Rechtstexte im Alten Testament

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Rechtstexte im Alten Testament
Norbert Lohfink SJ
Frankfurt a.M., Frankfurter Hypothekenbank Centralboden, 19.2.98
Frankfurter Juristische Gesellschaft
Rechtstexte im Alten Testament
Ich betrachte es als eine besondere Ehre, hier vor der "Frankfurter Juristischen Gesellschaft"
sprechen zu dürfen. Die Vorträge Ihrer Gesellschaft sind ja normalerweise den Fragen des
heutigen Staats- und Wirtschaftsrechts gewidmet. Nur bisweilen ergötzen Sie sich auch
einmal durch kleine Ausflüge in die Vorgeschichte unseres heutigen Rechts. Doch haben
diese Exkursionen Sie wenn ich recht sehe noch niemals bis in jene weit entfernte Provinz
der antiken Rechtgeschichte geführt, in die ich Sie heute locken soll: zu den Rechtssystemen
des vorderen Orients vom ausgehenden 3. Jahrtausend vor Christus bis etwa zur
Zeitenwende.(1)
Zu dieser rechtsgeschichtlichen Provinz gehört nämlich das biblische Recht. Es unterscheidet
sich allerdings vom Recht Ägyptens, Babyloniens, Assyriens und des Hethiterreiches
dadurch, daß es nicht erst heute wieder aus dem Wüstensand gegraben wird, sondern daß es
jüdisch wie christlich bis zu uns ununterbrochen tradiert worden ist, kanonische Geltung
besaß, interpretiert und weiter ausdifferenziert wurde. Es hat nicht nur im religiösen Kontext,
sondern weit darüber hinaus auf die Entwicklung unserer heutigen Rechtsvorstellungen
eminenten Einfluß ausgeübt. Vieles, was wir als neuzeitliche Errungenschaften betrachten,
leitet sich vom Recht der Bibel her, etwa das für unsere Staatskonstruktion so wichtige
Prinzip der Gewaltenteilung. Ich will auf dieses Beispiel noch zurückkommen. Solche
Zusammenhänge sind uns nur meist nicht bewußt. Selbst Montesquieu, der erste Theoretiker
des gewaltenteiligen Staats, kannte seine eigenen Wurzeln nicht. Die von ihm
herangezogenen Beispiele reichen gerade noch nach Athen und zu den homerischen Helden.
Den Orient und die Bibel nennt er nicht. Aber ich will nicht sofort ins Detail gehen.
Ich möchte vielmehr zunächst immer noch einleitend betonen, daß Sie keinen Juristen vor
sich haben. Seien Sie also nachsichtig, wenn ich bisweilen dilettantisch formuliere. Ich habe
zwar als Student die Keilschriftsprachen an mesopotamischen Gesetzestexten erlernt, am
Kodex Hammurabi und an den mittelassyrischen Gesetzen. Für meine Doktorarbeit mußte ich
mich mit hethitischen Staatsverträgen und neuassyrischen Treueiden befassen. Aber ich bin
Bibelwissenschaftler, und auch auf das biblische Recht habe ich meine Aufmerksamkeit erst
voll gerichtet, als ich für die amerikanische Reihe "Hermeneia" den Auftrag zu einem
größeren Kommentar über das Buch Deuteronomium erhielt. An ihm arbeite ich noch. Das
Deuteronomium ist unter den alttestamentlichen Rechtskodifizierungen vielleicht die
interessanteste, und bei ihm sind die Beziehungen zum außerbiblischen altorientalischen
Recht sicher am markantesten.
Zweifellos beschäftigt sich in unserer Welt mit diesen alten Dingen, vor allem mit dem
Keilschriftrecht, nur eine Handvoll Leute. Sie sitzen vor allem in den USA und in Israel. Nur
wenige gibt es in Europa. In den Vereinigten Staaten trifft man sich bei den Jahreskongressen
der "Society of Biblical Literature" in der sogenannten "Biblical Law Group", für Europa
haben wir 1991 hier in Frankfurt in unserer Hochschule Sankt Georgen eine "Fachgruppe für
altorientalische und biblische Rechtsgeschichte" gegründet, die sich seitdem meist jährlich
trifft. In ihr arbeiten Keilschriftrechtler und Bibelwissenschaftler zusammen. Ihr eigentlicher
Inspirator, der Münchener Alttestamentler Eckart Otto, ist auch der Hauptherausgeber unseres
neuen Jahrbuchs. Es heißt "Zeitschrift für Altorientalische und Biblische
Rechtsgeschichte".(2) Nach meiner Kenntnis ist es das einzige Periodicum, das auf diesen
Bereich spezialisiert ist. Es handelt sich natürlich um ein typisches Orchideenfach, wie man
so sagt. Es hat keine großen Chancen, Förderung zu erfahren. Doch innerhalb des Fachs geht
es durchaus lebhaft zu.
In den letzten Jahren haben vor allem zwei Fragen zu heftigen Diskussionen geführt, die
Frage nach der Funktion der sogenannten Gesetzbücher des alten Orients und die Frage nach
der Existenz einer Art von altorientalischem "common law". Es ist vielleicht sinnvoll, daß ich
in der ersten Hälfte meines Vortrags ein wenig auf diese beiden Diskussionen eingehe. Das
bietet mir nebenbei auch die Gelegenheit, einige generelle Informationen über das
altorientalische Rechtswesen einfließen zu lassen.(3)
I. Gesetzbücher und "common law" im alten Orient
Die erste Frage ist die nach der Funktion der imposanten Rechtssammlungen, die wir aus dem
alten Orient besitzen. Am bekanntesten ist der Codex Hammurabi aus dem Babylon des 18.
Jahrhunderts vor Christus, den man im Louvre jetzt wieder in Gestalt einer mehr als zwei
Meter hohen schwarzen Dioritstele bewundern kann. Ihm gehen in Mesopotamien schon seit
dem Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus andere Sammlungen voraus: die Gesetze
Urnammus, die Gesetze des Lipit-Eschtar und die Gesetze von Eschnunna. Andere folgen
ihm, so die mittelassyrischen Gesetze und das neubabylonische Gesetzesfragment. Das alles
im Zweistromland selbst. Eine Nebenlinie dokumentieren die hethitischen Gesetze in
Kleinasien.(4) Die Zahl solcher Gesetze muß noch größer gewesen sein. Doch wir hängen
vom archäologischen Zufall ab. Wozu dienten also diese oft sehr sorgfältig redigierten, in
ihren Prologen und Epilogen fast poetisch klingenden Gesetzeswerke?
Drei ernstzunehmende Hypothesen stehen gegeneinander. Die erste sieht in ihnen, analog zum
römischen Recht und neuzeitlicher Rechtskodifizierung, präskriptive Rechtsquellen. Doch
gerade für Mesopotamien haben wir neben den Gesetzbüchern noch andere
Informationsquellen. Wir besitzen tausende von schriftlichen Verträgen und Prozeßurkunden.
In ihnen zeigt sich: So gut wie nie beruft sich eine richterliche Entscheidung auf eines der
Gesetzbücher. Das ist umso erstaunlicher, als Berufungen auf königliche Einzelerlasse
durchaus vorkommen. So regen sich Zweifel an der Hypothese kodifizierter Gesetzgebung.
Man versteht, daß es zu einer diametral entgegengesetzen Hypothese kam. Sie sieht etwa im
Codex Hammurabi, der wie ein großes Denkmal als Stele im Haupttempel Babylons stand,
nichts als ein Machwerk königlicher Propaganda. Er hätte die gleiche Funktion gehabt wie
die großen königlichen Siegesinschriften. In der Tat nähern sich die Prologe und Epiloge der
Gesetze diesen Inschriften in Stil und Topik. Feierten die Siegesinschriften den König als
Kriegshelden, so die Gesetzesinschriften den gleichen König als den Durchsetzer von Recht
und Gerechtigkeit. Doch auch diese Hypothese hat eine schwache Stelle. Offenbar hatten gar
nicht alle Gesetzeskodizes einen Prolog und einen Epilog. Selbst von denen, die eine solche
Rahmung besaßen, gibt es Tontafeln, die nur den juristischen Mittelteil enthalten. Es muß also
doch noch einen anderen Gebrauch dieser Texte gegeben haben als nur die
Königspropaganda.
Hier schiebt sich eine dritte Hypothese ein. Sie sieht in den Gesetzessammlungen
rechtsdeskriptive Texte aus dem Schulbetrieb im "Tafelhaus", wo die intellektuelle Elite
ausgebildet wurde. Das Gerichtswesen selbst beruhte völlig auf Gewohnheitsrecht und
Präzedenzfällen. Doch zu Lehrzwecken sammelte man Rechtsentscheide und komponierte sie
in Analogie zur Omenliteratur kunstvoll zu Sammlungen. An ihnen konnte man durch
logische Extrapolation fiktiver Fälle die rechte Entscheidungskunst erlernen. Da die
eigentlichen Richter Sippenälteste, Beamte, Könige normalerweise gar nicht durch das
Tafelhaus gegangen waren, war der Einfluß dieser oft hochberühmten juristischen Schultexte
eher indirekt. Er lief über die Beratungs- und Gutachtertätigkeit der Gelehrten.
Diese dritte Annahme ist am plausibelsten. Die Verwendung vorhandener, rein
"akademischer" Rechtssammlungen als Versatzstücke in königlichen Propagandainschriften
wäre dann ein sekundärer Gebrauch. Er beschränkt sich auch im wesentlichen auf die
altbabylonische Zeit. Daß in der Spätzeit die Gerichtsentscheidungen meist ziemlich im
Einklang mit den Problemlösungen der alten Gesetzbücher stehen, erklärt sich leicht durch
deren indirekten Einfluß.
In Israel müssen wir zeitlich etwas versetzt mit analogen Entwicklungen rechnen. Auch hier
galt in der Praxis das Gewohnheitsrecht. Alles spricht dafür, daß die älteste
Gesetzeskodifizierung, die uns im Pentateuch erhalten ist, das sogenannte "Bundesbuch"
(Exodus 20,2223,33), zunächst ebenfalls ein rechtsgelehrter Schultext war, der wie die
Rechtssammlungen in Mesopotamien die Rechtsprechung höchstens indirekt beeinflußte.
Doch später lief es anders als im Zweistromland. Das hängt damit zusammen, daß Israel
andere Wege als seine Nachbarn einschlug, wenn es um die Frage ging, wessen Autorität dem
Recht eigentlich Geltung verleihe.
Blicken wir nochmals auf den ganzen fruchtbaren Halbmond. Überall gründete die Kraft des
Rechts letztlich im göttlichen Willen. Doch auf sehr verschiedene Weise. Im klassischen
Ägypten ist die Gottheit im König inkarniert. Sein Wille konstituiert das Recht. Ebendamit ist
es stets göttliches Recht. Es ist je neu und je ganz im König da. Deshalb hat Ägypten auch
keine zeitüberdauernden Gesetzessammlungen hervorgebracht wie Mesopotamien. In
Mesopotamien ist der König kein Gott. Er ist nur von der Gottheit eingesetzt, und so erhält er
auch von den Göttern den Auftrag, Recht zu schaffen. Das Recht ist daher höchstens
Königsrecht, wenn auch göttlich sanktioniertes. Damit war es ein "weltlich Ding". Die
Voraussetzung war gegeben, daß Rechtssammlungen entstanden und sekundär auch im
Namen des Königs publiziert wurden.
Ähnlich mag es in Israel zwischen David und dem babylonischen Exil gewesen sein, also in
Israels eigentlich staatlicher Zeit (etwa zwischen 1000 und 600 vor Christus). Daß es damals
zumindest in Jerusalem königliche Rechtsetzung gab, bezeugt Jesaja 10,1: "Weh den
Gesetzesmachern, die böse Gesetze erlassen, den Gesetzesverfassern, die Unerträgliches
verfassen!" Aber das mögen königliche Einzelerlasse gewesen sein. Ob sie je in einem
präskriptiven Gesetzbuch zusammengefaßt wurden, können wir nicht sagen. Erhalten wäre
uns davon in den Gesetzen des Pentateuchs jedenfalls nichts. Diese empfangen ihre Geltung
von woandersher, nicht vom Königshof. In der Geschichtserzählung der Tora werden sie alle
am Berg Sinai im Augenblick der Stiftung des Volkes von Gott promulgiert. Der Sinai ist Ort
göttlicher Gesetzgebung. Das drückt aus, daß alle Gesetze Israels unter Umgehung jeder
staatlichen Instanz unmittelbar göttlich gesatztes Recht sein sollen.
Natürlich ist diese narrative Situierung literarisch und sekundär. Ursprünglich waren die im
Pentateuch in die Sinaierzählung oft nur locker eingehängten Gesetzessammlungen einmal
selbständig. Aber auch in diesem Stadium ihrer Existenz waren sie alle intern schon als
Gottesrecht stilisiert, auf diese oder jene Weise. Offenbar bedurfte das Recht in der
ausgehenden Königszeit Israels, als die alte gentile Ordnung immer mehr ins wirtschaftliche
und soziale Chaos glitt, einer neuen, nicht staatlichen Rechtsbegründung. Dies leisteten in
Jerusalem die Priester, die vermutlich den größeren Teil der intellektuellen Elite darstellten.
Sie begründeten die Geltung des von ihnen schriftlich verwalteten und weiterentwickelten
Rechts unter Umgehung der staatlichen Instanz direkt im göttlichen Willen. Einer der letzten
großen König von Jerusalem, Joschija von Juda, hat im ausgehenden siebten Jahrhundert die
Gottunmittelbarkeit des Rechts dann sogar zum staatlichen Prinzip gemacht. Ich werde darauf
zurückkommen.
Nach dem Zusammenbruch der eigenen Staatlichkeit, das heißt im babylonischen Exil, im
persischen Großreich und unter hellenistischer Herrschaft, war die schon vorhandene
Gottunmittelbarkeit des Rechts die Möglichkeitsbedingung dafür, daß das jüdische Volk auch
innerhalb größerer Machtsysteme stets seine eigene, auch rechtlich durchstrukturierte Identität
bewahrte.
Irgendwann in dieser Periode werden die drei wichtigsten Gesetzeskodifizierungen, die es
inzwischen gibt, das schon erwähnte Bundesbuch, das Heiligkeitsgesetz (Levitikus 1726) und
das deuteronomische Gesetz (Deuteronomium 528), im Pentateuch, den 5 Büchern Mose,
vereinigt. Dort stehen sie bis heute trotz ihrer inhaltlichen Diskrepanzen als die eine Tora
Israels friedlich beieinander und können nur durch Interpretation auf einen einzigen Nenner
gebracht werden. Nach einer zur Zeit beliebten Theorie kam es zu dieser literarischjuristischen Großaktion, als die persische Reichsregierung von der Tempelgemeinde in
Jerusalem für die Gewährung gewisser politischer Halbfreiheiten die Existenz eines eigenen
Rechtssystems forderte, das dann in einer sogenannten "Reichsautorisation" zu persischem
Königsrecht für die Provinz Juda gemacht worden wäre.
Ob das so war, oder ob bei einer solchen Gelegenheit nur der schon vorhandene Pentateuch
aus der Schublade gezogen wurde, um als Basis der persischen Anerkennung zu dienen von
da an gibt es eine kanonische Geltung der "Tora". Doch die genaue Funktion des im
Pentateuch vereinten Rechts in den darauf folgenden Epochen, etwa zur Zeit Jesu, ist gar
nicht so leicht zu bestimmen. Man möchte annehmen, es handle sich jetzt für die jüdische
Gemeinschaft in der Tora um präskriptiv geltendes, göttlich begründetes Recht bei aller
Schwierigkeit seiner internen Harmonisierung. Und irgendwie stimmt das auch. Aber neben
dem kodifizierten biblischen Recht muß auch stets das Gewohnheitsrecht weiterexistiert
haben. Es scheint inhaltlich keineswegs in allem mit dem Recht der Tora übereingestimmt zu
haben. Und es entwickelte sich lebendig weiter. Es war das eigentlich geltende Recht. Die
Textfunde aus Qumran zeigen uns das jetzt auf neue, intensive Weise. Dieses wirkliche Recht
verstand sich auch nicht einfach als Auslegung der Tora. Seine pharisäische Variante wurde
schließlich im 3. Jahrhundert unserer Ära in der Mischna gesammelt und systematisiert. Aber
erst in den dann folgenden Jahrhunderten wurde in den Talmudim und Midraschim eine
durchgehende theoretische Rückführung auf das biblische Recht angestrebt.
Höchst kompliziert also, die Frage nach der Funktion der Gesetzessammlungen im alten
Orient und in der Bibel! Gerade für das biblische Recht bleibt manches offen. In welchem
Maß war es Niederschlag deskriptiver Rechtsgelehrsamkeit? In welchem Maß war es vor der
Redaktion der Tora zumindest zeitweise auch schon präskriptiv? In welchem Maß waren es
utopische Entwürfe, die für das wirkliche Recht vielleicht nur letzte Maßstäbe und
Zielvorstellungen formulierten? In welchem Maß war die Tora nach ihrer Kanonisierung
zeitweise vielleicht nur noch ein sprachlich geronnenes Symbol dafür, daß in Israel hinter
allem rechtlichen Handeln letztlich der Rechtswille Gottes stand?
Dieses nie aufgegebene Nebeneinander von kodifiziertem Recht und lebendig sich
weiterentwickelndem Gewohnheitsrecht führt uns nun zur zweiten, wesentlich kürzer
abzuhandelnden Frage, die heute in der altorientalistischen Rechtsdiskussion eine Rolle spielt.
Sie ist vor allem durch Raymond Westbrook neu aufgeworfen worden, der in Baltimore an
der Johns Hopkins University lehrt. Es ist die Frage, ob wir durch die natürlich höchst
fragmentarischen Zeugnisse des damaligen Rechts, die wir besitzen, nicht dazu verführt
werden, einer entwicklungsgeschichtlichen Sichtweise auf den Leim zu gehen, während in
Wirklichkeit der ganze alte Orient eine einzige, relativ unbewegliche, fast statische Rechtswelt
gewesen wäre, von einem sehr stabilen Gewohnheitsrecht bestimmt, das wir natürlich in
seiner Gesamtheit nicht mehr rekonstruieren könnten. Erst der Einbruch des Hellenismus habe
diese geschlossene Rechtswelt aufgebrochen und dynamisiert. In der Bibel könne höchstens
bei den späten Gesetzen von Rechtsentwicklung die Rede sein. Zumindest die älteren Teile
des Bundesbuches gehörten noch ganz der gemeinsamen Rechtswelt des alten Orients an und
seien von ihr her zu interpretieren.
Diese Theorie hat für die Interpretation der einzelnen Gesetze deutliche Folgen. Da alle
unsere Zeugnisse nur Fragmente einer einzigen Rechtswelt seien, könne man zur Ergänzung
und Deutung eines bestimmten Textes alle anderen Regelungen der gleichen Materie
heranziehen, seien sie auch geographisch und zeitlich noch so weit voneinander entfernt.
Westbrook tut das auch, so daß sich sein Verständnis mancher biblischer Gesetze von dem
anderer Gelehrter massiv unterscheiden kann. Damit stellt er natürlich die periodisierende
Deutung der altorientalischen Rechtszeugnisse grundsätzlich in Frage.
Kein Wunder, daß es hierüber zu einer heftigen Diskussion kam, vor allem in den Vereinigten
Staaten. Die wichtigsten Äußerungen beider Seiten sind 1994 in einem von Bernard M.
Levinson, dem Vorsitzenden der schon erwähnten "Biblical Law Group", herausgegebenen
Sammelband gedruckt worden.(5) Im ganzen steht Westbrook allein, so sehr seine
Fachgenossen manche seiner Einzelinterpretationen begrüßen. In den mesopotamischen
Gesetzen und vor allem in den hethitischen Gesetzen läßt sich durchaus eine
Rechtsentwicklung aufweisen. Wir müssen auch für das Gewohnheitsrecht mit vielen
regionalen Verschiedenheiten und geschichtlichen Entwicklungen rechnen. Für die meisten
Gesetzessammlungen der Bibel, die erst in die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends vor
Christus gehören, hat dies Westbrook sowieso nie in Frage gestellt.
So sehr die biblischen Rechtstexte also mit dem umfassenderen altorientalischen Recht
zusammenhängen sie haben zugleich ihren Sondercharakter und ihre eigene Geschichte. Man
muß sie nicht zu fragmentarischen Zeugnissen eines träge dahinträumenden altorientalischen
"common law" degradieren. Es lohnt sich, sie in sich selbst zu werten.
Wenn ich nun in der zweiten Hälfte meines Vortrags genauer auf dieses biblische Recht
eingehe, muß ich mich natürlich einschränken. Mehr als Blitzaufnahmen sind nicht möglich.
Ich greife das deuteronomische Gesetzbuch heraus, mit dem ich mich am meisten beschäftigt
habe. Auch hier kann ich keine Gesetzesdispositionen im einzelnen diskutieren. Ich will nur
drei Gesichtspunkte eher allgemeinerer Art besprechen: Recht als Vertrag mit der Gottheit,
Recht als Staatskritik, Recht als untrennbar vom Ethos.
II. Konzeptionen des Rechts im Deuteronomium
1. Recht als Vertrag mit der Gottheit
Im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, wird Moses letzter Lebenstag erzählt. Am Ende der
vierzigjährigen Wüstenwanderung, bevor Israel von Osten her den Jordan überschreitet und in
das verheißene Land einzieht, muß er sterben. Er setzt als den, der sein Werk fortführt, auf
Gottes Anweisung Josua ein. Offenbar kann er das nicht, ohne daß bei dieser Gelegenheit die
ganze Rechtskonstruktion Israels gewissermaßen reaktiviert wird. Diese geht auf einen
"Bund", sagen wir ruhig: auf einen Vertrag Gottes mit Israel am Berg Sinai zurück. In einer
Vertragszeremonie wird das alte, identitätsbegründende Rechtsverhältnis von neuem
beschworen. Die sogenannten deuteronomischen Gesetze, die Mose in den Kapiteln 5 bis 28
vorträgt, die also den Hauptteil des Buches bilden, sind die Vertragsurkunde. Wo wir also mit
einem Gesetzbuch rechnen würden, finden wir schon vom narrativen Zusammenhang her eine
Urkunde, und zwar die Urkunde eines Vertrags zwischen für uns zumindest etwas
ungewöhnlichen Partnern: Auf der einen Seite ein Volk, auf der anderen die Gottheit.(6)
In Wirklichkeit haben biblische Redaktoren hier natürlich die Gelegenheit des letzten Tages
Moses benutzt, um eine vorgegebene alte Gesetzessammlung narrativ unterzubringen. Denn
bei der Erzählung der Sinaiereignisse in Exodus 1924 hatten sie eine andere
Gesetzessammlung eingehängt, das noch ältere, schon erwähnte "Bundesbuch". Die beiden
Gesetzeswerke stammen aus verschiedenen Epochen und unterscheiden sich durchaus, sind
aber in der Pentateuchkonstruktion als gleichwertige Urkunden des einen, bei der
Gewaltübergabe an Josua nur neu beschworenen Bundes Israels mit seinem Gott gemeint.
Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings nicht nur ein Unterschied in den Rechtsregelungen,
sondern auch in der Konzeption. Das Bundesbuch in der Sinaierzählung wird allein durch
seine narrative Umgebung zu einem Bundesdokument. Der Text selbst ist eine
Gesetzessammlung, wenn er sich auch in seiner Endredaktion schon als ein vom Gott Israels
erlassenes Gesetz präsentiert. Das Deuteronomium dagegen ist auch innerlich als
Bundesurkunde stilisiert. Das zeigt der Aufbau, und das zeigt die Sprache. Wir werden also
die Rückführung der Geltung des Rechts als unmittelbar göttliches Recht auf einen Vertrag
spezifisch in der Vorgeschichte des Buches Deuteronomium zu suchen haben.(7)
Sprache, Stil und Motivik des Deuteronomiums sind sehr verwandt mit Sprache, Stil und
Motivik der diplomatischen Korrespondenz und des internationalen Vertragrechts des alten
Orients. Im Aufbau des deuteronomischen Gesetzes zeigen sich Strukturen, die wir auch von
Vasallenverträgen zwischen Großkönigen und ihren königlichen Satelliten her kennen. Am
Anfang steht die Vorgeschichte des Vertrags, dann kommen Grundsatzerklärungen, dann
Einzeldispositionen, dann Segens- und Fluchtexte. Mit diesem Bauprinzip vermischen sich im
Deuteronomium typische Motive und Formen des dynastischen Treueids, vor allem die
Verpflichtung auf exklusive Treue gegenüber dem Oberherrn und die massive
Fluchandrohung für den Fall der Untreue.(8) Historisch liegen Vasallenvertrag und
dynastischer Treueid eng beieinander. Im Buch Deuteronomium ist das alles jetzt so
konzipiert, daß Israels Gott der Oberherr ist, der Vasall ein ganzes Volk. Wir haben hier
offenbar die Übertragung eines Konzepts des internationalen Rechts von damals auf das
Gottesverhältnis einer Gemeinschaft.
Zumindest die spezifischen Treueidelemente im Buch Deuteronomium können wir ziemlich
genau datieren. Denn sowohl im Kapitel 13 als auch im Kapitel 28 läßt sich eine direkte
literarische Abhängigkeit von einem 1955 im Nabutempel der assyrischen Stadt Kalhûu
ausgegrabenen neuassyrischen Dokument höchsten Ranges nachweisen.(9) Es stammt aus
dem Jahre 672 vor Christus. Es ist ein textlich riesenhafter Treueid, den der Großkönig
Asarhaddon seine Satellitenkönige für den Fall seines Todes zugunsten seines Sohnes
Assurbanipal schwören ließ. Die Zeremonie muß ein Großereignis für das ganze Reich
gewesen sein. Auch Manasse, damals König von Juda, war Vasall Asarhaddons. Auch er muß
diesen Treueid geleistet haben. Das Dokument existierte in Jerusalem, ja es war dort vielleicht
auch in öffentlicher Zeremonie vorgetragen worden. Dieser Text und ähnliche Texte der
Unterwerfung waren eine offene Wunde am Fleisch des judäischen Nationalbewußtseins.
Ein halbes Jahrhundert später zerfiel das assyrische Imperium innerhalb kürzester Zeit. 612
wurde die Hauptstadt Ninive zerstört, und dann verteilte man nur noch die Beute. Damals
suchte auch Juda unter seinem König Joschija die Unabhängigkeit. Wir wissen aus dem 2.
Königsbuch, daß 622 vor Christus im Tempel von Jerusalem eine alte Urkunde gefunden
wurde, und daß Joschija in einer großen Zeremonie auf der Grundlage dieser Urkunde einen
öffentlichen Treueid gegenüber dem Gott Israels ablegte. Ihm trat das ganze Volk in der
gleichen Versammlung bei.
Lassen wir die religiösen Aspekte des Vorgangs zunächst beiseite, so dürfte es sich um die
feierliche Unabhängigkeitserklärung des Staates Juda gegenüber Assur gehandelt haben. Fast
allgemein nimmt die Forschung an, daß die vielleicht sogar nur angeblich aufgefundene
Urkunde eine frühe Vorstufe des jetzigen deuteronomischen Gesetzes war. Alles spricht
dafür, daß sie in bewußter Entgegensetzung zum Treueid gegenüber dem König von Assur
als Treueid nicht mehr gegenüber einem menschlichen Oberherrn, sondern nun gegenüber
dem eigenen Gott konzipiert war. Oder bei einer baldigen Überarbeitung wurde sie in
Anlehnung an die genannten Vorgänge so stilisiert. Als literarisch-juristisches Gegenstück
zum assyrischen Treueid spiegelte sie diesen natürlich zugleich. Das war wissenssoziologisch
von größter Bedeutung. Verträge und Treueide müssen im Juda von damals durch die
assyrische Erfahrung Signale überlegener Kultur gewesen sein. Indem nun das eigene neue
Selbstverständnis wiedergewonnener Unabhängigkeit in dieses Gewand gekleidet wurde,
erhielt es gewissermaßen die Weihe des Geltenden.(10)
Das alles erklärt, wieso in Israel jetzt das Recht grundlegend als Vertrag mit Gott konzipiert
wurde, ja warum überhaupt der Begriff des "Bundes" eine so große Bedeutung im Glauben
Israels und später auch des Christentums gewonnen hat. Das durch mehr als hundert Jahre
Unglück und Unfreiheit diskreditierte Königtum hätte in einer so chaotischen Epoche die
Geltung des Rechts gar nicht mehr aus dem Wesen des Staates heraus begründen können. Im
ins Religiöse hinübergeholten Modell des Vertrages konnte Gott als Oberherr es begründen.
Ich breche hier ab, obwohl zu dem Thema noch vieles zu sagen wäre, vor allem auch zur
notwendigen theologischen Bewältigung der Probleme, die eine solche Konzeption des
Gottesverhältnisses und eine solche Begründung des Rechts notwendig mit sich brachte. Die
Zeit drängt. Doch unser nächstes Thema schließt sich auch wieder unmittelbar an.
2. Recht als Staatskritik
Denn bald zeigte sich, daß der Unabhängigkeitserklärung Joschijas keine Dauer beschieden
war. Assur zerbrach zwar. Doch sofort trat im palästinensischen Raum erst der ägyptische
Pharao, dann der Babylonier Nebukadnezzar II. an seine Stelle. Gegen ihn revoltierte man.
Erfolg: Zerstörung Jerusalems, Zerschlagung Judas und eine in mehreren Schüben erfolgende
Deportation nach Babylonien, vor allem der gesamten Oberschicht. Doch hier, im
babylonischen Exil, kam es nicht zum schleichenden Identitätsverlust, sondern zur vielleicht
fruchtbarsten Selbstbesinnung Israels. Hier entstand die Bibel, die wir kennen. Die Bibel ist
Exilsliteratur. Hier wurde das Judentum geboren. Auch das deuteronomische Gesetz erhielt
hier ein neues Gesicht. Was uns im folgenden interessiert, ist seine Auseinandersetzung mit
dem Staat als gesellschaftlicher Gestalt.
Seit Israel Staat war, war es abwärts gegangen. Schließlich war der Staat untergegangen. Die
exilische Reflexion schrieb den Königen, den Repräsentanten der Staatlichkeit, die
Hauptschuld an der eingetretenen Katastrophe zu. Nicht, weil sie alle schlechte Könige
gewesen wären. Das deuteronomistische Geschichtswerk, aus gleichem Autorenkreis, kennt
auch positive Königsgestalten, Reformer, gläubige Menschen. Nein, die Institution "Staat" als
solche mußte einen strukturellen Schwachpunkt haben. Wie ließ sich, falls es je wieder zu
einem selbständigen Israel kommen sollte, diese Schwäche der Institution umgehen und
heilen? Darüber dachte man jetzt fern der Heimat nach.
Solchem Nachdenken verdankt sich der heute mitten ins deuteronomische Gesetz
eingelassene gewaltenteilige Verfassungsentwurf.(11) Man hat noch keinen Namen für das
Gemeinte. Aber die Sache ist da. Man setzt bei einigen schon vorhandenen Regelungen für
die Ortsgerichtsbarkeit und das Jerusalemer Zentralgericht an und fügt neue Paragraphen
hinzu. So entsteht eine Art Ämterordnung für das Gemeinwesen Israel. Sie steht jetzt in
Deuteronomium 16,1818,22 und ist folgendermaßen aufgebaut: Auf die Gerichtsordnung
folgt ein Gesetz über den König, dann ein Gesetz über die Priester, schließlich ein Gesetz
über die Propheten. Zwar fehlt ein Gesetz über die oberste Heeresleitung. Doch das hängt
damit zusammen, daß man mit einem Heerbann rechnet, der seine Führung nur im Kriegsfall
konstituiert. So dürfte wirklich ein Verfassungsentwurf vorliegen, der alle Spitzenorgane des
Gemeinwesens bespricht und in ein System bringt.
Es ist ein staatlicher Verfassungsentwurf. Doch ist an entscheidender Stelle in ihm sogar die
Notwendigkeit von Staat überhaupt in Frage gestellt. Die Stelle ist das Königsgesetz. In der
damaligen Welt war die Wirklichkeit "Staat" zweifellos nur gegeben, wenn ein König da war.
Das Israel der vorköniglichen Zeit war eine akephal-segmentäre Stämmegesellschaft
gewesen, vergleichbar mit manchen noch bis vor kurzem in Afrika anzutreffenden
Großgesellschaften nichtstaatlichen Charakters. Unterscheidend war: Es hatte keinen König.
Daß in den deuteronomischen Ämtergesetzen überhaupt vom Staat gehandelt wird, hängt also
am Königsgesetz. Dieses beginnt aber nun folgendermaßen: "Wenn du in das Land, das
JHWH, dein Gott, dir gibt, einziehst, es in Besitz nimmst, in ihm wohnst und dann sagst: 'Ich
will einen König über mich einsetzen wie alle Völker in meiner Nachbarschaft', dann darfst
du einen König über dich einsetzen" (Deuteronomium 17,14f). Ein solcher Anfang sagt aber:
Der Staat ist nicht die einzig mögliche Existenzform Israels, ja, seine Einführung ist eher eine
Konzession. Nur für den an sich gar nicht notwendigen Fall, daß Israel staatliche Existenz
will, wird dann die Idee der Gewaltenteilung innerhalb des Staates entwickelt.
Unter den Gewalten, die behandelt werden, überrascht uns vielleicht am meisten das "Amt"
des Propheten. Unsere klassische Konzeption der Gewaltenteilung kennt drei Gewalten:
Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Im deuteronomischen Entwurf käme auf jeden Fall
noch die kultische Spitze, also die Priesterschaft, hinzu. Zu fehlen scheint die Legislative.
Meine vielleicht etwas gewagt klingende These ist die, daß in diesem Verfassungsentwurf der
Prophet die Stelle der Legislative einnimmt. Denn sehen wir beim heutigen Parlament einmal
von der natürlich höchst bedeutsamen Finanzhoheit ab, dann hat die Legislative vor allem die
Aufgabe, wichtige Schritte der Regierung zu genehmigen und in immer neuer Gesetzgebung
und Gesetzesnovellierung das vorhandene Recht an neue Situationen und Entwicklungen
anzupassen. Genau das war jedoch im deuteronomischen Entwurf die Funktion des Propheten,
auch wenn er nicht vom Volk gewählt, sondern von Gott charismatisch berufen war. Die
grundlegende Rechtsordnung lag im deuteronomischen Gesetz vor. Die Interpretation und
Anpassung des Rechts oblag dem Propheten. Deshalb parallelisiert Mose den Propheten im
Prophetengesetz auch mit sich selbst: Wie Mose am Sinai den Gotteswillen vernahm, so soll
ihn immer wieder der Prophet vernehmen (Deuteronomium 18,16-18).
Aber nun zur Gewaltenteilung. Im altorientalischen Staat, auch noch im hellenistischen, ging
alle Gewalt vom König aus. Waren Ämter ausdifferenziert, dann standen sie doch alle unter,
nicht neben dem König. Der König blieb oberster Repräsentant, oberster Heerführer, oberster
Richter, oberster Priester, Spitze der Verwaltung. Im deuteronomischen Ämtergesetz
daggegen wird das Rechtswesen vor der königlichen Staatsspitze behandelt, und selbst beim
Zentralgericht treten nur Priester und Richter auf, nicht der König. Die Richter vor Ort
werden vom Volk eingesetzt, nicht vom König. Letzte Entscheidungsbasis für das
Zentralgericht ist das deuteronomische Gesetz, nicht ein Machtwort der Majestät. Auch im
Priestergesetz kommt der König nicht vor. Das Heiligtum ist Domäne der Priester allein, dazu
ein Teil des Gerichtswesens. Das Priestertum ist erblich, kein König setzt Priester ein. Der
Prophet wird von Gott erwählt, keine menschliche Instanz setzt ihn ein. Dies ist ein gewolltes
Nebeneinander, nicht ein hierarchisches Abhängigkeitsgefüge.
Doch für Gewaltenteilung in unserem Sinn ist nicht nur die gegenseitige Unabhängigkeit der
Instanzen gefordert. Die Zuständigkeiten müssen außerdem durch ein vorgeordnetes
konstitutionelles Gesetz zugeteilt sein. Auch das ist im Deuteronomium der Fall. Das
Deuteronomium selbst ist die vorgeordnete Konstitution, die die Gewalten entwirft und
begrenzt. Durch alle Ämtergesetze, von den Richtern bis zum Propheten, zieht sich der immer
neue Verweis auf die Tora als Maßstab des amtlichen Handelns.
Am deutlichsten wird das dann sogar noch im Königsgesetz selbst. Es enthält nach den
Bestimmungen über Wahl und Einsetzung des Königs vor allem zwei Gruppen von
Dispositionen. Einmal Eingrenzungen für die höfische Pracht- und Machtentfaltung, zum
andern Vorschriften über den Umgang des Königs mit der Tora. Er muß eine persönliche
Abschrift des deuteronomischen Gesetzes besitzen und täglich darin studieren. Das macht ihn
eigentlich eher zu einem Musterisraeliten als zu einem Administrator des Staates. Wir
kommen fast schon in die Nähe jetziger europäischer Monarchien mit ihren nur noch
repräsentierenden Königen und Königinnen.
Ich wüßte nicht, wann in der Geschichte des jüdischen Volkes dieser Verfassungentwurf zu
geltendem und verwirklichtem Recht geworden wäre. Er blieb damals Utopie. Das Wort
"Utopie" führt uns zum dritten, jetzt noch zu behandelnden Punkt: Zum bewußt angezielten
fließenden Übergang vom Recht zum Ethos.
3. Recht im Übergang zum Ethos
Seinen letzten Schliff erhielt das deuteronomische Gesetz vielleicht gar nicht so lange vor der
"Politeia" Platons. Sie entstand im vierten Jahrhundert vor Christus und gilt für das
Abendland gewöhnlich als Anfang des utopischen Denkens. Mir scheint, schon das
deuteronomische Gesetz in seiner Endgestalt ist eine Utopie. Es präsentiert sich als
Gesetzbuch. Doch wenn es entsteht, gibt es kein Israel, in dem es gelten könnte. Es entwirft
ein zukünftiges glückliches Israel, in dem es sogar keine Armut mehr gibt.(12)
Wir müssen davon ausgehen, daß Gerechtigkeit im alten Orient entscheidend von der
Überwindung der Armut her definiert wird. Die eigentliche Aufgabe des Königs ist von
Kriegszeiten abgesehen die tägliche Rechtsprechung. Und die königliche Rechtsprechung
wird definiert als Rechtshilfe für die "Witwen und Weisen". Die Witwen und Weisen, zu
denen noch die Fremdarbeiter treten können, sind Bevölkerungsgruppen, die sich im
gesellschaftlichen Machtkampf nicht selbst durchsetzen können. Ihnen hat der König zu
ihrem Recht zu verhelfen. Tut er das, dann hat er im Lande Gerechtigkeit hergestellt. Die
ganze Bibel ist voll von solchen Tönen. Doch im deuteronomischen Gesetz vollzieht sich nun
eine eigentümliche Neudefinition der Armut.
Das Deuteronomium setzt eine im wesentlichen agrarische Wirtschaftsstruktur voraus.
Normal sind ungefähr gleichgroße Familienbetriebe mit Subsistenzwirtschaft.
Personengruppen, die keinen Landbesitz als Lebensgrundlage besitzen, fallen da heraus. Die
gibt es natürlich. So durften die Priesterfamilien, genauer: der ganze Stamm Levi, aus
kultischen Gründen über keinen Landbesitz verfügen. Sie lebten von den Opfergaben am
Heiligtum. Das war unproblematisch. Gefährdet waren dagegen familiäre Ruinen, etwa
Witwen mit ihren Kindern nach verfrühtem Tod des Mannes und Rückfall des Landbesitzes
an die Sippe des Mannes, ohne daß die Sippe der Frau für sie und ihre Kinder hätte
aufkommen können. Solche Fälle sind mit "Witwen und Waisen" gemeint. Oder Fremde, die
sich als Tagelöhner ernähren mußten. Solche Gruppen galten als "Arme". Das
Deuteronomium entnimmt sie nun dieser Klassifizierung. Sie werden in ihm niemals als
"Arme" bezeichnet. Vielmehr werden sie den hochgeehrten, aber gleich ihnen landbesitzlosen
Leviten zugeordnet. So, wie es für die Leviten traditionell schon eine eigene Versorgung gibt,
wird auch für die Fremden, Waisen und Witwen nun ein institutionelles Versorgungssystem
eingerichtet. Einerseits müssen für ihre normale Ernährung von der bäuerlichen Bevölkerung
Abgaben geleistet werden, andererseits sind die landbesitzenden Familien verpflichtet, bei
den Höhepunkten des nationalen Lebens, den drei großen Wallfahrtsfesten, die Fremden,
Witwen und Waisen aus der Nachbarschaft in ihre Festgemeinschaften aufzunehmen und
ihnen so vollen Anteil an der Festfreude, dem Höhepunkt des Daseins, zu geben. Die
entsprechenden Gesetzesdispositionen im Deuteronomium haben fast den Charakter von
Kultrecht. Sie stehen vor allem in den Festgesetzen.
Die Absicht dieser Konstruktion kann nur die institutionelle Beseitigung der Armut aus der
Gesellschaft "Israel" sein. Die woanders "Arme" sind, brauchen es hier nicht mehr zu sein.
Das schließt natürlich nicht aus, daß es auch in dieser Gesellschaft immer wieder zur Krise, ja
zum Zusammenbruch von bäuerlichen Betrieben kommen kann, durch Mißernten, durch
Mißwirtschaft, durch Kriegsfolgen. Dann entsteht in einem Prozeß sich steigernder
Verschuldung punktuell von neuem "Armut". Das Deuteronomium macht davor die Augen
nicht zu. In einer eigenen Serie von Gesetzen geht es diese immer wieder zu erwartende
Verdunkelung der gesellschaftlichen Landschaft an. Es sind Gesetze über zinslose Darlehen,
allabendliche Entlohnung von Tagelöhnern, humanen Umgang mit dem Pfand, Freilassung
von Menschen, die sich als Schuldsklaven verdingen mußten, im siebten Jahr, verbunden mit
Hilfe für eine neue Existenzgründung. Verpflichtet werden dazu die jeweiligen Nachbarn,
nicht der Staat. An dessen Fähigkeit, solche Probleme zu meistern, glaubt man offenbar nicht.
Aber hier sind wir nun an dem Punkt, auf den es mir ankommt. Hier gerät das Recht an seine
Grenze. Im Deuteronomium geht es hier nahtlos in Ethos über. Plötzlich wird die Sprache in
diesen Armengesetzen breiter, rhetorischer, wärmer. Plötzlich wird vom "Bruder" geredet. An
dieser Stelle in der Geschichte Israels kommt jene Brudertitulatur in die Sprache hinein, die
später in der jüdischen und christlichen Welt eine solche Karriere gemacht hat. Zwar wird
auch hier, wie sonst im Recht, mit Sanktionen gearbeitet. Aber es sind keine von einem
Richter verhängte Sanktionen mehr. Vielmehr wird angedroht, daß Gott es hört, wenn der
Arme, dem nicht geholfen wird, zu ihm schreit, und daß der Gottheit dann der hartherzige
Nachbar als todeswürdiger Verbrecher gilt.
Das Deuteronomium entwirft also eine Gesellschaft, in der es auf keinen Fall Armut geben
darf und in der alle Glieder in gleicher Weise Anteil am Glück haben sollen. Diese
Gesellschaft besitzt ideale Rechtskonstruktionen, rechnet aber zugleich damit, daß das Recht
nicht alles vermag. Ohne Skrupel stimmt es deshalb an den krisenbedrohten Rändern des
Glücks mitten im Recht die Melodie des Erbarmens an. Rechtstheoretisch ist das natürlich der
schwache Punkt eines solchen in Rechtsform gekleideten Gesellschaftsentwurfs. Das macht
ihn zur Utopie. Denn wer kann Freiheit befehlen, kann Erbarmen verordnen? Ein wahrhaft
waghalsiges Rechtsdenken, das es ablehnt, klare Grenzen zum Ethos zu ziehen.
***
Damit bin ich schon fast am Schluß meines Vortrags. Ich vermute nämlich, daß bei genauer
Überprüfung so oder so jede Konstruktion von Recht an eine Grenze gerät, wo das Recht nicht
mehr greift und Gerechtigkeit nur bleiben kann, wenn Barmherzigkeit hinzutritt. Das
Erstaunliche ist, daß genau diese Erkenntnis gegen Ende der breiten und sich über
Jahrtausende erstreckenden altorientalischen Rechtsgeschichte so klar in einem utopischen
Entwurf Israels emporsteigt. Seitdem steht sie wie ein ständig erhobener Zeigefinger hinter
allem Bemühen des Abendlandes, ja der heutigen globalen Gesellschaft um eine gerechtere
Welt.
Sie kann nicht in Vergessenheit geraten. Denn es gibt die Juden und die Christen, die den
utopischen Weltentwurf des Deuteronomiums in ihren heiligen Schriften stehen haben. Sie
versagen selber immer wieder angesichts dieses Anspruchs. Aber sie halten trotzdem an ihm
fest. Um mit einem für Christen maßgebenden Faktum zu enden: In der neutestamentlichen
Apostelgeschichte wird die Jerusalemer Urgemeinde beschrieben. Dabei wird beansprucht,
daß sie den Entwurf des Deuteronomiums realisiert hat. Den mit Zitation der entsprechenden
Formulierung aus dem Deuteronomium heißt es da über die Urgemeinde: "Es gab keinen
Armen unter ihnen" (Apostelgeschichte 4,34, vgl. Deuteronomium 15,4). Vielleicht zeigt
gerade ein solcher Satz, wie sehr die Rechtstexte des Alten Testaments uns auch heute immer
noch betreffen.
1. Vgl. die "Liste der Vorträge der Frankfurter Juristischen Gesellschaft" (für 19641996), die als "Anlage"
hinzugefügt ist zu K. Stephan, "Tres faciunt collegium. Der Verein als Lebensform des Juristen oder Warum hat
Frankfurt eine Juristische Gesellschaft?," in: Recht, Geist und Kunst. Lieber amicorum für Rüdiger Volhard (Hg.
v. K. Reichert u.a.; Baden-Baden: Nomos, 1996) 179-201, hier: 189-201.
2. (Hg. v. Eckart Otto unter Mitarbeit von K. Baltzer, S. Greengus, B. S. Jackson, B. Janowski, S. Lafont, B. M.
Levinson, N. Lohfink, M. T. Roth, T. Veijola, R. Yaron; Wiesbaden: Harrassowitz). Band 3 erschien 1997.
3. Zu diesem Teil vgl. Eckart Otto, "Recht/Rechtswesen im Alten Orient und im Alten Testament," in:
Theologische Realenzyklopädie XXVIII (Berlin: de Gruyter, 1997), S. 197-209.
4. Deutsche Übersetzung der Texte in: R. Borger, H. Lutzmann, W. H. Ph. Römer, E. v. Schuler, Rechtsbücher
(Texte aus der Umwelt des Alten Testaments I,1;Gütersloh: Mohn 1982).
5. Theory and Method in Biblical and Cuneiform Law. Revision, Interpolation and Development (Hg. v. B. M.
Levinson; Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 181; Sheffield: Sheffield Academic
Press, 1994).
6. Vgl. N. Lohfink, "Bund als Vertrag im Deuteronomium," Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft
107 (1995) 215-239.
7. Vgl. G. Braulik, "Das Buch Deuteronomium," in: Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament
(Kohlhammer Studienbücher der Theologie 1,1; Stuttgart: Kohlhammer 21996) 76-88, hier: 78f.
8. Übersetzung einiger Treueide: R. Borger, M. Dietrich, E. Edel, O. Loretz, O. Rössler, E. v. Schuler,
Staatsverträge (Texte aus der Umwelt des Alten Testaments I,2;Gütersloh: Mohn 1983).
9. Vgl. H. U. Steymans, Deuteronomium und die ade² zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch im
Alten Orient und in Israel (Orbis Biblicus et Orientalis 145; Freiburg Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen:
Vandenhoeck, 1995); E. Otto, "Treueid und Gesetz. Die Ursprünge des Deuteronomiums im Horizont
neuassyrischen Vertragsrechts," Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 2 (1996) 1-52.
10. Vgl. N. Lohfink, Unsere großen Wörter. Das Alte Testament zu Themen dieser Jahre (Freiburg: Herder,
1977) 24-43 ("Theologie als Antwort auf Plausibilitätskrisen in aufkommenden pluralistischen Situationen,
erörtert am Beispiel des deuteronomischen Gesetzes").
11. Die Diskussion hierzu, die inzwischen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen hervorgebracht hat, wurde
ausgelöst durch N. Lohfink, "Die Sicherung der Wirksamkeit des Gotteswortes durch das Prinzip der
Schriftlichkeit der Tora und durch das Prinzip der Gewaltenteilung naach den Ämtergesetzen des Buches
Deuteronomium (Dt 16,1818,22)," in: Testimonium Veritati. Festschrift Wilhelm Kempf (Hg. v. H. Wolter;
Frankfurter theologische Studien 7; Frankfurt: Knecht, 1971) 143-155.
12. Zum folgenden vgl. N. Lohfink, "Das deuteronomische Gesetz in der Endgestalt Entwurf einer Gesellschaft
ohne marginale Gruppen," Biblische Notizen 51 (1990) 25-40. Dort auch die genaue Abgrenzung der einzelnen
diskutierten Gesetze. Ferner ders., "Armut in den Gesetzen des Alten Orients und der Bibel," in: Ders., Studien
zur biblischen Theologie (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 16; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1993) 239259.