Rechtstexte im Alten Testament
Transcription
Rechtstexte im Alten Testament
Norbert Lohfink SJ Frankfurt a.M., Frankfurter Hypothekenbank Centralboden, 19.2.98 Frankfurter Juristische Gesellschaft Rechtstexte im Alten Testament Ich betrachte es als eine besondere Ehre, hier vor der "Frankfurter Juristischen Gesellschaft" sprechen zu dürfen. Die Vorträge Ihrer Gesellschaft sind ja normalerweise den Fragen des heutigen Staats- und Wirtschaftsrechts gewidmet. Nur bisweilen ergötzen Sie sich auch einmal durch kleine Ausflüge in die Vorgeschichte unseres heutigen Rechts. Doch haben diese Exkursionen Sie wenn ich recht sehe noch niemals bis in jene weit entfernte Provinz der antiken Rechtgeschichte geführt, in die ich Sie heute locken soll: zu den Rechtssystemen des vorderen Orients vom ausgehenden 3. Jahrtausend vor Christus bis etwa zur Zeitenwende.(1) Zu dieser rechtsgeschichtlichen Provinz gehört nämlich das biblische Recht. Es unterscheidet sich allerdings vom Recht Ägyptens, Babyloniens, Assyriens und des Hethiterreiches dadurch, daß es nicht erst heute wieder aus dem Wüstensand gegraben wird, sondern daß es jüdisch wie christlich bis zu uns ununterbrochen tradiert worden ist, kanonische Geltung besaß, interpretiert und weiter ausdifferenziert wurde. Es hat nicht nur im religiösen Kontext, sondern weit darüber hinaus auf die Entwicklung unserer heutigen Rechtsvorstellungen eminenten Einfluß ausgeübt. Vieles, was wir als neuzeitliche Errungenschaften betrachten, leitet sich vom Recht der Bibel her, etwa das für unsere Staatskonstruktion so wichtige Prinzip der Gewaltenteilung. Ich will auf dieses Beispiel noch zurückkommen. Solche Zusammenhänge sind uns nur meist nicht bewußt. Selbst Montesquieu, der erste Theoretiker des gewaltenteiligen Staats, kannte seine eigenen Wurzeln nicht. Die von ihm herangezogenen Beispiele reichen gerade noch nach Athen und zu den homerischen Helden. Den Orient und die Bibel nennt er nicht. Aber ich will nicht sofort ins Detail gehen. Ich möchte vielmehr zunächst immer noch einleitend betonen, daß Sie keinen Juristen vor sich haben. Seien Sie also nachsichtig, wenn ich bisweilen dilettantisch formuliere. Ich habe zwar als Student die Keilschriftsprachen an mesopotamischen Gesetzestexten erlernt, am Kodex Hammurabi und an den mittelassyrischen Gesetzen. Für meine Doktorarbeit mußte ich mich mit hethitischen Staatsverträgen und neuassyrischen Treueiden befassen. Aber ich bin Bibelwissenschaftler, und auch auf das biblische Recht habe ich meine Aufmerksamkeit erst voll gerichtet, als ich für die amerikanische Reihe "Hermeneia" den Auftrag zu einem größeren Kommentar über das Buch Deuteronomium erhielt. An ihm arbeite ich noch. Das Deuteronomium ist unter den alttestamentlichen Rechtskodifizierungen vielleicht die interessanteste, und bei ihm sind die Beziehungen zum außerbiblischen altorientalischen Recht sicher am markantesten. Zweifellos beschäftigt sich in unserer Welt mit diesen alten Dingen, vor allem mit dem Keilschriftrecht, nur eine Handvoll Leute. Sie sitzen vor allem in den USA und in Israel. Nur wenige gibt es in Europa. In den Vereinigten Staaten trifft man sich bei den Jahreskongressen der "Society of Biblical Literature" in der sogenannten "Biblical Law Group", für Europa haben wir 1991 hier in Frankfurt in unserer Hochschule Sankt Georgen eine "Fachgruppe für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte" gegründet, die sich seitdem meist jährlich trifft. In ihr arbeiten Keilschriftrechtler und Bibelwissenschaftler zusammen. Ihr eigentlicher Inspirator, der Münchener Alttestamentler Eckart Otto, ist auch der Hauptherausgeber unseres neuen Jahrbuchs. Es heißt "Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte".(2) Nach meiner Kenntnis ist es das einzige Periodicum, das auf diesen Bereich spezialisiert ist. Es handelt sich natürlich um ein typisches Orchideenfach, wie man so sagt. Es hat keine großen Chancen, Förderung zu erfahren. Doch innerhalb des Fachs geht es durchaus lebhaft zu. In den letzten Jahren haben vor allem zwei Fragen zu heftigen Diskussionen geführt, die Frage nach der Funktion der sogenannten Gesetzbücher des alten Orients und die Frage nach der Existenz einer Art von altorientalischem "common law". Es ist vielleicht sinnvoll, daß ich in der ersten Hälfte meines Vortrags ein wenig auf diese beiden Diskussionen eingehe. Das bietet mir nebenbei auch die Gelegenheit, einige generelle Informationen über das altorientalische Rechtswesen einfließen zu lassen.(3) I. Gesetzbücher und "common law" im alten Orient Die erste Frage ist die nach der Funktion der imposanten Rechtssammlungen, die wir aus dem alten Orient besitzen. Am bekanntesten ist der Codex Hammurabi aus dem Babylon des 18. Jahrhunderts vor Christus, den man im Louvre jetzt wieder in Gestalt einer mehr als zwei Meter hohen schwarzen Dioritstele bewundern kann. Ihm gehen in Mesopotamien schon seit dem Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus andere Sammlungen voraus: die Gesetze Urnammus, die Gesetze des Lipit-Eschtar und die Gesetze von Eschnunna. Andere folgen ihm, so die mittelassyrischen Gesetze und das neubabylonische Gesetzesfragment. Das alles im Zweistromland selbst. Eine Nebenlinie dokumentieren die hethitischen Gesetze in Kleinasien.(4) Die Zahl solcher Gesetze muß noch größer gewesen sein. Doch wir hängen vom archäologischen Zufall ab. Wozu dienten also diese oft sehr sorgfältig redigierten, in ihren Prologen und Epilogen fast poetisch klingenden Gesetzeswerke? Drei ernstzunehmende Hypothesen stehen gegeneinander. Die erste sieht in ihnen, analog zum römischen Recht und neuzeitlicher Rechtskodifizierung, präskriptive Rechtsquellen. Doch gerade für Mesopotamien haben wir neben den Gesetzbüchern noch andere Informationsquellen. Wir besitzen tausende von schriftlichen Verträgen und Prozeßurkunden. In ihnen zeigt sich: So gut wie nie beruft sich eine richterliche Entscheidung auf eines der Gesetzbücher. Das ist umso erstaunlicher, als Berufungen auf königliche Einzelerlasse durchaus vorkommen. So regen sich Zweifel an der Hypothese kodifizierter Gesetzgebung. Man versteht, daß es zu einer diametral entgegengesetzen Hypothese kam. Sie sieht etwa im Codex Hammurabi, der wie ein großes Denkmal als Stele im Haupttempel Babylons stand, nichts als ein Machwerk königlicher Propaganda. Er hätte die gleiche Funktion gehabt wie die großen königlichen Siegesinschriften. In der Tat nähern sich die Prologe und Epiloge der Gesetze diesen Inschriften in Stil und Topik. Feierten die Siegesinschriften den König als Kriegshelden, so die Gesetzesinschriften den gleichen König als den Durchsetzer von Recht und Gerechtigkeit. Doch auch diese Hypothese hat eine schwache Stelle. Offenbar hatten gar nicht alle Gesetzeskodizes einen Prolog und einen Epilog. Selbst von denen, die eine solche Rahmung besaßen, gibt es Tontafeln, die nur den juristischen Mittelteil enthalten. Es muß also doch noch einen anderen Gebrauch dieser Texte gegeben haben als nur die Königspropaganda. Hier schiebt sich eine dritte Hypothese ein. Sie sieht in den Gesetzessammlungen rechtsdeskriptive Texte aus dem Schulbetrieb im "Tafelhaus", wo die intellektuelle Elite ausgebildet wurde. Das Gerichtswesen selbst beruhte völlig auf Gewohnheitsrecht und Präzedenzfällen. Doch zu Lehrzwecken sammelte man Rechtsentscheide und komponierte sie in Analogie zur Omenliteratur kunstvoll zu Sammlungen. An ihnen konnte man durch logische Extrapolation fiktiver Fälle die rechte Entscheidungskunst erlernen. Da die eigentlichen Richter Sippenälteste, Beamte, Könige normalerweise gar nicht durch das Tafelhaus gegangen waren, war der Einfluß dieser oft hochberühmten juristischen Schultexte eher indirekt. Er lief über die Beratungs- und Gutachtertätigkeit der Gelehrten. Diese dritte Annahme ist am plausibelsten. Die Verwendung vorhandener, rein "akademischer" Rechtssammlungen als Versatzstücke in königlichen Propagandainschriften wäre dann ein sekundärer Gebrauch. Er beschränkt sich auch im wesentlichen auf die altbabylonische Zeit. Daß in der Spätzeit die Gerichtsentscheidungen meist ziemlich im Einklang mit den Problemlösungen der alten Gesetzbücher stehen, erklärt sich leicht durch deren indirekten Einfluß. In Israel müssen wir zeitlich etwas versetzt mit analogen Entwicklungen rechnen. Auch hier galt in der Praxis das Gewohnheitsrecht. Alles spricht dafür, daß die älteste Gesetzeskodifizierung, die uns im Pentateuch erhalten ist, das sogenannte "Bundesbuch" (Exodus 20,2223,33), zunächst ebenfalls ein rechtsgelehrter Schultext war, der wie die Rechtssammlungen in Mesopotamien die Rechtsprechung höchstens indirekt beeinflußte. Doch später lief es anders als im Zweistromland. Das hängt damit zusammen, daß Israel andere Wege als seine Nachbarn einschlug, wenn es um die Frage ging, wessen Autorität dem Recht eigentlich Geltung verleihe. Blicken wir nochmals auf den ganzen fruchtbaren Halbmond. Überall gründete die Kraft des Rechts letztlich im göttlichen Willen. Doch auf sehr verschiedene Weise. Im klassischen Ägypten ist die Gottheit im König inkarniert. Sein Wille konstituiert das Recht. Ebendamit ist es stets göttliches Recht. Es ist je neu und je ganz im König da. Deshalb hat Ägypten auch keine zeitüberdauernden Gesetzessammlungen hervorgebracht wie Mesopotamien. In Mesopotamien ist der König kein Gott. Er ist nur von der Gottheit eingesetzt, und so erhält er auch von den Göttern den Auftrag, Recht zu schaffen. Das Recht ist daher höchstens Königsrecht, wenn auch göttlich sanktioniertes. Damit war es ein "weltlich Ding". Die Voraussetzung war gegeben, daß Rechtssammlungen entstanden und sekundär auch im Namen des Königs publiziert wurden. Ähnlich mag es in Israel zwischen David und dem babylonischen Exil gewesen sein, also in Israels eigentlich staatlicher Zeit (etwa zwischen 1000 und 600 vor Christus). Daß es damals zumindest in Jerusalem königliche Rechtsetzung gab, bezeugt Jesaja 10,1: "Weh den Gesetzesmachern, die böse Gesetze erlassen, den Gesetzesverfassern, die Unerträgliches verfassen!" Aber das mögen königliche Einzelerlasse gewesen sein. Ob sie je in einem präskriptiven Gesetzbuch zusammengefaßt wurden, können wir nicht sagen. Erhalten wäre uns davon in den Gesetzen des Pentateuchs jedenfalls nichts. Diese empfangen ihre Geltung von woandersher, nicht vom Königshof. In der Geschichtserzählung der Tora werden sie alle am Berg Sinai im Augenblick der Stiftung des Volkes von Gott promulgiert. Der Sinai ist Ort göttlicher Gesetzgebung. Das drückt aus, daß alle Gesetze Israels unter Umgehung jeder staatlichen Instanz unmittelbar göttlich gesatztes Recht sein sollen. Natürlich ist diese narrative Situierung literarisch und sekundär. Ursprünglich waren die im Pentateuch in die Sinaierzählung oft nur locker eingehängten Gesetzessammlungen einmal selbständig. Aber auch in diesem Stadium ihrer Existenz waren sie alle intern schon als Gottesrecht stilisiert, auf diese oder jene Weise. Offenbar bedurfte das Recht in der ausgehenden Königszeit Israels, als die alte gentile Ordnung immer mehr ins wirtschaftliche und soziale Chaos glitt, einer neuen, nicht staatlichen Rechtsbegründung. Dies leisteten in Jerusalem die Priester, die vermutlich den größeren Teil der intellektuellen Elite darstellten. Sie begründeten die Geltung des von ihnen schriftlich verwalteten und weiterentwickelten Rechts unter Umgehung der staatlichen Instanz direkt im göttlichen Willen. Einer der letzten großen König von Jerusalem, Joschija von Juda, hat im ausgehenden siebten Jahrhundert die Gottunmittelbarkeit des Rechts dann sogar zum staatlichen Prinzip gemacht. Ich werde darauf zurückkommen. Nach dem Zusammenbruch der eigenen Staatlichkeit, das heißt im babylonischen Exil, im persischen Großreich und unter hellenistischer Herrschaft, war die schon vorhandene Gottunmittelbarkeit des Rechts die Möglichkeitsbedingung dafür, daß das jüdische Volk auch innerhalb größerer Machtsysteme stets seine eigene, auch rechtlich durchstrukturierte Identität bewahrte. Irgendwann in dieser Periode werden die drei wichtigsten Gesetzeskodifizierungen, die es inzwischen gibt, das schon erwähnte Bundesbuch, das Heiligkeitsgesetz (Levitikus 1726) und das deuteronomische Gesetz (Deuteronomium 528), im Pentateuch, den 5 Büchern Mose, vereinigt. Dort stehen sie bis heute trotz ihrer inhaltlichen Diskrepanzen als die eine Tora Israels friedlich beieinander und können nur durch Interpretation auf einen einzigen Nenner gebracht werden. Nach einer zur Zeit beliebten Theorie kam es zu dieser literarischjuristischen Großaktion, als die persische Reichsregierung von der Tempelgemeinde in Jerusalem für die Gewährung gewisser politischer Halbfreiheiten die Existenz eines eigenen Rechtssystems forderte, das dann in einer sogenannten "Reichsautorisation" zu persischem Königsrecht für die Provinz Juda gemacht worden wäre. Ob das so war, oder ob bei einer solchen Gelegenheit nur der schon vorhandene Pentateuch aus der Schublade gezogen wurde, um als Basis der persischen Anerkennung zu dienen von da an gibt es eine kanonische Geltung der "Tora". Doch die genaue Funktion des im Pentateuch vereinten Rechts in den darauf folgenden Epochen, etwa zur Zeit Jesu, ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Man möchte annehmen, es handle sich jetzt für die jüdische Gemeinschaft in der Tora um präskriptiv geltendes, göttlich begründetes Recht bei aller Schwierigkeit seiner internen Harmonisierung. Und irgendwie stimmt das auch. Aber neben dem kodifizierten biblischen Recht muß auch stets das Gewohnheitsrecht weiterexistiert haben. Es scheint inhaltlich keineswegs in allem mit dem Recht der Tora übereingestimmt zu haben. Und es entwickelte sich lebendig weiter. Es war das eigentlich geltende Recht. Die Textfunde aus Qumran zeigen uns das jetzt auf neue, intensive Weise. Dieses wirkliche Recht verstand sich auch nicht einfach als Auslegung der Tora. Seine pharisäische Variante wurde schließlich im 3. Jahrhundert unserer Ära in der Mischna gesammelt und systematisiert. Aber erst in den dann folgenden Jahrhunderten wurde in den Talmudim und Midraschim eine durchgehende theoretische Rückführung auf das biblische Recht angestrebt. Höchst kompliziert also, die Frage nach der Funktion der Gesetzessammlungen im alten Orient und in der Bibel! Gerade für das biblische Recht bleibt manches offen. In welchem Maß war es Niederschlag deskriptiver Rechtsgelehrsamkeit? In welchem Maß war es vor der Redaktion der Tora zumindest zeitweise auch schon präskriptiv? In welchem Maß waren es utopische Entwürfe, die für das wirkliche Recht vielleicht nur letzte Maßstäbe und Zielvorstellungen formulierten? In welchem Maß war die Tora nach ihrer Kanonisierung zeitweise vielleicht nur noch ein sprachlich geronnenes Symbol dafür, daß in Israel hinter allem rechtlichen Handeln letztlich der Rechtswille Gottes stand? Dieses nie aufgegebene Nebeneinander von kodifiziertem Recht und lebendig sich weiterentwickelndem Gewohnheitsrecht führt uns nun zur zweiten, wesentlich kürzer abzuhandelnden Frage, die heute in der altorientalistischen Rechtsdiskussion eine Rolle spielt. Sie ist vor allem durch Raymond Westbrook neu aufgeworfen worden, der in Baltimore an der Johns Hopkins University lehrt. Es ist die Frage, ob wir durch die natürlich höchst fragmentarischen Zeugnisse des damaligen Rechts, die wir besitzen, nicht dazu verführt werden, einer entwicklungsgeschichtlichen Sichtweise auf den Leim zu gehen, während in Wirklichkeit der ganze alte Orient eine einzige, relativ unbewegliche, fast statische Rechtswelt gewesen wäre, von einem sehr stabilen Gewohnheitsrecht bestimmt, das wir natürlich in seiner Gesamtheit nicht mehr rekonstruieren könnten. Erst der Einbruch des Hellenismus habe diese geschlossene Rechtswelt aufgebrochen und dynamisiert. In der Bibel könne höchstens bei den späten Gesetzen von Rechtsentwicklung die Rede sein. Zumindest die älteren Teile des Bundesbuches gehörten noch ganz der gemeinsamen Rechtswelt des alten Orients an und seien von ihr her zu interpretieren. Diese Theorie hat für die Interpretation der einzelnen Gesetze deutliche Folgen. Da alle unsere Zeugnisse nur Fragmente einer einzigen Rechtswelt seien, könne man zur Ergänzung und Deutung eines bestimmten Textes alle anderen Regelungen der gleichen Materie heranziehen, seien sie auch geographisch und zeitlich noch so weit voneinander entfernt. Westbrook tut das auch, so daß sich sein Verständnis mancher biblischer Gesetze von dem anderer Gelehrter massiv unterscheiden kann. Damit stellt er natürlich die periodisierende Deutung der altorientalischen Rechtszeugnisse grundsätzlich in Frage. Kein Wunder, daß es hierüber zu einer heftigen Diskussion kam, vor allem in den Vereinigten Staaten. Die wichtigsten Äußerungen beider Seiten sind 1994 in einem von Bernard M. Levinson, dem Vorsitzenden der schon erwähnten "Biblical Law Group", herausgegebenen Sammelband gedruckt worden.(5) Im ganzen steht Westbrook allein, so sehr seine Fachgenossen manche seiner Einzelinterpretationen begrüßen. In den mesopotamischen Gesetzen und vor allem in den hethitischen Gesetzen läßt sich durchaus eine Rechtsentwicklung aufweisen. Wir müssen auch für das Gewohnheitsrecht mit vielen regionalen Verschiedenheiten und geschichtlichen Entwicklungen rechnen. Für die meisten Gesetzessammlungen der Bibel, die erst in die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends vor Christus gehören, hat dies Westbrook sowieso nie in Frage gestellt. So sehr die biblischen Rechtstexte also mit dem umfassenderen altorientalischen Recht zusammenhängen sie haben zugleich ihren Sondercharakter und ihre eigene Geschichte. Man muß sie nicht zu fragmentarischen Zeugnissen eines träge dahinträumenden altorientalischen "common law" degradieren. Es lohnt sich, sie in sich selbst zu werten. Wenn ich nun in der zweiten Hälfte meines Vortrags genauer auf dieses biblische Recht eingehe, muß ich mich natürlich einschränken. Mehr als Blitzaufnahmen sind nicht möglich. Ich greife das deuteronomische Gesetzbuch heraus, mit dem ich mich am meisten beschäftigt habe. Auch hier kann ich keine Gesetzesdispositionen im einzelnen diskutieren. Ich will nur drei Gesichtspunkte eher allgemeinerer Art besprechen: Recht als Vertrag mit der Gottheit, Recht als Staatskritik, Recht als untrennbar vom Ethos. II. Konzeptionen des Rechts im Deuteronomium 1. Recht als Vertrag mit der Gottheit Im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, wird Moses letzter Lebenstag erzählt. Am Ende der vierzigjährigen Wüstenwanderung, bevor Israel von Osten her den Jordan überschreitet und in das verheißene Land einzieht, muß er sterben. Er setzt als den, der sein Werk fortführt, auf Gottes Anweisung Josua ein. Offenbar kann er das nicht, ohne daß bei dieser Gelegenheit die ganze Rechtskonstruktion Israels gewissermaßen reaktiviert wird. Diese geht auf einen "Bund", sagen wir ruhig: auf einen Vertrag Gottes mit Israel am Berg Sinai zurück. In einer Vertragszeremonie wird das alte, identitätsbegründende Rechtsverhältnis von neuem beschworen. Die sogenannten deuteronomischen Gesetze, die Mose in den Kapiteln 5 bis 28 vorträgt, die also den Hauptteil des Buches bilden, sind die Vertragsurkunde. Wo wir also mit einem Gesetzbuch rechnen würden, finden wir schon vom narrativen Zusammenhang her eine Urkunde, und zwar die Urkunde eines Vertrags zwischen für uns zumindest etwas ungewöhnlichen Partnern: Auf der einen Seite ein Volk, auf der anderen die Gottheit.(6) In Wirklichkeit haben biblische Redaktoren hier natürlich die Gelegenheit des letzten Tages Moses benutzt, um eine vorgegebene alte Gesetzessammlung narrativ unterzubringen. Denn bei der Erzählung der Sinaiereignisse in Exodus 1924 hatten sie eine andere Gesetzessammlung eingehängt, das noch ältere, schon erwähnte "Bundesbuch". Die beiden Gesetzeswerke stammen aus verschiedenen Epochen und unterscheiden sich durchaus, sind aber in der Pentateuchkonstruktion als gleichwertige Urkunden des einen, bei der Gewaltübergabe an Josua nur neu beschworenen Bundes Israels mit seinem Gott gemeint. Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings nicht nur ein Unterschied in den Rechtsregelungen, sondern auch in der Konzeption. Das Bundesbuch in der Sinaierzählung wird allein durch seine narrative Umgebung zu einem Bundesdokument. Der Text selbst ist eine Gesetzessammlung, wenn er sich auch in seiner Endredaktion schon als ein vom Gott Israels erlassenes Gesetz präsentiert. Das Deuteronomium dagegen ist auch innerlich als Bundesurkunde stilisiert. Das zeigt der Aufbau, und das zeigt die Sprache. Wir werden also die Rückführung der Geltung des Rechts als unmittelbar göttliches Recht auf einen Vertrag spezifisch in der Vorgeschichte des Buches Deuteronomium zu suchen haben.(7) Sprache, Stil und Motivik des Deuteronomiums sind sehr verwandt mit Sprache, Stil und Motivik der diplomatischen Korrespondenz und des internationalen Vertragrechts des alten Orients. Im Aufbau des deuteronomischen Gesetzes zeigen sich Strukturen, die wir auch von Vasallenverträgen zwischen Großkönigen und ihren königlichen Satelliten her kennen. Am Anfang steht die Vorgeschichte des Vertrags, dann kommen Grundsatzerklärungen, dann Einzeldispositionen, dann Segens- und Fluchtexte. Mit diesem Bauprinzip vermischen sich im Deuteronomium typische Motive und Formen des dynastischen Treueids, vor allem die Verpflichtung auf exklusive Treue gegenüber dem Oberherrn und die massive Fluchandrohung für den Fall der Untreue.(8) Historisch liegen Vasallenvertrag und dynastischer Treueid eng beieinander. Im Buch Deuteronomium ist das alles jetzt so konzipiert, daß Israels Gott der Oberherr ist, der Vasall ein ganzes Volk. Wir haben hier offenbar die Übertragung eines Konzepts des internationalen Rechts von damals auf das Gottesverhältnis einer Gemeinschaft. Zumindest die spezifischen Treueidelemente im Buch Deuteronomium können wir ziemlich genau datieren. Denn sowohl im Kapitel 13 als auch im Kapitel 28 läßt sich eine direkte literarische Abhängigkeit von einem 1955 im Nabutempel der assyrischen Stadt Kalhûu ausgegrabenen neuassyrischen Dokument höchsten Ranges nachweisen.(9) Es stammt aus dem Jahre 672 vor Christus. Es ist ein textlich riesenhafter Treueid, den der Großkönig Asarhaddon seine Satellitenkönige für den Fall seines Todes zugunsten seines Sohnes Assurbanipal schwören ließ. Die Zeremonie muß ein Großereignis für das ganze Reich gewesen sein. Auch Manasse, damals König von Juda, war Vasall Asarhaddons. Auch er muß diesen Treueid geleistet haben. Das Dokument existierte in Jerusalem, ja es war dort vielleicht auch in öffentlicher Zeremonie vorgetragen worden. Dieser Text und ähnliche Texte der Unterwerfung waren eine offene Wunde am Fleisch des judäischen Nationalbewußtseins. Ein halbes Jahrhundert später zerfiel das assyrische Imperium innerhalb kürzester Zeit. 612 wurde die Hauptstadt Ninive zerstört, und dann verteilte man nur noch die Beute. Damals suchte auch Juda unter seinem König Joschija die Unabhängigkeit. Wir wissen aus dem 2. Königsbuch, daß 622 vor Christus im Tempel von Jerusalem eine alte Urkunde gefunden wurde, und daß Joschija in einer großen Zeremonie auf der Grundlage dieser Urkunde einen öffentlichen Treueid gegenüber dem Gott Israels ablegte. Ihm trat das ganze Volk in der gleichen Versammlung bei. Lassen wir die religiösen Aspekte des Vorgangs zunächst beiseite, so dürfte es sich um die feierliche Unabhängigkeitserklärung des Staates Juda gegenüber Assur gehandelt haben. Fast allgemein nimmt die Forschung an, daß die vielleicht sogar nur angeblich aufgefundene Urkunde eine frühe Vorstufe des jetzigen deuteronomischen Gesetzes war. Alles spricht dafür, daß sie in bewußter Entgegensetzung zum Treueid gegenüber dem König von Assur als Treueid nicht mehr gegenüber einem menschlichen Oberherrn, sondern nun gegenüber dem eigenen Gott konzipiert war. Oder bei einer baldigen Überarbeitung wurde sie in Anlehnung an die genannten Vorgänge so stilisiert. Als literarisch-juristisches Gegenstück zum assyrischen Treueid spiegelte sie diesen natürlich zugleich. Das war wissenssoziologisch von größter Bedeutung. Verträge und Treueide müssen im Juda von damals durch die assyrische Erfahrung Signale überlegener Kultur gewesen sein. Indem nun das eigene neue Selbstverständnis wiedergewonnener Unabhängigkeit in dieses Gewand gekleidet wurde, erhielt es gewissermaßen die Weihe des Geltenden.(10) Das alles erklärt, wieso in Israel jetzt das Recht grundlegend als Vertrag mit Gott konzipiert wurde, ja warum überhaupt der Begriff des "Bundes" eine so große Bedeutung im Glauben Israels und später auch des Christentums gewonnen hat. Das durch mehr als hundert Jahre Unglück und Unfreiheit diskreditierte Königtum hätte in einer so chaotischen Epoche die Geltung des Rechts gar nicht mehr aus dem Wesen des Staates heraus begründen können. Im ins Religiöse hinübergeholten Modell des Vertrages konnte Gott als Oberherr es begründen. Ich breche hier ab, obwohl zu dem Thema noch vieles zu sagen wäre, vor allem auch zur notwendigen theologischen Bewältigung der Probleme, die eine solche Konzeption des Gottesverhältnisses und eine solche Begründung des Rechts notwendig mit sich brachte. Die Zeit drängt. Doch unser nächstes Thema schließt sich auch wieder unmittelbar an. 2. Recht als Staatskritik Denn bald zeigte sich, daß der Unabhängigkeitserklärung Joschijas keine Dauer beschieden war. Assur zerbrach zwar. Doch sofort trat im palästinensischen Raum erst der ägyptische Pharao, dann der Babylonier Nebukadnezzar II. an seine Stelle. Gegen ihn revoltierte man. Erfolg: Zerstörung Jerusalems, Zerschlagung Judas und eine in mehreren Schüben erfolgende Deportation nach Babylonien, vor allem der gesamten Oberschicht. Doch hier, im babylonischen Exil, kam es nicht zum schleichenden Identitätsverlust, sondern zur vielleicht fruchtbarsten Selbstbesinnung Israels. Hier entstand die Bibel, die wir kennen. Die Bibel ist Exilsliteratur. Hier wurde das Judentum geboren. Auch das deuteronomische Gesetz erhielt hier ein neues Gesicht. Was uns im folgenden interessiert, ist seine Auseinandersetzung mit dem Staat als gesellschaftlicher Gestalt. Seit Israel Staat war, war es abwärts gegangen. Schließlich war der Staat untergegangen. Die exilische Reflexion schrieb den Königen, den Repräsentanten der Staatlichkeit, die Hauptschuld an der eingetretenen Katastrophe zu. Nicht, weil sie alle schlechte Könige gewesen wären. Das deuteronomistische Geschichtswerk, aus gleichem Autorenkreis, kennt auch positive Königsgestalten, Reformer, gläubige Menschen. Nein, die Institution "Staat" als solche mußte einen strukturellen Schwachpunkt haben. Wie ließ sich, falls es je wieder zu einem selbständigen Israel kommen sollte, diese Schwäche der Institution umgehen und heilen? Darüber dachte man jetzt fern der Heimat nach. Solchem Nachdenken verdankt sich der heute mitten ins deuteronomische Gesetz eingelassene gewaltenteilige Verfassungsentwurf.(11) Man hat noch keinen Namen für das Gemeinte. Aber die Sache ist da. Man setzt bei einigen schon vorhandenen Regelungen für die Ortsgerichtsbarkeit und das Jerusalemer Zentralgericht an und fügt neue Paragraphen hinzu. So entsteht eine Art Ämterordnung für das Gemeinwesen Israel. Sie steht jetzt in Deuteronomium 16,1818,22 und ist folgendermaßen aufgebaut: Auf die Gerichtsordnung folgt ein Gesetz über den König, dann ein Gesetz über die Priester, schließlich ein Gesetz über die Propheten. Zwar fehlt ein Gesetz über die oberste Heeresleitung. Doch das hängt damit zusammen, daß man mit einem Heerbann rechnet, der seine Führung nur im Kriegsfall konstituiert. So dürfte wirklich ein Verfassungsentwurf vorliegen, der alle Spitzenorgane des Gemeinwesens bespricht und in ein System bringt. Es ist ein staatlicher Verfassungsentwurf. Doch ist an entscheidender Stelle in ihm sogar die Notwendigkeit von Staat überhaupt in Frage gestellt. Die Stelle ist das Königsgesetz. In der damaligen Welt war die Wirklichkeit "Staat" zweifellos nur gegeben, wenn ein König da war. Das Israel der vorköniglichen Zeit war eine akephal-segmentäre Stämmegesellschaft gewesen, vergleichbar mit manchen noch bis vor kurzem in Afrika anzutreffenden Großgesellschaften nichtstaatlichen Charakters. Unterscheidend war: Es hatte keinen König. Daß in den deuteronomischen Ämtergesetzen überhaupt vom Staat gehandelt wird, hängt also am Königsgesetz. Dieses beginnt aber nun folgendermaßen: "Wenn du in das Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt, einziehst, es in Besitz nimmst, in ihm wohnst und dann sagst: 'Ich will einen König über mich einsetzen wie alle Völker in meiner Nachbarschaft', dann darfst du einen König über dich einsetzen" (Deuteronomium 17,14f). Ein solcher Anfang sagt aber: Der Staat ist nicht die einzig mögliche Existenzform Israels, ja, seine Einführung ist eher eine Konzession. Nur für den an sich gar nicht notwendigen Fall, daß Israel staatliche Existenz will, wird dann die Idee der Gewaltenteilung innerhalb des Staates entwickelt. Unter den Gewalten, die behandelt werden, überrascht uns vielleicht am meisten das "Amt" des Propheten. Unsere klassische Konzeption der Gewaltenteilung kennt drei Gewalten: Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Im deuteronomischen Entwurf käme auf jeden Fall noch die kultische Spitze, also die Priesterschaft, hinzu. Zu fehlen scheint die Legislative. Meine vielleicht etwas gewagt klingende These ist die, daß in diesem Verfassungsentwurf der Prophet die Stelle der Legislative einnimmt. Denn sehen wir beim heutigen Parlament einmal von der natürlich höchst bedeutsamen Finanzhoheit ab, dann hat die Legislative vor allem die Aufgabe, wichtige Schritte der Regierung zu genehmigen und in immer neuer Gesetzgebung und Gesetzesnovellierung das vorhandene Recht an neue Situationen und Entwicklungen anzupassen. Genau das war jedoch im deuteronomischen Entwurf die Funktion des Propheten, auch wenn er nicht vom Volk gewählt, sondern von Gott charismatisch berufen war. Die grundlegende Rechtsordnung lag im deuteronomischen Gesetz vor. Die Interpretation und Anpassung des Rechts oblag dem Propheten. Deshalb parallelisiert Mose den Propheten im Prophetengesetz auch mit sich selbst: Wie Mose am Sinai den Gotteswillen vernahm, so soll ihn immer wieder der Prophet vernehmen (Deuteronomium 18,16-18). Aber nun zur Gewaltenteilung. Im altorientalischen Staat, auch noch im hellenistischen, ging alle Gewalt vom König aus. Waren Ämter ausdifferenziert, dann standen sie doch alle unter, nicht neben dem König. Der König blieb oberster Repräsentant, oberster Heerführer, oberster Richter, oberster Priester, Spitze der Verwaltung. Im deuteronomischen Ämtergesetz daggegen wird das Rechtswesen vor der königlichen Staatsspitze behandelt, und selbst beim Zentralgericht treten nur Priester und Richter auf, nicht der König. Die Richter vor Ort werden vom Volk eingesetzt, nicht vom König. Letzte Entscheidungsbasis für das Zentralgericht ist das deuteronomische Gesetz, nicht ein Machtwort der Majestät. Auch im Priestergesetz kommt der König nicht vor. Das Heiligtum ist Domäne der Priester allein, dazu ein Teil des Gerichtswesens. Das Priestertum ist erblich, kein König setzt Priester ein. Der Prophet wird von Gott erwählt, keine menschliche Instanz setzt ihn ein. Dies ist ein gewolltes Nebeneinander, nicht ein hierarchisches Abhängigkeitsgefüge. Doch für Gewaltenteilung in unserem Sinn ist nicht nur die gegenseitige Unabhängigkeit der Instanzen gefordert. Die Zuständigkeiten müssen außerdem durch ein vorgeordnetes konstitutionelles Gesetz zugeteilt sein. Auch das ist im Deuteronomium der Fall. Das Deuteronomium selbst ist die vorgeordnete Konstitution, die die Gewalten entwirft und begrenzt. Durch alle Ämtergesetze, von den Richtern bis zum Propheten, zieht sich der immer neue Verweis auf die Tora als Maßstab des amtlichen Handelns. Am deutlichsten wird das dann sogar noch im Königsgesetz selbst. Es enthält nach den Bestimmungen über Wahl und Einsetzung des Königs vor allem zwei Gruppen von Dispositionen. Einmal Eingrenzungen für die höfische Pracht- und Machtentfaltung, zum andern Vorschriften über den Umgang des Königs mit der Tora. Er muß eine persönliche Abschrift des deuteronomischen Gesetzes besitzen und täglich darin studieren. Das macht ihn eigentlich eher zu einem Musterisraeliten als zu einem Administrator des Staates. Wir kommen fast schon in die Nähe jetziger europäischer Monarchien mit ihren nur noch repräsentierenden Königen und Königinnen. Ich wüßte nicht, wann in der Geschichte des jüdischen Volkes dieser Verfassungentwurf zu geltendem und verwirklichtem Recht geworden wäre. Er blieb damals Utopie. Das Wort "Utopie" führt uns zum dritten, jetzt noch zu behandelnden Punkt: Zum bewußt angezielten fließenden Übergang vom Recht zum Ethos. 3. Recht im Übergang zum Ethos Seinen letzten Schliff erhielt das deuteronomische Gesetz vielleicht gar nicht so lange vor der "Politeia" Platons. Sie entstand im vierten Jahrhundert vor Christus und gilt für das Abendland gewöhnlich als Anfang des utopischen Denkens. Mir scheint, schon das deuteronomische Gesetz in seiner Endgestalt ist eine Utopie. Es präsentiert sich als Gesetzbuch. Doch wenn es entsteht, gibt es kein Israel, in dem es gelten könnte. Es entwirft ein zukünftiges glückliches Israel, in dem es sogar keine Armut mehr gibt.(12) Wir müssen davon ausgehen, daß Gerechtigkeit im alten Orient entscheidend von der Überwindung der Armut her definiert wird. Die eigentliche Aufgabe des Königs ist von Kriegszeiten abgesehen die tägliche Rechtsprechung. Und die königliche Rechtsprechung wird definiert als Rechtshilfe für die "Witwen und Weisen". Die Witwen und Weisen, zu denen noch die Fremdarbeiter treten können, sind Bevölkerungsgruppen, die sich im gesellschaftlichen Machtkampf nicht selbst durchsetzen können. Ihnen hat der König zu ihrem Recht zu verhelfen. Tut er das, dann hat er im Lande Gerechtigkeit hergestellt. Die ganze Bibel ist voll von solchen Tönen. Doch im deuteronomischen Gesetz vollzieht sich nun eine eigentümliche Neudefinition der Armut. Das Deuteronomium setzt eine im wesentlichen agrarische Wirtschaftsstruktur voraus. Normal sind ungefähr gleichgroße Familienbetriebe mit Subsistenzwirtschaft. Personengruppen, die keinen Landbesitz als Lebensgrundlage besitzen, fallen da heraus. Die gibt es natürlich. So durften die Priesterfamilien, genauer: der ganze Stamm Levi, aus kultischen Gründen über keinen Landbesitz verfügen. Sie lebten von den Opfergaben am Heiligtum. Das war unproblematisch. Gefährdet waren dagegen familiäre Ruinen, etwa Witwen mit ihren Kindern nach verfrühtem Tod des Mannes und Rückfall des Landbesitzes an die Sippe des Mannes, ohne daß die Sippe der Frau für sie und ihre Kinder hätte aufkommen können. Solche Fälle sind mit "Witwen und Waisen" gemeint. Oder Fremde, die sich als Tagelöhner ernähren mußten. Solche Gruppen galten als "Arme". Das Deuteronomium entnimmt sie nun dieser Klassifizierung. Sie werden in ihm niemals als "Arme" bezeichnet. Vielmehr werden sie den hochgeehrten, aber gleich ihnen landbesitzlosen Leviten zugeordnet. So, wie es für die Leviten traditionell schon eine eigene Versorgung gibt, wird auch für die Fremden, Waisen und Witwen nun ein institutionelles Versorgungssystem eingerichtet. Einerseits müssen für ihre normale Ernährung von der bäuerlichen Bevölkerung Abgaben geleistet werden, andererseits sind die landbesitzenden Familien verpflichtet, bei den Höhepunkten des nationalen Lebens, den drei großen Wallfahrtsfesten, die Fremden, Witwen und Waisen aus der Nachbarschaft in ihre Festgemeinschaften aufzunehmen und ihnen so vollen Anteil an der Festfreude, dem Höhepunkt des Daseins, zu geben. Die entsprechenden Gesetzesdispositionen im Deuteronomium haben fast den Charakter von Kultrecht. Sie stehen vor allem in den Festgesetzen. Die Absicht dieser Konstruktion kann nur die institutionelle Beseitigung der Armut aus der Gesellschaft "Israel" sein. Die woanders "Arme" sind, brauchen es hier nicht mehr zu sein. Das schließt natürlich nicht aus, daß es auch in dieser Gesellschaft immer wieder zur Krise, ja zum Zusammenbruch von bäuerlichen Betrieben kommen kann, durch Mißernten, durch Mißwirtschaft, durch Kriegsfolgen. Dann entsteht in einem Prozeß sich steigernder Verschuldung punktuell von neuem "Armut". Das Deuteronomium macht davor die Augen nicht zu. In einer eigenen Serie von Gesetzen geht es diese immer wieder zu erwartende Verdunkelung der gesellschaftlichen Landschaft an. Es sind Gesetze über zinslose Darlehen, allabendliche Entlohnung von Tagelöhnern, humanen Umgang mit dem Pfand, Freilassung von Menschen, die sich als Schuldsklaven verdingen mußten, im siebten Jahr, verbunden mit Hilfe für eine neue Existenzgründung. Verpflichtet werden dazu die jeweiligen Nachbarn, nicht der Staat. An dessen Fähigkeit, solche Probleme zu meistern, glaubt man offenbar nicht. Aber hier sind wir nun an dem Punkt, auf den es mir ankommt. Hier gerät das Recht an seine Grenze. Im Deuteronomium geht es hier nahtlos in Ethos über. Plötzlich wird die Sprache in diesen Armengesetzen breiter, rhetorischer, wärmer. Plötzlich wird vom "Bruder" geredet. An dieser Stelle in der Geschichte Israels kommt jene Brudertitulatur in die Sprache hinein, die später in der jüdischen und christlichen Welt eine solche Karriere gemacht hat. Zwar wird auch hier, wie sonst im Recht, mit Sanktionen gearbeitet. Aber es sind keine von einem Richter verhängte Sanktionen mehr. Vielmehr wird angedroht, daß Gott es hört, wenn der Arme, dem nicht geholfen wird, zu ihm schreit, und daß der Gottheit dann der hartherzige Nachbar als todeswürdiger Verbrecher gilt. Das Deuteronomium entwirft also eine Gesellschaft, in der es auf keinen Fall Armut geben darf und in der alle Glieder in gleicher Weise Anteil am Glück haben sollen. Diese Gesellschaft besitzt ideale Rechtskonstruktionen, rechnet aber zugleich damit, daß das Recht nicht alles vermag. Ohne Skrupel stimmt es deshalb an den krisenbedrohten Rändern des Glücks mitten im Recht die Melodie des Erbarmens an. Rechtstheoretisch ist das natürlich der schwache Punkt eines solchen in Rechtsform gekleideten Gesellschaftsentwurfs. Das macht ihn zur Utopie. Denn wer kann Freiheit befehlen, kann Erbarmen verordnen? Ein wahrhaft waghalsiges Rechtsdenken, das es ablehnt, klare Grenzen zum Ethos zu ziehen. *** Damit bin ich schon fast am Schluß meines Vortrags. Ich vermute nämlich, daß bei genauer Überprüfung so oder so jede Konstruktion von Recht an eine Grenze gerät, wo das Recht nicht mehr greift und Gerechtigkeit nur bleiben kann, wenn Barmherzigkeit hinzutritt. Das Erstaunliche ist, daß genau diese Erkenntnis gegen Ende der breiten und sich über Jahrtausende erstreckenden altorientalischen Rechtsgeschichte so klar in einem utopischen Entwurf Israels emporsteigt. Seitdem steht sie wie ein ständig erhobener Zeigefinger hinter allem Bemühen des Abendlandes, ja der heutigen globalen Gesellschaft um eine gerechtere Welt. Sie kann nicht in Vergessenheit geraten. Denn es gibt die Juden und die Christen, die den utopischen Weltentwurf des Deuteronomiums in ihren heiligen Schriften stehen haben. Sie versagen selber immer wieder angesichts dieses Anspruchs. Aber sie halten trotzdem an ihm fest. Um mit einem für Christen maßgebenden Faktum zu enden: In der neutestamentlichen Apostelgeschichte wird die Jerusalemer Urgemeinde beschrieben. Dabei wird beansprucht, daß sie den Entwurf des Deuteronomiums realisiert hat. Den mit Zitation der entsprechenden Formulierung aus dem Deuteronomium heißt es da über die Urgemeinde: "Es gab keinen Armen unter ihnen" (Apostelgeschichte 4,34, vgl. Deuteronomium 15,4). Vielleicht zeigt gerade ein solcher Satz, wie sehr die Rechtstexte des Alten Testaments uns auch heute immer noch betreffen. 1. Vgl. die "Liste der Vorträge der Frankfurter Juristischen Gesellschaft" (für 19641996), die als "Anlage" hinzugefügt ist zu K. Stephan, "Tres faciunt collegium. Der Verein als Lebensform des Juristen oder Warum hat Frankfurt eine Juristische Gesellschaft?," in: Recht, Geist und Kunst. Lieber amicorum für Rüdiger Volhard (Hg. v. K. Reichert u.a.; Baden-Baden: Nomos, 1996) 179-201, hier: 189-201. 2. (Hg. v. Eckart Otto unter Mitarbeit von K. Baltzer, S. Greengus, B. S. Jackson, B. Janowski, S. Lafont, B. M. Levinson, N. Lohfink, M. T. Roth, T. Veijola, R. Yaron; Wiesbaden: Harrassowitz). Band 3 erschien 1997. 3. Zu diesem Teil vgl. Eckart Otto, "Recht/Rechtswesen im Alten Orient und im Alten Testament," in: Theologische Realenzyklopädie XXVIII (Berlin: de Gruyter, 1997), S. 197-209. 4. Deutsche Übersetzung der Texte in: R. Borger, H. Lutzmann, W. H. Ph. Römer, E. v. Schuler, Rechtsbücher (Texte aus der Umwelt des Alten Testaments I,1;Gütersloh: Mohn 1982). 5. Theory and Method in Biblical and Cuneiform Law. Revision, Interpolation and Development (Hg. v. B. M. Levinson; Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 181; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1994). 6. Vgl. N. Lohfink, "Bund als Vertrag im Deuteronomium," Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 107 (1995) 215-239. 7. Vgl. G. Braulik, "Das Buch Deuteronomium," in: Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher der Theologie 1,1; Stuttgart: Kohlhammer 21996) 76-88, hier: 78f. 8. Übersetzung einiger Treueide: R. Borger, M. Dietrich, E. Edel, O. Loretz, O. Rössler, E. v. Schuler, Staatsverträge (Texte aus der Umwelt des Alten Testaments I,2;Gütersloh: Mohn 1983). 9. Vgl. H. U. Steymans, Deuteronomium und die ade² zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel (Orbis Biblicus et Orientalis 145; Freiburg Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck, 1995); E. Otto, "Treueid und Gesetz. Die Ursprünge des Deuteronomiums im Horizont neuassyrischen Vertragsrechts," Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 2 (1996) 1-52. 10. Vgl. N. Lohfink, Unsere großen Wörter. Das Alte Testament zu Themen dieser Jahre (Freiburg: Herder, 1977) 24-43 ("Theologie als Antwort auf Plausibilitätskrisen in aufkommenden pluralistischen Situationen, erörtert am Beispiel des deuteronomischen Gesetzes"). 11. Die Diskussion hierzu, die inzwischen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen hervorgebracht hat, wurde ausgelöst durch N. Lohfink, "Die Sicherung der Wirksamkeit des Gotteswortes durch das Prinzip der Schriftlichkeit der Tora und durch das Prinzip der Gewaltenteilung naach den Ämtergesetzen des Buches Deuteronomium (Dt 16,1818,22)," in: Testimonium Veritati. Festschrift Wilhelm Kempf (Hg. v. H. Wolter; Frankfurter theologische Studien 7; Frankfurt: Knecht, 1971) 143-155. 12. Zum folgenden vgl. N. Lohfink, "Das deuteronomische Gesetz in der Endgestalt Entwurf einer Gesellschaft ohne marginale Gruppen," Biblische Notizen 51 (1990) 25-40. Dort auch die genaue Abgrenzung der einzelnen diskutierten Gesetze. Ferner ders., "Armut in den Gesetzen des Alten Orients und der Bibel," in: Ders., Studien zur biblischen Theologie (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 16; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1993) 239259.