judtmann geht von
folgender Wegführung aus zwischen dem Schweizerhof und dem knapp 100 Meter links der Bezirksstraße953 auf dem
jenseitigen Ufer der Liesing gelegenen rot gestrichenen Gasthaus (kursiv: unsere Einfügung nach einem Stadtplan von
1895):
Hofburg/Schweizerhof
einsitziger Kinderschlitten in Muschelform (KHM Wgbg W-087) - laut Sammlungsgeschichte ein Geschenk der Wagenfabrik
Lohner an den Kronprinzen - sowie ein Jagdschlitten mit Hirschgeweih-Schmuck (KHM Wgbg W-088); freundliche Mitteilung
von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien 18.12.2003. Der Jagdwagen („Juckerwagen“) des Kronprinzen, ein zwei- und vierspännig zu fahrender „Break“, steht als gut erhaltenes Original im österreichischen Bundesgestüt Piber und wird dort bei Veranstaltungen zwei- und vierspännig gefahren (freundliche Mitteilung von
Frau Annemarie Reinprecht, Bundesgestüt Piber, 16.12.2003); es dürfte sich hierbei jedoch sicher nicht um einen Leibwagen des
Kronprinzen handeln (freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg
an den Verfasser, Wien 19.12.2003)
945
Nach , Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968, waren die Wagen des Kaiser- und Kronprinzenpaares sowie der Erzherzogin Valerie oben schwarz und unten dunkelgrün lackiert, die Räder ebenfalls dunkelgrün und
stark mit Gold beschnitten, d.h. mit Streifen versehen. Alle anderen Wagen der Erzherzoge waren grün und dunkelbraun und die
Räder mit schmalen goldenen oder roten Streifen. Die Farben waren wichtig, um bei der Einfahrt in die Burg die Wache „ins Gewehr“ rufen zu können.
946
Prechler, Anton, geb. 1862, gest. 1934, zuletzt Stallmeister der Familie Croy in Buchberg am Kamp
947
Es ist nicht bekannt, ob Rudolf tatsächlich einen bestimmten Hofwagentyp oder Hofkutscher bevorzugte. Als Lieblingskutscher des Erzherzogs galt Christian Kling (geb. 1860, gest. 1915; beigesetzt am 08.04.1915 auf dem Friedhof Ottakring, Gruppe
10, Reihe 7, Grab 18), von dem es in der Wagenburg-Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien ein Bildnis gibt; freundliche Mitteilung von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien
18.12.2003. Zurück nach Wien fuhr den Wagen am 28. Januar 1889 der Hofkutscher Anton Prechler (1862-1934), in späteren Jahren Stallmeister der Familie Croy in Buchberg am Kamp. Oberst Zerzawy hat mit Prechler (oftmals falsch „Prechtler“ bezeichnet) ebenfalls eine Denkschrift verfasst;
948
In der Nationalbibliothek liegt ein Foto des Kronprinzen nebst einem unbekannten Hofkutscher im englischen Livree (silberbordierter Zylinder, drappfarbener Kaput = sandfarbener langer Regenmantel mit mehreren übereinanderfallenden Kragen) in einer Gig auf (NB 504.008/BR), das angeblich die „letzte Fahrt im Prater, 27.01.1889“ darstellt. Es ist sehr ungewöhnlich, dass bei
einer Gig ein Kutscher mit auf dem Bock sitzt, Dieses Bild diente als Grundlage für ein Aquarell von Zygmunt (Siegmund) Ajdukiewicz, geb. 1861, gest. 1917, einem Neffen des polnischen Malers Tadeusz (Thaddäus) Ajdukiewicz, geb. 1852, gest. 1916
(Heeregeschichtliches Museum, Inv. Nr. 111.348), das den Kronprinzen im Prater vor der Rotunde zeigt; freundliche Mitteilung
von Dr. Elisabeth Hassmann, Kunsthistorisches Museum / Sammlung Wagenburg an den Verfasser, Wien 23.12.2003
949
zitiert nach Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
950
Konhäuser, Antonia, gestorben 1960 und beigesetzt am 11.03.1960 auf dem Hernalser Friedhof, Gruppe K, Nummer 130
951
Phaetons sind seit dem 18. Jahrhundert beliebte Spazier- und Korsofahrzeuge. Phaeton war der Sohn des griechischen Sonnengottes Helios.
952
Seit etwa 1850 feierten die Fiaker jährlich ihr Schnittlingsfest (Frühlingsfest) im „Roten Stadl“ und „Grünen Baum“. Auch die
Zugtiere für die Brauerei Liesing wurden hier gefüttert und eingestellt. Heute: Haus Breitenfurt, Franz Lehar Gasse 46, Markt
Breitenfurt, Pensionistenwohnheim der Caritas Erzdiözese Wien
953
Mit Landtagsbeschluss vom 26.10.1869 wurde die Straße Roter Stadl – Laab –Wolfsgraben – Tullnerbach zur Bezirksstraße
erklärt.
156
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Josefsplatz
Augustiner Straße
Albrechts Platz
Operngasse
Friedrichs Straße
Magdalenen Straße (Judtmann verwendet die moderne Bezeichnung „Linke Wienzeile“)
Rudolfbrücke (d.h. die dortige Kettenbrücke)
Kettenbrücken Gasse954
Hundsthurmer Straße (auch: Hundsturmstraße)
Schönbrunner Linie
Gaudenzdorfer Hauptstraße
Schönbrunner Hauptstraße
Hietzing955
Hietzinger Platz
Lainz
Lainzer Straße
Speising
Mauer956
Maurerberg
Klause
Kalksburg957 (im Tal entlang der „Reichen Liesing“)
Rother Stadl
Der Kronprinz wird versucht gewesen sein, den Ausflugsgasthof so schnell wie möglich zu erreichen. Für die
Strecke dürfte er rund 90 Minuten benötigt haben, wenn man von einem Fiakertempo von rund fünf Minuten für einen
Kilometer ausgeht. Dies bedeutet, dass er gegen 13 Uhr den Roten Stadel hätte erreichen können. Bratfisch hatte dort
bereits gewartet und war auf „Befehl der Baronesse langsam hin und her gefahren, bis der Kronprinz zu Fuß erschien.958“
954
Benannt nach der 1828 dort errichteten Kettenbrücke über den Wienfluss.
Hietzing, 13. Gemeindebezirk von Wien, 37,7 Quadratkilometer, im Südwesten der Stadt, reicht in den Wienerwald. Zu Hietzing gehören die bis 1892 selbständigen Vororte Hietzing, Speising, Lainz, Ober- und Unter-St.-Veit, Hacking sowie Schönbrunn
(Schloss und Park), Friedensstadt und Teile von Mauer. Hietzing war ab 1529 Wallfahrtsort, ab Maria Theresias Zeit eine von
Adel und reichen Bürgern bevorzugte Sommerfrische, ab zirka 1800 von diesen auch ständig bewohnt, wurde im 19. Jahrhundert
zum Wiener Nobelviertel und wegen seiner Vergnügungsstätten (u.a. „Dommayer´sches Kasino“) und der Nähe zum Schloss
Schönbrunn von den Wienern gern besucht.
956
Mauer bei Wien, alter Weinhauer- und Villenvorort am Rand des südlichen Wienerwalds; seit 1938, endgültig seit 1954 Teil
des 23. Bezirks (Liesing). Von Mauer fuhr der Kronprinz durch Kalksburg Richtung Breitenfurt.
957
Kalksburg, Teil des 23. Wiener Bezirks (bis 1938 eigene Gemeinde), im Liesingbachtal, am Rand des südlichen Wienerwalds
gelegen. 1856 gegründetes Jesuitenkonvikt, einst „das Oxford der alten Monarchie“, heute Gymnasium der Jesuiten. Genesungsheim für Alkoholkranke (Anton-Proksch-Institut).
958
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
955
157
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
In der Mayerling-Literatur wird immer von einem trüben, düsteren Tag ausgegangen, wobei die Zeitungen am
29. Jänner für den Vortag „heiteres Wetter mit nördlichen Winden, anhaltendem trockenem Frost und Temperaturen
von minus zwei bis plus vier Grad959“ meldeten. Vom „Roten Stadel“ aus fuhren Rudolf und Mary gemeinsam in
Bratfischs geschlossenem Wagen weiter. Der Kronprinz soll einen „Jagdanzug mit dem Gürtel und die flache Dalmatinerkappe, darüber den Pelz mit der ungarischen Verschnürung960“ getragen haben961 – die Baroness trug wohl „ein
dichtanliegendes olivgrünes Schneiderkleid, mit schwarzen Tressen besetzt, einen Hut aus grünem Filz, der reich mit
schwarzen Straußenfedern garniert war, den sie mit einem schwarzen Schleier unter dem Kinn zusammenband, und
über dem Kleid ihren Sealeskinmantel mit einem dazu passenden Muff962“.
Josef Bratfisch gab über das Zusammentreffen zu Protokoll: „Gegen 1 Uhr mittags erschien Seine kaiserliche
Hoheit zu Fuß. Er war offenbar schon früher dem Wagen entstiegen, der ihn dorthin gebracht hatte, um jedes Aufsehen zu vermeiden.“ Zwar scheint uns fraglich, ob ein Hofwagen mehr Aufsehen erregt hätte als der populäre Kronprinz „zu Fuß“, doch wollen wir an dieser Stelle Bratfischs Bericht nicht kommentieren. Der Kronprinz, „ungewöhnlich heiter und aufgeräumt, entschuldigte sich mit einem Scherzwort wegen der langen Wartezeit und gab Bratfisch
den Auftrag, nach Mayerling zu fahren. Während der Fahrt rief er ihm zu, sich nicht zu beeilen, um erst in der Dämmerung einzutreffen.963“ Für die Fahrt von Wien nach Mayerling – so war es in dem im zweiten Weltkrieg vernichteten Kassenbuch des Fuhrunternehmers Wollner von Theresia Wollner unter „Bratfisch fährt nach Mayerling“ vermerkt – hatte der Kronprinz 30 Gulden gezahlt964.
Der gebräuchlichste – und zudem von Wien aus kürzeste – Weg nach Mayerling führte über die Südbahn nach
Baden und von dort mit einem Fiaker durch das Helenental über Sattelbach in den Wienerwald-Weiler. Von Hoyos
wissen wir, dass man diese Strecke inklusive Fahrt zum Südbahnhof bequem in etwas mehr als zweieinhalb Stunden
bewältigen konnte. Auf dieser Route reisten Hoyos und Coburg und später der Hofkommission. Eine zweite Möglichkeit bestand darin, mit der Eisenbahn nach Mödling zu fahren und von dort entlang der Hinterbrühl über Gaaden, Heiligenkreuz und Alland bis Mayerling. Da die beiden Berge nach Gaaden und Heiligenkreuz bei dieser Wegführung
bezwungen werden mussten, fuhr man sicher auch nicht schneller als zweieinhalb Stunden. Diesen Weg wählten später die Polizeikommissäre Habrda und Gorup. Bratfisch nun wählte eine dritte, längere Route über die Hügel des Wienerwaldes aus, die besonders im Winter wegen glatter Passagen kaum genutzt wurde. Nach Judtmann, der in den 60-er
Jahr des 20. Jahrhunderts mit dem Pkw die Strecke abgefahren ist, nahm Bratfisch für die je nach genutzter Wegstrecke zwischen 25 und 35 Kilometer lange Route folgenden Weg (kursiv: unsere Einfügung):
Rother Stadel
Breitenfurt965 - 295 Meter Seehöhe („Grüner Baum“, Taucher oder Touchner Mühle, Jagdhaus)
959
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Vergleiche dazu die „Neue Freie
Presse“, die für den 28.01.1889 meldete: „Himmel teilw. bewölkt, Temperatur ist gesunken, allgemein fand leichter Schneefall
statt, nördlicher Wind, meist heiter, trocken, Frostwetter anhaltend“
960
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
961
Dass Rudolf, wie Judtmann berichtet, auch bei kaltem Wetter keine Handschuhe nutzte, widerlegt das Bild NB 504.008/BR
„letzte Fahrt im Prater, 27.01.1889“, auf dem er weiße Handschuhe trägt.
962
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
964
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
965
Breitenfurt besteht aus den fünf Katastralgemeinden Breitenfurt-Ostende, Breitenfurt-Ost, Breitenfurt-West, Hochroterd und
Großhöniggraben und hat eine Fläche von 2.699,9703 Quadrathektar. Die Marktgemeinde grenzt an die Westgrenze Wiens an und
liegt im niederösterreichischen Bezirk Mödling. In Breitenfurt lebte u.a. Anna Freud, die Tochter des Psychoanalytikers Sigmund
Freud.
158
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Hochroterd966 - 528 Meter Seehöhe (Jagdhaus, über die Kreuzung zur Bergstraße nach Kaltenleutgeben hinweg und weiter entlang der „Dürren Liesing“). Westlich von Hochroterd wäre es möglich gewesen, nördlich
nach Stangau zu fahren oder südlich über die Sulzer Höhe mit 504 Metern direkt nach Sulz.
Sulz967 - 431 Meter Seehöhe (Vogelgraben, entlang des Mödlinger Wildbaches)
Bei Ernst Edler von der Planitz fährt Bratfisch in Sulz Richtung Osten über Dornbach (384 Meter
Seehöhe) und von dort weiter nach Sittendorf; warum der Autor diesen Umweg angibt, kann nicht
mehr geklärt werden.
Sittendorf968 - 370 Meter Seehöhe
Auf einer Karte des k.u.k. militär-geographischen Institutes Wien von 1894 findet sich keine lokale
Bezeichnung „Gaadener Berg“; wir gehen davon aus, dass es sich um den bis zu 410 Meter hohe
Sandriegel handelt, über den die Straße Gaaden – Heiligenkreuz führt. Von Sittendorf aus dürfte das
Gespann zunächst südlich gefahren sein, überquerte dann den Maarbach, ließ rechter Hand den Weiler Füllenberg am Fuße des gleichnamigen Berges und den Gipsbruch liegen und erreichte dann die
höchste Stelle der Straße, an der früher eine Marienstatue. Alternativ hätte Bratfisch von Sittendorf im
Tal entlang des Mödlinger Wildbaches bis Gaaden fahren können, um von dort die Straße östlich
nach Heiligenkreuz zu nehmen.
Gaadener Berg969
Heiligenkreuz - 312 Meter Seehöhe
Schacherkreuz - 351 Meter
Engelskreuz - 410 Meter
Alland - 331 Meter Seehöhe
Talstraße entlang des Schwechatbaches
Jagdschloss Mayerling - 330 Meter Seehöhe
Auf dem Weg nach Mayerling soll sich der Kronprinz verkühlt haben – vielleicht weil er tatsächlich im offenen Wagen zum „Roten Stadel“ fuhr (siehe oben), vielleicht aber auch, weil er mehrfach den Wagen verließ und Bratfisch half, die feststeckende Kutsche wieder in Fahrt zu bringen. „Es war strenger Winter mit tiefem Schnee, die Räder
blieben wiederholt stecken, so dass der Kronprinz und der Vater wiederholt ausstiegen und den Wagen schieben mussten. Dabei erhitzte sich und verkühlte sich der Kronprinz sehr arg, so dass er, wie bekannt, dann in Mayerling an der
Jagd nicht teilnehmen konnte“, schreibt Bratfischs Tochter Antonia Konhäuser 1957 in ihrem Protokoll. Warum aber
blieb der erfahrene Kutscher „wiederholt stecken“? Hoyos erinnert sich an den Reisebericht, den der Kronprinz am 29.
Januar beim Frühstück abgab: „Er erzählte, dass er zu Wagen über Breitenfurth herausgekommen sei, der Laibwagen
966
Am 1. Jänner 1881 wurde die Katastralgemeinde Hochroterd über ihr eigenes Ersuchen von der Ortsgemeinde Wolfsgraben
ausgeschieden und der Ortsgemeinde Breitenfurt zugewiesen.
967
Die Streusiedlung Sulz-Stangau erstreckt sich vom Quellgebiet des Mödlinger Wildbaches auf der Wöglerin westlich der Sulzer Höhe bis zur Talenge des Vogelgrabens, der bereits durch die steilen Abhänge des südlichen Wienerwald-Kalk-Gebietes gebildet wird.
968
Sittendorf, älteste Pfarre der Gemeinde Wienerwald. Die Pfarrkirche mit ihrem bauhistorisch interessanten achteckigen Turm
im Süden und die Burg Wildegg im Norden - beide aus dem 11. Jahrhundert - bestimmen das Ortsbild dieser kleinen, geschlossenen Ansiedlung.
969
Gaaden, Niederösterreich, Bezirk Mödling, Gemeinde, 323 m, 1211 Einwohner, 24,78 Quadratkilometer, Ausflugsort im südöstlichen Wienerwald, am Westfuß des Anninger. Die barockisierte gotische Pfarrkirche mit Chor (um 1300) und das zum Pfarrhof umgebaute ehemalige Schloss (1793) bilden ein Barockensemble. Ölberggruppe (1710) von Giovanni Giuliani; FerdinandRaimund-Museum.
159
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
über den ganz glatten, eisigen Berg nächst Gaden nur mit Bauernvorspann zu bringen gewesen sei, er, ohne seinen
Pelz abzulegen, den Wagen schieben geholfen, gelaufen und sich verkühlt haben und ihn erst der als Relais aufgestellte Fiaker von Wien (mit dem Spitznamen Bratfisch) nach dieser mühsamen Expedition um ½ 4 Uhr Nachmittags hierher nach Meyerling gebracht hätte. In dieser Aussage war mir Vieles unverständlich. Erstens die Reise zu Wagen
überhaupt, dann die unglaublich lange Dauer derselben, trotz Glätte der Straße, und schließlich die Geschichte von
dem glatten Gaadner Berg, der ja erst nach Breitenfurth kommt, wo ein Wagenwechsel voraussichtig war. Es war etwas misterios, und ich enthielt mich jeder Frage.970“ Offensichtlich hat Hoyos bei der Wiedergabe des Berichtes von
Rudolf Erzähltes mit später Gehörtem vermisch, denn der „Laibwagen“ war bereits am „Roten Stadel“ nach Wien
umgekehrt, wo ja Bratfischs Fiaker „als Relais aufgestellt“ war.
Wo aber blieb Bratfisch mit der Kutsche stecken? In Hochroterd nahm Bratfisch vermutlich die sanft ins Tal
des Mödlinger Wildbaches abfallende Straße über Sulz und Stangau nach Sittendorf, da der direkte Weg von Hochrotherd über Großhöniggraben, Gruberau, Buchelbach und Grub nach Heiligenkreuz nicht passierbar war – die kurvige Abfahrt mit zwei engen Kurven hat eine Gefälle von 17 Prozent und war im Winter nicht befahrbar! Von Sittendorf
aus musste der Kutscher nun über eine schmale Waldstraße die Kuppe des bis zu 410 Meter hohen Gaadener Berges
erreichen, wo er vermutlich auch stecken blieb und Hilfe in Anspruch nehmen musste. Judtmann geht davon aus, dass
der „Bauernvorspann“ aus Sittendorf geholt wurde – nach anderen Quellen kam das Gespann aus dem nahe gelegenen
Füllenberg oder der dortigen Meierei971.
„Er fuhr dann weiter über den Gaadnerberg steil abwärts nach Heiligenkreuz, vorbei an der Abzweigung zum
einsam gelegenen Friedhof, auf dem Mary Vetsera kaum vier Tage später beerdigt werden sollte.972“ Durch Heiligenkreuz ging die Fahrt weiter gegen Alland und auf der Höhe des Heiligenkreuzer Berges beim so genannten Engelskreuz973 stieg der Kronprinz schließlich erneut aus und lief zu Fuß über den noch nicht ausgebauten und befahrbaren
Preinsfelder Weg, vorbei am so genannten „Roten Kreuz974“, zum Jagdschloss hinunter. Bratfisch nahm den Umweg
über Alland und fuhr dann die Talstraße entlang der Schwechat zurück Richtung Mayerling. „Um ungesehen ins
Schloß zu gelangen, stieg Mary vorher aus und wurde von Bratfisch zum Südtor des Schlosses gebracht, wo sie von
Loschek erwartet und das Appartement des Kronprinzen geführt wurde.975“ Wenn Bratfisch gegen 13 Uhr am „Roten
970
„Denkschrift“ des Grafen Josef Hoyos, zitiert bei Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, InselVerlag., Leipzig 1928
971
Meierei Füllenberg, Füllenberg 5. 1769 errichtete Waldeinkehr, von 1870 bis 1892 von Anna Frohner bewirtschaftet, noch heute beliebtes Ausflugsziel nahe Heiligenkreuz mit schattigem Gastgarten und interessant rustikaler Küche. Die Meierei liegt an der
Grenze der Gemeinden Wienerwald und Heiligenkreuz.
972
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
973
Das Ensemble des „Engelskreuzes“ bestand aus zwei hohen Steinsäulen und stand an der Straße Heiligenkreuz – Alland an der
Abzweigung nach Mayerling auf einer kahlen steilen Böschung. Ein Steinpfeiler trägt einen steinernen Tabernakel mit lateinischer
Inschrift auf allen vier Seiten, darüber eine Steinpyramide mit breitem Steinkreuz. Diese vier Meter hohe Säule ließ Abt Johannes
Ruoff von Heiligenkreuz (Abt von 1586 bis 1599) im Jahre 1586 als Dank und Bitte zu Beginn seines Amtsantrittes auf der Allander Höhe errichten. Drei der vier noch erkennbaren lateinischen Säulentexte hat Karl Wallner transkribiert und in der „Sancta
Crux“ veröffentlicht. Die zweite Säule trug ursprünglich einen steinernen Engel, der mit seinem Stab nach Groß-Mariazell weisen
sollte. Dieser „Wegweiseengel“ wurde 1720 von Abt Gerhard Weixelberger durch eine Steinsäule mit einem 1,60 Meter hohen
barocken Schutzengel aus Zogelsdorfer Sandstein nach Giovanni Giuliani ersetzt. Im März 1940 zerlegte man die beiden Monumente und deponierte sie im Stift, da die Trasse der projektierten Reichsautobahn hierher verlaufen sollte. 1952 wurde die
Kreuzsäule neben der Stiftskirche in Heiligenkreuz in der Mitte des Mönchsfriedhofes errichtet. Der Schutzengel fand neben dem
großen Schüttkasten, dem Getreidespeicher, an der Straße nach Baden Aufstellung. Beide Säulen prägten die Landschaft so stark,
dass die Bezeichnung „Engelskreuz“ bis heute erhalten geblieben ist.
974
Das „Rote Kreuz“ dürfte sich östlich des Preinsfelder Weges Richtung Jagdschloss befunden haben, kann jedoch dort nicht
mehr genau lokalisiert werden. Durch die Trassenziehung der Reichsautobahn 1940 und das Einebnen zahlreicher offener Gruben
des ehemaligen Gipsbergwerkes Preinsfeld gab es im Bereich der Allander Höhe zu viele Erdbewegungen.
975
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Stadel“ aufgebrochen war, so könnte der Fiaker auf der kürzesten Route nach zweieinhalb Stunden in Mayerling eingetroffen sein – also gegen 15:30 Uhr.
„Während in Mayerling Ruhe herrschte, hatten sich in Wien inzwischen aufregende Szenen abgespielt.976“
976
Judtmann, Dr. Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
1.
Namensgebung und Namensmythos
„... und in ewiger Morgenschönheit
uralte Liebe mir neu entbrennt: es ist dies mein gutes,
liebes, geliebtes, altes und ewig junge – Mayerling!!“
Hugo Wolf
30. August 1882
Murlingen977, Moverlingen978, Mewerlinge979, Mawrling980, Meidling981 – welche Bedeutung hat dieser fast
weltbekannte Ortsname? Die Experten sind sich nicht einig.
In seiner Grundform Murilingin, mit Umlaut Miurlingen bzw. dialektisch Meurlingen enthält der Ortsname
das Wort „Mure“ (Mauer, lateinisch „Murus“) und geht in seiner ing-Endung auf „Menschen auf der Mauer“ zurück.
So erinnert der Ortsname an das Adelsgeschlecht von Ozo und Otfridus, den „Menschen auf der Mauer“, die auf dem
freien und von einer Mauer befestigten Eigen, dem „Steinhof“ lebten.
Andere Quellen wollen die Namensgebung auf das Jahr 869 datieren, als auch das benachbarte Baden unter
der Bezeichnung „Padum“ genannt wird. Ins althochdeutsche lauschend, setzt sich das Wort Mayerling aus dem „hofling“ für Höfling und „charmarling“ für Kämmerling zusammen. Um die Zugehörigkeit zu einem festen Haus zu signalisieren, könne sich der Name aus dem Bindewort „muri“ zu „muriling“ entwickelt haben. Übersetzt hieße Mayerling also „zu den Haus- oder Dorfleuten“.
Weit poetischer klingt die Namenswerdung in der Chronik des Karmelitinnenklosters zu Mayerling. Hier wird
berichtet, dass im Ortsnamen der Monat Mai982 mitklinge und auch „Meierei“983 als Synonym für Milch und Honig
und somit das gelobte Land984. Natürlich hören die Schwestern aus der Ortsbezeichnung auch den Namen der Mutter
Jesu heraus – Maria, der Königin des Himmels und der Erde.
977
Murlingen, 1136
Moverlingen, 1136
979
Mewerlinge, 1294
980
Mawrling, 1392
981
Meidling, 1670, Kupferstichkarte Niederösterreich von Georg Matthias Vischer, Niederösterreichische Landesbibliothek
AV222/1697
982
Mai:
983
Meierei:
984
Das gelobte Land:
978
162
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Wonne, Paradies, Jungfräulichkeit – welch ein Kontrast zum blutigen Tod der jungen Baroness und des Kronprinzen 1889... Doch halten wir uns zunächst an Hugo Wolf, der im Sommer 1880 über Mayerling urteilt: „Man lebt
wie der Herrgott in – Mayerling!“985
Interessant erscheint uns in diesem Zusammenhang, dass bereits 1140 im Klosterneuburger Traditionsbuch
ebenfalls ein Ort mit dem Namen „Murlingen“ erwähnt wird – hierbei handelt es sich jedoch um den Ort Meidling,
den heutigen 12. Wiener Gemeindebezirk. Dieser Flurname soll entstanden sein, da es sich hier um eine Stadtwerdung
auf den Mauern einer römischen Befestigung handelt – ebenfalls also eine „Siedlung an der Mauer“. Aus „Murlingen“
soll sich dann im Wiener Dialekt die Form „Meidling“ gebildet haben. An die alte Form des Stadtnamens erinnert
noch heute die Murlingengasse in Wien-Meidling. Und auch im Kärntner Nationalpark Nockberg gibt es eine ähnliche
Gemarkung – die Mayerlingalm an der Nockalmstraße zur Prießhütte.
Doch nicht nur als Namen eines fast weltberühmten Ortes und synonym für eine geheimnisvolle Tat steht Mayerling heute. Genutzt wird der Ortsname weltweit auch als Produktbezeichnung, so zum Beispiel für eine Möbelkollektion der französischen Firma Pinede986 aus Albi, eine deutschen Bodenfliesenserie, als Bezeichnung einer Wagenfarbe987, eines Brautkleidmodell988 des Hauses Pronuptia, als Muster einer Sticktechnik, als Name einer Uhrenkollektion und einer Tortenkreation aus dem Hause der Wiener Schokoladenmanufaktur Leschanz989, als Pflegeproduktserie
aus dem Hause David Jones990, als Tischleuchtenname der Serie „Classic line“ der Firma Thomas-Leuchten991, als Serienname für Geschirr aus dem Hause „Winterling“, als Wein- bzw. Sektsorte992 oder Whiskymarke993, als Firmenname „Mayerling Productions Ltd.“ und Shopbezeichnung „Mayerling Cellars“ in einem australischen Einkaufszentrum.
Aber auch als weiblicher Vorname in Mittelamerika, als männlicher Nachname im Film „Boulevard der Dämmerung“994 bzw. als Familienname995 oder als Name eines Nachclubs im Französischen Vichy und in Malaga ist Mayerling gebräuchlich. In dem gezeichneten Anime „Vampire Hunter D“ trägt der letzten lebende Vampir den Namen
Mayerling – im gleichnamigen japanischen Animationsfilm von 2003 fälschlich „Meir Link“.
Darüber hinaus gibt es im Badener Hotel „Krainerhütte“ die Junior-Suite „Mayerling“, und im Wiener Hotel
Sacher den „Salon Mayerling996“ sowie im Grand Hotel Imperial im italienischen Levico Terne (Trento) den Tagungsraum „Mayerling“. In Los Angeles gibt es darüber eine „Mayerling Street“, in Houston/Texas trägt ein Ortsteil den
Namen „Mayerling“997 und in Palm Beach gibt es ein Restaurant mit gleichem Namen998. Im Kloster Heiligenkreuz
hieß gar ab 1903/1904 die zu einem Gastraum umgebaute Winterküche des Stiftsgasthofes „Mayerlingstüberl“; heute
indes trägt der Raum die Bezeichnung „Hochzeitsstüberl“.
985
Honolka, Kurt: „Hugo Wolf – Sein Leben, sein Werk, seine Zeit“, München 1990
www.pinede.fr
987
siehe Mayerling grün metallic bei Peugeot
988
www.pronuptia.de
989
www.leschanz.at
990
www.davisjones.com
991
www.thomasleuchten.at
992
Le Crémant d´Alsace Mayerling bzw. Le Mayerling
993
„Lord Mayerling“, Scotch Grai Whisky; Destilled Matured and Aged in Oak Cask, 70&vol.
994
„Max von Mayerling“, USA 1950; als „Sunset Boulevard“ in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ein weltweiter Musicalerfolg
995
Mayerling, Louis; Schriftsteller: „We faked the Ghosts of Borley Rectory“, Pen Press, 2000
996
Hier ist in drei Vitrinen das Kronprinz Rudolf-Tafelsilber ausgestellt, das Anna Sacher erwarb. Heute ist das Silber im Privatbesitz der Eigentümerfamilie Gürtler; Daten zum Erwerb des Silbers etc. sind „im Laufe der bewegten Geschichte des Hotels Sacher Wien verloren gegangen“; freundliche Mitteilung von Frau Christine Koza, Direktion Hotel Sacher Wien, Wien 09.10.2003
997
www.houstonarearealestate.com
998
Mayerling – Luncheon & Dinners, 309 ½ Worth Avenue, Palm Beach
986
163
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Ab 1. April 2007 sollte das „Café Mayerling“, eine fiktive Kneipe im 8. Wiener Gemeindebezirk, Hauptschauplatz der ORF1-Vorabendserie „Mitten im Achten“ (Drehbuch: Clemens Aufderklamm) werden. Dort in der Josefstadt treffen sich Singles um die 20, bei denen sich alles um die Liebe oder die Suche nach dem richtigen Partner
für die kommende Nacht dreht. Noch vor Ausstrahlung der Pilotfolge wurde der Spielort jedoch in das Lokal „Holacek“ verlegt – und die tägliche Serie zum 29. Juni 2007 wieder eingestellt.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
1.
Namensgebung und Namensmythos
A: Sagen aus Mayerling
„In Mayerling stand auf dem alten Friedhof
ein Grabstein, auf dem ein
Hundekopf eingemeißelt war.“
Die Hundekopfsage
Carl Calliano, Baden
1924
Der Badener Schriftsteller und Heimatforscher Carl Calliano, Mitbegründer des Badener Kaiser Franz JosefMuseums, sammelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts lokale Sagen aus Niederösterreich, die er 1924 in einem fünfbändigen Nachschlagewerk veröffentlichte. Auch die Region um Alland und Heiligenkreuz fand dabei Berücksichtigung
– allein aus Mayerling sind vier Sagen verzeichnet999. Die bekannteste mündlich überlieferte Erzählung aus Mayerling
ist die „Hundekopfsage“, die auf den Mitte des 17. Jahrhundert angelegten Friedhof an der Laurentius-Kirche Bezug
nimmt. Darin heißt es:
„In Mayerling stand auf dem alten Friedhof, der nun aufgelassen ist, ein Grabstein, auf dem ein Hundekopf
eingemeißelt war. Die Sage geht dahin, dass daselbst eine Burgfrau begraben sein soll, die stolz, hochfahrend und geizig war. Als sei einen Bettler, der sie im Burghof um ein Almosen anflehte, davonjagen ließ, wandte sich dieser gegen
die Burgfrau und rief ihr den Fluch zu, sie möge, da sie gesegneten Leibes sei, ein Kind mit einem Hundekopf zur
Welt bringen und der Wunsch ging in Erfüllung.1000“ In der Pfarrkirche St. Georg und Margarethe in Alland befindet
sich heute ein Grabstein, der ein auf dem Rücken liegendes, hundeähnliches Tier zeigt, aus dessen Körper eine Lilie
emporwächst. Lokal wird der unbeschriftete Grabstein auch mit einem missgestalteten Kind in Verbindung gebracht –
jedoch in der Herrschaft zu Arnstein1001: „Es war zur Zeit der Kreuzzüge. Auch der Ritter von Arnstein nahm daran
teil. Während seiner Abwesenheit ließ seine hartherzige Frau eine Bettlerin mit Hunden von der Burg vertreiben. Zur
Strafe für diese Untat wurde das während der Abwesenheit des Ritters zur Welt gekommene Kind mit einem Hundekopf geboren. Aus Angst ließ die Rittersfrau dieses Kind töten und vergraben. Als der Ritter von Arnstein heimkehrte,
erfuhr er bald von dem Verbrechen seiner Frau. Er ließ sie gefangen nehmen, in ein Fass stecken, in das von außen
999
Über die Existenz der vier Sagen aus Mayerling berichtete und freundlichst Magister Helene Schießl, Fahrafeld/Pottenstein,
30.05.2003
1000
Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924
1001
Dorffner, Christl und Erich: „Das Buch von Alland“, Eigenverlag der gemeinde Alland, Alland 2002
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Nägel eingeschlafen waren, und von seiner Burg den Berg hinabrollen. Zur Sühne ließ er an der Stelle, wo das Fass
liegen blieb, eine Kapelle erbauen. Dort steht die heutige Pfarrkirche von Raisenmarkt. Das Kind bekam eine christliche Ruhestätte auf dem Allander Friedhof. Der Grabstein erinnert heute noch an diese Begebenheit und steht jetzt in
der Kirche zu Alland.“ Eine ähnliche Sage wird auch aus dem Renaissance-Schloss Schallaburg bei Melk berichtet,
auf dem ebenfalls nach einer Verfehlung ein Junge mit Hundekopf geboren wurde, der 32 Jahre lang in einem unterirdischen Verließ lebte und an den im großen Arkadenhof eine menschliche Büste mit Hundekopf erinnert1002.
Drei weitere Sagen aus Mayerling spielen rund um den Steinhof, einem nicht mehr existierenden Herrensitz
mit Meierei südlich der Schwechat, der 1772 in den Besitz des Stiftes Heiligenkreuz kam und heute als Ruine im Gelände kaum erahnbar ist. An diese Ruine erinnert die Sage „Die Bundschuhe in Mayerling“, in der es heißt:
„In Mayerling, gegenüber der Baumschule, soll vor Zeiten ein gar stattlicher Bauernhof gestanden sein, Steinhof genannt. Nun sieht man aber vor wuchernden Pflanzen kaum mehr die Trümmer. Geht man jedoch um Mitternacht
vorüber, so sieht man Buntschuhe – augenscheinlich handelte es sich um Bundschuhe, doch nutzte man in der Erzählung das leichter zu erklärende Wort Buntschuhe – herumlaufen, das Haus ist wieder völlig aufgerichtet und laute Musik dringt heraus. Auch hört man aus dem Hause das Geräusch von vielen tanzenden Menschen. Um 1 Uhr aber verschwindet alles unter lautem Getöse.1003“
Zu der dem Steinhof angegliederten Mühle, der Steinermühle (auch „Mühle an der Brücke“, „Speichmühle“
oder „Schwabmühle“ genannt), gibt es die Sage von den „Franzosen in der Steinermühle zu Mayerling“. Darin heißt
es:
„Als im Jahre 1809 die Franzosen durch Mayerling zogen, sahen sie eine alte Mühle. Es ist die heute noch bestehende stattliche, so genannte Steinermühle. Da die Franzosen Hunger verspürten und die Mühle unbewacht schien,
stürmten sie hinein und zwangen die Frauen, ihnen Fleisch und Mehl zu geben. Die geängstigten Frauen gaben ihnen
alles, denn der Bauer war mit seinem Knecht um Holz gefahren. Als er nun wieder nach Hause kam, lief man ihm entgegen und erzählte ihm, dass die Franzosen in seiner Mühle wären. Daraufhin holte er die Bauern der Umgebung zusammen, sie bewaffneten sich mit alten Flinten, Sensen und Sicheln und umstellten das Haus. Dann stürmten sie hinein und erschlugen sämtliche Franzosen. Einige liegen oberhalb des Hauses in einem Wald begraben, wo sie aber bis
heute keine Ruhe gefunden haben sollen, denn noch immer sieht und hört man bei den Franzosengräbern allerlei Unheimliches.1004“ Tatsächlich zogen während der napoleonischen Kriege 1805 und 1809 die Truppen Napoleons I.
durch den Wienerwald. Der Lokalgeschichte nach quartierten sich dabei 1809 sieben Infanteristen in Obermeierhof in
Raisenmarkt in einem Bauernhof ein. Nach zehn Tagen griffen die in einer Scheune sich versteckt aufhaltenden Bauern die Soldaten an und erschlugen sechs Mann. Der Siebte feuerte einen tödlichen Schuss auf die Bäuerin ab, bevor
auch er starb. Die Leichen der Franzosen wurden im Wald verscharrt und 1893 vom Forstinspektor Josef Weiß aus
Mayerling wieder entdeckt. Auf Wunsch der französischen Botschaft in Wien wurden die Toten dann auf dem Friedhof zu Raisenmarkt bestattet1005.
Letztlich soll es auch eine Erscheinung in Mayerling gegeben haben – wohl jedoch keine „Weiße Frau“, wie
Rabl in seinem Buch „Das Triestingthal“ im 19. Jahrhundert anmerkte, sondern eine „weiße Gestalt.“ In der Sage von
der „Kapelle bei der Steinermühle in Mayerling“ heißt es:
1002
freundliche Mitteilung Hermine Prirschl, Schallaburg, 07.06.2003
Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924
1004
Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924
1005
Dorffner, Christl und Erich: „Das Buch von Alland“, Eigenverlag der gemeinde Alland, Alland 2002
1003
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
„Über die Entstehung dieser Kapelle gibt es folgende Erzählung: Die Bauern von Raisenmarkt gingen gern ins
Allander Kellerstüberl. Beim Rückweg waren sie in der Regel angeheitert und wenn sie dann zur Steinermühle kamen,
stand dort eine drohende, weiße Gestalt, die ihnen ihr Geld abforderte. Das wiederholte sich einige Male, bis es den
Bauern doch zu bunt wurde. Sie beschlossen, einmal nüchtern heim zuwandern und das Gespenst zu untersuchen. Als
sie zu der unheimlichen Stelle kamen, stand dort die weiße Gestalt. Die Bauern ließen sie heran kommen und als sie
merkten, dass es ein Mensch sei, stürzten sie erbittert auf ihn los und erschlugen ihn. Dann nahmen sie ihm die Hülle
vom Gesicht und merkten mit Entsetzen, dass es eine ihnen sehr bekannte Persönlichkeit von Raisenmarkt war. Zur
Sühne dieser Bluttat erbauten sie mit dem Geld, das ihnen das Gespenst abgenommen hatte, die kleine Kapelle.1006“
Über das so genannte „Engelskreuz“ oberhalb Mayerling an der Verbindungsstraße von Heiligenkreuz nach
Alland gelegen, gibt es folgende Sage vom „Großmeister bei Heiligenkreuz“:
„Dem Prior zu Heiligenkreuz erzählte eine Frau folgendes: Ich mache oft an Nachmittagen eine Spazierfahrt
nach Alland. Da nehme ich eine Jause ein und kehre dann gegen Abend wieder zurück nach Hause. Ich gehe bei dieser
Gelegenheit mitunter eine Strecke zu Fuß, besonders beim Engelkreuz vorüber. Bei diesem Kreuze hörte ich schon öfter, wenn ich vorüberging, im Walde ein Singen, dann wieder ein Winseln und darunter vernahm ich eine Stimme:
"Ich bitte für den armen Sänger!" Als ich heute abends im Mondlichte wieder mit meinen beiden Kindern vorüberging, hörte ich dasselbe und meine Kinder hörten es auch. Plötzlich vernahmen wir im Walde Pferdegetrappe und ein
Reiter kam zum Vorschein. Derselbe war von hagerer Gestalt, hatte einen Mantel um und auf der Brust ein Kreuz,
welches aber schon etwas verwischt war, wie ein von Alter schon abgetragenes. Der Reiter blieb vor mir stehen und
sagte: "Ich bitte für den armen Sänger!" Da fasste ich mir Mut und fragte: "Ja, was soll ich denn?" Er antwortet: "Beten für den Großmeister und die zwei Brüder!" Dann kehrte er sich um, ritt wieder waldeinwärts und verschwand endlich im Walde1007.
Ebenfalls über das Engelskreuz berichtet die Sage „Vom Allander Schmied und dem redenden Ross“. Darin
heißt es:
„Es mag bei 150 Jahre sein, da lebte zu Alland ein Schmied mit Namen Hegenauer. Zudem ist einmal im Winter um Mitternacht ein unbekannter Mann gekommen, hat am Fenster geklopft und gerufen, der Schmied möge aufstehen, er habe mit ihm etwas zu reden. Der Schmied ist aufgestanden und hat gefragt, was er wolle? Da bat ihn der
Mann, er möchte mehrere Hufeisen nehmen und mit ihm zum Engelkreuz gehen und daselbst sein Ross beschlagen,
weil es ihm fortwährend ausglitsche. Der Schmied wollte nicht recht einwilligen, machte Einwendungen und sagte, es
sei halt so schwer, auf der Straße und ohne Feuer beschlagen und noch dazu so weit weg. Weil aber der Mann so sehr
bat, so ging er endlich mit. Wie sie zum "Engelkreuz" kommen, steht das Ross da. Jetzt hebt ihm der Schmied den
Hinterfuß auf und passt das Hufeisen an. Wie er aber den ersten Nagel hineinschlägt, so fängt das Ross zu reden an
und sagt: "G'vatter nit so tief!" Über das hat sich der Schmied sehr entsetzt und ist bald davongegangen. Der unbekannte Mann aber hat ihn noch zuvor reichlich belohnt.1008“
1006
Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924
Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924
1008
Calliano, Carl: „Niederösterreichischer Sagenschatz“, Verlag Heinrich Kirsch, Wien 1924
1007
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
1.
Namensgebung und Namensmythos
B: Persönlichkeiten
„Im Einklang mit der Natur
und im Streben nach der vollendeten Gastlichkeit
im Herzen des Wienerwalds
präsentiert sich Hanner.“
Heinz Hanner
„Hanner“
Mayerling 2003
Nicht allein der Tod des österreichischen Kronprinzen Rudolf und seiner geliebten, Baroness Mary Vetsera,
haben die Katastralgemeinde Mayerling im Wienerwald bekannt gemacht. Einige Persönlichkeiten, deren Leben und
Sterben mehr oder weniger eng mit dem kleinen Ort an der Schwechat verbunden ist, haben darüber hinaus zur Popularität des Weilers beigetragen.
Die Karmelitin Schwester Maria Kordis, bürgerlich Oda Schneider, Übersetzerin und Autorin vieler theologischer Bücher wie u.a. „Die mystische Erfahrung“, „Vom Priestertum der Frau“, „Im Anfang war das Herz – Vom Geheimnis des Karmel“, „Die Macht der Frau“ und „Gnade über Mayerling“, lebte lange Jahre im Karmel St. Josef zu
Mayerling und trug dazu bei, den Namen des Ortes einem größeren Publikum bekannt zu machen1009.
Oda Schneider wurde am 30. Mai 1892 als zweites Kind einer k.u.k. Offiziersfamilie in Pressbaum bei Wien
geboren, wo ihre Mutter, Othilie Przyborski, sich auf Sommerfrische befand. Ihr Vater, Generalstabshauptmann
Arthur Przyborski, war damals in Wien stationiert. Dort kam Oda im Alter von neun Jahren in das Halbpensionat des
Klosters Sacre Coer. Eine erste Wende nahm Odas Leben, als Major Rudolf Schneider ihr während seines Heimaturlaubes im Jahre 1916 einen Heiratsantrag machte. Sie kannte den um zwanzig Jahre älteren Freund der Familie seit ihrem elften Lebensjahr. Dieser Antrag machte sie sehr unglücklich und doch wollte sie ihm, dem Offizier an der so harten russischen Front, irgendwie helfen, ihn trösten. „Dieser Mensch braucht jetzt meine Liebe“, so sagte sie sich und
schickte ihm ihr Jawort per Post nach ins Feld. Mit einer Bedingung: Er möge ihr das Dichten erlauben.
Oda Schneider wohnte mit ihrem Gatten in Wien in der Colingasse. Er begegnete ihr mit Verständnis und
Aufmerksamkeit und doch erfüllte sie in den ersten Ehejahren eine innere Leere. Diese Depression steigerte sich, als
der erwartete Kindersegen ausblieb. Im Advent 1929 erfolgte ihre vollständige Bekehrung und die große, innere Leere
1009
freundliche Mitteilung von Sr. Margarita, Karmel Marter Dolorosa, Maria Jeutendorf/Pottenbrunn 04.06.2003
168
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
wich einer beglückenden Fülle. Die Glaubensgeheimnisse fingen an, sich ihr zu erschließen und wurden ihre ganze
Freude.
In der Fastenzeit 1930 begegnete sie zum ersten Mal dem Karmel. Am Vorabend des Festes Mariae Opferung,
am 20. November 1947, sechzehn Tage nach dem Tod ihres Gatten, trat Frau Oda Schneider als Postulantin in den
Karmel Wien Baumgarten ein. Am Herz-Jesu Fest 1948 wurde sie eingekleidet, durfte am Herz-Jesu Fest des Jahres
1949 (24.06.) fiel, ihre zeitliche Profess und ebenfalls am Herz-Jesu Fest, dem 21. Juni 1952, ihre Ewige Profess ablegen.
Eine Enttäuschung war für sie zunächst der Name Sr. Maria Gabriela a Corde Jesu, den sie bei ihrer Einkleidung bekam. Sie hätte so gerne einfach Sr. Maria Cordis geheißen. Einige Jahre später, während ihres Aufenthaltes im
Karmel Mayerling, erhielt sie doch noch den gewünschten Namen, als im Jahre 1955 eine Sr. Gabriela aus Ungarn in
dieses Kloster kam.
Eine wichtige Station ihrer Karmeljahre wurde der acht Jahre dauernde Aufenthalt im Karmel Mayerling, wo
den dortigen Schwestern durch ihre Anwesenheit eine finanzielle Hilfe zuteilwerden sollte. Im Jahre 1961 wurde sie
jedoch vom Karmel Wien Baumgarten zurückgerufen, da man sie dort für eine Schar neu eingetretener Schwestern als
Novizenmeisterin benötigte. Kurze Zeit später wählte man sie hier zur Subpriorin. Im Mai 1965 wurde Sr. Maria Cordis vom Karmel Baumgarten als Vikarin nach Steinbach N.Ö. geschickt, um mit einigen Schwestern eine Neugründung vorzubereiten.
Die letzte und längste Station der Nonne wurde der Grazer Karmel. Im September 1969 reiste sie mit Sr. Maria und Sr. Immaculata an. Im Winter 1981/82 erkrankte Maria Cordis an einer schweren Bronchitis. Der behandelnde
Arzt bezeichnete sie damals als „verlöschendes Licht“. Sie erholte sich jedoch überraschender Weise wieder, wenngleich ihr eine schier unüberwindliche Schwäche blieb. Oda Schneider starb am 12. März 1987 um 8.45 Uhr im Karmel Graz, nachdem sie am Morgen bei klarem Bewusstsein die Hl. Kommunion empfangen hatte1010.
Eine zweite Nonne, die selig gesprochene Franziskanerin Schwester Maria Restituta Kafka, hatte ebenfalls
Beziehungen zu Mayerling und dem dortigen Kloster und Erholungsheim der Wiener Hartmannschwestern: Helene
Kafka. Sie wurde am 1. Mai 1894 in Hussowitz (Brno-Husovice/Tschechische Republik) geboren und 1943 von den
Nationalsozialisten in Wien ermordet. Ihr Vater, Anton Kafka, war Schuhmacher. Als Helene zwei Jahre alt ist, übersiedelte er mit seiner Familie in die Brigittenau nach Wien. Dort wuchs Helene im Milieu der armen tschechischen
Zuwandererfamilien auf. Als Hilfspflegerin am öffentlichen Krankenhaus Lainz lernte sie ab Oktober 1913 die hier
wirkenden, im Volksmund als „Hartmannschwestern" bezeichneten geistlichen Schwestern kennen. Dieser Schwesterngemeinschaft trat Helene gegen den Willen ihrer Eltern am 25. April 1914 mit 19 Jahren bei und erhielt den Namen der altchristlichen Märtyrin Restituta.
Von Mai 1919 an arbeitete Schwester Restituta im Krankenhaus in Mödling1011. Sie brachte es beruflich bis
zur ersten, leitenden Operationsschwester und Narkotiseurin. Ende 1939/Anfang 1940 hängt Sr. Restituta in der neuen
chirurgischen Station des Mödlinger Krankenhauses Kruzifixe auf und weigert sich trotz Strikten Befehls der Nationalsozialisten, diese zu entfernen. Am 18. Februar 1942 wird sie im OP-Saal des Spitals von Mödling nach Denunziation durch einen SS-Arzt festgenommen und vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof unter Vorsitz von Dr. Alb-
1010
Nekrolog Sr. Maria Cordis, Karmel St. Josef, Graz, 1987
Am 18.02.1942 wurde Sr. Restituta im Mödlinger Krankenhaus in der Weyprechtgasse 12 von der Gestapo verhaftet. Seit
18.11.1995 lautet die Spitalsadresse Sr. M. Restituta-Gasse 12
1011
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
recht wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode durch das Fallbeil verurteilt. Am 30. März 1943 wurde sie um 18:21 Uhr nach 13 Monaten Haft - davon fünf Monate in der Todeszelle – im Wiener Landgericht enthauptet. Sie ist die einzige Ordensschwester, die während des Dritten Reichs gerichtlich verurteilt von Nationalsozialisten auch hingerichtet wurde.
In einem Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienstes) vom 4. Dezember
1942 wurde schon Monate vor der Hinrichtung „hinsichtlich einer etwaigen Freigabe der Leiche der Kafka an deren
Angehörige zur schlichten Bestattung“ ablehnend geurteilt aufgrund der Befürchtung, dass seitens der Ordensgemeinschaft „eine unerwünschte Propagandatätigkeit und Verherrlichung der zum Tode Verurteilten als Märtyrerin zu erwarten ist.“ Sr. Restituta wurde wie viele ihrer Mitgefangenen auf dem Wiener Zentralfriedhof in der Schachtgräberanlage der Gruppe 40 verscharrt. Bei der im Rahmen des Seligsprechungsverfahrens durchgeführten Exhumierung
und amtlichen Untersuchung konnten die schon früher an der überlieferten Stelle der Gruppe 40 geborgenen Gebeine
allerdings nicht als authentisch identifiziert werden. Ob Sr. Restitutas Leichnam dem Anatomischen Institut der Universität Wien zu Forschungszwecken gedient hat, ist nicht geklärt.
Schwester Maria Restituta wurde von Papst Johannes Paul II. anlässlich seines 3. Pastoralbesuchs in Österreich am 21. Juni 1998 auf dem Wiener Heldenplatz als Märtyrerin aus dem christlichen Widerstand gegen das NaziTerrorregime selig gesprochen. Der Gedenktag der ersten Märtyrerin der Erzdiözese Wien ist der 29. Oktober, der Tag
des Todesurteils1012. Ihre Verbindung zu Mayerling beruht auf der Tatsache, dass sie ihre Urlaube oft im Schwesternheim der Hartmannschwestern zu Mayerling verbrachte und in der Abgeschiedenheit des kleinen Ortes neue Kraft
tanken konnte.
Ein Priester, dessen Leben ebenfalls durch die Willkür des nationalsozialistischen Unrechtsstaates früh beendet wurde, fiel gar in Mayerling seinen Peinigern und Mördern in die Hände – Friedrich Karas. Karas wurde am 29.
Juli 1895 in Wien geboren. Er nahm als k.u.k. Leutnant am Ersten Weltkrieg teil und trat 1934 im Alter von 39 Jahren
in das Wiener Alumnat ein. Fünf Jahre später erfolgte seine Weihe zum Priester1013. Ab 1. September 1939 wirkte der
Kaplan als Administrator und Lokalprovisor in Gaubitsch in Niederösterreich. Karas machte als entschiedener Gegner
des Nationalsozialismus aus seiner Ablehnung gegen das Regime keinen Hehl und erregte so schnell den Unmut von
Parteigenossen. Am 9. Juli 1940 wird er verhaftet und des Amtes enthoben. Vor dem Wiener Landesgericht folgte ein
Prozess, an dessen Ende eine dreimonatige Haftstrafe gegen Karas wegen „Unsittlichkeit“ verhängt wurde.
Nach Verbüßen der Haftstrafe wirkte er vom 14. Oktober 1940 bis 30. April 1941 als Kaplan in PetronellCarnuntum in Niederösterreich1014. Am 1. Mai 1941 erfolgte seine Berufung als Geistlicher Rektor nach Mayerling,
wo er als Kirchenrektor der Karmelkirche zum Heiligen Josef wirkte1015. Im Jun i 1941 wird Karas in Mayerling erneut verhaftet und vor Gericht gestellt. In Folge wird er in das Konzentrationslager Dachau überstellt, vor er als Häftling 26545 am 30. Juni 1941 ankommt. Als Haftart geben die Behörden „Homosexualität“ an1016.
Der Kaplan Friedrich Karas wird am 26. Januar 1942 mit einem Invalidentransport in das oberösterreichische
Schloss Hartheim überführt. Unmittelbar nach der Ankunft wird er im Rahmen der so genannten „Aktion 14f13“ in
1012
www.restituta.net
in: „Gelitten für Österreich“, Karl von Vogelsang-Institut, Wien 1988
1014
freundliche Mitteilung von Gisela Klaffl, Marktgemeinde Petronell, Petronell 18.04.2003
1015
in: „Gelitten für Österreich“, Karl von Vogelsang-Institut, Wien 1988
1016
freundliche Mitteilung von Albert Knoll, Archiv der KZ Gedenkstätte Dachau, Dachau 05.05.2003
1013
170
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Hartenstein ermordet1017. Seine Leiche wird verbrannt. Als Todesdatum wird „offiziell“ der 28. März 1942 angegeben1018.
Weitaus schöner ist die Verbindung von Heinz Hanner zu Mayerling. Der Patron des Restaurants, Hotels und
Meetingpoints „Hanner“ in Mayerling 1 entstammt der Pächterfamilie, die aus der einstigen Jausenstation des früheren
Bauernhofes „Milli Nandl“ in jahrelanger harter Arbeit das Hotel „Marienhof“ nebst Restaurant „Kronprinz Rudolf“
machten. Der ehemalige Landgasthof wurde ab Sommer 2003 unter der Federführung des Architektenteams „pla.net“
fast komplett umgebaut und eröffnete im Frühjahr 2003 unter dem schlichten Namen „Hanner“ entstaubt und puristisch modern an gleicher Stelle neu. 1997 wurde Heinz Hanner zum „Koch des Jahres“ gewählt, 2001 zum „Gastronom des Jahres“, ist mit 18 Punkten im Gault Millau und 3 Hauben einer der höchstdekorierten Köche Österreichs.
1017
freundliche Mitteilung von Dr. Hartmut Reese, Leiter der Ausstellung des Landes Oberösterreich „Wert des Lebens“, Schloss
Hartstein, Alkoven, 18.05.2003
1018
Diese Darstellung des Lebens von Friedrich Karas bestätigte uns sein Neffe, Botschafter i. R. Dr. Robert Karas, Wien,
10.08.2005
171
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
2.
Die Geschichte Mayerlings
„Ab eo loco, ubi confluunt Satelbach et Swechant,
usque Murlingen, ab inde, sicut dirigitur uia,
que dicitur uia molendini, usque ad priuentan et
per eandem uiam, que girat priuentan,
usque ad locum, qui dicitur hausruch.“
Stiftungsurkunde des Klosters Heiligenkreuz
02. Juni 1136 (?)
„In keinem der zahllosen Berichte über die tragischen Ereignissen in Mayerling scheint eine umfassende Darstellung des >>Tatortes<<, der Räumlichkeiten und der Einrichtung auf.1019“ Wir werden daher in diesem Kapitel die
Geschichte und Entwicklung des Ortes, seiner Wallfahrtstradition und die des kronprinzlichen Jagdschlosses darstellen.
Mayerling liegt als eine von zwölf Katastralgemeinden der am 1. Januar 1972 gegründeten Großgemeinde
Alland1020 im niederösterreichischen Bezirk Baden geographisch auf eine Höhe von 326 Metern auf 48 Grad Nord und
16 Grad Ost. Die Gemeinde im Herzen des Wienerwaldes ist über die Außenringautobahn A 21/Abfahrt Mayerling zu
erreichen. Der Weiler selbst hat keinen Bäcker, keinen Metzger, keinen Konsum. Dafür gibt es zwei Wirtshäuser1021,
zwei Linienbushaltestellen mit Verbindungen Richtung Wien, Baden, Mödling, Mariazell, St. Pölten und Wiener Neu-
1019
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Zur Großgemeinde Alland (seit 27.06.2002 Marktgemeinde Alland) zählen die Katastralgemeinden Glashütten, Pöllerhof,
Weißenweg, Alland, Windhaag, Groisbach, Mayerling, Maria Raisenmarkt, Schwechatbach, Rohrbach, Innerer Kaltenbergerforst
und Äußerer Kaltenbergerforst
1021
„Gasthof zum alten Jagdschloß“ (zur Zeit Maria Theresias als Fahrpoststation errichtet, 1889 Herberge, Jausen- und Poststation des Breitenfurter Gastwirtes Gottwald; weitere Besitzer: um 1928 Marie Sukopp, von 1946-1958 Isabella Vasak, ab 1958 Familie Grundner, bis 1962 Familie Knotzer, von 1962 bis 1964 leerstehend, 1964 Erwerb durch Familie Dujmovic, 2002 nach jahrelangem Umbau der ersten Etage Eröffnung von Hotelzimmern; seit 05.2006 verpachtet an Zuzana Adamikova & Miroslav Huliciak); „Hotel Restaurant Meetingpoint HANNER“ (1889 Bauernhaus Milli-Nandl, Landhaus des Wiener Advokaten Dr. Joseph
Reitzes, in dem Hugo Wolf u.a. wohnten; seit 1965 als Jausenstation „Marienhof“ in Pacht und seit 1970 als Landhotel im Besitz
der Familie Johann und Cäcilia Hanner, 1982 Einrichtung von Tagungsräumen, 1984 Bau der Hotelerweiterung, 1986 Eröffnung
des Restaurants „Kronprinz“, seit 1990 unter Leitung von Heinz Hanner, 2002 Umbau von Restaurant und Hotel zum First-classBetrieb mit modernster Tagungstechnik). Nicht mehr existent ist der „Bachner“ (im 17. Jahrhundert als Bauernhof errichtet, 1889
Gasthof „Tourist“ von Anton Wurstbauer, 1921 Erwerb durch Rosa Bachner, in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts geführt von
Franz Bachner als „F. Bachner´s Touristenhaus“ mit „Terrassenkaffee und Hotelrestaurant“ mit eigenem Fernsprechanschluss Nr.
3, 1961 erster Anbau, 1971 zweiter Anbau; im Besitz der Familie Bachner bis Mitte 90er Jahre des 20. Jahrhunderts; danach Restaurant „Mayerling“ bis zum Tod des neuen Inhabers 2005; aktuell (2006) Leerstand. Nach dem Anschluss Österreichs an das
Deutsche Reich wurde das „Gasthaus Bachner“ bis 1945 durch die KDF [„Kraft durch Freude“] u.a. als Lager der Wiener „Kinderlandverschickung“ genutzt – KdF-Kennnummer 129);
1020
172
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
stadt, eine Privatpension, eine Ferienwohnung, zwei Hotels, zwei katholische Kirchen1022, zwei Klöster1023 und ein
Pflegheim. Sonst findet sich hier keine Spur von Infrastruktur. Selbst die schon im Mittelalter existierende Kreuzung
zweier wichtiger Straßen, des Binnen-Wienerwaldweges Nord-Süd und der Fernverbindung St. Pölten – Baden, führt
Reisende eher aus Mayerling fort. Eigentlich würde niemand freiwillig hierher kommen. Wirklich nicht?
Doch! Bereits seit über 4.000 Jahre zieht es Menschen an diesen Ort. Die Siedler der Jungsteinzeit kamen vom
Ostrand der Alpen durch das Schwechattal in das Allander Becken – über jenen Weg, dem heute noch die Bundesstraße folgt. Und in Mayerling gab es bereits zur Zeit der Lengyelkultur Leben – rund 2.500 Jahre vor Christus. Bereits damals war das Tal der Schwechat1024 ein gutes Jagdrevier und Siedlungsplatz, wovon archäologische Funde auf
dem Buchberg bei Alland, aber auch aus der Arnsteinhöhle bei Maria Raisenmarkt, zeugen1025.
Zu Beginn des 11. Jahrhunderts1026 wird eine erste christliche Gemeinde in Alland genannt. Zumindest erwähnt König Heinrich I., genannt der Starke, mit einem ähnlich klingenden Ortsname das Gebiet zwischen Triesting
und Dürrliesing, eben Alland, in einer Schenkungsurkunde1027. Dies geschah am 1. November 1002 und der Weiler
sowie die gegründete Gemeinde, die „Urpfarre des Wienerwaldes“, werden Privatbesitz des herrschenden Babenbergers, dem Markgrafen Heinrich. Erstmals namentlich erwähnt wird die Pfarre Alland im Zehentvertrag von Greifenstein im Jahre 1135, wobei eine Kirche mit dem Doppelpatrozinium St. Georg und St. Margarethe1028 schon 1115 im
Patronatsbuch des Stiftes Klosterneuburg erwähnt wurde1029 und ein einschiffiger hölzerner Vorgängerbau aus dem 8.
Jahrhundert durchaus wahrscheinlich ist1030. Alland wurde damals „allod1031“, „adeleth1032“ oder „adel achte“ genannt,
was „adeliger Besitz“ bedeutet. Zwischen 1125 und 1130 wird dann auch der erste Allander namentlich genannt:
Adelhart de Adelathe, der zwischen 1125 und 1130 von Leopold III. einen befestigten Platz, eben Alland, erhielt.
1022
Im oberen Kloster zu Ehren des Heiligen Josef, im unteren Kloster zu Ehren des Heiligen Franz und der Heiligen Elisabeth
Stand 1998: das obere Kloster des Ordens der unbeschuhten Karmelitinnen; das untere Kloster der sogenannten Hartmannschwestern
1024
Der Schwechat-Fluss entsteht durch Zusammenfluss von mehreren Wienerwald-Bächen (Agsbach, Lammeraubach – Ursprung in etwa 500 m – 700 m Meereshöhe) im Bereich von Klausen-Leopoldsdorf (Hauptbach – 370 m Meereshöhe). Die gesamte Flusslänge bis zur Mündung in die Donau beträgt 70 Kilometer. Die Schwechat selbst, bis zu ihrer Vereinigung mit dem
Mödlingbach und der Triesting bei Achau, hat ein Einzugsgebiet von 465 km² und 154 Quellbäche. Der höchste Punkt ist der
Schöpfl mit 893 m, der höchste Gipfel des Wienerwaldes. Der größte Seitenbach ist der Sattelbach, der beim gleichnamigen Ort
am linken Ufer einmündet. Die Quellbäche haben ein Gefälle von rund 24 Promille (Agsbach, Lammeraubach). Von KlausenLeopoldsdorf bis Baden (Helenental) beträgt das Gefälle 6,8 bis 7 Promille. Bei Mittelwasser fließen beim Pegel Cholerakapelle 7,8 m³/s im Flussbett der Schwechat. Die Schwechat weist bis Baden nur bereichsweise gestreckte Linienführungen auf. Im Oberlauf gibt es noch naturbelassene Strecken. Eine Besonderheit ist das Helenental zwischen Mayerling und Baden – hier zeigt die
Schwechat alle Elemente eines lebenden Flusses: Schotterbänke, Steilufer, ruhig fließende Bereiche und im Wasser liegendes
Totholz. Von Baden bis zur Mündung in die Donau (Mittel- und Unterlauf) verfügt die Schwechat ausschließlich über regulierte
und zum Teil künstlich angelegte Abflussstrecken. Fauna: Schwarzstorch, Eisvogel, Feuersalamander, Bachforelle und Kleine
Zangenlibelle.
1025
Dorffner, Erich und Christel, „Allerhand über Alland“, hrsg. von der Großgemeinde Alland 1989
1026
1002: König Heinrich schenkt dem Geschlecht der Babenberger Land an der Schwechat.
1027
Dorffner, Erich und Christel, „Allerhand über Alland“, hrsg. von der Großgemeinde Alland 1989. Das Original der Urkunden
– übrigens der ersten bekannten Schenkung an einen Babenberger – befindet sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Inhalt:
Leopold, Markgraf von Österreich, beurkundet, er habe den auf Anrathen seines Sohnes Otto aus Morimund herbeigerufenen Cistercienser-Mönchen den Ort Sattelbach, jetzt zum heiligen Kreuz genannt, eingeräumt, und ihnen mit Zustimmung seiner Gemahlin Agnes und seiner Söhne Albert, Heinrich, Leopold und Ernest das umliegende ihm angehörige Gebiet innerhalb der angegebenen Grenzen als Stiftungsgut freiwillig übergeben.
1028
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1029
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1030
Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002
1031
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1032
Adeleth = erste urkundliche Erwähnung in einer Urkunde des Jahres 1135
1023
173
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1136 stellte dieser Markgraf Leopold III.1033, der 1485 als Frommer „Pius Leopold“ heiliggesprochene Stifter
des Zisterzienserklosters Heiligenkreuz, dem Weiler Mayerling quasi einen „Taufschein“ aus1034: in der vorletzten
Zeile der Gründungsurkunde jener Abtei am Sattelbach müssen sich Ozo1035 und Otfridus1036 de Murlingen neben 14
weiteren neuen Nachbarn für die Wahrhaftigkeit des Dokumentes und die Richtigkeit der Grenzziehung verbürgen1037
- so wird Mayerling erstmals urkundlich erwähnt. Wahrscheinlich führte in der Römerzeit bereits ein Ost-West-Weg
von Baden entlang der Schwechat in die Gegend von St. Pölten an Mayerling vorbei. Obwohl Bodenfunde aus dieser
Zeit bislang fehlen, deutet das spätere Kirchenpatrozinium des Heiligen Laurentius jedoch auf eine frühe Besiedelung
hin1038. Ozo besitzt ein freies Eigen mit Herrenhaus und Wirtschaftshof im heutigen Areal der beiden Klöster. Otfridus
lebt auf dem strategisch günstiger gelegenen Steinhof1039, einem nicht mehr existierenden turmartigen Anwesen mit
Herrensitz und Meierei auf der anderen Schwechatseite1040. Schenkt man dem Dokument Glauben, verlief die hochmittelalterliche „via molendini“, der Weg zur Mühle der Murlinger, von deren Standort an der Einmündung des Lachbaches1041 in die Schwechat über einen Hügel Richtung Heiligenkreuz und stellte die Grenze der Klosterneugründung
dar.
1033
Leopold III. (um 1073-1136)
Fontes Rerum Austriacarum XI, Nr. 1/001. Inhalt: Leopold, Markgraf von Österreich, beurkundet, er habe den auf Anrathen
seines Sohnes Otto aus Morimund herbeigerufenen Cistercienser-Mönchen den Ort Sattelbach, jetzt zum heiligen Kreuz genannt,
eingeräumt, und ihnen mit Zustimmung seiner Gemahlin Agnes und seiner Söhne Albert, Heinrich, Leopold und Ernest das umliegende ihm angehörige Gebiet innerhalb der angegebenen Grenzen als Stiftungsgut freiwillig übergeben.
1035
andere Schreibweisen auch Opo und Otho
1036
andere Schreibweisen auch Ottfried und Otfrid
1037
Lateinischer Volltext: „In nomine sancte et individue trinitatis. Omnibus Christi fîdelibus presentis etatis et future generationis
pax et exultatio multiplicetur in perpetuum. Acta principum uel donationes eorum, ut venerabilibus locis firma permaneant et inconuulsa, utile est, ea scriptis annotare; utile est, ea sub omni cautela posterorum memorie commendare. Inde est, quod ego
Livpoldvs dei gratia Marchio Austrie in presenti pagina exprimendum curaui, quemadmodum ipso, a quo omne bonum est, inspirante atque Ottone dilecto filio meo, qui se apud Morimundum ordini subiecit Cisterciensi, adhortante fratres a prefato Morimundi
cenobio evocauerim et in loco, qui actenus Satelbach dicebatur, nunc vero ob victoriosissimum nostre saluationis signum ad Sanctam Crucem uocatur, collocauerim. Quorum congaudens religioni et prouidens indigentie manu potestatiua, hoc idem annuente et
petente conparticipe thori nostri Agnete, et filiis nostris Alberto, Heinrico, Liupoldo, Ernesto tradidi deo et beate Marie semper
uirgini et fratribus in iam dicto loco congregatis seu congregandis terram circumiacentem, nostroque iuri pertinentem cum agris,
pratis, pascuis, aquis, siluis, cultis et colendis cum terminis, quos ei circumlimitavimus, et hic annotare censemus. Sunt autem hii.
Ab eo loco, ubi confluunt Satelbach et Swechant, usque Murlingen. ab inde, sicut dirigitur uia, que dicitur uia molendini, usque ad
priuentan, et per eandem uiam, que girat priuentan, usque ad locum, qui dicitur husruch. et ab inde iterum per predictam uiam
usque in Satelbach. et ab hinc per directum usque ad uerticem, qui uulgo dicitur Hoheche. et ab hinc trans riuulum, qui uocatur dorinbach, contra medietatem montis, qui dicitur Keizeruche. et ab hinc per uiam, que uadit ad siluam attinentem ad uillam, que dicitur Sichendorf, ab hinc ad locum, ubi oritur riuulus, qui appellatur marchbach. ab hinc per uiam ducentem et iungentem se uie, que
ducit ad draschirch. et ab hinc usque ad fontem, qui oritur in loco, qui uocatur Mv\ochersdorf. et ab hinc ad montem, cui uocabulum Ebenberch. et ab hinc per uiam descendentem in Satelbach. et per descensum ejusdem fluuioli ad locum, ubi coniungitur
fluuio, qui appellatur Swechant. Hanc autem nostram donationem, atque eiusdem monasterii constitutionem non solum nostre incolomitati, paci et tranquillitati, sed et parentum nostrorum in Christo dormientium saluti proficere optamus et quieti. Sperantes
apud diuinam clementiam nostre fragilitati aliquatenus profuturum, si, cum ipsi fructum boni operis non facimus, eos saltim, qui
uere deo fructificant, ut uitem ulmus, de nostra facultate sustentamus. Verum, quo magis ac magis hec, que gessimus, roborentur
et rata firmentur, scriptis presentibus testes et nostrum sigillum adiungatur. Comes Chv\onradus de Pilstein, Otto de lengenbach,
Rapoto de nezta, Sterfrit de becelinesdorf, Otto de Leusdorf, Vlricus de gadmen, Vlricus de Sigenuelde, Rv\odegerus et frater ejus
Ru\opertus de Sigchendorf, Anshalmus de Sparwarsbach, Ebergerus de Adelahte, Hartungus de Ruhenegcke, Jubort de tribanswinchele, Ozo et Otfridus de murlingen, Hartwicus. Facta autem sunt hec anno ab incarnatione domini M.0 C.0 XXX.0 VI.0
Indictione uero XIIII. anno regni domini Lotharii VIII.0 (sic) imperii uero III.0.” Quelle Volltext: Johann Nepomuk Weis, Urkunden des Cistercienser-Stiftes Heiligenkreuz im Wiener Walde (=FRA II/11, Wien 1856) 1-2
1038
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1039
Dorffner, Erich und Christel, „Allerhand über Alland“, hrsg. von der Großgemeinde Alland 1989
1040
Der abgekommene Steinhof, ein Herrensitz mit Meierei, lag auf Grundparzelle 176, oben, 170, 171/1, auf einer ehemaligen,
jetzt aufgeforsteten Wiese vor dem Eintritt in das Kalkmassiv des Hohen Lindkogels nahe dem Landschaftsschutzgebiet rund um
den Felskomplex der Bischofsmütze
1041
Heute: Raisenbach
1034
174
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1912 wies der Historiker und spätere Biograph des Kronprinzen, Oskar Freiherr von Mitis sen.1042, in seinen
„Studien zum ältesten österreichischen Urkundenwesen“ darauf hin, dass es sich bei der diplommäßig ausgestatteten
und überreich verzierten Grenzurkunde vom 2. Juni 1136 um eine „diplomatische Fälschung“ aus der Zeit um 1230
handeln müsse. Ein Beweis seiner Theorie: die einer päpstlichen Bulle ähnelnde Ausstattung der Schrift, die in dieser
Ausführung erst nach Papst Innozenz III. in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts üblich ist1043.
Der Grund für diese erste überlieferte Mayerling-Lüge der Geschichte: Neid neuer Nachbarn, insbesondere
der Bewohner Allands bei der Abgabe des Zehents. Im neuen, der Jungfrau Maria geweihten Stift am Sattelbach, wurden alle üblichen Handwerke ausgeübt. Bereits im 1. Jahrhundert ihrer Tätigkeit in Österreich waren die zunächst
zwölf1044 aus dem französischen Morrimond stammenden Zisterzienser mit so großem Erfolg wirtschaftlich tätig, dass
sich der Orden wegen seiner „Entwicklungshilfe“, vor allem aber wegen seiner Abgabenfreiheit, viele Feinde machte.
Um 1230 bricht daher ein heftiger Streit aus zwischen Abt Eglolf von Heiligenkreuz und dem Allander Pfarrer Leopold, in dessen Pfarrgemeinde das neue Kloster errichtet wurde. Ein Schiedsgericht unter Vorsitz der Babenberger, die
sich – auch wenn die Pfarre zu Passau gehörte – noch immer als Eigenkirchenherren fühlten1045, erreichte, dass der
weltliche Priester auf seine persönlichen Einkünfte aus dem Bereich der Klosterneugründung ebenso wie auf den
Ackerlandzehnt in den Grenzen von Heiligenkreuz verzichtete. In dieser Zeit des Streites dürfte der Stifterbrief gefälscht worden sein, um während des Prozesses gegen den Allander eine gesiegelte Urkunde vorweisen zu können, die
den Umfang der 1136 mündlich zugewiesenen Ländereien bestätigte.
Als urkundlich dokumentierte Entschädigung für die Abtretung1046 gab es für den Allander Pfarrer zwei Bauerngüter, zwei sogenannte Mansen: das Höflingshaus Alland Nummer 6 samt heutiger Kirchgasse mit den Häusern 4,
7, 8, 9 und 101047 bis zur Brunnwiese gegen Grub und das Anwesen Raisenmarkt 25, den sogenannten „Wimbauern“,
heute Widenhof. Zudem zählte dazu der „Steinbauer“, heute Schwechatbach 25. Dieses Anwesen wird erstmals 1431
1042
Oskar Freiherr von Mitis, geb. 01.06.1874 in Wien, gest. 22.08.1955 in Kitzbühel
Professor Theo Kölzer, Universität Bonn, fand in seiner 20-jährigen Forschungsarbeit heraus, dass bis zu 15% der Urkunden
des 12. und 13. Jahrhunderts als Fälschungen anzusehen sind, wenn es um Besitzschenkungen, Sonderrechte oder einem Kloster
verliehene Rechtstitel geht. Sogar zwei Drittel aller angeblich aus der Merowinger-Zeit (5. bis 7. Jahrhundert) stammenden Urkunden seien nicht echt. Quelle: Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf, 18.01.2002
1044
Bereits gegen 1133 dürften die ersten Mönche das Gründungsterrain erkundet haben. Ihnen folgte der spätere erste Abt Gottschalk mit der eigentlichen Gründungskolonie von 12 Mönchen. (Watzel, Hermann: „Das Stift Heiligenkreuz“, 1967
1045
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1046
Inhalt: Reginmar, Bischof von Passau, beurkundet, er habe auf Bitten des Markgrafen Leopold, seiner Gemahlin Agnes und
ihrer Söhne Adalbert, Leopold, Heinrich und Ernest dem Abbte Gotschalch und dem Convente der Abbtei heiligen Kreuz den bischöflichen Zehent von ihrem gesammten gegenwärtig betriebenen Eigenbau sowohl, als auch von allen in Zukunft urbar zu machenden Neureuten erlassen, nachdem er als Ersatz für seine Kirche dafür von dem Markgrafen zwei Mansen zu Aland und Meierling erhalten habe. Lateinischer Volltext: „In nomine sancte et indiuidue trinitatis. Quia caritatis compassio et debita pastoralis
officii sollicitudo exigunt, necessarium esse tam presenti quam future utilitati et quieti fratrum nostrorum uirorum religiosorum in
cenobiis fideliter deo et sanctis eius seruientium prospicere, ego Regenmarvs humilis sancte patauiensis ecclesie minister per huius nostre institutionis paginam dilectioni omnium tam futurorum quam presentium notifico, qualiter dilectione et religione uenerabilis fratris nostri Gothescalchi abbatis cenobii sancte crucis nec non fratrum suorum sub eo in uinea Christi pro fructu eterne
uite percipiendo laborantium instinctus, nec non humili strenuissimi marchionis Lv\opaldi petitione, atque uenerande et nobilissime marchionisse consortis thori sui Agnetis filie Henrici imperatoris interuentu, insuper precibus filiorum eorum scilicet Adalberti, Lv\opaldi, Heynrici, Ernesti exoratus, omnem decimationem culture predicti uenerandi abbatis et fratrum suorum, insuper
omnium noualium, que in presenti possident et deo annuente in futuro nouare debent, legitima et canonica transmutatione facta,
scilicet datis duobus mansis in concambio a predicto marchione in duobus pagis sitis Hadeleth et murlingen, et a me cum omni
deuotione acceptis, consensu cleri et populi nostri potenti manu delegauerim cenobio sancte crucis. Et ut hec delegatio rata, firma,
stabilis et inconuulsa permaneat in omni posteritate, propria manu subscripsi, et impressione sigilli mei feci confîrmari et corroberari. Huius rei testes sunt Comes Chonradus de pilstein, Otto, Chadolt, Sterfrit, Cho\vnradus, Poto, Isinrich,Gv\onthere, Rv\odolf,
Rapoto. Facta autem hec sunt anno ab incarnatione domini M.0 C.0 XXX VI.0 indictione uero XIIIIa anno regni domni Lotharii
VIII.0 imperii uero III0 Ordinationis autem uenerabilis Regenmari sancte patauiensis ecclesie pontificis XV..” Quelle Volltext:
Johann Nepomuk Weis, Urkunden des Cistercienser-Stiftes Heiligenkreuz im Wiener Walde (=FRA II/11, Wien 1856) 3
1043
175
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
im Urbar des Stiftes Heiligenkreuz erwähnt. 1683 wird der Hof von den Türken niedergebrannt und die Familie des
Inhabers, Jakob Strüchler, getötet. 17 Jahre lang liegt der Steinbauer öde, bis er im Jahre 1700 von Andreas Sulzer erworben wird. 1716 verkauft er das Anwesen an Philipp Schöckl. Aus dem Besitz der Familie geht der Hof 1853 an
Georg Freiherr von Sina und 1871 weiter an Anastasia Gräfin von Wimpfen. 1893 ist der Hof vom Waldaufseher
Schmidt bewohnt. Der Steinbauer hatte bis 1848 die Pflicht, den Getreidezehnt von Waitzbaum, Rabenthal, Schanzenstein, am Schober, von Gutental und Zobel in den Pfarrstadel von Alland abzuführen1048. Zusammen mit dem Wimbauern und dem Höflingshaus in Alland war der Steinbauer der größte Pfarrhof der Reichs- bzw. Babenbergerpfarre
Alland.
Trotz des nun vom Passauer Bischof bestätigten Vergleiches – Frieden herrschte – von „oben“ verordnet zwischen Alland und Heiligenkreuz erst ab 1253, als Herzogin Gertrud von Babenberg das Allander Patronats- und
Präsentationsrecht über Kirche und Pfarre gegen den heftigen Widerstand des Passauer Buschofes den Heiligenkreuzer schenkte, was noch 1311 bestätigt wurde. 1386 wurde die Pfarre durch Papst Urban VI. dem Kloster Heiligenkreuz inkorporiert1049, was am 17. März 1380 Bischof Albert von Passau per Handschreiben auch akzeptiert1050.
Um 1196 nennt Bischof Wolfker von Passau in einer Urkunde vielleicht den letzten Herrn von Murlingen: ein
Bernhardus bezeugt die Exemtion der von Frau Adelheid erbauten Kirche zu Sparbach von der Allander Mutterpfarre1051. 1272 verkauft Albert, Sohn Dietrichs unter dem Stein, mit Zustimmung der Familie sein Eigen – den „Steinhof“
– an das Zisterzienserstift. Die Zisterzienser wiederum verpachten „Mawrling pei der Swechent“ für Zins und Ackerbauzehnt, 38 Michaelispfenning pro Jahr, ab 11. November 1392 an die Brüder Niklas der Wedel und Lienhart Wedel1052. Dank dem Pachtvertrag kennen wir nun auch weitere Bürger Mayerlings: die Bauern Fischer und Friedrich, die
1047
Pfarrchronik Maria Raisenmarkt, Eintrag 1956
Predigt Pater Hermann Watzel O.Cist vom 06.01.1956
1049
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1050
Dorffner, Erich und Christel, „Allerhand über Alland“, hrsg. von der Großgemeinde Alland 1989
1051
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002. Urkundeninhalt: Wolfker, Bischof von
Passau, beurkundet die Exemtion der zu Sparbach von der Frau Adelheid erbauten Kirche von der Mutterpfarre zu Aland.
Lateinischer Volltext: „In nomine sancte et individue trinitatis. Ego Wolffkerus dei gratia Pataviensis episcopus, quum nostri est
officii, affectum bonarum intentionum effectui mancipare et radicem iniquitatis funditus exstirpare, omnibus christi fidelibus tam
presentibus quam futuris clarescere cupimus, qualiter quedam venerabilis matrona Adelheidis nomine capellam quandam in
predio suo fundatam pro remedio anime sue ab omni iure et patrocinio parochie in Aleth perpetualiter liberavit, eo, quod eadem
capella in territorio ipsius sita multas controversias a plebanis pretaxate parochie sepius pertulerit, excepto etiam christianitatis
concilio canonice celebrato, et si forte coloni predicte domine decimas domino debitas dare neglexerint, idem plebanus iure
canonico illos dare compellat. Cum ergo quelibet ecclesia de ratione sua iura tueri teneatur, predicta christi ancilla divina inspiratione commonita beneficium in Wizenbach, quod possidet quidam Albertus colonus et iusta pensione solvit L. denarios annuatim,
supra altare sancti Georgii in Aleht cum conniventia nostra et de voluntate domini ducis Friderici, in cuius ducatu sita est capella,
et consentiente plebano nomine Hugone, collecta manu hereditario iure contradidit, hoc videlicet pacto, ut capella sua in
Sparwarbach ab omni iure et [30] patronatu prefate parochie legitime exempta potestatem baptizandi et sepeliendi mortuos de
omni familia in villa predicta collocata liberam absque omni contradictione presentis plebani et omnium successorum suorum in
perpetuum possideat. Huius rei testes sunt Pilgrimus decanus in Wienn, magister Heinricus, Heinricus capellanus episcopi de
Wartperch, Gotfridus capellanus, Rihkerus de Wesen et frater suus, Chunradus de pruhle, Manegoldus de Sconenpuhle, Ernestus
camerarius episcopi, Bernhardus de Murlingen, in quorum presentia hec stabilita sunt, et de familia domini ducis Pertoldus de
Arensteine et fratres sui Otto et Albertus et Chunradus, Rutpertus de Wildekke, Rapoto de Tribanswinchil et frater suus.“ Quelle
Volltext: Johann Nepomuk Weis, Urkunden des Cistercienser-Stiftes Heiligenkreuz im Wiener Walde (=FRA II/11, Wien 1856)
29-30 (Aus einer Abschrift, sec. XVIII, nachdem das Original im Jahre 1736 abhanden gekommen ist.)
1052
Fontes Rerum Austriacarum XVI, Nr. 326. Inhalt: Grunddienst- und Zehent-Revers der Gebrüder Nikolaus und Leonhard
Wedel auf die Abtei Heiligenkreuz über verschiedene Grundstücke zu Maierling an der Schwechat. Volltext: Ich Niclas der Wedel
vnd ich Lienhart Wedel, sein pruder vnd alle vnser erben Vergehen vnd tun offenlich mit dem brief allen lewten, gegenwürtigen
vnd künftigen, daz die erbern geistlichen herrn Prüder Cholman, die zeit Abt vnd der Conuent gemain des Chloster ze dem Heiligenchrawtz vns recht vnd redlich lazzen habent irs rechten freyn aygens ze rechtem Purchrecht ir Grünt, die hernach an dem brif
geschriben sind, vnd die alle gelegen sind ze Mawrling pei der Swechent. Des ersten habent Si vns lazzen ain gerawt, darnach ain
Jeuch aker, die ist gelegen pei des vischern wisen, vnd awer ain Jeuch aker, die ist gelegen pei Fridreichs des pawern aker, vnd ain
1048
176
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
eigenes Land an der Schwechat besitzen dürfen. Das Gut in Mayerling dürfte um diese Zeit bereits durch Erbteilung
zerschlagen gewesen sein, denn schon 1378 hatte Lorenz der Hutter seinen Anteil – den Berg zwischen Mayerling und
Alland „der do heizzet der Chirchperkch“ – samt seiner Untertanen an die Brüder Wedel verkauft1053.
Der Besitz der Gebrüder Wedel wird in den Lehensbüchern der österreichischen Herzöge im 15. Jahrhundert
als „Hof im Tal“ bezeichnet. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist er in der Hand der Wisinger. 1455 wurde ein
gewisser Friedrich Bischof von Kaiser Friedrich III. damit belehnt. Als Seelgerätsstiftung des neuen Herrn kam der
Hof 1479 an das Benediktinerkloster Mariazell1054.
Dass am 15. Mai 1276 Otto von Arnstein stirbt, hätte heute kaum geschichtliche Bedeutung, hätte er nicht auf
dem Totenbett das Haus Mayerling 9 mit Zins und Rente der alten Mühle den Heiligenkreuzer Mönchen als Meßstiftung vermacht1055 und so ein weiteres Zeugnis zur Geschichte des Ortes abgelegt. 1294 erscheinen ein Hof und eine
Mühle beim Steinhof in „Mewerling“ als stiftliches Eigentum im Heiligenkreuzer Gültenverzeichnis1056. Zum Wohle
der Mönche musste der Mühlenhof acht Hühner, sieben Käse, 30 Eier und eine Gans zu den jährlichen Kirchenfesten
Ostern, Weihnacht, Pfingsten und Fasten, den Zisterziensern abtreten. Neun Schilling Bargeld am Michaelistag kamen
noch hinzu1057.
1388 sitz auf diesem Hof ein Bidel Fullo, ein Tuchmacher, der dort auch eine kleine Tuchmühle betreibt. Ihm
folgen als Besitzer Andre (1431) und später Michael und Sigmund Vogel. Zu dieser Zeit sprechen die Bauern der
Umgebung von der Mayerlinger Mühle als Mühle „an der Bruckh“ – also „an der Brücke“ -, um 1580 von der
„Speichmühle“ und 1650, nach dem neuen Besitzer Michel Schwab, von der „Schwabmühle“. Um 1700 – Mayerling
besteht in dieser Zeit aus zehn Häusern – kauft das Anwesen Hans Georg Fleischmann, dessen Familie bis 1853 als
Eigentümer verbürgt ist. 1848 jedoch wird das Klostergut, das auch den Getreidezehnt von Greith, Feichtenbühel,
Obermaierhof, Rohrbach und Raisenmarkt abzuführen hatte1058, aus dem Besitz des Stiftes Heiligenkreuz gestrichen.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es zwölf Häuser mit 115 Bewohnern in Mayerling. Neben dieser Mühle wird es im Bereich
halb Jeuch aker vnd ain chlaines wisel vnd nicht mer. Die vorgenant ir Grünt habent sie vns lazzen vnd allen vnsern erben mit der
beschaidenhait, daz wir in oder wer dieselben Grünt nach vns inne hat, alle iar an sand Michels tag douon reichen vnd dienen sulln
irn Chamrer den dienst, der hernach an dem brief benant ist. Des ersten sullen wir in dienen von dem Gerawtt zwen vnd dreizzich
phenning, vnd von den vorgenanten zwain Jeuch aker vier phenning, von der halben Jeuch aker vnd von dem chlainen wislein
zwen phenning vnd nicht mer. Vnd wann wir in den egenanten dienst auf sand Michels tag nicht dienen, so süllen wir in veruallen
sein zwispild an alle vrag vnd vrtail. Wir sollen in auch den zehent geben von allem dem, daz wir auf den obgenanten Gerawtt erpawen, sein sei vil oder wenig vnd wie daz gehaizzen vnd genant ist. Wir mügen auch die obgenante Grünt mit dem dienst, der
darauf gesatzt ist, versetzen vnd verchauffen vnd allen vnsern frumen domit schaffen, wie vns daz allerpest geuellet vnd fueglich
ist, an alle irrung vnd wider red. Vnd des ze einem vrchund geben wir den vorgenanten geistlichen herren ze dem Heiligenchrawtz
den brief, versigelt mit meinem vorgenantes Niclasen des Wedel anhangunden insigel, vnd wann ich vorgenanter Lienhart der
wedel nicht aigen insigel han, darumb hab ich gepeten den erbern vnd beschaiden Albern von Wildekk, daz er der sach getzewg
ist mit seinem anhangunden insigeln, im an schaden, vnder den vorgenanten zwain insigeln verpind ich mich egenanter Lienhart
[385] der Wedel mit meinen trewen alles daz stet haben vnd ze laisten, daz oben an dem brief begriffen vnd benant ist. Der brief
ist geben nach Christi gepürd drewtzehen hundert iar darnach in dem zwai vnd Newntzigistem iar, an sand Mertten tag.“ Quelle
Volltext: Johann Nepomuk Weis, Urkunden des Cistercienser-Stiftes Heiligenkreuz im Wiener Walde (=FRA II/16, Wien 1859)
384-385
1053
Wahrscheinlich führte in der Römerzeit bereits ein Ost-West-Weg von Baden entlang der Schwechat in die Gegend von St.
Pölten an Mayerling vorbei. Obwohl Bodenfunde aus dieser Zeit bislang fehlen, deutet das spätere Kirchenpatrozinium des Heiligen Laurentius jedoch auf eine frühe Besiedelung hin
1053
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1054
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1055
Pfarrchronik Maria Raisenmarkt, Eintrag 1956
1056
heute wohl Mayerling Nr. 9
1057
B. Gesell, Gültenbuch des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, S. 27
1058
Predigt Pater Hermann Watzel O.Cist vom 06.01.1956
177
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Mayerling noch weitere Mühlen gegeben haben: die 1297 von Wiehard von Arnstein an Heiligenkreuz verpfändete
und 1454 wieder ausgelöste Mittermühle (Untermeierhof 9) und die Schatz- oder Gritschmühle (Untermeierhof 8).
Die nächsten Mühle war in Raisenmarkt 14 (seit 1431 Höllmühle) und die nicht näher zu lokalisierende Moosmühle
(1629 entstanden)1059.
Mit Datum vom 30. Dezember 1550 kaufen die Heiligenkreuzer Zisterzienser dem Nachbarkloster Mariazell
den freien Wirtschaftshof, den nun Erhart Sunnleutner bewirtschaftet, weite Flächen des einstigen Herrensitzes des
Ozo von Murlingen, ab. Hier steht heute das „untere“ Kloster. Oberhalb wurde bereits 1412 ein Wirtschaftshof samt
Kapelle errichtet. Aus dieser kleinen christlichen Enklave entwickelt sich schnell eine bekannte bäuerliche Wallfahrtskirche, wie wir im folgenden Kapitel ausführen können.
1059
Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002
178
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
3.
Die Geschichte der Laurentius-Wallfahrt
„Ecclesia haec aedificata ab Abbate
Monasterii Crucis Alberto ann 1412 in honorem
S: Laurentii, ab Andrea Episcopo
Passaviensi dicata.”
Text auf einem Pergament
aus der Turmknopf der Laurentius-Kirche
1825 geschrieben, 1889 wiederentdeckt
Nachdem die Zisterzienser in heiligenkreuz eine beeindruckende Klosteranlage errichtet hatten, schufen sie
auch nach und nach für die Bevölkerung Gotteshäuser. So in Siegenfeld und in Mayerling1060. Im Jahr 1412 ließ Abt
Albert von Heiligenkreuz1061 auf einer Hügelstufe auf dem Erbteil des auf Ozo von Murlingen eine Kapelle und ein
schlichtes Granarium errichten, das den Zisterziensern als Wirtschaftshof dient. Noch im selben Jahr, am 25. Juli 1412
– dem Sonntag nach Jakobi – wurde das Gotteshaus von Andreas, dem Suffragan des Bischofs von Passau, dem Abtpatron Laurentius geweiht1062. Laurentius war ein römischer Märtyrer-Diakon, der im Jahr 258 in Rom auf einem glühenden Rost hingerichtet wurde1063.
Unter Umständen stand an gleicher Stelle bereits zu dieser Zeit eine kleine Andacht oder Kapelle, denn in einer Verkaufsurkunde vom 6. März 1378 wird bereits in Mayerling eine Gemarkung als „Chirichperkch“ (Kirchberg/heute: Kirchenfeld) bezeichnet1064. 1477 brennen die Ungarn unter König Matthias Corvinius beim Sturm auf
Wien wahrscheinlich die Kirche nieder – oder aber sie fällt einem anderen Unglückfall zum Opfer, denn eine Benützung ist lange nicht nachweisbar. Erst Abt Bernhard Medrizer1065 errichtet in Mayerling ein neues Gotteshaus, das am
15. September 1515 von Bernhardus, einem Mitarbeiter des Passauer Fürstbischofs Wiglafs, eingeweiht wurde1066. Im
Herbst 1529 stürmen Sultan Süleymanns1067 türkische Heere beim Marsch auf Wien Kirche erneut – das Gotteshaus
und die Gehöfte in Mayerling brannten bis aus die Grundmauern nieder.
1060
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
Albert von Heiligenkreuz (1402-1414)
1062
Ingrim, Fritz. Zitiert nach unbenannter Quelle.
1063
Laurentius/Laurenz, Sterbedatum: 10. August 258; Erzdiakon der Kirche Roms; von Kaiser Valerian auf einem glühenden
Rost hingerichtet da er statt die geforderten Kirchenschätze an den römischen Kaiser zu geben diese unter den Armen verteilte;
über seinem Grab wurde die Basilika S. Lorenzo fuori le mura errichtet, eine der sieben Hauptkirchen Roms
1064
Urbar 1431, S. 98, Anm. 1
1065
Abt Bernhard Medrizer (1516-1519)
1066
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1067
auch: Soliman II. genannt
1061
179
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Erst als das Heiligenkreuzer Kloster wirtschaftlich wieder dazu in der Lage war wird mit dem neuerlichen Aufbau einer neuen Kirche in Mayerling unter Abt Michael II. Schnabel begonnen, der 1643 beendet ist. Der Abt beauftragt drei Heiligenkreuzer Mönche und den Waldschaffer Pater Edmund Flöhel1068 mit dem Wiederaufbau1069. Die
Wohltäter des Kirchenneubaus sind namentlich bekannt, unter ihnen auch der Abt von Pannonhalma, Mathias Palffy,
der Kapellmeister des Erzherzog Leopold, Hyacinthus Kornathy, und Richard Mild, Maurermeister aus St. Pölten, der
die Kapelle „für einen geringen Lohn“ errichtete. Für den Unterhalt des Gotteshauses gab Abt Michael II. 1647 einen
Weingarten in Kaltenberg bei Baden1070.
1640 war der er Wiener Kaufmann Tonolino, Namen und Herkunft nach ein Italiener, zur Erholung nach Mayerling gekommen und geheilt heimgereist1071. Er stiftete das Steinrelief der Armen Seelen im Fegefeuer, das heute
noch innerhalb der Klostermauern erhalten sein soll und 1889 an der Rückwand des im spanischen Stil errichteten Kolumbariums angebracht wurde1072. Mit der Heilung des Kaufmanns dürfte die Wallfahrt in Mayerling begonnen haben
und das Gotteshaus fand immer mehr Geldgeber. Der Rektor der Universität von Wien, Bernhard Holler und seine
Freunde Hans Suttinger von Thurnhof und Leonhard Denckl schenkte der Kirche 1647 einen silbernen Kelch mit Patene, der Neuhäuser Richter Johannes Gritsch stiftete ein neues Missale und der Hof- und Grundschreiber von Heiligenkreuz, Jacob Weinrieder, spendete ein kleines Glöckchen1073. Da die heimischen Bauern ihre Anbauflächen weit
bis an die Kapelle gelegt hatten, erhielten sie im Auftrag des Abtes Ausweichflächen und das Areal um die Kirche
konnte als neuer Anger ausgewiesen werden. Eine neuerliche Erweiterung folgte 1653.
1648 wurde in Mayerling, um das sich seit dem 8. Januar 1646 der Waldschaffer Pater Johannes Jurman1074 als
Nachfolger Flöhels zu sorgen hatte1075, ein neuer „Freythof und Gottes Acker“ angelegt und am 20. Juli 1649 fertiggestellt. Am 16. Mai 1648 wurde schließlich aus Spendengeldern eine Sakristei angebaut und am 16. Juni 1648 eine
Glocke „zu Ehren „Unserer Lieben Frau und Himmelskönigin Maria“ geweiht. 1650 und 1651 wird durch Abt Michael III. unter Leitung von Pater Jurmann eine Seitenkapelle angebaut, in der unter großem Interesse am 11. August ein
Marienaltar geweiht wird – Mayerling war ja bereits zum Wallfahrtsort geworden. Zudem wird 1552 die flache Holzdecke der Kirche abgetragen und stattdessen ein Gewölbe mit Fenstern errichtet. Wurde erst 1650 aus Opfer- und Kirchengeldern ein dritter Weingarten erworben, so war es 1652 bereits der vierte.
Ähnlich wie bei den Gottesdiensten in Schwarzensee dürften in Mayerling, für Wallfahrer „strategisch“ günstig
am Rande des Pilgerweges „via sacra“ von Wien nach Mariazell gelegen, berittene Freibauern bis in 17. Jahrhundert
hinein eiserne Tierfiguren geopfert haben. Opfertag war das Laurentiusfest am 10. August. An diesem Tag sowie am
ersten Sonntag nach dem 2. Juli, dem Tag der Kirchenweihe, zog eine Prozession von Alland aus nach Mayerling.
Und zu Ehren des hl. Rochus pilgerten am jedem 17. August die Holzhauer aus Klausenleopoldsdorf in einer Votivprozession nach Mayerling1076.
1068
Flöhel, Pater Edmund, geb. 1605 in Trumau, gest. März 1648 in Heiligenkreuz; 20.08.1631 Profeß, 1635 Primiz, vom
06.01.1640 bis 09.01.1646 Waldschaffer und Provisor in Mayerling (nach Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002)
1069
Watzl, Florian: „Die Zisterzienser von Heiligenkreuz“, Graz 1898
1070
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1071
Ilg, Dr. Albert: „Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereins zu Wien“, Jg. XXV
1072
Ilg, Dr. Albert: „Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereins zu Wien“, Jg. XXV
1073
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1074
Jurmann, Pater Johannes, gest. 28.04.1658
1075
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1076
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
180
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
1656 wurde schließlich in der nördlichen Kapellenseite ein Seitenaltar zu Ehren der 1654 durch Pater Johannes
Jurmann und den Stiftskämmerer Pater Franz Eiserer gegründeten Bruderschaft1077 zu den Pestheiligen Rochus und
Sebastian1078 geweiht. Die Statuen der Pestheiligen fanden einen Platz zu beiden Seiten des Hochaltares. 1656 Jahr erhielt die Kirche einen steinernen Turm, am 9. August zwei Glocken, neue Paramente und Kelche sowie im Garten ein
eingeschossiges Heiliges Grab1079. Galt die Kirche zu Mayerling bislang als Filialkirche der Allander Pfarrer, setzte
Heiligenkreuz dort die Provisoren ein, die den Gottesdienst in der Laurentius-Kirche versahen, am Ort leben konnten
und die Leitung der Rochus- und Sebastian-Bruderschaft übernahmen. Für 1667 ist ein weiterer Weiheakt im Gotteshaus bezeugt1080. Mit Pater Edmund Flöhel sind von 1640 bis 1776 insgesamt 17 Provisoren namentlich bekannt1081.
Die Pestwelle von 1679 verschonte weder Graz noch Wien. In Heiligenkreuz und Mayerling machte der
Schwarze Tod jedoch nicht Halt, was Abt Clemens Schäffer auf sein Gelübde zurückführte. 1681 löste er dieses ein:
er ließ die Kirche in Mayerling abtragen und errichtete in zweijähriger Bauzeit für 5.839 Gulden, 34 Kreuzer und 2
Pfennigen an gleicher Stelle eine größere Kirche1082: das neue Gotteshaus mit zwei Seitenkapellen zu Ehren der seligen Jungfrau Maria und der Heiligen Rochus und Sebastian. Das Gebäude hatte eine Breite von rund 28 Metern zum
Garten hin, der westliche Anbau war 8 Meter breit. 15 Fenster öffneten den Blick ins Tal der Schwechat1083. Für die
Innenausmahlung war der Laienbruder Frater Stephan Molitor1084 verantwortlich, den figuralen Schmuck1085 erstellte
Bildhauer Benedikt Sondermayr und das Hochaltarbild sowie die beiden Seitenaltäre malte der Wiener Künstler Franz
Blumb. Am 15. September 1681 wurden im Knauf des Kirchturmkreuzes die Memoriale für die Nachwelt eingeschlossen: u.a. ein Kreuz aus Spanien und Reliquien der Märtyrer Paulinus, Olympus, Julianus, Antonius, Crescentius,
Vitus, Innocentius sowie ein heiliges Wachstäfelchen aus Flandern1086.
Zudem stockte der Bauabt das Granarium als Herrenhaus um eine Etage auf und baute es, barockisiert, zur
Mönchsherberge um. Dort war auch der Amtssitz des Waldschaffers der hinteren stiftlichen Waldungen untergebracht1087.
1683 standen sich vor Wien erneut Kreuz und Halbmond gegenüber. Am 14. Juli wurden Kirche und Wirtschaftshaus während dieser zweiten Türkenbelagerung unter Kara Mustafa erneut zerstört. Provisor Alberik Höffner
berichtet, der Turm samt Glocken sei eingestürzt und eine umgefallene Giebelmauer habe das Gewölbe durchschlagen, Hoch- und Seitenaltäre seien zertrümmert und die Kirchengeräte – darunter zwei silberne Kelche und 11 Kapseln
– geraubt worden. 70 Menschen wurden in Mayerling und Umgebung getötet und nur das Heilige Grab Christi blieb
von den Osmanen verschont1088.
1077
Unter Kaiser Josef II. (1741-1790) wurde die Bruderschaft mit Dekret vom 09.08.1783 verboten und aufgehoben.
Heiliger Sebastian, römischer Tribun der Garde, unter Kaiser Diokletian als Christ zum Tode verurteilt; wurde von Pfeilen
durchbohrt, geheilt und dann mit Keulen getötet. Märtyrer; über seinem Grab steht eine der sieben Hauptkirchen Roms
1079
Watzl, Florian: „Die Zisterzienser von Heiligenkreuz“, Graz 1898
1080
Watzl, P. Hermann, „Freie bäuerliche Eigen zwischen Schwechat und Triesting – Eine heimatkundliche Studie“ (verm. Veröffentlicht in SANCTA CRUX, o.D.)
1081
erwähnt bei Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1082
Stiftarchiv Heiligenkreuz, Rubrik 22, Faszikel VIII
1083
Nachlass Judtmann, Privatbesitz.
1084
Molitor, Frater Stephan, geb. 29.11.1642 in Schlüchtern/Deutschland, gest. 12.12.1695 in Wien
1085
Holzfiguren des Benedikt und Clemens, zwei sitzende nackte Engel, zahlreiche Engelsköpfe und Zierrat aus Lindenholz, zwei
Seitenaltäre und zwei geschnitzte Bilderrahmen
1086
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1087
Lechner, Dr. Karl (Hrsg.): „Handbuch der Historischen Stätten Österreichs – Donauländer und Burgenland“, Alfred Körner
Verlag, Stuttgart 1985
1088
Corona Abbatum S. Crucis sub seaculo decimo septimo; Manuskript im Archiv des Stiftes Heiligenkreuz.
1078
181
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Von 1685 bis 1689 wird die Kirche unter Provisor Alberich Höffner, der 22 Jahre lang das Gotteshaus betreut,
teilweise wieder errichtet. Auch „Bau-Abt“ Clemens nimmt sich 1692 der Kirche an, lässt mit 1.000 Ziegeln das noch
nicht gerichtete Kirchengewölbe herstellen und auswendig mit Stuck verzieren. 1712 lässt Abt Gerhard Weichselberger1089 einen neuen Turm bauen und stattet die Kirche mit einem vergoldeten Hauptaltar sowie zwei Seitenaltären
aus1090, die jedoch erst am 8. Juli 1725 vom Passauer Bischof, Joseph Dominikus Fürst von Lamberg geweiht werden.
1730 lässt Abt Robert Leeb die Wallfahrtskirche erneut renovieren und erweitert 1732/1733 die Heilig-Grab
Kapelle1091 und errichtet einen neuen Hochaltar mit einem mächtigen Säulenaufbau vor vier korinthischen Säulen und
seitlich je einer Nische. Da nun von einer „turrus major“ die Rede ist, könnte die Kirche in Mayerling zu diesem Zeitpunkt auch zwei Kirchtürme besessen haben1092. Zu dieser Zeit dokumentiert das Archiv des Stiftes Heiligenkreuz in
Mayerling für den 18. Jänner 1785 die Geburt von Ambros Schöny, der als Pater am 7. November 1848 stirbt. Für viele Jahre scheint Mayerling danach nicht mehr in den Annalen auf …
Erst 1825 wird unter Abt Xaver Seidemann die Kirche – nach Auflösung der Bruderschaft war ihre Stellung in
der Gesellschaft stark geschwächt und gleichzeitig konnte die Natur dem Bauwerk ihren Tribut abtrotzen – erneut
hergerichtet1093. 1848 lässt Abt Heinrich Grünbeck1094 die Wallfahrtskirche renovieren, am 3. Mai 1851 werden neue
Glocken geweiht. Dies waren die letzten größeren Arbeiten an der traditionsreichen Wallfahrtskirche, bevor sie
1880/81 – ebenfalls von Abt Heinrich – noch einmal innen und außen renoviert wurde.
Das Gotteshaus war von einer hellen Mauer umschlossen und über eine Treppe vom Schlosshof und über eine
Treppe vis-a-vis dem Kirchenportal auch über einen Weg von den Bezirksstraße aus zugänglich. Mit den Umbauten
1886/87 wurde die Durchfahrt in den Innenhof des neuen Schlosses zwischen Kirchenmauer und einstigem Gasthof
durch ein zweiflügeliges Holztor verschlossen1095; links befand sich das Heilige Grab.
Am Tag nach Auffinden der Leiche des Kronprinzen wurde in der Laurentius-Kirche eine Seelenmesse für den
toten Kaisersohn gelesen, bei dem der spätere Pater Norbert Hofer1096 ministrierte. Mit dem Umbau des Jagdschlosses
1889 in einen Karmel erwarb das Kaiserhaus die noch im stiftlichen Besitz befindliche Laurentiuskirche samt Bauparzelle Nr. 5. Nach dem Ankauf am 25. Mai 1889 sollte die Kirche abgetragen werden. Die k.u.k. Generaldirektion der
Privat- und Familien-Fonde ersuchte zuvor den Abt von Heiligenkreuz, die Portatilien und geweihten Gegenstände zu
übernehmen.
Mehrere Steinfragmente1097 sowie einige Putten fanden den Weg ins Badener Rollett-Museum1098. Zwei der geschnitzten Kirchenbänke1099 aus dem Jahre 1683 wurden in die Pfarrkirche zu den heiligen Aposteln Philippus und Ja-
1089
Abt Gerhard Weichselberger, 1705-1728
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1091 Sancta Crux, Jg. 47/Nr. 104
1092
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1093
Diesen Umbau belegen jene Dokumente, die 1889 beim Abbruch der Kirche in der Kugel des Turmkreuzes gefunden wurden.
1094
Abt Heinrich Grünbeck, 1879-1902
1095
Dieses sogenannte „Südtor“ ist auch heute noch innerhalb der Klausur im Originalzustand vorhanden.
1096
Norbert Hofer (22.07.1874-21.02.1952), beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz, Grab 54
1097
Nach Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002, soll
die Steinsammlung der Begründer des Badener Museums, Alfred Rollett, selbst in Mayerling eingesammelt haben.
1098
Inventar des Museums Baden, 1930 aufgestellt von Dr. Kraupp: „Säulenfragment, Putto mit Geldsacks sowie Putto mit Delphin aus dem 18. Jahrhundert, Türkenkopf, 2 Steinwappen des Stiftes Heiligenkreuz mit einer Kartusche mit grotesker Maske am
unteren Abschluss und bekrönt mit einem Cherubskopf mit Infel und Krummstab, Wappen des Abtes Gerhard Weixelberger
(1707-1728), Steinkapitel“ (Rollettmuseum Baden, Stadtarchiv, Abt. TB Nr. 709)
1099
Kirchenstühle, Seitenwangen mit reich geschnitzten, kräftigen Akanthusranken; auf der Vorderseite achteckige Felder mit
Flammleisten; auf den Eckdocken Pinienzapfen in Akanthuskelchen; gute Arbeit um 1683.
1090
182
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
cobus nach Raisenmarkt übertragen, ebenso die Kanzel1100 von 1700 mit Schalldeckel, zwei Kreuze1101, zwei Marienbilder1102 und verschiedene Kanontafeln1103. Der „Heilige Geist“ vom Schalldeckel der Kanzel ging im Zweiten Weltkrieg verloren, die Bänke wurden 1992 auf Initiative von Pater Dr. Bernhard Vosicky restauriert und ins Kloster Heiligenkreuz übertragen. Erwähnenswert ist auch der noch um 1900 in einem Wiener Privathaushalt aufbewahrte Teil
eines Bildes, das mehrerer Heiligenkreuzer Priester stifteten, die aus dem pestinfizierten Stift nach Mayerling flüchteten und dort vom Tod verschont wurden. Das ganze Bild wurde bei einer Türkenverwüstung beschädigt und hing bis
zum Abbruch der Kirche hinter dem Hochaltar und wurde dann vom Prälaten von Heiligenkreuz verschenkt.
Zwei beim Abbruch im Turmknauf gefundene Pergamente von 1730 und 1825 geben zum einen über den Personenstand des Stiftes Heiligenkreuz Auskunft und verraten die Viktualienpreise der Zeit. Das 4,32 Meter hohen und
2,76 Meter breite, leicht beschädigte Hochaltarblatt von 1730, das die „Marter des hl. Laurentius“ zeigt, wird in das
Dormitorium des Heiligenkreuzer Stiftes überführt1104 – 1946 und 1948 folgen eine bemalte hölzerne Maria1105 und eine Christusfigur1106 sowie der Heiliger Sebastian1107. Die Holzfiguren des Heiligen Rochus1108 und des Heiligen Johannes Nepomuk1109 verbleiben zwar zunächst ebenso wie eine steinerne Halbfigur des Heiligen Laurentius1110 in der
Klausur des Karmels, werden jedoch später nach Heiligenkreuz gebracht und restauriert. Was aus dem kleineren oberen, das unbefleckte Empfängnis darstellende Altarbild, dem heiligen Geist in der Strahlensonne, sowie zwei wahrscheinlich den Heiligen Bernhard und den Heiligen Franziskus darstellende Mönchsfiguren vom Hauptaltar geschah,
ist unbekannt. Der barocke Tabernakel wurde in der Sakristei der Pfarrkirche von Alland aufgestellt1111.
Der gotische Schlussstein der Kirche von 1412 oder 1516 ging beim Abbruch verloren, das Steinrelief der armen Seelen im Fegefeuer verblieb ebenso wie der liegende Christus aus dem Heiligen Grab im Kolumbarium des
Karmel. Der ornamental gestaltete und geschnitzte Tisch des Rokkokohochaltars von 1730, gelangte als „Herz Jesu“Altar zunächst in die Kirche zu den heiligen Aposteln Philipp und Jakobus nach Maria Raisenmarkt und wurde am 18.
Februar 1974 als neuer Volksaltar der Filialkirche zum Heiligen Ägidius in Schwarzensee geweiht1112. Der Altarstein
indes verblieb in Mayerling und befindet sich jetzt im Kolumbarium der Schwestern1113, das im Spätherbst des Jahres
1890 vom Badener Dechanten geweiht wurde.
1100
Kanzel, sechseckig, Holt, marmoriert, mit appliziertem vergoldeten Bandwerk, an den Ecken schwarze, gewundene Säulchen
mit korinthischen Kapitälen, darüber hohe Gesimskröpfe; Schalldeckel ohne Bekrönung
1101
a) Vortragekreuz, Holz, polychrom; das Kreuz reich geschnitzt mit durchbrochen gearbeiteten, lose gebundenen Blumenkränzen; starker Holzwurmbefall, gute Arbeit aus dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts. b) Kruzifix, Korpus aus Birnholz, 60 cm,
auf schwarzem Kreuz, gute Arbeit, Ende des 17. Jahrhunderts
1102
a) Marienbild, Halbfigur mit Christus in altem geschnitzten Rahmen, 17. Jahrhundert, mit rückseitiger lateinischer Inschrift
(Geschenk des Wieners Sebastian Innocent Pichler) in der Größe 65 x 90 cm; b) Marienbild in reichgeschnitztem, vergoldeten Barockrahmen mit seitlichen Leuchterträgern, 62 x 90 cm
1103
Kanontafeln, geschnitzter Rahmen, weiß mit Gold, Mitte des 18. Jahrhunderts
1104
Dr. Ilg schätzt, dass es sich bei dem Bild um ein Werk von Rottmayr oder Altomonte handeln könne. Heute hängt das Bild im
gotischen Dormitorium des Stiftes Heiligenkreuz. Die „Kunsttopographie XI“ von 1924 hingegen weist das stark getrübte Bild als
„mittelmäßige Arbeit vom Anfang des 17. Jahrhunderts“ aus
1105
Madonna, Giovanni Giuliani, Holz, 177 cm, polychrom, Museum des Stiftes Heiligenkreuz
1106
Christusfigur (nach Dagobert Frey, Wien 1924, der Evangelist Johannes), Giovanni Giuliani, Holz, 177 cm, polychrom , Museum des Stiftes Heiligenkreuz
1107
Heiliger Sebastian, Giovanni Giuliani, Holz, 190 cm, polychrom, Museum des Stiftes Heiligenkreuz
1108
Heiliger Rochus, Giovanni Giuliani, Holz, 177 cm, polychrom, Museum des Stiftes Heiligenkreuz
1109
Heiliger Johannes von Nepomuk, schlichte Arbeit, 18. Jahrhundert, 122 cm
1110
steinerne Halbfigur des Heiligen Laurentius, gute Arbeit des 18. Jahrhunderts, wurde am Giebel im Klosterhof montiert.
1111
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1112
Pater Prior Beda Bernd Zilch an den Verfasser, Bochum o.D.
1113
Polzer, Wilhelm: „Licht über Mayerling“, Verlag Karinger, Graz 1954
183
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Die nach außen ganz formlose Laurentiuskirche war rund 27 Meter lang, besaß einen geraden Chorabschluss
und war mit den beiden Seitenschiffen fast 20 Meter breit. Ein säulengetragenes Vordach schützte das doppelflügelige
Portal, je drei oben abgerundete Ober- und Untergaden pro Seite gaben dem Schiff Licht. Der Chor hatte an der Hinterwand, oberhalb des Altares, ein halbrundes Fenster. Außen stützten pro Seite drei, bis zum Dach reichende Strebpfeiler die Kirche ab. An der Südseite war unorganisch eine Sakristei angebaut1114.
Bis zum Abbruch war im Inneren der Kirche auf einer riesigen, dreiteiligen Banderole über dem Triumphbogen
in verzierten Kartuschen auf Latein zu lesen, dass die Kirche 1862 von Abt Klemens neu errichtet (Mitte1115), 1683
zerstört (links1116) und 1692 renoviert (rechts1117) wurde1118. Das Presbyterium der Kirche hatte zwei Joch, die Wände
waren mit einfachen toskanischen Pilastern umstellt, auf deren Kapitälen doppelte verkröpfte Gesimse ruhten. Darüber
stiegen Kreuzgewölbe in gedrücktem Korbbogen auf, die jedoch ohne Stuck oder Dekoration auskamen.
Nach den tragischen Ereignissen von 1889 wurde die Laurentius-Kirche noch im gleichen Jahr abgetragen,
denn „es bestehen für ein Karmeliterkloster strenge Bauvorschriften, die einen Quadratbau vorsehen. Die Kirche mit
dem dahinterliegenden Betchor muss in der Mitte der Anlage liegen, während die Klosterzellen und die übrigen Räume, um zwei lange schmale Höfe gruppiert, seitlich anschließen sollen. Die Laurenzikirche war nicht in dieses Konzept einzufügen1119“. Der Pfarrer von Alland, Pater Rudolf Rath, notierte dazu im pfarrlichen Gedenkbuch, dass die
ganze Gegend über den Abbruch „bittere Wehmut empfand1120.“ Die Kirche in Mayerling war zwar kein großer, jedoch ein von der Bevölkerung sehr geschätzter Ort des Gebetes mit regelmäßigen Heiligen Messen und Messstiftungen.
Heute ist anhand der von Judtmann rekonstruierten Bauplänen des Schlosses und den von uns wiederentdeckten
Umbauplänen von 1889 deutlich zu erkennen, dass keine Notwendigkeit bestand, die traditionsreiche Kirche abzureißen; sie hätte ohne größere bauliche und räumliche Probleme als Wallfahrtskirche erhalten in das Gesamtkonzept eingebunden werden können – ebenso, wie es Feldbischof Dr. Anton Gruscha am 15. Februar 1889 in einem Schreiben
dem Kabinettdirektor Staatsrat Baron Braun vorgeschlagen hatte1121.
An Stelle der Kirche wurde in spanischem Stil ein 6,90 x 11 Meter großes Kolumbarium errichtet, in dem die
Schwestern ihre letzte Ruhestätte finden. Im Inneren gibt es links und rechts je vier Reihen mit jeweils sechs Mauernischen, in welche die Särge der Verstorbenen geschoben werden. Heute sind von 46 Nischen 40 belegt. Der Christus
aus dem Heiligen Grab wurde zunächst in den schlechten, gemauerten Altar mit vier kleinen Kreuzen integriert, ist jedoch heute nicht mehr dort. Rechts und links neben dem Altar hängen zwei Gedenktafeln mit den Namen der Schwestern des Konvents, die nicht in Mayerling bestattet wurden. Über dem Altar hängt das Bild eines auferstandenen
Christus, der von zwei Engeln flankiert wird. Als einziger Mann wurde 1941 dort der hausgeistliche Reinhold Winkler
beigesetzt1122.
1114
Ilg, Dr. Albert: „Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereins zu Wien“, Jg. XXV
Text: „DIVO LA VRENTIO EXTRUCTUM“
1116
Text: „TVRCA FRVSTRATO LABORE VIENNAM“
1117
Text: „CLEMENS SCHEFFER COENOBII SANCTAE CRUCIS ANTISTES QVI STRVXIT RESTAVRAVIT“
1118
Ilg, Dr. Albert: „Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereins zu Wien“, Jg. XXV
1119
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1120
Karmel Mayerling, Führer durch den Karmel, Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling nach 1948
1121
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1122
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1115
184
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
4.
Mayerling zur Zeit des Kronprinzen
„Beim (...) Wirtshaus theilen sich die Straßen,
die eine führt (...) an dem reizend gelegenen
Mayerling mit der großen Kirche (...)
vorüber in den freundlich grünen Thalkessel.“
Erzherzog Thronfolger Rudolf von Habsburg
„Die öst.-ung. Monarchie in Wort und Bild“
Wien, 1888
In der Mitte des 19. Jahrhunderts dürfte das Waldbauerndorf Mayerling mehr Infrastruktur gehabt haben als
heute, auch wenn man den „schindelgedeckten Bauernhäusern ... die Ärmlichkeit bei jeder Fensterluke1123“ ansah:
Neben der Wallfahrtskirche sind ein Dutzend ebenerdiger Häuser verbürgt, darunter oberhalb der Bezirksstraße von
Baden nach Alland, im Bereich der „mauerumgürteten Oberstadt1124“ im Kirchenfeld, das stiftliche „Wirtshaus Eipeldauer“ im Gebäude des ehemaligen Granarium samt dem vom Stiftswirt als Eiskeller genutzten barocken Pavillon und
einem von Kastanien und Linden beschatteten Schankgarten1125. Nördlicher steht das Haus des Heiligenkreuzer Stiftsförsters Knapp, in dem einige Fremdenzimmer für Pilger bereitstehen. Kleinere Gebäude – Gesindewohnungen und
Schuppen – grenzen den offenen Platz um die von Linden1126 umstandene Kirche gegen Osten ab. Dies belegt auch eine der ersten bekannten Fotografien Mayerlings. Zu dieser Zeit besteht der Ort, wie im Wienerwald nicht unüblich,
aus einzelnstehenden Gehöften und Häusern, welche zumeist von den zugehörigen Grundstücken umgeben sind1127.
Um 1830 sind die 115 Einwohner Mayerlings durchweg Waldbauern, die neben spärlichem Ackerbau vielfach
auch Holzhandel betreiben1128. Unter den 24 Familien, die in 14 Häusern leben, gibt es nur zwei Handwerker. Allerdings besitzt der Ort neben den bereits im Mittelalter erwähnten beiden Mahlmühle eine Brettsäge und, in Richtung
Untermeierhof, die sogenannte „Schatzmühle“ von 1452. Erst 1955 wurde ihr Mühlengraben zugeschüttet und eingeebnet. Grundherrschaft des Orts war das Stift Heiligenkreuz, landgerichtlich gehörte der Weiler diesseits der
Schwechat zu Weikersdorf, jenseits zu Fahrafeld, in Bezug auf Schule und Pfarre jedoch nach Alland1129. Zum Ver-
1123
Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913
Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913
1125
Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913
1126
Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913
1127
Grundbuche Wien, landstädtische Liegenschaften, Seite 389 (Nr. 94-105), Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv
1128
Schweickhardt, „Darstellung des Erzherzogtums Österreich unter der Enns“, Wien 1831
1129
Schweickhardt, „Darstellung des Erzherzogtums Österreich unter der Enns“, Wien 1831
1124
185
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gleich: In der Gemeinde Alland lebten 1869 2.082 Bürger, im Bezirk Baden 57.063, in Niederösterreich sind es
1.077.2261130.
An der Durchgangsstraße von Baden nach Alland stand das ebenerdige Einkehrgasthaus für Fuhrleute im Besitz
des Stiftes Heiligenkreuz, das an die Familie Gottwald verpachtet war. Das Haus mit der großen, grünen Flügeltür war
seit der Zeit Maria Theresias (1717-1780) eine Fahrpoststation mit Herberge – morgens um sechs erreichte Mayerling
der erste Postwagen Richtung Baden1131. Im Keller des Hauses gab es Schlafplätze für Kutscher und Fuhrleute und im
Gastraum durften Lebensmittel und Proviant verkauft werden. Auf dem Vorplatz standen stets Kutschen und Einspänner.
Hinter dem Haus lag, von einer Mauer umgeben, ein Gutsbesitz plus Villa mit Holzbalkonen und Veranda. Zu
dieser Villa gehörten ein Gärtnerwohnhaus, eine Scheune und ein Stall. Die Schwechat war in Mayerling Richtung
Raisenmarkt nach einigen Quellen über eine Brücke, nach anderen über eine Furt zu queren. Ein Reisender berichtet
zu dieser Zeit: „Von der berühmten Thermalstadt Baden durch das Helenental kommend, genießt man einen schönen
Blick in den lieblichen Talgrund, in dessen Mitte das alte Wienerwald-Bauerndörfchen Mayerling liegt.1132“ Hier an
der Schwechat soll sich auch eine primitive hölzerne Badehütte für die Damen des „Marienhofes“ gefunden haben –
die Herren badeten damals ganz einfach „zwischen Schilf und Rohr“1133.
Im Jahre 1880 besteht dieses Bauerndörfchen aus drei Häusergruppen: der „Oberstadt“ an der Kirche1134, jenen
rund um den Gutshof1135 und denen jenseits der Schwechat an der Säge1136. Der Wiener Kaufmann Michael Fischer
erwarb zu dieser Zeit den großen, aus dem 15. Jahrhundert stammenden stark abgewirtschafteten Wirtschaftshof an
der Durchgangsstraße1137. Der wohlhabende Fischer, Sohn des ersten Hofzuschroters aus Wien, hatte 1873 bei Börsenspekulationen zwar Geld verloren, doch versuchte er mit seinem Restkapital auf dem mächtigen Vierkanthof nahe der
Schwechat einen Neuanfang mit Frau, Sohn und Tochter.
Fischer modernisierte mit Maurern aus Wien und Zimmerleuten der Umgebung das gesamte Anwesen von
Grund auf1138, baute eine Rassegeflügelfarm, kaufte weitere Grundstücke auch jenseits der Schwechat sowie Vieh hinzu, besaß ein glückliches Händchen bei all diesen Investitionen und brachte den Hof samt Meierei wieder auf Vordermann. Das wachsende Anwesen zog Neugierige aus der ganzen Region an. Sie staunten nicht schlecht, wenn Fischer mit seinen russischen Kutschierpferden Moro und Regro ausfuhr, der Verwalter Fritsch die Kühe austrieb oder
die Heiligenkreuzer Patres zu Besuch auf dem gastfreundlichen Hof waren oder der vorbeifahrende Kronprinz den Besitzer freundlich grüßte. Vierzig Stück Tiroler Milchkühe sowie vier holländischen Kühe, ein schottischer Stier, Mut-
1130
Alland 1900: 2.285; Alland 2001: 2.415. Bezirk Baden 1900: 86.757; Bezirk Baden 2001: 127.020; Niederösterreich 1900:
1.310.499; Niederösterreich 2001: 1.549.658. Quelle: Statistik Austria
1131
Bei Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913
1132
Badrian, Rudolf: „Heimatkundliches aus Mayerling und Umgebung“, Mödlinger Nachrichten o.D.
1133
Bei Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913
1134
hier: das Wirthaus Eipeldauer, ein langgestreckter barocker Bau aus dem Jahre 1681 mit bastionsartig angelegtem Gastgarten
und Pavillon, das nördlicher stehende einstöckige Haus mit Fremdenzimmern für Pilger des Heiligenkreuzer Försters Knapp, die
Laurentius-Kirche mit Sakristei, im Osten kleinere Gesindehäuser, Scheunen.
1135
hier: Gasthaus Gottwald, Villa, Gärtnerwohnhaus, Stall, Scheune, Wirtschaftshof.
1136
hier: Holzsägewerk mit Wohnhaus, Gebäude des Reisselbauers.
1137
Fischer, Michael: „Wie Kronprinz Rudolf Mayerling erwarb“, in: Sonntagsbeilage des Neuen Wiener Tagblattes, 05.07.1925
1138
Waschkammer, Futterkammer, der Ochsen-, Pferde- und Kuhstall im Wirtschaftstrakt werden betoniert und erhalten eine
Wasserzuleitung; an der Einfahrt entsteht ein neues Tor; Tenne und Boden werden repariert und sämtliche Landmaschinen neu
angeschafft. Im Innenhof entsteht ein mächtiger, frei stehender Taubenschlag.
186
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
terschweine und ein Eber aus Yorkshire sowie Wirtschaftspferde und Ochsen fanden den Weg nach Mayerling1139.
Trotz der Größe des Anwesens musste Fischer jedoch ständig Heu und Hafer dazukaufen.
1884 zog es Michael Fischer wieder an die Wiener Börse und erneut verlor er sein Kapital. Zunächst versuchte
er, aus eigenen Kräften den Hof zu halten, musste dann jedoch einsehen, dass der Hof zu klein war, um die vielen Tiere zu erhalten und der Boden zu karg, um sie zu ernähren. Michael Fischer ließ den Hof in Mayerling durch eine Wiener Realitätenkanzlei verkaufen1140 und zog mit seiner Familie – verarmt und verschuldet – in ein Übergangsquartie,
ein altes Palais am Meidlinger Dreherpark1141. Ein letztes Mal begegnete der Sohn des alten Fischer, Michael jun.,
dem Kronprinzen 1889 wieder: als Einjährig-Freiwilliger-Patrouilleführer steht er am Albrechtsbrunnen Spalier, als
Rudolf zu Grabe getragen wird.
Den Hof kaufte der deutsche Reinhard Graf von Leiningen-Westerburg1142, der die „Perle des Wienerwaldes1143“ liebte. Nach zeitgenössischen Berichten sei die Gegend um den kleinen Weiler dank einer „Menge von Ruinen, zerfallenen Schlössern, verlassenen Einsiedlerhütten, verödeten Kirchen, niedergebrannten und nicht wieder aufgebauten Bauernhöfen Türkengräbern und alten Friedhöfen auf Felskuppen1144“ ein Idealer Platz für schwärmerische
Seelen. In Mayerling heiratete der Reichsgraf am 26. Juli 1885 in der Laurentius-Kirche Anna Stephanie Hermingilde
„Mina“ Pick, verwitwete Edle von Böhm, eine Soubrette des Badener Stadttheaters1145. Nach Konfidentenberichten im
Akt des Wiener Polizeipräsidenten Franz Freiherr von Kraus soll sie, eine „junge hübsche und fesche Jüdin“, Kronprinz Rudolf bei seiner Brautfahrt an den Brüsseler Hof begleitet haben.
Die Eheleute von Leiningen ließen sich in der Jagdzeit in Mayerling nieder und die Gräfin soll den Kronprinzen
stets mehr als freundlich gegrüßt haben, kam dieser am Hof vorbei. Seit Kronprinz Rudolf 1885 die Gemeindejagd in
Alland1146 gepachtet hatte1147, wohnte er dort meist mit seinen Gästen im „Gasthof zum goldenen Löwen“. In den Jahren zuvor logiert er bei Jagdausflügen jedoch auch im Forsthaus Nr. 14 an der Jägerkapelle1148 in der Kirchengasse,
einem Nebengebäude des ehemaligen Amtshauses. Gräfin Leiningen galt inoffiziell auch als einer der Gründe, die den
österreichischen Thronfolger so oft in das Jagdrevier bei Alland zog. Und so soll es oft zu pikanten Eifersuchtsszenen
zwischen dem Kronprinz und seiner Gattin, der Erzherzogin Stephanie, gekommen sein, wenn es auf gemeinsamen
Fahrten zu solchen Begegnungen mit der einstigen Freundin kam.
1139
Fischer, Michael: „Wie Kronprinz Rudolf Mayerling erwarb“, in: Sonntagsbeilage des Neuen Wiener Tagblattes, 05.07.1925
Trotz verkauf des Hofes erhält Fischer am 25.08.1886 weitere 11.264,29 Gulden; HHStA, GDPFF, 9/1 f5
1141
Fischer, Michael: „Wie Kronprinz Rudolf Mayerling erwarb“, in: Sonntagsbeilage des Neuen Wiener Tagblattes, 05.07.1925
1142
Leiningen-Westerburg, Reinhard August Friedrich Christian Graf von, geb. 18.03.1863, gest. 26.07.1929 in Garmisch. Vater:
Viktor August Graf von Leiningen-Westerburg (01.01.1812-18./19.02.1880/1890), Mutter: Marie Friedrike Caroline Ernestine
Henriette Gräfin von Leiningen Westerburg (geb. 30.09.1831, best. 04.04.1863). In 2. Ehe heiratete Graf Leiningen 1899 in Helgoland Klara/Clara Volk (geb. 12.01.1871/Massenhausen, gest. 24.07.1943/Garmisch). Beide Ehen lieben kinderlos. Der Graf
wurde auf dem Friedhof von Garmisch (Grabnummer I, 4,4, 10 und 11) beigesetzt, wo auch seine zweite Gattin ihre letzte Ruhe
fand. Das Grab war bis 1987 in Familien- bzw. Erbenbesitz und dann verkauft. Da keine Um- bzw. Neubestattung auf der Grabstelle erfolgte, ruht das Paar noch immer dort; freundliche Mitteilung von Magister Franz Wörndle, Marktarchiv GarmischPartenkirchen, 22.04.2003
1143
gemeint ist Mayerling; zitiert nach Planitz, Ernst Edler von, „Die volle Wahrheit“, 13. Auflage o.D.
1144
Planitz, Ernst Edler von, „Die volle Wahrheit“, 13. Auflage o.D.
1145
Pick, Anna Stephanie Hermingilde, geb. 02.03.1855. Die Soubrette und der Kalkulator und königlich-preußische Leutnant
a.D. ließen sich am 22. Juni 1895 scheiden.
1146
Alland erscheint erstmals in den Akten des Oberstjägeramtes um 1770 bei der Mitteilung eines Brandschadens (HHStA, OjäA,
Akten 1887-1888)
1147
Wien, HHStaA, Kabinettsarchiv 1889, Vortrag Nr. 85 vom 05.Mai 1889, zitiert im Nachlass Fritz Judtmann, HHStaA
1148
Nach Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002, wurde
die Jägerkapelle von dem kaiserlichen Jäger D. Paulus Danelli, gestorben 1720, errichtet.
1140
187
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Um diese „sexuelle Belästigung“ zu beenden, kaufte mit Vertrag vom 30. Juni 1886 die Kabinettskanzlei des Kaisers die Leiningen’sche Villa in Mayerling und zwei weitere Häuser1149, die noch im selben Jahr dem Stift zum
Tausch für Forsthaus, Gasthaus Eipeldauer, die Gartenkellnerei und ein Zinshaus angeboten wurden1150. Nur aus
Rücksicht dem Kaiserhaus gegenüber stimmten die Patres schweren Herzens dem Tausch zu1151. Zusätzlich erhielt
Heiligenkreuz als Wertausgleich noch 25.000 Gulden. Mit diesem geschickten Schachzug ist der Weg nach Alland
zunächst wieder „hindernisfrei“.
Bereits am 19./20. November 1887 wurde nach Umbauarbeiten unter der Leitung von Ferdinand Dehm1152 das
kronprinzliche Jagdschloss Mayerling eingeweiht. Der neu errichtete, sogenannte Dienertrakt schloss das Anwesen
nun nach Osten ab. Schon 1888 wurde in Mayerling ein zeitlich eingeschränkter Brief- und Fahrpostauf- und Abgabedienst als Ergänzung des Telegraphen eingerichtet1153, der sich seit dem 17. November 1887 im Parterre der Villa Leiningen befand. 1891 wurde dieses Haus jedoch abgebrochen.
Nicht nur Michael Fischer, Graf Leiningen und Kronprinz Rudolf mochten Mayerling. Auch Hugo Wolf1154,
Österreichs bekanntester Liederkomponist seit Franz Schubert, liebte den stillen, kleinen Ort. Erstmals zog es den begabten Windischgrazer Anfang der 80-er Jahre an die Schwechat. Der Wiener Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Joseph
Reitzes besaß in Mayerling einen kleinen, mit Wiesen und Waldbesitz an den Bauern Gritsch verpachteten Wirtschaftshof samt einstöckigem Wohnhaus oberhalb des Ortes, den „Milli-Nandl-Hof“. Nach einer in einer Nische des
vorderen Giebel stehenden bemalten hölzernen Marienstatue wurde er auch „Marienhof1155“ genannt. Von Mayerling
aus war der Hof nur über den steil aufsteigenden Preinsfelder Weg zu erreichen1156.
Eines der später zwei Fremdenzimmer im Parterre des hell gestrichenen, langgestreckten Wohnhauses mit
Jausenstation bewohnte ab Juni 1880 vier Sommer lang Hugo Wolf. Dort spielte er auf einem für die Sommermonate
in Baden geliehenem Klavier den Sommermietern, der Architektenfamilie Viktor Preyss und deren Schwägerin, „Tan1149
HHStA, GDPFF, 9/8: „Ankauf von Maierling und des Heiligenkreuzer Schlosses daselbst samt Expressnote des Hr. Herzfeld“, Wien 08.02.1887
1150
HHStaA Wien, OMaA 421 III/B zz 399/1889 f. 294-324
1151
Rückl, Peter, Diplomarbeit „Mayerling im Verlauf seiner Geschichte“, Wien 2002
1152
Dehm, Ferdinand, geb. 27.08.1846 in Wien, gest. 26.03.1923 in Wien, k.k. Baurat und Architekt; gründet 1873 mit Franz Olbricht eine gemeinsame Firma, die erfolgreich Baugrundstücke erwirbt und bebaut; 1880 Mitglied des Wiener Künstlerhauses,
1886-1895 als Liberaler im Gemeinderat Wien; 1887 stellv. Obmann der Rathaus-Kommission; Baurat und Oberkurator der Ersten Österreichischen Sparkasse; 1891 Franz-Josephs-Orden. Dehm errichtet über 100 Villen und Wohnhäuser in Wien und Umgebung. Die Firma „Ferdinand Dehm & Franz Olbricht Nachfolger“ existiert noch heute in Wien.
1153
In Alland befand sich zu dieser Zeit, ebenso wie in Heiligenkreuz, eine „Postkombinierte Telegraphen-Nebenstation“. Diese
wurde 1863 als Fahrpost gegründet, erhielt 1867 einen Geldanweisungsdienst, 1883 den Postsparkassendienst, 1906 einen Telephondienst sowie 1927 den Rundfunkdienst. Das alte Postgebäude befand sich bis zum Zweiten Weltkrieg an der Parkgasse,
Hausnummer 66 (heute: Nr. 26/27).
1154
Hugo Wolf (Windischgratz – heute Slovenj Gradec/Slowenien 13.03.1860 – Wien, 22.02.1903)
1155
1934 brannte dieser Marienhof bis auf die Grundmauern nieder, wurde vom Stift Heiligenkreuz als Holzblockhaus mit Jausenstation und Landwirtschaft (bis 1960) neu errichtet und ging in den Pachtbesitz von Eduard Matzner und Winter über. 1965 pachten Johann und Cäcilie Hanner das Anwesen. Wegen Problemen mit der Wasserzuleitung das wurde Anwesen 1970 zum Verkauf
ausgeschrieben und von der Familie des Pächters erworben. 1972 wurde das Haus umgebaut und Zimmer für bis zu 40 Gäste angebaut; 1984 erfolgte der Bau des Komfort-Hotels. Der heutige Inhaber, Heinz Hanner, wurde 1997 zum Koch des Jahres gekürt
und mit 3 Hauben im Gault Millau und 1 Stern in Guide Rouge von Michelin ausgezeichnet. Zu Beginn des Jahres 2003 wurde
das gesamte Anwesen aufwendig umgebaut und trägt seither den Namen „Hanner Restaurant – Hote – Meetingpoint“. Zu den
Stammgästen des Komforthotels und Restaurants oberhalb des Ortes zählten Kurt Waldheim und Friedensreich Hundertwasser.
1156
1893 wird die Bezirksstraße (heute L 4001) – der Preinsfelder Weg – von Mayerling nach Heiligenkreuz entschärft und auf
rund 1,6 Kilometer zwischen Forsthaus und Engelskreuz neu Trassiert; dabei werden auch der Serpentinen unterhalb des Marienhofes angelegt; HHStaA, GDPFF 9/1 ex 1893.
188
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
te Bertha“ von Lakhner1157, aus Wagner-Opern vor – und tyrannisierte sie mit seiner herrischen Art. Wolf las viel,
empfing Gäste wie den Wiener Bildhauer Victor Tilgner, komponierte das D-moll-Quartett mit dem Leitspruch „Entbehren sollst du, sollst entbehren“ sowie im Juni 1882 nach einem Möricke-Text das „Mausefallensprüchlein“. Die
Zeit in Mayerling – im Sommer des Jahres 1880 hatte Wolf dort im hölzernen Lusthaus1158 auf der „Treumannshöhe“
ein erstes, kurzes amouröses Abenteuer mit der schwarzhaarigen, um einige Jahre älteren Vally Franck1159, der er Unterricht im Klavierspielen gab und die zur Sommerfrische in Alland weilte– dürfte die schönste seines Lebens gewesen sein und sie spiegelt sich in vielen Liedtexten wieder.
Doch wie sah Mayerling tatsächlich aus? Die älteste bekannte Ansicht stammt aus dem Jahre 18251160. Es
handelt sich um die kolorierte Lithographie von Kirche und Granarium, von Doll mit Blick nach Norden gezeichnet.
Auf der Wiese vor dem Gebäude grasen Tiere, zwei Hirten sind zu erkennen – unbedeutende Idylle. Ein Stahlstich aus
dem Jahre 18401161 zeigt ebenfalls die Kirche und die wenigen Häuser zu ihren Füßen. Der Lithograph postierte beim
Blick aus Richtung Alland eine Spaziergängergruppe im Vordergrund und zeigt uns ein romantisches, urwüchsiges
Tal. Diese Darstellung überwiegt auch auf einer Lithographie von X. Sandmann von 18451162. Ebenfalls aus dem Jahre
18451163 stammt Sandmanns lithographische Ansicht des Tales in Richtung Raisenmarkt. Auch hier stehen Kirche und
Nebengebäude im Mittelpunkt der Landschaftsdarstellung. Eine dritte Lithographie aus der 18451164er-Serie von
Sandmann zeigt uns ebenfalls ein wildromantisches, urwüchsiges Tal. Weniger um die Landschaft als um die Darstellung der Wallfahrtskirche ging es dem Zeichner der Bleistiftskizze von 18471165. Der Zeichner suchte sich seinen
Standort oberhalb der Kirche auf einem Hang in Richtung Alland und hielt die Mayer4linger „Oberstadt“ ohne Betonung der Umgebung fest. Möglicher Weise zeichnete der gleiche Künstler 18471166 ein weiteres Mal die Kirche, wählte jedoch einen Standort weiter unterhalb nahe der Schwechat. Von weiteren Gebäuden außerhalb des Kirchenfeldes
ist jedoch nichts zu sehen. Genauer sind da die Fotografien, die aus Mayerling jedoch erst ab ca. 1886 vorliegen und
an anderer Stelle erwähnt werden.
1157
Bei Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913 wird ihr Nachname
„Lackhner“ geschrieben
1158
Das Lusthaus stand auf der nach dem Altwiener Komiker Treumann benannten Höhe. Dort hatte der oft in Baden zur Sommerfrische weilende Bühnenkünstler zusammen mit dem Gastwirt Eipeldauer das hölzerne Lusthaus errichten lassen.
1159
Holonka, Kurt: „Hugo Wolf“, Knauer Verlag 1990
1160
Niederösterreichische Landesbibliothek, Sammlung Kutschera, Signatur 4.607
1161
Niederösterreichische Landesbibliothek, Signatur 4.608
1162
Niederösterreichische Landesbibliothek, Sammlung Kutschera, Signatur 4.613
1163
Niederösterreichische Landesbibliothek, Sammlung Kutschera, Signatur 4.609
1164
Niederösterreichische Landesbibliothek, Sammlung Kutschera, Signatur 4.612
1165
Niederösterreichische Landesbibliothek, Sammlung Kutschera, Signatur 4.611
1166
Niederösterreichische Landesbibliothek, Sammlung Kutschera, Signatur 4.610
189
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
5.
Das Jagdschloss Mayerling
„Der erzherzogliche Besitz
machte den Eindruck des
Unfertigen und Ungepflegten“
Julius Schuldes
Baden
„Der kaiserliche Hof besaß seit Jahrhunderten im Wienerwald bei Alland ... ein ausgedehntes Jagdrevier, in
dem Kronprinz Rudolf häufig mit Gästen zur Jagd weilte1167. (...) Er kaufte im Laufe mehrerer Jahre Gründe und Wälder auf und bot diese im Jahre 1886 dem Stift Heiligenkreuz als Tauschobjekt für den Wirtschaftshof Mayerling an,
der, nur 2 ½ km von Alland entfernt, nicht weit vom Jagdrevier lag.1168“
Am 3. März 1887 wird in Wien dazu eine Note an die niederösterreichische Statthalterei abgefasst. Mit Bezug
auf den Tauschvertrag vom 18. November 18861169 wird eine durch den Grundstückstausch entstandene Preisdifferenz
von 25.000 Gulden zu Gunsten des Stiftes Heiligenkreuz beglichen1170. Über die niederösterreichische Statthalterei
hatte das Stift im Herbst des Jahres 1886 das in Mayerling gelegene Forsthaus (Mayerling Nr. 1c), das Gasthaus Eipeldauer (Mayerling Nr. 1a), ein Zinshaus (Mayerling Nr. 1b) sowie die Gartenkellnerei und einige Wiesen- und
Wegparzellen im Gesamtausmaß von 7 Joch 1433 Quadratklafter dem Kronprinzen von Österreich übergeben. Im Gegenzug erhielt das Stift die nach den Ankäufen des Jahres 1886 dem Hof gehörenden Häuser Nr. 1 (den „Marienhof“)
und Nr. 2 (das unterhalb des „Marienhofes“ gelegene, ebenerdige Forsthaus) samt Grundstücken im Ausmaß von 33
Joch 1440 Quadratklaftern in Mayerling sowie einige in der Gemeinde Heiligenkreuz liegende Parzellen mit 3 Joch
1573 Quadratklaftern. Da diese Objekte nur einen Wert von 15.000 Gulden, das Stift aber an Rudolf Realitäten im
Wert von 40.000 Gulden abgetreten hatte, wurde dem Kloster die Preisdifferenz bar ausbezahlt1171. Von der Summe
wurden Notenrenten gekauft und mit dem Rest von 3.000 Gulden die beiden neu erworbenen, jedoch baufälligen Häuser restauriert bzw. adaptiert.
1167
Im Jahre 1885 hatte Kronprinz Rudolf bereits die Gemeindejagd in Alland für sechs Jahre gepachtet; daraus ist zu schleißen,
dass das Gebiet um Mayerling nicht zum kaiserlichen Jagdrevier gehörte (HHStaA, Kabinettsarchiv 1889, Vortrag Nr. 85 vom
05.Mai 1889)
1168
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau Wien 1968
1169
genehmigt von der k.k. Statthalterei am 8. November 1886 und vom Fürsterzbischöflichen Ordinariat vom 20. November
1886
1170
Niederösterreichisches Landesarchiv, Akt 11839 C 4 ad 3218 ex 1887
1171
Niederösterreichisches Landesarchiv, Akt 66809 C 6 ad 3589 ex 1886
190
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Rudolf indes ließ seine Realitäten1172, zu denen auch der Wirtschaftshof, die Villa Leiningen bei der FuchsWiese mit ihrem Stallgebäude sowie eine freistehende Scheune zählten1173, großzügig umbauen und die Gebäude neu
einrichten. Verlief zwischen Villa und dem Gebäudetrakt des alten Gasthofes an der Laurentius-Kirche, die im Besitz
des Stiftes Heiligenkreuz verblieb, seit Jahrzehnten die Bezirksstraße, so wurde diese zunächst auf Wunsch des Kronprinzen von der niederösterreichischen Landesregierung nach Süden in Richtung Schwechat verlegt, um ein geschlossenes Anwesen zu erhalten.
Die größten Umbauten fanden jedoch in den Gebäuden nahe der Laurentius-Kirche statt. „Für die kleine Erzherzogin Elisabeth wurde das frühere Forsthaus im oberen Schloss eingerichtet, das seither den Namen Elisabethtrakt
führt.1174“ Die bis dahin einzeln stehenden Häuser im Osten wurden in einem einstöckigen, ebenerdigen Gebäude zusammengefasst, dem sogenannten „Dienertrakt“, der mit dem einstöckigen Schlossgebäude von 1681 durch das Osttor
und mit dem Hochparterretrakt, dem „Elisabethtrakt“, durch das Nordtor hufeisenförmig verbunden war. Die Portalanlage gegen Norden besaß einen besonderen Schmuck, nämlich eine schon um 1889 verwitterte Heiligenfigur mit zwei
zu beiden Seiten schwebenden Engeln1175. Neben dem Elisabethtrakt stand das kleine Küchengebäude, unter Umständen die alte Sakristei der Laurentius-Kirche, und im Osten schloss sich der Kirchenkomplex mit seiner umlaufenden
Mauer an.
Zum Osttor des Komplexes, der rund 50 Meter nördlich der Bezirksstraße auf einer sanft ansteigenden Hügellehne lag, führte ein durch helle Holzstangen markierter Fahrweg, an dessen Abzweigung eine Tafel mit der Aufschrift „Hier ist das Gehen und Fahren verboten“ stand und der in einen großen Wagenplatz am Schloss mündete.
Durch das zweiflügelige Eichentor, von gusseisernen Laternen beleuchtet, gelangte man in den geräumigen Innenhof,
in dessen Mitte in einem französischen Blumenbeet ein Springbrunnen stand. Links lang nun das Hauptgebäude mit
seinem Eingang, rechts neben der Einfahrt die Zuckerbäckerei und daran anschließend im Dienertrakt zehn Kammern
mit Fenstern nach außen. Ganz im Norden führte ein ebenfalls zweiflügeliges Tor auf den unbefestigten Weg Richtung Heiligenkreuzer Höhe, daneben lag der Elisabethtrakt, dessen Keller als Lager- und Vorratsräume diente. Entlang
des Dienertraktes verlief bis zum Elisabethtrakt auf der Hofseite ein knapp ein Meter breiter, überdachter Gehweg.
Das kupferne Laubendach ruhte auf 24 hölzernen Pfeilern mit geschnitzten Köpfen, glasierte Steinzeugfliesen bedeckten den Boden. Neben dem Elisabethtrakt befand sich der freistehende Küchentrakt mit Herd, Abwaschraum und einer
weiteren Vorratskammer.
Gegenüber dem Osttor lag, erhöht und von einer hellen Mauer umgeben, die Laurentius-Kirche, die vom Hof
aus über eine kleine Treppe zu erreichen war. Über eine weitere Treppenanlage erreichte man von außerhalb des
Schlossareals das Kirchenportal über die Südzufahrt, deren unbefestigter Weg ebenfalls auf der Bezirksstraße mündete. Den Durchgang zwischen Kirchenumfriedung und Schlossgebäude bildete seit 1887 das zweiflügelige, mit einem
Schindeldach versehene hölzerne Südtor1176.
„Der erzherzogliche Besitz machte den Eindruck des Unfertigen und Ungepflegten1177“, sei aber in einem „guten baulichen Zustand1178“, wissen Zeitgenossen aus Mayerling zu berichten. Die Innenausstattung soll der flüchtigen
1172
Zum Ankauf der Realitäten des Gutes Mayerling unterschrieb Rudolf am 01.10.1886 einen Schulschein über 50.000 Gulden
als Darlehen zu 4% aus der Aller Höchsten Privat- und Familienfods-Cassa
1173
Grundbuch Wien, landstädtische Liegenschaften“, Staatsarchiv Wien, Seite 94-105
1174
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau Wien 1968
1175
Dass es sich hierbei um eine Arbeit von Giovanmni Guliani handelt, konnte nicht bewiesen werden.
1176
Das Südtor ist auch heute noch innerhalb der Klausur erhalten, kann jedoch von außen nicht eingesehen werden.
1177
Schuldes, Julius: „Zeitbilder“, Abschrift seiner privaten Aufzeichnungen durch Ing. Halbritter, Rollett-Museum Baden 1990
1178
Grundbuch Wien, landstädtische Liegenschaften“, Staatsarchiv Wien, Seite 94-105
191
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Benutzung entsprechend karg und für Feste größeren Stils gänzlich ungeeignet gewesen sein1179. „Der Mangel an Bildern, an Büchern und Uhren, die unbenützten Möbel erhöhten den Eindruck des Unpersönlichen1180.“ Dennoch ließ es
sich in Mayerling fernab des Spanischen Hofzeremonielles gut leben und „man ging allgemein im steirischen Lodenrock und in Kniehosen.1181“
Südlich des Schlosses lag der einstige Gastgarten der alten Wirtschaft und der Pavillon mit geschweiftem Mansardendach1182, zu dem eine kleine Lindenallee führt. Der Kronprinz ließ ihn in einen Frühstückspavillon umbauen; an
den Wänden des Innenraumes sieht man in Freskomalerei eine offene Säulengalerie mit üppigem Blumenschmuck,
darüber wölbt sich der zartblaue Himmel der Decke.
Das Gelände wurde in einen großzügig gestalteten französischen Park mit Rabatten und zwei Bassins umgestaltet; etwas höher zum Haupthaus und abschließend mit der Umfassungsmauer lag nahe dem Südtor die Schießstätte,
die auch als Kegelbahn genutzt werden konnte. Der Garten war durch eine Gartentür im westlichen Parterre und den
Vorraum zu betreten, in den man vom Innenhof durch den Haupteingang gelangte. Aus diesem Vorraum mit stuckverzierter Decke und Tonmosaikboden ging man zudem über eine Eichenholztreppe in das erste Geschoss oder den Keller1183.
Betrat man das Schloss vom Hof aus, gelangte man vom Vorraum, der die gesamte Trakt tief durchschnitt, nach
rechts durch das Billardzimmer mit Holzplafont und Kamin in die ebenerdigen Räume des Hauses. Rechts des Vorraumes lag neben einem Bade- und Dienerraum auch das Zimmer des Erzherzogs und, über eine schmale Wendeltreppe aus einem Vorraum aus zu erreichen, die Zimmer der Kronprinzessin im ersten Stock. Baulich waren die beiden
Geschosse fast gleich gestaltet, hatten zumeist Stuckdecke und Eichenholzfußböden und Kamine oder Kachelöfen1184.
Das Schlafzimmer des Erzherzogs lag in der Südost-Ecke des Gebäudes mit Blick durch je zwei, mit Läden versehene Fenster auf den Wagenplatz und den Garten. Der Raum hatte einen Eichenholzfußboden, war nahezu quadratisch und maß sieben mal sieben Meter. Dass es sich bei diesem Raum unter Umständen um einen Schankraum der
ehemaligen Gastwirtschaft handeln könnte bestärkt die niedrige Gewölbedecke mit ihrer Böhmischen Kappe1185. Fotografien von diesem Raum gibt es keine. Eine Skizze im Nachlass des Hoftelegrafen Julius Schuldes lässt die Einrichtung dieses Raumes erahnen, muss jedoch nicht zeitgenössisch sein und kann aus der Erinnerung gezeichnet sein.
In dem zweckmäßig möblierten Raum stand neben einem Bett mit Nacht- und Waschkasten u.a. auch ein komplett
ausgestatteter Schreibtisch mit drei Briefbeschwerern, einem Federständer, Tintenzeug, einer Schreibtischglocke und
einem lederüberzogenen Schreibfauteuil, ein achteckiger Tisch mit einer rotsamtenen Sitzgarnitur, zwei kleine und ein
großer runder Tisch, ein Rauchtisch, verschiedene Terrakotta- und Bronzefiguren sowie vier Ledersessel und fünf
Wandkästen. Den Holzboden bedeckten ein Bettvorleger sowie ein Garniturteppich, an den Wänden gingen neben drei
weiteren Aquarellen eines mit dem Portrait des Großherzogs von Toskana sowie vier Photographien. In den Schrän-
1179
u.a. hingen an den Wänden 55 Edelhirsch- und 183 Rehgeweihe
Schuldes, Julius: „Zeitbilder“, Abschrift seiner privaten Aufzeichnungen durch Ing. Halbritter, Rollett-Museum Baden 1990
1181
Schuldes, Julius: „Zeitbilder“, Abschrift seiner privaten Aufzeichnungen durch Ing. Halbritter, Rollett-Museum Baden 1990
1182
Nach Werner, Heinrich: „Hugo Wolf in Maierling – Eine Idylle“, Breitkopf & Härtel-Verlag, Leipzig 1913, war der Pavillon
nicht mit Schindeln, sondern einem rot gestrichenen Kupferblech gedeckt. Nach anderen Quellen soll es sich um rot gestrichene
Schindeln gehandelt haben (Frey, Dagobert: „Die Denkmale des politischen Bezirkes Baden“ in Österreichische Kunsttopographie. Bd. XVIII, Wien, E. Hölzel & Co., 1924)
1180
1183
Grundbuch Wien, landstädtische Liegenschaften“, Staatsarchiv Wien, Seite 94-105
Grundbuch Wien, landstädtische Liegenschaften“, Staatsarchiv Wien, Seite 94-105
1185
Bei Hängekuppeln/Stützkuppeln schneiden die tragenden Gewölbegurte seitlich in das Kuppelrund ein; bei geringer Höhe (1/6
– 1/10 der Spannweite) heißt diese Form auch Böhmische Kappe
1184
192
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ken fanden sich Zigaretten und Zigarren, ein Mokkaservice für vier Personen, verschiedener Leuchter, sieben Vasen
und ebenso viele Aschenschalen aus Porzellan1186.
Feierlich eingeweiht wurde das neue Jagdschloss am 19. und 20. November 1887, wobei als Gäste des Kronprinzenpaares Louise und Phillip von Coburg, Alfred Graf Potocki, Baron Kalmán Kemény, Baron Tivadar Bornemisza, Karl Graf Bombelles und Major Maximilian Graf Orsini und Rosenberg anwesend waren. Die Tafelmusik besorgte
die Zigeunerkapelle Pongrácz aus Klausenburg. Nach dem Diner sag das Udel-Quartett1187. Kaiser Franz Josef stattete
dem Schloss seinen ersten und einzigen Jagdbesuch am 25. Dezember 1887 ab. Er kam am frühen Morgen, begrüßte
die Anwesenden und reiste bereits am Nachmittag gemeinsam mit dem Kronprinzen zurück nach Wien. Die längste
Zeit verbrachte Rudolfs Tochter Elisabeth in Mayerling. Mit kleinem Gefolge samt Amme, zwei Aufsichtsdamen, je
einem Kammerdiener und Lakaien sowie einer kleinen Wirtschaftsabteilung logierte die dreijährige Erzherzogin im
Juni 1888 drei Wochen lang aus gesundheitlichen Gründen im Wienerwald. Weitere Gäste waren zweimal Kronprinzessin Stephanie sowie die Erzherzöge Ludwig, Viktor und Otto, die Maler Franz Pausinger und Perko, Sektionschef
Szögyeny-Marich, Rudolfs Flügeladjutant Graf Orsini-Rosenberg, sein Leibarzt Dr. Auckentahler, sein Obersthofmeister Graf Bombelles und die Jagdfreunde Josef von Hoyos und Philipp von Coburg mit seiner Gattin, Rudolfs
Schwägerin Louise.
Insgesamt gab es zwischen 1887 und 1889 zehn Jagden, meist einfache Pirschgänge, in Mayerling. Für die
Bewohner des Ortes war dies stets eine sichere Einnahmequelle, denn sie standen nicht nur als Treiber und Jagdgehilfen zur Verfügung, sondern lebten auch von den zahlreichen „Jagdabfällen“ der hohen Herren.
Die weiteren, zum Schloss gehörenden Gebäude befanden sich in unmittelbarer Nähe zur Bezirksstraße. Das
baulich Auffallendste war die rund 45 Meter vom Schloss entfernt stehende einstöckige Villa im Schweizer Stil mit
ebenerdiger Veranda und Balkonen im ersten Stock. Hier wohnte zur Jagdzeit Prinz Philipp von Coburg, so dass die
Villa schnell den Namen Coburger Schlössl erhielt. Zudem gab es ebenerdig Räume für eine Hofdame und die Telegrafenstation. Im großen Wirtschaftshof, weitere 30 Meter in der Talsohle Richtung Alland entfernt, lagen die Wohnungen des Schlosswartes, des Schlossgärtners Leonhard Weckerle sowie Fremdenzimmer für Jagdgäste. Zwischen
Villa und Hof stand der durch Kronprinz Rudolf errichtete Prunkstall für Pferde und abseits der Bezirksstraße die
Scheune.
1186
lt. Inventarverzeichnis vom 09.04.1889, Wien, HHstaA, OMaA 422, III/B 108, Iventare 1889, Nr. 109-115, 1889-1916
193
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 4
Vor der Entscheidung
7.
Der letzte Tag – Dienstag, 29. Januar 1889
Für den 31. Januar 1889 verzeichneten die Meteorologen Neumond. Nach Kalender ging die Sonne an diesem
Wintertag um 7:32 Uhr auf und nach 9 Stunden und 25 Minuten um 16:56 Uhr unter.
Wer war am letzten Tag im Schloss Mayerling anwesend? Ganz sicher war dies
Marie von Vetsera, Baroness.
Rudolf von Österreich, Kronprinz.
Johann Loschek, Saaltürhüter.
Zudem waren mit ziemlicher Sicherheit im Schloss, in der Meierei, der Villa Leiningen oder in einem der Gasthäuser anwesend
Alois Zwerger1188, Kastellan (er wohnte im so genannten „Turmzimmer“ in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Strubreiter, Hauswart
N. Strubreiter, Bedienerin (wahrscheinlich Frau oder Tochter des Vorgenannten)
Leonhard Weckerle, Schlossgärtner (er wohnte in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Friedrich Wolf, Bediensteter im Schloß (er wohnte in Alland)
Sedlak, Bediensteter im Schloß (er wohnte in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Baumgartner, Ofenheizer
Franz Wodicka, Kammerbüchsenspanner (er wohnte in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Julius Schuldes, Hoftelegraf (Wohnung und Dienststelle in der Villa Leiningen)
Josef Graf Hoyos, Jagdgast (er wohnte in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Jakob „Jaque“ Zak, Diener des Grafen Hoyos (er wohnte in der Meierei des Mayerling-Hofes)
August Kianek, Leibjäger des Grafen Hoyos
Josef Bratfisch, Fiaker (er wohnte wahrscheinlich in einer der beiden Kutscher-Unterkünfte im Stallgebäude)
Joseph Wedl1189, Gendarmeriepostenkommandant in Mayerling (Wachzimmer in der Meierei des MayerlingHofes)
Thomas Albrecht, Gendarm in Mayerling (Wachzimmer in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Laurenz Lebert1190 (eigentlich Leberwurst), als Gendarmeriebeamter dem Posten Baden zugeteilt und in Mayerling eingesetzt (Wachzimmer in der Meierei des Mayerling-Hofes)
Karl Laferl1191, Bediensteter im Schloß.
1187
Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel Verlag, Leipzig 1928
Zwerger, Alois, gest. 1919 in Wien
1189
Wedl, Joseph, geb. 1861; 1892/93 Postenführer in Mayerling, danach Landwehrbataillon Nr. 3 in St. Pölten
1190
Lebert. Laurenz, geb. 1863, gest. 1935 in Wien
1188
194
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 5
Die Kerzen verlöschen
2.
Die Todesnachricht
„Der Kronprinz
liegt tod in Mayerling“
Rückseite der Visitenkarte des
Südbahn-Ingenieurs Josef Höffler
Baden, 30.01.1889
Das erste schriftliche Zeugnis vom Tod des Kronprinzen findet sich auf der Rückseite der Visitenkarte des Josef Höffler, Ingenieur der K.k. priv. Südbahn-Gesellschaft, „Bes. des gold. Verd. Kr. v . d. Kr., Ritt. des span. Isabellen-, des serb. Tacovo- und des mont. Danilo-Ordens, derzeit Stations-Chef Baden“. Dort steht handschriftlich vermerkt: „Der Kronprinz liegt tod in Mayerling1192“. Höffler, seit dem April 1882 Stations-Chef in Baden, von Graf
Hoyos selbst erhalten haben. Hoyos bestieg im Badener Bahnhof, nachdem er noch ein Telegramm an den 1. Obersthofmeister Prinz Constantin Hohenlohe verschickt hatte, um 9.18 Uhr den aus Triest kommenden Kurierzug nach
Wien. Die Visitenkarte dürfte Höffler direkt an den Bezirkshauptmann von Baden, Oser, geschickt haben1193.
Sicher zeitgleich telegrafierte der Stationsvorstand die Nachricht vom Tode des Thronfolgers an den Chef des
Bankhauses Rothschild, Nathaniel von Rothschild1194, der das Patronat über die private Südbahn ausübte. Augenscheinlich hatte Hoyos am Bahnhof gesagt: „Der Kronprinz hat sich erschossen“, um den Kurierzug besteigen zu können, der sonst in Baden keine Reisenden aufnahm. Baron von Rothschild informierte darüber nicht nur den deutschen
und andere Botschafter, sondern machte die Schreckensmeldung auch an der Wiener Börse1195 bekannt – die somit
1191
Laferl, Karl, geb. 1860, gest. 1937 in Mayerling
Original im Nachlass Dr. Oser, Steyer/Österreich
1193
Dr. Gerd Holler nennt in „Mayerling: Die Lösung des Rätsels - Der Tod des Kronprinzen Rudolf und der Baroneß Vetsera aus
medizinischer Sicht“, Verlag Fritz Molden, Wien 1980 für 1889 als Stationsvorstand einen Ritter von Tarnocky-Spätzenberg. Tatsächlich gab es von 1890 bis 1920 am Badener Bahnhof den Stations-Vorstand Max Tarnoczy (Schreibweise der „Badener Zeitung“ vom 07.08.1920; freundliche Mitteilung von Gerhard Baumgartner, Bad Vöslau) – ob es sich um die identische Person handelt, ist nicht zu recherchieren.
1194
Rothschild, Nathaniel Meyer Freiherr von, geb. am 26.10.1863 in Frankfurt am Main, gest. 13.06.1905 in Wien
1195
Dieses so genannte „Börsen Telegramm“ des Baron von Rothschild ist heute verschollen. Weder die Wiener Börse, noch das
Archiv der Familie Rotschild in London besitzen eine Kopie oder konnten Hinweis geben auf den Verbleib des Originals; freundliche Mitteilungen an den Verfasser für das Archiv Rothschild Caroline Shaw, London, 09.05.2005 und für das Archiv der Wiener
Börse Dr. Johann Schmit, Autor, Wien 02.05.2005
1192
195
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
früher vom Unglück in Mayerling erfuhr als der Wiener Hof, wo Hoyos erst gegen 10.11 Uhr ankam. Rothschild
selbst informierte persönlich u.a. den deutschen Botschafter in Wien, Graf Reuss1196.
30.01.1889, Wien, Südbahnhof, vor 8.05 bzw. 8.36 Uhr: Jäger Rudolf Püchel erfährt auf dem Bahnhof von einem Bahnbeamten, dass der Kronprinz tot sei. Wie halten diese Aussage für falsch, da erst gegen nach neun Uhr
Hoyos in Baden die Mitteilung vom Tode des Kronprinzen gemacht hatte.
30.01.1889, Wien, nach 13 Uhr: Der Polizei-Oberkommissär Wyslouzil informiert Polizeipräsident Krauß, in
der Hofburg habe er erfahren, „der Kronprinz sei todt1197“. Wenig später erfährt Krauß, der sich sofort zum Ministerpräsidenten begibt, von Graf Taaffe: „Der Kronprinz ist heute früh mit der Vetsera im Bette todt aufgefunden worden.
Sie haben sich vergiftet.“
30.01.1889, Berlin 16.34 Uhr abgesandt, Telegramm an den deutschen Botschafter in Wien: „Wolfs Bureau
meldet, Kronprinz Rudolf sei auf einem Jagausflug an Schlaganfall plötzlich verstorben.1198“
30.01.1889, Wien 16.45 Uhr abgesandt, Berlin 18.30 Uhr angekommen, Telegramm des deutschen Botschafters: „Kronprinz Rudolf ist heute früh in seinem Jagdschloss Mayerling plötzlich verschieden (...) wahrscheinlich
Herzschlag (...) Etwas Blut war aus seinem Mund geronnen (...)1199“
30.01.1889, Wien, Telegramm des deutschen Botschafters nach Berlin: „(...) Als nach fortgesetztem Klopfen
kein Lebenszeichen erfolgte, öffnete der Graf die Tür und fand den Erzherzog entseelt und bereits kalt in seinem Bett
liegend. Etwas Blut war aus dem Mund gekommen. (...) Die Vermutung, dass ein Selbstmord vorliegt, ist natürlich
sofort ausgesprochen worden, über den ärztlichen Befund liegt mir noch keine Nachricht vor.1200“
31.01.1889, königlich-preußische Gesandtschaft München, Telegramm nach Berlin: „Die erste Mitteilung von
dem tragischen Ereignis kam in den Nachmittagsstunden durch Börsentelegramm hier an.1201“
31.01.1889, königliche Gesandtschaft Dresden, Telegramm nach Berlin: „Die traurige Nachricht von dem gestern Morgen erfolgten plötzlichen Ableben Seiner kaiserl. und königl. Hoheit des Kronprinzen Rudolf von ÖsterreichUngarn war hier nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr bekannt.1202“
01.02.1889, Wien abgesandt 12.15 Uhr, Berlin angekommen 13.15 Uhr, Telegramm des deutschen Botschafters: „Der Kronprinz hat sich durch einen Revolverschuß in den Schädel das Leben genommen. Das Unglück wird
auf Sinnesverwirrung in Folge krankhafter Nervenaufregung zurückgeführt.1203“
03.02.1889, Telegramm des deutschen Botschafters nach Berlin: „(...) Dieselbe [Fräulein von Wetsera] haben
sich bei ihm [Rudolf] versteckt gehalten, sei in der Nacht vor dem Tode in seinem Schlafzimmer gewesen, habe sich
vergiftet, worauf sich der Kronprinz erschossen habe.1204“
1196
Nowak, Karl Friedrich und Thimme, Friedrich: „Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts“, Berlin
1932
1197
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968
1198
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (die Einsicht erfolgte 1990 am vorherigen Sitz des Ministeriums in Bonn),
Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
1199
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
1200
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
1201
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
1202
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
1203
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
1204
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Österreich No. 86/IA, Vol. 1-3, Band 2 02.12.1888 bis 07.02.1889
196
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 5
Die Kerzen verlöschen
3.
Die Hofkommission
„Es besteht kein Grund
zur gerichtlichen Intervention.“
Carl Graf Bombelles
Mayerling, 30. Jänner 1889
„Während in Wien die ersten Extrablätter mit der Unglücksbotschaft ausgerufen werden, der Kronprinz sei einem Jagdunfall, einem Schlaganfall oder einem Herzschlag zum Opfer gefallen, ist bereits eine Hofkommission auf
dem Weg nach Mayerling1205. Nach traditioneller Weise soll sie das Testament des Verblichenen aufsuchen.“1206
Nachdem an diesem Mittwoch, 30. Jänner 1889, gegen 12.30 Uhr bei den Hofbehörden der Tod des Kronprinzen bekannt wurde, wird diese erste offizielle Kommission in Wien zusammengestellt. Mitglieder der Kommission,
die auch den kupfernen Transportsarg für die Überführung des Toten nach Wien mitführte, waren:
1. Dr. Rudolf Kubasek, Regierungsrat und Kanzleidirektor des Obersthofmarschall-Amtes
2. Nikolaus Poliakovits, Regierungsrat im Obersthofmeister-Amt und beeideter Gerichtsdolmetscher für spanische Sprachen
3. Carl Ritter Schultes von Felzdorf und Trimitz, Sektionsrat im K. u. K. Ministerium des kaiserlichen Hauses
und des Äußeren
4. Dr. Laurenz Mayer, Hof- und Burgpfarrer an der K. K. Hofkapelle
5. Ferdinand Kirschner, Architekt und Burghauptmann der K. K. Burghauptmannschaft in Wien
6. Claudius Alexander Ritter von Klaudy, K. K. Direktion für Hof-Eisenbahnreisen im Obersthofmeister-Amt
7. Dr. Heinrich Freiherr von Slatin, Sekretär im Obersthofmarschall-Amt
Die Kommission reiste, so Gerd Holler, gegen 14 Uhr mit dem Zug aus Wien ab, erreichte Baden um 15.03
Uhr und traf in Mayerling ein, als es dort bereits dunkel war. Vor Ort schlossen sich der Hofkommission an
8. Vizeadmiral Carl Graf von Bombelles, der Obersthofmeister des Kronprinzen
9. Hofrat Professor Dr. Hermann Widerhofer, Leibarzt des Kronprinzen
10. Prinz Philipp von Coburg, Schwager des Kronprinzen und
11. Johann Loschek, Saaltürhüter.
So sind sicher mindestens elf „offizielle“ Personen zu diesem Zeitpunkt im Jagdschloss versammelt.
1205
Erst am 04.02.1889 wird eine zweite Kommission – ohne Beteiligung von gerichtlichen Sachverständigen – das Sterbezimmer
in Mayerling untersuchen; das Protokoll wurde bis heute nicht aufgefunden.
1206
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
197
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Professor Widerhofer war um 10 Uhr in Wien abgefahren und um 10.47 Uhr in Baden angekommen. Von dort
fuhr er mit Bratfisch1207 nach Mayerling, wo er zwischen 11.45 und 11.55 ankam. Im Schloss hatte er die Fensterläden
öffnen lassen und konnte sich am Tatort umsehen. Obwohl der Arzt sofort die Vergiftungsversion als Todesursache
ausschließen konnte, berichtigte er diese nicht nach Wien. Widerhofer blieb bis zum Nachmittag in Mayerling und
verließ das Schloss zusammen mit dem Prinzen Coburg, um zurück nach Wien zu fahren.
Rund eine Stunde nach Widerhofers Eintreffen – aber noch vor 13 Uhr – war Graf Bombelles mit einer weiteren, namentlich bisher nicht bekannten Person in Mayerling angekommen. Er hatte den Zug um 11.30 Uhr ab Wien
genommen.
Bereits seit dem späten Nachmittag wurde das Jagdschloss durch Polizisten abgesperrt, so dass die Kommission ungestört arbeiten konnte. Hierzu war Polizeioberkommissär Wyslouzil mit zehn Polizeiagenten im 15 Uhr-Zug
über Baden nach Mayerling gefahren. Sieben Beamte wurden abgestellt, um zusammen mit den fünf bereits in Mayerling anwesenden einen „Cordon ums Schloß zu ziehen und alle Unbefugten, die es versuchen sollten, ins Schloß zu
gehen, zurückzuweisen.1208“ Ein Beamter verblieb am Badener Bahnhof, weitere sicherten die Badener Telegrafen, um
den Funkverkehr aus Alland über Baden nach Wien zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits die ersten
Journalisten den Ort erreichen; sie waren wahrscheinlich parallel mit Wyslouzil in Baden angekommen. Wyslouzil
selbst war vom Wiener Polizeipräsidenten nach Mayerling geschickt worden, um den „weiblichen Leichnam“ von dort
wegzuschaffen.
Am späteren Nachmittag, als Mayerling bereits umstellt war, erschien dort Dr. Robert Edler von SiebenrokWallheim, der Adjunkt des Bezirksgerichts Baden. Gegen 14 Uhr hatte er erfahren, dass der Kronprinz tod in Mayerling aufgefunden worden war. Siebenrock beriet sich ab 15 Uhr in seinen Amtsräumen1209 mit dem Vorstand des Bezirksgerichtes, Dr. Arthur Seyff. Wenn es sich beim Tod des Kronprinzen um einen Akt der Gewaltanwendung gehandelt hätte, so hätte das Badener Gericht in Vertretung der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vor Ort Ermittlungen einleiten müssen. Da es sich jedoch um ein privates, kaiserliches Schloss handelte, war hierfür das Obersthofmarschallamt zuständig.
Um keinen Unterlassungsfehler zu machen, wurde Siebenrock nach Mayerling geschickt. Ein ihm bekannter
Gendarm brachte ihn durch die Absperrung ins Schloss, wo ihn Bombelles empfing – und gleich zurück schickte. Als
Absicherung ließ sich der Adjunkt auf der Rückseite seiner Visitenkarte von Bombelles bestätigen „Es besteht kein
Grund zur gerichtlichen Intervention.“ Bombelles, Kubasek und Mayer unterschieben dies und der Gerichtsmitarbeiter
verließ den Ort des Schreckens1210.
Über den Verlauf der Testamentsaufsuchung berichtet Hofsekretär Dr. Heinrich Freiherr von Slatin, der seine
Beobachtungen in einem Steno-Protokoll festhält. Seinem Wunsch entsprechend wurden diese Aufzeichnungen erst
nach seinem Tode veröffentlicht1211. Judtmann veröffentlichte erstmals die Originalaufzeichnungen des Hofsekretärs,
1207
Bratfisch hatte am Morgen den Grafen Hoyos zum Bahnhof gebracht und dort auf den Mediziner gewartet, dem man telegrafiert hatte.
1208
Bericht Wyslouzil vom 02.02.1889, zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien
1968
1209
Das Badener Bezirksgericht war seit 1850 im 1. Stock des 1815 von Josef Kornhäusel errichteten Rathauses am Hauptplatz
untergebracht.
1210
Die Visitenkarte wurde an die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt weiter geleitet. Unsere Nachforschung nach ihrem Verbleib blieb ergebnislos.
1211
Judtmann fand bei seiner Recherche im Nachlass die ursprünglichen Aufzeichnungen, eine Übertragung aus dem Stenogramm, ein darüber verfasstes Manuskript von 1924 und ein nachträglich verfasstes Resümee unter dem Titel „Nachtrag zugleich
198
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
die wir hier gestrafft wiedergeben und ab dem Zeitpunkt, da die Kommission in Mayerling ihre Arbeit antritt, zitieren.
Slatin fügte in seine Abschrift an jene Stellen, an denen er wörtlich die Urfassung übernahm, Anführungszeichen „>>“
ein und dort, wo er seiner Stenoschrift nicht mehr sicher war, ein Fragezeichen „?“.
“Im Schlafzimmer finden wir zwei Leichname; jenen des verstorbenen Kronprinzen, das Antlitz kaum entstellt, jedoch die Schädeldecke abgesprengt, Blut und Gehirnteile hinausquellend, wie mir >>scheint durch einen
Schuss aus nächster Nähe – und einen schönen weiblichen Leichnam; es ist jener der Marie Vecsera; auf eine Kästchen? Oder Tischchen? Liegen mehrerer Briefe; einer an Johann Loschek, Kammerbüchsenspanner, welcher beim
Kronprinzen Kammerdienste versah und sein unbedingtes Vertrauen genossen hatte – 1 Telegramm und 5 weitere
Briefe. –
>>Es wird das nach den bestehenden Vorschriften erforderliche Protokoll über die Aufsuchung einer
letztwilligen Anordnung aufgenommen, wobei ich als Schriftführer fungierte – Testamentsaufsuchung in diesem Falle eine bloße Formalität.
>>Über den übrigen Befund wurde ein anderes, viel wichtigeres Protokoll erst an den folgenden Tagen aufgenommen, welche dem, Haus-, Hof- und Staatsarchiv übergeben werden sollte.
Nach Fertigung des Testamentsaufsuchungs-Protokolles durch sämtliche Anwesende und nachdem
der weibliche Leichnam in ein anderes Zimmer gebracht worden war, wurde ich als jüngster nach Wien vorausgeschickt, um so bald als möglich dem Obersthofmarschall Grafen Szécsen und dem erst Obersthofmeister Fürsten Constantin Hohenlohe Bericht zu erstatten, behufs weiterer Meldung an Ihre Majestät.“
Slatin musste also schon bald wieder Mayerling verlassen und zurück nach Wien reisen. In Mayerling hatten
zwischenzeitlich die verbliebenen Kommissionsmitglieder den Leichnam des Kronprinzen in den mitgebrachten Kupfersarg gelegt, den zwei Mitarbeiter der Badener Bestattung Nissel in der heutigen Pfarrgasse 16 gegen 15 Uhr vom
Bahnhof aus ins Schloss gebracht hatten. Der mit zwei schellenbeschirrten Rappen des Badener Fuhrwerksbesitzers
Schell bespannte Fourgon brach kurz vor 19 Uhr in Mayerling auf und brachte den Sarg zurück nach Baden. Dem
Leichenwagen folgten fünf oder sechs weitere Wagen mit den Kommissionsmitgliedern und mehrere Fußgänger. Am
Badener Bahnhof wurde der Sarg nach 21 Uhr in den schwarz drapierten Waggon eines bereitgestellten Sonderzuges
gehoben. Der Zug bestand aus zwei Personen- und zwei Güterwagen. Im zweiten Güterwaggon wurde, so berichtet es
der Badener Gerichtsadjunkt Dr. Siebenrock, mehrerer Ballen mit blutbefleckter Bettwäsche verladen.
Da sich am Bahnhof bereits eine große Menge an Schaulustigen eingefunden hatte, wurde das Gelände durch
die Badener Feuerwehr und den Veteranenverein unter Führung des Bezirkshauptmanns Oser abgesperrt. Bis zur Abfahrt des Zuges nach Mitternacht hielten sich die Mitglieder der Kommission im Speisesaal des Hotels „Stadt
Wien1212“ am Badener Hauptplatz auf. Hinzu gesellten sich Rudolfs Flügeladjutant, Major Orsini-Rosenberg, und sein
Ordonnanzoffizier Hauptmann Giesl von Gieslingen, die beide gegen 18.30 Uhr in Baden eingetroffen aber nicht mehr
nach Mayerling weitergefahren waren. Um 0.20 Uhr fuhren sie im Sonderzug zurück in die Reichshauptstadt.
Gegen zwei Uhr nachts erreichte dieser Sonderzug den Südbahnhof. Im Hofwartesalon wartete der Erste
Obersthofmeister mit acht Leiblakaien. Sie trugen den Sarg vom Bahnsteig hinunter und stellten ihn auf einen zweispännigen, schwarzen Fourgon. Ein Offizier und acht Leibgardereiter zu Pferde begleiteten mit gezogenen Säbeln den
Überprüfung“ aus April 1929. Die Zeitungsveröffentlichung „Die Wahrheit über Mayerling“ vom 15.08.1931 im „neuen Wiener
Tagblatt“ (Sonntagsbeilage) , so Judtmann, weicht teilweise stark vom Manuskript ab.
1212
Das Hotel „Stadt Wien“ war 1786 von Philipp Otto als „Casino“ errichtet worden. Heute befindet sich in der Immobilie, die
links neben dem „Kaiserhaus“ liegt, die Badener Sparkasse.
199
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
toten Kronprinzen bei seiner letzten Fahrt über die Ringstraße und durch das Burgtor in die Hofburg gebracht wurde.
Noch am Bahnhof erstattete Slatin Kubasek über seine Unterredungen mit Prinz Constantin Hohenlohe und Antal Graf
Szécsen Bericht.
Slatin ergänze in seinen Erläuterungen später den Bericht vom 30. Jänner:
„Ich erinnere mich mit voller Bestimmtheit, dass der Kronprinz im Bette links, die Baronesse rechts
lag, jedoch ist in meinen Notizen darüber nichts vermerkt; und fast auch mit voller Bestimmtheit kann ich mitteilen, dass links vom Bette des Kronprinzen auf einem Sessel oder niederen Tischchen o. dgl. Ein Handspiegel lag und ein Revolver; diese beiden letzten Umstände hat mir Hofrat Kubasek nach der am 4. Februar 1889
stattgehabten Kommission bestätigt.“
Slatin selbst, der als jüngstes Mitglied der ersten auch bei der zweiten Kommission hätte Protokoll führen sollen, war jedoch am kommenden Montag, 4. Februar, nicht mit in Mayerling, da er in Wien Berichte schreiben musste
– u.a. über die Wegschaffung der Leiche der Vetsera. Statt seiner protokolliert Regierungsrat Poliakovits am 4. Februar in Mayerling. Da Slatin dieses Protokoll ebenfalls unterzeichnen musste, las er die Ausführungen. Ihm blieb in Erinnerung: „Offenbar hatte der Kronprinz den Spiegel im letzten Augenblick seines Lebens benützt.“
200
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 5
Die Kerzen verlöschen
4.
Die Abschiedsbriefe
„Die Baronin lässt Graf Hoyos auch grüßen;
er soll nachdenken, was er ihr
beim Prinz Reuß über die Jagd
in Mayerling gesagt hat.“
Abschiedsbrief des Kronprinzen an Johann Loschek
Habsburg-Lothringen´sches Familienarchiv, Wien
„Um sechs Uhr früh des 31. Jänner 1889 empfängt Kaiser Franz Joseph Professor Widerhofer und erfährt von
ihm die wahre Todesursache. Vom Schmerz überwältigt, bricht Franz Joseph völlig zusammen, wie Conte Corti auf
Grund des Tagesbuches der Erzherzogin Marie Valerie berichtet. Widerhofer übergibt dem Kaiser die vorgefundenen
Abschiedsbriefe. An den Vater ist keiner vorhanden.1213“
Fritz Judtmann benennt dieses Kapitel in seinem Werk „Mayerling ohne Mythos“ mit dem Schlagwort „Abschiedsbriefe“. Wir haben diese Benennung übernommen, werden jedoch fortan nicht von Abschiedsbriefen, sondern
von „letzten bekannten Handschriften“ sprechen, was uns wertneutraler erscheint. Eine Synopse der letzten bekannten
Handschriften, die sowohl von Kronprinz Rudolf als auch von Mary Vetseras Hand in der Literatur genannt werden,
fügen wir diesem Kapitel bei. Insgesamt haben wir mehr oder minder Kenntnis von
•
20 Mitteilungen des Kronprinzen sowie
•
neun Mitteilungen der Baroness Vetsera.
Widmen wir uns zunächst jenen letzten bekannten Handschriften, die im Original erhalten bzw. als Faksimile
bekannt gemacht sind – wir gehen hierbei in der Reihenfolge der späteren Veröffentlichung der Originale vor. Es sind
aus der Hand des Erzherzogs vier Dokumente:
1. Brief an Kronprinzessin Stephanie, 1935 im Faksimileveröffentlicht,
2. Brief, Umschlag und Kodizill an Ladislaus Szögyény-Marich, 1958 im Faksimile veröffentlicht,
3. Telegramm an Erzherzog Friedrich, von Brigitte Hamann in den Fußnoten der 3. Auflage ihrer RudolfBiographie im Wortlaut zitiert1214,
1213
1214
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Das Faksimile aus der Handschriftensammlung der Szechényi-Nationalbibliothek, Budapest liegt dem Mayerling-Archiv vor
201
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
4. Brief an Johann Loschek, an dieser Stelle erstmals teilweise im Wortlaut zitiert1215.
Darüber hinaus sind durch das Kodizill drei weitere Handschriften des Kronprinzen belegt, die jedoch nie publiziert wurden und als derzeit nicht greifbar gelten müssen. Es sind folgende Dokumente:
5. Brief an Erzherzogin Marie Valerie,
6. Brief an Baron Hirsch,
7. Brief an Maria „Mizi“ Caspar.
Als letzte Handschrift des Kronprinzen darf auch eine eigenhändige Telegrammniederschrift gezählt werden,
die er am 29. Januar 1889 in Mayerling verfasste. Rudolf teilt darin Stephanie mit, dass er am Abendessen in der Hofburg nicht teilnehmen könne. Von Mary Vetseras liegen keine im Original erhaltenen bzw. als Faksimile bekannt gemachten letzten Handschriften vor. Widmen wir uns nun den Details.
„Der Brief Rudolfs an seine Frau wurde von Stephanie in ihren Memoiren1216 in Faksimile veröffentlicht.1217“
Der handschriftliche, jedoch undatierte Brief ist zwei Seiten lang, von einem schwarzen Rand umgeben und mit „Rudolf“ unterzeichnet1218. Die Kronprinzessin erhielt den Brief am 31. Januar 1889. In ihren Lebenserinnerungen schrieb
sie: „Ich zog mich in meine Gemächer zurück, mit dem Abschiedsbrief des Kronprinzen, den man mir übergeben hatte. Sichtlich kurz vor der Ausführung der Tat geschrieben, zeigte er den mit Vorbedacht gefassten Entschluss, sich das
Leben zu nehmen. Als ich ihn in der Hand hielt, empfand ich tieferschüttert die furchtbare Verwirrung und Ratlosigkeit des Kronprinzen in ihrem ganzen Umfang. Der Brief, ohne Datum, lautete:
Liebe Stephanie!
Du bist von meiner Gegenwart und Plage befreit; werde glücklich auf Deine Art. Sei gut für die arme Kleine,
die das einzige ist, was von mir übrig bleibt. Allen Bekannten, besonders Bombelles, Spindler, Latour, Nowo,
Gisela, Leopold etc etc, sage meine letzten Grüße.
Ich gehe ruhig in den Tod, der allein meinen guten Namen retten kann.
Dich herzlichst umarmend, Dein Dich liebender
Rudolf.
Jedes Wort war ein Dolchstoß in mein Herz.1219“ Judtmann weist bereits 1968 darauf hin, dass mit dem in der
Literatur meist falsch als Nowo zitierten die Aja des Kronprinzen Baronin „Wowo“ Welden gemeint sei.
Bereits 1926 hatte Stephanies Schwester, Luise von Coburg, den Brief in ihren Memoiren1220 erwähnt, dort jedoch falsch zitiert: „Ich nehme Abschied vom Leben ... kümmere dich um Deine Tochter, es ist das Liebste, was ich
habe, und hinterlasse Dir diese Pflicht...“ Sicher war ihr der Brief nur vom Hörensagen bekannt – zumindest wird sie
keine Gelegenheit gehabt haben, eine Abschrift anzufertigen. Zu Beginn des Jahres 1935 wurde von Rudolfs letzten
Zeilen an Stephanie eine Fotografie angefertigt1221, um diese in den Memoiren der Gräfin Lonyay wiederzugeben. Die
fotografischen Platten wurde zu einem späteren Zeitpunkt Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek überlassen. Doch dort war auch das Original bekannt...
1215
Das Teilfaksimile aus dem Habsburg-Lothringen´sches Familienarchiv, Wien liegt dem Mayerling-Archiv vor
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, v. Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 1935
1217
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1218
Österreichische Nationalbibliothek Wien, Handschriftensammlung, 1121/35-3
1219
Prinzessin Stephanie von Belgien, Fürstin von Lónyay: „Ich sollte Kaiserin werden – Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn“, v. Hase & Koehler-Verlag, Leipzig 1935
1220
Luise von Coburg: „Throne die ich stürzen sah“, Amalthea-Verlag, Wien 1926
1221
Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien, 02.08.2004
1216
202
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
In einem Vermerk, der von Oberarchivrat Dr. Antonius Feil unterzeichnet wurde1222, belegt das damalige
Wiener Reichsarchiv 1941, dass der Abschiedsbrief des Kronprinzen – zusammen mit anderen Dokumenten aus dem
Besitz der ehemaligen Kronprinzessin – im Jahr 1936 im Original in Wien vorlag: „Das Original des Schreibens, das
in London im Auftrag der Gräfin Stephanie Lonyay zum Verkauf angeboten werden sollte, wurde mir im Jahre 1936
von Dr. Ernst Molden1223 zur Begutachtung vorgelegt. Es war zweifelslos echt. Ich habe durch den Regierungsrat Rudolf von Wonnesch, der auch zufällig zugegen war, die beiliegende Abschrift anfertigen lassen und diese selbst verglichen. Sie stimmen mit dem Original vollkommen überein.1224“ In der Anlage befinden sich eine händische sowie
eine getippte Abschrift des Briefes. Der Brief sollte – so wie andere Dokumente – 1936 in London versteigert werden
– Stephanies fürstlicher Haushalt verschlang viel Geld und auch ihre Liegenschaften waren verlustbringend1225. Zudem war ihre belgische Apanage in Höhe von 50.000 Francs inflationsbedingt kaum noch etwas Wert und das Honorar der Gatterburgs, die für Stephanie ihre Memoiren verfasst hatten, auch noch nicht vollständig gezahlt1226. Ein zweiter Grund, warum sich Stephanie von den persönlichen Dokumenten hatte eigentlich trennen wollen, war Rache – an
ihrer Familie, von der sie sich ungerecht behandelt fühlte und die immer wieder sich in ihre Privatangelegenheiten
eingemischt hatte. Zur Auktion kam es dann jedoch nicht – die Fürstin zog die Dokumente zurück, wohl auf Druck der
Familie1227.
Das Original des Briefes wurden 1944 auf Schloss Oroszvár von den Nationalsozialisten beschlagnahmt1228.
Dr. Irmgard Schiel schreibt in ihren Stephanie-Memoiren1229, der „deutsche Stadtkommandant von Budapest, SSObergruppenführer Veesenmayer1230“ habe im Herbst 1944 nach der Einquartierung in Oroszvár „Briefe des Kronprinzen Rudolf“ beschlagnahmt. Sie sollen nach Berlin gebracht worden sein. Nachdem am 19. März 1944 deutsche
Truppen Ungarn im „Unternehmen Margarethe“ besetzt hatten, wurde das Land im Herbst und Winter zum Frontland
und Gouverneur Horthy von Veesenmayer nach Deutschland verschleppt. Während Budapest bereits am 24. Dezember 1944 von sowjetischen Truppen eingeschlossen wurde, konnte ganz Ungarn erst im April 1945 befreit werden. Es
scheint also durchaus möglich, dass sich im Herbst des vorletzten Kriegsjahres der Budapester Stadtkommandant in
Richtung Westen absetzte und in Oroszvár Quartier nahm. Dass er jedoch gezielt nach dem Abschiedsbrief suchen
1222
Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21, AZL: 2067/1941
Molden, Ernst, geb. 30.05.1886 in Wien, gest. 11.08.1953 in Wien; Historiker, Journalist; Ehemann von Paula von Preradovic, Vater von Fritz Molden und Otto Molden. 1921-39 Redakteur der Wiener Tageszeitung "Neue Freie Presse“; 1946-53 Gründer, Herausgeber und Chefredakteur der in der Tradition der "Neuen Freien Presse" stehenden Zeitung "Die Presse".
1224
Vergleiche auch eine Bestätigung für ein Kaiser Franz Josephs an Stephanie vom 25.09.1904 vom 06.10.1941, HHStaA, A Zl.
2067/1941 Ministerium des k.k. Hauses, Einzelne Abhandlungen, K. 14; eine Kopie stellte und freundlichst Joseph van Loon,
Arendonk/Belgien zur Verfügung (12.01.2005).
1225
Zu den Liegenschaften der Fürsten gehörte auf Bodrog Olaszi ein Weingarten und auf Oroszvár eine Baumschule sowie eine
Geflügelzucht.
1226
Freundliche Mitteilung von Joseph van Loon, 12.01.2005, Arendonk/Belgien
1227
Vermutung von Joseph van Loon, 12.01.2005, Arendonk/Belgien
1228
Von den Schreiben, die Stephanie 1935 in ihren Memoiren veröffentlichte, wurden nachfolgende Briefe von der Gestapo beschlagnahmt: 29. April 1883 / 19. Oktober 1884 / 28. Dezember 1884 / 25. August 1885 / 5. Oktober 1885 / 6. März 1887 / 8.
März 1887 / 15. März 1887 / 21. März 1887 / 7. April 1887 / 20. Juni 1887 / 27. Juli 1887 (Druckfehler! dies muss Juni heißen) /
29. Juli 1887 / 31. Juli 1887 / 3. August 1887 / 7. August 1887 / 19. August 1887 / 8. Dezember 1887 / Telegramm vom 29. Jänner 1889 sowie die letzten, undatierten Zeilen des Kronprinzen. Joseph van Loon an den Verfasser, Arendonk/Belgien,
04.08.2004
1229
Schiel, Dr. Irmgard: „Stephanie - Kronprinzessin im Schatten von Mayerling“, deutsche Verlags Anstalt, Stuttgart 1978
1230
Veesenmayer, Dr. Eduard, geb. 1904, gest. 1977; seit 16.10.1944 Reichsbevollmächtigter für Ungarn; wurde im letzten Nürnberger Prozess, dem so genannten Wilhelmstraßen-Prozess gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes und anderer Ministerien zu
20 Jahren Haft verurteilt; die Strafe wurde 1951 in 10 Jahre Haft umgewandelt. Der Wirtschaftsexperte Veesenmayer, der nach
dem Krieg in Darmstadt lebte, war ab September 1941 als Sonderkommissär in der Stellung eines SS-Brigadeführers auf dem
Balkan für die Endlösung der Judenfrage eingesetzt.
1223
203
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ließ oder diesen auf höhere Weisung nach Berlin sandte, wie vermutet wird1231, erscheint uns nicht wahrscheinlich.
Auch Gräfin Gatterburg berichtet von der Konfiskation des Briefes in ihrem Buch „Im Schatten der Hofburg“. Woher
sie dies wusste, ist nicht bekannt…
Nach dem Krieg tauchte der Brief dann in Deutschland wieder auf: Der Historische AutographenLagerkatalog Nr. 105 der im damaligen Westberliner Sektor Halensee ansässigen Autographenhandlung Hellmut
Meyer und Ernst verzeichnet dann im Herbst 1955 als Posten 5 den Abschiedsbrief des Kronprinzen Rudolf, der für
500 Mark ausgerufen werden sollte und als eigenhändige Niederschrift des Erzherzogs sein Telegramm an Stephanie
vom 29. Jänner 1889, das für 360 Mark taxiert wurde1232. Abschiedsbrief und Telegramm wurden nach jetzigem
Kenntnisstand in die USA verkauft. Zudem wurden in Berlin aufgerufen: das eigenhändige Testament des Kronprinzen vom 02. März 1887 für 650 Mark und als Posten 6 für 25 Mark ein Photo der Baroness Vetsera, „Brustbild aus
dem Besitz des Kronprinzen Rudolf1233“ plus Visitenkarte von Alexander Baltazzi.
Hier verliert sich die Spur des Briefes zunächst… Am 1. März 1980 erschien im Kleinanzeigenteil der „Badischen Neuesten Nachrichten“ in Karlsruhe unter der Chiffre 45470 folgendes Verkaufsangebot: „Von Privat: Umfangreiche Dokumentation zur Tragödie Mayerling, dem tragischen Ereignis der Geschichte Österreichs. Die Sammlung
von über 40 eigenh. Briefen und Urkunden enthält den berühmten Abschiedsbrief von Kronprinz Rudolf an seine Frau
Stephanie (Tochter von König Leopold/Belgien). Verkaufspreis für die kompl. Sammlung 75.000,- DM Besichtigung
nach Vereinbarung.“ Ob die Sammlung damals verkauft wurde, wissen wir heute nicht. Allerdings: 1987 schenkte ein
Privatmann den „Abschiedsbrief“ zusammen mit anderen Dokumenten der Autographen- und Nachlass-Sammlung der
Österreichischen Nationalbibliothek1234!
Das mit Nummer 388 in der Wiener Burg eingegangene Telegramm wurde 1935 in Stephanies deutschen
Memoiren als Fließtext und 1937 als Faksimile in der britischen Ausgabe „I was to be empress1235“ veröffentlicht. Der
Text lautet:
Alland, den 29. Jänner 1889, 5.5 Uhr
Wien, den 29. Jänner 1889, 5.20 Uhr
Ich bitte dich schreibe Papa, dass ich gehorsamst um Entschuldigung bitten lasse, dass ich zum Diner nicht
anreisen kann, aber ich möchte wegen starkem Schnupfen die Fahrt jetzt Nachmittag unterlassen und mit Josl
Hoyos hier bleiben.
Umarme euch herzlichst
Rudolf.
Einen letzten Brief, ein beigefügtes Kodizill und einen von Rudolf an Ladislaus Szögyény-Marich adressiert
Umschlag verwahrte der Sektionschef sein Leben lang. Nach seinem Tod im Jahre 1916 verblieben die Schriftstücke
im Besitz der Witwe und wurde von der damals in Rom lebenden Tochter Camilla und dem Bruder des Botschafters,
Geza von Szögyény-Marich1236, verwaltet. Beide gewährten 1922 Oskar Freiherr von Mitis Einsicht in die Bestände
1231
Joseph van Loon an den an der Verfasser, Arendonk/Belgien , 16.08.2004
Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 23, A 23007: „Historische Autographen: darunter wichtige Briefe über die Tragödie von
Mayerling, ferner Autographen von Ärzten, Forschern, Gelehrten, katholischer Klerus, Handwerk“, Hellmut Meyer und Ernst,
Autographenhandlung und Antiquariat, Berlin (West), 1955
1233
hierbei handelte es sich um einen Ausschnitt aus einem Gruppenkabinettbild
1234
freundliche Mitteilung von Hofrat ao. Univ. Prof. Dr. Ernst Gamillscheg, Direktor der Handschriften-, Autographen- und
Nachlass-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, 18.01.2006
1235
H.R.H. Princess Stephanie of Belgium, „I was to be Empress“, Ivor Nicholson & Watson, London 1937
1236
Geza von Szögyény-Marich, geb. 1847, gest. 1927
1232
204
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
des Gräflich Szögyény-Marich´schen Archivs in Csór und gaben den umfangreichen Briefwechsel mit dem Erzherzog
für Mitis´ Rudolf-Biographie als Quelle frei. Geza Szögyény-Marich fertigte zudem für Mitis eine Abschrift des Kodizill und des ungarischen Abschiedsbriefes des Kronprinzen an, den dieser von Dr. Alexander Bischitz übersetzen
ließ. Camilla Somssich verweigerte jedoch die Publikationserlaubnis für den letzten Brief, so dass Mitis daraus in seinem 1928 erschienenen Werk nur dem Sinn entsprechend zitieren durfte.1237
Über den Brief und das Kodizill gab es seit 1889 Spekulationen: Moriz Jókai schrieb darüber kurz nach der
Tragödie im „Nemzet“ und in der „Wiener Abendpost“ Nr. 29 vom 05. Februar 1889, jedoch stimmte der Wortlaut
nicht mit dem Original überein und der publizierte Text, so Mitis, war eher eine Zusammenfassung von Brief und Kodizill. Ernst Edler von der Planitz stützte sich in seinem Mayerling-Buch1238 auf diese Publikation. 1922 zitierte Major
d.R. Viktor von Fritsche-Fritschen in seinem nicht veröffentlichen Brief Schreiben an Mitis den Brief so: „Lieber
Szögyény, ich muss aus diesem Leben scheiden. Ich bitte Sie die Papiere meiner Aktentasche und meines Schreibtisches in der Hofburg durchzusehen, zu ordnen und alles was Sie für notwendig halten zu verbrennen.1239“ 1926 gab
Guiseppe Borgese1240 den Brief in seiner Mayerling-Ausarbeitung mit diesem Wortlaut wieder: „Ich muss aus dem
Leben scheiden. Grüssen Sie in meinem Namen alle guten Freunde und Bekannten! Leben Sie glücklich, Gott segne
unser geliebtes Vaterland.“ Conte Corti meinte gar, der Text könne in Teilen so geheißen haben: „Ich muss sterben,
das ist die einzige Möglichkeit, um als Gentleman diese Welt zu verlassen.1241“
Diesen Spekulationen wurde erst Ende der 50-er Jahre durch das Auftauchen des tatsächlichen Wortlaut ein
Ende bereitet: Bei der Neuordnung der Photoplattensammlung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv waren sechs1242 undatierte und unsignierte Plattenaufnahmen aufgetaucht, die Staatsarchivar Dr. Rudolf Neck1243 1958 veröffentlichen
konnte1244. Der Brief an den Sektionschef, nach Dr. Neck vermutlich bereits am 28. Jänner in Wien geschrieben,
bringt zu den Gründen des Hinscheidens nichts neues, doch unterstreicht er noch einmal sehr deutlich Rudolfs Stellung zum ungarischen Volk:
Kedves Szögyény!
Kell meghalnom ez az egyetlen mód mint gentleman ezt a világot legalább elhagyni. Legyen oly szives iróasztalomat itt Bécsben a török szobában, ott hol annyiszor jobb idökben együtt ültünk, felnyitni és a papirokal
ugy bánni mint utolsó kivánatomban itt mellékelve fel van irva. Szivesen üdvözölve és Önnek és imádott magyar hazánknak minden jót kivánva vagyok Önnek.
1237
persönliche Mitteilung von Franz Graf zu Eltz, Wien 31.12.1995
von der Planitz, Ernst Edler: „Die volle Wahrheit über die Katastrophe von Meierling nach amtlichen und publicierten Quellen
sowie den hinterlassenen Papieren“, Verlag H. Piehler, Berlin, 40. Auflage ohne Datum
1239
Major d.R. Viktor von Fritsche-Fritschen an Oskar Freiherr von Mitis, Wien 22.03.1922; am 01.02.1889 habe ihm Szögyény
diesen Brief vorgelesen; HHStaA, Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 21
1240
Borgese, Giuseppe. A.: „Die Tragödie von Mayerling - Geschichte des Erzherzogs Rudolf von Oesterreich und seiner Geliebten Mary Vétzera“, Merlin-Verlag, Heidelberg 1927
1241
Corti, Egon Cäsar Conte und Sokol, Hans: „Franz Joseph“, Lizenzausgabe der Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.,
München, Verlag Styria, Graz 1960
1242
Eine Platte für den Umschlag, zwei Platten für den Brief, drei Platten für das Kondizil.
1243
Neck, Rudolf, geb. 1921, gest. ; Archivar, Staatsarchivar, wirklicher Hofrat, Generaldirektor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Historiker der österreichischen Arbeiterbewegung und zeitweise Geschäftsführer der „Wissenschaftlichen Kommission des
Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte 1927 bis
1938“.
1244
Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von
der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501
1238
205
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
hive Rudolf1245
In dem von Rudolf verfassten Kodizill als letztwilliger Anordnung – die jedoch vom indirekten Stil des Satzbaues nicht direkt an den Sektionschef adressiert gewesen sein dürfte – schreibt er in deutscher Sprache:
Sections-Chef von Szögyény-Marich soll die Güte haben, a l l e i n
g l e i c h meinen Schreibtisch im türkischen Zimmer in Wien aufzumachen. Folgende Briefe werden verschickt:
1. An Valerie
2. “ meine Frau
3. “ Baron Hirsch
4. an Mizi Caspar.
Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben. Mein Kammerdiener Loschek weiß ihre
Adresse genau. Alle Briefe der Gräfin Marie Larisch-Wallersee und der kleinen Vetsera an mich sind all sogleich zu verbrennen. Mit den anderen Schriften kann Szögyény nach Gutdünken handeln, mit militärischen
sich früher mit Oberstlieutenant Mayer ins Einvernehmen setzen.
Rudolf1246
Der Brief in ungarischer Sprache und das auf Deutsch verfasste Kodizill steckten in einem Umschlag, der Rudolfs
händische Aufschrift trug:
Seiner Excellenz Sections-Chef von Szögyény1247
Die tatsächlich neue Information dieser drei Schriftstücke ist die Identifikation der Empfänger weiterer Briefe
des Kronprinzen, nämlich seine Schwester Marie Valerie, sein Geldgeber Baron Hirsch und seine Geliebte Maria
Caspar.
Die Originale der drei Schriftstücke wurde 1945 in London von der zwischenzeitlich verarmten Tochter des
Sektionschefs, Camilla Gräfin Somssich, zur Auktion angeboten und von der Familie Rotschild ersteigert. Es ist davon auszugehen, dass sich die Stücke nach immer im Familienbesitz befinden. Die drei photographischen Plattenaufnahmen sowie die beiden Aufnahmen des Briefes und die Aufnahme des Umschlags befinden sich im Nachlass des
Kronprinzen1248.
Bereits in Mayerling angekommen, schrieb Rudolf ein Telegramm an Erzherzog Friedrich1249 in Budapest. Ob der
kurze Gruß in deutscher Sprache direkt durch den Draht zugestellt wurde, ist ungewiss. Sicher jedoch wurde die
Niederschrift des Kronprinzen dem Erzherzog am 31. Januar 1889 zugestellt – durch Post des Obersthofmeisters
Prinz Hohenlohe. Er sandte aus Wien das Original zusammen mit einigen begleitenden Zeilen nach Pressburg:
1245
nach Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs.
Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501 lautet die Übersetzung: Lieber Szögyény! Ich muß sterben, dies ist zumindest die einzige Art, wie ein Gentleman diese Welt zu verlassen. Haben Sie die Güte, meinen Schreibtisch hier in Wien im
türkischen Zimmer, dort wo wir in besseren Zeiten so oft zusammen saßen, aufzumachen und die Papiere so zu behandeln wie es
in meinem letzen Willen - hier beigeschlossen - aufgeschrieben ist. Herzlichst grüßend, und Ihnen und unserem angebeteten ungarischen Vaterland alles gute wünschend bin ich Ihr getreuer Rudolf.
1246
Faksimile bei Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501
1247
nach: Neck, Rudolf: „Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf“, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs.
Hg. von der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501
1248
Selekt Kronprinz Rudolf, Karton 23
206
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
„Eurer kaiserlichen Hoheit beehre ich mich im Allerhöchsten Auftrage beifolgendes in Mayerling vorgefundenes
Telegramm zu übersenden. Untertänigst Hohenlohe1250“ In dem kurzen Telegramm des Thronfolgers hießt es:
An seine k.k. Hoheit Erzherzog Friedrich in Preszburg.
Herzlichste Grüße.
Rudolf
Die Existenz des Telegramms war lange Zeit nicht bekannt. Erst Brigitte Hamann veröffentlichte es – fast unbemerkt – in den Fußnoten der dritten Auflage ihrer Rudolf-Biographie.
Bislang unveröffentlicht war auch jener einfache Zetteln, den Rudolf an Johann Loschek schrieb – und der
letztlich den Grafen Hoyos dazu veranlasste, seine „Denkschrift“ als Rechtfertigung zu verfassen. Graf Hoyos erinnerte sich in der kurz nach der Tragödie verfassten Schrift an den Text des Schreibens wie folgt: „Graf Hoyos lasse ich
grüßen. Die Baronesse lässt ihm sagen, er möge sich an das erinnern, was er ihr am Abend des Empfanges bei dem
deutschen Botschafter Prinz Reuß über Meyerling gesagt hat. Hoyos soll nicht nach Wien telegraphieren, sondern nur
nach Heiligenkreuz um einen Geistlichen schicken, damit dieser bei mir bethe.1251“
Johann Loschek hatte kurz vor seinem Tode eine andere Version im Gedächtnis – jedoch vier Jahrzehnte nach
den Ereignissen. Loschek erinnerte sich: „Lieber Loschek, holen sie einen Geistlichen und lassen sie uns in einem gemeinsamen Grabe in Heiligenkreuz beisetzen. Die Pretiosen meiner teuren Mary nebst Brief von ihr überbringen sie
der Mutter Marys. Ich danke ihnen für ihren jederzeit so treuen und aufopferungsvollen Dienste während der vielen
Jahre, welche sie bei mir dienten. Den Brief an meine Frau lassen sie ihr auf kürzestem Wege zukommen. Rudolf1252“
Wir erhielten 1996 den Hinweis, dass sich das Schreiben im Besitz der kaiserlichen Familie HabsburgLothringen befindet. Die Familie stimmte einer Veröffentlichung eines Auszuges im Originalwortlaut durch uns im
Jahre 2004 zu:
... Excellenc Hoyos, ich lasse ihn grüßen und bitten nicht zu telegraphieren; er soll um einen Geistlichen nach
Hl. Kreuz schicken, damit in der Nacht gebetet wird. Die Baronin lässt Graf Hoyos auch grüßen; er soll
nachdenken, was er ihr beim Prinz Reuß über die Jagd in Mayerling gesagt hat...1253
Nach diesen belegten Zeilen widmen wir uns nun drei weiteren Briefen, über deren Existenz uns das Kodizill
unterrichtete – an die Schwestern, an den Geldgeber und an die Geliebte.
Marie Valerie
Die Schwester, folgt man dem Tagebuch, war von Rudolfs Selbstmord so überzeugt, dass sie immer wieder
„eine höhnende Stimme zu hören [glaube], die ihr „Schwester eines Selbstmörders!“ ins Ohr“ rief1254.
1249
Friedrich, Erzherzog von Österreich, geb. 04.06.1856 in Groß-Seelowitz (Zidlochovice/Tschechien), gest. 30.12.1936 in Mosonmagyaróvár, Herzog von Teschen, Erbe seines Onkels Erzherzog Albrecht
1250
Handschriftensammlung der Szechényi-Nationalbibliothek, Budapest. Freundliche Mitteilung und Übersendung des Faksimile
durch Dr. Orsolya Karsay, Leiterin der Handschriftensammlung, Budapest, 19.05.2003
1251
Hoyos-Denkschrift, veröffentlicht erstmals in Oskar Freiherr von Mitis „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag
Leipzig 1928
1252
nach „Berliner Illustrierte Zeitung“, 24.04.1932; so auch bei Heinrich von Slatin, Neues Wiener Tagblatt Nr. 224 vom
15.08.1931
1253
Habsburg-Lothringen´sches Familienarchiv, Wien
207
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kommen wir zum dritten, im Kodizill genannten Empfänger eines Abschiedsbriefes, Moritz von HirschGereuth1255. Als der Kronprinz in Österreich keine Geldgeber für ein Zeitungsgeschäft mit hohem Risiko finden
konnte – nämlich die Finanzierung des 1886 von Moriz Szeps gegründeten „Wiener Tagblattes“ –, wandte er sich an
den abwechselnd in Brüssel, Paris, London und Ungarn lebenden Adeligen jüdischen Bekenntnisses. Der Baron, nach
Hamann „einer der reichsten Männer der Zeit“, hatte stets für alle jüdischen Belange ein offenes Ohr – und für jene
des Kronprinzen.
Moritz von Hirsch hatte 1887 seinen einzigen Sohn Lucien Jacques-Maurice1256 mit 31 Jahren verloren – seine
Tochter war bereits als Kind gestorben. Nach Hamann hatte dieser tragische Umstand eine besondere Bedeutung für
das positive Verhältnis des Mannes zum 27 Jahre jüngeren österreichischen Thronfolger. Nach dem Tod des Sohnes
zog sich der Bankier merklich auch der Finanzpolitik zurück und widmete sich mehr und mehr seinen philanthropischen Bestrebungen. 1887 schrieb Hirsch: „Der Kronprinz hat mich bezaubert. Ich war fest entschlossen, seit dem Tod
meines Sohnes mich in gar keine Affaire mehr einzulassen, geschweige denn in eine Zeitungsaffaire. Ich bin nur mit
einer Sache beschäftigt, alles zu liquidieren. Allein der Kronprinz hat es mit angetan. Er hat große Principien und erhabene Ideen. Wenn er sich für eine Sache ausspricht, so muss die Sache gut sein.“
Auf Initiative des Kronprinzen geht, so Brigitte Hamann, auch die „Baron-Hirsch-Stiftung für jüdische und
nichtjüdische Kinder in Österreich“ zurück, die Hirsch zur Feier des 40-jährigen Regierungsjubiläums des Kaisers
1888 einrichtete. Er stellte 12 Millionen Francs für die Erziehung jüdischer und nichtjüdischer Kinder in Galizien zur
Verfügung, dem judenreichsten und ärmsten Teil der Monarchie mit einem Analphabetenstamm von bis zu 60
Prozent. Doch die Idee, dass mit dem Geld Volks- und Gewerbeschulen für Juden und Christen gebaut werden sollten,
mobilisierte die antisemitische Wiener Presse und auch jüdisch-orthodoxe Kreise waren gegen den Plan, da sie im
gemeinsamen Unterricht eine Gefahr für die traditionelle jüdische Erziehung sahen. Das Projekt scheiterte daran.
Augenscheinlich hat Rudolf bei Hirsch mehrfach Kredite aufgenommen – für Szeps ebenso wie für seine sexuellen Eskapaden. In der Korrespondenz zwischen dem Erzherzog und dem Journalisten tauch der Name Hirsch als
„Goldonkel“ des Kronprinzen erstmals im November 1887 auf, als Szeps eine größere Anleihe benötigte. Der Finanzier gab nach einem Gespräch mit Szeps tatsächlich 100.000 Gulden, schreib diesem jedoch am 15. November 1887:
„Was ich für Ihr Journal thue, das thue ich ganz und gar, um meine Bewunderung für die Persönlichkeit des österreichischen Thronfolgers auszudrücken. Niemand anderer als er wären im Stande gewesen, mich zu bestimmen, einen
Abzug von der Summe zu machen, die bereits für andere Zwecke ihre Verwendung finden sollte.“ Das Band zwischen
Szeps und Hirsch war der gemeinsame Kampf gegen den Antisemitismus. Hirsch war von der Assimilation zwischen
Juden und Christen überzeugt – ebenso wie Szeps als begeisterter und überzeugter Deutsch-Österreicher. Eine weitere
Geldspitze über 700.00 Gulden für die Fusion zwischen dem „Wiener Tagblatt“ und dem „neuen Wiener Tagblatt“
lehnte Hirsch dann jedoch ab – die Summe war wohl entschieden zu hoch, vermutet Hamann.
1254
Wandruszka, Adam in „Mayerling und kein Ende“, Die Zeit/Hamburg, 09.01.1993
Hirsch-Gereuth, Moritz Freiherr von, geb. 09.12.1831 in München, gest. 20.04.1896 auf seinem ungarischen Gut O-Gyala im
Komitat Komorn, beigesetzt am 26.04.1896 im Familiengrab in Paris; gebürtiger Deutsche, Österreich-Ungarischer Staatsbürger,
jüdischer Glaube, 1869 in den bayerischen Freiherrenstand erhoben, Bankier in Brüssel; Enkel des ersten jüdischen Landbesitzers
in Bayern – Joel Jakob genannt Julius von Hirsch (geb. 05.09.1789 in Königshofen, gest. 06.09.1876 in WÜrzburg), Sohn des königlichen bayerischen Bankiers Joseph von Hirsch-Gereuth (geb. 02.07.1805 in Würzburg, gest. 09.12.1885 auf Schloß Planegg)
und der Caroline Wertheimer (geb. 31.08.1808, gest. 1896)
1255
208
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Ende 1888 soll, so Judtmann nach den Aufzeichnungen des englischen Diplomaten Sir Robert Bruce Lock1257
hart
, der Baron dem Erzherzog 100.000 Gulden geliehen haben, die er Maria Caspar „hinterlassen“ wollte. Auch
Hoyos berichtet ja in seiner Denkschrift unter Berufung auf die Zeugenschaft Erzherzog Ottos, dass sich Rudolf Geld
für die Beziehung zur Caspar „bei Baron Hirsch“ geliehen habe: „Fact ist, daß in der Schreibtischlade des Kronprinzen ein Couvert´, das ich selbst sah, gefunden wurde, welche die volle Adresse des Kronprinzen mit Angabe: Inhalt
100.000 fl. trug, aber nur mehr mit 30.000 fl. beschwert war.“ Tatsächlich zahlte der Wiener Hof nach Rudolfs Tod
150.000 Gulden an Hirsch zurück. Im Februar 1889 gründete Hirsch dann in Wien, London, Paris, Krakau, Lemberg,
New York und Krakau Wohltätigkeitsbüros mit einem Kapital von drei Millionen Gulden. 1891 rief der dann die
„Jewish Colonization Assoziation (I.C.A.)“ ins Leben – mit einem Startkapital von 1,4 Millionen Pfund, das später auf
acht Millionen Pfund aufgestockt wurde. Die Aktiengesellschaft finanzierte die Überfahrt osteuropäischer Juden und
stellte ihnen als Darlehen Landparzellen samt Inventar in Argentinien zur Verfügung1258. Heute wird geschätzt, dass
seit 1891 rund 230.000 jüdische Siedler ihre Existenz in Argentinien dem Engagement des Barons verdanken1259. Sein
Testament schließt mit den Worten „Ehrlich und furchtlos: Damit erweist man sich selbst den größten Dienst und erwirbt sich die Hochachtung der Menschen.1260“
Sein Vermögen hatte Moritz Hirsch ab 1869 Konzessionär der Orientbahn von Wien nach Konstantinopel
gemacht, die 1888 fertig gestellt wurde und ihn zu einem der bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit machte. Zur
Finanzierung wurden 3 Prozent Obligationsscheine, die so genannten „Türkenlose“, ausgegeben – sie brachten Hirsch
den Namen „Türkenhirsch“ ein. Nach Finanzstreitereien mit der türkischen Regierung, der Hohen Pforte, verkaufte
Hirsch seine Bahnaktien 1888 an ein Konsortium der Deutschen Bank, des Wiener Bankvereins und der Schweizerischen Kreditanstalt. Der Verkauf brachte ein geschätztes Vermögen von bis zu 170 Millionen Francs1261. Im Herbst
1888 arrangierte Rudolf ein Treffen im Wiener Grand Hotel zwischen Hirsch und dem englischen Prinzen von Wales,
dem späteren König Edward VII., der ebenfalls Geld benötigte. Durch eine lancierte Pressemitteilung wurde danach
bekannt, dass der „Türkenhirsch“ zum Kreis zweier Thronfolger zu zählen war.
Doch nicht nur für die sexuellen und schriftstellerischen Eskapaden des Erzherzogs gab Hirsch sein Geld aus,
Rudolf nutzte diese Quelle auch für die Realisierung seiner wirtschaftspolitischen Pläne, wie die Förderung der Handelsflotte. All dies und die persönliche – jedoch bislang nicht ausreichend dokumentierte – Ebene der Beziehung
zwischen Hirsch und Habsburg mögen für den Kronprinzen ausschlaggebend gewesen sein, letzte Zeilen an den Baron
zu richten.
1256
Hirsch-Gereuth, Lucien Jacques-Maurice von, geb. 1856, gest. 1887; verheiratet mit Catherine Francoise, geb. Premelic; gemeinsame Tochter: Lucienne Isaac Marie Premelic-Hirsch, geb. 06.10.1885, verheiratet seit 18.05.1904 mit Eduard Georges Jules
Balzer, geb. 02.12.1877 in Brüssel
1257
Robert Bruce Lockhart, geb. 1887, gest. 1970 in London, britische Diplomat, ab 1912 als Vize-Konsul in Moskau und ab
1916 als Mitarbeiter der Spionage dort tätig, Drahtzieher eines britischen Komplotts, auf das hin Rudolf Hess 1944 nach Schottland flog und dort verhaftet wurde, Autor von: Mich rief Europa - Begegnungen auf dem Kontinent, Stuttgart: Deutsche Verlags
Anstalt DVA 1953
1258
Nach dem Tode des Barons wurden seine Aktien unter den jüdischen Gemeinden in Frankfurt, Berlin und Brüssel sowie weiteren jüdischen Allianzen aufgeteilt.
1259
Noch heute existieren in Argentinien und Süd-Brasilien Baron Hirsch-Siedlungen, wie z.B. die Colónia Barón Hirsch nahe La
Pampa/Argentienien.
1260
Bosl, Erika: „Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert“ in: „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern –
Lebensläufe“, herausgegeben von Manfred Treml und Wolf Weigand, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 18, München 1988
1261
Bosl, Erika: „Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert“ in: „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern –
Lebensläufe“, herausgegeben von Manfred Treml und Wolf Weigand, Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 18, München 1988
209
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Der Inhalt von Rudolfs Briefe an Moritz Hirsch wurde nicht bekannt. Nach Kaiserin Elisabeths Tod hatte der
Wiener Hof 1899 dieses Schreiben – zusammen mit anderen Briefen des Kronprinzen an den Bankier – der Witwe abgekauft. In einem Brief nach Wien schreibt Clara Hirsch1262, ihr sei es sehr schwer gefallen, diese „Reliquien“ herauszugeben. Brigitte Hamann schließt daraus, dass es sich nicht nur um Geld und Anleihen in der Korrespondenz gedreht haben kann.
Judtmann hatte während seiner Buchrecherche zum damals 93-järhigen Neffen des Barons, Dr. Rudolf Freiherr von Hirsch1263, im bayerischen Planegg Kontakt, der jedoch keine Informationen zu den letzten Zeilen des Kronprinzen weitergeben konnte1264. Dies deckt sich mit unserer Recherche bei Herbert Freiherr von Hirsch im bayerischen
Planegg.
Mit dem Brief an den Baron ist auch jener an Maria „Mizi“ Caspar verknüpft, mit der Rudolf seine letzte
Nacht in Wien vom 27. auf den 28. Januar 1889 verbrachte. Nach übereinstimmenden Berichten lernte Rudolf Maria
Caspar 1886 im Wiener Etablissement der Kupplerin Wolf kennen1265, „nachdem er aus dem ehelichen Schlafzimmer
ausgesperrt worden war.1266“ Nach der Denkschrift des Grafen Hoyos fand das letzte Treffen der Beiden in der Hofburg statt. Im Akt des Polizeipräsidenten Baron Krauß liegt jedoch der Bericht eines Polizeikonfidenten, der durch die
„Kupplerin“ Wolf Informationen von Mitzi Caspar bezog. Darin heißt es im Gegensatz zu Hoyos: „Montag den
28/1.1889 war E. R. [Erzherzog Rudolf, Verf.] bei Mizi bis 3 Uhr morgens, trank sehr viel Champagner und gab dem
Hausmeister 10 f. Sperrgeld1267. Als er sich von Mizi empfahl, machte er ganz gegen seine Gewohnheit ihr an der
Stirn das Kreuzzeichen. Von Mizi fuhr er (direct?) nach Mayerling. (…) Übrigens soll K.R. sehr verschuldet gewesen
sein, die Möbel der Mizi sind nicht bezahlt und er soll bei Baron Hirsch bedeutende Summen geborgt haben.1268“ Ob
der Bericht der Hoyos-Denkschrift stimmt oder Meißner Recht hat, ist nicht klar – von Bedeutung ist nur, dass der
Kronprinz die letzte Nacht vor der Abreise nach Mayerling mit Maria Caspar verbracht hat.
Der Kronprinz hatte über seinen Tod hinaus für seine „Mizi“ gesorgt: An Szögyény-Marich schrieb er ja,
„Was von Geld sich vorfindet bitte ich alles Mizi Caspar zu übergeben. Mein Kammerdiener Loschek weiß ihre Adresse genau.1269“ Zudem hinterließ er ihr einen „letzten, von Liebe überströmenden Brief1270“, den er über den Sekti1262
Hirsch-Gereuth, Clara Baronin von, geb. Bischoffsheim geb. 13.06.1833 in Antwerpen, gest. 01.04.1899 in Paris; seit
28.06.1855 mit Moritz Hirsch verheiratet; die Literatur nennt zwei Adoptivsöhne, Arnold und Raymond de Forest; Gründerin der
„Freiherrlichen von Hirsch´schen Stiftung“ für Wöchnerinnen und Rekonvaleszenten in München
1263
Hirsch-Gereuth, Dr. Robert Freiherr von, geb. 1875, gest. 22.05.1975 in Planegg, Quantenphysiker, Ehrenbürger der Gemeinde Gräfelfing/Bayern, verheiratet mit Elisabeth Freifrau von Hirsch, geb. von Kobell (geb. 09.04.1880 in Metz/Frankreich, gest.
07.05.1956 in Planegg/Bayern); das Ehepaar Hirsch war in der Reichspogromnacht 1938 in Planegg größeren antisemitischen Aktionen ausgesetzt.
1264
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1265
Brigitte Hamann nennt dieses extravagante Bordell den „vornehmsten Salon Wiens“, was jedoch übertrieben erscheint. Nachforschungen über Frau Wolf, die Peter Broucek für seinen Artikel „Kronprinz Rudolf und k.u.k. Oberstleutnant im Generalstab
Steininger“ in den Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 26, 1973, im Allgemeinen Verwaltungsrachiv Wien, im
Archiv der Polizeidirektion Wien, im Niederösterreichischen Landesarchiv sowie im Archiv des Landes und der Stadt Wien
durchführte, brachten kein Ergebnis. Nach einem Brief Rudolfs an Steininger, Wien 09.04.1887, hatte neben seinem Schwager,
Prinz Philipp von Coburg, auch der preußische Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm II., Kontakt zur Kupplerin Wolf und
dieser auch einen handschriftlichen Brief zugesandt, den der Kronprinz seit ca. 1882 besaß.
1266
Salvendy, John T.: „Rudolf - Psychogramm eines Kronprinzen“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
1267
Der Hausmeister als Informant wurde später von Maria Caspar entlassen und schimpfte fortan über sie als „die Huren Bagage“; zitiert nach Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987
1268
zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 sowie in
originaler Diktion bei Hummelberger, Dr. Walter: „Maria Caspar und Josef Bratfisch - Biographische Notizen“, Mitteilungen des
Österreichischen Staatsarchivs, Hg. von der Generaldirektion, Band 19/20 Wien 1963/64
1269
Rudolf Neck, Über die Abschiedsbriefe des Kronprinzen Rudolf, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Hg. von
der Generaldirektion, Nr. 11, 1958, S. 495-501
1270
Hoyos-Denkschrift, zitiert in Mitis, Oskar Freiherr von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
210
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
onschef zugestellt wissen wollte. Über die Summe, die die Caspar tatsächlich erhielt, schwankt zwischen 10.000 und
60.000 Gulden. Nach Spekulation von Hoyos war das Geld durch den Prinzen Louis Eszterházy1271 bei Baron Hirsch
beschafft worden, damit das kronprinzliche Sekretariat davon nichts erfahre.
Maria Caspar starb, unverheiratet und kinderlos1272, am 29. Januar 1907 mit 42 Jahren an „Rückenmarksverhärtung1273“, einer Folgeerkrankung der Syphilis. Zeit ihres Lebens war es ihr gelungen, dass ihre Beziehung zum
Kronprinzen nicht ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. Im Nachlass des Kronprinzen fand sich neben einer Fotografie auch eine Marmorstatue der Caspar, die als Lautenspielerin dargestellt ist. Einen Abschiedsbrief des Kronprinzen suchen wir dort jedoch vergebens. Die treue Freundin und Vertraute des Erzherzogs dürfte ihn sicher aus Loyalität vor ihrem Tode vernichtet haben.
Kommen wir nun zu den in der Literatur erwähnten, jedoch nicht zu belegenden letzten Zeilen des Paares.
Grafen Hoyos erinnert sich in seiner Denkschrift an ein gemeinsames Billett des Kronprinzen und der Baroness an den im Exil lebenden portugiesischen König Michael II.1274, das in Mayerling aufgefunden worden sein soll.
„Diesem schreibt die Baronesse (da sie selbem vom Lande, da der Herzog in der Nähe ihres Pachtschlosses Schwarzau stationiert war, kannte) einen heiteren Brief, indem es sich hauptsächlich um eine Boa (Halspelz) handelt, die sie
ihm vermacht und die er ober seinem Bett aufhängen solle. Ein Postscriptum des Kronprinzen sagt nur: Servus Wasserer! und Unterschrift. Wasserer1275 war ein dem Herzog gelegentlich der Jagden in Görgeny, wegen eines getragenem
rothen Halstuches gegebener Spitzname, (Zeuge Herzog von Braganza).1276“ Ob die Auslassung der Baroness tatsächlich heiter waren, wie Hoyos meint, oder ob es sich lediglich um eine in Wien beliebte Phrase der spöttischen Verachtung handelte, kann heute nur noch vermutet werden.
Der angebliche Wortlaut dieses Briefes wurde am 8. Februar 1889 vom „Figaro“ veröffentlicht, wobei lediglich der Kronprinz als Autor genannt und auch der Nachsatz weggefallen ist:
„Lieber Freund! Ich muß sterben. Ich konnte nicht anders handeln. Gehab dich wohl. Servus dein Rudolf1277“.
1271
nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos - Ein Tatsachenbericht“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968 war Eszterházy Legationsrat an der österreichischen Botschaft in London
1272
Die u.a. bei Markus, Georg: „G´schichten aus Österreich“, Amalthea-Verlag, Wien 1987 erwähnte uneheliche Tochter „Maria“ ist uns in keinem Originaldokument – siehe das Testament, in dem sie sicher erwähnt worden wäre – aufgefallen; es handelt
sich wohl um eine Verwechselung mit der Stiefschwester.
1273
Archiv der Stadt Wien, Totenbeschauprotokoll, 1907-C.
1274
Michael II., Herzog von Braganza (auch Dom Miguel II., 22. Duke de Braganca), geb. 19.09.1853 im Schloss Kleinheubach/Deutschland, gest. 11.10.1927 in Seebenstein/Österreich. Sohn von Adelheid „Ada“ von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg
(geb. 03.04.1831 in Schloss Kleinheubach, gest. 16.12.1909 in der Abtei St. Cecile, Isle of Wight) und dem seit den Miguelistenkriegen (in der portugiesischen Geschichte einen von 1832 bis 1834 dauernden Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Königs
Miguel I. und den Anhängern seines Bruders, des Exkönigs Peter IV. und dessen Tochter Maria II.) ab 1834 im deutschen Exil lebenden König Miguel I. von Portugal, Duke de Braganza (geb. 26.10.1802, gest. 14.11.1866 in Bronnbach/Deutschland, beigesetzt in der 1845 errichteten Fürstengruft der Familie Löwenstein-Wertheim-Rosenberg neben der Antoniuskapelle des Franziskanerkloster St. Michael auf dem Engelberg bei Großheubach am Main / Deutschland). Am 5. April 1967 wurden die Gebeine des
vertriebenen Königs in seine Heimat Portugal überführt (Königsgruft Lissabon) und der wuchtige Grabstein stehend in die Kapellenwand eingelassen. Da Dom Miguel II. portugiesischen Boden nicht betreten durfte, lebte der k.u.k. Feldmarschallleutnant der
kaiserlichen Streitkräfte (seit 12.10.1917 ) – wie sein Vater – im Exil: lange Zeit auf Schloss Seebenstein bei Wien, von 1919 bis
1921 im Kloster Bronnbach an der Tauber und danach wieder in Seebenstein, wo er 1927 verstarb. Er wurde am 14. Oktober 1927
von Seebenstein nach Bronnbach überführt und dort am 17.10.1927 in der 1925 errichteten Familiengruft an der Kommunionbank
in der Klosterkirche Mariä Himmelfahrt beigesetzt. Zur seiner Beisetzung kamen u.a. Zar Ferdinand von Bulgarien und der Prinz
von Hohenzollern.
1275
Wasserer wurden in Wien nach Judtmann die Wagenwäscher der Fiaker genannt, die auf den Standplätzen die Pferde tränkten.
1276
Mitis, Oskar von: „Das Leben des Kronprinzen Rudolf“, Insel-Verlag, Leipzig 1928
1277
„Figaro“, zitiert in deutscher Übersetzung in Ernst Edler von der Planitz, „Die volle Wahrheit über die Katastrophe von Meierling nach amtlichen und publicierten Quellen sowie den hinterlassenen Papieren“, Verlag H. Piehler, Berlin, 40. Auflage ohne Datum
211
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Seit 1881 Witwer, hatte der portugiesische Thronprätendent1278 und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies1279
der Baroness Mary Vetsera Avancen gemacht, die jedoch von ihr nicht erwidert wurden. Nach einigen Quellen war er
sogar mit der Baroness verlobt1280, was ihr Vetter Heinrich Baltazzi-Scharschmid auch dem Mayerling-Forscher Dr.
Gerd Holler gegenüber bestätigte1281. Eine weitere Bestätigung findet sich bei Marie Larisch, von der Baroness selbst
ausgesprochen. Im Originaltext der Gräfin heißt es: „Ich habe sogar mit Rudolf über den Mann gesprochen, der mich
zum Weibe haben will. (...) Der dumme Herzog von Braganza (...) Er ist so in mich verliebt, dass er alles tun wird,
was ich von ihm verlange.1282“
Richtig scheint zu sein, dass der zu Beginn der 80-er Jahre in Schwarzau im Gebirge stationierte Offizier oft
Gast der Vetseras war – nicht nur im ländlichen Schlösschen, sondern auch im Wiener Palais der Familie, mindestens
einmal sogar in Anwesenheit der Gräfin Larisch. Dass die Baronin den Portugiesen als möglichen Ehemann ihrer
Tochter Mary sah, ist ebenfalls durchaus denkbar – doch nutze die Baroness ihren Courmacher vor allem als Auskunftsquelle. Der portugiesische Herzog, der später auf Schloss Seebenstein1283 in Niederösterreich lebte, stand durch
seine vom Kronprinzen als Frauenideal vergötterte Schwester Maria Theresia1284, die mit dem Kaiserbruder Karl
Ludwig1285 verheiratete war, dem Hause Habsburg nahe. Zudem war er in erster Ehe seit seiner Zeit als Oberleutnant
des 14. Dragoner-Regiments mit der Tochter von Kaiserin Elisabeths Schwester Helene, Elisabeth von Thurn und Taxis1286, verheiratet. Seine Schwester, Infantin José1287, war zudem seit 1874 die zweite Frau des Bruders der Kaiserin,
Karl Theodor1288. Die Kaiserin war somit gleichsam die Tante seiner Frau und Schwester seines Schwagers während
der Kaiser der Bruder seines Schwagers war. Zusätzlich ist zu erwähnen, dass Elisabeths Mutter Ludowika in den Vater des Herzogs verliebt war, doch ihr Vater dem landlosen König die Hand seiner Tochter verweigerte1289.
1278
Seit dem Tod seines Vaters 1866 als Miguel II. portugiesischer Thronanwärter; nach Familienstreitigkeiten – er hatte zusammen mit seinen beiden erstgeborenen Söhnen im Ersten Weltkrieg auf der Seite Österreichs gekämpft und somit nicht für sein
Heimatland Portugal – verzichtete er am 31.07.1920 auf seinen Anspruch auf die Krone Portugals zu Gunsten seines Sohnes Dom
Duarte II. Nuno von Braganza (23.11.1907 bis 24.12.1976), der 1921 vom ebenfalls im Exil lebenden letzten portugiesischen König, Emanuel II. aus dem hause Sachsen-Coburg und Gotha (regierte von 1908 bis 1910), als sein Nachfolger und somit Chef des
Hauses Braganza anerkannt wurde.
1279
Der Herzog ist der 1060. Träger des Ordens, verliehen am 26. April 1881
1280
Judtmann, Fritz, „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1281
Holler, Dr. Gerd, „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea-Verlag, Wien 1988
1282
Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy,
Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin um 1913
1283
Das aus zwei Burgen bestehende Schlossareal Seebenstein mit der 1092 errichtete romanische Burg Alt-Seebenstein und dem
Neuen Schloss wurde 1824 von Reichsgraf Johann Karl von Pergen an Fürst Johannes von und zu Liechtenstein verkauft. Die
Anwesen blieben bis 1942 im Besitz der Familie Liechtenstein und wurden dann an Lilly Nehammer-Prinz veräußert.
1284
Maria Theresia von Braganza, geb. 28.08.1855 in Kleinheubach, gest. 12.02.1944 in Wien, beigesetzt in der Kapuzinergruft;
nach dem Tode des Kronprinzen nahm sie nach der meist verhinderten Kaiserin die Stelle der ersten Dame des Reiches ein, die sie
auch nach dem Tod ihres Gatten ausfülle – man spekulierte sogar über eine mögliche Ehe mit dem verwitweten Kaiser Franz Joseph.
1285
Karl Ludwig, geb. 30.07.1833 in Wien, gest. 19.05.1896 in Wien, beigesetzt in der Kapuzinergruft, nach dem Tode des Kronprinzen erster der Thronfolge und Vertreter des Kaisers; Vater des Thronfolgers Franz-Ferdinand; in dritter Ehe verheiratet mit
Maria Theresia von Braganza; die Hochzeit vollzog 1873 der Mainzer Bischof Ketteler auf dem Schloss des Katholikentagspräsidenten Fürst Karl Löwenstein-Wertheim-Rosenberg in Kleinheubach.
1286
Elisabeth von Thurn und Taxis (geb. 28.05.1860 in Dresden, gest. 07.02.1881 in Ödenburg, beigesetzt als „Donna Elisabeth
de Braganca“ auf dem Engelberg), Hochzeit am 17. 10 1877 in Regensburg
1287
Marie Josepha (José) de Braganza, Infantin von Portugal, geb. 19.03.1857, gest. 11.03.1943, beigesetzt in der Grabkapelle im
Schloss Tegernsee
1288
Karl Theodor, Herzog in Bayern, Dr. der Augenheilkunde, geb. 09.08.1839 in Possenhofen/Bayern, gest. 30.11.1909 in
Kreuth/Bayern, beigesetzt in der Gruftkapelle im Schloss Tegernsee; verheiratet in zweiter Ehe mit der Infantin, die ihm fünf Kinder gebar.
1289
Sokop, Brigitte: „Jene Gräfin Larisch - Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee. Vertraute der Kaiserin - Verfemte nach
Mayerling“, Böhlau-Verlag, Wien 1992
212
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
In vielen Quellen wird der Herzog Jagdgefährte und Freund des Kronprinzen genannt. Eine besondere Freundschaft der beiden Männer ist durch externe Quellen jedoch nicht verbürgt. Clemens Gruber zitiert allerdings den Hoftelegraphisten Wilhelm Moeller, dem der Militärfunktionär Theodor Brantner1290 gesagt haben soll: „Herzog Miguel
von Braganza, Freund des Kronprinzen, war für den 29. Januar [1889] nach Mayerling eingeladen. Der Herzog war
damals in Graz in Garnison und hatte wegen eines Vorfalls von seinem Kommandanten Stationsarrest bekommen. Er
telegrafierte daher an den Kronprinzen, dass er wegen einer dienstlichen Ursache nicht kommen könne.“ Zudem soll
der Portugiese „später einmal bei einer Tafel“ und in „Weinlaune“ erzählt haben, Prinz Philipp von Coburg habe den
Kronprinzen mit einer Champagnerflasche in Mayerling erschlagen, als er diesen mit der Baroness Vetsera gemeinsam im Bett vorfand. „Die Baronesse hat sich nach diesem Erlebnis selbst den Freitod gegeben.1291" Eine weiteres
Zeugnis, dass der Herzog als Gast nach Mayerling hätte kommen sollen, findet sich an keiner anderen Stelle.
Ob eine Zuneigung zu Mary Vetsera tatsächlich ernsthaft von Seiten des Herzogs kam, ist zweifelhaft: 1886
hatte er über seine Schwester bei der Kaiserin um die Hand der bereits mit Erzherzog Franz Salvator zärtlich verbandelten Erzherzogin Marie Valerie angehalten. Diese in ihrem Tagebuch über den gut aussehenden Portugiesen: „Ich
brüllte laut auf – ich Miguels Frau ... den ich kaum 5 Minuten in eine halbdunklen Zimmer gesehen, kaum gesprochen, der so berühmt dumm ist, dass ihn jedermann auslacht ... wie ein Lustspiel.1292“ Nebenbei: Auch Mary Vetsera
hatte laut Larisch über den „dummen Herzog von Braganza“ nicht zu positiv gesprochen und der Gräfin gesagt: „Du
weißt doch, wie blöd er ist.1293“
Über den Verbleib eines möglichen Billetts von Mary und Rudolf an den Herzog ist nichts bekannt. Weder
am Sterbeort Seebenstein noch im bayerischen Kloster Bronnbach1294, wo die Braganzas beigesetzt wurden1295, gibt es
ein Familienarchiv.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei überlieferten 20 letzten Handschriften des Kronprinzen insgesamt
vier im Faksimile bekannt sind bzw. im Original vorliegen – dies entspricht 20 Prozent; von drei weiteren ist bekannt,
dass sie verfasst wurden, doch kennen wir keine Faksimile oder Originalabschriften! Von den überlieferten neun letzten Handschriften der Baroness Vetsera sind keine im Original oder Faksimile erhalten.
1290
Brantner, Theodor, geb. 1882, gest. 1964, beigesetzt am 18.12.1964 auf dem Hietzinger Friedhof in Wien, Gruppe 55 Nr. 65;
von 1934 und 1935 als erster Sektionschef im Ministerium für Landesverteidigung, in der Wehrmacht nach dem Anschluss Österreichs u.a. als General der Kavallerie tätig
1291
Gruber, Clemens M: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
1292
Marie Valerie von Österreich: „Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth 1878-1899“, herausgegeben von
Martha und Horst Schad, Verlag Langen Müller, München 1998
1293
Wallersee, Marie Freiin von: „Meine Vergangenheit - Wahrheit über Kaiser Franz Josef/Schratt, Kaiserin Elisabeth/Andrassy,
Kronprinz Rudolf/Vetsera“, Verlag Es werde Licht GmbH, Berlin um 1913
1294
Die 1151 gegründete ehemalige Zisterzienserabtei Bronnbach war von 1803 bis 1986 im Besitz des Fürstenhauses Löwenstein-Wertheim-Rosenberg und gehört seitdem dem Main-Tauber-Kreis.
1295
In der Familiengruft der Braganzas sind neben dem Herzog seine Söhne aus erster Ehe beigesetzt: Michael (Miguel III.) Maximilian Sebastian Maria, Duke de Viseu (geb. 22.09.1878 in Reichenau/Rax, gest. 21.02.1923 in New York; standesgemäß verheiratet mit der von Kaiser Franz Josef als „Prinzessin von Braganza“ in den Adelsstand erhobenen Amerikanerin Anita Stewart,
geb. 07.08.1886 in Elberon/New Jersey, gest. 15.09.1877 in New York; aus der Ehe entstammen zwei Söhne und eine Tochter)
und Franz Josef (geb. 07.09.1879 in Meran/Italien, gest. 15.06.1919 Insel Ischia). Heute ruht in der Gruft – jedoch ohne Nennung
auf den beiden Bodenplatten – auch Dom Miguels zweite Frau, Maria Theresia von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (geb.
04.01.1870 in Rom, gest. 17.01.1935 in Wien, Hochzeit am 08.11.1893 in Kleinheubach), Tochter aus zweiter, am 04.05.1863 in
Wien geschlossenen Ehe des Fürsten Karl Heinrich Ernst Franz zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (geb. 21.05.1834 in Haid,
gest. 08.11.1921 in Köln) mit Sophie von und zu Liechtenstein (geb. 11.07.1837, gest. 25.09.1899). Der Liechtensteiner hatte in
erster Ehe am 18.10.1859 in Offenbach Adelheid zu Isenburg-Büdingen in Birstein (geb. 10.02.1841 in Offenbach, gest.
02.03.1861 in Kleinheubach) geheiratet. Dom Miguel hatte insgesamt zehn Kinder, davon drei aus erster Ehe.
213
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
1.
Die Geschichte des Friedhofes in Heiligenkreuz
„Herr, lass sie ruhen
in Frieden“
Sockelinschrift des Kreuzes am
Ort des alten Heiligenkreuzer
Ortsfriedhofes
Im Herbst 1842 wird außerhalb der Ortschaft Heiligenkreuz1296 vom Stift ein neuer Friedhof angelegt. Er hat einen fast quadratischen Grundriss mit einer Seitenlänge von rund 46 auf 47 Metern und eine Größe von ca. 2.200
Quadratmetern1297. Bis zum Jahr 1843 befand sich der Heiligenkreuzer Friedhof für die Mitglieder der Gemeinde visá-vis dem Stift beim Tischlereiweg1298 am Osthang des sogenannten Hradschin1299. Für Stiftsangehörige fanden die
Bestattungen jedoch bis 1842 auf dem Klosterfriedhof II zwischen Hallenchor und Bernhardikapelle statt1300, so u.a.
für Abt Alberich Fritz (+ 1787), Abt Maria II. Reuter (+ 1805), Abt Nikolaus Kasche (+ 1824) im kirchlichen Bereich wurden die Äbte des Klosters allerdings an weitaus bevorzugteren Stellen beigesetzt, wie Klemens Schäffer
1693 und Marian I. Schirmer 1705 in der Stiftskirche, Gerhard Weichselberger 1782 in der Annakapelle und Robert
Leeb 1755 in der Totenkapelle.1301
Am 30. Juli 1843 wird der neue Ortsfriedhof nördlich der Straße nach Gaaden durch Feldbischof Johann Michael Leinhard1302 im Beisein von Abt Edmund Komáromy1303 eingeweiht1304. Das doppelflügelige Tor des alten
1296
Erst im Jahre 1850 wurde Heiligenkreuz mit den Katastralgemeinden Heiligenkreuz und Siegenfeld nach dem österreichischen
Gemeindegesetz vom 17.03.1849 eine selbstständige Gemeinde. Am 18.07.1850 konstituieren sich die Ortschaften Heiligenkreuz,
Füllenberg, Preinsfeld, Sattelbach und Siegenfeld zur neuen Ortsgemeinde Heiligenkreuz mit 914 Einwohnern. Erster Bürgermeister wird in geheimer Wahl Abt Edmund Komáromy (Werner Richter, „Die Bürgermeister von Heiligenkreuz“,
www.heiligenkreuz.at, Oktober 2003)
1297
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1298
Ein Teil der Umfassungsmauer des Friedhofes ist auf dem unbefestigten Parkplatz hinter der Trafik noch sichtbar
1299
Auf dem Hradschin, dem Hügel hinter Gemeindehaus und Volksschule, soll sich das Gästehaus für König Ottokar von Böhmen befunden haben, der öfters in Heiligenkreuz jagte.
1300
Im November 1984 wurde bei Erdarbeiten hinter dem gotischen Hallenchor in Höhe der Sakristei auf diesem Friedhof die gemauerte Gruft des Abtes Franz Xaver Seidemann (1824-1841) wiederentdeckt.
1301
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 10.01.2002
1302
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001
1303
Edmund Komáromy, geb. 22.12.1805 in Güns/Ungarnm gest. 10.04.1877 im Heiligenkreuzer Hof/Wien; 1830 Priesterweihe,
ab 1835 Professor für Dogmatik an der theologischen Hauslehranstalt und Klerikal-Präfek; am 01.09.1841 Wahl zum Abt der
vereinigten Stifte Heiligenkreuz St. Gotthard in Ungarn (dort 6. sowie letzter Abt); von 18.07.1850 bis 20.04.1856 Bürgermeister
der selbstständigen Ortsgemeinde Heiligenkreuz; k.u.k. RATH, Gerichtstafel-Beisitzer der Wieselburger Gespanschaft, ab 1850
Präsident des landwirtschaftlichen Bezirksvereins Baden; lebte hauptsächlich im Heiligenkreuzer Hof in Wien.
1304
An der Stelle des alten Friedhofes erinnert das historische Grabkreuz des Stiftsmalers Walter Nigg an den Kirchhof. Der Sockel trägt die Inschrift: „Ich bin die Auferstehung und das Leben – Kreuz des alten Ortsfriedhofes, der sich hier bis 1843 befand.
Herr lass sie ruhen in Frieden“
214
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Friedhofes von 1781 fand bei der Anlage des neuen Friedhofes unterhalb dem mittelalterlichen Hinrichtungsplatz, der
„Rabenplatte“, Verwendung. Die erste Beisetzung auf dem neuen, gemeinsamen Friedhof für Verstorbene des Stiftes
sowie der Pfarre Heiligenkreuz mit den Filialen Grub und Siegenfeld fand im August 1843 statt1305. Der 1833 verstorbene französische Adelige Prierre de Commoléra wurde vermutlich erst nach dem Tode seiner Gattin Francoise 1871
in der gemeinsamen Gruft beigesetzt. Ebenfalls 1843 wird der Friedhofsweg befestigt und mit Winterlinden bepflanzt1306.
Bereits im Juni 1866 muss der Friedhof nach Norden und Osten auf die doppelte Fläche von heute rund 4.560
Quadratmetern vergrößert werden. Der Begräbnisplatz war anscheinend schnell zu klein geworden, aber auch die
Friedhofsmauer war bereits teilweise schon eingestürzt. Am 12. August 1866 weiht Abt Edmund Komaromy die neue,
rechteckige Anlage mit den Ausmaßen von 72, Metern (Eingangsfront) und 57,6 Metern (Seitenfront). Zu diesem
Zeitpunkt wird der Eingang in die Mitte der Westmauer verlegt1307, die noch heute bestehende Einteilung in vier Gräberviertel durchgeführt und die Grabreihen neu geordnet1308. In den beiden südlichen Gräbervierteln befinden sich
zwei Mal sieben Grabreihen, nördlich zwei mal sechs Reihen. Entlang der östlichen Umfassungsmauer gibt es rechts
der Kapelle fünfzehn Gräber für Heiligenkreuzer Patres sowie ein weiteres Grab. Links der Kapelle existieren 16
Mönchsgräber sowie zwei Gräber von Angehörigen der Patres. An der nördlichen Mauer befinden sich drei weitere
Mönchsgräber und 19 gemauerte Grüfte. Die Geistlichen des Stiftes wurden bis zum September 1952 auf dem Friedhof beigesetzt. Seither1309 finden die Patres ihre letzte Ruhe wieder auf dem hergerichteten Klosterfriedhof I1310 im
Norden der Stiftskirche1311. Eigentümer des Ortsfriedhofes ist das Zisterzienserstift und die Verwaltung liegt in den
Händen eines Stiftsangestellten; für kirchliche Belange ist der jeweilige Pfarrer von Heiligenkreuz zuständig1312.
Ebenfalls 1866 wurde nahe der Mauerecke links des Eingangs ein Gedenkstein für die „hier ruhenden Saechsischen
Bundesgenossen“ aufgestellt.
Abt Edmund Komáromy findet 1877 in der Mitte der östlichen Friedhofsmauer in einer Gruft seine letzte Ruhe.
1889 wird über dieser Gruft die von Helene Vetsera gestiftete Friedhofskapelle errichtet und Komáromys Gruft zur
Prälatengrablege ausgebaut, in der 1902 noch Abt Heinrich V. Grünbeck1313 beigesetzt wird1314. Eine Inschriftentafel
erinnert an die beiden Äbte1315.
Entlang der westlichen Mauer, nördlich des Eingangs, gibt es 15 Gräber. Im südwestlichen Winkel des Friedhofes liegt die aus dem Jahre 1842 stammende, wegen Baufälligkeit im Herbst 1992 abgerissene und bis 1993 neu errichtete Totenkammer. Knapp 20 Meter nördlich der alten Totenkammer wurde 1889 Mary Vetsera in einem proviso-
1305
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1307
In der westlichen Mauer, zwischen Ehrenbegräbnis und Totengräberhaus, kann man noch die Reste von zwei Torpfeilern des
historischen Friedhofseingang der Jahre 1843-1866 erkennen.
1308
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1309
Die erste Beisetzung findet am 09.10.1952 mit Pater Eugen Kindermann statt.
1310
Bis 1952 wurde der gesamte Mönchsfriedhof als Holzlagerstätte genützt und hieß daher umgangssprachlich Tischlereihof.
1311
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001
1312
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001
1313
Abt Heinrich V. Grünbeck (1879-1902)
1314
Wie Karl Wallner in der „Sancta Crux“ 1985 schreibt, erhielten wahrscheinlich nur sehr hochgeschätzte Mitbrüder entgegen
der im Zisterzienserorden üblichen Regelung eine gemauerte Gruft. Nach Verwaltungsdirektor Werner Richter, Heiligenkreuz,
10.01.2002, wurden jedoch bereits in frühen Jahrhunderten die Äbte des Klosters an bevorzugten Stellen, meist Sakralräumen,
beigesetzt.
1315
Der folgende Abt, Dr. Gregor Pöck, starb am 18. April 1945 und wurde im Stift beigesetzt, da die Russen den Ortsfriedhof
noch besetzt hielten. Der ihm folgende Abt, Karl Braunstorfer (1945-1969) fand 1978 seine letzte Ruhe bereits wieder auf dem
1306
215
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
risches Erdgrab bestattet. Heute befindet sich nahezu an dieser Stelle ein Gemeinschaftsgrab aus dem Zweite Weltkrieg und eine Gedenktafel für die dort beigesetzten Toten1316. Umgangssprachlich wird dieser Platz auf Grund der Inschrift der Gedenktafel als „Krieger-Grab“ bezeichnet, doch ist dies nicht richtig. Dort ruhen 14 serbische Zivilisten
aus dem Zwangsarbeiterlagers Allanderhöhe sowie 16 an der Typusepidemie von 1941/42 verstorbene Kriegsgefangene, darunter 15 Russen und ein Serbe. Sie waren zunächst in Einzelgräbern an der Südmauer beigesetzt, wurden jedoch nach 1945 in das Gemeinschaftsgrab zu den serbischen Zivilinternierten umgebettet1317.
Am 14. Januar 1938 erhielt das Stift durch die Bezirkshauptmannschaft in Baden eine Friedhofsordnung1318 für
den Ortsfriedhof. Seit dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich lag der Friedhof beinahe
schon in Wien, denn durch die Eingliederung des Bezirks Mödling in den „Reichsgau Groß Wien1319“ rückte die
Grenze der Reichsgaue Niederdonau und Wien bis nach Füllenberg heran – und sie blieb bis 1954 auch dort1320. Am
11. Februar 1941 wurden von den Nationalsozialisten durch den Traiskirchener Zimmermeister Osterer die Glocken
des Stiftes beschlagnahmt und auch die 78 Kilo schwere Friedhofsglocke aus der Kapelle abgenommen und eingeschmolzen. Die baulichen Schäden an der Kapelle, die durch die russische Lagerung auf dem Friedhof im April 1945
entstanden, waren teilweise noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zu sehen.
Ein 1944 in Siegenfeld abgeschossener Fliegerpilot ruhte bis 1948 in einem Einzelgrab im vierten Gräberviertel, wurde dann exhumiert und auf dem Militärfriedhof Cip Liege in Belgien beigesetzt. Im Frühjahr 1947 wurden
schließlich 24 in Heiligenkreuz und Siegelfeld verstreut begrabene deutsche Wehrmachtsangehörige und eine Zivilperson am Ortsfriedhof im 3. Gräberviertel nebeneinander bestattet. Sie wurden 1981 durch das Österreichische
Schwarze Kreuz exhumiert und auf dem Soldatenfriedhof von Blumau in Niederösterreich beigesetzt|1321. Die russischen Kriegstoten der Gefechte um Heiligenkreuz, 68 Soldaten und acht Offiziere der Roten Arme, waren zunächst
auf einem kleinen Friedhof auf dem Wiesenabhang des Kreuzweges beigesetzt. Sie wurden 1953/54 exhumiert und
auf den Soldatenfriedhof Baden überführt1322.
Im Jahre 1999 begann die Innen- und Außensanierung der Friedhofskapelle im Auftrag der Friedhofsverwaltung. Wegen großer Feuchtigkeitsschäden musste hierzu auch der Altar vollständig abgetragen werden. Die Fertigstellung der Kapelle wird für das Jahr 2002 erwartet. Die Gesamtkosten der Sanierung betragen rund 50.000 Euro1323, die
von der Friedhofsverwaltung aufgebracht werden müssen.
neuen Klosterfriedhof. Abt Franz Gaumannmüller wurde hingegen 1990 auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin in der Stiftskirche
in einem Erdgrab beigesetzt.
1316
Die Namen der Toten werden auf der Steintafel genannt: Krieger-Grab 1939-1945 - Zvijeticanir M., Stupatschinsky A., Makarow Al., Subzilin A., Schatkowsky W., Wlasow L., Kozlow P. (alle 1941), Strelzow I., Malachow G., Romazlik A., Swatok,
Kalygin I., Nowsorow M., Schurawlow G., Trofimow N., Borissewitsch L., Napijalo J., Markowic S., Mislovic J., Dragovic W.,
Raskovic N., Pawlonitsch M., Savanovic M., Ilic L., Sekulic V., Basara M., Zawrschitsch M., Gavilovitsch Sch., Suman M.,
Ljubejewic S. (alle 1942)
1317
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1318
Bezirkshauptmannschaft Baden, Zl. VII.-271/2 ex 1937; zitiert in „Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965
1319
Der Bereich der Stadt Wien wurde unter den Nationalsozialisten durch die Einverleibung von Teilen Niederösterreichs und
des Burgenlandes auf 97 Gemeinden erweitert; die Stadt wuchs wieder auf über zwei Millionen Einwohner und war nach Berlin
die zweitgrößte Stadt des Deutschen reiches – und die sechstgrößte Stadt der Erde.
1320
Dorffner, Erich und Christl: „Das Buch von Alland“, Herausgegeben im Eigenverlag der Gemeinde, Alland 2002
1321
Auf dem 14.400 Quadratmeter großen zentralen Soldatenfriedhof Blumau/NÖ wurden in den vergangenen Jahren insgesamt
4.001 Gefallene des Zweiten Weltkrieges und 435 Gefallene des Ersten Weltkrieges aus dem Raum Wiener Neustadt beigesetzt.
1322
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1323
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001
216
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
2.
Das Begräbnis der Baronesse – Freitag, 1. Februar 1889
„Onkel Alexander schnitt
Mary noch eine Haarlocke ... ab“
Heinrich Baltazzi-Scharschmid
1980
„Die Stellung, welche die Behörden in dem Fall einnehmen müssen, hat der Ministerpräsident in folgender
Weise präzisiert: Der Tod der Vetsera sei in einem Hofgebäude erfolgt, in welchem der politischen oder polizeilichen
Behörde eine Jurisdiction nicht zusteht1324“, notiert der Wiener Polizeipräsident, Baron Krauß, in seinem Protokoll.
„Es müsse daher demnach seitens der Hofbehörden durch einen Hofarzt der Tod constatirt werden und der Leichnam,
nachdem er durch den Grafen Stockau, den Onkel der Vetsera, bezüglich der Identität agnosziert ist, von der Hofbehörde nach Heiligenkreuz geschafft werden. Dort soll Graf Stockau die Beerdigung im Namen der Familie ersuchen
und dort soll die politische Behörde die Beerdigung des übernommenen Leichnams im gesetzlichen Wege ermöglichen.“ Fritz Judtmann folgert aus diesen Notizen, dass die Beseitigung des weiblichen Leichnams auf Veranlassen des
Ministerpräsidenten erfolgte und Überführung sowie Begräbnis nach dem „Plan“ Taaffes erfolgten.
Um die Beisetzung zu koordinieren, kam es zu einer Kontaktaufnahme zwischen Polizei und Hofämtern: „Graf
Bombelles werde durch ein Schreiben an den Prälaten Heinrich Grünbeck des Stiftes Heiligenkreuz im Auftrag Sr.
Majestät ersuchen die Beerdigung im Laufe der Nach vorzunehmen“, notiert Krauß. Die Gemeinde Heiligenkreuz war
in die Vorfälle rund um die Beisetzung nicht eingebunden1325.
Gegen halb vier nachmittags des 31. Januar 1889 erreichten die beiden „Polizei-Commissäre“ Habrda und
Gorup Heiligenkreuz. Um kein Aufsehen zu erregen, waren sie auf Befehl des Polizeipräsidenten mit einem Fiaker direkt von Wien über Mödling und Hinterbrühl gefahren1326. In der Prälatur des Stiftes überreichte Habrda dem Abt
Grünbeck ein Schreiben des Grafen Bombelles, das dieser für den Polizeipräsidenten aufgesetzt hatte. Der Inhalt des
1324
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1889 war als Bürgermeister der Heiligenkreuzer Kaufmann und Gastwirt Adalbert Brenner tätig (geb. 30.04.1832 in Kleinmariazell, gest. 30.04.1907 in Heiligenkreuz, beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Grab 11/32/aufgelassen; Brenner war vom 21.11.1877
bis 27.08.1891 Bürgermeister. Der Nachlass ist verschollen, so Bürgermeister Johann Ringhofer an den Verfasser, Heiligenkreuz,
06.08.2004
1326
In Wien hatten Habrda und Gorup am Südbahnhof zunächst den Zug um 12:35 Uhr verpasst (planmäßige Ankunft Mödling
13:12 Uhr). Da der Eilzug um 13:20 Uhr nur in Meidling, nicht aber in Mödling hielt, und den Beamten die Fahrt via Fiaker von
Baden nach Mayerling wg. möglicher Begegnungen mit Journalisten untersagt war, hätten sie erst um 14:00 Uhr die nächsten Zug
erreichen können (planmäßige Ankunft Mödling 14:37). Um Zeit zu sparen, reisten sie zunächst mit einem Fiaker nach Mödling
und von dort mit einem weiteren Fiaker nach Heiligenkreuz (Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß
des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1325
217
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Briefes ist nicht bekannt und konnte von Fritz Judtmann auch nicht im Archiv des Stiftes eingesehen werden. Letztlich
überzeugten die Beamten den Abt und er willigte trotz „leichter Bedenken“ in die Beisetzung ein1327. Der Abt verständigte nun zunächst den Kämmerer des Stiftes, gab Stiftstischler Anton Fuchs die Erlaubnis den Sarg anzufertigen und
erteilte dem Totengräber den Auftrag, mit dem Aushaben des Grabes zu beginnen. Zudem lud er die Kommission ein,
im Stift zu übernachten – um zusätzliches Aufsehen zu vermeiden1328. Immerhin lebten um 1889 mehr als 1.090 Einwohner in Heiligenkreuz1329.
Um 16:40 Uhr meldeten die Beamten chiffriert per Telegramm aus Heiligenkreuz das Einverständnis und die
Anschaffung des Sarges an den Polizeipräsidenten nach Wien: „Zustimmung zur Beerdigung durch Praelaten ertheilt.
Sarg wird in Stiftstischlerei schon gemacht. Bote von Maierling geht ab. HABRDA, GORUP1330“. Wohl in aller Eile
hatte der Stiftstischler Fuchs nun den Holzsarg zusammen zu zimmern1331.
Während Habrda telegrafierte, fuhr Gorup bei Anbruch der Dunkelheit nach Mayerling, um dort für den Grafen
Stockau ein Handschreiben zu hinterlassen mit der Bitte, die Kommissäre „vor Abfahrt der Leiche und über den Weg
zu verständigen“. Auf der Rückfahrt nach Heiligenkreuz nahm Gorup drei Detektive von Heiligenkreuz mit zurück
nach Mayerling.
Um 19:50 Uhr telegrafierte Habrda besorgt nach Wien „Kommission noch immer nicht hier. HABRDA1332“. Zwischenzeitlich trafen in Heiligenkreuz Wyslouzil, Oser und Managetta ein. Gegen 21:30 Uhr1333, so Judtmann, erhielt Gorup im Stift endlich ein Telegramm von Dr. Slatin aus Mayerling: „Komme über S. Müller“. Gemäß dem
schriftlichen Avis hieß dies, dass der Wagen mit der weiblichen Leiche nicht über Alland und den steilen Heiligenkreuzer Berg komme, sondern über die ebenerdige Straße Richtung Baden, die in Sattelbach nach Heiligenkreuz
abzweigte.
Im Einverständnis mit Oberkommissär Wyslouzil ging Gorup den beiden Fiakern entgegen und führte den Wagen von Stockau und Baltazzi mit Marys Leiche unauffällig durch Heiligenkreuz zum Friedhof, während der Fiaker
mit Slatin und Dr. Auckenthaler direkt durch das sogenannte Badener Tor1334 ins Stift fuhr. Gleichzeitig machten sich
Habrda, die Polizeiagenten und der Totengräber auf den Weg, um „auf der Friedhofsstraße die Herren mit der Leich“
zu erwarten1335.
Heinrich Baltazzi-Scharschmid berichtet in seinem Buch über die Familien Baltazzi-Vetsera im Kaiserlichen
Wien, dass erst gegen Mitternacht in der kleinen Totenkammer des Friedhofes „die Leiche des Mädchens endlich in
1327
„Wir sagten, daß die Leiche einer Dame, welche einen Selbstmord nächst Mayerling, aber noch auf dem Territorium des
Schlosses verübt habe, nicht auf dem Pfarrkirchhofe von Alland, sondern unter Beobachtung der gesetzlichen Erfordernisse heute
Nacht, resp. Morgen früh unauffällig auf dem Friedhofe von Heiligenkreuz zu beerdigen ist.
Wir erklärten dem Abt, daß der Selbstmord durch die ärztliche Untersuchung des Dr. Auchenthaler und durch die Tatbestandsaufnahme des Herrn Hofsekretär Slatin konstatiert sei, daß der nächste Verwandte der verblichenen Baronesse Vetsera, Herr Graf
Stockau, um die provisorische Beerdigung auf dem Heiligenkreuzer Friedhof bittlich geworden sei, daß diese Bitte ihm vom
Herrn Bezirkshauptmann Oser in Baden bewilligt worden sei und daß endlich alle die genannten Herrn sowie Herr Oberkommissär Wyslouzil noch heute in Heiligenkreuz zur Abfassung der gesetzlichen Erfordernisse in diesem Falle erscheinen werde.
Wir baten den Abt um die diskreteste Behandlung und erhielten die Zusage in loyalster Weise.“ Bericht Habrda, zitiert bei Skedl,
Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1328
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1329
1890: 1.092 Einwohner; Statistik Austria, Rohdaten der Volkszählung 2001
1330
Original als Telegramm No 12 mit 40 Taxworten im sogenannten Krauss Akt
1331
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 12.03.2002
1332
Original als Telegramm No 13 mit 18 Taxworten im sogenannten Krauss Akt
1333
nach dem Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien
1922, war es bereits „um 10 Uhr 30 Min. nachts“
1334
Das „Badener Tor“ ist auch heute noch eine der beiden Haupteinfahrtsmöglichkeiten zum Stift. Das Tor ist ein einfacher
Rundbogen, den in der Mitte ein Heiliger Leopold aus Sandstein schmückt.
1335
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
218
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
einem rohgezimmerten Sarg der Stiftstischlerei gebettet“ wurde1336. Wegen Sturm und Regen ging die Fahrt zum
Friedhof nur langsam vor sich und wegen des eisbedeckten Weges mussten den Pferden am Aufstieg zum Friedhof
neue Stollen angeschraubt werden. Stockau, Baltazzi, Gorup und Habrda hoben die Vetsera nun aus dem Fiaker und
trugen sie in die Leichenkammer. Die beiden Angehörigen, die Alexander Baltazzi und Graf Georg Stockau, zogen ihr
den Mantel aus und Onkel Alexander schnitt der Toten eine Haarlocke für die Mutter ab. Dann legte er der Toten ein
silbernes Kruzifix in die Hände, während Onkel Georg Marys Hut zusammenfaltete und ihn als Polster zwischen Kopf
und Hobelspäne schob. Da der Totengräber Josef Eder nicht rechtzeitig mit dem Ausheben des Grabes fertiggeworden
war, musste die Beisetzung auf den Folgetag verschoben werden. „Die primitive Totenkammer wurde versperrt und
der Friedhof den drei niedrigen Polizeibeamten zur Überwachung anvertraut.1337“ Gorup, Habrda und die beiden Verwandten der Toten begaben sich ins das Stift.
Ein heftiger Regensturm verhinderte in der Nacht zum 1. Februar das Ausheben des Grabes, so dass Gorup ab
halb acht Uhr zusammen mit dem Totengräber und seinen Gehilfen die Fertigstellung betreiben musste. Habrda und
Wyslouzil telegrafierten um 8:15 Uhr nach Wien „Alles in Ordnung Beerdigung gegen 9“. Gegen 9:15 Uhr erschienen
dann auch in einem geschlossenen Wagen Komissar Habrda, Graf Stockau, Alexander Baltazzi und Stiftsprior Malachias Dedic1338 auf dem Friedhof. In der Totenkammer segnete dieser die Leiche ein. Rechts und links des Sarges waren zwei Kerzen aufgestellt worden. Judtmann bemerkt, dass Dedic dabei die Schusswunde haben sehen können, wie
Abt Gregor später in einem Zeitungsartikel berichtete. Dann wurde der Holzsarg verschlossen. Totengräber Josef
Eder1339, der Heiligenkreuzer Maurermeister Karl Schieder und ein Gehilfe mit Spitznamen „Hannibal“ trugen den
Sarg bis zu einem Platz an der Friedhofsmauer, „ungefähr 20 Schritte von der Totenkammer entfernt1340“, wo der
Leichnam der Erde übergeben wurde. Dedic gab den letzten Segen, sprach ein Vaterunser und verließ den Friedhof.
„Sturm und Regen machten das Begräbnis so schwer, daß die Verwandten, Baron Gorup und ich bei der Beerdigung
mithelfen mußten.“ Gemeinsam mit dem Totengräber bedeckten sie den Sarg „rasch mit Erdschollen“. Da der Boden
nass und gelockert war, mussten Habrda, Gorup und die beiden Onkel der Verstorbenen bei der Beerdigung mithelfen.
„Erst um ½ 10 Uhr war die Trauerzeremonie, welche durch keine fremde Dazwischenkunft gestört worden ist, beendet.1341“
Während Gorup die Schlussarbeiten am Friedhof überwachte, berichtete Habrda dem Oberkommissär Wyslouzil und es folgte das Telegramm mit den Worten „Alles abgethan1342“, das um 10:30 Uhr in Wien ankam. In Folge
sprachen die Beamten dem Abt und dem Kämmerer ihren Dank für Hilfe und Gastfreundschaft aus und verließen ge-
1336
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980
1337
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999
1338
Malachias Dedic (26.11.1839 – 05.11.1910), beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz, Grab 45
1339
Eder Josef, Heiligenkreuz Nr. 46, gestorben im Jahre 1940
1340
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999
1341
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1342
Aus dem Nachlass des Hoftelegrafen Julius Schulde (Archiv der Stadt Baden) kennen wir den Code der Telegramme 1 und 2
sowie eines dritten Telegramms; im Krauss Akt liegen zu diesem Themenkreis jedoch vier Telegramme, da die dritte Abschrift
aus dem Nachlass Schuldes tatsächlich aus zwei Telegrammen zusammengefasst wurde. Dr. Gerd Holler hatte die Niederschriften
von Schuldes bereits 1979 beim Österreichischen Heer dechiffrieren lassen. Dabei wurde festgestellt, dass Schuldes seinerzeit
vergeblich versucht hatte, die Telegramme zu entziffern; er deutete Codes falsch und interpretierte so Aussagen in den Text, die
nicht stimmen. Ein weiteres Telegramm im Archiv der Stadt Baden, dessen Entwurf Holler im Notizbuch Schuldes fand, kann
fragmentarisch mit „Abreise zu (oder: mit) Baronin von REICHENAU erfolgen“ entschlüsselt werden.
219
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
meinsam um halb elf Uhr Heiligenkreuz1343. Slatin und Auckenthaler hatten das Stift bereits gegen 7 Uhr, Oser und
Managetta um 8:30 Uhr verlassen. Stockau und Baltazzi reisten um 10:00 Uhr ab.
Zwar war sich Habrda in seinem schriftlichen Bericht an den Grafen Taaffe vom 1. Februar 1889 sicher, dass
die Geistleichen Herren nichts über die nächtliche Aktion verlauten und viele Heiligenkreuzer sich die Anwesenheit
der Kommission im Stift mit dem Tode des Kronprinzen in Heiligenkreuz erklären würden, so warnte er jedoch, dass
„der Totengräber aber sowie die übrigen Organe (...), dürften wieder auf die Idee kommen, daß sich am 30. Jänner
abends oder am 31. Jänner früh eine Dame in der Nähe von Mayerling entleibt“ habe1344.
Bei dem ersten Grab der Vetsera handelte es sich um ein einfaches Erdgrab an der westlichen Umfassungsmauer. In diesem Bereich, d.h. zwischen dem Totengräberhaus im südwestlichen Winkel und dem historischen bzw. dem
weiter nördlich und somit vis-á-vis der Kapelle angelegten zweiten Friedhofseingang, befanden sich augenscheinlich
keine weiteren Gräber. Marys Mutter Helene von Vetsera durfte offiziell das Grab ihrer Tochter erstmals im März
1889 besuchen1345.
Nach Marys Umbettung in die von Hanna Vetsera gestiftete Gruft pflanzte Josef Schöffel1346, der „Retter des
Wienerwaldes“ und einstige Bürgermeister von Mödling1347, an der Stelle des ersten Grabes eine Blutbuche. Da Helene Vetsera die Fahrten nach Heiligenkreuz meist über Mödling unternahm, hatte sie dort Schöffel kennen gelernt; mit
ihm verband sie dann eine jahrelange Freundschaft1348.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an der Friedhofsmauer die Gedenktafel für die 1941 und 1942 verstorbenen Ostarbeiter angebracht. Ob diese dort auch beigesetzt wurden, ist nicht bekannt. Der Bereich neben dem Totengräberhaus kann als „Selbstmörderecke“ angesehen werden, in der zunächst Mary Vetsera bei Nacht beigesetzt wurde.
Dieses erste Grab wurde wahrscheinlich sofort dem Erdboden gleich gemacht, so dass es nicht identifiziert werden
konnte, auch wenn Hermann Swistun von einem „eingesunkenen Hügel“ schreibt1349. Aus diesem Grunde trug es auch
kein Holzkreuz oder ähnliches. Das Grab wurde jedoch auf dem Gräberplan der Verwaltung eingezeichnet und erhielt
auch eine Nummer, so dass man es später wiederfinden konnte.
Im Pfarrgedenkbuch des Stiftes Heiligenkreuz fanden die Beisetzungen des Jahres 1889 ebenfalls einen Niederschlag – jedoch ohne genaues Datum. Dem Inhalt folgernd kann man jedoch von einer Notierung Ende Oktober
1889 ausgehen. Dort heißt es:
„Das tragische Ende des Kronprinzen Rudolf in Mayerling 30. Jänner 1889 äußerte seine Nachwirkungen auch
auf die benachbarte Pfarre Heiligenkreuz. Während Kronprinz Rudolf in der Habsburgergruft in Wien beigesetzt
wurde, begrub man das 2. Opfer der Katastrophe Mary Vetsera im Friedhof von Heiligenkreuz, die Schwester der
Verstorbenen Mary Vetsera setzte ihrer Schwester ein schönes Denkmal in der neuerbauten Gruft. Und noch im
selben Jahre wurde nach den Plänen von Prof. Avanzo an der Ostseite des Friedhofes eine romanische Gruftkapelle erbaut und am Sonntag Allerheiligen 31. Oktober 1889 von Abt Grünbeck eingeweiht. Es wurde von der Ge1343
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1345
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999
1346
Schöffel, Josef (29.07.1832 Brünn – 07.02.1910 Mödling), Journalist, Politiker. Vertrat als Kommunalpolitiker die Idee des
Heimat- und Naturschutzes und verhinderte durch Artikel im „Wiener Tagblatt“ 1870-1872 den Verkauf des Wienerwaldes an ein
Holzschläger-Konsortium und somit die Abholzung des Wienerwaldes.
1347
Schöffel war von 1873-1882 Bürgermeister von Mödling und veranlasste u.a. die Gründung einer Waisenanstalt, organisierte
im Landesausschuss von NÖ das niederösterreichische Straßenwesen, führte soziale Maßnahmen durch, regelte das Armenwesen
und gründete die Besserungsanstalt Korneuburg. Als Kurator der „Hyrtl´schen Waisenhausstiftung“ in Mödling übergab Joseph
Schöffel am 06.10.1901 dem Salzburger Gemeinderat Dr. Hermann von Vilas aus dem Nachlass des Anatomen Joseph Hyrtl
(1801-1894) einen Schädel, der als „Mozart-Schädel“ fortan Medien und Fachleute beschäftigte (vergleiche auch: Bankl, Hans
und Szilvassy, Johann: „Die Reliquien Mozarts – Totenschädel und Totenmaske“, Facultas Verlag, Wien 1992
1348
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980
1349
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999
1344
220
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
nannten noch eine Messen- und Grabstiftung für die Verstorbene Mary Vetsera hierpfarrlich am 15. März errichtet.1350“
Kapitel 6
Die Hofbefehle
3.
Die Umbettung in die Gruft
„Wie eine Blume spross
der Mensch auf und
wird gebrochen.“
Sockelinschrift der
Gruft von Mary Vetsera
16.05.1990
Graf Taaffe suchte am 1. Februar 1889 die Baronin Vetsera auf und bat sie, innerhalb der ersten acht Tage nicht
auf den Friedhof von Heiligenkreuz zu gehen, da sich in dieser Gegend noch immer viele Journalisten aufhielten1351.
Die ersten Besuche der Mutter am „schmucklosen Selbstmördergrab1352“ ihrer Tochter erfolgte wohl ab Mitte Mai
1889. Sie kam meist einmal pro Woche nach Heiligenkreuz, begleitet von Hanna Vetsera, und legte stets eine Kamelie
auf das eingesunkene Grab, das noch immer keinen Stein trug. Schon bald hatte Helene Vetsera den Wunsch, Mary in
einer standesgemäßen Gruft beisetzen zu lassen. Helenes Bruder, Alexander Baltazzi, machte sie mit Abt Grünbeck,
Prior Dedic und Kämmerer Wilfing bekannt, die sich „von da an wirklich auf christliche Art der so schwer geprüften
Mutter“ annahmen1353. Da man jedoch nicht gestatten konnte, Mary in der von Helene Vetsera mitfinanzierten neuen
Friedhofskapelle zu bestatten, stiftete die Schwester der Verstorbenen, Hanna Vetsera, aus ihrem Legat eine Gruft1354,
die ab 24. April 18891355 im nördlichen Teil des Ortsfriedhofes ausgehoben und aufgemauert wurde1356. Alexander
Baltazzi bestellte bei der Wiener Sargmacherfirma Beschorner1357 einen Kupfersarg1358, der laut einer schriftlichen
1350
zitiert aus Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1968
Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1352
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980
1353
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980
1354
Die Grabanlage ist insgesamt 4,56 Meter lang und 3,23 Meter breit (Außenmaß)
1355
Abschrift einer Nota von Polizeipräsident Kraus in Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola
Verlag, Wien 1922
1356
Die eigentliche Gruft ist ca. drei Meter tief und aus roten Ziegelsteinen aufgemauert. An der Kopfseite befindet sich im oberen
Bereich eine Nische im Mauerwerk.
1357
Metallwarenfirma A. M. Beschorner (Alexander Markus Beschorner, 1821-1896, besaß Produktionsstätten in und außerhalb
der Monarchie, seit 1877 führte er den Titel „K.K. Hof-Metallwarenfabrikant“. Beschorner-Sarkophage wurden seit den 70-er
1351
221
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Anweisung des Herstellers einige Tage vor der Exhumierung getarnt nach Heiligenkreuz geschafft wurde1359. Der
Sargdeckel erinnert in seinem Aussehen an jenen des Kronprinzen, ist von einem barocken Kreuz mit Corpus Christi
sowie einer Textkartusche geschmückt.
Am 14. Mai 1889 wurde der verschlossene hölzerne Sarg mit dem Leichnam Mary Vetseras in den Kupfersarg
gestellt und in die neuerbaute Gruft umgebettet1360. Dieses Datum erschließt sich aus einem teilchiffrierten Telegramm, das Bezirkshauptmann Oser am 16. Mai 1889 aus Baden an den Polizeipräsidenten nach Wien sandte: „6 der
2 vorgestern anstandslos in 7 übertragen werde den akt zur einsicht senden = oser“. Hierbei steht die 6 für „Leiche“,
die 2 für „Mary Vetsera“ und die 7 für „Heiligenkreuz“. Der Polizeipräsident informierte noch am gleichen Tag den
Ministerpräsidenten: „Eure Exzellenz! Ich beeile mich, anliegend das Telegramm zur Einsichtnahme ergebenst vorzulegen, aus welchem zu entnehmen ist, daß die Exhumierung in Heiligenkreuz stattgefunden hat. Baronin Vetsera ist
noch in Wien. Eurer Exzellenz ergebenster Kraus.1361“
Die Gruft ist von einem Eisengitter umschlossen. Der Steinsockel1362 mit seinem steinernen Kreuz stammt von
dem Wiener Steinmetz E. Hauser. Aus diesem Sockel herausgearbeitet ist eine nahezu ovale Gedenktafel mit der Inschrift:
MARY
FREIIN v. VETSERA
Geb. 19. März 1871
Gest. 30. Jänner 1889
Wie eine Blume sprosst der
Mensch auf und wird
gebrochen
Hiob. 14,2
In den alten Unterlagen der Friedhofsverwaltung trägt die Gruft der Mary Vetsera die Nummer I/291363, könnte
also die 29. Beisetzung im ersten Gräberviertel des Friedhofes gewesen sein1364. Nach Informationen von Hermann
Swistun hatte Helene Vetsera die Gruft mit Grabstein dem Stift Heiligenkreuz zur ständigen Betreuung übergeben1365
Jahren des 19. Jahrhunderts vom Kaiserhaus verwendet (z.B. Erzherzogin Sophie 1872, Kaiser Ferdinand I. 1875, Kronprinz Rudolf 1889, Kaiserin Elisabeth 1898). Nach Kassal-Mikula, Renata: „Begräbnis und letzte Ruhestätte“, in: Elisabeth von Österreich
- Einsamkeit, Macht und Freiheit“, Katalog zur 99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Hermesvilla 22.
März 1986 bis 22. März 1987, Eigenverlag der Museen der Stadt Wien
1358
Der prachtvolle, barockisierte Kupfersarg ist reich verziert. Auf dem Deckel befindet sich im oberen Bereich ein großes Kruzifix mit aufgelegtem Corpus Christi sowie im unteren Bereich eine längliche Reliefplatte. Der Sarg hat pro Seite zwei Tragegriffe.
1359
Baltazzi-Scharschmid, Heinrich und Swistun, Hermann: „Die Familien Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, BöhlauVerlag, Wien 1980
1360
Den Entwurf der Gruft lieferte Marys Schwester, Hanna Vetsera. Die Entwurfsskizze ist abgebildet bei Swistun, Hermann:
„Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, Böhlau Verlag, Wien 1983.
1361
zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1362
Der Steinsockel hat eine Höhe von 124 cm, eine Basisbreite von 95 cm und eine Basistiefe von 77 cm.
1363
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1364
Als weitere Grabnummer ist in den nicht veröffentlichen Nachlasspapier von Dr. Fritz Judtmann die 338a notiert. Es muss
sich jedoch hierbei nicht unbedingt um die Nummer der Grabstätte handeln, sondern kann auch die Anzahl der bislang erfolgten
Beisetzung ausdrücken, wobei das a für eine zweite Bestattung der gleichen Leiche stehen mag.
1365
Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999
222
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
und dafür dem Stift eine Geldspende gewidmet1366. Im Pfarrgedenkbuch des Stiftes für das Jahr 1889 heißt es dazu:
„Es wurde von der Genannten (d.h. Hanna Vetsera, d. V.) noch eine Messen- und Grabstiftung für die Verstorbene
Mary Vetsera hierpfarrlich am 15. März errichtet.1367“ Bis heute pflegen die Totengräber des Friedhofes im Auftrag
der Friedhofsverwaltung die Gruft ehrenamtlich1368.
„Die Gruft der Baroness Vetsera wurde alsbald das Ziel zahlloser Besucher aus aller Herren Länder, gleich dem
Grabdenkmal des Abälard und der Héloise am Père la Chaise in Paris“, berichtet Abt Gregor Pöck1369. „Der an der
Gruft gepflanzte Efeu wurde mehrmals seiner Blätter beraubt. Diese fanden ihren Weg in die ganze Welt.“
Anfang April 1945 – so wurde es bisher überliefert – plünderten russische Soldaten, die Stellung an der Rabenplatte bezogen hatten, den Friedhof: Neben der Prälatengruft werden sieben weitere Grüfte1370, darunter auch die der
Baroness Vetsera, aufgebrochen1371. Auf der Suche nach Schmuck und anderen Wertgegenständen öffneten die Täter
teilweise auch Särge. In der Prälatengruft war der Sarg des Abtes Heinrich Grünbeck geöffnet worden; die priesterlichen Gewänder und die Gebeine des 84-jährigen wurden sichtbar, Ober- und Unterkiefer des Verstorbenen waren
zahnlos1372. Auch der Sarg der Vetsera wurde „gesprengt und durchsucht“ – entweder, so der Totengräber in seinen
Erinnerungen, seien alle drei Steinplatten zerstört oder aber nur an den Ecken abgesplittert gewesen. Andere Zeitzeugen berichten, die Plünderer hätten nur eine der drei Platte bewegt und dabei leicht beschädigt, doch habe in Folge
lange Zeit durch diesen Spalt Regen ungehindert in die Gruft eindringen können1373. Nach dem Abzug der Rotarmisten
wurde die Vetsera-Gruft zunächst provisorisch mit einer schweren Holzplatte verschlossen, die 1948 gegen drei neue,
je 200 Kilo schweren Steinplatte ausgetauscht wurde1374. Marys Sarg verblieb jedoch im Zustand der Verwüstung1375.
Zwischenzeitlich scheint uns die Fragestellung einer Diskussion wert, ob tatsächlich „die Russen“ die Grüfte
auf dem Friedhof von Heiligenkreuz öffneten. Was spricht dafür und was dagegen? Sicherlich entspricht es den Tatsachen, dass der Sarg der Mary Vetsera aufgebrochen wurde, wie es das Pfarrgedenkbuch festhält. Da jedoch Pfarrchroniken und Gräberbücher meist erst viele Jahre nach Kriegsende nachgetragen wurden – im Falle des Vetsera-Eintrages
schrieb Pater Walter Schücker den Eintrag erst 15 Jahre später auf oder ab, wobei ein Originaleintrag bislang nirgends
aufscheint – und die Schreiber selbst die fragliche Zeit oft eher in sicherer Deckung als am „Ort des Geschehens“ verbrachten, sind diese Aufzeichnungen nicht als Quelle erster Hand anzusehen. Beim Eintrag des Pater Walter heißt es
denn auch 1960 im Konjunktiv, der Sarg des Abtes Xaver Seidemann „soll auch ... aufgemacht worden sein“.
Ob ein solider Metallsarg wie jener der Vetsera mit einer einfachen Gartenhaue geöffnet werden konnte, ist sehr
fraglich. Auch Bestatter Halbwachs weist darauf hin, dass die Gartenhaue unter Umständen nur zum Durchwühlen des
1366
Hermann Swistun an den Verfasser, Wien 09.05.1992
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1368
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 10.01.2002
1369
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1370
nach Holler, Gerd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea Verlag, Wien 1988 waren es
nur drei Grüfte, die geplündert wurden: die Äbtegruft in der Kapelle, die Vetsera-Gruft und die Gruft der französischen Adeligen
Commoléra.
1371
Bis nach dem II. Weltkrieg gab es insgesamt neun gemauerte Grüfte auf dem Friedhof, sonst fanden ausschließlich Erdbestattungen statt. Zu den geplünderten Grüften gehörte auch die der französischen Adeligen, die in der heutigen Gruft der Familien
Glaise, Helm und Blanc beigesetzt sind
1372
Mitteilung des Medizinalrates Dr. Josef Hofmann, 1978, zitiert bei Holler, Dr. Gerd: „Mayerling – Die Lösung des Rätsels“,
Molden-Verlag, Wien 1980. Hofmann konnte 1945 die Grüfte inspizieren und stellte fest, dass auch in der erbrochenen Adelsgruft
nur Skelette von Tote über 75 Jahren lagen (dies waren: Pierre de Commoléra, 1756-1833, d.h. gestorben mit 83 Jahren, Francoise
de Commoléra, 1750-1871, d.h. gestorben mit 81 Jahren sowie FZM Theodor Braumüller von Tannbruck, 1829-1904)
1373
Mitarbeiter der Meierei Füllenberg an den Verfasser, Füllenberg 07.07.1993
1374
Fritz Klein, Sohn des Totengräbers Alois Klein, im Gespräch mit dem Verfasser, Heiligenkreuz 12.08.1991
1375
Pater Walter Schücker, Heiligenkreuz 29.04.1959
1367
223
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Sarginhaltes genutzt wurde1376. Der solide Sargdeckel war am gesamten Kopfende, an der linken Längsseite sowie zur
Hälfte auch am Fußende aufgebrochen und dann nach oben rechts aufgeklappt worden. Die drei Quereverstrebungen
des Deckels waren nicht durchtrennt worden1377. Wichtig erscheint der Hinweis, dass der Sargdeckel nicht an jener
Stelle abgehoben wurde, an der er auf dem Sargboden ruht, sondern lediglich die gerade durchgehende Deckelplatte
aufgehebelt wurde. Danach müssten die Grabschänder zwischen den Querverstrebungen des Sarges hindurch versucht
haben, den Holzsarg zu öffnen und nach Wertsachen zu durchsuchen. Vielleicht wurde die Gartenheue auch jetzt erst
genutzt, um die Holzbretter zu sprengen?
Uns erscheint es durchaus möglich, dass die Gruft von Soldaten der Wehrmacht geöffnet worden sein könnte,
um sich für einen drohenden Rückzug mit „Tauschware“ einzudecken. SS-Mitglieder schlachteten so vor ihrem Abzug am 4. April 1945 zahlreiche Schweine und füllten sich Wein aus dem Stiftskeller ab1378. Dass Einwohner des Ortes in den Kriegswirren die Grüfte aus dem gleichen Grund öffneten, ist ebenso denkbar. Unklar ist jedoch, warum die
Plünderer die drei Goldfüllungen aus Marys Unterkiefer nicht herausbrachen und auch das silberne Kruzifix in der
Gruft zurückließen. Gab es weitaus wertvollere Grabbeigaben – oder wurde in der Gruft gar nicht nach Wertsachen
gesucht, weil sich diese ja noch immer Holzsarg befanden?
Unsere Recherche hat gezeigt, dass direkte Friedhofsplünderungen durch Rotarmisten in Niederösterreich und
dem Wiener Becken nicht bekannt sind. Lediglich in Heldenberg in Niederösterreich wurde das Mausoleum für die
Feldmarschälle Radetzky und von Wimpffen geöffnet, jedoch nicht geplündert. Nach Expertenaussage kann man nach
dem heutigen Wissensstand die Rotarmisten für die Übergriffe, wie sie in Heiligenkreuz vorgekommen sein sollen,
nicht gesichert verantwortlich machen kann1379. Darüber hinaus sind Friedhofsschändungen durch die Rote Armee
auch in den Nachbargemeinden Alland1380, der mir 32 zerstörten Häusern am schwersten getroffenen Stadt des Wienerwaldes, sowie Baden1381 nicht bekannt. Einen Hinweis auf besondere Zerstörungen bzw. Schändungen auf dem
Friedhof des Stiftes und der Gemeinde Heiligenkreuz verzeichnet auch die Klosterzeitschrift „Sancta Crux“ nicht, als
sie 1965 anlässlich des 70. Geburtstages des Abtes Karl Braunstorfer die zurückliegenden Jahre Revue passieren
lässt1382.
Die erste Erwähnung einer Plünderung durch Rotarmisten finden wir in einem bislang nicht veröffentlichten
Teil eines Protokolls, das Hermann Zerzawy am 21. August 1954 mit der ehemaligen Pächterin des Mayerlinger Gasthauses „Zum alten Jagdschloss“, Isabella Vasak, aufnimmt. Aus diesem Protokoll zitieren wir erstmals jene Stelle,
die sich auf die Plünderung bezieht: „So besuchte ich mehrmals das Grab der Vetsera und brachte ihr jetzt ein Kerzchen zu Allerheiligen. Bei einem solchen Besuch sprach ich 1949 mit dem Totengräber von Heiligenkreuz. Er erzählte, daß, gleich anderen Grüften, auch jene der Baronesse 1945 von den Russen erbrochen und nach Schmuck durch-
1376
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv
1377
Dieses Bild ergibt sich aus einer Skizze des Eduard Halbwachs vom 28.03.1978 im Nachlass des Dr. Gerd Holler, Baden, sowie aus der Fotoaufnahme des Sarges von Dezember 1992 durch Ferdinand Paur, Baden
1378
„Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965
1379
Rauchensteiner, Dr. Manfried, Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums Wien, telefonisch gegenüber dem Verfasser,
05.02.2002
1380
Pfarrer Pater Mag. Amadeus Hörschläger O.Cist, Bischofsvikar für das Vikariat Unter dem Wienerwald und Pfarrer der röm.
Kath. Pfarre Alland, an den Verfasser, 30.01.2002
1381
Hnatek, Hilde, Städtische Sammlungen und Archiv, Baden bei Wien, an den Verfasser, 17.01.2002
1382
„Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965
224
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
sucht wurde.1383“ Wichtig ist hierbei, dass Frau Vasak nur jene Version wiedergibt, die ihr Totengräber Klein erzählt
haben dürfte. Weitere Erwähnung erfolgen 1959 im privaten Tagebuch des Stiftsarchivars Pater Hermann Watzl und
1960 im Nachtrag der Gräberbuches der Pfarre Heiligenkreuz, das Gerd Holler erstmals zitierte. Abschließend eine
Aussage zu treffen, dass Heiligenkreuzer Bürger oder Wehrmachtssoldaten das Vetsera-Grab öffneten, ist nach jetzigem Forschungsstand nicht möglich, auch wenn es in Heiligenkreuz heißt: „Bis zum Abzug der deutschen Truppen
aus Heiligenkreuz waren die Grüfte des Ortsfriedhofes intakt. Die Schändung der Grüfte sind von den russischen Soldaten ausgeführt worden, die dort wochenlang lagerten und die Bevölkerung daran hinderten den Friedhof zu betreten.1384“
Nachfolgenden haben wir aus allen derzeit zugänglichen Quellen zusammengestellt, welche Beschreibungen
von der 1945 erbrochenen Gruft enthalten. Totengräber Alois Klein: „Wir fanden den Sarg erbrochen und der Kopf,
an dem die beiden Schußverletzungen (Ein- und Austritt der Kugel) deutlich zu sehen war, lag neben dem Sarg auf
dem Boden der Gruft.1385“ Klein war es wohl, der den Schädel zurück in den Sarg legte1386. 1954 berichtete Isabelle
Vasak über folgende Äußerung Kleins: „Beim Schließen der Gruft sah der Totengräber noch das erhalten gebliebene
volle schöne Haar der Baronesse1387“. 1959 ergänzt Klein, dass der Schädel zu diesem Zeitpunkt noch ganz1388 und die
Gruft ohne Wasser gewesen sei1389.
Pater Hermann Watzl O.Cist: „Die Gruft war damals erbrochen worden, ich konnte selbst in den Sarg hinab sehen, sah den Totenkopf u. etwas Braunes (es waren die Kleider) in dem Sarg1390.“ Gräberbuch Pfarre Heiligenkreuz
am Schluss des III. Viertels, 05. Oktober 1960: „Das Vetsera-Grab wurde von russischen Soldaten aufgebrochen. Der
Sarg enthielt nur Knochen, der Schädel lag neben dem aufgebrochenen Sarg in der Gruft. Auch die Gruft in der Friedhofskapelle wurde aufgebrochen. Der Sarg des Heinrich Grünbeck enthält seine Gebeine u. die priesterlichen Gewänder. Im Stift soll auch der Sarg des Abtes Xaver Seidemann aufgemacht worden sein.1391“ Medizinalrat Dr. J. Hofmann „sah das Skelett, das ihm klein erschien, ein dunkles Kleid und eine Fülle dunkler, sehr langer Haare. Der Schädel befand sich in der Gruft und ist nicht außerhalb der Grabstätte gelegen. So weit er es beurteilen konnte, war der
Schädel unverletzt.1392“
1383
Protokoll, aufgenommen von Hermann Zerzawy, 21.08.1954, mit Frau Isabella Vasak; Nachlass Zerzawy (freundlichst zur
Verfügung gestellt von Prof. Clemens M. Gruber, der andere Teile des Protokolls 1989 in seinem Werk „Die Schicksalstage von
Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg veröffentlichte)
1384
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 15.02.2002
1385
Alois Klein in „Große Österreich-Illustrierte“, Wien April 1951, zitiert in Swistun, Hermann: „Mary Vetsera – Gefährtin für
den Tod“, 2. Auflage, Ueberreuter, Wien 1999
1386
Fotografien des historischen ersten Sarges an seinem Standplatz auf dem Boden der Gruft zeigen, dass auf Grund seiner Trapezform in Kopfhöhe kaum zehn Zentimeter Platz zu den Seitenmauern besteht. Erst in Hüfthöhe ist es möglich, sich neben den
Sarg zu stellen. Der Schädel der Vetsera kann also höchstens im Bereich zwischen Hüfte und Fußteil neben dem Sarg gelegen
sein.
1387
Protokoll, aufgenommen von Hermann Zerzawy, 21.08.1954, mit Frau Isabella Vasak; Nachlass Zerzawy (freundlichst zur
Verfügung gestellt von Prof. Clemens M. Gruber, der andere Teile des Protokolls 1989 in seinem Werk „Die Schicksalstage von
Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg veröffentlichte)
1388
Diarium vom Stiftsarchivar Prof. P. Hermann Watzl, Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik: 5, Faszikel HNW, Nr.: 139 über das
Jahr 1959
1389
Fritz Klein, Sohn des Totengräbers Alois Klein, im Gespräch mit dem Verfasser, Heiligenkreuz 12.08.1991
1390
Diarium vom Stiftsarchivar Prof. P. Hermann Watzl, Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik: 5, Faszikel HNW, Nr.: 139 über das
Jahr 1959
1391
Eintrag durch Dr. P. Walter Schücker O.Cist.; Kopie: Mayerling-Archiv
1392
Pers. Mitteilung an Gerd Holler, 1978, zitiert in Holler, Gerd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea Verlag, Wien 1988
225
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs berichtet 1978: „Der Schädel der Toten lag (1959) im Sarg, nachdem er
1945 durch die Plünderung bedingt, neben dem Sarg gelegen war und anlässlich des provisorischen Verschlusses der
Gruft in den Sarg zurückgelegt wurde.1393“
1393
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II
226
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
5.
Die Vetsera-Kapelle
„H:MARIA:MUTTER:GOTTES:BITTE:FÜR:UNS,“
Inschrift über dem Portal
der Kapelle auf dem
Heiligenkreuzer
Ortsfriedhof
„Die Baronin ließ, zum größten Teil auf ihre Kosten, gegenüber dem Friedhofseingang durch die Architekten
Professor Avanzo1394 und Lange eine Kapelle in neuromanischem Stil erbauen, in der auch eine große Gruft für die
Äbte des Stiftes vorgesehen war.1395“ Abt Heinrich Grünbeck und Kämmerer Alberich Wilfing1396 bekundeten dazu
im Jahr nach ihrer Fertigstellung, dass der Konvent des Stiftes die Kapelle „stets in gutem Bauzustande zu halten1397“
werde. Doch bis es zu dieser Erklärung kam, musste die Baronin ein weiteres Mal – Don Quixote gleich – gegen die
Windmühlen der habsburgischen Bürokratie kämpfen. Nachstehend zeichnen wir die Chronik dieser Bemühungen
nach.
Als 1877 Abt Edmund Komáromy in der Mitte der östlichen Friedhofsmauer in einer Gruft beigesetzt wurde,
gab es auf dem Ortsfriedhof erst wenige Gräber. Mitte 1889 wurde über der Abtgruft und in die bestehende Fried-
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv
1394
Die Architekten Professor Dominik Avanzo (04.01.1845 Köln – 08.09.1910 Wien) und Paul Lange (12.01.1850 Wien –
26.04.1890 Wien) zeichneten als Planer auch für die „Güld´ne Waldschnepfe“ an der Dornbacher Straße 88 im 17. Wiener Bezirk
verantwortlich; Kronprinz Rudolf war oftmals Gast der Vergnügungsstätte mit Schrammelmusik. Weitere Bauten von Avanzo:
u.a. die 1895 neu erbaute Kapelle in Grub (Pfarre Alland).
1395
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1396
Alberich Wilfing (14.08.1826-26.12.1897), beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz, Grab 68
1397
Das einseitige, mit dem Siegel des Stiftes beglaubigte Dokument hat den folgenden Wortlaut: „Erklärung.
Wir Endesgefertigte: Heinrich Grünbeck, Abt des Cistercienserstiftes Heiligenkreuz-Neukloster, und der ehrwürdige
Convent dieses Stiftes geloben und versprechen für uns und unsere Nachfolger, die in dem hiesigen Ortsfriedhofe befindliche und
größtentheils auf Kosten der Hochwohlgeborenen Frau Baronin Helene von Vetsera neuerbaute gothische (soll heißen: romanische, Verf.) Kapelle stets in gutem Bauzustande zu erhalten.
Ferner versprechen wir für uns und unsere Nachfolger, die auf demselben Ortsfriedhofe befindliche Gruft, welche die
theuren Überreste der in Maierling am 30. Jänner 1889 verstorbenen und hier bestatteten Baronesse Marie von Vetsera, Tochter
der Frau Baronin Helene von Vetsera, birgt, für immerwährende Zeiten intact bestehen zu lassen, und diesen Gruftplatz niemals
einer anderen Bestimmung zu überlassen.
Stift Heiligenkreuz, am 10. Jänner 1890
Heinrich Grünbeck Abt
P. Alberich Wilfing
Stiftskämmerer“
227
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
hofsmauer hinein die von Helene Vetsera gestiftete Friedhofskapelle errichtet. Am Allerheiligensonntag, dem 31. Oktober 1889, wurde die Friedhofskapelle von Abt Heinrich Grünbeck geweiht1398.
In der in der Kapelle neu angelegten Prälatengruft wurde jedoch nur noch Abt Heinrich V. Grünbeck1399 1902
beigesetzt. Für die beiden Äbte wurde an der nördlichen, linken Innenwand eine Inschriftentafel angebracht: „Rev.ac
Ampl.D.1400 Edmundus Komaromy – 22.12.1805-10.04.1877“ und „Rev.ac Ampl.D. Henricus Grünbeck –
24.11.1818-01.01.1902“.
Auf der gegenüberliegenden, südlichen Innenwand befindet sich eine weitere Gedenktafel mit dem folgenden
lateinischen Text:
IN PIAM MEMORIAM
LADISLAI ET MARIAE
PROLIS DULCISSIMAE PRAEMATURE EREPTAE
MATER DOLORE AFFLICTA
VOTUM SOLVENS
SACELLUM HOC FUNDAVIT
ANNOS S. D. MDCCCLXXXIX1401
Judtmann fand im Stiftarchiv mehrere Entwürfe für die Inschrift dieser Tafel, die – ebenso wie die ausgeführte – in
keiner Zeile den Namen Vetsera enthält. Den Grund teilte der damalige Kämmerer des Stiftes, Pater Alberich Wilfing,
der Baronin in einem Schreiben mit1402: Das Stift sei Eigentümer der Kapelle und könne sich nicht in Wiederspruch
zum Kaiserhaus setzen. Judtmann schließt daraus, dass der Hof die Nennung des Namens Vetsera in der Kapelle verboten habe.
Im Archiv des Stiftes stießen wir bei unserer Recherche auch auf die Baupläne der Kapelle1403, wie sie am 15.
Juli 1889 dem stiftlichen Kammeramt und später dem Badener Bezirkshauptmann Oser vorgelegt wurden. Es handelt
sich hierbei um Skizzen im Maßstab 1:100, die jedoch in wenigen Details (Portal, Giebel, Altarfenster) von der heutigen Bausubstanz abweichen.
Das große, oben halbkreisförmig abgerundete farbige Altarfenster gab bereits vor seiner Fertigstellung Anlass
zu Polizeiberichten an Baron Krauß. Gegenstand war das Erscheinen der Baronin Vetsera beim Direktor der Tiroler
Glasmalerei und Kathedralglas-Hütte, Carl Gold, in Wien1404. Die Baronin beauftragte Gold, für die Kapelle in Heiligenkreuz nach den Entwürfen des akademischen Malers Franz Jobst ein Glasfenster anzufertigen, das eine Muttergottes und zwei Engel zeige. Hierzu überreichte sie dem Künstler ein Foto der verstorbenen Tochter mit der Bitte, die
Heilige Maria solle ihre Gesichtszüge erhalten. Gold nahm den Auftrag an, wurde jedoch schon bald von den Zisterzi1398
Über der schweren Holztür der Kapelle befindet sich das Wappen des Stiftes Heiligenkreuz, die segnende Hand. Unterhalb
des mit einer steinernen Lilie bekrönten Portals und über dem Mittleren von drei Giebelfenstern, dem Glockenfenster, finden sich
florale Steinmetzarbeiten. Auf der steinernen Altarbekrönung finden sich die Worte „MEMENTO INRI“
1399
Abt Heinrich V. Grünbeck (1879-1902)
1400
„Reverendissimus ac Amplissimus Dominus“ – d.h. „Der hochwürdigste und hochangesehene Herr“
1401
Zu deutsch:
Zum frommen Gedenken an
Ladislaus und Maria,
den süßesten, frühzeitig entrissenen Kindern,
hat die durch Schmerz betrübte Mutter,
ein Gelübde einlösend,
diese Kapelle erbaut
Im Jahre des heiligen Herrn 1889
1402
Lt. Judtmann war ein Konzept des Briefes in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts für ihn im Stiftsarchiv einsehbar
1403
Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik 1m Faszikel I, Nr. 61 c
1404
Tiroler Glasmalerei und Kathedralglas-Hütte, Magdalenenstraße 29, 1060 Wien
228
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
enserpatres daran gehindert, ihn auszuführen, „da das Stift Heiligenkreuz nie und nimmer gestatten werde, daß ein
nach den Gesichtszügen der verblichenen Baronesse angefertigtes Votivbild auf dem Stiftsfriedhof aufgestellt werde1405“.
Den Polizeiberichten1406 und einer im Heiligenkreuzer Stiftsarchiv von Judtmann eingesehenen Rechnung1407
der Glasmalwerkstatt kann entnommen werden, dass nach dem Einspruch des Stiftes das bereits fertiggestellte Madonnenantlitz geändert wurde und statt dessen die Gesichter der beiden knienden Engel die Gesichtszüge von Ladislaus (links) und Mary (rechts) erhielten1408. Die zwei gläsernen Rosetten, die Helene Vetseras ebenfalls hatte anfertigen lassen, waren für die Seitenwände der Kapelle bestimmt1409.
Das Glasfenster mit der Inschrift „Mater Dolorosa“ über dem Altar wurde in Teilen durch die Ereignisse des
Zweiten Weltkrieges zerstört und erst in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte der fehlende Kopf der Madonna
rekonstruiert werden1410. In den Nachkriegsjahren wurde die Kapelle zunächst als Aufbahrungsraum bei Begräbnissen
verwendet. Dazu standen bis Ende der 90er Jahre auch vier Holzbänke auf einfachen hölzernen Podesten sowie eine
einfache Gebetsbank in der Kapelle.
Seit dem Jahre 1999 wird die Vetsera-Kapelle auf dem Ortsfriedhof im Auftrag der Friedhofsverwaltung innen
und außen saniert1411. Durch die Hanglage traten vermehrt Feuchtigkeitsschäden auf, so dass zur Trockenlegung des
Mauerwerkes sogar der Altar abgetragen werden musste.
1405
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Ein Bericht ist nach Judtmann datiert vom 15.10.1889
1407
Rechnung vom 07.11.1889 über „Ein Figurenfenster Mutter Gottes mit zwei knieenden Engeln in feinster Ausführung incl.
Neuzeichnung der Köpfe fl. 240,00“
1408
Nach dem bei Judtmann zitierten Konfidentenbericht „kamen in Folge dessen abwechselnd 4 Geistliche des Stiftes Heiligenkreuz in das Atelier, um sich von dem Fortgang der Arbeit zu überzeugen.“
1409
Rechnung vom 07.11.1889 über „2 Rosetten mit reichster Bordüre fl. 135,00“
1410
Pater Walter Schücker berichtet am 29.04.1959, dass die Kapelle „bis heute in diesem Zustand ohne Restaurierung geblieben“
sei.
1411
Die Sanierung wird voraussichtlich im Herbst 2002 abgeschlossen sein und soll € 50.000,00 kosten; Verwaltungsdirektor
Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 27.11.2001
1406
229
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
6.
Heiligenkreuz im II. Weltkrieg
„Nach Rücksprache mit unserem Archivar
Dr. P. Alberich Strommer muß ich Ihnen leider
mitteilen, daß Ihr Besuch in Heiligenkreuz
unerwünscht ist.“
Abt P. Gerhard Hradil O.Cist
Heiligenkreuz, 07.09.1998
Die Heiligenkreuzer Festspiele im Klosterhof, 1935 zum 800-jährigen Klosterjubiläum vom Theaterverein der
Gemeinde mit dem 12 mal aufgeführten Stück „Annodomini“ begründet, ziehe im Jahre 1937 erneut mehr als 15.000
Gäste in den Ort – bei rund 1.000 Einwohnern1412. Das Stück „Die Chronik spricht“ von Lothar Rogozinski zeigte in
sieben Bildern die österreichische Geschichte von Marc Aurel bis Maria Theresia und Mozart.
Zu dieser Zeit gibt es in Heiligenkreuz drei Greißler („Kramläden“), ein Kaffeehaus, drei Gasthäuser, eine
Wagnerei und Schmiede, einen Schuster sowie Schneider, Fleischhauer, Fassbinder, Bäcker, Devotionalienhändler
und eine Hebamme. Beschaulich soll es im Ort zugegangen sein – zumindest bis zum „Anschluss“ Österreichs an das
Deutsche Reich am 13. März 1938. Heiligenkreuz wird zu einer Gemeinde des unter der Führung von Dr. Hugo Jury1413 stehenden „Ahnengaus des Führers Niederdonau“ in der „Ostmarkt“, den späteren „Alpen- und DonauReichsgauen“.
Stift Heiligenkreuz zählt zu den drei Klöstern des Landes, die nicht von den Nationalsozialisten aufgehoben
wurden1414. In den ersten Monaten des Jahres 1938 können sich Stift und Nationalsozialisten zunächst „arrangieren“.
Prior Karl Braunstorfer stellt ihnen von Anfang Mai bis Herbst das Siegenfelder Pfarrheim für die N.S. Jugendverbände zur Verfügung, bis sie in das neue Parteiheim umziehen können1415. In der Pfarrchronik wird nach dem „Anschluss“ positiv verzeichnet, dass die Geburtenrate in Heiligenkreuz steigt und die „früher sehr zahlreichen Bettler“
aus der Pfarrkanzlei verschwunden seien. Doch Abt Gregor bemerkt auch den neuen Kurs der Politik, der auf eine
„völlige Trennung von Kirche und Staat“ hinziele. Zunächst wurden auch in Heiligenkreuz die katholischen Jugend-
1412
1943: 1.005 Einwohner; 1939: 987 Einwohner; Statistik Austria, Rohdaten der Volkszählung 2001
Jury, Hugo, geb. am 13.07.1887 in Mährisch Rothmühl (Moravská Radiměř/Tschechische Republik), gest. am 08.05.1945
Zwettl, Niederösterreich durch Selbstmord; Arzt und Politiker. 11. März 1938 bis zum 13. März 1938 Minister für soziale Verwaltung der Regierung Seyß-Inquart; ab Mai 1938 Gauleiter des "Reichsgau Niederdonau", seit 1940 zusätzlich Reichsstatthalter und
ab 1942 Reichsverteidigungskommissar für dieses Gebiet.
1414
Von 26 Großklöstern Österreichs, die Josef II. hatte bestehen lassen, wurden bis auf Heiligenkreuz, das Wiener Schottenkloster und Zwettl im Waldviertel alle aufgehoben und die Geistlichen vertrieben.
1415
„Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965
1413
230
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
verbände verboten und in der Schule hörte das Schulgebet auf. „Um den neuen Verhältnissen Rechnung zu tragen,
wurden von Oktober 1938 bis April 1939 ... jeden zweiten Sonntag die pfarrlichen Arbeitsgemeinschaften gehalten,
bestehend aus Bibellesung, Glaubenslehre, Einführung in das Kirchenjahr, besonders auch Pflege des Kirchenlieds.1416“
Am 13. März 1938 setzten die Nationalsozialisten den Siegenfelder Gastwirt Martin Spörk1417 als Bürgermeister
und NS-Ortsgruppenleiter ein. Im gleichen Jahr errichten die Nationalsozialisten beim so genannten Schächerkreuz
auf der Anhöhe Richtung Alland ein Lager für die Arbeiter der Reichsautobahn, bestehend aus fünf Baracken, in die
am 26. Juni 1940 rund 380 französische Kriegsgefangene von Kaiser-Steinbruch einziehen. Vom 20. Mai bis zum 24.
November 1941 werden die französischen Kriegsgefangene von gefangenen Serben abgelöst. Zur gleichen Zeit entsteht auf der Hofwiese in Sattelbach ein weiteres Lager, dessen Insassen – zunächst Auslandsarbeiter, später ebenfalls
Serben – bei den Arbeiten für die geplante Autobahnbrücke bei Heiligenkreuz eingesetzt werden. Ein drittes Lager
entsteht in Sittendorf auf Gründen des Stiftes. Die Lager werden 1942 abgebrochen und die Arbeiten an der Autobahn
eingestellt. Ab November 1938 musste das Stift Gründe in Alland, Heiligenkreuz, Sittendorf und Weißenbach bei
Mödling zwangsweise an die Reichsautobahnverwaltung verkaufen1418.
Bis 1938 befand sich in Heiligenkreuz eine Sängerknabenschule mit Untergymnasium und Konvikt, wie die seit
1929 erscheinende Stiftszeitung „Sancta Crux“ berichtet1419. Noch im „Anschluss“-Jahr verliert die theologische Lehranstalt ihre Öffentlichkeitsrechte und im September wird der Sängerknabenkonvikt aufgelöst. Am 1. Februar 1939
zwischen die Nationalsozialisten das Stift, das Forstgut Wasserberg bei Knittelfeld in der Steiermark an den Staat zu
verkaufen, Gründe in Münchendorf1420 für den Bau eines Flugplatzes abzugeben und am 1. August wird der stiftliche
Kindergarten endgültig von der N.S.V.1421 übernommen.
Am 5. November 1940 droht die Räumung des gesamten Klosterkomplexes. Eine staatliche Kommission beschlagnahmt große Teile des Konvents und bis Mitte Oktober werden 200 internierte Franzosen dort einquartiert – der
entsprechende Teil des Klosterhofes ist durch einen Holzzaun abgeteilt und in der Sommerküche wird für sie gekocht.
Die Bewachungsmannschaft ist im Erdgeschoss östlich des Tores und im Pfarrstüberl untergebracht. Um ein Umsiedlerlager für Auslandsdeutsche zu errichten, werden weitere Räume des Klosters beschlagnahmt1422 und die Klausur
muss auf den ersten Gebäudestock und Teile des Gartens beschränkt werden. Ende Januar 1941 ziehen 300 evangelische Umsiedler aus Bessarabien in das Lager ein. Da immer mehr Menschen nach Heiligenkreuz strömen, müssen im
1416
„Sancta Crux“, Heiligenkreuz 1965
Spörk, Martin; Gastwirt in Siegenfeld; geb. 25.01.1894 in Baden, gest. am 22.10.1966 in Baden. Im Herbst 1944 wird er als
Abteilungsleiter beim Bau des „Ostwalls“ eingesetzt, seine Vertretung als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter übernimmt bis
Kriegsende der Kunstmaler Ludwig Bürgel aus Siegenfeld (geb, 27.08.1901 in Wien, gest. 15.09.1980 in Seekirchen/Salzburg).
Spörk kehrt vor Einmarsch der Roten Armee zurück nach Siegenfeld und flieht von dort mit 54 Parteimitgliedern nach Westen. Er
wird am 03.03.1946 in Bad Hofgastein aufgegriffen und verhaftet; später lässt er sich in Baden nieder, wo er 72-jährig verstirbt.
1418
„Sancta Crux“, Heiligenkreuz 2000
1419
Ab September 1938 erscheint das Mitteilungsorgan unter dem Motto „Neue Zeit neues Kleid“ als „ein starkes Bollwerk echten Christentums und sicherer Hort volksverbundenem Deutschtums“ unter dem Namen „Das Heiligenkreuzer Blatt“ und ist in
zehn Jahren 18 Mal erschienen.
1420
Der Flugplatz in Münchendorf wurde im April 1941 von der III. Gruppe des Kampfgeschwaders 2 für die Vorbereitung des
Balkanfeldzugs belegt. Später wurden hier für die Reichsverteidigung Jagdflugzeuge stationiert. Der schwerste Luftangriff der
US-Luftwaffe erfolgte am 16. Juli 1944 und forderte zahlreiche Tote unter dem Bodenpersonal und der Luftabwehr. 1945 wurde
der Flugplatz von der Wehrmacht zerstört.
1421
N.S.V. = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
1422
U.a. Klerikatsgebäude, der Konvent ohne Kreuzgang, Priorgang, Bibliothekstrakt und der beiden Dormitorien, zudem die
Winterküche und das Waisenhaus.
1417
231
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Juli auch der Primizsaal, das Kammeramt, die Krankenräume und das obere Dormitorium von den Mönchen geräumt
werden.
Am 17. Mai ziehen die Franzosen aus dem Kloster aus und drei Tage später gefangene Serben ein; am 12. Dezember 1941 kommen 200 russische Kriegsgefangene hinzu. Schon bald grassiert im Lager eine Typusepidemie. Ende
des Jahres 1944 wird das Umsiedlerlager aufgelöst und am 18. Dezember zieht in die Räume eine Dienststelle des
„Festungsbereichs Südost1423“ unter Kommando des Generals der Panzertruppen, Nikolaus von Vormann1424, genutzt.
Am 15. Januar 1945 kommt es zu einem Brand in der Offiziersküche, der den Hauptsaal des Stiftsmuseums zerstört –
die Kunstwerke konnten jedoch gerettet werden.
In den ersten Apriltagen des Jahres 1945 wird Heiligenkreuz Kriegsschauplatz. Das V. Garde Panzerkorps, das
am 3. April Baden eingenommen hatte, schwenkte in das Helenental ab, und an ihm vorbei stieß das XXXVIII. GardeSchützenkorps nach Norden vor. Am 4. April erreichte es Heiligenkreuz und stieß weiter über Hochrotherd bis Wolfsgraben vor1425. Sowjetische Geschützbatterien bezogen Stellung beim höhergelegenen Heiligenkreuzer Friedhof und
beschießen Alland. Zudem waren in diesem Raum Verbände der sowjetischen 6. Garde-Panzerarmee im Einsatz und
schließlich wurden Truppen des XVIII. Panzerkorps nachgezogen1426.
In der Nacht vom 30. auf den 31. März, dem Ostersamstag, flieht der Offizierstab des „Festungsbereichs Südost“ aus Heiligenkreuz und SS-Verbände gehen in Stellung. Kurz bevor die Kriegsfront entgültig den Ort erreicht,
werden am 4. April durch deutsche Pioniere die beiden Sattelbachbrücken gesprengt. Die sechs Steinplastiken nach
Giuliani-Modellen – der Heilige Johannes Nepomuk, der Heilige Florian, eine weitere Heiligendarstellung und drei
Putti mit Kartuschen – der westlichen, 1729 von Abt Robert Leeb errichteten einfachen Rundbogenbrücke am Waschhaus, stürzen in den Sattelbach. Sie können nach dem Kriege geborgen und in den Werkstätten des Bundesdenkmalamtes anhand der erhaltenen Tonmodelle restauriert werden1427. Vom „Volkssturm“ werden zudem Straßensperren aus
Baumstämmen gegen die anrückenden russischen Verbände errichtet.
Im stiftlichen Weinkeller waren am 3. April auf Anordnung der SS die großen Fässer entleert worden, um Alkoholexzesse der Soldaten zu vermeiden. Ein Teil der Bevölkerung war bereits in den Wald beim Einsiedlerkreuz geflüchtet, kranke Mönche wurden in die Jagdhütte bei Grub gebracht1428, einige wenige Familien – meist Mitlieder der
NSdAP – flüchteten in den Westen des Landes1429, etliche blieben in ihren Häusern oder suchten Schutz in den Kel1423
Festungsbereich Südost: Kommandant: General der Panzer-Truppen Nikolaus von Vormann; Chef des Generalstabes: Oberst
i.G. Hans Hartl; Ia: Oberstleutnant Michaelis; IIa: Oberstleutnant von Pigenot; Stabsoffizier f. Artillerie: Oberst Auer; Stabsoffizier f. Panzer: Oberst Küchler; Höherer Pi. Führer: Generalleutnant Kliszcz; Kommandant Festungsabschnitt Niederdonau: Generalleutnant Gustav Adolph-Auffenberg-Komarów; Kommandant Festungsabschnitt Steiermark: Generalmajor Kurt Jesser. Um zu
einer einheitlichen Leitung des Stellungsbaus an den Grenzen von Niederösterreich und der Steiermark zu kommen, wurde das
Bindeglied zwischen dem OKD des Heeres und den stellv. Generalkommanden XVII und XVIII A.K. diese Dienststelle im Range
eines Armeeoberkommandos geschaffen, die ihren Sitz zunächst in St. Gilgen am Wolfgangsee hatte. Zitiert nach Rauchensteiner,
Manfried: „Der Krieg in Österreich 1945“, Österreichischer Bundesverlag, 3. Auflage, Wien 1985
1424
Vormann, Nikolaus von, geb. am 24.12.1895 in Neumark/Westpreußen, gest. am 26.10.1959.
1425
Rauchensteiner, Manfried: „Der Krieg in Österreich 1945“, Österreichischer Bundesverlag, 3. Auflage, Wien 1985
1426
Univ. Doz. Dr. Manfried Rauchensteiner an den Verfasser, Wien 02.12.1992
1427
Am 22. August 1955 werden die restaurierten Brückenfiguren zurück nach Heiligenkreuz gebracht. Der Heilige Florian steht
seit 1983 im Stiegenaufgang zum Festsaal des Stiftes Heiligenkreuz. Der Heilige Johannes Nepomuk sowie zwei der Putten stehen
heute am Sattelbachufer an der Stelle der alten Brücke.
1428
Hierhin nahm Pater Hermann Watzl in einem Koffer auch die Reliquien vom Heiligen Kreuz und der Dornenkrone sowie der
Heiligen Leopold, Bernhard und Robert mit. Am 10. April kehrte die Kreuzesreliquie zurück ins Stift, die anderen Reliquien ruhten noch längere Zeit vergraben im Wald und wurden 1945 zurückgebracht, wobei die Robert-Reliquie jedoch verloren ging.
1429
Zu den Flüchtlingen zählt auch der Kunstmaler Ludwig Bürgel, der von herbst 1944 bis März 1945 als Bürgermeister und
Ortgruppenleiter von Heiligenkreuz eingesetzt worden war. Bürgel löste Martin Spörk ab. Zu Kriegsende floh er nach Oberösterreich und lebte und arbeitete fortan in Seekirchen/Salzburg. Der am 27.08.1901 in Wien geborene Bürgel verstarb am 19.05.1980
und wurde in Seekirchen beigesetzt.
232
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
lern des Stiftes. Hier bewahrte der damalige Prior und nachmalige Abt Karl Braunstorfer1430 Frauen, Kinder und alte
Leute vor einer Erstürmung durch die Soldaten1431.
Am 4. April um 12:30 Uhr hatten die letzten deutschen Soldaten Heiligenkreuz verlassen. Um 14:30 Uhr erreichen die russischen Truppen das Stift und nehmen Stellung im Kloster, in dem ein Lazarett eingerichtet wird. Die
Mönche nehmen in der Folgezeit Flüchtlinge aus Ungarn auf, aber auch Obdachlose aus dem eigenen Ort. Als in diesen Tagen Tote auf dem Friedhof begraben werden soll, entdecken zwei Patres, dass einige Grüfte des Friedhofes –
unter ihnen jene der Baroness Vetsera und die Äbtegruft in der Friedhofskapelle – aufgebrochen waren. Der Zutritt zur
Kapelle wurde den Mönchen verwehrt. „In der Totenkammer hatten sowjetische Soldaten eine Kochstelle eingerichtet1432“ und auf dem Friedhof grasten die Pferde der Soldaten1433. Zu diesem Zeitpunkt wird auch das Altarfenster der
Kapelle zerstört – russische Soldaten sollen es beschossen und den Kopf der Maria mit Steinwürfen zerstört haben.
Am 18. April 1945 stirbt Abt Gregor an einer Lungenentzündung, die er sich am 11. des Monats in der kalten
Klosterkirche zugezogen hatte. Er wurde am 21. April zunächst in einem notdürftigen Sarg vor dem Stephanialtar in
der Kirche beigesetzt. Einen Grabstein erhält er erst am 13. August des Jahres 1949. Den 1. Mai feierten die russischen Soldaten im Refektorium und am 9. Mai verlassen sie bereits das Stift und das Lazarett. Schon am 22. April
1945 hatte der Badener Bezirkshauptmann, Hofrat Dr. Rupprecht, den Juristen Dr. Hanns Mädler1434 zum neuen Bürgermeister ernannt. Und mit der Wahl des neuen Abtes Karl am 9. August 1945 kehrt allmählich wieder Normalität in
das Klosterleben ein.
1430
Braunstorfer, Karl Heinrich; geboren 03.05.1895 in Katzelsdorf; Ordenseintritt 22.08.1914; Profess 08.09.1918; Weihe
24.02.1919; Prior von Heiligenkreuz seit 23.12.1933; Abwahl am 09.08.1945; Resignation am 14.09.1969; gestorben am
20.09.1978 in Heiligenkreuz (Quelle: Sancta Crux 3/1979). Brauntofer war „der Mönch von Citeaux“ (Reinhold Schneider) – voll
großer Güte, hoher Spiritualität und äußerst Liebenswürdig. Er erneuerte die monastische Ordnung im Stift und führte es durch die
schwere Nachkriegszeit.
1431
Abt Karl wurde dafür 1965 für seinen Mut und seine Entschlossenheit vom Österreichischen Bundespräsidenten mit dem großen Silbernen Ehrenzeichen für Verdiente um die Republik ausgezeichnet.
1432
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1433
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 10.01.2002
1434
Mädler, Dr. Hanns, geb. 05.02.1894 in Heiligenkreuz, gest. am 07.10.1981 in Wien, beigesetzt auf dem Friedhof von Heiligeneich im Tullnerfeld. Mädler, einst Stiftsangestellter und Zentralsekretär der Zentralkanzlei des Stiftes Heiligenkreuz, war Ehrenbürger der Gemeinde und bis 1951 zur Übersiedlung nach Mödling deren Bürgermeister.
233
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
7.
1959: Ein neuer Sarg
„Die exhumierte Leiche
wurde in derselben Gruft
wieder beigesetzt.“
Amtsrat Lorenz Halbwachs
Baden, 26.06.1959
Ende der 50-er Jahre erfolgt in Heiligenkreuz die Umbettung der sterblichen Überreste von Mary Vetsera in einen neuen Sarg. Am Dienstag, 7. Juli 1959, versammeln sich gegen 8:00 Uhr früh mehr als ein Dutzend Personen auf
dem Ortsfriedhof an der Gruft der Baroness von Vetsera1435. Totengräber Alois Klein1436 und Meiereiarbeiter Kurt Burian1437 hatten bereits Stunden zuvor einen neuen Sarg1438 neben die Gruft gestellt und die Zinkblecheinlage mit Holzwolle gefüllt. Die weiteren Protagonisten der gespenstisch scheinenden Szenerie: Stiftspfarrer Pater Gerhard Hradil
von Heiligenkreuz1439, Stiftsarchivar Pater Hermann Watzl, Prior Dr. Pater Walter Schücker1440 als Friedhofsverwalter,
ein namentlich nicht genannte Gemeindesekretär als Vertreter der Gemeinde Heiligenkreuz1441, der spätere Amtsinspektor und damalige Amtsrat Eduard Halbwachs als Leiter der Städtischen Bestattungsanstalt Baden1442, Obersanitätsrat Friedrich Lorenz aus Baden in Vertretung des Gemeindearztes1443, der Heiligenkreuzer PolizeiPostenkommandant Strasser, der Badener Spenglermeister Josef Meixner aus der Neustiftgasse sowie zwei Helfer der
1435
Interessant erscheint uns, dass Judtmann die Namen aller Anwesenden kannte, diese jedoch an keiner Stelle aufführt.
Alois Klein (Sattelbach 13.06.1899 – 17.11.1976 Heiligenkreuz; Tod durch Ertrinken nach einem Sturz in den Sattelbach),
seit 1965 Totengräber in Heiligenkreuz. Vater: Alois Klein; Mutter: Maria Klein; Ehefrau gestorben am 17.10.1976; 5 Söhne,
wohnhaft Heiligenkreuz Nr. 6
1437
Kurt Burian, Meiereiarbeiter, Sudetendeutscher. Bei einer Befragung durch den Autor am 23.11.1990 gibt Burian an, nicht bei
der Umbettung beteiligt gewesen zu sein. Er sei mit zwei verstorbenen Freunden lediglich zum Kartoffelsetzen in der Nähe des
Friedhofes gewesen. Als sie einen Menschenauflauf am Friedhof bemerkten, seien sie hingegangen, jedoch schnell wieder vertrieben worden.
1438
Der Sarg ist 201 cm lang, 68 cm breit und 62 cm hoch, wie bei der Bergung des Sarges 1992 bei einem Linzer Möbelhändler
die Gendarmerie notiert. Er befindet sich im Stift Heiligenkreuz (Stand: 03.2007).
1439
Pater Gerhard Hradil, geb. 28.10.1928, Profeß 13.09.1948, Priesterweihe 23.11.1952, seit 10.07.1983 Abt von Heiligenkreuz,
Resignation 11.02.1999. Mitbrüder charakteriesieren Hradil als „Seelsorgeabt“ – stets dienen für seine Mitbrüder, vorbildhaft im
klösterlichen Leben und persönlich bescheiden.
1440
an anderer Stelle auch „Schicker“ oder wie bei Gerd Holler „Schüch“ (lt. „Personalstand der Welt- und Ordensgeistlichkeit
der Erzdiözese Wien nach dem Stand vom 15.04.1958 handelt es sich um den Prior von Heiligenkreuz, P. Walter Schücker, Spiritual der Unbeschuhten Karmelitinnen in Mayerling, geb. Wien 18.09.1913, gest. 07.06.1977; beigesetzt auf dem Mönchsfriedhof
der Abtei Heiligenkreuz)
1441
Bürgermeister war 1959 der Heiligenkreuzer Landwirt Josef Rattenschlager, geb. 06.03.1903 in Heiligenkreuz, gest.
29.12.1968 in Mödling, beigesetzt auf dem Ortsfriedhof Heiligenkreuz (Grab IV/6); Rattenschlager war von 1956 bis 1968 Bürgermeister
1442
Halbwachs war nach Zeitzeugenaussage zugleich Schauspieler am Badener Stadttheater
1443
Da die Zuständigkeit für die Genehmigung von Exhumierungen nach dem NÖ Leichen- und Bestattungsgesetz in den Gemeindebereich fällt, kann die Vertretung ohne weiteres angenommen werden; Mitteilung von Amtsarzt Obersanitätsrat Dr. de
Martin, Bezirkshauptmannschaft Baden, an den Verfasser, Baden 28.12.2001
1436
234
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
städtischen Bestattung, Josef Schilk und Franz Ecker. Marys Cousin Heinrich Baltazzi-Scharschmid hatte erst am
Vortag von der Umbettung erfahren und kam kurzfristig aus Baden nach Heiligenkreuz.
Die Vorgeschichte dieser gespenstischen Szene beginnt bereits Mitte Mai 1959 im Büro der Städtischen Bestattungsanstalt Baden. Die zur Kur in Baden weilende Theresia Zar aus Triest erklärt Eduard Halbwachs, sie sei die Enkelin eines kaiserlichen Leibjägers1444 und fühle als solche sich moralisch verpflichtet, das Grab der Vetsera in Ordnung bringen zu lassen1445. Theresia Müllner, wie sie seit ihrer Eheschließung 1917 heißt, hatte zuvor das VetseraGrab in Heiligenkreuz besucht1446. Halbwachs bestätigt den Auftrag und wird die Exhumierungskosten mit 4.580,00
Schilling „laut Vereinbarung“ in Rechnung stellen1447. Die Auftraggeberin bezahlt die Summe im Voraus und reist
ab1448. Für die Umbettung soll die Gesundheitsabteilung der Bezirkshauptmannschaft Baden am 1. Juli 1959 die Bewilligung erteilt haben1449. Für die Aktion legt Halbwachs am 23. Juni 1959 einen Akt1450 an und gibt ihm die Nummer
196151451.
Bereist zu Jahresbeginn hatte Theresia Zar1452 versucht, in mehreren Briefen mit dem Stift Heiligenkreuz in
Kontakt zu treten. Sie hatte angeboten, für eine Neubestattung der Vetsera finanziell zu sorgen, worauf das Stift auch
einging1453. Der Prior schlug der Stifterin vor, zunächst durch die Friedhofsverwaltung einen Kostenvoranschlag für
eine Umbettung in einen Eichensarg fertigen zu lassen. Verwendet wurde dann jedoch ein Sarg aus Zink1454. Mit dem
einzigen zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Verwandten der Vetsera, ihrem Cousin Heinrich Baltazzi-Scharschmid,
wird sie keinen Kontakt aufnehmen können, da weder das Stift, noch der Landwirt und Bürgermeister von Heiligenkreuz, Josef Rattenschlager1455, oder die Badener Gemeindeverwaltung seine Adresse weitergegeben hatten1456. Es ist
1444
A. F. Mels-Colloredo von der Salzburger Landesgeschäftsstelle der Kronprinz Rudolf-Gesellschaft geht in einem Schreiben
vom 06.12.1970 an die Städtische Bestattung Baden davon aus, dass es sich um eine Nachfahrin des Franz Wodicka oder des
Martin Kröppelt gehandelt haben könnte; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv. Nach Auskunft der Nichte von Theresia
Zar, Frau Nicoletta Zar, sind beide Namen in der Familie nicht bekannt (Nicoletta Zar an den Verfasser, Triest 04.05.2002)
1445
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv
1446
Protokoll, vermutlich aufgezeichnet von Oberamtsrat Johann Wagenhofer, Kurdirektor der Stadt Baden (verstorben 1986), im
Archiv des Kaiser-Franz-Josef Museums für Handwerk und Volkskunst, Baden
1447
Rechnung für Frau Theresia Müllner in Triest, Baden 24. Juni 1959, „über die Exhumierungskosten der am 30.1.1891 verstorbenen Frau Mary v. Vetsera“.
1448
Protokoll, vermutlich aufgezeichnet von Oberamtsrat Johann Wagenhofer, Kurdirektor der Stadt Baden (verstorben 1986), im
Archiv des Kaiser-Franz-Josef Museums für Handwerk und Volkskunst, Baden
1449
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Nach Mitteilung von Amtsarzt Obersanitätsrat Dr. de Martin, Bezirkshauptmannschaft Baden, an den Verfasser, Baden 28.12.2001, finden sich bei der Bezirkshauptmannschaft Baden keine Unterlagen zur Umbettung von 1959, da die Zuständigkeit für die Genehmigung von Exhumierungen
nach Landesgesetz in den Gemeindebereich falle.
1450
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 um 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im MayerlingArchiv
1451
Nach telefonischer Mitteilung der Bestattung Baden an den Verfasser, 23.05.2002, ist der betreffende Akt trotz intensiver Suche im Archiv nicht mehr aufzufinden. Auch die Vorgängerin der jetzigen Leiterin der Städtischen Bestattung konnte über den
Verbleib nichts aussagen. Es liegt nahe, dass der Akt ausgeborgt und nicht zurückgegeben wurde.
1452
Teresa (Theresia) Zar, geborene Müllner (Pola 04.10.1896 – 30.05.1972), Hochzeit 21.08.1917 mit Ugone Zar (Lussinpiccolo
21.08.1884 – 16.09.1970); beide sind seit 1919 in Triest ansässig; 3 Kinder: Roberto (Pola 21.03.1919), Ernesto (Monfalcone
25.04.1922), Carlotta (Triest 09.02.1926): Der Vater von Theresia Müllner trug den Familiennamen Müllner, die Mutter den Familiennamen Ottenschläger (Mitteilung von Frau Nicoletta Zar an den Verfasser, Triest 04.05.2002; weitere Informationen zum
Familienstand kann die Familie nicht geben, da die Großmutter nicht über ihre Vergangenheit sprach und die Familie dies akzeptierte).
1453
Prior Pater Walter Schmücker an Theresia Zar, Heiligenkreuz 29.04.1959
1454
Verwaltungsdirektor Werner Richter an den Verfasser, Heiligenkreuz, 12.03.2002
1455
Rattenschlager, Josef, geb. 06.03.1903 in Heiligenkreuz, gestorben 29.12.1968 in Mödling, Landwirt und von 1956 bis 1968
Bürgermeister von Heiligenkreuz
1456
Heinrich Baltazzi an Theresia Zar, Baden 12.07.1959
235
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
jedoch durchaus möglich, dass Baltazzi die Spenderin im August gleichen Jahres im Rahmen seiner Schiffsreise von
Triest nach Dalmatien in ihrer Stadtwohnung besuchen konnte1457.
Zurück zum 7. Juli 1959. Um neugierigen den Zutritt zu verwehren, hatte die Gendarmerie den Eingang zum
Friedhof abgesperrt1458. Mit großer Anstrengung wuchten Totengräber Klein und die Mitarbeiter der Bestattung die
drei, je 200 Kilo schweren Steinplatten von der Gruft – eine stellen sie auf die Kante und lehnen sie gegen den Grabstein, die zweite ziehen sie auf den Efeu am Rande der Gruft und die dritte fast bis durch das Tor hinaus auf den
Gruftrand. Nun ist der Blick frei in die gemauerte Gruft. Zu sehen ist im trüben Grundwasser der links sowie am Kopf
komplett aufgerissene und aufgestemmte, mit reichlich Grünspan überzogenen „bronzierter Kupfersarg“, dessen Deckel nach oben rechts hochgeklappt scheint1459. Gendarmeriepostenkommandant Strasser irrt, wenn er in den Postenchronik vermerkt, der ursprüngliche Sarg sei von Kaiser Franz Joseph gestiftet worden1460. Der prunkvoll verzierte
Sarg wird im den oberen zwei Dritteln des Deckels von einem barocken Kruzifix mit Corpus Christi gekrönt. Im unteren Drittel befindet sich eine Inschriftentafel1461.
Den Sarg mit einem Seil nach oben zu ziehen erweist sich als aussichtslos, da das Grundwasser ihn zu schwer
werden lässt. So klettert Klein über eine mitgebrachte Leiter in die Tiefe und beginnt, mit einer Schöpfkelle Wasser in
einen Kübel zu füllen, der von den Bestattern neben der Gruft ausgeschüttet wird. Da das Abschöpfen des Wassers jedoch sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, wird das Seil erneut am Sarg festgemacht und dieser an einer Seite so weit
emporgezogen, bis er fast senkrecht an der Mauer lehnt. Doch nicht nur das Wasser ist zurück in die Gruft geflossen,
auch die sterblichen Überreste der Vetsera sowie einige Überreste des ursprünglichen Sarges aus Tannenholz liegen
nun in der untersten Ecke des Sarges wirr durcheinander unter Wasser.
Klein versucht, die schlammigen Skeletteile zu ordnen und einiger maßen logisch in die Kübel zu packen. Die
Umstehen betrachten die Knochen, ehe sie Halbwachs – nach einigen Zeugenaussagen ohne besondere Sorgfalt und
regellos, nach eigenem Bekunden jedoch „topographisch richtig“ – in den neuen Sarg legt: zunächst den Schädel,
dann das brünette Haar, Oberschenkelknochen, Becken, Wirbel, weitere Knochen. Die Kleider legt Baltazzi auseinander, die Schuhe obenauf. Aus dem Schlamm, der mit den Kübel ausgeschüttet wird, fingert Baltazzi ein kleines silbernes Kruzifix – das Holz ist bereits verrottet, doch er steckt den Corpus mit den drei Nägeln zu Erinnerung ein1462. Sanitätsrat Dr. Lorenz stand während des Vorgangs abseits der Gruft, „kümmerte sich aber in keinster Weise um die
Vorgänge und hat auch nicht die Knochenreste begutachtet.1463“
Burian und die Arbeiter der Bestattung zerren den alten Sarg wieder in die ursprüngliche Lage zurück, drücken
den gesprengten Deckel in die ursprüngliche Lage zurück und ziehen in rund 1,5 Metern Höhe am Kopf und Fuße der
Gruft diagonal zwei Eisentraversen ein, auf die der neue Sarg gestellt werden soll. Dann wird das Kleid, die Schuhe
und die Haare zu den Knochenresten gegeben und der neue Sarg vom Badener Spenglermeister Meixner zugelötet.
1457
Heinrich Baltazzi an Theresia Zar, Baden 12.07.1959
Entwurf und Protokoll vermutlich aufgezeichnet von Oberamtsrat Johann Wagenhofer, Kurdirektor der Stadt Baden (verstorben 1986), Archiv des Kaiser-Franz-Josef Museums für Handwerk und Volkskunst, Baden
1459
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv
1460
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1461
Fotoaufnahmen des Sarges erstellte Ferdinand Paur/Baden bei Wien. Text: „MARY FREIIN VON VETSERA, GEBOREN IN
WIEN 19TEN MÄRZ 1889 GESTORBEN IN MAYERLING 30TEN JANUAR 1889“
1462
Der silberne Corpus von einem Kruzifix hat die Größe von 8,8 c 6,9 cm und ist im Besitz der Familie Mag. Bernhard und
Mag. Christine Hollemann, geb. Baltazzi-Scharmid, in Baden
1463
Protokoll anlässlich einer Unterredung zwischen dem Amtsinspektor i.R. Eduard Halbwachs, Baden, Habsburgerstraße 90/II
und Dr. Gerd Holler am 28.03.1978 14 Uhr in der Wohnung des Erstgenannten; Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv
1458
236
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Klein und die Arbeiter klettern aus der Gruft, legen Bretter darauf und stellen den neuen Sarg über die Öffnung. Während Pater Gerhard die Tote einsegnet, macht Baltazzi einige Fotos1464. Danach wird der Sarg hinabgelassen und die
Gruft erneut mit den drei schweren Steinplatten geschlossen.
Folgende Tabelle soll versuchen darzustellen, welche Quellen uns zu den geborgenen Überresten zur Verfügung
stehen. Besonders aufgefallen ist uns bei der Recherche, dass in den Tagebuchartigen Aufzeichnungen von Fritz
Judtmann aus den Jahren 1965 und 1966 weitaus mehr Informationen enthalten sind, als dieser in seinem Buch veröffentlichte. So wusste Judtmann von drei Augenzeugen – Pater Hermann Watzl, dessen Protokoll er zudem gekannt
haben dürfte, Pater Gerhard Hradil und Heinrich Baltazzi-Scharschmid –, dass es ein Vorderteil des Schädels 1959
nicht mehr gab. Statt dessen weist Judtmann ausdrücklich unter Berufung auf drei Zeugen – u.a. Bestatter Halbwachs
– darauf hin, dass „der Schädel vollständig erhalten und nur eine große Öffnung auf der rechten Seite“ – wobei Halbwachs stets auf die linke Seite verwies – aufwies.
1464
Vier Bilder im einstigen Archiv Swistun/Vetsera zeigen den Sarg von den Seiten, jedoch im Schatten der Bäume stehend.
Baltazzi lässt sich zusammen mit Pater Gerhard vor dem Sarg fotografieren, fotografiert aber auch Halbwachs, P. Gerhard, P.
Hermann, Gendarm Strasser und Dr. Lorenz vor dem Sarg (Kopien der Bilder aus dem Nachlass Dr. Gerd Holler im MayerlingArchiv). Nach schriftlicher Äußerung von Fritz Judtmann gab es auch Aufnahmen der Skelettteile, die ebenfalls von Baltazzi angefertigt wurden (zitiert aus Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv).
237
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
8.
Das Watzl-Protokoll
„Im hiesigen Archiv
nichts über die Affäre.“
Pater Hermann Watzl
Heiligenkreuz, 20.04.1979
Der Archivar des Stiftes Heiligenkreuz, Professor Pater Hermann Watzl1465, machte sich ins einem Tagebuch
unmittelbar nach der zweiten Umbettung der Vetsera handschriftlich Notizen1466. Da sie nicht für die Öffentlichkeit
bestimmt waren und nur sieben Tage nach der Umbettung niedergeschrieben wurden, können sie als authentisches
Zeugnis der Aktion gelten. Wir veröffentlichen erstmals den Text an dieser Stelle und bringen ihn in seiner Originallänge.
„Am 7. Juli wurden die Überreste der Mary Freiin von Vetsera im hiesigen stiftlichen Friedhof aus dem alten soliden Kupfersarg von 1889 (korrigiert in 1890) in einen neuen Metallsarg übertragen. Die Idee hierfür ging aus von
einer Frau namens Resy Müllner in Triest; diese Frau bezahlte auch den neuen Sarg (c 4000 Sch) u. die für die
Transaktion entfallenen Kosten. Wieso diese Frau auf diese Idee kam, weiß ich nicht. Tatsache war, daß der alte
Sarg, April 1945 von russischen plündernden Soldaten aufgeschlitzt worden war. Die Gruft war damals erbrochen
worden, ich konnte selbst in den Sarg hinab sehen, sah den Totenkopf u. etwas Braunes (es waren die Kleider) in
dem Sarg. Am 7. Juli erschienen zu dieser Transaktion: Dr. N. Lorenz, Amtsarzt Baden, Herr Baltazzi, Baden, ein
Verwandter der Verstorbenen, P. Gerhard, P. Hermann, Gen. Inspektor Strasser, Baden-Heiligenkreuz, der Totengräber Klein, N. Halbwarx von der Städt. Leichenbestattung Baden, mehrere Arbeiter derselben. Vom hies. Meierhofe arbeitete Kurt Burian mit. Die Transaktion begann um 8 h mit Aufdeckung der 3 großen Gruftplatten, von denen jede c. 3 Zentner wiegt. Der Sarg war voll von Wasser. Das wurde mit einem Schöpfgeschirr in einen Kübel
geschüttet, derselbe aus der c. 3 m tiefen Gruft heraufgezogen und entleert. Neben der Gruft stand der neue Sarg,
dessen Boden mit Holzwolle ausgefüllt war. Da sehr viel Wasser im alten Sarg war, wurde dieser schließlich so
weit emporgezogen, daß er fast senkrecht in der Gruft stand. Das Wasser floß heraus. Nun brachte der Klein in
mehreren Kübeln die Überreste der Vetsera. Alles war mit einer feinen schwarzen Schlammschicht überzogen,
aber deutlich erkennbar. Im ersten Kübel befand sich ein Teil des Kopfes, und zwar das Hinterhaupt, von der
Schädeldecke getrennt. Die Schädeldecke war zerschlagen, – eine Hälfte fehlte, Der Sprung ging quer über den
Kopf aber nicht bis zum Hinterhaupt, ungefähr im Zenit des Kopfes bog er in einem rechten Winkel ab. Wir befragten den Amtsarzt: „Ist dies der Sprung von 1889 oder später (1945)“ Er sagte: „Meine Dienstleistung ist, der
Exhumierung beizuwohnen u. zu sehen, daß alles den Amtsvorschriften genau vorgenommen wird. Ob dem Kopf
dieser Sprung 1898 (von Watzl auf 1889 korrigiert) vorgenommen worden ist o. später, darüber will ich keine Untersuchung vornehmen.“ Es fehlte – wenigstens sah ich nichts davon, - Unterkiefer u. Gesichtsteil. Totengräber
Klein gibt an, der Schädel sei 1945, nach der Russenplünderung noch ganz gewesen, sei erst im Wasser zersetzt
worden. Inspektor Strasser erzählte, daß ihm der alte Tischler Wolf aus Alland, der zuletzt im Asyl in Mayerling
gelebt hat, erzählt habe, er sei mit seinem Vater, - Wolf war noch ein Knabe, sein Vater war Tischler – 1889 nach
den Ereignissen von Mayerling, in das Schloß gerufen worden. Die Türen waren von außen eingeschlagen, im Sa1465
Professor Pater Hermann Watzl, gestorben 1986 in Heiligenkreuz
Diarium vom Stiftsarchivar Prof. P. Hermann Watzl, Archiv Stift Heiligenkreuz, Rubrik: 5, Faszikel HNW, Nr.: 139 über das
Jahr 1959. Das Tagebuch ist zwar vorsorglich archiviert, befindet sich aber nicht im Archiv des Stiftes Heiligenkreuz und ist somit auch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Es kann ausschließlich vom jeweiligen Abt eingesehen werden.
1466
238
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
lon alles kleingeschlagen, gewesen. Wir machen uns unsere Gedanken. Im zweiten Kübel der herauf kam aus der
Tiefe der Gruft, respektive aus dem Holzsarge vom 30.I.1889, der in der stiftl. Tischlerei verfertigt worden war,
und der in den neuen Kupfersarg aufgenommen worden war, - in diesem zweiten Kübel befanden sich die Haare
der Vetsera. Ein Nodus, zusammengebunden, die äußeren Haare schlammig, die inneren brünet. Üppiger Haarwuchs. An den Haaren hingen noch die Hobelscharten, die 1898 als Kopfkissen in den Sarg gelegt worden waren.
Im dritten Kübel kamen Kleider herauf und die Schuhe, alles gut erhalten, doch schlammig, darinnen vermutlich
Wirbelknochen. An den Kleidern sah man eine Art Quasten, die Schuhe gut erhalten, klein u. zierlich mit hohen
Stöckeln c. 4-5 cm hoch. Der dritte Kübel förderte Oberschenkel u. Becken zu Tage, ein ekelhaftes Kunterbunt von
Knochen. Alles wurde regellos in den neuen Sarg geschüttet. Der alte Sarg blieb unten in der Gruft. Er soll sehr
wertvoll sein. Dann zogen die Arbeiter breite Eisenstangen durch die Gruft, zwei Stück, dann wurde der Sargdeckel auf den neuen Sarg gelegt, von einem jungen Arbeiter zugelötet, dann wurden Balken über die Gruftöffnung
gelegt, u. der neue Sarg daraufgestellt. P. Gerhard segnete dann die Überreste ein, ich respondierte, dann wurde der
neue Sarg auf die zwei Träger hinabgelassen und das Grab wiederum geschlossen. Baltazzi machte Fotoaufnahmen.“
Eine Gartenhaue, die Watzl sich aus der Gruft für das Klosterarchiv1467 oder das Stiftsmuseum1468 geben ließ,
war dort noch bis Ende der 70-er Jahre vorhanden. Gerd Holler konnte sie bei den Vorarbeiten zu seinem MayerlingBuch im Jahre 1978 untersuchen und fotografieren1469. Da im Besucherzimmer des Archivs nur ein dunkler Tisch
stand, legte Pater Watzl für ein Foto eine gelb-weiß-karierte Serviette unter die Haue. Für die Veröffentlichung ließ
Holler den Hintergrund dann wieder retuschieren1470. Zudem fertigte Holler eine Umrisszeichnung der Gartenhaue
an1471. Viele Paters im Stift kannten die Haue noch, die jedoch nach unserer Recherche nicht mehr auffindbar ist1472.
Holler vermutet, dass sie nicht im Archiv aufliegt, sondern dem Nachlass von Pater Watzl beigegeben wurde1473.
1467
Holler, Herd: „Mayerling – Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach“, Amalthea Verlag, Wien 1988
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1469
Die Gartenhaue hat auf der einen Seite ein dreieckiges Haueblatt, schnabelförmig aufgebogen und 12,5 cm lang, an der Basis
10 cm breit und auf der gegenüberliegenden Seite zwei 7 cm lange Zinken; insgesamt ist die Haue ca. 24 cm lang, der nicht erhaltene Stil steckte in einer eisernen Halterung zwischen Blatt und Dornen.
1470
Dr. Gerd Holler an den Verfasser, Baden, 06.09.1991
1471
Originalbild und Umrisszeichnung aus dem Nachlass Dr. Gerd Holler im Mayerling-Archiv
1472
Archivar Dr. P. Alberich Strommer an den Verfasser, Heiligenkreuz, 18.10.1989
1468
239
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 6
Die Hofbefehle
9.
Der juristische Aspekt der Beisetzung
„Ich meine, dass in der Zwischenzeit
dieses Thema ohnedies hinlänglich
untersucht wurde.“
Konsistorialrat Pater Mag. theol.
Amadeus R. Hörschläger O.Cist,
Pfarrer der Pfarre Alland
Alland, 28.04.2002
Zwischen elf und zwölf Uhr des 31. Jänner 1889 erhielt Dr. Slatin von Graf Bombelles den Auftrag, gemeinsam
mit Dr. Auckenthaler den weiblichen Leichnam aus Mayerling wegzuschaffen und ein entsprechendes Protokoll anzufertigen. In seiner späteren Denkschrift bemerkt Slatin, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens hegte: „Es war mit bekannt, daß die Ausführung dieses Befehls im buchstäblichen Sinne den
gesetzlichen Vorschriften nicht entsprechen würde, da zum Transport eines Leichnams von einer Gemeinde in eine
andere die Bewilligung der politischen Behörde notwendig ist, und daß insbesondere bei plötzlichen Todesfällen besondere Vorkehrungen vorgeschrieben sind.“
Eben aus diesem Grund begab sich Slatin zunächst mit dem Mediziner zur Badener Bezirkshauptmannschaft,
wo sie gegen 18:00 Uhr ankamen1474. Bezirkshauptmann Ernst Oser1475 befand sich gerade im Aufbruch nach Heiligenkreuz. „Er teilte mir mit, ``daß in Mayerling alles in Ordnung sei´´, worauf ich mit Dr. Auchenthaler dorthin weiterfuhr, während sich Oser nach Heiligenkreuz begab.1476“ Oser selbst reiste mit dem „k.k. Statthaltereikonzeptspraktikanten“ Dr. Novotny-Managetta und dem Polizeikommissar Wislouzil nach Heiligenkreuz. Wislouzil hatte bereits
am Mittag des Vortages Oser seine Ankunft in Baden telegrafisch angekündigt1477. Vom Tode des Kronprinzen erfuhr
Ernst Oser als erster offiziell vom Stationschef des Badener Bahnhofes, Josef Höffler. Auf einer Visitenkarte vermerk1473
Dr. Gerd Holler an der Verfasser, Baden 06.09.1991
1474
Zwar brannte 1945 das Archiv im Gebäude der Badener Bezirkshauptmannschaft völlig aus, doch sind im Akt des Polizeipräsidenten Krauss die aufgenommenen Protokolle sowie Polizeiberichte der Beamten Wyslouzil, Habrda und Gorup in Abschrift sowie die Telegramme über den Fortgang der Aktion im Original erhalten. Darüber hinaus befinden sich im Außendepot
des Niederösterreichischen Landesarchiv in Bad Pirawarth 1 ½ Archivkisten mit Unterlagen der Bezirkshauptmannschaft für das
Jahr 1889. Ob sich darin jedoch Oser-Materialien befinden, konnte bislang nicht recherchiert werden. Freundliche Mitteilung von
Dr. Christina Mochty-Weltin, Niederösterreichisches Landesarchiv, St. Pölten, 25.02.2003
1475
Oser, Ernst, Bezirkshauptmann von Baden, ab Februar 1889 Hofrat, geboren 1845, gestorben 1902 in Oed/Niederösterreich
(1972 wurden Markt Oed und die Gemeinde Öhling im Mostviertler Hügelland zur Marktgemeinde Oed-Öhling zusammengelegt).
1476
Zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
1477
Telegramm vom 30.01.1889 ab Wien 11:55 Uhr, an Baden 12:25 Uhr „Ich komme sofort nach Baden. Wislouzil“, Nachlass
Oser/Steyr
240
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
te dieser, nachdem Graf Hoyos am Morgen des 30. Januar in Baden den Fernzug hatte anhalten lassen, „Der Kronprinz liegt tod in Mayerling“ und sandte die Karte dann an den Bezirkshauptmann Oser in Baden1478.
Slatin hatte gefürchtete, eine Amtshandlung „in ganz konfuser, unrichtiger, den Gesetzen in keiner Weise entsprechenden Form“ tätigen zu müssen. „Hätte ich damals den Befehl, wie Graf Bombelles ihn mir gegeben, wortgetreu befolgt, so wäre alles gesetzeswidrig gewesen und die Folgen nicht nur für mich kleinen Beamten, sondern für
das Vorgehen des Hofes ganz unabsehbar gewesen.“ Ministerpräsident Graf Taaffe jedoch hatte festgelegt, „daß die
politische Behörde die Beerdigung des übernommenen Leichnams auf gesetzlichem Wege ermöglichen sollte“. Die
Willfähigkeit des Bezirkshauptmannes, der sich streng an die Gesetze halten konnte, machten dies möglich. Allerdings: Zuvor war die Ausgangssituation dem Willen Taaffes entsprechend zu manipulieren, denn: Voraussetzung zu
diesem gesetzlichen Wege sollte ein gefälschter Obduktionsbefund werden.
Bezirkshauptmann Ernst Oser hatte am frühen Nachmittag durch den aus Wien kommenden Oberkommissär
Wyslouzil von den „kompetenterseits gefaßten Beschlüssen“ über die Beseitigung des weiblichen Leichnams erfahren
und kam am Abend in Heiligenkreuz an1479. Nachdem dort die Leiche der Baroness in den Holzsarg gelegt wurde, zogen „sich Bezirkshauptmann Oser, Dr. Slatin und der Aktuar Dr. Managetta in ein Nebenzimmer1480 des Stiftes zurück
und Oser begann mit der Amtshandlung.1481“
Zunächst legte Slatin Oser jenes in Mayerling aufgenommene Protokoll über die Auffindung des weiblichen
Leichnams vor, das er auch in seiner Denkschrift veröffentlicht und dessen Abschrift im Krauss-Akt liegt.
Protokoll vom 31. Jänner 1889
Aufgenommen vom Obersthofmarschallamte Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät im Schlosse weiland Seiner k. nu.
k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Kronprinzen Erzherzog Rudolf zu Mayerling.
Gegenwärtig
Die Gefertigten
Am 30. Jänner 1889 morgens wurde im Gemeindegebiet Mayerling ein weiblicher Leichnam aufgefunden. Der Herr
Leibarzt Dr. Franz Auchenthaler constatirt zweifellos Selbstmord mittels Schußwaffe. (Min. Vdg. Vom 28. Jänner
1885. R.G.B. 26:3) An dem linken Stirnwandbein befindet sich ein 5 cm langer, 3 cm breiter lappiger Substanzverlust
der Haut, in dessen Umgebung die Haare versengt sind; es ist dies also die Eintrittsöffnung des Projektils. Der
Schußkanal geht quer durch das Gehirn und endet ca. 2 cm ober dem äußeren rechten Gehörgang, hier eine schmale
kantige Ausschußöffnung bildend. Die Knochen um Ein- und Ausschuß sind ringsherum zersplittert, ebenso auch die
Schädeldecke. Sonst ist keine Verletzung wahrzunehmen. Die Verletzung ist absolut tödlich und mußte der Tod augenblicklich eingetreten sein. Am Rücken und an den unteren Extremitäten befinden sich zahlreiche Totenflecken.
Der mitgefertigte Herr Georg Graf Stockau sowie der gleichfalls mitgefertigte Herr Alexander Baltazzi agnosciren
den Leichnam als jenen ihrer Nichte, der am 19. März 1871 in Wien geborenen Marie Alexandrine Freiin von Vetsera, Tochter des seither verstorbenen Herrn Albin Freiherrn von Vetsera und der Frau Helene Freiin von Vetsera, geb.
Baltazzi.
1478
Visitenkarte des „Josef Höffler. Ingenieur der Südbahn, Bes. des gold. Verd. Kr. M. d. Kr., Ritt. Des pasr. Isabellen-, des
serb. Tacoca- und des mont. Danilo-Ordnes, derzeit Stations-Chef Baden.“ Nachlass Oser/Steyr.
1479
Bericht Habrda, zitiert bei Skedl, Arthur: „Der politische Nachlaß des Grafen Eduard Taaffe“, Rikola Verlag, Wien 1922
1480
Oser arbeitete während der Amtshandlungen augenscheinlich zu keinem Zeitpunkt mit dem damaligen Bürgermeisters von
Heiligenkreuz, Adalbert Brenner, zusammen. Der Nachlass Brenners ist leider verschollen , so Bürgermeister Johann Ringhofer
an den Verfasser, Heiligenkreuz, 06.08.2004
1481
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
241
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Sohin wird der Leichnam über Ansuchen des Vertreters der Familie Grafen Stockau fortgeführt und dieses Protokoll
der politischen Behörde zur weiteren Amtshandlung übergeben.
Dr. Heinrich Slatin
Hofsekretär im Obersthofmarschallamte Seiner k. u. k. Apost. Majestät
Dr. Franz Auchenthaler
k.k. Leibarzt
Georg Graf Stockau
Alexander Baltazzi1482
„Als zweites Schriftstück wird das Ansuchen der Verwandten an die Bezirkshauptmannschaft Baden um Bewilligung zur Überführung und Beerdigung ihrer in Mayerling verstorbenen Nichte Mary Vetsera vorgelegt, das Graf
Stockau und Alexander Baltazzi bereits in Mayerling unterschrieben hatten. Sie bitten darin um schleunige diskrete
Erledigung im Namen der schwer getroffenen Familie.1483“
In Folge beginnt der Bezirkshauptmann mit der Routine eines erfahrenen Beamten, Erlässe zu diktieren und einen Akt anzulegen:
Z. 12pr.
Note
An das hochlöbliche Obersthofmarschallamt Wien
Ich gebe mir die Ehre zu bestätigen, daß mir der Akt betreffend den Todesfall der Marie von Vetsera ddo. 21.1.J. heute zugekommen ist.
Auf Grund dieses Dokuments und über Ansuchen des Oheims der Genannten Grafen Stockau wird die Beerdigung erselben in Heiligenkreuz gestattet.
Die Beerdigung der Marie von Vetsera wird in der Sterbematrikel Heiligenkreuz eingetragen; ich ersuche um Mitteilung, ob die Eintragung des Todesfalles in die Matrikel der Burgpfarre erfolgt, um erforderlichen Falles im verneinenden Falle dem Pfarramte Alland behufs Eintragung Mittheilung machen zu können.
Baden 31. Jänner 1889
Oser1484
Zudem diktierte Oser seinem Aktuar Managetta betreffend Ansuchen des Grafen Stockau zur Leichenüberführung von Mayerling nach Heiligenkreuz:
Votum: Entfernung unter einer Meile.
Keine ansteckende Krankheit
daher:
1. Ratschlaf für Graf Stockau.
Die angesuchte Leichenüberführung wird nach dem Gesetze vom 3. Mai 1874 R.G.B. 56 bewilligt und mit Rücksicht
auf die Entfernung von Heiligenkreuz – Maierling, die einfache Versargung gestattet.
Hiervon wird das k.k. Obersthofmarschallamt bezüglich des exterritorialen Gebietes Maierlings ferner die GemeindeVorstehung und das Pfarramt Heiligenkreuz verständigt.
1482
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
1484
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
1483
242
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
2.3. Erlaß
a. Hochw. Pfarramt Heiligenkreuz
b. An den Gem. Vorstand Heiligenkreuz
Ich erteile die Bewilligung zur Überführung der Leiche der Marie von Vetsera von Maierling nach Heiligenkreuz und
genehmige die einfache Versargung. Ad b: aus diesem Grunde entfällt eine dir. San. Poliz. Amtshandlung.
4. Note an das hochlöbl. K.k. Obersthofmarschallamt Wien.
Ich beehre mich mitzuteilen, daß ich gleichzeitig die Bewilligung zur Überführung der Leiche der Marie von Vetsera
von Maierling nach Heiligenkreuz erteile.
Baden 31. Jänner 1889
Oser1485
Letztlich diktiert Oser noch die Bewilligung zur Beisetzung des Leichnams:
Z. 14 pr. Pro 31/1 89
Votum
Nachdem mit z. 12 pr. Selbstmord der Ingenannten zweifelslos constatirt, kann nach Min. Vdg. 28/1 55 R.G.B. 26 PH.
3 die augenblickliche Bewilligung ertheilt werden und daher 1. Erlaß Gf. Stockau.
Die Bewilligung zur Beerdigung der in Maierling verstorbenen Marie von Vetsera wird (gemäß Min. Vdg. Vom 28/1
55 R.G.B. 26/3) ertheilt.
Hiervon wird das Pfarramt Heiligenkreuz als Eigenthümerin des Friedhofes und Matrikelbehörde verständigt.
2. Erlaß Pfarramt Heiligenkreuz
Die von Gf. Stockau angesuchte Bewilligung zur Beerdigung der in Maierling am 30.1. verstorbenen Marie von
Vetsera wird ertheilt.
Das Pfarramt hat diese Beerdigung in die Sterbematrik einzutragen,
31.1.89
Oser1486
Da Oser um die höchst verworrene Sachlage wusste, schuf er zunächst durch seine Erlässe eine gesetzlich
fundamentierte Grundlage. Fritz Judtmann entdeckte hierbei einige Schönheitsfehler, die einem erfahrenen Beamten
nicht hätten unterlaufen dürfen und die beweisen, wie sehr Recht und Gesetz gebrochen wurden.
Bei der bereits erwähnten Verordnung vom 28. Jänner 1855 handelt es sich um eine „Verordnung der Ministerien des Inneren und der Justiz“, gültig für die Kronländer mit Ausnahme der Militärgrenze1487. Die Verordnung sagt
aus, dass von einer gerichtlichen Totenschau nicht nur „Ehre, Freiheit, Eigenthum und Leben“ der einer strafbaren
Handlung beschuldigten Person abhänge, sondern auch „die Sicherheit der Gerechtigkeitspflege“. Der von Oser zitierte Paragraf drei bekräftig zudem die Notwenigkeit einer Totenbeschau insbesondere „wenn jemand (...) nach einer vorauserlittenen äußeren Gewalttätigkeit, als z.B. durch Stoßen, Hauen, Schlagen u.s.w. mit stumpfen, scharfen, schneidenden, stechenden, oder durch Gebrauch von Schuß-Werkzeugen (...) gestorben ist.“ Auf Grundlage des Gesetzes
sieht Oser die Grundlage für die Beerdigung der Baroness geschaffen. Allerdings: Die Totenbeschau der Baroness,
von der das Protokoll vom 31. Jänner 1889 zeugt, verstieß eindeutig gegen mehrere Paragrafen des Gesetzes. So waren bei der Totenschau nicht die vorgeschriebenen zwei Sanitätspersonen (dies sind der Gerichtsarzt, Amtsarzt oder
der beeideter Totenbeschauer der Gemeinde) anwesend, sondern nur Dr. Auckenthaler (Verstoß gegen § 5), die Beschau fand nicht in Gegenwart eines Untersuchungsrichters oder seinem Stellvertreter statt (§ 10), es wurde augenscheinlich kein „Sections-Protokoll“ angefertigt (§ 15), ebenso fehlt das die Untersuchungsergebnisse zusammenfassende „Gutachten“ (§ 17), eine Beschreibung der Todesumstände (§ 29), der Kleidung des Toten (§ 31) und der Tatwerkzeuge (§ 33). Zudem fehlen Aussagen zur inneren Untersuchung der Toten (§ 38). Zusammenfassend kann gesagt
1485
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
1487
Reichgesetzblatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1855, Nr. 26, Verordnung der Ministerien des Inneren und der Justiz
vom 28. Jänner 1855, ..., womit die Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Totenbeschau erlassen wird.
1486
243
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
werden, dass die Untersuchung der Baroness keinesfalls nach den rechtlichen Grundlagen (Zweites Hauptstück, erster
Abschnitt „Äußere Besichtigung der Leiche“ sowie zweiter Abschnitt „innere Untersuchung der Leiche“) des Reichsgesetzblattes erfolgte und somit von einem erfahrenen Beamten wie Oser auch nicht als Grundlage für die Beisetzung
hätte herangezogen werden dürfen.
Ein weiterer „Schönheitsfehler“ kann Oser bei der Leichüberführung von Mayerling nach Heiligenkreuz
nachgewiesen werden. Auf Grundlage des Reichsgesetzblattes 561488 erlaubt der Bezirkshauptmann den Angehörigen
der Toten, diese bei „einfacher Versargung“ zu überführen. Das entsprechende Gesetz erfordert bei einem Leichentransport zunächst die Genehmigung der politischen Behörden I. Instanz (§1), die Oser am 31. Jänner 1889 auch
schriftlich erteilte. Die entsprechenden Transportbestimmungen, die Oser unter Bezug auf §4c1489 erlassen konnte1490,
wurden jedoch – augenscheinlich auf Betreiben des Hofes und gebilligt von Oser – nicht eingehalten, da Mary in einem Fiaker sitzend nach Heiligenkreuz gebracht wurde1491. Auch in Heiligenkreuz wurden die Bestimmungen des Gesetzes nicht eingehalten: Weder wurde vom Stift der Leichenpass eingefordert und die darin verzeichnete Transportroute der Toten kontrolliert – augenscheinlich war am Sterbeort gar kein Leichenpass ausgestellt worden – , noch nach
dem Leichenschaubefund gefragt (§8). Der Verstoß gegen Paragraf 8 belegt, dass auch die Verantwortlichen im Stift
Heiligenkreuz einen Gesetzesbruch in Kauf nahmen, um die Angelegenheit Vetsera möglichst schnell zu bereinigen.
Die Anfrage Osers an das Obersthofmarschallamt, ob der Todesfall in die Sterbematrikel der Burgpfarre einzutragen sei, bezog sich auf die besondere Stellung des Burgpfarrers. Dieser – ebenso wie alle Angehörigen des Hofes –
galt als „exempt“, das heißt nicht dem fürsterzbischöflichen Ordinariat, sondern direkt dem Papst unterstellt. „Obwohl
der Tod der Baroness in einem Hofgebäude erfolgt war, wurde die Anfrage des Bezirkshauptmannes nach Eintragung
in die Matrikel der Burgpfarre verneint. So wurde der Tod der Baroness im Sterbebuch der Pfarre Alland1492, allerdings erst viel später, über Auftrag der Bezirkshauptmannschaft Baden am 2. April 1889 (...) eingetragen1493“ – jedoch
ohne die sonst übliche Namensnennung des eintragenden Pfarrverwalters von Alland, Pater Rudolf Rath O.Cist1494.
Nach dem Todesfall Josefa Willard (65 Jahre) aus Alland Nr. 16 vom 10. Jänner 1889 folgen zunächst noch sechs
weitere Todesfalleinträge1495, ehe Marys Tod festgehalten wird:
30. Maierling
Jänner
Nr. /.
1889
Laut
Die Leiche wurBaroness Marie
18
de nach HeiliAlexandrine
Jahre Beschauzettel
genkreuz überVetsera, ledig,
Nr.
Tochter des veran einer
führt u. auf dem
storbenen Albin
Schussverletzung dortigen OrtsFreiherrn von
friedhof beerdigt
Vetsera u. der Baronin Helene
Vetsera geb.
Baltazzi
1488
Reichgesetzblatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1874, Nr. 26, Verordnung des Ministers des Inneren vom 3. Mai
1874, betreffend den Transport und die Ausgrabung (Exhumation) von Leichen..
1489
„Bei Transporten in die Umgebung des Sterbeortes bis auf eine Entfernung von einer Meile hängt es von den Umständen ab,
ob die gewöhnliche Versargung als genügend anerkannt werden darf, oder ob besondere Vorsichten anzuordnen sind.“
1490
Die Entfernung von Mayerling nach Heiligenkreuz beträgt über Alland ca. 6,3 und über Sattelbach ca. 7,8 km. Aus diesem
Grunde konnte Oser mit einigem Wohlwollen den die einfache Versargung anordnen, die noch bei Entfernungen bis zu einer Meile (ca. 7,59 km) möglich war.
1491
Hierbei wurde jedoch §7 erfüllt, nach dem „Zum Transport mit Zugthieren sind vollständig geschlossene Wägen (...) in Verwendung zu nehmen.“
1492
Das Originalbuch wurde bei den Kriegshandlungen 1945 vernichtet; es existiert jedoch im Archiv der Pfarre eine Kopie des
handschriftlich verfassten Sterbebuches.
1493
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
1494
Rudolf Rath, geboren 1843 zu Stüns, Profeß 1868
1495
dies sind: Therese Baumgartner (84 Jahre), Alland Nr. 116 am 07.02.1889; Witwe Therese Walter (78 Jahre), Alland Nr. 75
am24.02.1889; Franz Hanthofer (54 Jahre), Goisenbach Nr. 2 am 03.03.1889; Witwe Julie Hiller (64 Jahre), Alland Nr. 74 am
04.03.1889; Leopoldine Karaß (4 Monate), Glashütte Nr. 3 am 18.03.1889 und Josef Nagl (2 Monate), Windhag (2 Monate).
244
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
In der letzten Spalte findet sich als besonderer Eintrag aus der Hand des Paters Rudolf folgende, kritische
Anmerkung: „Die Eintragung erfolgt wörtlich in Folge Auftrags durch Zuschrift der k.u.k. Bezirkshauptmannschaft
Baden ddo vom 2. April 1889 Zl 12. (unleserliches Wort) Zuschrift fehlte die Angaben über Sepeliens u. der Zeit des
Begräbnisses.“ Auf Erlass an das Pfarramt Heiligenkreuz wurde zudem die Weisung gegeben, die Beisetzung auch in
die dortige Sterbematrikel einzutragen:
Sepeliens:
P. Malachias
Dedic
Pfarrverwalter
Zeit des Wohnung Name der
Sterund Nr.
Gestorbebens:
des Hau- nen:
ses:
30.
Maierling Marie
Jänner Pfarre
Alexand1889
Alland
rine Freiin
von Vetsera zu
Wien am
19. März
1871 geboren, ledig, eheliche Tochter des +
Albin
Freiherrn
von Vetsera und der
Baronin
Helene
Vetsera
geb.
Baltazzi
Todesart Ort, wohin, Tag,
an welchem die
Begräbnis geschehen:
An einer Heiligenkreuz
der Pfarrfriedhof
Schußverletam 1. Februar
zung l.
1889 ohne GeTodespränge
anzeige
der ad
hoc ernannten
Commission, ddo
Maierling, 31.
Jänner
1889
Geschlecht:
Weiblich
katholisch 18
Jahre
In der letzten Spalte findet sich eine Anmerkung, die auf einen Eintrag nach dem 2. April schließen lässt, da
der Allander Eintrag bereits zitiert wird: „Über Auftrag des k.k. Bezirkshauptmanns von Baden, ddo. 31. Jänner 1889
Z. 313 n-314 ist die Leiche der Genannten hierher zur Beerdigung überführt wurden und unter einem die Eintragung
in die pfarrl. Sterbematrikel angeordnet worden. Nachträglich erfolgte die Eintragung des Todesfalles – und zwar mit
Reihezahl – auch in die Sterbematrikel der Pfarre Alland.1496“ Mit diesen Eintragungen in die Sterbematrikel war den
gesetzlichen Vorschriften Genüge getan.
Gegen 8:30 Uhr verließen Oser und Managetta am 1. Februar 1889 das Stift Heiligenkreuz und kehrten in die
Statthalterei nach Baden zurück. Dort begann Oser sofort, über die Stunden in Heiligenkreuz ein „Promemoria“ zu
verfassen1497. Dr. Albert Novotny-Managetta beeidete die Ausführungen seines Vorgesetzten am Ende der drei be1496
Zitiert bei Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Amalthea Verlag, Wien 1968
Text: „3 12/6 13.14. Promemoria. Am Abend des 31. Jänner 1889 erschien bei mir der k.k. Hofsekretär des k.k. Obersthofmarschallamtes Zlatin und theilte mir mit, daß im Hofgebäude Mayerling die Leiche der dort durch Selbstmord verschiedenen
Marie von Vetsera liege und daß der Vertreter der Verstorbenen, Georg Graf Stockau, dieselbe in Heiligenkreuz beerdigen lassen
wolle. Ich fuhr sogleich mit dem k.k. Statthaltereikonzeptspraktikanten Dr. Novottny-Managetta nach Heiligenkreuz; in meiner
Begleitung befand sich der k.k. Polizeikommissar Witlouzil aus Wien, welcher am 30. Jänner nach Baden entsendet worden war
und den ich nach Heiligenkreuz mitnahm. In Heiligenkreuz, in den Zimmern des Stiftskämmerers P. Alberik Wilfing, fanden sich
außer dem k.k. Hofsekretär Zlatin ein, der k.k. Leibarzt Dr. Auchenthaler sowie die Herren Graf Stockau und Baltazzi. Der Erstgenannte überreichte mir den von ihm und Dr. Auchenthalter aufgenommenen amtlichen Befund, nach we3lchem von dieser
obersthofmarschallischen Behörde der zweifellose Selbstmord und der eingetretene Tod konstatirt wird. Graf Stockau übergab mir
das Gesuch um Bewilligung zur Überführung der Leiche in einfacher Versargung und gab seine Bitte um Beerdigungsbewilligung
zu Protokoll, wobei er um rasche und diskrete Erledigung ersuchte. Nachdem durch das Obersthofmarschallamt als Amtsobrigkeit
1497
245
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
schriebenen Kanzleibögen. Während der Amtshandlung hatte Oser am 30. Januar zehn Telegramme und am 31. Januar zwei Telegramme versandt, wie Managetta vermerkte1498.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Oser zusammen mit Hofrat Kubasek, einem weiteren Hofrat sowie Kammerdiener Loschek am 4. Februar 1889 nach Mayerling fuhren, denn eine Notiz besagt: „7 Uhr Frühzug Südbahnhof nach
Baden, von da zusammen nach Meierling am Montag den 4. Februar 18891499“. Es ist nicht auszuschließen, dass am
Vortag Oser in Wien zum Hofrat ernannt wurde.
Am 16. Mai 1889 schloss Bezirkshauptmann Oser zunächst den Akt über die Beisetzung der Marie Vetsera
und sandte aus Baden ein teilchiffriertes Telegramm an den Wiener Polizeipräsidenten: „wien v baden bw no 456 18
16/5 12 10 m – 6 der 2 vorgestern anstandslos in 7 üebertragen werden den akt zur einsicht senden = oser +“, wobei 6
für Leiche, 2 für Marie Vetsera und 7 für Heiligenkreuz stand. Sieben Monate später befasste sich Oser jedoch erneut
mit den Vorgängen. Der Bezirkshauptmann hatte augenscheinlich festgestellt, dass dem im Archiv des Amtes abzulegenden Akt der Totenschein der Vetsera fehlte. Er benachrichtigte wohl den Abt des Stiftes und erhielt handschriftlich
den Inhalt in Textform übermittelt:
Ex offo für die k.k. Bezirkshauptmannschaft Baden ad Z. 13.831 1889
Kronland: N.O.
Bezirk: Baden
Todtenschein.
Von Seiten des gefertigten Pfarramtes wird hiermit aus der hiesigen pfarrl. Sterbe-Matrik-Tom. á 1862 ... Fol.: 168 –
der Wahrheit gemäß bezeugt, daß Maria Alexandrine Freiin von Vetsera, zu Wien am 19. März 1871 geboren, katholisch, ledig, eheliche Tochter des + Albin Freiherrn von Vetsera, und der Helene, geb. Baltazzi, dessen Ehegattin –
laut amtlicher „Todes-Anzeige“ am dreißigsten /:30:/ Jänner Eintausend achthundert achtzig neun /:1889:/ zu Maierling – Pfarre Alland – „an einer Schußverletzung“ gestorben, über Auftrag der k.k. Bezirkshauptmannschaft von Baden, ddo. 31. Jänner 1889 Z. 313 u. 314 ex Praes.,, hierher zur Beerdigung überführt und am 1. Februar 1889 auf
dem hiesigen pfarrlichen Friedhof von dem Gefertigten nach christlich katholischem Gebrauch zur Erde bestattet
worden ist. Unter einem wurde auch die Eintragung in die hiesige pfarrl. Sterbe-Matrikel angeordnet.
Urkund dessen die pfarramtliche Fertigung.
Stiftl. Pfarre Heiligenkreuz, den 31. August 1889
P. Malachias Dedic,
f.n. geistl. Rath u. Pfarrer
Siegel der Pfarre des Stiftes Heiligenkreuz
des bezüglichen Gebäudes zweifelloser Selbstmord festgestellt und durch dessen Sachverständigen der Tod konstatirt wurde,
konnten die angesuchten Bewilligungen nach den inliegenden Erledigungen erteilt werden, Es wurden danach die Erledigungen
verfaßt, und dieselben und den Beteiligten übergeben. Die Leiche der Baronin Vetsera wurde in meiner Abwesenheit in der
Todtenkammer, wohin sie mittlerweile von Mayerling gebracht wurde, in einen einfachen Holzsarg beigesetzt und am Vormittag
des heutigen Tages auf dem Friedhofe Heiligenkreuz beerdigt. Baden 1. Februar 1889 Ernst Oser k.k. Bezirkshauptmann.“ Das
Promemoria befindet sich im Nachlass Oser/Steyr.
1498
„Telegramme. Anlässlich des Ablebens des allerhöchsten Kronprinzen versendet“, Nachlass Oser/Steyr.
1499
Kopie im Nachlass Ernst Oser, Steyer. Seine persönlichen Erinnerungen hatte Oser im Geheimfach seines privaten Schreibtisches hinterlegt. Dort fanden sich auch Telegramme u.a. aus Alland und Mayerling, diverse Visitenkarten, die Abschrift des Totenscheines, zwei Briefe von Graf Cappy u.a. auf Papier mit dem Prägedruck „MAYERLING“ und weitere Materialien. Heute
bewahrt der in Steyr/Oberösterreich lebende Medizinalrat Dr. Wolfgang Oser, ehemaliger Amtsarzt in Ternberg, die „Mayerlingpapiere“ auf. Teile des Nachlasses wurden erstmals 1977 in der Bunten veröffentlicht (Prassl, Franz A.: „Der Kronprinz liegt tot
in Mayerling“, in: Die Bunte, Ausgavbe 11 und Ausgabe 12 in 1972
246
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Da in dem Handschreiben des Stiftspfarrers vermerkt war, die Überführung der Leiche nach Heiligenkreuz sei
„über Antrag der k.k. Bezirkshauptmannschaft von Baden“ erfolgt, kreuzte Oser die Stelle an und vermerkte auf der
Rückseite, dass er vom Stift eine Korrektur für den Akt angefordert habe: „Wegen unrichtiger Ausfertigung richtiges
Duplikat verlang. Oser 2/9.1889“. Die Erstfassung legte er seinen persönlichen Erinnerungen bei, die Zweitschrift
dem archivierten Akt, der im zweiten Weltkrieg verbrannte1500.
Im Archiv der Familie Vetsera-Baltazzi befand sich zudem eine Abschrift des Eintrags in die Sterbematrikel von
Heiligenkreuz1501, die am 6. November 1890 – wahrscheinlich in Zusammenhang mit der Testamentseröffnung
nach Mary Vetsera – in der k. Freistadt Pressburg von Expeditor Friedrich Dobelmann mit Dienstsiegel und Unterschrift beglaubigt wurde1502.
Amtliche Abschrift
Ex offo
Nieder-Österreich
Bezirk Baden
Erzdiözese: Wien
Decanat: Baden
Pfarre: Heiligenkreuz
Todten-Schein für die k.k. Bezirkshauptmannschaft Baden ab Z. 13.831
Aus dem pfarrlichen Sterbe-Register, Tom. 162-Fol. 168, wird hiermit amtlich bezeuget, daß im Jahre des Heiles
Eintausend achthundert achtzig neun (1889) am dreißigsten Jänner gestorben, und am 1. Februar 1889 von den Gefertigten dem christlichkatholischen Gebrauche gemäß zur Erde bestattet worden sei.
Ort des Sterbens
Name des Ge- Todesart
storbenen, Religion, Alter,
Character, allenfalls des
Ehegatten, Vaters.
Maierling Pf.
Alland
Maria Alexandrine Freiin von Vetsera,
zu Wien am 19.
März 1871 geboren, röm.katholisch, ledig, eheliche
Tochter des +
Albrin Freiherrn von
Ort des Begräbnisses
Anmerkung
Schußverletzung Heiligenkreuz, Ist mit Genehmigung
laut amtlicher
der pfarrliche der k.k. BezirkshauptTodesanzeige,
Friedhof
mannschaft Baden ddo.
ddo. Maierling
31. Jänner 1889 Z. 313
31. Jänner
u. 314 hierher zur Be1889.
erdigung überführt
worden.
1500
Nachlass Ernst Oser, Steyer
Augenscheinlich handelt es sich hierbei um die Abschrift der in Pressburg aufliegenden Originalabschrift, was der Zusatz des
Expeditors belegt: „Mit dem hier sub Reg. Zl. II 78. ex 1888 vorliegendem Original gleichlautend!“
1502
Original heute im Besitz von Frau Ingrid Fritz, Wien
1501
247
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Vetsera und
der Helene,
geb. Baltazzi,
dessen Ehegattin
Urkund dessen ist des Gefertigten eigenhändige Unterschrift und Pfarrsiegel, Gegeben zu Heiligenkreuz am 31. August 1889, P. Malachias Dedic, m.p. Prior und Pfarrer.
248
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 7
Denkschriften und Erinnerungen
1.
Das Phänomen der Erinnerung
„... sensationeller Aufguss
von nicht den Tatsachen
entsprechenden Details.“
Hermann Swistun,
Wien 1980
Viele Zeugen zur Mayerling-Tragödie haben – das stellte bereits Fritz Judtmann in seinen Untersuchungen fest
– eines gemeinsam: „sie berichten oft mehr als sie wirklich erlebt haben und der Nachwelt dokumentieren können.1503“
Worin sind diese Probleme der „oral history“ begründet? Stellt man als Hypothese auf, dass Zeitzeugen nie ein Bild
essen liefern, was in der Vergangenheit objektiv war – denn sie liefern ja nur ihre subjektive Sicht des Erlebten – so
sind drei weitere Aspekte wichtig: eine ungewollte und zufällige Nähe zum Erlebten, charakterliche Schwäche der erlebenden Personen und schließlich die Zeitspanne zwischen erleben und erzählen.
Voran jedoch steht das Wissen der Befragten, aus (mehr oder weniger) nächster Nähe ein Ereignis miterlebt zu
haben, das Weltgeschichte schrieb. Aus einem zufällig beteiligten Handwerker, einem diensthabenden Gendarmen oder dem vorbeieilenden Nachbarn wird so in der persönlichen Wahrnehmung ein „Zeugen der Zeit“. Der Zufall hat es
geschehen lassen, dass aus „Lieschen Müller“ die Kronzeugin der Anklage wurde – ganz ohne persönliches Dazutun,
ohne eigenen Willen oder zielgerichtetem Streben.
Daraus resultiert der zweite Aspekt: Die menschliche Schwäche, mit einer Position der „2. Reihe“ nur bedingt
umgehen zu können. Lieschen Müller ist nicht Opfer und nicht Täterin – sie wurde unfreiwillig Zeugin. Und sie wird
der Öffentlichkeit das Erlebte in einer Art Übersensation präsentiert, denn nur auf diesem Wege glaubt sie es zu schaffen, den Standpunkt und ihre Person aufzuwerten. Dass dies jedoch nur auf Kosten der Wahrheit funktionieren kann,
liegt auf der Hand. Schnell wird mit persönlichem Anstrich aus der bekannten Mücke der Elefant. So menschlich diese
charakterliche Schwäche ist, so schwer macht sie es dem Historiker: Wo ist der Kern der Wahrheit, was ist hinzugefügt und was wurde tradiert?
Dritter Aspekt einer Verklärung sind die Faktoren Alter und Zeit, also die Zeitspanne zwischen Erlebtem und
Erzählten. Wer als junger Mensch etwas erlebte, wird es als Älterer meist mit anderen Augen sehen – verklärt durch
die verstrichene Zeit oder anders bewertet durch gewonnene Lebenserfahrung. Viele Protokolle, Denkschriften und
Erinnerungen sind erst zehn, zwanzig oder mehr Jahre nach den Ereignissen zu Papier gebracht wurden. Vielen Zeitzeugen fällt es dann sehr schwer, das persönlich Erlebte frei von angelesenen oder gehörten Informationen wieder zu
249
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
geben. So genannte „mediale Rückkopplungen“ sind hier besonders problematisch, denn im Gedächtnis der Menschen
überlagert sich das Erlebte mit dem, was sie nur gehört oder gelesen haben.
Weitaus schwieriger wird es für den Forschenden, garniert der Erzähler seine Geschichte bewusst als „sensationellen Aufguss von nicht den Tatsachen entsprechenden Details1504“ – um seine Familie abzusichern (wie Graf
Hoyos), seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (wie Gräfin Larisch) oder einfach nur um die Stellung seiner Person oder
seiner Familie aufzuwerten. Dies versuchte zum Beispiel der von vielen die ihn kannten als charmanter Plauderer und
gesellschaftliches Ferment geschilderte ehemalige Wiener Polizeipräsident Ferdinand Baron Gorup.
Im September 1927 erschien aus seinem Nachlass eine Artikelserie in der „Wiener Montagspost“, 1949 auf Basis seiner Mitteilungen ein Bericht in der Illustrierten „Film“ und 1954 auf Grundlage eines Gespräches mit ihm das
Buch „Licht über Mayerling“ von Wilhelm Polzer. In der Rückschau behauptet Baron Gorup, er habe nicht nur an der
Beerdigung Marys in Heiligenkreuz teilgenommen, sondern auch Graf Stockau und Alexander Baltazzi nach Mayerling mitgenommen, im Sterbezimmer noch den toten Kronprinzen gesehen und auf dessen Schreibtisch kurzerhand eine Abschieds-Denkschrift des toten Erzherzogs kopiert zu haben1505.
Mit dem Auffinden des Polizeiaktes von Baron Krauss stürzt schon 1955 dieses Lügengebäude der Erinnerung
ein: 1889 war Gorup Kommissar, stand rangtiefer als die Oberkommissare Habrda und Wyslouzil und war ausschließlich mit Marys Bestattung befasst. Tatsächlich konnte Gorup den toten Kronprinzen nicht sehen, da dieser bereits einen Tag vor seinem Eintreffen in Heiligenkreuz nach Wien gebracht wurde. Darüber hinaus hätte er auch sicher nicht
ohne weiteres in das Jagdschloss gelangen können, da die Polizei dort keinen Zugang erhielt und die Truppe um
Wyslouzil dort lediglich Absperrdienste leistete.
Ähnliche Ungereimtheiten ergeben sich auch in den Erinnerungen weiterer, oft bemühter „Zeugen“. So will
Emil Millner, Enkel einer Hebamme, einen Kranz der Gräfin Larisch an der Bahne des Kronprinzen in dessen Gemächern in der Wiener Burg gesehen haben. Eine Visitenkarte der Gräfin habe ihm alle Türen der Hofburg geöffnet, so
dass er auch den Kronprinzen mit seiner verbundenen Schläfenwunde sehen konnte. Da Rudolf jedoch nur am 31.
Jänner in seinem Appartement aufgebahrt wurde, die Gräfin jedoch erst an diesem Tage in Pardubitz aus der Zeitung
von seinem Tode erfuhr und Rudolf bei ihrem Eintreffen in Wien bereits entweder noch auf dem Schaubett im Cerclezimmer oder bereits in der Hofburgkapelle aufgebahrt wurde, kann sie an diesem Tage auch niemandem eine Visitenkarte zum Eintritt in die Burg gegeben haben. Da Emil Millner seinen Bericht über die angeblichen Äußerungen seiner
Großmutter über eine Schwangerschaft der Vetsera mit dieser Episode beschließt1506, lässt diese Ungereimtheit auch
das Vorstehende in einem anderen Licht erscheinen.
Im Folgenden werden wir uns mit dem Wahrheitsgehalt und dem Zustandekommen der Erinnerungen von Angehörigen und Freunden (Kronprinzessin Stephanie, Baronin Vetsera, Graf Hoyos und der späteren Kaiserin Zita),
persönlichen Bediensteten (Loschek, Püchel, Schuldes), Dienstleistern und Tatortzeugen (Slatin, Wolf, Löffler) sowie
Angehörigen von Tatortzeugen (Rosensteiner, Konhäuser, Deutsch Nehammer, Stock, Gruber, Vasak, Doblhoff, Loschek jun., Albercht) befassen und diese kritisch kommentieren.
1503
Swistun, Hermann: „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus der Sicht der Chronik Die Familien
Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Wien 1980
1504
Swistun, Hermann: „Kritische Betrachtungen zu den letzten Mayerling-Publikationen aus der Sicht der Chronik Die Familien
Baltazzi-Vetsera im kaiserlichen Wien“, Wien 1980
1505
Polzer, Wilhelm: „Licht über Mayerling“, Karinger-Verlag, Wien 1954
1506
siehe Wochenausgabe des „Neuen Wiener Tagblattes“ vom 15. September 1928
250
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 7
Denkschriften und Erinnerungen
4.
Dienstleister und Tatortzeugen erzählen
„Auf Befragen des Kammerdieners Loschek
teilte dieser mit, daß es in der vergangenen Nacht
bei Wein, Weib und Gesang
sehr lustig zugegangen ist.“
Mauritz Löffler,
St. Christofen bei Neulenkbach-Mark
1943
Slatin
Wolf
Dieses Kapitel wird sich mit den Erinnerungen von Menschen befassen, als „Tatortzeugen“ in Mayerling waren und den Ort des Geschehens – oder aber auch Handlungen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod des
Kronprinzen und der Baroness – sahen. Wir bringen an dieser Stelle die Protokolle erstmals im Wortlaut und weitgehend in der originalen Schreibwiese mit allen Anmerkungen der Autoren1507.
1953 kopiert Hermann Zerzawy die siebenseitigen Erinnerungen des Mauritz Löfflers aus dem Jahre 1943.
Löffler äußert sich detailliert zu den Jagden des Kronprinzen Rudolf in Alland und Mayerling und kann auch die letzten Tage im Januar 1889 als Außenstehender. Der Text, erstmals im vollständigen Original wiedergegeben, lautet:
„Anschrift des Originalberichtes.
Das Drama von Mayerling
verfasst und zusammengestellt aus eigenen Erlebnissen
von Mauritz Löffler
derzeit k.k. Förster in Gr. Grottenbach.
Über das Drama v. Mayerling, welches sich mit dem ehemaligen Thronfolger und Marie Vetsera daselbst abspielte, wurde in den Tageblättern seit der Umbruchszeit d.i. 11. November 1918 viel verlautbart, welche
Nachrichten aber alle unvollständig und der Wahrheit nicht entsprochen haben.
Nachdem ich derzeit unweit von Mayerling als k.k. Förster u. zwar in Gr. Grottenbach Gemeinde Klausenleopoldsdorf stationiert war, wo ich sowie auch das übrigen k.k. Forstpersonal Sr. Kais. Hoheit, welcher das
Jagdgebiet im weiten Umkreis der Staatsforste inne hatte, unterstellt war, gebe ich hiermit meine Erlebnisse
über das Tun und Treiben der letzten Tage vor seinem Ableben ausführlich und wahrheitsgetreu hiermit bekannt.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Am 28. Jänner 1889 kam Kronprinz Rudolf auf sein kleines Jagdschlösschen nach Mayerling, was eben sein
Absteigequartier war, wenn er hier den Jagdvergnügen huldigte. Sein Jagdgebiet umfasste eine Fläche von
beiläufig 16.000 ha. Bald nach seiner Ankunft besprach er mit seinem Jagdleiter, dem k.k. Forstmeister Hornsteiner von Alland die näheren Details betreffend einer auf zwei Tage anberaumten Hochwildjagd, wobei vereinbart wurde, daß am 29. Jänner in beiden zusammenstoßenden Revieren Gr. Krottenbach und Glashütte,
und am 30. Jänner in Schöpfelgitter beim Förster Kubitschka gejagd werden soll.
Am späten Abend obiger Vereinbarung d.i. am 28. Jänner überbrachte mir ein Bote ein Schreiben von der
Jagdleitung Alland, welche 7 Km. Von meinem Wohnhause und 8 Km. von Mayerling entfernt war, worin ich
aufgefordert wurde, am nächsten Tag den 29. Jänner mich mit 12 Treibern um ½ 9 Uhr vormittags beim Wagenhof, ein bei Alland an der Straße von Alland nach Glashütten gelegener Bauernhof als bekannten Rendezvous-Platz einzufinden wo auch Förster Oberhofer v. Glashütten mit gleichfalls mit 12 Treibern kommen wird
und derselbst Sr. Kais. Hoheit mit seiner Jagdgesellschaft zu erwarten, nachdem er an diesem Tage in den
beiden Revieren auf Hochwild zu jagen gedenkt.
Auf Grund dieses Auftrages begab ich mich sofort zu meinen Holzarbeitern, welche als Treiber bei dieser
Jagd zu fungieren hatten und beauftragte dieselben, daß sie am nächsten Tag d.i. am 29. Jänner 5 Uhr morgens bei mit zu erscheinen haben, wo wir dann mitsammen uns zu dem erwähnten Rendezvous-Platz begeben
werden, was auch pünktlich geschah.
Dort angekommen, war bereits mein College Wenzel Oberhofer von Glashütten mit seinen Treibern und der
Privatjäger Ratschek, welcher blos die Feldjagd in der Umgebung von Mayerling zu beaufsichtigen hatte anwesend, wo wir dann gespannt die Jagsgesellschaft erwarteten.
Endlich, es war schon längst 9 Uhr vorüber, kamen zu unserem Erstaunen blos zwei Schlitten mit den Jagdgästen u.zw. im ersten Schlitten war Jagdleiter Hornsteiner mit dem Leibjäger von Kronprinz Rudolf, Vodiczka, im zweiten Schlitten saßen Graf Hoyos und Prinz Coburg, eben der Kronprinz fehlte. Während die beiden Schlitten mit der unerwartet kleinen Jagdgesellschaft noch eine kleine Strecke weiter fuhren, wo selbe die
Schlitten verlassen mussten, um vom Jagdleiter zu ihren Jagdständen geführt zu werden, berieten wir uns, was
wir tun sollen, ob mit dem Treiben beginnen oder
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noch zu warten, da etwa der Kronprinz etwas später komme. Um nun allen Zweifel zu beheben wurde schnell
ein Treiber dem Jagdleiter nachgeschickt um zu erfahren, was zu geschehen habe. Dieser kam auch bald mit
der Weisung zurück, wir sollen nur mit der Jagd beginnen, denn der Kronprinz komme heute nicht zu Jagd, da
er sich unwohl fühle, komme nur morgen bestimmt zur Jagd nach Schöpfelgitter.
Ich und mein Kollege Oberhofer stellten nun die Treiber an und verteilten und auch selbst mit dem
Jäger Radschek unter dieselben, damit das Treiben in Ordnung von sich gehe. - Gleich beim ersten Trieb, der
genommen wurde, wo Prinz Coburg zwei Stück Hochwild fehlte, wurde von Graf Hoyos in Alttier angeschossen, worauf nachdem der Trieb zu Ende war, ich und der Jäger Radschek beauftragt wurden, das angeschossene Wild auf der Schweißfährte so lange zu verfolgen, bis es entweder verendet aufgefunden wird, oder durch
einen Fangschuss zur Strecke gebracht werden kann.
1507
Einige der Aufzeichnungen hat Gruber, Prof. Clemens M. in seinem Buch „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag
Mlakar, Judenburg 1989 bereits in Zitaten bzw. ganz publiziert, jedoch ohne jeweils auf Zerzawy als Autoren hinzuweisen.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Während nun die übrige Jagdgesellschaft die Jagd weiter fortsetzte, machten wir uns beide daran, die
Nachsuche nach dem angeschossenen Alttier aufzunehmen. Es begann nun eine äußerst beschwerliche Nachsuche, erschwert durch den vielen Schnee und dem fast undurchdringlichen Dickicht in dem Jungwald, wo wir
beide vor Überanstrengung fast nicht mehr weiter konnten.
Endlich, es dunkelte bereits, bekamen wir das krank geschossene Tier in einer Waldlichtung zu Gesicht, wo
wir beide gleichzeitig zwei Schüsse darauf abfeuerten, wo es von beiden Kugeln getroffen verendet liegen
blieb, von wo wir es bis zur Straße am Schwechatbach abwärts zogen und durch einen Boten nach Alland zum
Jagdleiter schaffen ließen. Ich und Jäger Radschek begaben uns beide nach hause.
Nachdem ich von der Jagdleitung zu der am 30. Jänner in Schöpfelgitter anberaumten Jagd daran
teilzunehmen nicht aufgefordert wurde, so ging ich meinen gewöhnlichen dienstlichen Verrichtungen nach, erfuhr auch den ganzen Tag nichts von der projektierten Jagd.
Am 31. Jänner erfuhr ich nun, daß Förster Kubitschka mit seinen Treibern am Rendezvous-Platz in
Schöpfelgitter bis 11 Uhr vormittags warteten, wo dann statt der Jagdgesellschaft blos ein leerer Fiakerschlitten kam, welcher die unwahre Nachricht brachte, Kronprinz sei krank und wird daher keine Jagd abgehalten.
Noch am selben Tag erfuhr ich die erschütternde und unerklärliche Nachricht von dem plötzlichen Ableben
des so gesunden und kräftigen Mannes. Es herrschte hier allgemeines Entsetzen über die ganz unerwartete
Todesnachricht des hier so bekannten Mannes, den fast jedes Kind kannte, da er doch häufig als Jäger gesehen wurde, daher allgemein bekannt war.
Über die Todesursache herrschte hier anfänglich allgemeine Verwirrung, denn daß er keines natürlichen Todes gestorben sei, das stund bald fast, aber was sich ereignet, was war die Todesursache, dieß war das anfängliche Räthsel. Anfänglich hieß es, Kronprinz habe sich mit seinem Gewehr erschossen, dann wurde wieder erzählt, von einem Förster sei er aus Eifersucht erschossen worden, zum Schluß habe ihn gar der Schlag
getroffen, bis sich endlich das ganze Geschwätz als bloßte Phantasie von allwissenden Tratschen herausstellte.
Wie bereits vorher erwähnt wurde, war für den 30. Jänner die Jagd in Schöpfelgitter anberaumt. Am
Vortag, abends nach der Rückkehr vom ersten Jagdtage, erhielten die Jagdgäste von Sr. Kais. Hoheit und dem
Jagdleiter die Weisung, daß morgen sich alle im Schlosshofe versammeln haben, wo dann zu Jagd weggefahren werde, worauf die beiden Herrn Graf Hoyos, Prinz Koburg und der Leibjäger Vodicka sich in die nahe
gelegene Villa begaben, welche vom Kronprinzen eigens für sein Gefolge gemietet war, und zur Nachtruhe
begaben.
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Pünktlich des anderen Tages um 8 Uhr früh versammelte sich die vorerwähnte kleine Jagdgesellschaft beim
Schlösschen des Kronprinzen, welches er mit seinem Kammerdiener Loschek bewohnte, um Sr. Kais. Hoheit
zur Abfahrt zu erwarten. Vergebens wartete man Minute zu Minute auf sein Erscheinen, doch der Kronprinz
kam nicht aus seinem Schlafgemach. Auf Befragen des Kammerdieners Loschek teilte dieser mit, daß es in der
vergangenen Nacht bei Wein, Weib und Gesang sehr lustig zugegangen ist, da die Geliebte des Kronprinzen
„Marie Vetsera“ bereits vorgestern gekommen ist, wozu auch Leibfiaker Bratfisch, ein besonderer Liebling
des Kronprinzen, welcher eins ehr guter Sänger und Komiker war, der Unterhaltung beigezogen ward, bis
endlich der Schlaf und der Genuss von Alkohol in vorgerückter Nachtstunde der fidelen Unterhaltung ein En253
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
de machte, worauf sich Bratfisch in sein Schlafgemach begab, und Kronprinz und Vetsera in bester Laune
gleichfalls ihr Nachtlager aufsuchten, nicht ahnend, was ihnen schreckliches bevorstand. –
Nachdem schon die bestimmte Stunde zum Wegfahren längst verstrichen war, so klopfte man an seiner
Tür zum Schlafzimmer anfangs leise, dann stärker und immer stärker und als trotz allen Pochens und Rufens
drinnen im Schlafzimmer alles ruhig blieb, so entschloss man sich, die Tür gewaltsam aufzusprengen, was
auch geschah.
Was für ein entsetzlicher unbeschreiblicher Anblick bot sich nun den Eintretenden dar. Am Fußboden
lag Kronprinz Rudolf, Maria Vetsera, Graf Baltacy, alle tot und fürchterlich zerschlagen, Herzog Braganza
lag ohnmächtig mit einem eingeschlagenen Auge unter sie; das ganze Zimmer und das Mobiliar, sofern es
nicht zertrümmert war, voller Blut, überall Blut, die Sessel meist zerschlagen, um die Füße davon als Waffe
zum Zuschlagen zu benützen, Champagnerflaschen, womit auch zugeschlagen wurde, lagen zertrümmert umher. Das Fenster war eingeschlagen und wie die Spuren im Schnee zeigten, wurde daselbst eingestiegen, worauf der Überfall auf die im Zimmer ahnungslos Schlafenden begann. –
In der finsteren Nacht, da man doch derzeit kein elektrisches Licht hatte, daher man auch bei dem
Gemetzel Freund und Feind nicht unterscheiden konnte, dürfte es wohl auch vorgekommen sein, daß man in
dem fürchterlichen Chaos, was da geherrscht haben dürfte, auf seinen Anhang zugeschlagen habe. Während
die Angreifer mit Säbeln bewaffnet waren, so hatten die Überfallenen, die sich in ihrem Heim hoch vollkommen sicher fühlten, nur Sektflaschen und Sesselfüße zu ihrer Verteidigung zur Verfügung.
Bald hernach wurde durch die Ortsbewohner von Mayerling folgendes bekannt: Am späten Nachmittag des
29. Jänner kam von Baden ein Fiakerschlitten, welchem beim dortigen Gasthaus zwei entstiegen, worauf das
Fahrzeug wieder zurück nach Baden fuhr, worauf die beiden Unbekannten unbeachtet verschwanden, wo sie
sich so lange in der Umgebung aufhielten, bis die kleine lustige Unterhaltung zu Ende war und niemand als
Kronprinz, Vetsera und der Kammerdiener Loschek im Schlösschen war, denn Graf Hoyos, Prinz Korbug,
Leibjäger Vodicka und Fiaker Bratfisch schliefen in der nahe gelegenen Leinningschen Villa.
Kammerdiener Loschek hatte sein Schlafgemach in unmittelbarer Nähe von Kronprinz seinem Schlafzimmer.
Jetzt, da das Gelage zu Ende war und alles schlief, wurde von den beide abends zuvor angekommenen Fremden das Fenster eingeschlagen und daselbst
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in das Schlafzimmer eingestiegen, wo dann die furchtbare Schlägerei begann, welche den entsetzlichen Ausgang nahm.
Es ist bis heute unerklärlich geblieben und wird es auch bleiben, wieso der in nächster Nähe des
kronprinzlichen Schlafgemaches, wo das Gemetzel stattfand, der schlafende Kammerdiener Loschek nichts
gehört haben soll?
Er erklärte auf wiederholtes Befragen, fest geschlafen zu haben, daher von dem Lärm, der sich dabei
abgespielt haben dürfte, nicht das geringste gehört zu haben.
Nun soll, wie ich damals erfuhr, Graf Hoyos mit dem toten Kronprinzen im Fiaker nach Wien in die
Hofburg gefahren sein, wo er diesen überbracht, während Prinz Koburg in Mayerling verblieb und dafür
sorgte, daß kein Mensch von dem Vorgefallenen etwas erfahren oder gar Einsicht in das Schlafgemach, wo
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
doch noch zwei Leichen und ein Schwerverwundeter lagen, wo aber trotz aller Vorsicht nicht gelang, die Sache geheim ui halten.
Am 1. Februar kam bereits ein Geheimpolizist nach Alland, welcher den Eindruck eines simplen 4050 jährigen Mannes machte und die Verpflichtung zu haben schien, in öffentlichen Lokalen besonders in
Gasthäusern zu forschen, was über die Affäre in Mayerling gesprochen wird und wenn er etwas Anstößiges
höre, gebührend einzuschreiten und zu schweigen befehle. Im Postamt daselbst öffnete er abzusendende Briefe, las dieselben und wenn dieselben das Drama von Mayerling nicht berührten, verschloß er dieselben und
übergab sie der Post zur Weiterbeförderung.
Ich selbst habe ihn im Gasthof Jahn getroffen und beobachtet, wie er allein an einem Tisch bei einem
Glas Bier saß, scheinbar eine Zeitung las und dabei unauffällig die Ohren spitzte um zu erlauschen, was von
den Gästen gesprochen wird; natürlich nahm sich jeder Gast in acht, wein Wort über das Thema von Mayerling zu sprechen, obwohl es sonst Tagesgespräch war; Nur einmal u. zw. Sonntag den 10. Februar ereignete
sich folgendes:
Im Gasthof Jahn in Alland war unter den einheimischen Gästen auch ein Bauernknecht, welcher schon ein
Glas zuviel getrunken hatte und die Bemerkung machte, daß er vor einigen Tagen spät nachts mit seinem
Fuhrwerk durch Heiligenkreuz nach Alland nachhause gefahren sei und dabei zufällig gesehen habe, wie man
um Mitternacht zwei Särge in den Friedhof trug, um sie geheim zu beerdigen; so etwas habe er noch nie gesehen .Der Detektiv, welcher diese Worte am Nebentisch hörte, gebot ihm sofort ganz energisch ruhig zu sein
und solche Äusserungen nicht zu machen, das kümmere ihn einfach nichts. – Der Knecht aber, im vollen Recht
seiner Sache, ließ sich nicht einschüchtern und wiederholte ganz ungeniert, bestimmt habe er so etwas noch
nie gesehen und gehört, daß man Leichen in aller Stille um Mitternacht beerdigt.
Obwohl der Detektiv ihm fortwährend Ruhe gebot und überdies schweigen, so ließ sich dieser umsoweniger einschüchtern und wiederholte immer wieder seine gemachten Beobachtungen um Mitternacht in
Heiligenkreuz. Schließlich mußte der Detektiv einsehen, daß der Mann in seinem Rechte sei d.h. nur sagte was
er gesehen habe, und forderte ihn nicht mehr zum Schweigen auf, worauf sich die Debatte allmählich auflöste
und sich die erregten Gemüter beruhigten.
Nun wird man fragen: wer waren die zwei misteriösen Leichen, welche man zu so einer ungewohnten
Zeit beerdigte? Nun einfach: Maria Vetsera und Graf Baldacy.Seite 5
volle Bestätigung durch den nach Klausenleopoldsdorf zurückkehrenden Gendarmen, welcher mir, nachdem
ich mit ihm sehr gut befreundet war, unter ehrenwörtlicher Verschwiegenheit erzählte, was er in dem Mordzimmer gesehen hatte, wo auch neben Kronprinz der je bereits von Graf Hoyos wie bereits erwähnt, sofort
nach seiner Auffindung nach Wien fortgeschafft worden war, die übrigen Toten und der schwer verwundete
Herzog v. Braganza lagen, während die beiden Toten, wie bereits erwähnt, um Mitternacht in aller Stille in
Heiligenkreuz begraben wurden, verblieb der schwer verwundete Braganza nach vierzehn Tage bis er selber
transportfähig war, in Mayerling liegen, wo er dann unbekannten Orts weggeschafft wurde, wo er auch für
immer verschollen blieb.—
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Diese Schilderungen, welche ich jetzt durch den wieder zurückgekehrten Gendarmen erfuhr, waren
noch ausführlicher als jene, welche ich vorher vernahm und konnte mir eine Vorstellung machen von dem
fürchterlichen Chaos, welches in dem Schlafzimmer geherrscht haben musste, als man es auffand.
Ich bewahrte auch die strengste Verschwiegenheit über die discrete Mitteilung des vorerwähnten Gendarmen
bis zum Abschluß unserer Monarchie d.i. 11. November 1918 und erzählte erst dann die mir geschilderten
Begebenheiten wieder weiter.
Dies sind die einzig wahren Begebenheiten der letzten Tage des Thronfolgers Kronprinz Rudolf.
Alle anderen in den Tagesblättern veröffentlichten sensationellen Nachrichten über die Todesursache werden
in jeder Zeitung anders geschildert und können schon deshalb nicht glaubwürdig sein.
Was die in den Gemächern der Wiener Hofburg vor dem Tode des Thronfolgers zwischen diesem und
seinem Vater Kaiser Franz Josef bekannt gewordenen Besprechungen und Zerwürfnisse anlangt, stehe ich
diesem Geschwätz deshalb misstrauische gegenüber, da doch kein Fremder bei solchen discreten familiären
Abhandlungen, wie selben in den kaiserlichen Gemächern geführt sein sollten, zugegen sein kann und darf,
wo man glauben könnte, daß die Öffentlichkeit d.h. das allgemeine Publikum hiervon Kenntnis erhalte.
War doch das Liebesverhältnis zwischen Kronprinz Rudolf und Vetsera hier vollkommen unbekannt
und dürfte nur Kammerdiener Loschek und Bratfisch, mit welchen er sehr vertraut war, hiervon Kenntnis gehabt haben.
Ich will nun noch eine kleine Schilderung von Kronprinz Rudolfs Privatleben, soweit ich eben genaue
Kenntnis erlangt habe, folgen lassen:
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Wenn ich es frei und rückhaltlos sagen soll, so erfreute sich Kronprinz Rudolf bei der h.o. Bevölkerung keiner
besonderen Beliebtheit u. zw. Infolge der Jagd, indem er das Hochwild übermäßig hegte und zuwenig abgeschossen wurde, sich infolgedessen sehr stark vermehrte, infolgedessen in den Feldern wie auch im Walde
großen Schaden anrichtete, welcher mitunter gar nicht oder nur mit einem lächerlich geringen Betrag der
bäuerlichen Bevölkerung vergütet wurde. Die Wildschaden-Erhebungen wurden lediglich vom Jagdleiter dem
k.k. Forstmeister Horsteiner in Alland vorgenommen, welcher eben, um dem Kronprinz zu gefallen, so schamhaft bei der Schadens-Abschätzung vorging, was eben die Missstimmung bei der Bevölkerung verursachte.
Das Forstpersonal war ihm nicht gewogen, da er wohl ein guter Schütze, dafür aber kein guter Jäger war,
d.h. er hat gut geschossen, hat aber von der Jagd wenig oder gar nichts verstanden sonst würde er oft nicht so
lächerliche Forderungen an dem ihn bei Pürschgängen begleitenden Förster gestellt haben, worüber er nur
nachher ausgelacht wurde. – Es ärgerte ihn z.B. schon, wenn bei Treibjagden ein von ihm eingeladener Gastschütze ein Stück Hochwild früher erlegte, als er, da er einfach nicht zu Schuss kam – oder wenn seine Gäste
zusammen mehr Wild erlegten, als er allein – oder wenn ein starker Hirsch nicht von ihm , sondern von einem
Gastschützen erlegt wurde. Da war an einem solchen Tag schon alles froh, wenn die Jagd zu Ende war.
Was nun sein Familienleben anbelangt, so dürfte dieses nicht besonders rosig gewesen sein, denn bevor
Kronprinz Rudolf das kleine Schlösschen in Mayerling erwarb, wo er auf tragische Weise sein Leben lassen
musste, wohnte er mit seiner Frau Stephanie in Alland in einem leer stehenden ärarischen Forsthaus. Diese
saß, wenn sie hier war, gerne vor dem Hause in dem dort befindlichen kleinen Garten, so sie sich mit Lesen
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
oder kleinen Handarbeiten die Zeit vertrieb, von wo man sie von der nebenan vorbeiführenden Straße und den
gegenüberliegenden Häusern leicht beobachten konnte.
Da hatten nun die Bewohner der Nachbarhäuser öfters Gelegenheit, aus der Wohnung des Kronprinzen erst
heftigen Streit, dann weibliches Jammern und Schreien zu hören, worauf sich dann die Kronprinzessin durch
mehrere Tage im Garten nicht sehen ließ und dann nach einer solch einer häuslichen Szene man deutlich im
Gesicht die Striemen von den erhaltenen Schlägen sehen konnte, welche wohl, wie die Zuhörer behaupten,
durch Eifersucht hervorgerufen worden sind, obzwar derzeit das Liebesverhältnis mit Vetsera noch nicht bestanden haben dürfte; dieselbe überhaupt bis zu seinem Tode unbekannt war.
Ich will noch erwähnen, daß die ganze Bevölkerung aus Mayerling, Alland, Klausenleopoldsdorf u.s.w., wo
Kronprinz Rudolf allgemein bekannt war, über das plötzliche Ableben sehr erstaunt und über die furchtbare
Todesursache sehr aufgeregt war, aber niemand besonders Leid um ihn getan hat.
Wir, nämlich das k.k. Forstpersonal, erhielten gleich nach seinem Tode von der k.k. Forst- u. Domänen Direktion in Wien auf Weisung des k.k. Ackerbau-Ministeriums, den Auftrag, das Hochwild, welches eben so viel
Schaden in der Landwirtschaft auf den Äckern, Wiesen u. Gärten, wie auch in der Forstwirtschaft durch Verbiß der jungen Pflanzen u. Schälen der Stangenhölzer anrichtete, abzuschießen, welchem Auftrag wir auch
prompt befolgten und die Bevölkerung damit von einer großen Plage befreit wurde.
Bratfisch der Leibfiaker des Kronprinzen Rudolf, welcher selben bei all seinen intimen Unterhaltungen begleiten musste und auch bei dem Champagner-Gelage in der verhängnisvollen Nacht zur lustigen Unterhaltung
beitrug, erhielt vom Kaiser Franz Josef zwei schöne Zinshäuser am Franz Josef Quai in Wien, als Schweigegeld unter der eidlichen Verpflichtung
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nie in seinem Leben etwas von oder über Kronprinz Rudolf auszuschwätzen was dessen Ansehen, seine Autorität schädigen könnte.
An Stelle des einstigen Jagdschlösschens wurde von Kaiser Franz Josef das gegenwärtige KarmeliterKloster gestiftet u. zw. Befindet sich die Kapelle an der Stelle, wo sich das ehemalige Schlafgemach des
Thronfolgers befunden hat, wo such die eben geschilderten Greueltaten zugetragen haben.
Die Ursache, daß die beiden Kavaliere Baldacy und Braganza zum Mörder des Kronprinzen und der Marie
Vetsera wurden, soll Eifersucht gewesen sein.
Ich schließe nun mit den Mitteilungen über das Leben und Sterben des Thronfolgers Kronprinz Rudolf, so weit
ich Kenntnis davon habe mir dem bemerken, daß dieselben vollkommen der Wahrheit entsprechen, hingegen
sämtliche Zeitungsberichte, welche ich gelesen habe und von seinem „selbstmörderischen“ Tod faseln, in den
Papierkorb gehören.
St. Christofen bei Neulenkbach-Mark
1943
Mauritz Löffler, m.p.
Für die richtige Abschrift des bei mir befindlichen Original-Berichtes:
Wien, am 5. Jänner 1953
Regierungsrat, em. Archivar im Bundeskanzleramt-Kriegsarchiv, Besitzer eines Kronprinz Rudolf-Archivs und
Museums.“
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Nach 54 Jahren scheint sich Mauritz Löffler noch sehr gut an die Jagden mit dem Kronprinzen zu erinnern. Ob er
alles, was er berichtet, mit eigenen Augen sah bzw. selbst erlebte, bleibt fraglich, denn bereits in der Einleitung
weist er darauf hin, dass seit dem Sturz der Monarchie im Jahre 1918 vielfach über das Drama von Mayerling berichtet wurde. So ist es wahrscheinlich, dass selbst Erlebtes mit Angelesenem vermischt wurde.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 7
Denkschriften und Erinnerungen
5.
Angehörige von Tatortzeugen berichten
„Vorstehendes habe ich
der Wahrheit gemäß
nach bestem Erinnern
angegeben..“
Marie Rosensteiner
Baden, 22.08.1954
Dieses Kapitel wird sich mit den Erinnerungen von Menschen befassen, deren Angehörige als so zu nennende
„Tatortzeugen“ in Mayerling waren und den Ort des Geschehens – oder aber auch Handlungen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod des Kronprinzen und der Baroness – sahen. Die nachfolgenden Protokolle wurden von dem
Rudolf-Forscher Prof. Hermann Zerzawy verfasst. Wir bringen an dieser Stelle viele der Protokolle erstmals im Wortlaut und weitgehend in der originalen Schreibwiese mit allen Anmerkungen des Autoren1508.
Zunächst die Erinnerungen der Marie Rosensteiner, der Gattin des Badener Fiakerunternehmers Leopold III.
Rosensteiner. Nach der Erinnerung fuhr dieser zusammen mit seinem Bruder Josef am 29. Januar 1889 Jagdgäste des
Kronprinzen – also Hoyos und Coburg – nach Mayerling und sah – als er Coburg am Morgen des 30. Januar vom Badener Bahnhof ins Schloss fuhr – dort eine eingeschlagene Tür. Zunächst der von Zerzawy erfasste Text:
„Gedenkschrift.
Über die Beziehungen der Badener Fiakerfamilie Rosensteiner zu Mayerling 1889 und vorher; sowie zum
Kaiserhause.
Ich heiße Marie Rosensteiner geb. Fischer und wurde am 23/8. 1873 in Baden (Leesdorf, Hintergasse 21 (jetzt
Göschlgasse 21) geboren. Dort wohne ich jetzt noch.
Mein Mann Leopold III. Rosensteiner, Fiaker, ist am 2/5. 1870 in Baden geboren. Auch sein Vater, Leopold
II. Rosensteiner, geb. 10/9 1833 Weikersdorf, war Fiaker in Baden, und dessen Vater Leopold I. Rosensteiner
Fuhrwerker in Wien.
Als der Kronprinz Rudolf (29/1 1889) starb, war ich 16 Jahre, mein späterer Mann Leopold III. Rosensteiner
19 Jahre alt.
1508
Einige der Aufzeichnungen hat Gruber, Prof. Clemens M. in seinem Buch „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag
Mlakar, Judenburg 1989 bereits in Zitaten bzw. ganz publiziert, jedoch ohne jeweils auf Zerzawy als Autoren hinzuweisen. Die
Kopien der Originalberichte stellte uns freundlicher Weise Prof. Clemens M. Gruber, Wien, zur Verfügung.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Sein Vater Leopold II. Rosensteiner führte den größten Teil seines Lebens die nach Baden und ins Helenental
kommenden Mitglieder der kaiserlichen Familie und deren Gäste, u.a. z.B. die Erzherzoge Rainer (Weilburg),
Eugen, Wilhelm, Kpr. Rudolf, und Kaiser Franz Josef. Von Gästen z.B. Graf Hoyos, etc.
Viele Fahrten gingen nach Alland und Mayerling.
Seine beiden ältesten Söhne Leopold III. (mein späterer Mann) und dessen Bruder Josef halfen als Fiaker fleißig mit.
Am 29.Jänner 1889 führten die beiden Brüder Jagdgäste in zwei Wägen nach Mayerling, wo Kronprinz Rudolf in Pantoffeln herausgekommen und die Gäste begrüßt und dann mit den zwei Brüdern Rosensteiner gesprochen habe. Der Kronprinz hielt ein Tüchlein vor dem Mund und war offenbar verkühlt. Da bemerkten die
beiden, daß sich der Fenstervorhang verschob und eine junge Frau einen Augenblick herausschaute.
Seite 2
Am Tag nach der Mayerling Affäre (30. Jänner 1889) in der Früh führte mein Mann den Grafen Hoyos von
Baden in seinem Wagen nach Mayerling (Anmerkung am linken Rande „wohl Coburg, nicht Hoyos!“). Als
mein Mann gleichzeitig mit dem Grafen Hoyos das Schloss betrat und nach ihm in den Gang schritt, sah er
plötzlich eine eingeschlagene Tür. Daraufhin wurde er plötzlich vom Grafen zurückgewiesen und dieser rief:
„Um Gottes Willen, Rosensteiner, gehen Sie fort! Wenn Sie hier jemand sieht!“
Vorstehendes habe ich der Wahrheit gemäß nach bestem Erinnern angegeben.
Baden/bei Wien, Sonntag den 22. August 1954
Göschlgasse 21
Marie Rosensteiner geb. Fischer als Ehefrau des Leopold Rosensteiner
Augusta Rosensteiner als Tochter des Leopold Rosensteiner1509“
Wir sind der Meinung, dass der Bericht – 65 Jahre nach den Ereignissen mit der damals 81-jährigen Marie
Rosensteiner aufgenommen – nicht vollkommen falsch sein kann. Die Rosensteiner waren tatsächlich als Fuhrleute in
Baden tätig und kutschierten bevorzugt Mitglieder des Kaiserhauses. So kann es tatsächlich sein, dass die Brüder Leopold III. und Josef am 29. Januar den Grafen Hoyos und Prinz Coburg von der Bahnstation in Baden nach Mayerling
brachten. Tatsächlich irrt die Rosensteiner aber, wenn ihr späterer Mann am 30. Januar den Grafen Hoyos von Baden
ins Schloss gefahren haben soll – dieser hatte ja die Nacht vor Ort verbracht und nur Prinz Coburg war zum Familiendinner über Nacht nach Wien gereist. Dass der Fiaker – gewöhnlich dürften die Wagen auf dem Wendeplatz vor dem
Osttor gehalten haben – das Schloss betrat und die eingeschlagene Tür zum Schlafzimmer des Kronprinzen gesehen
haben soll, scheint uns mehr als unwahrscheinlich, so dass an dieser Stelle Abstriche beim Wahrheitsgehalt der Aussage gemacht werden müssen.
Ein bereits öfters zitiertes Protokoll ist jenes, das Zerzawy mit Antonia Konhäuser, der Tochter des Kutschers
Josef Bratfisch, aufgenommen hat1510:
„Denkschrift.
Ich unterfertigte Frau Antonia Konhäuser, Tochter des Fiaker-Eigenthümers und Hausbesitzers Josef Bratfisch, jetzt wohnhaft Wien XVII, Dornbacherstraße 19 parterre, (geb. 30/3 1871 Wien XIV, Pfarre Reindorf,
1509
Handschriftlich – jedoch nicht von Frau Rosensteiner, wie der Vergleich zur Unterschrift zeigt. Schrift ist identisch zum später
zitierten Vasak-Protokoll.
1510
Dieser Text auch in Gruber, Prof. Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989. Wir haben ihn hier in der Schreibweise von Gruber übernommen, ohne auf das Original zurück greifen zu können.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
im selben Jahr wie Mary Vetsera), teile, gänzlich unbeeinflusst und der reinen Wahrheit entsprechend, folgendes mit:
1. Mein Vater Josef Bratfisch (geb. 26/8 1847, Wien VII Apollogasse 8, Pfarre Schottenfeld, gest. 16/12 1892
im eigenen Haus Wien XVII, Lacknergasse 8, 45 Jahre alt, begraben am Hernalser Friedhof) war etwa 3
Jahre Leibfiaker des Kronprinzen Rudolf.
2. Damals wohnten meine Eltern und ich in Wien VIII, Laudongasse 52, parterre rechts. In dieser Wohnung
hat uns Kpr. Rudolf zweimal im Herbst 1888 in Begleitung von Frl. Mitzi Kaspar besucht. Er kam eigens
zur Jause, um des `garnierten Liptauers´ willen, den meine Mutter seiner Meinung nach ausgezeichnet
anzurichten verstand und den er bei Hof nie derart bekam. Dazu wurde Bier und etwas Wein getrunken.
Am Tische saßen noch meine Eltern und ich selbst, damals 17 Jahre alt. Der Kronprinz war sehr legère,
versank aber wiederholt in tiefen Ernst, so daß seine Freundin – ich erinnere mich genau, ihm mahnend
sagte: „Kaiserliche Hoheit nehmen die Sachen viel zu tragisch“; worauf der Kronprinz wieder lächelte.
3. Mitzi Kaspar, damals etwa 25 Jahre alt, war groß, schlank, dunkler Teint, sehr hübsch und sympathisch,
war auch sehr nett zu unserer Familie.
4. Beim 1. Besuch brachte der Kronprinz meinem Vater, den er sehr schätzte, auch wegen seines Schönheitsund Kunstsinnes, ein Paar kostbare silbereingelegte Pistolen zur Bereicherung des von meinem Vater gesammelten Museums von Waffen, Jagdtrophäen, antiken Bildern (Aquarellen) etc. auch ein heil. Johannes
(Holzschnitzerei) war dabei, ein seltenes Stück, das der Kronprinz sehr bewunderte.
5. Der Kronprinz war groß, schlank, trug Zivil, mit einem weichen Hut. Er sprach mit hoher Stimme, hatte
prachtvolle Zähne und war äußerst lieb zu uns. Auch wir verehrten und liebten ihn sehr.
6. Bekannt wurde mein Vater mit Kronprinz Rudolf etwa 1866 im Schloß Orth durch seinen Freund Hans
Schrammel, gelegentlich einer Hofjagd. Dort spielten des öfteren die Schrammeln, die meinen Vater als
vorzüglichen Volkssänger gut kannten. Er sollte für den Kronprinzen als Überraschung dienen, die auch
gelang. Der Kronprinz war über den Gesang und die bescheidene Natürlichkeit meines Vaters begeistert.
Und als er überdies erfuhr, dieser sei Fiaker, zog er ihn bald in seine Nähe, besonders als er auch als er
seine Verschwiegenheit kennen und schätzen lernte. So wurde mein Vater sein Leibfiaker, während
Prechtel sein Leibkutscher bei Hof blieb.
7. Über diese Fahrten, mit Ausnahme der letzten, hat mein Vater nie gesprochen, ebenso wenig über die näheren Umstände in Mayerling. Er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen und alle in- und ausländischen reichen Geldangebote abgelehnt.
8. Die letzte Fahrt mit dem Kronprinzen ging am 29. Jänner 1889 in Vaters Wagen über Mauer und Roter
Stadl nach Mayerling. Es war ein strenger Winter mit tiefem Schnee, die Räder blieben wiederholt stecken, so da0 der Kronprinz und der Vater wiederholt aussteigen und den Wagen schieben mussten. Dabei
erhitzte sich und verkühlte sich der Kronprinz sehr arg, so daß er, wie bekannt, dann in Mayerling an der
Jagd nicht teilnehmen konnte.
9. Als dann die Schreckensnachricht über die Katastrophe von Mayerling die ganze Welt durcheilte, blieb
mein Vater 4 Tage lang verschollen. Ganz verstört kehrte er heim, sprach aber über die eigentliche Affäre
kein Wort. Nur etwas brachte er mit: eine kleine goldene Damenuhr mit Brillanten, mit perlenbesetzter
Sportkette mit anhängendem Goldring. Diese hatte ihm die Baronin Vetsera Mary im Jagdschloß Mayer-
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ling bei seinem Abgang mit den Worten geschenkt: „Nehmen Sie das zum Andenken, es ist ohnehin das
letzte Mal.“
10. Bei meinem Vater erschien dann eines Tages Graf Georg Stockach, Marys Onkel, mit der dringenden Bitte, ihm die Uhr für Marys Mutter (gegen eine ansehnliche Ablöse) zu überlassen. Zögern entsprach dem
mein Vater.
11. Bald erschien auch der Obersthofmeister des Kaisers, Fürst Montenuovo. Sehr energisch sagte er meinem
Vater: „Sie müssen fort von Wien.“ Darauf erwiderte dieser: „Mein Ehrenwort gilt auch soviel, wie das
eines Kaisers.“
12. Mein Vater ist dann in Wien, 45 Jahre alt, an Luftröhren-Entartung (Krebs) gestorben und wurde am
Hernalser Friedhof, Gruppe K. N. 130, begraben.
13. Sein Ehrenwort, zu schweigen, hat er bis zu seinem Tode gehalten, selbst seiner Familie gegenüber.
Vorstehende schlichte Wiedergabe meiner Jugenderinnerungen entspricht der vollen Wahrheit.
Wien, Donnerstag, 18. April 1957.
Als Zeugen für die Richtigkeit:
Konhäuser, Antonia, Tochter des Josef Bratfisch, Leibfiakers des Kronprinzen Rudolf
Hermine Konhäuser, Schwägerin d. Antonie Konhäuser
Und Dr. Hermann Zerzawy, em. Regierungsrat und Archivar im Bundeskanzleramt“.
Diese Erinnerungen der Tochter von Rudolfs Kutscher, im Jahre 1957 bereits 86 Jahre alt, zeugen von der äußersten Loyalität der Familie Bratfisch dem Kronprinzen gegenüber. Ebenso wie der Fiaker selbst lässt sich seine
Tochter auf keine Spekulation ein und gibt sachlich Details zu Protokoll, die das Bild ihres Vaters festigen und keinen
Raum für Gerüchte bieten. Hintergrund dürfte das Bemühe der Tochter sein, ihren oftmals in der Öffentlichkeit angegriffenen Vater (Verräter, Flüchtling, Trinker) zu rehabilitieren und das Bild eines loyalen Freundes zu zeichnen.
Nun veröffentlichen wir den Wortlaut einer Erklärung der Tochter des Kammerdieners Karl Nehammer, der
nicht in Mayerling weilte, da er krank in seiner Wohnung lag1511. In dem Text heißt es:
„Erklärung.
Als Tochter des Herrn Karl Nehammer (+ 17/2. 1907 Wien) k.k. Kammerdiener und Vertrauensmann weiland
des Kronprinzen Rudolf gebe ich im Besitz meiner vollen Geisteskräfte eidesstattlich folgende Erklärung ab:
Zur Zeit der Kronprinzen Katastrophe lag mein Vater (ab 13. Jänner 1889) mehrere Wochen hindurch krank
in unserer Wohnung, damals Wien VII. Lerchenfelderstraße Nr. 63 II 17 (Notiz Zerzawy: „bis 1892!“)
Der Kronprinz, der meinen Vater sehr schätzte und den er trotz dessen Hochbetagtheit nicht in Pension gehen
ließ, ließ an dem historischen 29. Jänner (Notiz Gruber: „richtig: 28.1.“), an dem der Kronprinz dann nach
Mayerling zur Jagd fuhr, in der Wiener Hofburg seinen Hausdiener ..... Krause rufen und sagte ihm (wie dieser uns am gleichen tage berichtete) folgendes:
„Wie geht es Nehammer?“ Krause antwortete: „Leider noch immer gleich.“ – „Drum gehen Sie“, antwortete
der Kronprinz, „gleich nachmittags hin, damit ich, wenn ich von Mayerling zurückkomme, weiß, wie es ihm
geht.“
Der Kronprinz kehrte nie mehr zurück. – Vorstehender Satz ist bedeutend und lässt keine Selbstmordabsicht
erkennen.
1511
Dieser Text auch in Gruber, Prof. Clemens M.: „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Aus allem, was mir anderweitig und im Zusammenhang mit obigen letzten Worten des Kronprinzen gegenüber
Krause bekannt geworden ist, glaube ich fest daran, daß der Kronprinz nicht durch Selbstmord endigte.
Dies erkläre ich nach bestem Wissen und Gewissen. Wien XXIV (Brunn) Maria Enzersdorf, Franz Josefstraße
64, am Gründonnerstag den 22. März 1951.
Anna Deutsch
geb. Nehammer1512
Die Richtigkeit der Unterschrift bezeugen:
Dr. Hermann Zerzawy, Wien VII, Lerchenfelderstr. 63 III 19
Rob. Pachmann, Wien XVIII. Semperstraße 60
Name/Vorname (unleserlich)
Mitbewohnerin der Frau Deutsch in Maria Enzersdorf, Franz Josefstraße 841513“
Die Erinnerungen der Anna Deutsch, Tochter des Kammerdieners Nehammer, zeigen recht deutlich, wie sehr Loyalität der Eltern auf das Verhalten ihrer Kinder abfärben kann. Der kronprinzliche Kammerdiener hat sich gewiss
nicht vorstellen können, dass sein Herr – der Sohn des apostolischen Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn – selbst an sich Hand gelegt haben könnte und seinem Leben ein Ende bereitete. Diese Überzeugung wird
auch in der Darstellung der Tochter sichtbar, die ohne eigene kritische Meinung oder irgendwelche Hinterfragung
diese Haltung tradiert und zu ihrer Position werden lässt.
Kommen wir nun zum „Erinnerungsblatt“ eines Försters, der vom Hörensagen Äußerungen des in Mayerling
beschäftigten damaligen Jungjägers Ratschek von 1904 und ohne Quellenangabe des Tischlers Wolf berichtet. Hier
erstmals vollständig die Niederschrift nach Hermann Zerzawy:
„Abschrift.
Eduard Stock1514, Stiftsförster des Stiftes Lilienfeld, Revier Hühnerberg
Wohnhaft Baden b. Wien, Göschlgasse 7
Geb. 8.2.1888 Guntramsdorf
Erinnerungsblatt
Ich kam 1904 als Forsteleve in das zur Laxenburger Hofverwaltung gehörige Hofjagdrevier Wr. NeudorfBiedermannsdorf.
Mein Vorgesetzter und Lehrherr war der k.u.k. Hofjäger I. Klasse Karl Ratschek, vermutlich stammend aus
Mähren, gestorben in Herrnstein im Alter von etwa 80 Jahren.
Seine Frau ist eine geborene Höfling aus Alland. Karl Ratschek muss schon als Jungjäger und Hundeführer
zum Kronprinz Rudolf, vermutlich nach Alland gekommen sein, wo der Kronprinz, sogar mit Stephanie, im
Forsthaus wohnte, bevor er vom Stift Heiligenkreuz Mayerling gekauft hat.
1512
Notiz Zerzawy: „Über Karl Nehmammer: siehe Mitis / 267, 270 und HH und Staatsarchiv Wien, Karton 13 Kronprinz Rudolfakten“
1513
Handschriftlich – jedoch nicht von Anna Deutsch, wie der Vergleich zur Unterschrift zeigt – auf einem Briefbogen A4 mit
Stempel oben links „Anna Deutsch Wien XXIV, Ma. Enzersdorf, Franz-Josef-Straße 64“
1514
Stock, Eduard, geb. 08.07.1888 in Guntramsdorf
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Mit Karl Tascheks Sohn, Josef Ratschek, machte ich gleichzeitig bei seinem Vater die Forst- und Jagdpraxis
und zusammen in Wien in der Hochschule für Bodenkultur VIII Laudongasse im Jahre 1917 die „Staatsprüfung“ für den Forstschutz und techn. Hilfsdienst.
Bezüglich „Mayerling“ kann ich folgendes erzählen: Gelegentlich einer Hofjagd 1904 in Münchendorf, bei
der Erzherzog Franz Ferdinand, Graf Khielmannsegg etc. anwesend waren und wobei die ganze Hofjägerschaft der umliegenden (gepachteten) Hofjagdreviere herangezogen war, u.a. Karl Ratschek und ich als Forsteleve, fand eine Jägerjause statt. Im gemütlichen Teil wurden im Kreise der alten Hofjäger u.a. Jagderlebnisse mit Kronprinz Rudolf erzählt. Ein Förster namens Rudler berichtete über seine vielen Marderabschüsse mit
dem Kronprinzen Rudolf im grünen Lusthaus in Laxenburg.
Seite 2
Karl Ratschek als Zuhörer meinte Dazu: „Das Alles hat ihm doch nichts genützt. Mit einem Hieb war er erledigt.“ Weiters sagte er kein Wort mehr. Vielleicht selbst etwas erschrocken, dass er schon zuviel gesagt hatte.
Ich hörte diese Worte als unmittelbarer Nachbar auf der Weise, erinnere mich auf jedes einzelne Wort und
könnte das Gehörte jederzeit beeiden.
Ich diente 1907-1910 beim k.u.k. I.R. 4 (Deutschmeister) 4. Baon in Kojica in der Herzegowina. Dort sah ich
während der Manöver an mehreren Orten Gedenksteine mit der Aufschrift „Zur Erinnerung an Kronprinz
Rudolf.“ Er muss also wiederholt unten gewesen sein.
Der spätere Forstinspektor beim Stift Heiligenkreuz Josef Weiss, mein Prüfungskommissär bei der Staatsprüfung in Wien, war zur Zeit der Mayerling Katastrophe Forstbediensteter in Raisenmarkt südlich von Mayerling. Im Gasthaus in Mayerling kam immer eine Gesangsrunde und Kartenpartie zusammen. In der Katastrophennacht (29.30.1.1889) um Mitternacht kam angeblich der Allander Tischlermeister Wolf in das Gasthaus
und sagte:
„Jetzt muass i no schnell a Totentruch´n machen für Heiligenkreuz.“
Das erzählte mir Forstinspektor Weiss etwa 1920 in Mayerling 2tes Schlössel, woselbst er wohnte. In der
christl. Zeitung „Der Pilger“ Jg. 1888 bis 1890 stand über die Mayerlinger Affäre das ärztliche Parere des
Leibarztes des Kaisers:
„Zertrümmerung der Schädeldecke“.
Diese meine vorstehenden Mitteilungen entsprechen der vollen Wahrheit.
Baden bei Wien am Sonntag den 22. August 1954
Eduard Stock
Stiftsförster
Des Zisterzienserstiftes Lilienfeld1515“
Der im klösterlichen Dienst beim Zisterzienserstift Lilienfeld stehende Eduard Stock berichtet kaum Neues –
er bestätigt lediglich, dass Karl Ratschek für den Kronprinzen tätig war und dass es in Mayerling die Erzählung des
Tischlers Wolf gab, er müsse einen Sarg für Heiligenkreuz zimmern. Letzteres ist nicht richtig, denn dies wurde durch
den Zimmerer des Stiftes Heiligenkreuz erledigt. Die 50 Jahre nach der Unterredung mit ihm wiedergegebenen Aussagen des Försters Ratschek erfolgten auch bereits 15 Jahre nach dem Vorfall in Mayerling, so dass auch diese Aussa1515
Maschinenschriftlich auf einem Briefbogen A4 ; ohne Unterschrift oder Anstreichungen.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gen nicht unbedingt als Quelle eines Zeitzeugen gewertet werden können. Stock sieht jedoch in der Äußerung
Ratscheks die Bestätigung dessen, was die amtliche Wiener Zeitung nach dem Tod des Kronprinzen vermeldet hatte –
„Zertrümmerung der Schädeldecke“. Stock glaubt jedoch nicht an den damals gemeldeten Selbstmord, sondern führt
den zerstörten Schädel auf einen Raufhandel zurück, denn Ratschek bemerkte ja, dass der Kronprinz „mit einem
Hieb“ erledigt worden wäre.
Kommen wir nun zu den Erinnerungen der Hildegard Gruber, geborene Beretits, einer in Mayerling Nr. 15 lebenden Frau. Ihr Vater war fast 40 Jahre als Lehrer in Oberwaltersdorf tätig und Nachbar des pensionierten Johann
Loschek, den er gut kannte. Aus einer Bemerkung des einstigen Saaltürhüters leitet sie ab, dass der Doppelselbstmord
nicht den Tatsachen entspräche. Hier zunächst der Text, den Zerzawy aufgenommen hat:
„Mayerling, 25.8.1955.
Denkschrift.
Ich Hildegard Gruber geb. Beretits, Gattin des Oberf. Heinz Gruber i. P. wohnhaft in Mayerling 15, leiste
über Ersuchen des Heimat und Kronprinz-Rudolf-Forschers Dr. Hermann Zerzawy aus Wien, aus den seinerzeitigen Mitteilungen meines am 22/10. 1921 in Oberwaltersdorf bei Wr. Neustadt verstorbenen Vaters, wahrheitsgemäß einen kleinen Beitrag zur sogenannten „Mayerling-Affaire“.
Mein Vater war etwa von 1885 bis 1921 Schullehrer in Oberwaltersdorf. Neben dem Schulhaus lag das
Wohnhaus des nach 1889 pensionierten Försters & Verwalters des Kronprinzen Rudolfs .......... (radiert) Loschek. Er war mit meinem Vater gut bekannt.
Eines Tages, etwa im Jahre 1891, kam Loschek verängstigt ins Schulhaus gelaufen und raunte erregt meinem
Vater zu:
„Ich bitte Sie, Herr Lehrer, verstecken Sie mich schnell! Die Kronprinzessin Stephanie ist schon wieder von
Laxenburg herübergeritten gekommen zu mir, um zu erfahren, wie es wirklich in Mayerling gewesen ist; und
ich darf es doch nicht sagen!
Darauf versteckte ihn mein Vater in einem Lehrmittelkasten. – Vorstehendes bezeugt in einwandfreier Weise,
daß nicht einmal die Witwe des Kronprinzen (vielleicht nicht einmal das Kaiserpaar?) von den unter Eid genommenen Zeugen über die wahren Umstände des Kronprinzentodes (29.1.1889) Mayerling unterrichtet waren.
Alle bisherigen & offiziellen und amtlichen Berichte über einen angeblichen einsamen Doppelselbstmord sind
übereinstimmenden Nachrichten zufolge unrichtig. Warum hat man, wenn die offizielle Darstellung richtig
war, die wirklichen Mitwisser alle vereidigt?
Dies teile ich zur Steuer der Wahrheit mit.
Hildegard Gruber geb. Beretits
Oberförstergattin in Mayerling1516“
Die Schilderung der Oberförstergattin aus den Berichten ihres Vaters ist schon als „skurril“ einzustufen – der einstige Diener des Kronprinzen und Tatortzeuge Loschek soll sich in einem Lehrmittekasten vor der KronprinzessinWitwe Stephanie versteckt haben, um mit ihr nicht über Mayerling sprechen zu müssen. Daraus folgert die Toch-
1516
Handschriftlich auf einem Briefbogen A4 ; auf der Rückseite befindet sich ein maschinelles Anschreiben von Hermann
Zerzawy an Frau Gruber, die er am 11.10.1952 bei einer Autobusfahrt kennen lernte, vom 10. Juni 1953.
265
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ter, weder die Gattin, noch die Eltern hätten tatsächlich gewusst, was in Mayerling geschehen sei. Dass „alle bisherigen und offiziellen und amtlichen Berichte über einen angeblichen einsamen Doppelselbstmord ... (nach) übereinstimmenden Nachrichten zufolge unrichtig“ seien, stellt Frau Gruber zwar in den Raum, erläutert oder untermauert diese These jedoch nicht. Und scheint die Flucht des Johann Loschek in einen Lehrmittelkasten als Fiktion.
Zwei weitere Berichte fügt die Pächterin einer Expresso-Bar aus Baden bei Wien, Frau Isabella Vasak, der
Liste hinzu. Die Frage, wann sie sich zu den Mayerling-Vorfällen geäußert habe, konnte die unter Vormundschaft lebende Frau im Jahre 1991 auf unsere Nachfrage leider nicht mehr beantworten. Das Zerzawy-Protokoll gibt Auskunft:
es war am 21. August 1954:
„Isabella Vasak, Inhaberin des Kaffee Expresso
Baden b./W. Marchetsbrücke 23, Tel 25360
Denkschrift,
betreffend Mitteilungen über die Katastrophe von Mayerling 1889, die mir von dortigen Einwohnern als
Pächterin des Gasthauses „Zum alten Jagdschloss“ in Mayerling gemacht wurden u. zwar in den Jahren
1946 – 1953.
1.) Michael Kurzbauer1517, geb. 1870 (also 1889 etwa 19 Jahre alt), lebte die letzten Jahre im Greisenasyl
Mayerling und starb dort am Gründonnerstag, 1952; Begraben in Alland, 82 Jahre alt. Wiederholt und immer
wieder erzählte er mir, soweit er sie wüsste, Einzelheiten über die Mayerling Affäre von 1889 und machte mir
den Eindruck vollster Glaubwürdigkeit. Er wohnte damals (1889) in Mayerling in einem der Häuser unweit
des Schlosses.
An dem betreffenden Abend (29. Jänner 1889) im strengsten Winter, an den er sich zurückerinnerte, war im
Jagdschlösschen des Kronprinzen größere Gesellschaft, sehr laut. Auch war bis spät nachts Licht. Früh war
dann das Schloss völlig abgesperrt und unzugänglich. Darum kamen die verschiedenen Gerüchte.
Nach einem dieser Gerüchte soll eine schwere Rauferei gewesen sein und der Kronprinz mit einer Champagnerflasche erschlagen worden sein. Unter den Leuten wurde erzählt, daß am 29.1. die Vetsera angekommen
sei, dann später am Nachmittag in einem Fiaker zwei Herren, Die andere Gesellschaft dürfte schon vor der
Vetsera in Mayerling gewesen sein.
Mutmaßlich wurde angegeben, daß einer von beiden Herren auch ums Leben gekommen sein soll. Auch wurde
gesagt, daß nebst der Leiche der Vetsera, auch eine männliche (!) Leiche nach Heiligenkreuz weggeführt
wurde. Das hat Herr Kurzbauer immer wieder betont. Man hat angenommen, daß es ein Baltazzi war.
Seite 2
Von offizieller Seite wurde den Leuten dann gesagt, der Kronprinz hätte die Baronesse Vetsera und dann sich
selbst erschossen.
Das Schicksal des jungen Mädchens hatte immer besondere Teilnahme an ihrem Unglück erzeugt, u. zwar
mehr als das des Kronprinzen, von dem die Einwohner erzählten, daß man vor ihm immer die schönen
Dienstmädchen verstecken musste.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
2.) So besuchte ich mehrmals das Grab der Vetsera und brachte ihr jetzt ein Kerzchen zu Allerheiligen. Bei
einem solchen Besuch sprach ich 1949 mit dem Totengräber von Heiligenkreuz. Er erzählte, daß, gleich anderen Grüften, auch jene der Baronesse 1945 von den Russen erbrochen und nach Schmuck durchsucht wurde.
Beim Schließen der Gruft sah der Totengräber noch das erhalten gebliebene volle schöne Haar der Baronesse.
Auf meine Frage, ob sie überhaupt dort ruht, bejahrte er dies. Auf meine weitere Frage, ob damals (30/1
1889) gleichzeitig am selben Friedhof noch eine 2. Bestattung stattgefunden habe, bejahte er dies ebenfalls.
Es waren 2 Bestattungen nebeneinander, getrennt, an der Friedhofsmauer. Die Vetsera und eine männliche
Leiche. Die Stelle ist dort, wo jetzt im großen Gemeinschaftsgrab aus dem letzten Krieg, mit den Leichen der
ausländischen Zwangsarbeiter sich befindet. Es ist bekannt, daß die Mutter der Baronesse die Leiche ihrer
Tochter – nach Überwindung großer Schwierigkeiten – exhumieren u. in eine Gruft am selben Friedhof beisetzen u. eine Friedhofskapelle errichten ließ. Ein Engelbild in letzterer soll ihre Tochter darstellen. Diese
Angaben des Totengräbers dürften von seinem Vorgänger stammen. Vielleicht war es sein Vater.
Baden bei Wien, Samstag den 21. August 1954.1518“
Die Erinnerungen der Frau Vasak bringen keine wirklichen Neuigkeiten. Der erste Teil ist lediglich die Wiedergabe einer Erzählung und eines darum rankenden Gerüchts – man kann jedoch davon ausgehen, dass sie es als Pächterin des heute unter dem Namen „Zum Alten Jagdschloss“ bekannten Gasthauses selbst gehört hat – und der
zweite Teil ebenfalls nur eine Erzählung, die jedoch inhaltlich den ersten Teil unterstützt. Es scheint uns logisch,
dass die Pächterin einer Schankstube in Mayerling viele Versionen des Dramas erfahren haben dürfte. Bei der Befragung durch Zerzawy gab sie jedoch nur zwei inhaltlich passende Geschichten zu Protokoll – wobei wir nicht sagen können, ob dies durch eine bewusste Fragestellung des Forschers geschah.
Kommen wir nun zu dem ebenfalls sehr ausführlichen, handschriftlichen Protokoll des 1880 geborenen k.u.k.
Rittmeisters und Malers Robert Baron von Doblhoff , der am 7. Juni 1960 in Wien verstarb. Seine Ausführungen untermauern im Kern die Aussage der Frau Vasak. Hier erstmals der Text in voller Länge:
„Robert Baron Doblhoff (gest. 7/6 1960 Wien)
Wien, den 30. August 1951.
Lieber, verehrter Oberstleutn. Dr. Zerzawy!
Sie baten mich Ihnen aufzuschreiben, was ich über den Kronprinz Rudolf und sein tragisches Ende in Erinnerung behalten habe, welcher Aufgabe ich mich hiermit, Ihnen zu gefallen, ferne unterziehe. Meine Zeilen sind
Äußerungen meines Vaters der damals, als sich diese historischen Ereignisse zutrugen in Wien in einem Kreise lebte, in dem er Gelegenheit zur richtigen Orientierung zu seiner Verfügung hatte. In den 80-er Jahren, als
Mary Vetsera nach ein Kind war, bewohnte sie mit ihrer Mutter, geborene Baltazzi, mehrerer Sommer eine
1517
Gruber gibt den Namen in seinem Buch „Die Schicksalstage von Mayerling“, Verlag Mlakar, Judenburg 1989 mit „Ernst
Kurzbauer“ wieder und hat den von ihm nur teilweise zitierten Text auch inhaltlich modifiziert.
1518
Handschriftlich – jedoch nicht von Frau Vasak, wie der Vergleich zur Unterschrift zeigt – ohne Zusätze. Schrift ist identisch
zum Rosensteiner-Protokoll.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Wohnung in dem Schloße Tribuswinkel1519 bei Baden, das dem jüngeren Bruder meines Vaters, Rudolf, gehörte. Anläßlich einer geographischen Ausstellung, in der auch Bilder und Gegenstände aus Ostasien waren,
welche mein Vater von seiner Reise nach Japan 1873-74 mitgebracht hatte. Als Mitglied der geogr. Gesellschaft, war er gebeten worden die Ausstellung zu eröffnen, Erzh. Rudolf zu führen und ihm Erklärungen zu
geben. Als ich erwachsen war, erzählte mir mein Vater öfters, dass der Kronprinz an ihn solch naive, ja dumme Fragen richtete, dass er sich sagte: „Wenn mein Sohn (ich war damals 2 Jahre alt) später einmal solche
Fragen stellen würde, wäre ich sehr unglücklich.“ Er machte auf ihn einen Eindruck von Intelligenz tief unter
dem Durchschnitt. Kaiser Franz Josef, der seine vaterliebe ganz auf die jüngste Tochter Valerie conzentrierte,
soll auch über diese mangelhafte Begabung seines einziSeite 2
gen Sohnes unglücklich gewesen sein, nicht nur über dessen haltungslose Lebensweise und Weigerung die ihm
aus dynastischen Gründen bestimmte Braut, Prinzessin Stefanie von Belgien, zu heiraten. Als Rudolf zu seiner
Verlobung nach Brüssel reiste, dies erzählte mir des Kaisers jüngerer Bruder Erzherzog Ludwig Victor beim
Frühstück auf der Terasse des Schlosses Klessheim (1903), und nach den Feierlichkeiten Abschied genommen
hatte, wollte Stefanie, seine Braut, ihn vor der Abfahrt seines Sonderzuges noch überraschen. Sie erschien unangemeldet mit ihrer Mutter, der Königin, einer geb. Erzherzogin von Österreich, am Bahnhof, ihm nochmals
Adieu zu sagen. Zur peinlichen Überraschung der beiden hohen Frauen erblickten sie hinter den Spiegelscheiben des Salonwagens, in dem Rudolf bereits Platz genommen hatte, auch dessen Maitresse, eine Wiener
Halbweltdame, die sich der Kronprinz zur Unterhaltung auf diese Reise mitgenommen hatte. Natürlich erfuhr
Franz Josef diesen Skandal und war empört über diese Taktlosigkeit seines Sohnes. Frau Schratt schilderte
mir die Gemütsverfassung des Kaisers, der die Befürchtung hatte, sein Sohn könne seinen Tod nicht erwarten,
da erfürchte er werde weiss Gott wie alt werden als er auf den Thron kommen würde. Die Zügellosigkeit im
Trinken und Rauchen (80 schwere ägyptische Zigaretten im Tag) wurde ihm von seinem Erzieher Graf Bombelles beigebracht, welcher, als entfernter Verwandter des Hauses Habsburg und Marineoffizier vom Erzherzog Karl Ludwig, Franz Josefs Bruder, empfohlen, es darauf anlegte Rudolf zugrunde zu richten, damit die
Linie Karl Ludwig zur Thronfolge komme, wie es ja später tatsächlich geschah (Quelle: Oberstleutnant von
Fritsche, der als unehel. Sohn des Herzogs von
Seite 3
Württemberg und junger Leutnant dem Kronprinzen als Vergnügungs-Adjutant bis zu dessen Tod zugeteilt
war). Er war es auch, der von Rudolf den Befehl erhalten hatte, der Wiener Ballettänzerin, mit der Rudolf die
letzte Nacht vor seinem Tod zugebracht hatte, ein Couvert vom 8000.- fl. Inhalt, das er in seiner Schreibtischlade finden würde, zu überbringen. Fritsche führte diesen Auftrag auch aus und erzählte mir dieses Detail
zwei Jahre vor seinem Tod. Die unerträgliche Ehe, in der Stefanie ihn seines Lebenswandels wegen ständig
mit Vorwürfen überhäufte, wollte Rudolf durch Scheidung los werden unter dem Vorwand keinen männlichen
Nachkommen zu haben und nicht wie es oft hieß, weil er die kleine Vetsera hätte heiraten wollen. Daran hat
vielleicht sie und ihre Kupplerin, Rudolfs morganatische Cousine Gfn Larisch-Wallersee, aber er gewiß niemals gedacht. Aus ersterwähntem Grund schrieb Rudolf hinter dem Rücken seines Vaters an den Papst Leo
1519
Schloss Tribuswinkel, Traiskirchen (heute im Gemeindebesitz). 1877 erwarb der Bruder des Befragten, Rudolf Baron von Doblhoff,
das Schloss Tribuswinkel. Zusätzlich zu seinen politischen Funktionen als Land- und Reichsratsabgeordneter wurde Doblhoff in Tribuswinkel
Gemeinderat und später Bürgermeister. Dieses Amt bekleidete er bis zum Ersten Weltkrieg.
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XIII. um Lösung seiner Ehe, welche dieser jedoch ablehnte. Einige Monate vor seinem Tod ließ Rudolf seinen
Spitzbart abrasieren und hatte zuletzt nur einen Schnurbart. Dies war die Folge einer Wette mit dem damals
als Wohngast im Leopoldinischen Trakt der Hofburg zu Besuch weilenden Prinzen von Wales (Edward VII.),
einem wüsten Lebemann und Spieler, dass derjenige, der zuerst von beiden bei einer Trinkerei unter den Tisch
fallen würde sich des Spitzbartes entledigen müsse. Rudolf war der erste voll betrunkene.
Mary Vetsera war Rudolf nur wenige Tage vor dem Ende auf der deutschen Botschaft vorgestellt worden. Seine Cousine Larisch, Protektionsnichte Kaiserin Elisabeths und bequeme Vermittlerin für Rudolf, dem sie natürlich
Seite 4
als Zukunftskaiser Liebkind sein wollte, führte ihm Mary, die bildhübsch, ehrgeizig und erst 17 Jahre alt war,
zu durch die eiserne Tür im Hofburgdurchgang beim Redoutensaal, die erst im vorigen Sommer zugemauert
wurde, von wo sie ein Kammerdiener ungesehen in Rudolfs Wohnung im Schweizerhof geleiten konnte. Wenige Tage nach der ersten Begegnung fuhr Rudolf zur Jagd nach Mayerling in seinem Kutschierwagen. Gräfin
Larisch scheint arrangiert zu haben, dass Mary von Rudolfs Fiaker Bratfisch ihm nachgeführt wurde, um ihm
eine angenehme Überraschung zu bereiten. Fritsche versicherte mir, dass Rudolf gar nicht daran dachte aus
dem Leben zu scheiden, sondern für die nächsten tage alles Mögliche vorgenommen hatte. In Mayerling verbarg Rudolf, vielleicht nicht so sehr über ihr Nachkommen erfreut, Mary in seinem Schlafzimmer, während er
unten im Speisezimmer mit Josef Hoyos und dem Herzog von Coburg, seinem Schwager, supierte und, wie jeden Abend, übermäßig viel trank. Mary´s Ausbleiben versetzte ihre Mutter in große Angst. Gfn. Larisch, in die
Enge getrieben, gestand wohin das Kind sich gegeben hatte, schob natürlich die Schuld auf den „Verführer“
Rudolf, was dieser gar nicht war, weil ihm das hübsche Mädchen ja zugeführt und geschickt worden war. Baronin Vetsera berief ihre Brüder Aristides und Henry Baltazzi, dieser Leutnant bei 9er Husaren und angeblich
vorgesehener Bräutigam für Mary, deren Onkel er auch war. Er war außer sich und erklärte den Kronprinzen zur Rede stellen zu wollen, was Mary´s Mutter und Aristides, Gatte einer Gräfin Stockau, besorgt um ihre
Stellung in der Gesellschaft, beide waren sehr snob, ihn auf keinen Fall zu tun beschworen, …iest durch Gräfin Larisch, deren Gewissen schwer Belastet war. Henry verließ jedoch die Familie und fuhr in seinem Fiaker
sofort nach Mayerling, wo er abends während der Trinkerei, wozu Bratfisch pfeifen und singen mußte, eintraf
und sich Eingang in das Speisezimmer erzwang. Er forderte die Herausgabe seiner Nichte um sie nachhause
mitzunehmen. Der Kronprinz, jähzornig und beschwipst,
Seite 5
leugnete zunächst Marys Anwesenheit in Mayerling. Es entwickelte sich ein heftiger Wortwechsel, da der
Hausherr den Eindringling hinausjagen wollte. Dieser ließ sich nicht einschüchtern (Quelle: Ein Mitglied der
Familie Dumba), worauf der Kronprinz einen Revolver aus der Tasche zog und auf Baltazzi, der vor der Tür
stand, durch die er eingetreten war, mehrer Schüsse abgab. Henry B. wurde getroffen, ergriff die Champagnerflasche auf dem Tisch und zerschmetterte in Notwehr die Schädeldecke Rudolfs. Mary hatte, allein im
Zimmer darüber, offenbar den Lärm des Streites vernommen und, in … Angst hinuntergeeilt um Frieden zu
stiften, trat sie im Augenblick als Rudolf schoss durch die Tür hinter Henry ein. Sie wurde tödlich getroffen.
Der damalige Haustischler von Mayerling mußte am folgenden Morgen die im Holz und der wand steckengebliebenen Revolverkugeln entfernen und die Löcher verkitten. Er war später in Baden, wo er dies erzählte. In
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einer Tramway Hotel Sacher-Bahnhof in Baden sprach ich später einmal mit einer Frau, die damals in Mayerling als Aufräumfrau bedienstet, das Speisezimmer in Ordnung bringen mußte. Sie erzählte mir, daß der
Fußboden voll Blut und sogar am Plafond Blutspritzer und Gehirnteilchen von dem tödlichen Hieb mit der
Champagnerflasche herrührend, ihr große Mühe bereiteten, um sie zum Verschwinden zu bringen. Henry
Baltazzi, sehr schwer verwundet und transportunfähig, blieb sechs Wochen in Mayerling, wo er auf Befehl des
Kaisers von Prof. Wiederhofer, der täglich aus Wien hinauskam,
Seite 6
behandelt wurde. Das war dazumal in Baden bekannt. Später, nach Jahren, wurde Henry Baltazzi, verheiratet
mit Baronin Scharschmid (er war nach der Mayerlingaffaire aus der Armee ausgetreten) Besitzer des Schlosses Leesdorf in Baden und dadurch nächster Nachbar meines Onkels in Tribuswinkel. Über sein Erlebnis in
Mayerling hat er nie gesprochen, denn auch er war jedenfalls unter Eid zum Schweigen genötigt worden, wie
alle Mitwisser, die tatsächlich ihren Eid bis zum Lebensende hielten. Die Selbstmordversion wurde als weniger anstößig erst einige tage nach dem Ereignis lanciert.
Am Vormittag nach der Schreckensnacht ging mein Vater zufällig in dem Augenblick durch die Hofburg über
den Franzensplatz (Burghof), als Graf Josef Hoyos vom Heldenplatz hereinfuhr und seinem Fiaker entstieg.
Er sah bleich und verstört aus, was meinen Vater veranlasste auf ihn zuzugehen, ihn zu begrüßen und zu fragen was ihm fehle. Noch war niemand vereidet worden und die Nachricht nicht nach Wien gedrungen. Er sagte sehr bewegt: „Es ist etwas Furchtbares passiert, der Kronprinz ist todt, in einer Rauferei erschlagen worden. Ich soll Sr. Majestät davon in Kenntnis setzen. Ich habe den Triester Schnellzug in baden gerade zurecht
erwischt, um ihn aufhalten zu lassen, um noch nach Wien zu kommen.“ Aus einem mir unbekannten Grunde
wurde zuerst Frau von Ferenzi, die Vorleserin der Kaiserin zu rat gezogen, in deren Wohnung zufällig Frau
Schratt zu einem Morgenbesuch anwesend war. Die beiden Damen begaben sich, sehr bestürzt, zur Kaiserin,
die eben frisiert wurde und brachten ihr die Nachricht, die Hoyos mitgeteilt hatte,
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irgendwie, möglichst schonend bei. Zuerst wie versteinert von dem unerwarteten Schreck benahm sich Elisabeth, wie mir Frau Schratt (1923) selbst erzählte, heroisch. Sie begab sich allein in das Arbeitszimmer Franz
Josephs, während die beiden Damen im Zimmer der Kaiserin zurückblieben, und brachte ihm selbst die Nachricht von dem Tod ihres Sohnes. Erst später brach sie dann unter dem Schlag seelisch zusammen. Sie wurde
im Verlaufe der folgenden Jahre immer mehrt Sonderling und menschenscheu. Der Maler Franz von Pausinger, Jagdgefährte und des Kronprinzen Reisewerks-Illustrator (seine zahlreichen Bilder dazu hängen jetzt in
der Bilder-Sammlung der Nationalbibliothek im neuen Trakt der Hofburg) wurde von Salzburg, seinem Domizil, berufen, um in der Hofkapelle eine Zeichnung des aufgebahrten Kronprinzen anzufertigen. Er war mit
meinem Vater befreundet und erzählte ihm, daß er Gelegenheit hatte den Leichnahm aus allernächster Nähe
zu betrachten und die Schädelverletzung, die mit Wachs überdeckt worden war, genau zu sehen. Es wäre unmöglich gewesen, daß sie, wie in der Selbstmordversion behauptet wurde, durch die Explosion in Folge eines
Wasserschusses in den Mund entstanden wäre. Sie war sichtlich eine totale Zertrümmerung der Schädeldecke
durch den Hieb mit einem breiten Gegenstand, wobei das Gesicht vom Augenbrauenbogen abwärts völlig unverletzt blieb. Ein Wasserschuss hätte vermutlich das ganze Gesicht zerrissen und nicht nur den oberen
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kopf. Es ist auch eine unerhörte Zumutung sich den Kronprinzen von Österreich vorstellen zu sollen, wie er
neben seiner nackten 17jährigen geliebten im Nachthemd auf dem Bettrand sitzt, sein Jagdgewehr (das übrigens wahrscheinlich gar nicht ins einem Zimmer aufbewahrt wurde, sondern beim Büchsenspanner, der es
doch zu betreuen und jeweils zu lasen hatte) zwischen den Knien, aus einer Flasche vom Waschtisch sorgfältig
Wasser in den Lauf gießend (ohne Trichter), einen Stoppel darauf setzt (woher hätte er im Schlafzimmer
gleich einen in den Lauf passenden Stoppel genommen) alles das um 8 h früh, bei tageslicht schon, um sich
dann überlegt den Lauf in den Mund zu stecken und loszudrücken. Hätte er vorher die arme kleine Verführte,
die bildhübsch neben ihm schlief, seelenruhig erschossen? Oder gar wenn sie noch wach war, wie hätte sich
der Vorgang abgespielt? Es wurde auch behauptet, die Türe, die sonst immer offen blieb, wäre versperrt gewesen und mußte gewaltsam geöffnet werden auf Coburgs Initiative, der erst in der Früh hinausgekommen
wäre. Dazu hätte er sein Palais in der Seilerstätte um 5 h früh bereits verlassen müssen, um um 8 h schon
draußen zu sein. Und Hoyos erwähnte, dass Coburg abends mit ihm schon draußen war. Es wurde auch behauptet Gf. Hans Wilczek wäre dabei gewesen, worüber ich nichts weiss. Jedenfalls war Wilczek beim Kaiser
nicht in Gnade, weil er als Dienstkämmerer der Kaiserin Eugenie diese anlässlich der Monarchen… in Salzburg bei Fürstenbrunn einen gefährlichen Steig benützen ließ und weil er dazu beigetragen hätte, daß der
Kronprinz sich zu viel unterhielt. Es soll das Grund gewesen sein, weshalb Wilczek das ersehnte Gold. Vlies
nicht bekam. Der Kaiser wollte ihn als „der Herr (Textverlust).
Ich hoffe hiermit Ihrem Wunsch genügend Stoff geliefert zu haben. Mit besten Empfehlungen Ihr ergebener
Robert Doblhoff.“
Zusatz auf eigenem Blatt
„Ergänzend zu meiner früheren Mitteilung an Herrn Reg. R. Dr. Zerzawy und auf sein Ersuchen , möchte ich
noch feststellen, was mir drei Jahre (1892) nach der Katastrophe von Mayerling, ich war damals circa 12
Jahre alt, durch die Erzählung des bekannten Jagdmalers Franz Ritter von Pausinger in dessen Atelier im
Künstlerhaus in Salzburg im Gespräch mit meinem ihm befreundeten Vater anlässlich eines Besuches, als
stummer Zuhörer zur Kenntnis kam. Pausinger erzählte, er sei nach dem Tod des Kronprinzen von Salzburg
nach Wien berufen worden um eine Zeichnung des Aufgebahrten anzufertigen. Die Wahl fiel auf ihn weil er
Rudolf nahe stand den er auf seinen Orient- und Jagdreisen als Illustrator begleitet hatte und auch sonst öfter
sein Jagdgast war. Er zeichnete das Portrait in der Burgkapelle, ehe Besucher zugelassen wurden. So war es
ihm möglich ganz nah an den offenen Sarg heranzutreten und sich davon zu überzeugen, dass die Schädeldecke des Toten in der Mitte zertrümmert war und die fehlenden Teile der von einem furchtbaren Hieb hervorgerufenen Wunde in kunstvoller Weise mit farbigem wach ergänzt und so nachmodelliert waren, daß dies in
ganz geringer Entfernung schon nicht mehr erkennbar war. Zudem war der Kopf durch eine weiße Binde umhüllt. Auch andere denen dies aufgefallen war, wurden durch die Erklärung abgespeist, der Kronprinz habe
sich durch einen sogenannten Wasserschuss aus seinem Jagdgewehr erschossen, dass durch die explosive
Wirkung dieses Schusses die Wunde entstanden wäre. Dagegen spricht schon allein der Umstand, dass Jagdherren ihre Waffen damals in der Regel nicht in ihrem Schlafzimmer herumstehen ließen, sondern nach gebrauch dem Büchsenspanner oder Jäger zur Reinigung und Betreuung übergaben.
Robert Doblhoff
14. Oktober 1952“
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Den Erinnerungen des zuletzt 72-jährigen Robert Doblhoffs, einem Adeligen aus der Region Baden, vermitteln zunächst den Eindruck von großer Detailkenntnis – nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er augenscheinlich u.a.
mit Katharina Schratt, Erzherzog Ludwig Victor, dem Adjutanten von Fritsche und einem Mitglied der Familie Dumba in Kontakt stand. Bei genauer Textanalyse scheinen sich jedoch Zweifel zu bestätigen, denn viele der Aussagen,
die der Baron gegenüber Professor Zerzawy tätigte, waren zu diesem Zeitpunkt bereits durch verschiedene Publikationen bekannt. Wenn wir davon ausgehen, dass Doblhoff diese Berichte kannte, so reduziert sich seine Aussage auf das
uns bereits bekannte Gerücht, es habe neben den beiden Toten auch einen Schwerverletzten in Mayerling gegeben –
Henry Baltazzi.
Im Nachlass des Oberst fanden wir ein weiteres Protokoll, das dieser mit dem Sohn Loscheks, Johann Loschek jun., aufgenommen hatte1520. Wir bringen Teile des insgesamt dreiseitigen Protokolls erstmals im Wortlaut:
„Mein Vater fuhr über Auftrag des Kronprinzen bereits am Tag vorher mit dem Badener Fiaker Rosensteiner
von Baden allein nach Mayerling. Dort kam m nächsten Tag eine Jagdgesellschaft an unter anderen Graf Josef Hoyos und Dom Miguel von Braganza. Diese stiegen im nahegelegenen Gäste-Gebäude ab. (:..) Gegen ½
7 h früh erschien der Kronprinz bei der Tür des Schlafzimmers und sagte: „Loschek gehen Sie hinaus und lassen sie einspannen.“ Mein Vater hörte kurz darauf 2 gedämpfte Schüsse und eilte zurück. Die Zimmertür war
versperrt. (...) Mein Vater, der stets die Wahrheit gesprochen und niemals gelogen hat, teilte mir ausdrücklich
mit, daß die wirkliche Todesursache des Kronprinzen, der sichtlich schon lange an schweren Gemütsdepressionen gelitten hatte, ein gemeinsamer Selbstmord mit Baroness Mary Vetsera gewesen ist. Beide sind durch
die Revolverschüsse durch die Hand des Kronprinzen gestorben.
Johann Loschek jun., Großwirtschaftsbesitzer, Auerhof, 27.08.1955”
Viele Neuigkeiten bergen die Erinnerungen des Loschek-Sohnes nicht; sie geben viel mehr in anderen Worten
das wieder, was der Vater bereits zwanzig Jahre zuvor in Anwesenheit des Sohnes berichtet hatte. Interessant scheint
uns jedoch der ausdrückliche Hinweis zu sein, dass Loschek die Veränderungen im Geisteszustand des Kronprinzen
bereits über einen längeren Zeitraum bemerkt hatte und auf diese den Doppelselbstmord begründet.
Nicht von Hermann Zerzawy stammt folgendes Protokoll. Es wurde am 1. August 1963 im Gendarmerieposten Alland mit dem damals 72-jährigen Rentner Karl Albrecht1521 aufgenommen. Warum dieses Protokoll erstellt wurde, ist nicht bekannt. Hier der Text erstmals in vollem Wortlaut:
„Mein Vater Thomas Albrecht war zur Zeit der Kronprinz-Rudolf Tragödie als Gendarmeriebeamter in Mayerling. Er machte seiner Zeit in dieser Gegend allein Dienst. Seine Kanzlei hatte er wie ich noch aus seinen
Erzählungen weiß, im Jagdschloß Mayerling, heute Karmelkloster. Im Jahre 1893 ist dann mein Vater ständig
mit der Familie nach Alland verzogen. Ich selbst war damals 2 Jahre alt. Nach dem 1. Weltkrieg, ich war damals 26 Jahre alt, hat mein Vater uns Kindern von der Mayerlinger Tragödie erzählt. Vorher hatte er niemals
darüber eine Erwähnung gemacht, weil er vom Kaiserhaus und von der Gendarmerie strengste Schweigepflicht auferlegt bekommen hat. Als aber das Kaiserhaus abgeschafft war, glaubte er uns doch nun etwas von
dieser Tragödie erzählen zu dürfen. Der Grund hierzu war der, weil man damals in den Zeitungen Berichte
veröffentlichte die mein Vater als falsch hinstellte. Unter anderen erzählte er und das folgende:
1520
Nachlass Zerzawy, Staatsarchiv Wien, B/962, Nr. 4
Albrecht, Karl, geb. am 03.10.1891 in Bad Vöslau, zur Zeit des Protokolls wohnhaft Alland Nr. 133.Das mit ihm verfasste
maschinenschriftliche Protokoll des Postens Alland trägt keine Zahl, d.h. es ist nicht offiziell im Postbuch vermerkt.
1521
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Ich habe an dem Tage, an dem sich die Tragödie in Mayerling abspielte, im Jagdschloß in Mayerling als
Gendarmeriebeamter Dienst versehen. An diesem tage mußte Kronprinz Rudolf zum Kaiser Franz Joseph.
Dieser hatte ihm über di Liebelei mit der Vetsera Vorwürfe gemacht und ihm Maßregeln erteilt die daraus
hinausgingen, daß er sofort mit der Vetsera schlußzumachen haben. Kronprinz Rudolf fuhr dann noch in den
späten Nachmittagsstunden mit seinem Leibfiaker Bratfisch zum Jagdschloß Mayerling. Kronprinz Rudolf hatte diese Fahrt deshalb unternommen, weil er mit der Vetsera Abschied feiern wollte. Vetsera hat Kronprinz
Rudolf zu diesem Zweck von Wien nach Mayerling mitgenommen. Die Vetsera und Kronprinz Rudolf feierten
dann im Schloß mit Champagner ihren Abschied. Um nicht gestört zu werden, mußte der Kammerdiener, der
Name fällt mir nicht mehr ein, vor dem Eingang zu den Zimmern so Art Wache halten. In der Nacht, die Uhrzeit weiß ich nicht, sind dann 3 Männer und zwar Herzog v. Bragancer, Fürst Lonay und noch jemand durch
ein Fenster in das Jagdschloß eingedrungen. Diese drei Männer wollten zum Kronprinz Rudolf vordringen.
Dabei wurden (sie) von dem Kammerdienergestellt. Dieser verweigerte ihnen das Betreten des Raumes, wo
sich Kronprinz Rudolf und Vetsera aufgehalten hat und erklärte nur über seine Leiche könne derartiges geschehen. Die drei Männer haben dann den Kammerdiener überwältigt, gefesselt und sind dann ohne weiteren
Widerstand in das Zimmer des Kronprinzen eingedrungen. In diesem Raum kam es dann anschließend zu einer wüsten Auseinandersetzung wobei auch Stühle in Trümmer gegangen sind. Kronprinz Rudolf.
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soll sich dabei sehr zur Wehr gesetzt haben. Bei dieser wüsten Schlägerei hat dann einer dieser drei Eindringlinge eine am Tisch gestandene Champagnerflasche erfasst und diese mit Wucht dem Kronprinzen Rudolf auf
den Kopf geschlagen. Dadurch ist Kronprinz Rudolf sofort zusammengebrochen. Einer dieser drei Männer
hat inzwischen Vetsera auf ein Bett geworfen und sie mit einer Pistole erschossen. Hernach sind die drei
Männer sofort fluchtartig davon. Es wurde dann die Badener Gendarmerie als Verstärkung herangezogen und
der ganze Block abgesperrt. In der selben Nacht wurde dann Vetsera tot in einem Fiaker nach Heiligenkreuz
gefahren und dort eingegraben. Kronprinz Rudolf wurde vorerst in Mayerling aufgebahrt und dann anschließend nach Wien überführt worden.
Dies sind noch die sicheren Erinnerungen, die ich behalten habe, wie sie mein Vater erzählt hat.
Bemerken möchte ich noch, daß die zerbrochenen Stühle der Tischlermeister Wolf aus Alland, welcher ebenfalls schon gestorben ist, repariert hat.
[die drei handschriftlichen Zeilen unter dem Text können nur teilweise entziffert werden]
Aufgenommen xxx
xxxxxxxxxxxxxxxx
Eugen xxxxx, xxx
Das Protokoll aus Alland, für dessen Entstehen wir keinen Grund kennen, bringt keine Neuigkeiten – außer,
dass es einen neuen Namen in die Runde wirft: den Grafen Lonay – gemeint sein dürfte der spätere Gatter der Kronprinzessin-Witwe Stephanie, Elemer Lonyay. Außer dieser Namensnennung zeigt auch diesers Protokoll, in dem ein
71-Jähriger von mündlichen Überlieferungen seines zum Zeitpunkt der Erzählung sicher auch schon betagten Vaters
berichtet, wie sich die Inhalte von Geschichten in zwei Generationen ändern können. Der Erzähler, Karl Albrecht –
oder bereits sein Vater Thomas Albrecht – hat angelesenes Halbwissen mit tatsächlich erlebtem Vermischt. Völlig
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
falsch ist die Ortangabe des Gendarmeriepostens, denn dieser befand sich nicht im exterritorialen Bereich des kronprinzlichen Schlosses, sondern im Meiereihof.
Zusammenfassend darf gesagt werden, dass die Protokolle, die Oberst Zerzawy in verdienstvolle Weise in den
50-er Jahren des 20. Jahrhunderts gesammelt hat, meist nur bereits bekannte Fakten unterstreichen und damit Berichte
von anderen Personen untermauern (Rosensteiner, Konhäuser) – oder aber die von Zerzawy bis ins hohe alter Vertretene These unterstreichen, es habe neben den beiden Toten auch einen Verletzten in Mayerling gegeben – den Doppelmörder Henry Baltazzi. Durch die persönliche Nähe des Forschers zu Robert Pachmann kann sich zudem der Verdacht aufdrängen, dass Fragetechnik und Kernaussage der Antworten bewusst manipuliert waren. Denn: Hätte Pachmann, der zu dieser Zeit seinem juristischen Kampf um das Erbe des Kronprinzen vorbereitete1522, einen besseren
Stand im Blick in der Öffentlichkeit gehabt, wenn sein möglicher Vater ein Mörder und Selbstmörder gewesen wäre?
1522
Siehe auch Altenberg, Hermann: „Um Recht und Nachfolge im Hause Habsburg“, Europa-Verlag, Wien 1966
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 8
Amtliches und Nichtamtliches
1.
Kommuniques und Obduktionsbefund
„…zur Annahme berechtigen, daß die That
in einem Zustande von Geistesverwirrung
geschehen ist.“
„Gutachten.“
Wien 02.02.1889
Fritz Judtmann geht davon aus, dass sich Kaiser Franz Josef, seine Ratgeber bei Hofe sowie die Regierung in
einer „sehr schwierigen Situation“ befanden, nachdem der Tod des Kronprinzen in Wien bekannt wurden: eine Vergiftung des Thronfolgers durch seine Geliebte – die von Hoyos kolportierte erste Todesmeldung – wollte man unter keinen Umständen bekannt geben. So wartete man auf genauere Mitteilungen der Hofkommission und des Arztes, Dr.
Widerhofer. Gegen Mittag erschien jedoch ein Extrablatt der „Wiener Zeitung1523“: „…Als sich die Jagdgäste heute
Morgens versammelten und Se. k. und k. Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz nicht erschien, wurden dieselben
nach sofortiger theilnahmsvoller Erkundigung durch die entsetzliche Nachricht von Schmerz überwältigt: daß der
durchlauchtigste Kronprinz in Folge eines Schlaganfalles Seine edle Seele ausgehaucht haben.1524“ Woher kam diese
erste Falschmeldung?
Judtmann fand die Antwort im amtlichen Zeremoniell-Protokoll des kaiserlichen Hofes unter dem Datum des
30.01.1889: Das Extrablatt der Wiener Zeitung „wurde vom Ministerpräsidenten Graf Taaffe im Einvernehmen mit
dem Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußeren Graf Kálnoky verfaßt.1525“ Eine Korrektur dieser Nachricht
durch das Obersthofmeisteramte erfolgte „mit Allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät des Kaisers“ am Folgetag
(31. Jänner 1889) im amtlichen Teil der „Wiener Zeitung“ sowie im amtlichen „Budapesti Közlöny“. Darin hieß es:
„Seine k. und k. Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz Erzherzog Rudolph ist gestern, den 30. d. Mts., zwischen 7
und 8 Uhr früh in seinem Jagdschlosse in Meyerling bei Baden, am Herzschlag plötzlich verschieden.1526“ Judtmann
geht davon aus, dass auch diese zweite Falschmeldung mit einer „medizinischen Abwandlung der SchlaganfallVersion“ von Taaffe redigiert wurde.
1523
„Wiener Zeitung“, älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt; erschien erstmals am 08.08.1703 als „Wienerisches Diarium“ und ab 01.01.1780 als „Wiener Zeitung“, seit 1810 Amtsblatt, ab 1812 offizielles Regierungsblatt, erscheint ab 1848 täglich
außer montags; ab 1857 Druck in der K.K. Hof- und Staatsdruckerei; Chefredakteur 1872-1900: Friedrich Uhl (geb.
am 14.05.1825 in Teschen [Česky Těšín, Tschechische Republik], gest. am 20.01.1906 in Mondsee/Oberösterreich, Erzähler,
Feuilletonist und Kritiker; Schwiegervater A. Strindbergs)
1524
„Wiener Abendpost“, Beilage zur „Wiener Zeitung“, Ausgabe 25, Mittwoch, 30. Jänner 1889 (abends), Titelseite
1525
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1526
„Wiener Zeitung“, Ausgabe 26, Donnerstag, 31. Jänner 1889, Titelseite, „Amtlicher Theil“
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Ritter von Loebenstein1527 als Zeremoniell-Protokollführer des Obersthofmeister-Amtes fährt fort: „Leider war
die im amtlichen Theile angegebene Todesursache nicht die richtige. (…) Die plötzlich auftauchenden Gerüchte fanden im Publikum eine schnelle Verbreitung und es blieb kein anderes Mittel, als mit Genehmigung Seiner Majestät,
im nichtamtlichen Theile der Wiener Zeitung vom 1. Februar 1889 den wahren Sachverhalt bekanntzugeben, wonach
Seine kaiserliche Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz seinem Leben durch einen Revolverschuß selbst ein Ende bereitete.1528“ Dort ist auf Seite zwei zu lesen: „Die gestern von uns über das niederschmetternde Ereigniß des Hinscheidens Sr. k. und k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Kronprinzen Erzherzogs Rudolph gebrachten Mittheilungen
stützten sich auf die ersten Wahrnehmungen, die von der nächsten Umgebung des erlauchten Dahingeschiedenen, unter dem betäubenden Eindrucke des schicksalsschweren Vorfalles hierher gelangten.
Von dieser Seite wurde, nachdem die Thüre des Schlafzimmers erbrochen worden war, bei dem Eintritte, Se. k.
und k. Hoheit entseelt im Bette gefunden. Auf diesem ersten Eindrucke beruhten die nach Wien gelangten Mittheilungen und die Annahme eines Schlaganfalls.
Von den Anwesenden wurde der k.k. Hofrath Professor Widerhofer in einem dringenden Telegramme nach
Mayerling berufen, wohin sich dieser mit dem nächsten Zuge alsbald begab. Hofrath Dr. Widerhofer constatirte bei
der sofort vorgenommenen Untersuchung, daß am Kopf des Verewigten eine beträchtliche Wunde mit ausgebreiteter
Loslösung der Schädeldecke und Schädelknochen vorhanden war, welche den sofortigen Tod zur Folge gehabt haben
mußte. Dieselbe wurde als Schusswunde constatirt und an der Seite des Bettes, in unmittelbarer Nähe der rechten
Hand, befand sich der entladene Revolver. Die Lage der Waffe ließ keinen Zweifel darüber, daß die Tödtung mit eigener Hand erfolgt ist.
(…) Wir können nicht verschweigen, daß manche Personen aus der nächsten Umgebung Sr. k. und k. Hoheit in
den letzten Wochen mehrfache Zeichen von krankhafter Nervenaufregung an höchstdemselben wahrgenommen, so
daß man die Ansicht festhalten muß, dieses schreckliche Ereignis sei ein Ausfluß momentaner Sinnesverwirrung gewesen.
Außerdem glauben wir anführen zu sollen, daß Se. k. und k. Hoheit seit einiger Zeit häufig über Kopfschmerz
klagte, den er selbst auf einem Sturz mit dem Pferde im letzten Herbste zurückführte. Dieser Unfall wurde aber auf
ausdrücklichen Befehl Sr. k. und k. Hoheit geheimgehalten.1529“
Eine offizielle Leichenbeschau, in deren Verlauf auch eine Obduktion1530 des Kronprinzen durchgeführt wurde,
erfolgte am Donnerstag, 31. Januar 1889, ab 20 Uhr in seinem Junggesellenappartement in der Hofburg1531. Der
Leichnam war hierfür auf einen Billardtisch gelegt worden, das medizinische Gerät hatte man aus dem pathologischanatomischen Institut der Universität Wien bringen lassen. Die beteiligten vier Ärzte wurden unter Eid genommen.
Doktor Widerhofer führte, assistiert von Franz von Aukenthaler, die Leichenöffnung durch, während die beiden Universitätsprofessor Dr. Hofmann und Dr. Kundrat die Befunde analysierten. Das Protokoll der Obduktion fertigten
1527
Loebenstein von Aigenhorst, Heinrich Ritter von; Zeremoniell-Protokollführer; ließ 1896 ein 3-geschossiges Haus in Hietzing
(Wien 13), Kupelwiesergasse 28, errichten, das 1918/1919 im Besitz des Wiener Fabrikanten Karl Strasser durch Adolf Loos
umgebaut wurde
1528
zitiert nach Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1529
„Wiener Zeitung“, Ausgabe 27, Freitag, 1. Februar 1889, Seite 2, „Nichtamtlicher Theil“
1530
Die Obduktion (= Leichenöffnung) ist eine innere Leichenschau zur Feststellung der Todesursache und zur Rekonstruktion
des Sterbevorgangs. Weitere Worte für Obduktion: Autopsie (griechisch), Sektion (lateinisch), Nekropsie (griechisch)
1531
Die Totenbeschau wurde am 30.03.1770 in Österreich eingeführt; die Totenbeschauer mussten von der medizinischen Fakultät
geprüft sein. Die Totenbeschau dient der Feststelklung des Todes, des Todeszeitpunktes, der Todesart und der Todesursache.
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Burghauptmann Kirschner und Regierungsrat Poliakovits1532 vom Obersthofmeisteramt. Judtmann geht davon aus,
dass Obduktion und Protokoll in den frühen Morgenstunden abgeschlossen waren, denn die „Wiener Montags-Revue“
meldete am 4. Februar 1889: „Donnerstag abends 8 Uhr begann die Section, welche bis 2 Uhr Morgens dauerte, obwohl sie sich nur auf den Kopf erstreckte, da keinerlei Veranlassung aus früheren Krankheiten (…) zu weiteren Nachforschungen vorhanden war und die äußerliche Untersuchung des Leichnams absolut keine anderweitigen Verletzungen oder Änderung ergab.1533“ Nach Angabe der Zeitung war auch Loschek bei der Untersuchung anwesend, was jedoch in keiner anderen Quelle Bestätigung findet. Zwei Tage später wurde eine Zusammenfassung des Obduktionsprotokolls veröffentlicht, die als offizielle Todesbescheinigung angesehen werden muss:
„Bei der mit Beobachtung der gesetzlichen Normen und von den hierzu gesetzlich berufenen medizinischen Fachmännern am 31. Jänner 1889 in der k.k. Hofburg zu Wien vorgenommenen Section der Leiche seiner
k. und k. Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Rudolph ist auf Grund des protokollarisch aufgenommenen
Sectionsbefundes ein mit der Unterschrift der funktionierenden Aerzte beglaubigtes Gutachten abgegeben worden, welches wörtlich lautet, wie folgt:
Gutachten.
1. Seine k. und k. Hoheit der durchlauchtigste Kronprinz ist zunächst an Zertrümmerung des Schädels
und der vorderen Hirnpartien gestorben.
2. Diese Zertrümmerung ist durch einen aus unmittelbarer Nähe gegen die rechte vordere Schläfegegend
abgefeuerten Schuß veranlasst worden.
3. Ein Schuß aus einem Revolver mittleren Kalibers war geeignet, die beschriebene Verletzung zu erzeugen.
4. Das Projectil wurde nicht vorgefunden, da es durch die über dem linken Ohre constatirte Ausschußöffnung ausgetreten war.
5. Es unterliegt keinem Zweifel, daß seine k. und k. Hoheit sich den Schuß selbst beigebracht hat und daß
der Tod augenblicklich eingetreten ist.
6. Die vorzeitige Verwachsung der Pfeil- und Kranznaht, die auffällige Tiefe der Schädelgrube und der
sogenannte fingerförmigen Eindrücke an der inneren Fläche der Schädelknochen, die deutliche Abflachung der
Hirnwindungen und die Erweiterung der Hirnkammer sind pathologische Befunde, welche erfahrungsgemäß
mit abnormen Geisteszuständen einherzugehen pflegen und daher zur Annahme berechtigen, daß die That in einem Zustande von Geistesverwirrung geschehen ist.
Hofrath Doctor E. Hofmann m.p., Professor der gerichtlichen Medicin.
Professor Doctor Hanns Kundrat m.p., Vorstand des pathologisch-anatomischen Institutes als Obducent.
Professor Doctor Hermann Widerhofer m.p., k.k. Leibarzt.
Vom Obersthofmeisteramte Sr. k. und k. Apostolischen Majestät.1534“
Wer waren jene Männer, die den Kronprinzen obduzierten? Wir stellen Sie kurz vor:
Hofrat Dr. Eduard Ritter von Hofmann1535, Arzt, seit 1869 Professor der gerichtlichen Medizin, 1873 Dekan
an der Universität Innsbruck, 1875 Professor in Wien, 1888 Präsident des Obersten Sanitätsrats; Leiter des Instituts für
1532
Poliakovits, Nikolaus, Wirklicher Regierungsrat im Obersthofmeisteramt, Gerichtsdolmetscher für die spanische Sprache
„Wiener Montags-Revue“, 04.02.1889
1534
„Wiener Zeitung“, Ausgabe 28, Samstag, 2. Februar 1889, Titelseite, „Amtlicher Theil“
1533
277
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gerichtliche Medizin an der Universität Wien; baute die Gerichtsmedizin als selbständige Wissenschaft aus und bereicherte sie um moderne Mikroskopie und Tierexperimente; Verdienste um die öffentliche Gesundheitspflege.
Professor Dr. Hanns Kundrat1536, Schüler von Carl Freiherr von Rokitansky1537, Morphobiologe; Studien:
„Selbstverdauungsprozesse der Magenschleimhaut“ (1877), „Arhinencephalie als typische Art von Missbildung“
(1882), „Porencephalie“ (1882) und „Lymphosarkomatose“; seit 1877 Professor für pathologische Anatomie, von
1879 bis 1880 als Nachfolger von Heschl Dekan der Medizinischen Fakultät der Karl-Franzenz-Universität Graz; von
1882 bis 1893 3. Ordinarius der pathologischen Anatomie (Vorstand des phatologisch-anatomischen Instituts).
Dr. Hermann Widerhofer1538, seit 1890 Freiherr von, Leibarzt des Kronprinzen und der Erzherzogin Marie
Valerie und später des Kaisers Franz Josef; Promotion am 22. Juli 1856 an der Universität Wien; Erster Universitätsprofessor für Kinderheilkunde, seit 1863 Direktor des St. Anna Kinderspitals, seit 1885 Professor für Kinderheilkunde. Widerhofer erhielt am 24. Februar 1889, also unmittelbar nach der Mayerling-Tragödie, den Orden II. Klasse der
Eisernen Krone verliehen. Aus dem Nachlass der Kaiserin Elisabeth geht eine Petschaft mit blauem Griff an den Mediziner.
Dr. Franz (von) Aukenthaler1539, Leib- und Hofarzt, Magister der Geburtshilfe, zugeteilt dem Hofstatt des
Kronprinzen Rudolf. Aukenthaler wohnte nach dem Tode des Kronprinzen ebenso wie dessen Witwe im „Blauen
Hof“ in Laxenburg, wo er auch ein Arbeitszimmer unterhielt1540.
Laut Zeremoniell-Protokoll wurde der Untersuchungsbefund nicht als mündlicher Vortrag, sondern schriftlich
und persönlich vom Ersten Oberhofmeister dem Kaiser übergeben und danach versiegelt im Obersthofmeisteramt aufbewahrt. Das Dokument wurde bisher im Original nicht veröffentlicht und nur als Auszug unter dem Titel „Gutachten“ publiziert, so dass Judtmann davon ausging, dass es verschollen ist1541. Wir können uns vorstellen, dass sehr bewusst auf die Veröffentlichung des Originaldokuments verzichtet und nur ein Extrakt bereitgestellt wurde. In der Regel sind klinische Obduktionsberichte nicht für die Allgemeinheit verfasst, beinhalten medizinische Fachausdrücke
und beschreiben detailliert ärztliches Vorgehen jenseits einer Grenze, die „normalen“ Lesern nicht zugemutet werden
kann. Auch heute gibt es – z.B. in Deutschland – nichtvertrauliche und vertrauliche Teile einer Todesbescheini1535
Ritter von Hofmann, Hofrat Dr. Eduard; geb. 27.01.1837 in Prag (Tschechische Republik), gest. 27.08.1897 in Abbazia (Opatija, Kroatien), beigesetzt Zentralfriedhof Wien, Gruppe 14 A Nr. 6 (Ehrengrab); Habilitation 1865 in gerichtlicher Medizin
1536
Kundrat, Professor Dr. Hanns; geb. 1845, gest. 1893; beigesetzt am 27.04.1893 auf dem Zentralfriedhof Gruppe 13 a, Hauptweg Reihe 2 Nr. 15. Kundrat starb nach langer Krankheit an einem Herzklappenfehler. Seine Frau Katharina Kundrat wurde am
15.04.1915 im gleichen Grab beigesetzt. Da das Paar keine Kinder hatte, erbte sein Neffe Dr. Rudolf Kundrat-Lüftenfeld, dessen
Töchter Dora Altmann und Luzy Dressler über keinen Nachlass verfügen, da dieser 1945 weitgehend vernichtet wurde.
1537
Rokitansky, Carl Freiherr von, geb. 19.02.1804 in Königgrätz (Hradec Králové/Tschechische Republik), gest. 23.07.1878 in
Wien; Mediziner, namhafter Pathologe.
1538
Widerhofer, Dr. Hermann; geb. 24.03.1832 im Haus Marktplatz 17 in der Marktgemeinde Weyer/Oberösterreich, gest.
28.07.1901 in Bad Ischl; beigesetzt in Wien, Friedhof Hietzing, Gruppe 16, Grab 30D. Im gleichen Grab wurde am 23.05.1930
Rosa Widerhofer beigesetzt. Eine Büste im Forum der Universität Wien erinnert an ihn.
1539
Aukenthaler (zeitgenössisch auch Auchenthaler oder Auckenthaler), Dr. Franz (für das von Judtmann genannt Adelsdiplom
haben wir keine Bestätigung gefunden), geb. am 21.02.1840 in Bozen, gest. am 17.10.1913 in Wien; Sohn eines reichen Kaufmanns aus altem Tiroler Geschlecht; Leib und Hofarzt. Die Familie stammt vom „Innerhof“ im Pfletschtal bei Gossensaß am
Brenner/Italien. Haupterbin war seine Nichte Melanie Dallago/Bozen, ein Nachlass ist nicht bekannt. Laut Holler befand sich bei
Aukenthalers Großneffen, Wilhelm Petzold/Bremen eine Fotografie der Tochter Rudolfs mit persönlicher Widmung und die so
genannte Vetsera-Decke, in die Leiche von Mary Vetsera auf der Fahrt von Mayerling nach Heiligenkreuz eingehüllt war.
1540
1891 sind ihm ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und eine Küche zugeteilt.
1541
Nach Mitteilung des Badener Mediziners Dr. Gerd Holler soll das das Original-Protokoll bis 1938 am Gerichtsmedizinischen
Institut in Wien aufbewahrt worden sein. Danach verliert sich die Spur. Dass der Wiener Polizeipräsident Fitzthum das Dokument
nach 1939 nach Berlin verbrachte, halten wir nach dessen Biographie-Forschung für falsch. Der Gerichtsmediziner Leopold Breitenecker (geb. am 14.04.1902 in Wien, gest. am 22.11.1981 in Wien) berichtete indes Freiherrn von Mitis, dass sich das Original
des Obduktionsbefundes noch im November 1947 im Gerichtsmedizinischen Institut Wien befunden habe. Der UniversitätsProfessor Dr. Breitenecker war ab 1959 Ordinarius und Vorstand des Instituts für gerichtliche Medizin Wien
278
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
gung1542. Informationen zu Harnmenge der Blase, dem Inhalt des Enddarmes, den identifizierbaren Teilen des Mageninhaltes, dem Gewicht des Herzens oder dem Zustand der Lunge sind tatsächlich nur für Mediziner und Kriminologen
von Interesse, nicht aber für den Normalbürger.
Über die Leichenöffnung des Kronprinzen berichten wir im Kapitel 10.4.
1542
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 3161-3179 (Heft 48)
279
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 9
Der „Kampf“ um das kirchliche Begräbnis
2.
Das Requiem
„Beim heutigen Seelenamte …
kein Cardinal anwesend.“
Friedrich Graf Revertera von Salandra
k.u.k. Botschafter beim Heiligen Stuhl
Rom, 05. Februar 1889
Professor Fritz Judtmann fand im Revertera-Archiv auf Schloss Helfenberg/Österreich einen Originaldruck jener Einladung in italienischer Sprache, mit der am 2. Februar 1889 der Rektor der österreichisch-deutschen Nationalkirche in Rom1543, Monsignore Franz Maria Doppelbauer1544, zum Requiem1545 für den Kronprinzen bat. Judtmann
veröffentlichte den Text erstmals in deutscher Sprache:
Der unterzeichnete Rektor der deutschen Anstalt der Santa Maria dell´Anima erlaubt sich Folgendes mitzuteilen: Nächsten Dienstag den 4. Februar1546 um 11 Uhr Vormittag wird in der deutschen Nationalkirche
all´Anima ein Trauergottesdienst für das Seelenheil Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit, des betrauerten Kronprinzen von Österreich-Ungarn Erzherzog Rudolf stattfinden1547.
1543
Nationalkirche der Deutschen und Österreicher, Santa Maria dell´Anima, Via Santa Maria dell'Anima 61-64/Piazza Navona,
Rom; geweiht am 13.09.1446. Kirchenportale von Andrea Sansovino. Der Glockenturm gehört zu den schönsten in Rom. In der
Kirche befindet sich das Grabmal von Papst Hadrian VI. (Pontifikat 1522-1523). Aus dem ehemaligen Pilger-Hospiz wurde im
Laufe der Geschichte ein Studienkolleg für Priester. Die Anima ist auch heute noch „Pfarrkirche“ der deutschsprachigen Katholiken in Rom.
1544
Doppelbauer, Franz v. Sales Maria, Bischof von Linz/Donau, geb. 21.01.1845 in Waizenkirchen / Oberösterreich, gest.
02.12.1908 in Linz/Donau. Von 1878 bis 1879 Vizerektor der Anima in Rom, am 27.02.1997 von Kaiser Franz Joseph zu deren
Rektor ernannt. 1878 Promotion zum Dr. juris canonici, 1879 zum Dr. juris utriusque. Gründet 1887 in Rom eine katechetische
Schule für die Kinder deutscher Katholiken. Am 17.12.1888 ernannte ihn Kaiser Franz Joseph zum Nachfolger des verstorbenen
Linzer Bischofs Ernest Maria Müllers (1822-1888). Am 10.03.1889 empfing Doppelbauer in der Kapelle der Anima zu Rom
durch Kardinal S. Vannutelli die Bischofsweihe. Die Inthronisation erfolgte am 05.05.1889 im noch unvollendeten "Neuen Dom"
zu Linz.
1545
Das Requiem ist die Totenmesse der katholischen Liturgie (auch Missa pro defunctis). Das Wort bezeichnet sowohl diese
Form der (römischen) Messe, die in ihrer heutigen musikalischen Form auf dem Konzil von Trient (1545) festgelegt wurde, als
auch musikalischeKompositionen, die mit ihr in Zusammenhang stehen. Die Bezeichnung stammt aus dem Introitus Requiem aeternam dona eis Domine (ewige Ruhe schenke ihnen, Herr). Der liturgische Ablauf eines Requiems ist der der gewöhnlichen katholischen Messe, nur sind Gloria und Credo wegen ihres Charakters, der nicht zum traurigen Anlass passt, weggelassen und das
Halleluja wird ersetzt durch den Tractusmit der Sequenz Dies irae.
1546
Der 4. Februar 1889 war ein Montag; dass jedoch Dienstag, der 5. Februar 1889 gemeint war, markierte Botschafter Revertera-Salandra auf dem Original.
1547
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
„Dem Requiem wohnten viele Staatswürdenträger bei, so der Erste Generaladjutant des Königs Umberto I., General-Lieutnant Graf Pasi, der Zeremonienmeister Graf Gianotti, der Zivil- und Militärstaat des Königs und andere
hohe Persönlichkeiten. Der Vatikan hingegen war nur durch den Sekretär der Kongregation für auswärtige geistliche
Angelegenheiten, Monsignore Agliardi1548, vertreten. Das gesamte Kardinalskollegium war ferngeblieben.1549“
Lange Zeit über wurde das Fernbleiben der Kurie als ein sehr bewusster Boykott dieser kirchlichen Zeremonie
für den Erzherzog Thronfolger angesehen. Als „Drahtzieher“ machte man Kardinal-Staatssekretär Mariano Marchese
Rampolla del Tindaro1550 aus. Diese Meinung teilt Judtmann nicht. Als Begründung zitiert er Schriftstücke, die Auskunft geben über den guten Kontakt zwischen dem Kardinal-Staatssekretär in Rom und dem Kaiser in Wien noch Wochen nach der Tragödie. Diese Textpassagen bringen wir hier in Judtmanns übersetzter Widergabe:
Rom, 1. März 1889
Seiner Ehrwürdigsten Eminenz dem Herrn Kardinal Rampolla
Herr Kardinal, die vielen Sympathiebezeugungen, von welchen in nach dem Tode des Kronprinzen Erzherzog Rudolf zu berichten hatte, haben dem tiefbetrübten Herzen des Kaisers, meines erhabenen Herrschers,
Trost gewährt.
Ich bin beauftragt, Eurer Ehrwürdigsten Eminenz die besondere Dankbarkeit seiner Majestät für die Anteilnahme bei diesem schmerzlichen Anlaß auszudrücken und gleichzeitig beehrte ich mich Eurer Eminenz die
Gefühle meiner ausgezeichneten Hochachtung und Wertschätzung von neuem zu bestätigen.
Der Botschafter Österreich-Ungarns beim Heiligen Stuhl
Revertera1551
sowie
Rom, 2. März 1889
Herrn Grf. Revertera
Botschafter Österreich-Ungarns beim H. Stuhl
Exzellenz,
Der von Eurer Exzellenz mit dem höflichen Brief von gestern ausgeführte Auftrag seiner Majestät, Ihres erhabenen Herrschers, hat mich mit größtem Dank erfüllt, weil ich dadurch den lebhaften Wunsch befriedigt sehe,
soweit es in meiner Macht stand, beizutragen, dem von tiefer Trauer über den Tod des Kronprinzen Erzherzog
Rudolf erfüllten Herzen Seiner Majestät einigen Trost zu bringen.
Ich erstatte daher Seiner Majestät lebhaften Dank und wünsche ihm sehr langes Leben zum Wohle seiner Untertanen und zum Ruhme und Gedeihen der k.k. Familie, während ich mit den Gefühlen der ausgezeichnetsten
Hochachtung mich beehrte zu verbleiben Eurer Exzellenz
Ergebenster Diener M. Kard. Rampolla1552
1548
Agliardi, Kardinal Antonio, Erzbischof von Cäsarea, ab April 1889 bis 18893 päpstlicher Gesandter in München, von 1893 bis
1896 als 72. apostolischer Nuntius in Wien akkreditiert
1549
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1550
Rampolla del Tindaro, Mariano Merchese, seit 1882 Titulatrbischof von Heraklea, Mitglied des Kardinalskollegium seit März
1887, Kardinalstaatssekretär seit 02.06.1887,, geb. 17.08.1843 in Polizii/Sizilien, gest. 16.12.1913 in Rom; nach seinem Scheitern
beim Konklav 1903 verlor Rampolla auch das Amt des Staatssekretärs und seine Karriere brach ab. Der dennoch immer wieder
als Nachfolger des gesundheitlich labilien Papstes Pius X. gehandelte Rampolla erlebte das Konklav von 1914 nicht mehr. Allerdings wurde sein enger Mitarbeiter im Staatssekretariat, Giacomo della Chiesa, als Benedikt XV. zum Papst gewählt, so dass seine
Politik posthum eine gewisse Anerkennung und Fortsetzung finden konnte.
1551
Archivo segreto Vaticano, übersetzt von und zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau,
Wien 1968
281
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Fritz Judtmann entwickelte vielmehr die These, dass der Papst – durch innen- wie außenpolitische Probleme1553
zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich stark geschwächt1554 – sich nicht in der Lage sah, die Kardinäle auf eine Teilnahme am Requiem zu verpflichten. Vom kanonischen Standpunkt aus konnte er dies auch nicht, denn bereits 1835 hatte
ein päpstliches Dekret festgelegt, dass „im Falle von Wahnsinn das kirchliche Begräbnis gewährt würde, jedoch ohne
Zeremonie1555“. Es liegt nahe zu folgern, dass die Kardinäle nach der Zustimmung zum kirchlichen Begräbnis dem
Dekret folgend einem zeremoniellen Requiem fern blieben.
Dass in Rom kein Kardinal am Requiem für den Kronprinzen teilnahm, wurde in den politischen Kreisen Wiens
zwar wahrgenommen, doch wurden dort die Ausmaße des Boykotts weitaus schwächer als man in der kaiserlichen
Vertretung im Vatikan eingeschätzte. Wie teilen Judtmanns Vermutung, dass der Kaiser zu keinem Zeitpunkt von diesem Affront informiert worden war, denn sonst hätte er sicher nicht zwei Wochen nach der Beisetzung dem KardinalStaatssekretär Rampolla seinen Dank für sein Verhalten ausgesprochen (siehe oben).
Rampollas Scheitern im Konklave nach dem Tode von Papst Leo XIII.1556 1903 ist – wie Judtmann bereits herausstellte – indes keine Folge seiner konservativen Haltung gegenüber einem Requiem für den Kronprinzen 1889.
Vielmehr ließ Kaiser Franz Joseph bei der Wahl des neuen Papstes aus wohl kalkulierter politischer Rache im dritten
Wahlgang durch den Krakauer Erzbischof, Kardinal Jan Puzyna de Kozielsko, eine Art Veto einlegen. Diese Exklusive – also das Ausschließungsrecht – nahmen die katholischen Monarchen seit de 17. Jahrhundert für sich in Anspruch,
obwohl der Eingriff weltlicher Macht in innerkirchlichen Angelegenheiten im Kardinalskollegium auf Ablehnung
stieß und dieses Veto im Kirchen- und Wahlrecht nicht verankert war. Das Veto des Kaisers war die Reaktion auf
Rampollas Österreichfeindliche Haltung in der Zeit der Wiedererstehung des italienischen Königreiches. Seinerzeit
hatte sich Papst Leo XIII. offensiv Frankreich und Spanien zugewandt, nachdem sich Österreich-Ungarn und das
Deutsche Reich 1882 im „Dreierbund“ mit Italien zusammengeschlossen hatten – wohl auf Bestreben Rampollas, dem
eigentlichen Gestalter der päpstlichen Außenpolitik. Franz Joseph stand dem Kurienkardinal zudem skeptisch gegenüber, da dieser Sympathien für slawische und italienische Minderheiten und die christlich-sozialen Parteien in Österreich und Ungarn hegte; zudem wurde ihm Nähe zur Freimaurerei und dem Modernismus nachgesagt.
Im siebten Wahlgang wurde am 04. August 1903 statt Rampolla der Erzbischof von Venedig, Kardinal Giuseppe Sarto1557, gewählt, der als Papst Pius X. den Stuhl Petri bestieg. Heute gilt die Vermutung, dass Rampolla auch ohne den Einspruch des Kaisers nicht gewählt worden wäre, denn die Kurie suchte nach dem Diplomatenpapst nun einen Seelsorgepapst. Dies hätte der politisch ambitionierte Rampolla sicher weder sein können noch wollen.
1552
Revertera-Archiv Helfenberg/Österreich, No. 90208 – vergleiche dazu Konzept des Schreibens im Archivo segreto Vaticano
ohne die Schlussfloskel „ergebenster Diener“ – , übersetzt von und zitiert bei Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag
Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1553
1871 besetzen italienische Regierungstruppen den Kirchenstaat und gliedern diesen in das italienische Königreich ein; der
König verlegte die Hauptstadt von Florenz nach Rom . Dem Papst verbleibt nach dem Garantiegesetz vom Mai 1871 als souveränes Gebiet nur der Lateran, die Sommerresidenz im Castell Gandolfo sowie das enge Gebiet des Vatikan, den er aus Prostest nicht
mehr verließ. Papst Leo XIII und sein Nachfolger Pius X. lehnen das neue Italien ab.
1554
Papst Leo XIII. überwand die gesundheitliche Schwäche und regierte noch bis 1903.
1555
Judtmann, Fritz: Mayerling ohne Mythos, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1556
Pecci, Vincenzo Giacchino, geb. 02.03.1810 in Carpineto Romano bei Agnagni, gest. 20.07.1903 im Vatican/Italien; seit
20.02.1878 als Papst Leo XIII. Kirchenoberhaupt
1557
Sarto, Giuseppe, geb. am 02.06.1835 in Riese bei Treviso/Italien, als Pius X. inthronisiert am 09.08.1903, gest. am 20.08.1914
in Rom; 1951 selig- und 1954 heilig gesprochen
282
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 9
Der „Kampf“ um das kirchliche Begräbnis
3.
Der Botschafter
„Es ist gewiß, dass der Revolver
von der jungen Dame mitgebracht wurde,
und dass diese zuerst starb. Man muß annehmen,
dass sie (...) den Tod bringenden Revolverschuß
gegen die eigene Schläfe richtete.“
Senator Constantino Graf Nigra
Wien, 14.02.1889
Fritz Judtmann erwähnt „der Vollständigkeit halber“ in seinem Buch „Mayerling ohne Mythos“ die Berichte
des italienischen Botschafters in Wien, des königlichen Senatoren Costantino Graf Nigra1558. Der Conte war von 1885
bis 1904 in Wien akkreditiert. Empfänger der Berichte war der italienische Ministerpräsident Francesco Crispi. Judtmann zitiert hierbei aus sieben Dokumenten, die der Washingtoner Mayerling-Forscher Wildon Lloyd am 30. Juni
1948 in Kopie aus dem italienischen Außenministerium erhielt1559. Judtmann vergab bei der Bearbeitung der Dokumente eigene Nummern, die wir den Inhalten voranstellen.
Telegramm 1, Wien 30. Januar 1889: Todesnachricht Herzschlag (VII, 32): Nigra teilt mit, er habe am 19.
Januar mit dem Kronprinzen diniert und ihn letztmalig in der Deutschen Botschaft gesehen. „Bei beiden Anlässen
schien Rudolf bei guter Gesundheit1560“, auch wenn die Konstitution des Kronprinzen nicht sehr robust war. „Die unmittelbare Todesursache sei – so sage man – ein Herzschlag gewesen.1561“
Telegramm 2, Wien 31. Januar 1889: Ergänzung zum 1. Telegramm (VII, 33): Am Folgetag ergänzt der
augenscheinlich gut informierte Botschafter seinen telegrafischen Bericht um Einzelheiten aus Mayerling (Auffinden
der Leichen, Berichterstattung durch Graf Hoyos, Entsendung der Kommission, Abtransport der Leiche).
Briefpost, Wien 01. Februar 1889: Übersendung „Wiener Zeitung“ (VII, 34): Nigra übersendet zusammen mit einem kurzen Anschreiben ein Exemplar der „Wiener Zeitung“ vom gleichen Tag mit der Meldung des
1558
Nigra, Costantino (Judtmann irrt in der Wiedergabe des Vornamens, wenn er Constantin schreibt) Graf, Schriftsteller, Komponist, Freimaurer, Volksliedforscher und Politiker, geb. 11.06.1828 in Castellnuovo/Italien, gest. 01.07.1907 in Rapallo/Italien
1559
Mayerling Lloyd-Mitis collection : a collection of newspaper clippings from rare and old issues, letters and documents, photographs, all related to the mysterious death of Crown Prince Rudolf of Austria in January 1889, and to the disappearance of Archduke Johann-Salvator of Tuscany in July 1890; also related to the number of impostors claiming to be the sons or daughters of
Rudolf or those impersonating the lost Archduke Johann-Salvator. Library of Congress, Washington D.C., Microfilm 1673
1560
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
1561
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Selbstmordes. Er weist darauf hin, dass „durch die verschiedenen Angaben der Todesursache, Schlaganfall, Herzschlag und Selbstmord, unter der Bevölkerung Unruhe und zahlreiche Gerüchte auftreten1562“ würden.
Briefpost, Wien 02. Februar 1889: Übersendung Gutachten aus Obduktionsbefund (VII, 35): Der Botschafter übersendet zusammen mit einem Handschreiben die „Wiener Zeitung“, die das Gutachten aus dem Obduktionsbericht veröffentlicht hat.
Briefpost, Wien 05. Februar 1889: Bericht über das Begräbnis des Kronprinzen (VII, 36): Am Abend
des Tages berichtet der Botschafter über das Begräbnis des Kronprinzen am Nachmittag, dem er als offizieller Vertreter des italienischen Königs in der Kapuzinerkirche teilgenommen hatte. Auch hier ist Nigra Gruft informiert, denn er
berichtet über den Kniefall des Kaisers in der Gruft, seine Tränen und das Verlassen der Gruft, in der der Botschafter
zu diesem Zeitpunkt sicher nicht anwesend war.
Telegramm, Wien 06. Februar 1889: Bericht über Gerüchte (VII, 371563): Nigra schreibt: „Am Mittwoch,
den 30. Januar d. J, wurde der Erzherzog in seinem Bette in Mayerling durch einen Schuß in die Schläfe getötet aufgefunden. Neben ihm auf demselben Bette lag der Leichnam des Fräulein Maria Wetschera, Tochter der Witwe Baronin
und des verstorbenen Barons Wetschera, eines ehemaligen österreichisch-ungarischen Konsularagenten in Ägypten,
ebenfalls mit durchbohrtem Schädel, eine 18jähgrige, in der Wiener Gesellschaft wegen ihrer Reize sehr bekannte
junge Dame. Es handelt sich offenbar um einen Doppel-Selbstmord.“ Nigra berichtet über das kennen lernen des
Kronprinzen und der Baroness sowie über den Abend in der deutschen Botschaft: „Ich selbst sprach (mit der Baronin)
und stand einige Zeit neben (der Baroness), nicht ohne zu bemerken, dass ihre Augen fortwährend auf den kaiserlichen Prinzen gerichtet waren. Man sagte mir, dass dieser zu ihr gesprochen habe. Ich habe es nicht gesehen. Aber es
scheint sicher, dass die junge Dame während der Soiree entweder mündlich oder, wie man auch sagt, durch ein tags
darauf übersandtes Billett den Prinzen benachrichtigte, dass sie ihn in Mayerling treffen wolle.1564“ Der Botschafter
berichtet am Ende seiner Ausführungen noch über den bereits publizierten Abschiedsbrief des Erzherzogs an Szögyenyi-Marich.
Briefpost, Wien 07. Februar 1889: Bericht über das Manifest „An meine Völker“ (VII, 38): Botschafter
Konsul Nigra übersendet zusammen mit einem Bericht das kaiserliche Manifest „An meine Völker“.
Nicht zitiert wird von Judtmann eine längere schriftliche Mitteilung Nigras an Crispi, die das Datum Wien,
14. Februar 1889 trägt. Wir wollen diese Darstellung hier in Auszügen wiedergeben. Der Botschafter berichtet sehr
gut informiert über das Verschwinden der Baroness in Wien, die Rolle der Gräfin Larisch, die Mitteilung der Todesnachricht durch die Kaiserin an Helene Vetsera und di Beisetzung in Heiligenkreuz. Interessant scheint uns zu sein,
dass Nigra in seinem Bericht ein neues Gerücht nach Rom in den Vordergrund stellt: „Es ist gewiß, dass der Revolver
von der jungen Dame mitgebracht wurde, und dass diese zuerst starb. Man muß annehmen, dass sie (...) den Tod bringenden Revolverschuß gegen die eigene Schläfe richtete“, worauf sich in Folge der Erzherzog selbst das Leben nahm,
um „die Ehre seines Hauses“ zu retten1565.
1562
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
Da der von Judtmann veröffentlichte Text – sicher eine Übertragung aus dem Wildon Lloyd Mikrofilm – von dem bei Crispi
veröffentlichten Text abweicht, bringen wir an dieser Stelle den Text nach „Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und
Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane & Co, Berlin 1912
1564
„Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane &
Co, Berlin 1912
1565
„Die Memoiren Francesco Crispi´s – Erinnerungen und Dokumente“, herausgegeben von W. Wichmann, Verlag F. Fontane &
Co, Berlin 1912
1563
285
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Judtmann selbst scheint dem Botschafter nicht übermäßig Glauben zu schenken, denn den zeitgenössischen
Berichten stellt er einen 18 Jahre später –anlässlich seines Todes – erschienenen Zeitungsartikel gegenüber. Im Nachruf des „Corriere della Sera“ vom 03. Juli 1907 wird Nigra zitiert, er sei am Nachmittag des 30. Januar 1889 zusammen mit Rudolf Leibarzt, Professor Widerhofer, nach Mayerling gefahren. Dort habe er gar den Kaiser getroffen, der
ihn von Schmerzen übermannt umarmte. In einem weiteren Bericht gab Nigra seinen Eindruck wieder, „daß Rudolf
einem Morde zum Opfer gefallen sei, und zwar müsse ihm – nach der Größe und der Art der Wunde zu urteilen, die
Schädeldecke durch eine Flasche zertrümmert worden sein.1566“
In diesem konkreten Fall stellt Fritz Judtmann selbst keine Recherche an, doch er zitiert erneut die Dokumente
des Wildon Lloyd-Mikrofilms. Der Amerikaner ließ sich von einem Verwandten des Grafen, dem Conte Francesco
Nigra in Rom, in den Nachkriegszeit den Zeitungsbericht bestätigen. Zudem berichtete der Conte an Lloyd, dass der
Botschafter „über die Leiche des Kronprinzen … keine besondere Erklärung“ abgegeben habe. Die Memoiren des
Botschafters seien auch von seinem Sohn nicht aus politischen Gründen nicht veröffentlicht worden, sondern weil das
Manuskript von Unbekannten vernichtet worden sei. Dass offizielle römische Stellen von einer Fahrt Nigras nach Mayerling nichts wussten, könne am privaten Charakter dieser Reise gelegen haben.
Wir schließen heute nicht aus, dass sich auch der italienische Botschafter in Wien, Senator Conte Nigra, unter
die Schaulustigen in Mayerling gemischt hat. So ist auch zu erklären, dass Nigra die Teilnehmer der Hofkommission
namentlich benennen konnte. Insgesamt schein Nigra gut informiert gewesen zu sein, denn seine Berichte nennen Details, die über den Presse-Klatsch hinausgehen. Dass er jedoch am 30. Jänner 1889 in Mayerling den Kaiser getroffen
habe, kann nicht stimmen. Der Monarch kam erst Monate später hinaus nach Mayerling. Offizielle Äußerungen des
Botschafters Nigra zu Mayerling sind indes in politischen Kreisen Wiens nicht bekannt1567.
1566
Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968
freundliche Mitteilung von Dott. Ssa Carla Babini im Auftrag des italienischen Botschafters, Exzellenz Raffaele Berlenghi,
Wien, 10.05.2005
1567
286
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 10
Vor und hinter den Kulissen
1.
Mord oder Selbstmord?
„Contra factum
non valet argumentum“
Pater Professor Dr.
Augustinus Kurt Fenz O.Cist
Heiligenkreuz, 03.05.2005
Mord oder Selbstmord? Der Heiligenkreuzer Stiftskämmerer Pater Alberik Wilfinger O.Cist. scheint hierüber
gut informiert gewesen zu sein. Er äußerte sich jedoch offiziell sein Leben lang nicht über die Ereignisse – man hatte
sein Schweigen mit einer hohen kirchlichen oder weltlichen Auszeichnung erkauft1568. Doch was war es nun wirklich,
was sich in Mayerling am 30. Jänner 1889 abgespielt hatte – war es Tötung auf Verlangen, es Selbsttötung, war es gar
ein Doppelmord?
1568
Pater Dr. Augustinus Kurt Fenz O.Cist in „Die Geschichte von Sittendorf“. Auf unsere Anfrage, ob es den Tatsachen entspräche, dass zumindest von einem Heiligenkreuzer Pater das Schweigen erkauft wurde, antwortete Pater Augustinus: „Contra factum
non valet argumentum“; Heiligenkreuz, 03.05.2005
287
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 10
Vor und hinter den Kulissen
2.
Die Geschichte der Kapuzinergruft
„SILENTIVM“
Sinnspruch über einem
Abgang zur Kapuzinergruft
Wien
Zwischen 1633 und 1989 fanden insgesamt 145 Habsburger – darunter zwölf Kaiser und 17 Kaiserinnen (Kaiser Maximilian von Mexiko und Maria Louise, Kaiserin der Franzosen mitgerechnet) – sowie eine „Bürgerliche“
(Gräfin Karoline Fuchs-Mollard) ihre letzte Ruhestätte in der so genannten „Kaisergruft“ oder „Kapuzinergruft“ am
Neuen Markt 2 in Wien. Der Besucher kann heute 94, teilweise äußerst kunstvoll gestaltete Sarkophage bestaunen. 36
weitere Särge sind in den Nischen A, B, C und D der „Ferdinandsgruft“ eingemauert, wobei ein Sarg die Leichen einer Mutter mit ihrem Kind enthält. Hinzu kommt eine Aschenurne1569 (Nische D) sowie fünf Herzbecher (drei ohne
Sarg1570, zwei mit Sarg1571). Traditionell – und seit 1844 mit kaiserlicher Genehmigung – wurden vom heute nicht
mehr existierenden Gruftaltar aus gesehen Kaiser und Prinzen auf der Evangelienseite bestattet, die weiblichen Mitglieder des Erzhauses auf der Epistelseite. Im Zweiten Weltkrieg durch Bombensplitter im März und April des Jahres
1945 im Bereich der Fenster und Dächer schwer beschädigt, konnte die Anlage nur langsam wieder hergerichtet werden. Heute zählt die „Kaisergruft“ mit über 200.000 Besuchern pro Jahr zu einem der meist besichtigten touristischen
Zielen Wiens.
Die Geschichte der „Kapuzinergruft“ gleicht über 400 Jahren lang der Chronik einer ständigen Baustelle. 1617
stiftete Kaiserin Anna1572, die Gemahlin Kaiser Matthias1573, ein Kloster des Kapuzinerordens1574 am damaligen
Mehlmarkt, dem heutigen Neuen Mark in der Wiener Innenstadt. Sie verfügte testamentarisch, dort eine Grablege für
sich und ihren Gatten schaffen zu lassen. Die Grundsteinlegung erfolgte am 8. September 1622 – vier Jahre nach dem
1569
Erzherzog Leopold Maria Alphons, gest. 1958
Kaiserin Claudia Felicitas, gest. 1667 (Sarg in der Dominikanerkirche), Kaiserin Amalia Wilhelmine, geb. 1673, gest. 1742
(Sarg im Salesianerinnen-Kloster) und Königin Maria Anna von Portugal, geb 1683, gest. 1754 (Sarg in der Kirche der Theresianerinnen in Lissabon)
1571
Karl Joseph von Lothringen, Bischof von Osnabrück und Fürsterzbischof von Trier, gest. 1715 (Herzurne auf dem Sarg in der
Neuen Gruft, Intestina in der Toskanagruft) und Henriette von Nassau-Weilburg, gest. 1829 (Herzurne auf dem Sarg in der Neuen
Gruft, Intestina in der Toskanagruft)
1572
Kaiserin Anna, geb.04.10.1585, gest15.12.1618
1573
Kaiser Matthias, geb. 14.02.1557, gest. 20.03.1619
1574
Der Kapuzinerorden ist eine Reformbewegung innerhalb des Ordens der Mindener Brüder (Orden des hl. Franz von Assisi)
und wurde als solcher 1528 kirchlich anerkannt. Zunächst auf Italien beschränkt, fanden ab 1574 auch Klostergründungen außerhalb des Landes statt, wie etwa in Innsbruck (1593). Im Jahre 1600 kam es zu Gründungen in Prag, Graz und Wien (Kloster in St.
Ulrich am Plätzel bis 1815).
1570
288
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Tod der Kaiserin. 1633 war die Gruft1575 so weit hergerichtet, dass die sterblichen Überreste von Anna und Matthias –
ihre Bleisärge und die vier Urnen1576 mit Herz sowie inneren Organe standen bis dahin in der Kirche des Königinnenklosters der heiligen Clara in der Dorotheergasse – mit großem Pomp dorthin überführt werden konnten.
Kaiser Ferdinand III. legte mit dem Entschluss zur Erweiterung der „Gründergruft“ den Grundstein für das
habsburgische Erbbegräbnis bei den Kapuzinern. Nach dem Regierungsantritt seines Nachfolgers Leopold I. im Jahre
1657 wurde mit dem Ausbau der „Leopoldsgruft1577“ begonnen, die direkt unter dem Hauptschiff der Kirche liegt1578.
1701 wurde die Anlage ein weiteres Mal in Richtung Westen bis in die heutige „Karlsgruft“ hinein erweitert. Bei Restaurierungsarbeiten wurden 1960 neben dem historischen, noch heute erhaltenen Gruftabgang in die acht Meter starke
Fundamente der Kirche zwei Mal sechs Nischen (Arcosolien) eingebaut. In ihnen ruhen die Überreste von zwölf Kindern. Ihre ehemals in der Gründer- bzw. Leopoldsgruft aufgestellten Särge waren bereits im 19. Jahrhundert in einem
so schlechten Zustand, dass man sie ungeöffnet in einheitliche Übersärge stellte. Sie sind jedoch weder beschriftet
noch ist dokumentiert, welches Kind in welchem Sarg liegt1579.
Die „Karlsgruft“ ist als Fortsetzung der „Leopoldsgruft“ angelegt und wurde unter Kaiser Joseph I. (1710) und
unter Kaiser Karl VI. (1720) von Lukas von Hildebrandt erbaut – erkennbar an den Werkstattzeichen des Künstlers,
den Nabelscheiben, an den Konsolenträgern des Gewölbes. Man betritt sie durch den steilen Abgang vom Kloster als
erste Gruft der Anlage. Dort stehen insgesamt acht Prunksarkophage. Geographisch betrachtet liegt sie unter dem
Presbyterium und dem Chorraum1580.
Im Jahre 1717 wurde in der Gruft ein Altar errichtet. Aus diesem Grunde wurde die Anlage täglich für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, bis Reformkaiser Joseph II. 1787 verfügte, „kein Mensch ist mehr hinabzulassen1581“
– er ließ die Gruft schließen, die Abgänge vermauern und den Altar herausnehmen1582. Grund: Vandalismus und Diebstähle häuften sich. Hinzu kam seine generelle Reform des Bestattungswesens, in der die Auflassung aller Friedhöfe
innerhalb des heutigen Gürtels und das Verbot der Gruftbestattung fielen. Bereits sein Nachfolger, Leopold II., ließ
jedoch auf Bitten der Kapuziner die Gruft wieder öffnen und die Chronik verzeichnete zwischen 10 und 50 Besucher
am Tag. Auch Kaiserin Maria Theresia besuchte die Gruft – zeitweise sogar täglich. Um ihr den Ab- und Aufstieg zu
erleichtern, wurde 1778 hinter dem Klosterchor ein Aufzug eingebaut1583.
Am 25. April 1753 wurde unter dem Sakristeigarten der Bau des Mausoleum für Kaiserin Maria Theresia und
ihren Mann, Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen, begonnen – die „Maria Theresien-Gruft“. Der Raum und der
prachtvolle Doppelsarkophag wurden von Maria Theresia und Kaiser Franz I. Stephan selbst entworfen – hier wird der
1575
Die niedrige, schmuck- und fensterlose „Gründergruft“ bzw. „Matthias-„ oder auch „Engelsgruft“ befindet sich unter der
früheren Kaiserkapelle der Klosterkirche im Südwesten der Anlage.
1576
Die Urnen wurden nach Aufhebung des Klosters durch Josef II. in nach St. Stephan und St. Augustin gebracht.
1577
In der „Leopoldsgruft“ befinden sich 16 Sarkophage, 2 Herzurnen sowie die 12 Kindersärge in den Kolumbarien.
1578
Bereits der Sarg des 1657 verstorbenen Ferdinand III. musste in der Gruft quer auf die anderen Särge gestellt werden, da der
Platz zu klein geworden war. In den Jahren zuvor hatte Ferdinand die Särge von sieben Angehörigen in die Stiftergruft schaffen
lassen.
1579
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1580
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1581
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1582
Bereits 1720 ließ Kaiser Karl VI. schmiedeeiserne Gitter anfertigen, um die Särge vor Beschädigung und Beraubung zu schützen. Erst 1909 wurden die Gitter wieder entfernt.
1583
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
289
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Zweck der Gruft, nämlich die Aufnahme der Särge, baulich zur Verherrlichung der Verstorbenen überhöht. Um den
elterlichen Sarkophag reihen sich die Särge ihrer Kinder. Ingesamt fanden in der Maria Theresien Gruft 16 Personen
ihre letzte Ruhestätte. Als einzige Nicht-Habsburgerin ist die Gräfin Karoline Fuchs-Mollard, Erzieherin der Kaiserin,
dort bestattet1584. Die kupferne Kuppel der Gruft erhebt sich bis in den zweiten Stock des Klosters und lässt Tageslicht
auf das Grabmal fallen.
1824 entschloss sich Kaiser Franz II. (I.) zu einer neuerlichen Erweiterung der kaiserlichen Begräbnisstätte, da
weder für ihn noch für seine Nachkommen in der Gruft Platz vorhanden war1585. Der Kaiser gab dem Hofarchitekten
Johann Aman den Auftrag, im rechten Winkel zur Maria Theresien Gruft eine neue Grabkammer anzulegen: die achteckige, im Stil des Biedermeier gehaltene „Franzensgruft“. Hier ruhen Kaiser Franz II. (I.) und seine vier Gemahlinnen1586. Auch an dieser Stelle kann gedämpftes Tageslicht in die Anlage einfallen.
Nördlich schließt an die „Franzensgruft“ die kühl wirkende „Ferdinandsgruft“ an. Ihr Bau erfolgte im Auftrag
Kaiser Ferdinands I. von 1840 bis 1842 gleichzeitig mit dem Neubau des baufällig gewordenen Klosters. Für die Erweiterung wurden die zwei Schlusswände der „Franzensgruft“ durchbrochen. Im Gegensatz zu früher sind die angelegten Kolumbariennischen heute zugemauert, nur vier Marmortafeln verraten die Namen der 36 Habsburger, die in
einer Umbettungsaktion 1960 dort bestattet wurden, um die Platznot in der „Toskanagruft“ zu mildern. In der Gruft
selbst sind Kaiser Ferdinand I. und seine Gemahlin bestattet1587.
Die 21 Meter lange und 5 Meter breite „Toskanergruft“ Gruft entstand gleichzeitig mit der „Ferdinandsgruft“
durch den Hofarchitekten Johann Höhne und ist von ihr durch einen Torbogen getrennt. Ihren Namen erhielt sie nach
der von Kaiser Franz I. Stephan begründeten Nebenlinie, dem Haus Habsburg-Toskana. Ursprünglich glich die Gruft
einem Sargdepot mit nahezu fünfzig Särgen. Heute beherbergt sie durch den Zubau der „Neuen Gruft“ und die Umbettung von 37 Toten in die Wandnischen nur noch 14 schlichte, aus Kupfer oder Gelbguss gearbeitete Sarkophage.
Anlässlich seines 60. Regierungsjubiläums hatte Kaiser Franz Joseph 1908 den Auftrag gegeben, eine Kapelle und ein Mausoleum für sich sowie seine verstorbene Frau, Kaiserin Elisabeth, und den toten Kronprinzen Rudolf zu
errichten. Hierzu mussten weitere Kellerräume des Klosters in den Bau einbezogen werden1588. Die sezessionistisch
ausgestattete Gruft – seit 1909 elektrifiziert – bot ursprünglich Platz für vier Särge – die 1867 während einer Ungarnreise verstorbene Tochter des Kaiserpaares, Sophie Friederike, war ebenfalls dort bestattet, doch wurde ihr Sarg 1960
in eine Nische der Ferdinandsgruft umgestellt (78 B)1589. Ursprünglich standen die Särge auf einer Ebene, doch wurde
später ein Sockel für den Sarg Kaiser Franz Josephs eingefügt.
Nach Fertigstellung wurden die ursprünglich in der „Ferdinandsgruft“ aufgestellten Särge von Elisabeth und
Rudolf in die „Franz-Josephs-Gruft“ überführt sowie nach fast 150 Jahren wieder ein Altar errichtet. Die neue Gruftkapelle beherbergt heute eine Gedenkbüste Kaiser Karls I. und den Sarg seiner 1989 verstorbenen Gattin, Kaiserin Zita. Die bronzene Madonnenstatue widmeten die ungarischen Frauen 1899 dem Gedenken an Kaiserin Elisabeth. Ursprünglich war das Denkmal an der Nordwand der „Ferdinandsgruft“ aufgestellt.
1584
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1585
Zu dieser Zeit bestanden auch Pläne, aus Platzmangel die Grablege der Habsburger Familie in die Krypta von St. Augustin zu
verlegen – zudem schien die Gemeinschaft der Kapuzinerpatres vom Aussterben bedroht zu sein.
1586
ursprünglich waren in der „Franzensgruft“ elf Särge aufgestellt.
1587
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1588
Der Auftrag wurde von dem kroatischen Hofarchitekten Cajo Perisic ausgeführt.
290
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Zur Entlastung der engen Gruftanlage, zur Schaffung eines klimatisch günstigen Raumes und zur besseren Erhaltung der Särge wurde 1960 mit dem Bau der 280 Quadratmeter großen, 1962 von Kardinal König geweihten „Neuen Gruft“1590 unter dem Klostergarten begonnen. Sie bietet Raum für 26 Särge – an der Westseite die geistlichen Würdenträger des Hauses Habsburg, an der Ostseite die Eltern und Verwandten von Kaiser Franz Joseph sowie zwischen
den Zugängen der Ferdinands- und Franz-Josephs-Gruft der Sarkophag von Maria Louise, der zweiten Gemahlin Napoleons und Mutter des Herzogs von Reichstadt. Die unbearbeiteten Betonwände sollen den Eindruck eines ausgeschachteten Grabes vermitteln. Seit dem 25. Juni 1986 findet sich an der Südwand eine Tafel „zum Gedenken an die
ersten Opfer des Weltkrieges 1914-1918“, den in der Gruft des Schlosses Artstetten beigesetzten Erzherzog Franz
Ferdinand von Österreich-Este und seine Gattin Sophie Herzogin von Hohenberg.
Eine weitere Vergrößerung der Anlage wurde trotz vorangeschrittener Planung aus Kostengründen nicht
durchgeführt. Auch der von Oberbaurat Otto Wagner geplante Umbau des Klosters und der Gruft zu einem Denkmal
für Kaiserin Elisabeth im Stil der Sezession und des Jugendstils aus dem Jahre 1906 wurde nicht ausgeführt – wie viele andere Pläne des Architekten1591.
Österreichs letzter Kaiser, Karl I., verstarb am 1. April 1922 mit 35 Jahren in seinem Exil in Fuchal auf Madeira. Er wurde in der Wallfahrtskirche Nossa Senhora do Monte beigesetzt. In Zusammenhang mit dem von der
„Kaiser Karl Gebetsliga für den Völkerfrieden“ betriebenen und 2003 abgeschlossenen Seligsprechungsverfahren
wurde am 1. April 1972 die kirchlich vorgeschriebene Öffnung des Sarges vollzogen. Seit 1974 befindet sich das Herz
Kaiser Karls I. in der Lorettokapelle im schweizerischen Kloster Muri. Dort wurde 1971 für die Angehörigen des
Hauses Habsburg-Lothringen eine neue Familiengruft errichtet. An Karl I. – die Überführung des Leichnams von Madeira nach Wien ist seit langer Zeit im Gespräch – erinnert eine Gedenkbüste in der Gruftkapelle.
Die vorletzte Beisetzung in der Kapuzinergruft erfolgte 1958, als ohne Feierlichkeiten die Urne mit der Asche
des in den USA verstorbenen Erzherzogs Leopold Maria Alfons in Nische D beigesetzt wurde. Um 15 Uhr – in der
Todesstunde ihres Gemahls Karl I. – fand am 1. April 1989 die Beisetzung der am 14. März 1989 mit 96 Jahren im
Johannesstift in Zizers in der Schweiz verstorbenen Prinzessin Zita von Bourbon-Parma, der letzten österreichischen
Kaiserin und ungarischen Königin, statt1592. Auf eigenem Wunsch war dem Leichnam das Herz entnommen worden
und neben dem des Kaisers in der Lorettokapelle des Klosters Muri in der Schweiz bestattet. Über einige Monate
stand zunächst nur der schlichte Holzsarg in der Gruft, ehe dieser in einen schmucklosen Kupfersarkophag gestellt
wurde. Die feierliche Beisetzung der letzten österreichischen Kaiserin ist bislang die letzte in der über 400-jährigen
Geschichte der „Kaisergruft“.
Schon frühe Aufzeichnungen über die Gruft bei den Kapuzinern belegen, dass die dort eingelagerten Särge
stets Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen ausgesetzt waren und sehr darunter litten. Eine erste Restaurierungskampagne erfolgte in den Jahren 1852/53. 1956 wurde die "Gesellschaft zur Rettung der Kapuzinergruft" ins Leben
gerufen, um die Öffentlichkeit über den gefährdeten Zustand der Gruft zu informieren und Mittel für eine Restaurierung aufzubringen und erste Sanierungsarbeiten einzuleiten. Bereits 1965 wurden diese Restaurierungsarbeiten an den
1589
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1590
„Neue Gruft“ oder „Schwanzergruft“
1591
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1592
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
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Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Särgen zu einer festen Einrichtung, für die auch im südlichen Teil der „Toskanagruft“ eine eigene Werkstatt geschaffen wurde1593.
Im September 1997 wurde auf Grund der fortschreitenden Zerstörung der Särge diskutiert, die „Kaisergruft“ –
„ein nationales Denkmal, eine historische Stelle der Besinnung, sowie ein bedeutender Fremdenverkehrsmagnet1594“ –
für die Öffentlichkeit zu sperren. Immerhin besuchen rund 200.000 Gäste jährlich die Gruft – „deren Atemluft sowie
nasse Kleidung setzten den Exponaten zu.1595“ Wiens ehemaliger Bürgermeister, Helmut Zilk, prophezeite, dass aber
auch dann innerhalb von maximal 20 Jahren die Zinnsärge zerstört wären und suchte nach Sponsoren, die eine nötige
Klimatisierung der Räume finanzieren würden. Kosten: 40 Millionen Schilling (rund 2,9 Millionen Euro) – ohne auch
nur einen angegriffenen Sarkophag restauriert zu haben.
2003 wurden die Sanierungsarbeiten beendet – so die Installation der Klimaanlage, die bereits nach die Wochen die Luftfeuchtigkeit in dem Gewölbe von bis zu 90 Prozent auf rund 40 Prozent senken konnte und die Temperatur 17 Grad im Winter und rund 19 Grad im Sommer hält. Neben einer frischen Wandausmalung, der Neuaufstellung
in der Toskanagruft und der Installation einer neuen Effekt-Beleuchtungsanlage wurden auch Überwachungskameras
und Bewegungsmelder eingebaut, um Vandalismus einzudämmen. Am 15. Oktober 2003 wurden rechts des Kirchenportals1596 der neue Eingangsbereich mit Gruppen- und Einzelgarderobe, einem Shop, einer Toiletten- und Liftanlage
eröffnet, so dass die Besucher „auf einen historischen Rundgang schickt (werden), der in der Leopoldsgruft beginnt
und in der Gruftkapelle endet.1597“ Insgesamt kostet die Sanierung inklusive der aufwendigen technischen Einrichtung
in den neuen, modernen und ebenerdig zur Gruft gelegenen Metallrestaurationswerkstätten für die Restauratoren und
das Verlegen von fast 40 Kilometern Kabel für Licht-, Kamera- und Überwachungsanlage mehr als 1997 gedacht nämlich rund 3,7 Millionen Euro, die zu Teilen durch Fördergelder der Stadt und des Denkmalamtes aufgebracht wurden.
Parallel zu den Arbeiten „unter Tage“ plant die Stadt Wien seit Beginn des 21. Jahrhunderts, den Platz vor der
Kapuzinerkirche als Fußgängerzone weitgehend autofrei zu gestalten und die rund 200 oberirdischen Parkplätze zu
verlagern. Hierzu ist der Bau einer automatischen Großtiefgarage für 350 Kfz-Stellplätze geplant, deren Rampe direkt
vor der 1935/1936 rekonstruierten Fassade der Kapuzinerkirche mit dem Fresko von Hans Fischer hinabführen würde.
Der Tiefbau der Parkanlage durch die W & MID Immobiliengruppe soll im Jahre 2006 beginnen. „Insgesamt würden
für die Arbeiten am Neuen Markt rund zwei Jahre in Anspruch nehmen, da im Vorfeld archäologische Grabungen
durchgeführt werden müssten.1598“ Zwischenzeitlich wurden die Arbeiten auf mindestens vier Jahre Ausgelegt: Eine
Bürgerinitiative aus Anrainern und Geschäftsleuten unter Führung des Schauspielers und einstigen Nationalratsabgeordneten Herbert Fux indes spricht sich gegen den Bau aus, da dieser „ein Rückfall in die Methoden der 50-er Jahre“
sei und außerhalb des Neuen Marktes für Anwohner und Besucher ausreichend Parkraum zur Verfügung stünde.
1593
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1594
Rathaus-Korrespondenz, Wien 17.09.1997
1595
„Kapuzinergruft: Korrosion an Särgen gestoppt“, in: Die Presse, 14.07.2003
1596
Im Jahre 2003 wurde durch das Bundesdenkmalamt das Grabmal des Marco D´Aviano in die Kapuzinerkirche verlegt,
wodurch die Umplanung des neuen Besuchereingangs – d.h. die Schaffung eines zeitgemäßen und behindertengerechten Zugangs
zur Gruft getrennt vom Kloster – möglich wurde. Zur Realisierung des neuen Eingangs mussten auch die historischen Gräber der
Kapuzinerpatres, die sich in diesem Bereich befanden, umgelegt werden.
1597
„Kapuzinergruft: Korrosion an Särgen gestoppt“, in: Die Presse, 14.07.2003
292
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 10
Vor und hinter den Kulissen
3.
Habsburgs Totenkult1599
Zitat fehlt
Der Tod von Mitgliedern des Erzhauses Habsburg war stets mit besonderen kultischen Handlungen verbunden1600 – vor, während und nach der Beisetzung. „Beim Tod eines Herrschers kam jene Facette des Zeremoniells zur
Anwendung, welches gleichwohl über den Toten als auch über die Lebenden verfügte.1601“ Eingeteilt wurde die Trauer – je nach rang des Verstorbenen – lokal in die Landes1602-, Hof1603- und Kammertrauer1604; die Bekleidung war in
der tiefen, halben1605 oder kleinen Trauer festgeschrieben. Zusammen mit gedoppelter Trauer oder Trauergala ergab
sich die Dauer der Trauerzeit1606.
Vor der Beisetzung
Exenterierung: Verschied ein Mitglied des Kaiserhauses, erfolgte in der Regel schon wenige Stunden nach
Eintritt des Todes die Sezierung des Leichnams und die Entfernung der inneren Organe wie Herz und Eingeweide
durch den Hofarzt – die so genannte Exenterierung. Anschließend erfolgte die Einbalsamierung. Bis 1878 wurden in
der Kaisergruft mit wenigen Ausnahmen1607 ausschließlich die einbalsamierten Körper der Verstorbenen beigesetzt.
Die Herzen – oftmals zusammen mit den Zungen – in silbernen Bechern in der Augustinerhofkirche und die Intestina
(Eingeweide) in einem Kupfergefäß bei St. Stephan. Neue Konservierungsverfahren machten Ende des 19. Jahrhunderts die Exenterierung der Leichen unnötig, so dass sich bereits die Erzherzoginnen Maria Annunziata, Sophie Friederika und Kaiserin Carolina Augusta die Trennung von Leib, Herz und Eingeweiden verbaten.
Das Trauerzeremoniell
1598
Skoda, Elisabeth: „Tiefgarage statt verparkter Neuer Markt“, in: „Vienna Online“, Wien 25.05.2003
vergleiche hierzu auch Hawlik-van de Water, Magdalena: „Der schöne Tod - Zeremonialstruktur des Wiener Hofes bei Tod
und Begräbnis zwischen 1640 und 1740“, Herder Verlag, Wien
1600
vergleiche auch Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, HerderVerlag, Wien 2. Auflage 1993
1601
Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag, Wien 2.
Auflage 1993
1602
Landestrauer: Tod des regierenden Herrschers, seiner Gemahlin oder von Kindern über 12 Jahren. Hauptmerkmal: Trauerläuten und diverse Veranstaltungsverbote. Dauer: meist sechs Wochen
1603
Hoftrauer: Tod von entfernten Verwandten des Herrschers oder als Ausdruck des Respekts beim Tode anderer regierender
Häupter. Hauptmerkmale: Bekleidungs- und Drapierungsvorschriften für Gespanne, Kirchen und Räume. Dauer: kürzer als Landestrauer
1604
Kammertrauer: Tod von entfernten Personen. Hauptmerkmale: wurde nur vom Herrscherhaus und den zum Hof gehörenden
Adeligen getragen. Dauer: meist vier Wochen
1605
Tiefe und halbe Trauer: Dauer: drei Monate (tiefe) bzw. sechs Wochen (halbe).
1606
nach: Hawlik-van de Water, Magdalena: „Die Kapuzinergruft - Begräbnisstätte der Habsburger in Wien“, Herder-Verlag,
Wien 2. Auflage 1993
1607
u.a. Kaiserin Eleonora Magdalena von Pfalz-Neuburg
1599
293
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Die eigentlichen Leichenfeierlichkeiten waren auch in Österreich – wie seit dem 12. jahrhundert üblich – allgemein in drei Teile geteilt: die öffentliche Aufbahrung, der Leichenkondukt und die Totenmesse. Wir gehen an dieser
Stelle kurz und nur allgemein auf diese drei Bräuche ein.
1. Aufbahrung: Aufbahren bedeutete vom Ursprung her zunächst nur das auf eine Totenbahre legen. Erst als
die Begräbnisfeierlichkeiten zur Selbstdarstellung einer Person und ihrer Macht wurde, verstand man unter Aufbahrung die feierliche Schaustellung des Leichnams. Galt es zunächst im privaten Rahmen nur die Zeit bis zur Leichenfeier zu überbrücken, erfolgte schon bald die öffentliche Schaustellung des Toten – meist in kirchlichem Umfeld.
Hierfür wurde in einer schwarz ausgestatteten Kirche ein Katafalk errichtet, auf dem der Tote aufgebahrt wurde – ja
nach Zustand im offenen oder geschlossenen Sarkophag. Die Bräuche des Mittelalters – Trauergerüst etc. – können
an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden.
2. Trauerkondukt: Die Begräbniszeremonie – die eigentliche „Reise ins Jenseits“ – erfolgte so, dass der Leichenzug zum Tor der Grablege zog. In Wien war es die „Kaisergruft“ bei den Kapuzinern, wo der Kustos mit den Patres das Trauerkondukt erwartete und diesen in die schwarz ausgeschlagene Kirche zur Totenmesse geleitete. Der
Brauch, die Toten vom Sterbehaus auf einer Tragbahre in die Kirche zu tragen, war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich. Repräsentative, mit Pferden bespannte Leichenwagen wurden, im Gegensatz zu anderen europäischen
Fürstenhöfen, beim Wiener Hof und in der Folge auch beim Adel erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendet. Entsprechend dem spanischen Hofzeremoniell durfte ausschließlich beim Begräbnis gekrönter Mitglieder des
Kaiserhauses ein schwarzer Leichenwagen verwendet werden. Die Särge von Erzherzögen und Erzherzoginnen wurden in einem roten Wagen zur Kapuzinergruft gefahren.
Der
aus
dem
18.
Jahrhundert
stammende
Leichenwagen
des
Wiener
Hofes
wurde daher für die Begräbnisse von Erzherzögen und Erzherzoginnen rot, für die Begräbnisse des Kaiser oder der
Kaiserin hingegen schwarz lackiert und bespannt. Da dies stets mit beträchtlichen Kosten verbunden war und den Erhaltungszustand des Wagens stark belastete, entschloss man sich 1875, für die Begräbnisse gekrönter Familienmitglieder einen neuen, schwarzen Prunkleichenwagen in Auftrag zu geben. Der vorhandene Wagen blieb mit roter Lackierung für Begräbnisse der nicht regierenden Habsburger weiterhin in Verwendung.
Der neue "Schwarze Leichenwagen1608" wurde innerhalb von 16 Monaten unter Aufsicht von HofWagenmeister Josef Findeisen in der Hof-Sattlerei gebaut und im Mai 1877 fertig gestellt. Er kam erstmals 1884 beim
Begräbnis der Kaiserin-Witwe Maria Anna zum Einsatz und wurde in der Folge 1889 für die Begräbnisse von Kronprinz Rudolf, 1898 von Kaiserin Elisabeth, 1916 von Kaiser Franz Joseph und letztlich 1989 für das Begräbnis von
Kaiserin Zita verwendet.
3. Totenmesse. Die Totenmesse erfolgte in der Kapuzinerkirche in Anwesenheit der allerhöchsten Herrschaften und geladener Gäste.
Die Beisetzung des Körpers
Einsargung: Die Toten ruhen in Holzsärgen, die mit Samt überzogen und mit Metallbeschlägen verziert sind.
Für die Särge der regierenden Herrscher und ihrer Gemahlinnen wurde schwarzer Samt und Goldstoff, für die der
Erzherzoge und -Erzherzoginnen roter Samt und Silberstoff verwendet. Diese einfachen Särge wurden dann in
Prunksarkophage gebettet. Zu jedem Holzsarg gibt es zwei Schlüssel: einen verwahren die Kapuzinerpatres, der andere liegt im Schlüsselschrank der Geistlichen Schatzkammer der Hofburg.
1608
Kunsthistorisches Museum Wien, Sammlung Wagenburg in Schloss Schönbrunn, Wageburg Inventar Nr. W 5 von 1876/1877
294
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Umbettung: Nach der Totenmesse wurde der Sarg von den Kapuzinerpatres in die Gruft getragen. Dort wurde
der Sarg nochmals geöffnet, und der Kustos überzeugte sich von der Identität des Verstorbenen. Einige Wochen später
wurde der Holzsarg im Beisein eines Hofbeamten in den Übersarkophag gestellt und verschlossen.
Die Beisetzung der Herzen
Die 1642 von Kaiserin Eleonora von Gonzaga in der ehemaligen Hofkirche St. Augustin gestifteten „Loretokapelle“ wurde zur Herzgruft, als der junge König Ferdinand IV.1609 bestimmte, dass man sein Herz "unnser Lieben
frawen Maria zu Loreto unter ihre füeß legen und begraben solte". Bis dahin wurden die Herzen der Verstorbenen in
St. Stephan oder die Urnen mit dem Leichnam zusammen im Sarg beigesetzt. Zunächst wurde zwischen dem Altar
und der Mauernische mit der Muttergottesstatue im Boden eine kleine, mit Marmor ausgekleidete Gruft angelegt – das
Sepulcrum. Sie war ca. 40cm tief, und eine eiserne und darüber eine marmorne Platte bildeten den Verschluss. Insgesamt wurden hier 21 Herzurnen bis zur Verlegung beigesetzt.
Nach der Klosteraufhebung 1784 wurden „Loretokapelle“ und Herzgruft in eine Seitennische der Georgskapelle verlegt. Bis zum Bau des heutigen „Herzgrüfterl“ 1802 wurden nun die Herzurnen in einem versiegelten Kasten
verwahrt. In der neuen Gruft finden sind insgesamt 54 unterschiedlich gestaltete Silberurnen in zwei übereinander liegenden Reihen nach dem Sterbedatum angeordnet. Die letzte Herzbestattung – das Herz des Erzherzog Franz Karls –
fand 1878 statt. Eine besonders große Urne auf der rechten Seite nahm die Herzen von Maria Theresia und ihres Mannes Franz Stephan von Lothringen auf. In der Herzgruft befindet sich auch das Herz des Herzogs von Reichstadt. Als
dessen Sarkophag 1940 von den Nationalsozialisten aus der Kapuzinergruft geholt und auf Befehl Adolf Hitlers nach
Berlin gebracht wurde, vergaß man seine Herzurne einfach…
Die Beisetzung der Intestina
Die Urnen mit den Eingeweiden der Verstorbenen kamen der Tradition folgend in die Katakomben von St.
Stephan und erhielten ihren Platz in der alten Herzogsgruft. Im linken Querschiff des Domes befindet sich der Zugang
zu der auch als „Katakomben“ bezeichneten Gruftanlage. Der älteste Teil unter dem Dom besteht aus der „Herzogsgruft“, in der sich die Särge des 1365 verstorbenen Herzogs Rudolf IV. des Stifters, und einiger seiner Angehörigen
sowie die Intestina-Urnen befinden. Benachbart sind die „Bischofsgruft“ sowie die „Domherrengruft“. Der neuere Teil
der Katakomben wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts unterhalb des Stephansplatzes angelegt und beinhaltet in 30
Kammern, von denen drei im Rahmen einer Führung zu sehen sind – die sterblichen Überreste von über 10.000 Wienern.
1609
Ferdinand IV., geb. 1633, gest. 1654
295
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
Kapitel 10
Vor und hinter den Kulissen
4.
Leichenöffnung Rudolfs
„Was die Wünsche der Forschung betrifft,
in die Särge Einblick zu nehmen,
will ich Ihnen ganz offen sagen,
daß ich absolut dagegen bin..“
Dr. Otto von Habsburg
Pöcking, 17.01.1991
Die erste Leichenbeschau am Kronprinzen wurde von Dr. Widerhofer am 30. Jänner kurz nach 12 Uhr am Leichenfundort in Mayerling auf Veranlassung von Prinz Coburg und Loschek durchgeführt – sie hatten den Mediziner
am Morgen per Telegramm aus Wien angefordert. Der Hofrat, der den Kronprinzen kannte und den Leichnam somit
auch identifizieren konnte, stellte fest, „daß am Kopf des Verewigten eine beträchtliche Wunde mit ausgebreiteter
Loslösung der Schädeldecke und Schädelknochen vorhanden war.1610“ Diese Schusswunde als mit dem Leben nicht zu
vereinbarende Körperzerstörung musste den nichtnatürlichen Tod zur Folge gehabt haben (Todesfeststellung). In unmittelbarer Nähe der rechten Hand befand sich ein entladener Revolver. Es ist davon auszugehen, dass zwischen dem
Auffinden des Toten am frühen Morgen und dem Eintreffen des Arztes die Leiche in ihrer Stellung nicht verändert
worden ist, da der Raum versiegelt war.
Im Tagebuch der Erzherzogin Marie Valerie heißt es, Widerhofer habe Rudolf „längst erkaltet“ und „in halbsitzender Position“ aufgefunden, und „den Schädel“ geborsten, da „die Kugel bei einer Schläfe hinein (und bei der) anderen hinaus“ gegangen sei1611. Der Arzt sei laut Loschek die erste Person im Zimmer gewesen, habe zunächst die Läden öffnen lassen – von wem? – und die Leiche zurückgelegt. Wahrscheinlich verband Widerhofer nach einer ersten
Beschau die Kopfwunde des Kronprinzen, so dass sein Leichnam transportiert werden konnte. Dieser erste Mullbindenverband verlief über den Ohren und ca. Fingerbreit über den Augenbrauen, wie durch Bilder dokumentiert ist, die
bei der ersten Aufbahrung – also noch vor der Obduktion – von einem Mitarbeiter des Wiener Fotoateliers Dr.
Székely1612 angefertigt wurde1613. Hierfür wurde das Bett in Richtung Fenster gerückt, um ausreichend Licht zu erhal1610
„Wiener Zeitung“, Ausgabe 27, Freitag, 1. Februar 1889, Seite 2, „Nichtamtlicher Theil“
Conte Corti zitiert in Judtmann, Fritz: „Mayerling ohne Mythos“, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1968. Diese Aussagen
werden nicht erwähnt in „Marie Valerie - Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth von Österreich“, herausgegeben von Martha und Horst Schad, Langen Müller-Verlag, München 1998, da sich die Herausgeber auf die Abschriften von Dr.
Richard Sexau beziehen.
1612
Székely, Dr. Josef, geb. 1838, gest, 1901, Atelier: Elisabethstraße 2 (Heinrich Hof), Wien; errichtet 1884 gemeinsam mit Viktor Angerer in Wien die Trockenplattenfabrik „Gelatine-Emulsionsplatten-Fabrik mit Maschinen-Präparation von Angerer &
Székely“ (1891 an Stankovits, Preininger & Co. verkauft)
1611
296
Das unredigierte Mayerling-Manuskript von Lars Friedrich – Forschungsergebnisse von 1989 bis 2009
ten. Auf der Abstandsaufnahme erkennt der Betrachter im Bildhintergrund den Kamin des Raumes sowie eine Matratze, die an das Bettgestell gelehnt wurde. Von dieser Fotoaufnahme sind zwei Motive (Nah- und Abstandsaufnahme)
erhalten1614.
Dieser Darstellung widerspricht der dem Kronprinzen zugeteilte Ordonnanzoffizier des Kaisers, Arthur Giesl
von Gieslingen, in seinen 1921 verfassten Erinnerungen. Nach seinen Angaben fand man den Kronprinzen, als der
Transportsarg in der Hofburg geöffnet wurde, ohne Kopfverband vor. Diesen soll erst dann Dr. Aukenthaler angelegt
haben. „… Dann legten wir den Kronprinzen ins ein Bett und bedeckten den Körper mit einer weißen Flanelldecke.1615“
Dr. Widerhofer hatte am Abend des 30. Januar Mayerling verlassen, erstattet jedoch erst am Morgen des 31.
Jänner 1889 dem Kaiser Bericht. Nach Aufzeichnungen von Marie Valerie wird Widerhofer um 6 Uhr früh zum Kaiser gerufen – und berichtet dem Vater, dass sein Sohn „nicht einen Augenblick gelitten (hat), die Kugel ist so direkt in
den Schädel gedrungen.“ Widerhofer kam es also zu, dem Kaiser vom Tod durch Erschießen zu berichten, da dieser
noch immer an die Giftmord-Version des Grafen Hoyos glaubte. Die systematische Untersuchung des Leichnams fand
am Donnerstag, 31. Jänner, in der Wiener Hofburg statt (siehe Kapitel 8.1).
Nachdem der Tote in einem Transportsarg in die Hofburg gebracht worden war, hatte man ihn gegen zwei Uhr
früh zunächst auf sein Bett im Schlafzimmer gelegt, wo er dann fast den ganzen Donnerstag aufgebart war. Der erste
Verband wird sicher nicht abgenommen oder erneuert worden sein. Die Fenster des Schlafzimmers waren verdunkelt,
am Fußende des Bettes stand eine Spanische Wand und neben dem Bett brannten links und rechts von einem Kruzifix
Kerzen1616.
Über die Anzahl der Personen, die am Donnerstag den toten Kronprinzen sahen, gibt es verschiedene Darstellungen. Nach Conte Corti war der Kaiser gleich nach der Unterredung mit Widerhofer in Rudolfs Gemächer gegangen
und dort auf seinen Ordonnanzoffizier, der dem Kronprinzen zugeteilte Arthur Giesl von Gieslingen, und einen Geistlichen getroffen. Franz Joseph wird den Toten nicht gesehen haben, denn er fragte Giesl, ob die Leiche seines Sohnes
sehr entstellt sei. Danach verließ er die Räume, kam jedoch gegen sieben Uhr in Uniform zurück und bleibt 15 Minuten schweigend vordem Leichnam stehen1617.
Im Laufe des Donnerstags nahmen dann weitere Personen von Rudolf Abschied, wie seine Schwester Marie
Valerie beschreibt: zwischen sieben und acht Uhr die Eltern mit Gisela und deren Mann Leopold, Kronprinzessin Stephanie mit Tochter Elisabeth sowie gegen Mittag erneut die Kaiserin und Stephanie, diesmal gemeinsam mit Marie
Valerie und Franz Salvator sowie Elisabeths Schwester Sophie von Alecon nebst Mann1618. Für den Besuch der Kaiserin hatte auf Wunsch Franz Josephs bereits am Morgen Arthur Giesl von Gieslingen die Decke