Ebook - Literaturinstitut Hildesheim
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. BOXEN . BETEN . BEEF BEEF. BETEN. . N E X BO — Herausgeber Hyun-Kyung Yi, Milan Lugerth, Elena Zay, Olivia Kuderewski & Kevin Kuhn Entstanden im Rahmen des Seminars „Die Anatomie des Lebens. Recherchieren. Sezieren. Hinausgehen“, im Wintersemester 2014/15 an der Universität Hildesheim — Design Nell May (www.nellmay.com) — Verlag Digitales Paechterhaus | Edition Paechterhaus, Hildesheim 2015 — Unser Dank gilt Schwester Debora Decker vom Kloster Marienrode, den Verantwortlichen der Pferderennbahn Neue Bult in Langenhagen, dem VW-Werk Wolfsburg, Wolf Menninger von der Kampfsportschule MMA Berlin (Mixed Martial Arts), Lars Bode und seinen Mitarbeitern der Bode Lars Fleischerei in Bockenem, Fritz Handerer für die Organisation der Exkursionen, dem Pankra-Gym, dass sie uns ihre Sporthalle für die Lesung zur Verfügung stellten, und allen anderen, die unsere Erkundungen unterstützt haben. Wir danken zudem dem Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim für die Ermöglichung der Exkursionen und Publikation. Die Rechte an den Texten verbleiben bei den Autorinnen und Autoren. 01 / 55 Inhalt BOXEN . Inhalt 03 Kontext 31 Rachel Bleiber Vaterland 05 Livia Hott Körperanalytische Notate 34 Max Schäffer Selig sind die Sanftmütigen Sophie Steinbeck Von Kunst, Magie und Dönerbuden 38 Imke Bachmann Wie eine Umarmung Hyun-Kyung Yi Heiße Luft 40 Gesche Herkert Life as it should be Tim Schauenberg Haben ≥ Sollen 44 Sirka Elspaß Über das Jockey-Sein Milan Lugerth Schweine schlachten 46 Elena Zay Ready? Olivia Kuderewski Dienstags 48 Kontext 07 09 . 18 20 BEEF . BETEN 22 26 Mareike Köhler Fremdbeten 50 Kevin Kuhn Nachwort 29 Paula Hauch Zeig mir deinen Hund und ich sag dir, wer du bist 52 Autorinnen und Autoren 54 Quellen 02 / 55 Kontext . Kontext 1 9 BOXEN 13 5 . 10 2 14 3 7 11 8 12 . BETEN 6 BEEF 4 15 03 / 55 Kontext 16 26 20 . BOXEN . Kontext 17 23 27 BETEN 12 21 24 . 18 BEEF 19 22 25 28 04 / 55 Kontext Livia Hott Die Nonnen 29 . BOXEN . Körperanalytische Notate BETEN 32 30 . 33 BEEF 31 Eine Ansammlung Leiber, die Leib nicht mehr sein wollen. Dünn, die Stimmen, kein Volumen unter dichtem Stoff, kein Resonanzkörper, keine Klarheit über Gesänge, Gesichter. Die Krankheit sitzt mit im Kirchenschiff, Schnäuzen. Frauen sind das, auch wenn der Leib (der gebenedeite!) später abgeworfen wird. Wer wirft die Leiber hierher? Wer unter-wirft sich hier? Litaneien, Verbeugungen, sitzen. Da liegt ein Rhythmus in der Luft. Dann ein abruptes Ende. Es ballt sich vor dem Altar, Rücken werden gebeugt – ein letztes Mal, ein erstes Mal – ein Gehstock, Rascheln. Die Leiber in Zweierreihen, Blicke, neutral, freundlich, unfreundlich, tragen sich zum Seitenschiff hinaus. Eine Hellbeschleierte sortiert Flyer, hat ihre Bewegungen bereits ihren schwarzen Schwestern angepasst, leicht, behäbig, bedacht, probt schon für den Leibabwurf. Wir sind zu fremd hier, treten aus der Kirche, in der die Lichter ausgehen, nach draußen, wo noch keine Sonne steht. Hinter uns kracht das Portal zu, wummert, oder bewegt sich nur sehr sanft, von einer unbedingten Frauenhand geschoben, ich weiß es schon Momente später nicht mehr. Es ist sehr früh. 34 05 / 55 Livia Hott Das Labyrinth Schwester Debora Hier geht kein Leib verloren. Eingelassen in den Boden ein paar Pflastersteine, man kann sich unterwerfen, aber warum? Es wird zum Spiel. Auf der Pilgerreise gen Kern formatieren sich die Abläufe immer wieder neu. Im stummen Tanz, ein Weg rein, einer raus, derselbe, da ist man chancenlos. Der erste Leib erreicht die Mitte, steht kurz, bricht dann mit dem Labyrinth und stapft im geraden Radius über unsichtbare Wälle hinweg. Langsam geht die Sonne auf. Die Möglichkeit, meinen eigenen Körper ins Spiel zu werfen, alle anderen Leiber, Läufer sind längst fort. Das Labyrinth muss geprüft werden, muss gestärkt oder vernichtet werden. Kälte greift den Körper an. Beim Betreten fällt als erstes auf: Im Schleier der Nacht wurde hier ein Samen zertreten. Grashalme, schwach, da November, nur wenig von der Saat gekeimt, nun zertreten in stummer Meditation. Dazu haben sie uns vorher eingeladen, die Schwestern. Aufgewühlte Erde, ich gehe gewaltsam, alle gingen stumpfen Fußes, dachten an Meditation, an innere Ruhe, bauten fremde Wälle auf und traten den Samen mit Füßen und ich, ich auch. Wer jetzt sät, ist selber schuld. Tut gut, so ein Gewaltakt, gut gegen Kälte, wie wahrscheinlich ist es, jetzt eine Zehe zu verlieren? Fliegt sie schon. Oder stoßweise Lacher, das Verknüpfen und Lösen der Hände. Der Gesichtsausdruck in ständigem Strahlen, Neon. H-hauchlastige Stimme, einfach kein Resonanzkörper, wie vorher schon festgestellt. Spricht, aber die Körpersprache widerspricht: Erstens. Die Füße. Fußspitzen ragen, besonders bei überschlagenen Beinen Richtung Himmel oder Tür (zeigt Unwohlsein). Zweitens. Die Hände. Ungebetliches Ineinanderfalten, krampfen in den schwarzen Stoff der verrutschten Schürze. Drittens. Augen-Mund-Mimik. Große Differenzen. Eben erwähnter kühler Neonblick (Hochziehen der unteren Augenlider bleibt häufiger aus) in Verbindung mit einem Lächeln (Zur-Seite-ziehen der Mundwinkel statt in Richtung der Augen zu ziehen), dann wieder ein echtes Lächeln, wärmend (reger Gebrauch der Augen und Mundwinkel bei offenem Blick). Nicht ambivalent, widerläufig. Körperhaltung. Ungewiss, zu viel Stoff im Weg. Kopfbewegungen. Nicken, dann ruckartiges Rückziehen des Kinns um ca. einen Zentimeter, häufig in Verbindung mit plötzlich hervorbrechenden Lachern. Nickt beim Zuhören, beim Antworten: Sanftes Rucken des Kopfes nach links (unbewusstes Kopfschütteln). Auffällig auch seltenes Berühren des Schleiers (wo das Haar sein sollte, also fast völliges Abgewöhnen der Verlegenheitsgesten Richtung Kopf und Haar, die kompensiert werden durch vorher genannte Verhalten). BEEF . BETEN . BOXEN . Körperanalytische Notate 06 / 55 Von Kunst, Magie & Dönerbuden . Natürlich bin ich Türke. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, klar. Aber ich hab einen türkischen Namen, und so sehe ich aus, und so bin ich erzogen worden. Meine Muttersprache ist Türkisch und ja, das bin ich. Ich bin Géza. In Deutschland wächst das Geld nicht auf den Bäumen und es liegt nicht auf den Straßen. Man muss dafür arbeiten, das weiß man. Ich rieche wie mein Beruf – du riechst es hier drin. Man riecht es in meinen Kleidern, wenn ich nach Hause komme. Man riecht es an meiner Haut. Es ist Fett und es ist Schweiß. Ich rieche nach Arbeit. Es ist ein guter Geruch. Géza, sagt meine Frau, Géza, du riechst wie ein Mann, der arbeitet. Ahmet sagt, dass die Schale mit den Zwiebeln immer die vollste ist am Ende des Tages. Wer weiß. Jeder kann seinen Döner essen, wie er das mag, oder? Ich esse meinen immer mit Zwiebel. Ahmet und ich haben das Geschäft vor sechs Jahren von unseren Vätern übernommen. Wir sind bei weitem nicht die einzige Dönerbude in Hildesheim. Aber hier sind wir – seit zwölf Jahren. Es läuft ganz gut. Mal mehr, mal weniger. Die Studenten, die gehen zu Mr. Lecker am Bahnhof, wo die Bars sind und die Kufa. Aber wir haben auch unsere Stammgäste. Sam zum Beispiel. Sam kommt jeden Donnerstag um acht und holt Döner für drei. Einmal BEEF BETEN . BOXEN . Sophie Steinbeck 07 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Von Kunst, Magie und Dönerbuden Sophie Steinbeck mit extra viel Soße und scharf für Sam, ohne Zwiebel mit Joghurt für die Frau und einen kleinen für den Kleinen. Wir trinken ein Bier, schimpfen über die Arbeit und das Wetter und die Frauen. Donnerstag um acht, seit fast fünf Jahren schon. Sam gehört praktisch zur Familie. Hier, sein Geburtsdatum habe ich am linken Arm. Am rechten ist Lisa. 10.2.2012. So bald, so bald! Was ich ihr schenken soll? Sie hat doch schon alles. Ein ganzes Zimmer voll Spielsachen. My little Pony. Da ist sie ganz verrückt nach. Und alles, was glitzert und schimmert. Eine richtige Prinzessin, meine Kleine. Da kommt sie ganz nach der Mama. Mein Sohn – er findet hier Magie. Baba, sagt er, Baba, was ist in der Mitte von dem Döner? Ich sage dann nicht »ein Stab«. Ich sage: Kevin, da drin ist Magie. Jeder Kunde, jeder Freund, der den Laden betritt, hilft mir, näher zum Geheimnis zu gelangen, das da versteckt ist. Alleine kommt man nicht dahin. Man braucht immer die Hilfe von Freunden. Er macht große Augen. Ich darf es dir nicht verraten, was da drin ist. Ich weiß, ruft er, da drin ist das leckerste Fleisch der Welt! Ich lache, neinnein. Weil, das Fleisch da drin, das ist nicht das beste, nur das älteste, und eigentlich kommt man da nie hin. Man darf den Stab ja nicht ewig da halten. Bis zum Schluss kommt man da nicht. Ich weiß, sagt er, ein Diamant, so groß wie mein Kopf! Vielleicht, sage ich ihm. Wer weiß, vielleicht ist da wirklich ein Diamant drin versteckt, und niemand kriegt ihn je zu sehen. Der landet im Müll. Wir kriegen die ja fertig geliefert. Die werden industriell hergestellt, das macht niemand mehr selbst. Natürlich wissen wir, was da drin ist, das mein ich jetzt nicht damit. Aber so ein wenig Zauber kann da schon drin sein. Zwischen den letzten Fleischstreifen und dem Stab. Oder er sagt, Baba, wie ist das, mit dieser Maschine, wenn man die Streifen abschneidet? Es ist wie Rasieren, sage ich dann, oder wie Haareschneiden. Weil Rasieren kennt er ja noch nicht wirklich. Der Preisdruck steigt mit jedem neuen Laden. Alles für einen Euro, so wird das jetzt verkauft. Das ist dann aber auch nicht gut. Ich sag’s dir, einmal isst du das, und dann nie wieder. Wir setzen mehr auf Qualität. Frische Zutaten und saubere Arbeitsplätze und die richtige Zusammensetzung natürlich. Das schmeckt man. Ich meine, geht man zu großen Fast-Food-Ketten wie Mac Donald’s, dann braucht man mindestens 10 Euro, um richtig satt zu werden. Bei Döner ist es anders, man zahlt 4,50 Euro pro Döner und fast jeder wird allein von einem Döner satt. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die zwei Döner nacheinander schaffen. Meine Eltern sind hierher gekommen, weil sie wollten, dass ihre Kinder mal ein besseres Leben haben. Beklagen kann ich mich nicht. Hier ist alles, was wir brauchen. Jeden Monat schicke ich meinen Verwandten in der Türkei Geld. Sie haben Familienprobleme. Ihr Grundstück liegt an einem Hügel. Die Nachbarn graben daran. Sie wollen sich da ein Haus bauen. Ihr Sohn schickt ihnen das Geld dafür aus Deutschland. Und unser Grundstück, das sackt jetzt ab. Irgendwann, wenn ich das Geld zusammen gespart habe und die Kinder 08 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Von Kunst, Magie und Dönerbuden Hyun-Kyung Yi groß sind, fahren Aylin und ich zurück und bauen uns da unser Traumhaus. Jedes Zimmer in einer anderen Farbe, Kronleuchter im Esszimmer, mit großem Garten und einer Garage für das Auto. Ein deutsches Auto. Als Erinnerung, sozusagen. Dafür muss das Grundstück da bleiben. Heiße Luft Ich stehe um acht Uhr auf. Dann wird erst einmal eingekauft. Salat und Tomaten und alles, die muss man immer frisch kaufen. Wir öffnen erst um elf, haben dann aber bis Mitternacht offen. Und dann noch eine Stunde Putzen. Am besten läuft es ab acht. Da macht man sicher siebzig Prozent vom Umsatz. Letztens, da kam noch einer, kurz vor Schluss. Kunst ist das, was ihr hier macht, schrie er, Kunst! Ich erkenne das, auch wenn niemand das sieht. Es ist eben so, hat er geraunt, an die Glas-Theke gelehnt, wo die Schälchen mit den Beilagen dahinter sind. Damit man sich ansehen kann, was ich da in den Döner packe. Ich mache auch Kunst, hat er gesagt. Ich mache mit dem Monatsblut meiner Freundin Kunst, ich sammle das, ich male damit Bilder. Das hat eine Ausdruckskraft, das glaubst du gar nicht! Das ist der Schmerz der Frau und die Kraft des Lebens, und diese Gegensätze prallen in meinen Bildern aufeinander. Große Kunst ist das. Ich und du, hat er gerufen, ich und du machen Kunst aus dem Leben, mit Blut und mit Fleisch! Dann hat er sich an das vordere Klapptischchen gesetzt und eine Cola getrunken. Verrückt war der. Cheville greift in ihr Dekolleté und zieht das Kabel durch die Bluse. Dann wird das Mikrophon an ihren weißen Kragen geklippt. Ein sehr jung aussehendes Bühnenpersonal mit einer schmalen Nase, deren kleine Flügel zittern, ruft: »He! Wo ist das scheiß Kreppband?!« Cheville atmet aus. Weiteres Personal kommt auf sie zugelaufen. Bevor man ihr die Nase pudert, wird sie angelächelt. Cheville lächelt nicht zurück. »Tesa? Ja, ist mir egal. Hauptsache, es klebt.« Bevor sie fertig gepudert ist, drängt sich ein anderer vor ihr Gesicht und reicht ihr einen Tesastreifen. »Entschuldigung, aber es wäre besser, du klebst dir das Kabel an den Bauch.« Sie nickt und klebt es direkt auf die Linie, die ihre Bauchmuskeln vertikal trennt. Sie sieht über den Pinsel, der sich über ihre Nase hermacht, wie Thornton aus Exit 2 den Backstage betritt. Über seinen Anzug hat er sich ein Satintuch gehängt. Jemand setzt vor ihm einen Hocker ab, stellt sich drauf und sprüht von einem sicheren Abstand seine Frisur ein. Dichtes, welliges, graumeliertes Haar. Kurz darauf zieht jemand von hinten in einer gleißenden Bewegung den Satinumhang weg. Thornton blättert durch einen kleinen Stapel zusammen getackerter Seiten und bittet um eine Cola. Während er die Bitte noch ausspricht, wird sie ihm gebracht. Er bedankt sich und blickt von seinen Papieren auf. Ihre Blicke treffen sich. Er dreht sich etwas zur Seite und zwinkert ihr zu, dabei zeigt er ihr den Daumen 09 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Heiße Luft Hyun-Kyung Yi hoch. Cheville senkt etwas den Kopf, lässt ihn nicht aus den Augen. Sie hebt kurz ihre Hand zur Begrüßung. Sie wird an ihrer Schulter berührt. »Hi. Ich bin Louis. Der Produzent.« »Hi, Louis«, sagt Cheville. »Du siehst toll aus. So im Hosenanzug kennt man dich ja gar nicht. Weißt du, die Leute –« »Danke.« Sie späht zu Thornton, der seine Schultern kreisen lässt. Alle Kameras werden auf Position gebracht und die Band beginnt zu spielen. Neben sich hat Cheville ein kleines Display auf einem Stativ stehen, das die Bühne zeigt. Darauf kann sie beobachten, wie Thornton die Bühne betritt. Ohne zu blinzeln, misst Cheville seine Bewegungen mit Blicken. Er macht große Schritte. Er scheint langsam zu atmen. Er ist einen Kopf größer als sie selbst. Das Publikum klatscht und johlt. Er streicht sich seelenruhig über seine violette Seidenkrawatte. Cheville weiß, dass im Flutlicht plötzlich alle noch so kleinen Muskeln zum Leben erweckt werden. Er bewegt sich nicht zu langsam, nicht zu schnell. Er kennt diese quadratische Bühne wie seine Westentasche. Er breitet unter tosendem Applaus die Arme aus und begrüßt sein Publikum. Dabei lächelt er und lässt die Leute ausklatschen. Dann fängt er an, sich warmzureden, flirtet mit dem Publikum, das hinter dem Lichtkegel im Dunkeln sitzt und lacht und raunt und murmelt. Er tastet es ab, passt sich seinem Atem an. Er zähmt es jede Woche aufs Neue. Cheville beobachtet ihn bei seiner Routine auf dem Screen. Sie kann sich gut vorstellen, wie Thornton sich von Freunden und Verwandten sagen lässt, dass er auf der Bühne wie verwandelt sei. Ein ganz anderer Mensch. Vermutlich haben sie keine Ahnung. Er ist auf der Bühne anders als sonst, sagen sie, also verstellt er sich auf der Bühne. Aber die meisten Menschen ziehen naive Trugschlüsse. Boxer nicht. Sie hat noch nie einen naiven Boxer getroffen. Cheville wird von hinten ein Satinumhang umgelegt. Ein Hocker wird vor ihr abgestellt. Jemand steigt drauf und ihre Haare werden von sicherer Entfernung eingesprüht. »Siehst du die Leuchte da oben, Cheville? Wenn die rot blinkt, gehst du los. Einfach den Gang durch, ok?« »Ok.« Cheville wendet sich wieder dem Screen zu. THORNTON [zum Publikum] Wurden Sie schon einmal von einer Frau verprügelt? Nein, im Ernst. Ja? Nein? [Das Publikum ruft durcheinander.] Ich wurde noch nie von einer Frau verprügelt. Ich fänd es nicht schlimm... Was gibt es da zu lachen? Ich fänd es wirklich nicht schlimm. Aber... es kommt halt auf die Frau an. Da gibt es zum Beispiel die Harmlosen: Jennifer Aniston, Emma Watson... Justin Bieber. [Gelassen kassiert Thornton die Lacher des Publikums. Er zwinkert in eine der Kameras.] 10 / 55 Heiße Luft Hyun-Kyung Yi . THORNTON Und dann gibt es andere Kaliber... Lara THORNTON Cheville! Wow... Croft, Black Mamba und neuerdings noch jemand [Das Publikum klatscht und johlt.] anderen... THORNTON CHEVILLE S. Danke. Schön, hier sein zu dürfen. [Es ist zu laut, um fortzufahren. Chevilles und Thorntons Blicke treffen sich. Thornton macht eine Handbewegung und das Klatschen lässt nach.] . BOXEN Es ist toll, dich hier bei uns zu haben. Vom jungen Bühnenpersonal, das eben nach Kreppband gerufen hat, wird ihr gesagt: »Noch eine halbe Minute, Cheville.« Sie schaut noch einmal auf die filigrane Nase, nickt und sieht wieder auf den Screen. Das Publikum ist still. Thornton schlägt hinter dem Moderationstisch langsam seine Beine übereinander und tut, als würde er nachdenklich werden. THORNTON THORNTON Cheville, am 25. Januar trittst du gegen die Sie werden sie alle kennen. Der Shooting Star Titelverteidigerin Leona Kühne aus Deutschland der diesjährigen WBO-Championship für Frauen an. BETEN im Superfedergewicht, der am 25. Januar die CHEVILLE S. Titelverteidigerin Leona Kühne aus Deutschland im Finale herausfordern wird. Korrekt. [Als die ersten aus dem Publikum schon THORNTON zu Klatschen anfangen, beeilt er sich . auszurufen.] Übt es nicht einen enormen Druck auf dich als Ladies und Gentlemen, bitte einen Riesenap- Newcomerin aus, gegen die große Titelverteidi- plaus für meinen heutigen Gast: Cheville S.! gerin anzutreten? Ich meine, du bist ja noch [Die rote Leuchte blinkt. Cheville tritt sehr jung. Darf ich fragen, wie alt du bist? über den Gang ins Licht. Sie und Thornton CHEVILLE S. geben sich die Hand.] 21. BEEF [Einige im Publikum klatschen.] 11 / 55 Heiße Luft Hyun-Kyung Yi . THORNTON Oh, fast so alt wie ich also. Wie schön. THORNTON Klar. [Lacher.] CHEVILLE S. CHEVILLE S. BOXEN Klar fühle ich Druck. Aber im positiven Sinne. Dann sind dir bestimmt auch die Augen der Kämpfer aufgefallen. Sie sind leer. Ich habe alle Kämpfe von Leona verfolgt. Sie THORNTON war ein großes Vorbild für mich, als ich noch klein war. Ich freue mich auf diesen Kampf. Er War das eine Antwort auf meine Frage? wird hart werden und trotzdem freue ich mich, CHEVILLE S. dass ich in den Ring darf mit ihr. Ich will diesen Kampf mit Leona. Ich kann es ihr geben, Du musst dir einen Kreis vorstellen, in dem wenn sie heiß ist. ein kleinerer Kreis ist und darin ein noch . kleinerer. So geht es weiter bis zur Mitte. THORNTON Na, das ist mal eine Ansage. [Das Publikum klatscht.] Dort ist ein Punkt. Du kämpfst dich also vor. Vom äußersten Ring bis zum Punkt. Du stehst direkt im Punkt. Was soll da schon sein? Du bist zwar erst seit dieser Saison ProfiboTHORNTON BETEN xerin, hast aber schon relativ früh angefangen und hast eine gewisse Routine, wenn du in den Keine Ahnung. Sag’ du es mir, Cheville. Eine Ring gehst, nehme ich an. Büroklammer? Ein schwules Einhorn? CHEVILLE S. CHEVILLE S. Nichts. Ja. THORNTON . THORNTON Was geht in einem vor, wenn man im Ring steht? CHEVILLE S. BEEF Poetisch. CHEVILLE S. Du hast doch schon einmal einen Boxkampf gese- Geht so. Es gibt nur diesen Gedanken: Ich will hen, Thornton? dich kalt machen. Sonst ist da nichts. 12 / 55 Heiße Luft Hyun-Kyung Yi CHEVILLE S. . THORNTON Das ist wirklich alles? Ein Boxer muss doch im Seit der High School nicht mehr benutzt, das Bruchteil einer Sekunde viel entscheiden. Es Wort. muss doch wahnsinnig viel in ihm vorgehen. THORNTON BOXEN CHEVILLE S. Schon auch. THORNTON So ganz verstehen muss ich das nicht, oder? CHEVILLE S. Nein, ich erwarte es auch nicht von dir. Aber du weißt, was es heißt? [Einige im Publikum glucksen vergnügt.] CHEVILLE S. Das ist nicht nett von dir, Thornton. THORNTON [wendet sich zum Publikum und zuckt mit . den Schultern.] THORNTON Sorry, Cheville. Das ist aber nicht nett. [Cheville zuckt mit den Schultern.] CHEVILLE S. Boxen, eine Metapher für’s Leben? Nein, es ist BETEN THORNTON umgekehrt. Weißt du, die meisten Menschen sind Cheville, ich habe öfter von begeisterten Box- naiv, sie ziehen ständig Trugschlüsse. Sie fans gehört, dass Boxen eine Metapher für’s denken: Ah, das Boxen ist so wie das Leben. Es Leben sei. Stimmt das? gibt einen Anfang, einen Kampf und ein Ende. Aber es ist umgekehrt. Das Leben ist eine CHEVILLE S. Eine was? Metapher für’s Boxen. Das, was du jeden Tag tust... das ist eine Metapher. THORNTON . THORNTON Eine Metapher. Sicher, dass du weißt, was Metapher bedeutet? BEEF [Sie lachen.] 13 / 55 Heiße Luft . CHEVILLE S. F*** dich, Thornton. THORNTON BOXEN Du weißt schon, dass das jetzt gemutet wird? CHEVILLE S. Ja. THORNTON Ganz schön aggressiv, Cheville. Muss man auch außerhalb des Rings Angst vor dir haben? . CHEVILLE S. Hyun-Kyung Yi austreten. Im Ring trägt man wenigstens keinen Hosenanzug mit Schulterpolstern. »Ganz schön heiß, was?«, fragt Thornton. »Ziemlich.« Thornton hat eine große, gerade Nase und Cheville fällt auf, dass das Make-Up einzelne Sommersprossen nicht verdecken kann. Durch die schlitzartigen Nasenlöcher sieht sie ihn noch immer langsam, aber mittlerweile schwerer atmen. Er fährt sich mit einer breiten, haarigen Hand über die Krawatte und prüft, ob die Nadel sitzt. Jemand hat ihr mal erzählt, Thornton hätte als Kabelträger beim Fernsehen angefangen, mit 19 Jahren. Sie trinken schweigend ihr Glas aus bis gerufen wird: »Noch 30 Sekunden!« Ich bin ja nicht gewalttätig. Ich mochte Gewalt noch nie. THORNTON BETEN THORNTON Cheville, wir haben den 10. Januar heute. Das Na, dann bin ich ja in der Werbepause vor dir ist der letzte Tag, an dem man dich für ein sicher. Interview buchen kann, laut deinem Manager. Am [Er wendet sich zum Publikum.] 25. Januar ist der große Tag des Finales und Schalten Sie nicht weg, meine Damen und Her- er erzählte mir, dass du zwei Wochen vor einem ren, denn gleich geht’s friedlich weiter mit wichtigen Kampf mit niemandem mehr reden wür- Cheville S. dest. Du würdest das Haus nur verlassen, um zu BEEF . trainieren. Stimmt das? Cheville und Thornton greifen zu ihren Wassergläsern. Die Mikros werden gecheckt, das Make-Up nachgebessert und gefragt, ob alles in Ordnung ist. Der Schweiß wird mit weißen Handtüchern abgetupft. Die Hitze im Studio lässt Chevilles Sportlerschweiß am ganzen Körper CHEVILLE S. Ja, stimmt. THORNTON Erzähl uns doch ein bisschen etwas darüber. 14 / 55 . Heiße Luft Ist das normal? Machen das alle Boxer so? Hyun-Kyung Yi Gegnerin gemacht. Darf ich dich fragen, was deine Devise im Kampf gegen sie ist? CHEVILLE S. CHEVILLE S. Nein. Ich will nicht zu viel verraten. BOXEN THORNTON Aber? Was machst du in den zwei Wochen? THORNTON Komm schon, Cheville. Nur ein kleines Detail. CHEVILLE S. Ich trainiere. Ich habe nichts anderes im CHEVILLE S. Kopf. Ich denke daran, wenn ich herumlaufe, Ich versuche, die Nasenspitze meiner Gegnerin wenn ich rede, immer. zu treffen. Ich will ihr das Nasenbein ins Ge- . hirn treiben. THORNTON Du redest also doch? CHEVILLE S. Schon. Aber nur das Nötigste. [Einige im Publikum stehen auf und klatschen.] THORNTON Das könnte schwierig werden. Leona ist flink. BETEN Trotz ihres Alters leistet sie erstaunliche THORNTON Beinarbeit. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, huh? CHEVILLE S. CHEVILLE S. Sicher, aber sie landet nicht viele K.O.s. Nein, Schweigen ist Silber, Boxen ist Gold. THORNTON . THORNTON Der geht an dich, Cheville. Ja, seit du Profiboxerin bist, wurdest du noch nie K.O. geschlagen. [Sie nickt.] CHEVILLE S. THORNTON BEEF Du hast eben schon eine starke Ansage an deine Weil ich es nicht wollte. Das ist Boxen. Der Wille entscheidet. Wenn du nicht genug willst, 15 / 55 Hyun-Kyung Yi . Heiße Luft CHEVILLE S. machst du Fehler. Und jeder Fehler wird bestraft. Ich werde hellwach in den Ring gehen. Wir machen Kinder, wir sterben, unsere nackten Ich hoffe für Leona, dass sie das auch tut. Körper... das ist doch primitiv. [Applaus.] THORNTON BOXEN THORNTON Wie kommt ein junges, hübsches Mädchen wie du Schon, aber Geburt, Sex, Tod... das ist alles notwendig. Ist Boxen notwendig? auf die Idee, ausgerechnet so einen Sport zu CHEVILLE S. betreiben? Weißt du, wenn man deinen Kopf aufschneidet, CHEVILLE S. Warum nicht? kann es sein, dass man darin ein Gehirn findet. Es kann... sein. THORNTON . THORNTON Ich meine, findest du Boxen nicht... Superwitzig. CHEVILLE S. CHEVILLE S. Aber wenn du meinen aufschneidest, wirst du Was? BETEN Boxhandschuhe finden. Für mich ist alles außer THORNTON Boxen langweilig. Primitiv? THORNTON [Cheville runzelt die Stirn und mustert ihn abschätzig.] War das schon immer so? CHEVILLE S. THORNTON . Kennst du das Wort nicht? Wahrscheinlich wurde Nein. es dir aus dem Hirn geboxt. THORNTON CHEVILLE S. Sehr witzig. Wann hat deine Faszination fürs Boxen angefangen? BEEF [Das Publikum lacht.] 16 / 55 Hyun-Kyung Yi Heiße Luft . CHEVILLE S. THORNTON Zum ersten Mal habe ich einen Boxkampf mit Aber wenn ich dir heute richtig zugehört habe, meinen Brüdern gesehen, da war ich 8 oder 9. Cheville, dann ist Boxen Krieg. Oder? Es hat mich erwischt. Aber ich hatte das BOXEN Gefühl, dass es für Frauen keinen Platz gibt CHEVILLE S. im Boxen. Gerade deswegen wollte ich es Andere Sportarten werden gespielt. Fußball, selbst machen. Tennis... Aber Boxen hat nichts Spielerisches. Du hast also fast Recht, Thornton. THORNTON Fühlst du Wut gegen Männer? Oder sogar THORNTON Warum nur fast? Abscheu? [Cheville lacht.] CHEVILLE S. . CHEVILLE S. Ich verabscheue niemanden. Aber manchmal bin [Thornton lehnt sich zurück und lächelt ich neidisch auf sie. sie an.] THORNTON Neidisch auf Männer? Warum? BETEN Krieg ist Boxen. THORNTON Cheville... Es war reizend, dich heute Abend bei uns zu haben. Vielen Dank. CHEVILLE S. Ihre Natur, ihre Aggressivität. Wenn ich wirklich große Boxkämpfe von Männern gu- CHEVILLE S. Danke, dass ich hier sein durfte. cke... denke ich: Die machen das schon seit Jahrtausenden. THORNTON Ladies and Gentlemen. Einen großen Applaus . JEMAND AUS DEM PUBLIKUM für Cheville S.! [schreit.] Neidisch auf Männer? Wir Männer müssen in den BEEF Krieg! Sie stehen auf und geben sich die Hand. Thornton hat große, schwitzende Hände. Sie macht einen Schritt auf 17 / 55 ihn zu und zieht ihn an sich. Er stockt, erwidert dann fest ihre Umarmung. Sie fühlt, wie auch sein Anzug klamm ist. . BETEN . BOXEN . Heiße Luft Anmerkung: Der Dialog besteht zum Großteil aus Zitaten weltberühmter Boxer, die ich dem Essay »Über BEEF Boxen« von Joyce Carol Oates entnommen habe. Tim Schauenberg Haben ≥ Sollen »Ihr seid das Volk und wir bauen den Wagen« strahlt über ihren Köpfen. Am Ende des Tunnels, der die U-Bahn mit dem eingezäunten Betriebsgelände verbindet, hat der Scanner bereits 20.000 Mal grün aufgeleuchtet. 20.000 Mal Drehkreuz. Umkleidekabinen für 57.000. 57.000 gelbe Schränkchen aus Metall, durchnummeriert. Nummer 5300 – 20.000, Schicht 2B. Butterbrot ins Fach, Schluck Kaffee aus dem Pappbecher. An jedem Schrank ein Zettel: Eure Gewerkschaft, Standort erhalten, Kündigungen begrenzt zu verkraften, nachdenken, alle mit anpacken, gemeinsam stark, Zusammenhalt, Verantwortung, Wettbewerb, international, standhalten, Deutschland, sozial, gesamte Region, Wolfsburg, Tradition, Familien und Kinder, Sicherheit, nicht aufgeben, Lösungen suchen, Wir, müssen den Blick nach vorne richten. Blicke rechts, Blicke links, Augenpaare treffen sich im wortlosen Raum. Zettel ins Fach zur Tupperdose, alle spät dran. Gemeinsam betritt man die Fläche, süßer Benzingeruch schlägt ihnen entgegen, der Lärm vertraut. Alle strömen aus, durch A, durch B, durch G3, T2, durch C4. Mit Chipkarte Schichtbeginn am Standort bestätigen. Grünes Licht, Smiley und gehobener Daumen auf dem Bildschirm. Die hole Stimme des Automaten wünscht einen guten Morgen und erinnert daran, den Rücken während der Schicht durchzustrecken. Die Statistik sagt 11% Bandscheibenvorfall, wenn männlich und älter als 40. Zu viel.Gerät aufnehmen, nochmal bestätigen. Dann Arbeit. 18 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Haben ≥ Sollen Tim Schauenberg Drei, zwei, eins, (...)! Das Gewinde der Schraubenzieher-Pistole dockt an, der Zeigefinger drückt den Abzug. Vierzehn Umdrehungen in weniger als null Komma fünf Sekunden. Setzt ab, fährt mit der Hand zehn Komma drei Zentimeter weiter nach rechts, dockt an, drückt ab, setzt ab. Fährt weiter, dockt an, drückt ab, setzt ab. 20 Sekunden warten. Im Rollwagen hinter ihm noch 1084 Schrauben, die darauf warten, in Hohlraum vier der linken Tür des Golf Sportsvan geschossen zu werden. Über ihm pendeln graue Gehäuse-Rohlinge an einer Zahnrad betriebenen Transportvorrichtung in Halle drei. Er schnäuzt sich und verstaut das karierte Taschentuch in seiner schwarz-grauen Bundhose. Diese Hose gibt es nur für Mitarbeiter. Unter das Hämmern und Zischen mischt sich die Stimme von Eros Ramazotti, der irgendwas von Amore singt. Unter ihm, er könnte es durch das Gitter seiner Plattform sehen, fahren fertige Radachsen zur Montage an den Unterbau. Es steigen die Dünste von scharfem Lack und heißem Schmelzband herauf. Er steht an Montage-Insel EZK-721v zwischen drei orangefarbenen Roboterarmen, Marke »Kuka«. Kuka-Kumpel werden sie hier genannt. Internationale Spitzenklasse der Robotertechnik, made in Germany: Intelligent, lernfähig, leistungsstark, sicher, menschliches Versagen ausgeschlossen, wettbewerbsfähig, Produktivität gesteigert, Aktionäre zufrieden, immer mehr Kukas in Zukunft. Sie tanzen um ihn herum und schwingen die Türen mit ihren Greifarmen und Saugnäpfen agil und präzise, schnell wie ein Schwertkämpfer durch die Luft, drehen sie einmal um die eigene Achse, leicht wie eine Briefmarke, und verpassen ihnen die exakten Schnittstellen. Wer mit diesen Hightech-Geräten arbeitet, darf ein bisschen stolz sein. Immer noch Amore von Ramazotti. Ein Lämpchen leuchtet auf seinem Display. Kuka ist fertig. Der Countdown zählt von drei, jede Zahl ein Piep! Neben den Ziffern lächelt der gelbe Smiley. Er beugt sich kurz vor, tippt kurz auf das Display, gehobener grüner Daumen. Dockt an, drückt den Abzug, setzt ab. Drei Mal. 20 Sekunden warten, bis die nächste Tür vom Kuka-Kumpel gereicht wird. Noch drei Stunden 28 Minuten bis zu seiner Mittagspause oder 498 Schrauben. Heute gibt es Kartoffeln mit Grünkohl und Kasseler in der Kantine, das hat er beim Reingehen gelesen. Dazu ein Päckchen mittelscharfer Senf. 20.0000 kleine gelbe Päckchen mittelscharfen Senfs zum ausquetschen. Es ist 8:02. Eine Anzeige über den Köpfen seiner Sektion sagt, sie sind im »Soll«, das ist gut. Auf einer Leuchttafel über seinem Kopf blinkt in orangefarbener Leuchtschrift die Sektion 423 in einem Muster aus roten Linien, das dem Grundriss einer Wohnung ähnelt. Die andere Sektion liegt zurück. Wenn 423 nicht aufholt, kommt sie eben später zu Kartoffeln mit Grünkohl und Kasseler, denn Haben ≥ Soll ist sehr wichtig, weil: konkurrenzfähig, international, die Zukunft, im Vergleich. Billiglohnländer, die oder wir, Tasten auf dem Klavier. Prognosen, Finanzmarkt, Bilanzen unter Druck. Da oben, kein Verlass, hier unten, nichts in der Hand. Disziplin, morgens bis abends, auch nachts, Schweigen. Drei, zwei, eins, Blicke nach vorne, Hände ohne Hirn. Smiley nicht vergessen, andocken, Abzug, absetzen. Für Geschichte, Tradition, gesamte Region. Für Familie, Kinder, Oma, Pflegestation. Für Haus, Urlaub, Auto, Rente sicher. 19 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Haben ≥ Sollen Milan Lugerth So lange, wie alles im Takt, der Lärm ein Wiegenlied und ihr das Volk und ihr den Wagen. Schweine schlachten Die Zigarette und der Kaffee drehen meinen Magen um. Aus der Metzgerei dringt der Geruch von abgehangenem Fleisch, wie Eisen mit einer Prise Salz und einem Hauch Desinfektionsmittel. Mir kommt die Galle hoch. Ich schlucke, halte meinen Bauch, konzentriere meinen Blick auf die Salami, die im Schaufenster vor den weißen Fliesen baumelt. Ich werde nach hinten geführt, durch das geschäftige Treiben. Dort hinein, wo das Fleisch herkommt. Ich soll mir einen weißen Overall anziehen, ein weißes Haarnetz, weiße Schuhüberzüge, aus hygienischen Gründen, sagen sie, aber vor allem, denke ich, damit meine Kleidung nicht mit Blut voll gespritzt wird. Wir hören den Laster kommen und gehen hinaus. Die gepflasterte Einfahrt ist umgeben von Fachwerkhäusern. Sie wird aus dem Anhänger getrieben. Sie trippelt mit den kleinen Beinen zur metallenen Schiebetür. Ich höre das Klacken der Hufe, ansonsten gibt sie keinen Ton von sich. Den Kopf hat sie gesenkt, sodass die Schnauze fast den Boden berührt. Frisch vom Bauernhof. Eine sieben Monate alte Jungsau. Ihr Kopf wird mit der großen Zange eingeklemmt. Starr durch den Strom kippt sie zur Seite. Die Zange klemmt weiter. Die Tür wird aufgeschoben. Ihr wird eine Kette um eins ihrer Hinterbeine geschlungen. Daran wird sie über die Steine geschleift und in die Höhe gezogen, sodass sie im weiß gefliesten Raum hängt. Erst 20 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Schweine schlachten Milan Lugerth wenn ihr Körper erschlafft, nehmen sie ihr die Zange vom Kopf. Sie, mit den weißen Gummischürzen und den weißen Gummistiefeln, stehen vor der Sau. Der eine hält eine Plastikschüssel unter ihre Schnauze. Der Andere zieht das Messer aus dem Gürtel. Unter der Kehle dringt die dünne, scharfe Klinge durch die weiche Haut, direkt durch die Schlagadern tief bis ins Herz. Ich streiche mir über den Hals. Es geht ganz schnell. Ohne Widerstand. Sie ziehen das Messer raus. Aus dem kleinen Schlitz quillt in einem dicken Strahl das Blut direkt in die Plastikschale. Es spritzt daneben auf die weißen Fliesen. Die dickflüssige Pfütze breitet sich aus, um meine weißen Schuhüberzüge. Ich weiche zurück, hinterlasse rote Abdrücke auf dem Boden. Die Pfütze dampft. Im ganzen Raum ist Dampf. Ich atme den Geruch von warmem Eisen ein. An einem Bein hängt die Sau, das andere Bein zuckt. Das Zucken geht durch den ganzen Körper. Das Herz pumpt das Blut immer weiter. Aus den Adern läuft das Leben Richtung Plastik. Sie, mit den weißen Gummischürzen und den weißen Gummistiefeln, tragen keine Handschuhe. Die Sau liegt auf einem Stahltisch. Mit einer Zange ziehen sie die Hufe ab. Ein Ruck mit voller Kraft. Sie stechen eiserne Haken unter die Sehnen am Knöchel, sodass sie sich vom Knochen weg dehnen. Sie ziehen die Sau wieder kopfüber in die Luft. Sie hängt da, entblößt, mit gespreizten Beinen. Die Haut ist so gespannt, dass sie reißen müsste. Sie, mit den weißen Gummischürzen und den weißen Gummistiefeln, stechen mit der scharfen, dünnen Klinge durch die gespannte Haut und ziehen das Messer bis hinunter zur Brust. Sie greifen ohne Handschuhe hinein, hinter die Innereien. Der Schlitz weitet sich. Die Gedärme quellen hervor und klatschen auf den Boden, jegliche Form verloren, als wollten sie weg fließen. Sie beginnen mit der Stichsäge zwischen den gespreizten Beinen. Das Rattern übertönt das Zerteilen von Fleisch und Knochen. Durch den aufgeschlitzten Bauch entlang bis zum Kopf. Dort stoppen sie und nehmen das Fleischerbeil, weil die Zähne zu hart sind für die Säge. Das fast durchtrennte Schwein hängt vor ihnen. Mit zwei Schlägen zerteilen sie den Kopf, schneiden die Kopfhälften vom Körper und werfen sie vor mich auf den Stahltisch. Die Schnauze zerteilt, schauen die Augen in verschiedene Richtungen. Neben mir hängen die ausgeschabten Schweinehälften. Die Muskeln sind von oben bis unten durchtrennt und zucken noch. Sie zucken und das soll noch den halben Tag dauern. Sie, mit den weißen Gummischürzen und den weißen Gummistiefeln, arbeiten parallel. Drei Schweine gleichzeitig. Während aus dem einen Schwein noch das Blut in einem dicken Strahl quillt, betäuben sie schon das nächste. Die Zange führt sie über zum Stich und dahinter klatschen ihre Gedärme unförmig auf den Boden. Mit einem Ruck voller Kraft ziehen sie ihnen die Hufe ab. Die Zähne zerschlagen sie mit dem Beil. In einem dicken Strahl fließt das Blut. Die Zange führt sie über zum Stich. Mit einem Ruck ziehen sie die Hufe. Sie zerschlagen mit dem Beil. Sie klemmen mit der Zange. Ziehen 21 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Schweine schlachten Olivia Kuderewski mit einem Ruck. Schlagen mit dem Beil. Klemmen. Ziehen. Schlagen. Sie treiben das Schwein aus dem Anhänger. Es trippelt zur Schiebetür. Den Kopf hat es gesenkt. Es kippt starr zur Seite. Die Tür wird aufgeschoben. An der Kette wird es in den weiß gefliesten Raum gezogen. Der Plastikgriff des Messers fühlt sich zu klein an, deswegen steche ich mir mit den Fingernägeln in den Handballen. Victor klopft mir beruhigend auf die Schulter. Mit der anderen Hand hält er die Plastikschale. Ich schaue an dem nacktem Bauch, der vor mir hängt, hinunter. Victor zeigt nochmal auf die Stelle unter der Kehle. Ich lege meinen Zeigefinger auf die weiche Haut. Hinter mir höre ich Markus ein anderes Schwein in Hälften sägen. Ich steche zu. Mit aller Kraft, haben sie vorher gesagt. Sieht leichter aus, als es ist. Ich, mit der weißen Gummischürze und den weißen Gummistiefeln, stehe vor dem Schwein. Es zuckt, blutet aus. Es war nur eine kurze Handbewegung, als würde ich einen Nagel mit einem Schlag ins Brett hauen, denke ich, als ich an mir hinunter gucke. Meine weiße Gummischürze ist mit Blut bespritzt. Es riecht nach Eisen. Alles ist voller Blut, obwohl wir immer wieder mit einem Schlauch Wasser über die weißen Fliesen spritzen. Wir hieven das Leblose auf den Stahltisch. Wir ziehen ihm die Hufe ab. Wir drehen uns um. Wir ziehen den nächsten Körper an der Kette in den Raum. Wir stechen zu. Wir hieven es auf den Tisch. Wir drehen uns um. Wir ziehen das nächste Stück Fleisch in den Raum. Stechen zu. Auf den Tisch. In den Raum. Stechen zu. Auf den Tisch. In den Raum. Dienstags Sein Stammplatz ist direkt am Tresen. Sechs bis sieben Pinot Grigio, je nach Tagesform. Oskar kommt mindestens zwei Mal die Woche und auf jeden Fall dienstags – nichts los, leise Musik, keine nervigen Veranstaltungen. Wie immer kraxelt er umständlich auf den Barhocker, die dürren Arme im Flanellhemd auf die Holztheke aufgestützt. Ich erkenne an seinem Blick, dass er sich freut. Auf unser Ritual. Sobald ich ihm die rote Cocktailserviette hingewischt, und das randvolle Weinglas draufgesetzt habe, fängt er an mit der fleckigen Hand herumzuwedeln, die sagt: He, he, he, da fehlt was. Er wedelt hin zum Stapel Bierdeckel. Aber so leicht mache ich es ihm nicht. Ich nehme einen Deckel, hebe ihn auf Sichthöhe und ziehe fragend die Augenbrauen hoch. Er grapscht gierig danach, wie ein kleiner Junge, obwohl bestimmt schon über 60. Ich ziehe ihn weg. Dreimal ziehe ich ihm den Deckel vor der Nase weg, immer drei Mal, und Oskar grinst, schon bevor das Spiel vorbei ist. Jedes Mal machen wir das und jedes Mal macht es ihm Spaß. Auch ohne Worte. Ich lasse Oskar allein, muss noch eine Runde drehen. Heute ist der Raucherraum fast leer, an den meisten Tischen brennen die Teelichter ohne Publikum runter. Die Stamm-Taxifahrerin auf der 3 hat anscheinend ihren freien Abend, kippt zügig Bitburger und raucht Kette. In der Ecke, auf der 9, sechs Studenten, die nichts bestellen. Halten sich vier Stunden an der kleinen Cola fest und schaffen es nicht, die Aschenbecher zu treffen. 22 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Dienstags Olivia Kuderewski Wenn die später abhauen, darf ich zerfetzte Bierdeckel, vollgesogene Servietten und Tortilla-Chips-Schweinereien wegmachen. Die essen den Dip gern vom Tisch und tunken zerknüllte Gauloise-Schachteln rein. Fett-verschmierte Gläser mit abgekauten Zitronen, ein neuer Aschenbecher für die Taxifahrerin und ich kann wieder zurück. Oskar erledigt gerade seinen Pinot. Legt beim letzten Schluck den Kopf in den Nacken – auf seinem unnatürlich dünnen Hals die ausgefranste Operationsnarbe. Dann schiebt er das Glas zum Nachfüllen so weit an den Rand, dass es fast vom Tresen fällt und grinst mich an. Bei ihm vergesse ich schon mal was in die Kasse zu tippen. Sobald das Glas wieder voll ist, legt er blitzschnell den Bierdeckel drauf. Ich habe ihn nie gefragt, warum er das macht. Aber sieht nach Keimparanoia aus. Die Eingangstür quietscht – drei neue Gäste. Touristen oder Theaterbesucher, wie sie mit schnieken Mänteln und toupierten Frisuren die Handschuhe abstreifen, unschlüssig die niedrige Gewölbedecke mustern. Auf jeden Fall Verirrte ohne Talent zur Kneipenwahl. Sie steuern die 7 an, direkt neben dem Klavier, einer greift nach der lieblos zusammengeklebten Karte. Sicher Rotweintrinker. Um sie zu bedienen, muss ich an Manfred vorbei. Das eierköpfige Riesenbaby setzt sich immer an den Platz direkt neben der Schwingtür, damit man ihn ja bemerkt. Dabei hat ihm die Chefin mit Hausverbot gedroht, falls er nochmal das Personal belästigt. Ich versuche, mit größtmöglichem Abstand seine Bestellung aufzunehmen, wegen seiner schwitzigen Wurstfinger. Aber er hat eine widerliche Mausstimme, zu der man sich runterbeugen muss, irgendwo im Fett geht die Lautstärke verloren. Seit Manfred sie bei mir bestellt, finde ich Fanta abstoßend. Aber wenn man ihm ohne zu fragen ein Glas hinstellt, will das Ekel plötzlich einen Cappuccino mit Amaretto oder »was zu vernaschen.« »Wir haben Salzbrezeln«, sage ich. »Neiiiiin, das mein ich doch nicht«, er versucht zu zwinkern, »eine Blondine wär nett.« Heute zeige ich auf die Taxifahrerin, die versucht sich mit Make-Up zu konservieren, und sage: »Die passt doch zu dir.« Er glubscht weiter auf meine Haare. Für die Touris, dreimal Caipirinha – eins der Alibigetränke auf der Karte. Seit einem halben Jahr hat das keiner mehr bestellt und wahrscheinlich sind sie längst wieder weg, bis ich den massiven Klumpen braunen Zucker wieder körnig geklopft kriege. Eigentlich hätte ich ihnen abraten sollen, so wie die Limetten im Kühlschrank aussehen. Aber der Alkohol retuschiert das. Während ich Caipis rühre – eine größere Sauerei machen nur die verdammten »Sahnecocktails« – guckt Oskar interessiert zu. Seine Brillengläser machen die Augen froschig und der Ballonkopf sitzt viel zu wackelig auf dem Hals. Auf mein »Wie geht`s uns heute?« holt er seinen Schreibblock und den Bleistiftstummel aus der Hemdtasche. »War heut beim Doc. 1 x Erdnüsse bitte« steht auf dem Notizzettel. »Was hat er gesagt?«, frage ich und gehe Erdnüsse holen. Als ich aus der Küche komme – die zweite Ohrfeige des Abends, nach Riesenbaby Manfred. Jack ‘Jackie’ Daniels. Als er und sein Schnapskumpel das letzte Mal hier waren, musste mein Kollege den einen aus der Tür 23 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Dienstags Olivia Kuderewski schubsen, den anderen rausschleifen. Aber heute bin ich allein. Bevor sie sich setzen, suche ich die anwesenden Gäste auf einen ab, der mit ihnen fertig werden könnte. Mein Blick bleibt nur an Manfreds Fleischglatze hängen. Jackie hievt sich auf den Barhocker, seine Lederjacke knautscht, als er die aufgepumpten Arme auf dem Tresen ablegt. Er beugt sich erstmal rüber zu Oskar, zeigt auf seine Narbe und lacht grunzend. »Was hast’n da, Opa?« Oskar zieht sein Weinglas näher zu sich ran. »Lasst ihn in Ruhe«, sage ich und im gleichen Atemzug »Was wollt ihr trinken?« Bei der Frage vergessen die meisten Betrunkenen alles, was vorher war. Jetzt glotzt Jackie mich an, blinzelt mit den besoffenen Lidern. Man kann dem Groschen beim Fallen zusehen. Er zieht Rotz hoch, die Frage kommt im Gehirn an und er bestellt »eine Flasche Jackie und ne Cola.« Kleine Spucketropfen auf dem Tresen. Ich sage, dass ich ihnen leider keine ganzen Flaschen verkaufen kann und Jackies Saufkumpel grinst dazu wie ein Trottel, so schwabbelig und apathisch, dass ich mir nicht sicher bin, ob bei ihm noch was ankommt. Aber Jackie holt in Zeitlupe seinen Geldbeutel aus der Arschtasche, durchblättert die Scheine und nimmt siebzig Euro raus: »Klar kannste.« Ich schüttle den Kopf. Er lacht dreckig. Oskar drückt seinen Bierdeckel fest aufs Weinglas. Jackie nimmt noch einen Zwanziger dazu und lehnt sich so weit über den Tresen, dass ich einen Schritt zurück mache. »Und Trinkgeld kriegste auch.« Der Schnaps grinst in seinem Gesicht und ich muss jetzt diplomatisch handeln. Nehme zwei Cuba-Libre-Gläser aus dem Regal, lächle und halte sie auf seine Augenhöhe. Die größten, die wir haben, um ihn abzuregen. Aber Jackie fühlt sich verarscht vom Longdrinkglas 0,4. Rückt noch weiter vor und liegt jetzt auf dem Tresen. Besoffene sind unberechenbar. »Ich hab gesagt, ich will…« in doppelter Lautstärke und die Touris drehen sich um. Jetzt wacht sogar der Kumpel aus seinem Schnapskoma auf, packt Jackie endlich die Pranke auf die Schulter und zieht ihn zurück. »Lass doch gut sein, Alter. Lass mal schön gemütlich ’n paar Gläschen, ne?« Seine in die Länge gelallten Vokale beruhigen Jackie. Er setzt sich wieder hin und zischt nochmal böse, um wenigstens einen kleinen Sieg davonzutragen: »Aber fifty-fifty-Mischung« . Solche Gäste lange warten zu lassen, ist nicht ratsam. Ich schaufle viel zu viele Eiswürfel in die Drinks, um den Whisky zu verdünnen. Er sieht kritisch zu, wie ich den Jack Daniels eingieße, »EY!« , und seine Hand versucht den Alkoholpegel in die Höhe zu treiben. Als ich die Drinks auf den Tresen stelle, sehe ich, dass Oskars Zettel noch da liegt. Jackie nimmt einen Schluck, stellt das Glas so heftig ab, dass was raus schwappt und ruft: »Nochmal zwei.« Anscheinend will er mir eins reindrücken. Der Arsch. »Mach uns nochmal zwei!«, sagt Jackie laut und ich sage »Ihr seid nicht die einzigen Gäste« zu den zerstampften Limetten. Aggressiven Hunden sieht man nicht in die Augen, sonst beißen sie. Bevor Jackie wieder bellen kann, verschwinde ich mit den Caipis auf dem Tablett durch die Schwingtür. Manfred schmiert ein »Hi...« in meine Richtung. Ich stell die siffigen Cocktails 24 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Dienstags Olivia Kuderewski mit einem breiten Servicegrinsen am Touristentisch ab. Noch eine Runde im Raucherraum, hastig. Die Studenten nuckeln brav an ihren Bieren, haben ihre Tischkunst fast vervollständigt. Die Taxifahrerin winkt lahm nach dem nächsten Bitburger. Manfred wedelt von weitem, mit beiden Armen, wie ein Schiffbrüchiger, obwohl ich sowieso gleich wieder an ihm vorbei muss. Dem bringe ich heute nichts mehr. Als ich zurückkomme – Jackie hat Oskar seinen Bierdeckel weggenommen und versucht dasselbe mit dem Weinglas. Oskar hält es noch trotzig fest, zieht die Stirn angestrengt in Falten, versucht den anderen mit grantigen Blicken einzuschüchtern. Der Wein schwappt raus. Über Oskars Zettel. Jackie lacht in großen Brocken. Der andere grunzt, mit den Lidern auf Halbmast. Ich fauche Jackie an, »lass ihn in Ruhe«, aber der lacht. Das Weinglas, aus Oskars Hand gerissen, rutscht über den Tresen, an mir vorbei, zerbricht auf dem Boden. Einer der Touris steht auf, viel zu unentschlossen. Jackie beugt sich über Oskars Zettel, hindert ihn, das nasse Stück Papier zu verstecken und liest vor, »Meeeeeetaaa...«, als ich ihnen die Gläser wegnehme. Er ist sofort still. Ich muss mich zwingen, Autorität in die Stimme zu legen. »Ihr geht jetzt nach Hause«, sage ich und schütte die Drinks in den Abflusstrichter, »sonst ruf ich die Polizei.« Jackie lacht seine Brocken. »Mach uns nochmal zwei!«, lallt er wie ein aufgezogenes Spielzeug. Ich zieh mein Smartphone aus der Tasche und tippe. Er sieht, wie ich es ans Ohr halte und diesmal fällt der Groschen schneller. Wehrt mit den Händen ab, »musst ja nicht gleich so zickig werden!« Ich halt das Telefon weiter ans Ohr. »Es tutet« und er »Hey!« setzt sich endlich in Bewegung. Rutscht vom Hocker auf die Wackelbeine. Ich tippe, so, als würde ich einen Anruf beenden, Jackie sieht auf meine Hand aus den Augenwinkeln, während er Oskar zum Abschied ein ekliges Grinsen hinschmiert. »Wir hatten doch Spaß miteinander, Opi, hm?« und Oskar, der drückt sich weg, windet sich aus dem Kumpelgriff. »Komm, wir gehen. Das Personal is heute schlecht gelaunt«, drückt er mir noch rein, so laut, dass es alle hören. Dann trotten sie zur Tür, extra lässig, ein letzter fieser Blick zurück und sie fällt zu. Unbezahlte Getränke, überschwemmte Theke, Scherben. Das Herz klopft noch in der Kehle. Oskar, der alte dünne Oskar, ist aufgestanden. Will sich vergewissern, dass sie nicht wiederkommen. Er schüttelt mitleidig den Ballonkopf, zückt dann den Geldbeutel. »Du kannst nächstes Mal zahlen, Oskar. Schon gut«, sage ich, weil ich gerade keinen Nerv für Kopfrechnen habe. Er denkt nach, verneint dann heftig und hält mir einen Zwanziger hin. Ich krame nach dem Rückgeld, aber als ich es ihm geben will, ist er verschwunden. 8,20 Trinkgeld. Ich wische den Tresen ab, kehre Scherben und schmeiße Bierdeckel weg. Oskars aufgeweichter Zettel. Kurz bevor ich ihn in den Mülleimer klatschen lasse, fällt mein Blick auf seine Antwort. Oskars zackige Schrift, die seine Zunge ersetzt. »Metastasen sind zurück, muss morgen ins Krankenhaus. Aber der Pinot schmeckt heute sehr gut :) « 25 / 55 BEEF . BETEN . BOXEN . Mareike Köhler Fremdbeten Vielleicht hätte sie heute einfach zuhause bleiben sollen. Soray vergrub die Finger in ihrer Manteltasche, als sie in die breite, leere Straße einbogen, vorbei an den vereinzelten Plastikflaschen und leeren Tabakdosen auf dem grün bewachsenen Randstreifen und vorbei am Restaurant »Zur Haltestelle«, in welches sich höchstens hin und wieder einmal Arbeiter des nahe gelegenen Industriegebiets verirrten. Den ganzen Tag schon hatte sie sich nicht gut gefühlt, hatte die Gedanken an ihn hin und her geschoben, sie hinuntergeschluckt und wieder ins Bewusstsein gewürgt. Sie hätte Naba einfach sagen können, dass sie krank sei. So ungewöhnlich wäre das zu dieser Jahreszeit nicht. Aber Naba schloss ihren kleinen Laden freitags immer schon mittags, um pünktlich losfahren zu können; sie war extra bei Soray vorbeigekommen und hatte sie abgeholt. Und Soray fuhr gern mit Naba diese Strecke; sie konnten sich über so gut wie alles unterhalten. Normalerweise. Heute blieb Soray ungewöhnlich still. Naba blickte sie im Rückspiegel an und hob die Augenbrauen: »Na was ist heute los mit dir, Mäuschen? Rück mal raus damit!« Naba war etwa zehn Jahre älter als Soray und schien damit zu rechtfertigen, sie wie ein Kind behandeln zu dürfen. Soray zwang sich zu einem Lächeln und erklärte, dass sie ihre Tage habe und einfach ein bisschen schlecht drauf sei. Das war noch nicht einmal gelogen. Und Naba schien sich damit zufrieden zu geben. 26 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Fremdbeten Mareike Köhler »Ach Schätzchen, mein Armes…«, sagte sie nur, um dann noch hinzuzufügen, dass sie sich davon doch nicht so runterziehen lassen solle – schon gar nicht an einem Freitag – und dann drehte sie das Radio noch etwas lauter. Soray war das ganz recht; so konnte sie sich wieder ihren eigenen Gedanken zuwenden. Eigentlich war Soray die Letzte, die sich erlauben würde, nicht zu einer der Veranstaltungen ihrer Gemeinschaft zu gehen. An kaum einem anderen Ort fühlte sie sich so wohl, wie in dieser Moschee. Jeden Mittwoch traf sich der Frauenkreis, dessen Mitglied sie war, und mit den meisten der Frauen war sie gut befreundet. Sie liebte es, Geschichten von den Taten des Heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) zu hören, auch wenn sie einen Großteil davon bereits kannte. Die Religion gehörte fest zu ihrem Leben. Sie verrichtete fünf Mal am Tag das Pflichtgebet und – wenn sie die Zeit fand – sogar noch das ein oder andere Freiwilligengebet zwischendurch. Soray zog nervös an einer Haarsträhne, die unter dem Kopftuch hervorlugte. Ja, sie hatte immer versucht, sich an alle Regeln zu halten; hatte das Fasten im Ramadan eingehalten; hatte ihr Leben Gott anvertraut. Allah hatte immer den wichtigsten Platz in ihrem Herzen und ihren Gedanken eingenommen. Umso mehr schämte sie sich jetzt, dass sie es überhaupt in Erwägung gezogen hatte, nicht zum Freitagsgebet zu gehen. Angestrengt schaute sie aus dem Fenster. Über der blickdichten hohen Absperrung auf der rechten Seite stieg Rauch auf und verschmolz mit den Wolken zu einer grauen wabernden Masse. Sie fuhren vorbei an den kleinen, hoch eingezäunten Einfamilienhäusern – die mit den automatischen elektrischen Toren, bei denen Soray immer das Gefühl hatte, sie würden sich genau in dem Moment schließen, wenn sie vorbeikam. Ganz am Ende der Straße dann, auf der linken Seite, das große, quadratische, weiße Gebäude mit den schmalen, länglichen Fenstern. Auf dem flachen Dach die kleine, charakteristische Kuppel, die Kubba, und das nach oben hin spitz zulaufende Türmchen, das Minarett, welches jedoch keiner nutzte. Sorays Blick blieb etwas länger als sonst an dem blauen Schild an der Fassade hängen: »Niemand ist anbetungswürdig außer Allah und Mohammed ist sein Prophet.« Der gepflegte Vorplatz war bereits gut mit Autos gefüllt, als sie ankamen; doch das mit dunkelgrauen Steinen in sonst helles Pflaster gesetzte »Welcome« war noch frei und so parkte Naba das Auto darauf. Drei Männer standen vor dem Eingang und rauchten. Soray beobachtete sie aus den Augenwinkeln. War er auch dabei? Natürlich nicht. Ein Imam raucht nicht. Und er war wohl längst im Gebetsraum. Sie hatte sie schon öfter hier gesehen, aber sie hätte nicht sagen können, wer genau diese Männer waren, die regelmäßig die Freitagsgebete besuchten so wie sie. Sie redete eigentlich nie mit ihnen. In der Moschee war es ihnen untersagt, dem jeweils anderen Geschlecht in die Augen zu sehen oder ihnen die Hand zu geben. Naba sah sie noch einmal kurz mit prüfendem Blick an und verschwand dann im Gebäude. Soray folgte ihr. Als sie nach dem Schuhe-Ausziehen den Gebetsraum der Frauen betrat und den weichen, bequemen 27 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Fremdbeten Mareike Köhler Teppich unter ihren Füßen spürte, freute sie sich zum ersten Mal an diesem Tag. Es war gut, die Anderen wiederzusehen und die Vertrautheit der Gemeinschaft um sich zu haben. Das Licht war gedimmt und die warme Luft roch angenehm süßlich. Dieser Raum schaffte es wie kaum ein anderer Ort, sie zu beruhigen. Viele Frauen hatten mit ihren Kindern schon auf dem Teppich Platz genommen. Gerade wollte Soray mit Naba herumgehen, um ihnen wie sonst einzeln die Hand zu geben. Doch zu mehr als einem schnell in die Runde gemurmelten »Salaam aleikum« kamen sie nicht, denn in diesem Moment tönte Gesang aus den Lautsprechern. Soray zuckte kurz zusammen und setzte sich auf einen der Stühle zu den älteren und den unreinen, menstruierenden Frauen, während die Jüngeren mit den Kindern auf dem blau-golden gemusterten Teppich standen und dem Gesang lauschten. Soray hielt sich am Polster fest, erleichtert, dass die Frauen ihr den Rücken zukehrten und ihre Verwirrung nicht sehen konnten. Sie erkannte seine Stimme sofort. Diese weiche, angenehm tiefe Stimme, so beruhigend. Sie konnte nicht anders, als sich ihn vorzustellen, wie er da stand, eine Etage unter ihr, der junge, groß gewachsene Mann, ganz in schwarz, den dunklen Bart sorgfältig gepflegt, in der hellblauen Gebetsnische, die sie nur von Bildern aus dem Internet kannte (selbst durfte sie den Raum nicht betreten), von goldenen Ornamenten umrandet – so als sei er selbst der Gegenstand ihrer Anbetung. Wie gern säße sie jetzt dort unten bei ihm. Der Imam verstummte kurz – und sie klammerte sich noch fester an ihren Stuhl, als sie erkannte, was sie da gerade gedacht hatte. Sie ärgerte sich über sich selbst! Was machte sie da? Warum konnte sie diesen einen Augenblick nicht vergessen? Auch wenn sie hin und wieder einmal an dem Sinn der Geschlechtertrennung gezweifelt hatte – jetzt erschien es ihr so plausibel wie nie. Jegliche Ablenkungen sollten vermieden werden. In der Moschee sollte die Aufmerksamkeit einzig und allein Allah gelten. Und darum hatte auch die Regel einen Sinn, dass die Frauen dem Imam nicht begegnen sollten. Der Imam hatte inzwischen den Gesang beendet und begann, vom Heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) zu erzählen und seine Taten zu erklären. Soray versuchte, ihm zu folgen, doch immer wieder lenkten sie der Klang seiner Stimme und der Gedanke an seine Augen ab. Ob er sich noch an den Moment erinnerte? Hatte er sie überhaupt richtig angesehen? Ja, doch, zumindest kurz, da war sie sich sicher. Sie glaubte, in seinem Blick Erstaunen gesehen zu haben. Er musste sich einfach daran erinnern! Sie konnte nicht sagen, wieso, doch dieser kurze Augenblick hatte sich gefährlich und provokant in ihr Gedächtnis eingebrannt und es gelang ihr nicht, die Erinnerung daran auszulöschen. Wie ein Stromschlag, der sie durchzuckt hatte und nun seine Folgen hinterließ. Meidet die Versündigung der Augen. Da war so etwas in diesem Blick gewesen, was sie nicht deuten konnte. War da nur Überraschung, ein Erschrecken? Oder war es mehr als das? Die Anderen waren jetzt auf die Knie gegangen, um das Gebet zu beginnen. Soray konnte jetzt einen 28 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Fremdbeten Paula Hauch Blick auf alle Anwesenden erhaschen. Vorn in der ersten Reihe drehte sich eine der Frauen kurz nach ihr um und lächelte ihr zu. Es war Zaina, die Frau des Imams. Etwas in Soray zersplitterte. Dann schloss sie die Augen und kniete sich in Gedanken dazu, um mit den Anderen zu beten. Sie bat Allah um seine Barmherzigkeit und dankte ihm, denn sie wusste, dass er einem Menschen nie eine größere Aufgabe stellte, als er ihm zu bewältigen zutraute – so hatte es der Imam gesagt. Zeig mir deinen Hund und ich sag dir, wer du bist Der Hundeartikel ging an mich. Ich war nur froh, dass ich nicht über die Diamanthochzeit von Rosa und Helmut Weger schreiben musste, bei den Wegers war ich letzten Monat als Frau Weger einen Preis für den bestgedeckten Apfelkuchen erhalten hatte. Niemals werde ich den Geruch in diesem lavendelfarbenen Albtraum von Wohnzimmer vergessen. Es roch nach braun und gelb gefärbten Seiten, nach fleischfarbenen Thrombosestrümpfen, nach goldenen Zähnen und nach Ringen, die nur unter heißem Wasser und heftigem Schrubben von den Fingern genommen werden können. Mit Sprachschätzen über Schützenfeste und Schwimmbaderöffnungen habe ich mir meinen Weg geebnet und habe es zum Hundeplatz geschafft. Jetzt sitze ich über meinen Notizen. Nicht trinken, nicht übertreiben, kein Zynismus: die drei goldenen Regeln des Lokaljournalismus. So schwer kann das doch nicht sein: Auf dem Hundeplatz hat keiner einen Nachnamen, außer Herr Schmidt, der Rauhaardackel von Günther. Roland ist mit seinem neuen BMW gekommen. Er schimpft, weil seine Tochter auf dem Beifahrersitz einen Softdrink verschüttet hat. Auf den Knien seiner Jeans hat Roland Schmutzflecken. Seit drei Wochen versucht er, 29 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Zeig mir deinen Hund und ich sag dir, wer du bist Paula Hauch seinen Retrieverwelpen Maja davon zu überzeugen, durch einen blauen Plastiktunnel zu kriechen. Obwohl Therese, die Hundetrainerin, ihm offiziell verboten hat, durch den Tunnel zu kriechen: »Die muss das schon selber machen, die Maja.« Doch Roland ist nicht der Einzige. Wenn Therese den anderen Hundebesitzern den Rücken zudreht, habe ich manch einen durch einen Gummireifen klettern oder über eine Hürde springen sehen. Nicht ohne sich danach stolz und auffordernd seinem Hund zuzuwenden. Marianne ist seit drei Monaten im Ruhestand. Jetzt möchte sie ihre neue Freiheit genießen: abends gemütlich ein Rotweinchen trinken und morgens auch mal bis neun Uhr schlafen. Filius, ihr Berner Sennenhund, ist kein Freund der neugewonnen Gemütlichkeit. Morgens wacht Marianne mit einem merkwürdigen Gefühl auf und schaut in große Hundeaugen. Pünktlich um sechs Uhr dreißig steht Filius am Bettrand. Abends um halb zehn steht er auf der Treppe und schaut erwartungsvoll über die Schulter, bis Marianne ihm ins Schlafzimmer folgt. Drei Dinge sind des Menschen Heiligste. Drei Dinge, die du unter keinen Umständen kritisieren darfst: sein Kind, seine Inneneinrichtung und seinen Hund. Wenn der Tommi dich mit der Schippe haut, wenn der Anblick der dreitausend Monchichis dich noch in den Träumen verfolgt und Rotweiler Rosi dir mit gefletschten Zähnen den Weg versperrt, dann hast du entweder was falsch verstanden oder überhaupt keine Ahnung oder es nicht besser verdient. Jeder Hundebesitzer ist auch ausgewiesener Hundeexperte: Nicht kastrieren, nur vegetarische Kost, Zähne putzen ja, Mundspray nein, einmal im Monat den Anus ausspülen lassen, mindestens. Das ist nicht anders als bei Kindern. Also natürlich ohne die Kastration und die Anussache. Fragen wie: Nutella ja, nein, Waffen ja, nein, musikalische Früherziehung ja, nein, können ähnliche ideologische Glaubenskriege auslösen. Und es soll Menschen geben, die ihren Hunden Mozart vorspielen, wenn Gewitter droht. Man hat es nicht immer leicht als Hundebesitzer, zumindest wenn man einen Hund hat, der auch als Hund durchgeht und nicht als Meerschweinchen. Apropos Meerschweinchen, jeder Hundebesitzer hat wohl diese eine Geschichte über seinen Hund, die er lieber nicht erzählen will. Manchmal betrifft es eben das Meerschweinchen des Nachbarkindes, hin und wieder auch das Nachbarkind selbst, manchmal die gefüllten Windbeutel auf der Geburtstagsfeier oder den neuen Teppich von Oma. Aber mit Kindern ist das eben nicht anders. Teppiche, andere Kinder, Windbeutel und Meerschweinchen sollten sich ebenso vor Kindern in Acht nehmen wie vor Hunden. Und wenn dein Hund wieder ein Kleinkind auf dem Spielplatz umschubst, ein Mauseloch ausgräbt, fremden Menschen im Schritt schnüffelt, dann bedenke: Du kannst immer noch behaupten, es wäre nicht dein Hund mit den vier Beinen und dem einen Arm. Außer du siehst deinem Hund schon so ähnlich, dass du es nicht mehr bestreiten kannst. Seit meiner Kindheit läuft jeden Morgen an unserem Küchenfenster eine Frau mit ihren beiden Hunden vorbei: zwei weiße Königspudel. Die Dame hat weißes Haar, hochtoupiert, sie trägt einen weißen Mantel im Winter und Herbst, eine weiße Steppjacke im Frühling und Sommer. Mit der Zeit ist ihr Haar dünner geworden und ihr Schritt langsamer. Letzte Woche hatte sie nur noch einen Königspudel dabei. 30 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Zeig mir deinen Hund und ich sag dir, wer du bist Rachel Bleiber Wenn Herrchen und Frauchen zu Tränen gerührt oder geführt, loben, schreien, dann erscheinen mir die Hundeplätze dieser Welt als psychologische Anstalten. Ein Aufmerksamkeitssyndrom kommt selten allein. Der hibbelige Terrier, der der doppelt so großen Dogge unaufhörlich am Maul rumschleckt, unterscheidet sich nicht wesentlich von seinem hysterischen Frauchen. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Seine Freunde und Haustiere schon, umso erstaunlicher, wen oder was sich manch einer aussucht. Wenn der Kanarienvogel als Begleiter das Symbol für Einsamkeit ist und die Katze für leidiges Ledigsein im hohen Alter, dann ist der Hund das Symbol für Familie. Oder hat schon mal einer etwas von einem Trennungsgoldfisch gehört? Damit es nicht so weit kommt, schafft man sich einen Hund an. Und wenn sich die kleine Tochter ein Brüderchen wünscht, dann bekommt sie einen Welpen. Schön ist auch immer wieder die Enttäuschung der Hundebesitzer, wenn Fifi und Fufi so treu sind wie muskelbepackte Gouverneure, eierfixierte Titanen, Tennisstars, Golfstars, Fußballer... Im einen Moment scheinen sie noch mit großen Augen zu sagen »Ich liebe dich, aufrichtig und so« und im nächsten sitzen sie in einem fremden Auto neben einem fremden Menschen mit einem fremden Leberwurstbrot im Maul. »Wo ist eigentlich Roland?« »Der knackt im Plastiktunnel.« So, jetzt nur noch die Übertreibungen und die zynischen Passagen raus streichen und die Bierflaschen wegräumen. Vaterland Maik feuert mich an. »Schluck, schluck, schluck!« und ich schluck, schluck, schluck bis sich nichts als weißer Schaum dickflüssig durch den Flaschenhals schiebt. Ich lasse ihn auf den Boden tropfen, auch wenn das eigentlich nicht erlaubt ist in der S-Bahn, die Leute gucken auch schon ganz komisch. Aber Maik hat gesagt, dass nur Kapitalisten ein Bier ganz auftrinken, weil die so gierig sind und das bin ich natürlich nicht. Ich stecke die Flasche in meinen Rucksack. »Du darfst keine Angst haben, das sehen die gleich in deinen Augen, das nutzen die aus, die Schweine!«, hat Maik mir gesagt und so haben wir abgemacht, dass jeder von uns einen Sixer Bier mitbringt. Maik ist schon oft auf Demos gewesen, »den Nazis zeigen, wo der Hammer hängt«, sagt er immer. »Nächster Halt: Hannover Hauptbahnhof«, ertönt die blecherne Stimme aus den Lautsprechern und zum ersten Mal habe ich keine Angst, dass Maik mein Herz schlagen hören könnte. »Die Alten da neben uns, das waren bestimmt auch so Scheiß-Faschos, Altnazis, so sahen die aus, als würden die ´ne Kaffeefahrt machen. ´Ne Kaffeefahrt zur Nazi-Demo, stell dir das mal vor! Völlig abgefuckt, alles hier in Deutschland!«, sagt Maik, während wir die Bahnhofsstraße entlang gehen und ich stimme ihm zu. Der kennt sich echt aus mit solchen Dingen. Im Gegensatz zu den Idioten aus meiner Klasse kann ich mit Maik auch über Politik und so was reden. Naja, auf jeden Fall erklärt er mir das alles ziemlich genau. 31 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Vaterland Rachel Bleiber Auch in der Facebook-Gruppe, als wir uns kennengelernt haben, da hatte Maik immer für alles eine Erklärung. Als ich geschrieben habe, dass meine Eltern mir wieder Hausarrest gegeben haben, wegen nichts, da antwortete er, dass die Erwachsenen uns ja nur klein halten wollen. Dass die nicht wollen, dass wir ´ne eigene Meinung haben und wir das nicht mit uns machen lassen sollen. »Macht kaputt, was euch kaputt macht!«, hat er gesagt. Wir haben uns dann echt viel unterhalten, auch über seinen Vater, der unterdrückt ihn immer und beschneidet ihn in seiner persönlichen Freiheit, sagt Maik. So ein Arschloch, der Vater. Und dann hat Maik mich zu dieser Facebook-Veranstaltung eingeladen, diese Demo eben und ich hab natürlich zugesagt, denn ich konnte es kaum abwarten, ihn mal richtig kennenzulernen. Seit der Einladung gab es dann fast kein anderes Thema mehr. Maik hat mir gesagt, was ich anziehen soll, nämlich alles in schwarz, und was ich mitbringen soll zur Demo und wir haben über das Bier gesprochen und wo wir uns treffen wollen. Ich hatte ja die Idee, dass er mich Zuhause abholen könnte, aber das fand er nicht so gut. Maik glaubt nämlich, dass sein Vater ihm hinterher spioniert und er will mich da auf keinen Fall mit reinziehen, sagt er. Also haben wir uns an der S-Bahnstation getroffen, ich hab ihn gleich erkannt, hab ja das Foto auf seiner Seite gesehen. Zur Begrüßung hat er mich umarmt, das war echt verrückt, ich meine, wir kannten uns ja kaum, aber trotzdem hat sich das nicht komisch angefühlt. Wir verlassen den Bahnhof Richtung Innenstadt, der Ernst-August-Platz ist zum Glück hell erleuchtet, aber dann biegen wir rechts auf die Luisenstraße ab und das gefällt mir gar nicht. Viel lieber wäre ich die Bahnhofsstraße entlang gegangen, dort, wo es viele Schaufenster gibt und viel Licht. Aber das ist verseuchtes Gebiet, sagt Maik, alles voller Shopping-Zombies. »Wir sind bald da, zieh‘ schon mal den Schal hoch« und ich ziehe den Schal hoch über meinen Mund und meine Nase. Ich frage mich, wie ich so überhaupt Luft bekommen soll, da zieht sich Maik eine schwarze Mütze auf. »Wo ist deine?«, er sieht mich fragend an, aber ich schüttle nur den Kopf. Er seufzt. »Wie gut, dass ich an alles denke.« Das war mir jetzt schon etwas unangenehm, schließlich hatte er mir ja gesagt, dass ich die Mütze nicht vergessen darf, wegen der Bullen, die dürfen mich nicht erkennen, sonst gäb’s Ärger. Aber zu Hause habe ich nur eine, auf der YOLO steht und die kann ich ja nicht zur Demo anziehen. »Die steht dir wirklich gut«, sagt Maik, während er mir die Mütze über den Kopf zieht. Mir wird plötzlich ganz warm im Gesicht. Hoffentlich merkt er das nicht. Und dann sehe ich auch schon die ersten Polizisten, so viele, auf Pferden oder zu Fuß, aber einen Knüppel haben sie alle und Helme und eine Schutzausrüstung. Die sehen wirklich aus wie im Fernsehen, nur dass sie jetzt echt sind und irgendwie unheimlich. Wir umkreisen ein altes Gebäude, es sieht fast so aus wie das Museum, in dem ich mal mit meinem Opa war, da konnte man alles ausprobieren, das war gar nicht so langweilig wie sonst im Museum. Aber hier stehen überall Zäune und Polizisten und mein Herz, das schlägt jetzt noch viel schneller als vorhin. »BRD, Bullenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt!« Ein Lächeln huscht über Maiks Gesicht. »Das sind 32 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Vaterland Rachel Bleiber meine Leute!« Ich frage mich, wer jetzt genau seine Leute sind. Hier sind ja viele und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns noch mit wem anders verabredet hätten, aber da beginnt Maik dann mitzugrölen und ich muss mich echt konzentrieren, um überhaupt irgendwas zu verstehen. Neben mir singt eine Gruppe von jungen Leuten, aber das Lied kenne ich nicht. Maik stößt mich an. »Los, mach doch mit! Ist doch nicht schwer« und ich versuche mich wieder auf den Sprechchor zu konzentrieren. »Alerta! Alerta! Antifaschista!«, das kann ich wenigstens mitsingen, auch wenn ich kein Spanisch kann und bei »Stein für Stein! – macht sie platt!« wird es noch einfacher. Das ist einprägsam, das ist deutsch und beim Rest bewege ich einfach nur meine Lippen und ab und zu hebe ich meine Faust, wenn es die anderen auch tun. »Schießt den Nazis in die Hoden – deutsches Blut auf deutschem Boden!« Ich verkneife mir ein Kichern und frage mich, ob es auch Sprüche für Nazi-Frauen gibt. Einmal hat mir die Jana im Sportunterricht aus Versehen auf die Brüste gehauen, Mann, das tat weh. Ich suche die Masse gegenüber nach Frauen mit Glatzen ab, aber nein, das ist ja Quatsch, sicher haben die keine Glatzen. Aber wie soll ich die dann hier erkennen? »Es geht los! Komm, wir wollen das Nazi-Pack doch abfangen!« und langsam bewegt sich die Masse die Straße hinunter. Ich fühle mich jetzt schon sicherer, ich kann schon fast alle Texte mitsingen und Maik ist sicher stolz, weil ich so schnell lerne. Ich meine, ich verstehe ja nicht immer alles, was die sagen, aber das hat schon eine enorme Wucht, wenn alle so zusammen singen. Ich höre dann auch jemanden sagen, dass auf dem Platz der Weltanschauung wohl gleich einige Weltanschauungen aufeinander treffen werden, aber so richtig verstehe ich das nicht. »Wir sind die Mauer, das Volk muss weg!« Ich folge Maik in die Mitte des Gedränges. Von außen sind wir eingeschlossen von zwei mal zwei Reihen vermummter Polizisten. »Deutsche Polizisten schützen die Faschisten!« Maiks Lippen bewegen sich jetzt auf und ab. Ich kann gar nicht mehr richtig denken. »Was hast du gesagt?«, schreie ich ihm ins Ohr. »Argument, Argument, bis der ganze Laden brennt!« Maik sagt mir, dass es jetzt erst richtig los geht und ich will ihn fragen, was das denn heißen soll, aber hier kann man sich ja eh nicht unterhalten. »Ob Süd, ob Nord – Nazis töten ist kein Mord!« Ich sehe Flaschen durch die Luft fliegen und es raucht jetzt auch ziemlich, das zieht hier rüber, über die Polizisten-Mauer. »Wir sind friedlich, was seid ihr?« Ich wünschte, Maik wäre jetzt ein Polizist und würde mit seiner Schutzausrüstung neben mir stehen und mich mitnehmen, mich hier rausholen. »Deutschland ist scheiße, ihr seid die Beweise!« Die Frau neben mir mit den Piercings im Gesicht schiebt jetzt ganz schön, die schiebt mich von Maik weg, aber ich schiebe zurück. Jetzt drängt auch noch die ganze Masse nach außen, ich weiß gar nicht wohin, ich werde mitgezerrt. »Jetzt ist Schluss mit tralala – Bock auf Boxen, Antifa!« Ich sehe Maik nicht mehr. »Pfeffer!« Ich verstehe das nicht, was ist denn mit dem Pfeffer? »Pfeffer!« Dann links von mir eine junge Frau, die wird mitgeschleppt von ihrem Freund, die kann irgendwie nicht mehr richtig gehen. »Haut ab! Haut ab! Haut ab!« Wo ist Maik denn nur? »Nie, nie, nie wieder Deutschland!« Und dann sehe ich ihn. Sein Kopf 33 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Vaterland Max Schäffer umgriffen von einer schwarzen Hand, ein Polizist drückt ihn runter, dreht ihm seine Arme auf den Rücken, die wollen ihm doch alle Knochen brechen, die wollen ihn unten sehen. Aber Maik geht nicht zu Boden, Maik nicht. Er strampelt und wehrt sich, brüllt irgendwas, schafft es eine Hand loszubekommen, schlägt dem Polizisten gegen das Reverse, sodass es aufspringt und irgendwie… Nur für einen kurzen Moment denke ich, dass die beiden sich ähnlich sehen. »Wenn die Bullen mich kriegen, dann musst du weglaufen! Ist okay, wirklich, da musst du dann nur an dich denken«, hat Maik gesagt. Selig sind die Sanftmütigen Ich gehe die Bahnhofsstraße entlang. Rechts von mir spielt ein Straßenmusiker auf seinem Saxofon. Ich kenne das Lied nicht, irgendwas Klassisches bestimmt, aber es klingt schön. Ich bleibe eine Weile stehen und setze mich auf die Bordsteinkante. Es hat geregnet heute Nachmittag, ich merke, wie die Feuchtigkeit langsam durch meine Hose sickert, aber ich stehe nicht auf. »Alles okay bei dir?« Ich zögere etwas, nicke dem Straßenmusiker dann zu, sogar ein Lächeln zwinge ich auf meine Lippen. Hinter mir noch immer die Parolen, dahinter das Surren von fahrenden Autos, das Saxofon, Schritte. Ein Polizeiwagen fährt an mir vorbei und ich versuche durch die Scheiben ins Auto zu sehen, aber da ist nur mein verzerrtes Spiegelbild. »Schönen Abend noch!« Ich stelle dem Saxofon-Spieler mein letztes Bier hin und mache mich auf den Heimweg. Der Himmel war ein bläuliches Grau, das sich nirgendwo besonders absetzte und in seiner Deckkraft an jeder Stelle gleich zu sein schien, als hätte jemand vergessen, den Hintergrund einzufügen. Die Position der aufgehenden Sonne war so nicht zu bestimmen. Trotzdem wurde es kontinuierlich heller. Heute war er früher gekommen als beim letzten Mal. Und ohne Edith. Sie waren noch bei der Laudes, als er ankam, deshalb setzte er sich leise in eine der leeren Bankreihen und hörte zu. Das monotone Gebet der Nonnen wurde durch den Wandlautsprecher an der Steinsäule elektronisch verstärkt. Die Schwestern sangen unisono, sodass sich ihre dünnen Stimmen zu einem sirrenden Oberton verdichteten, der ihre Worte überlagerte. Das helle Summen schwebte wie Nebel in der Halle aus nacktem Stein, gelegentlich unterbrochen vom Schnäuzen einer älteren Schwester, die sich die rot angelaufene Nase putzte. Nach der Messe waren die Schwestern im Gänsemarsch hinter den Säulen des Querschiffs verschwunden, die Köpfe konzentriert zum Boden geneigt. Als sie ihn wenig später draußen vor dem Portal abholte, wich sie seinem Blick schnell aus, wenn sie sich in die Augen sahen. Schweigend waren sie zur Holzbank gelaufen und hatten auf das Wasser gestarrt. Er konnte nicht sagen, wie viele Minuten schon verstrichen waren. 34 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Selig sind die Sanftmütigen Max Schäffer »Ist schon was anderes, so früh am Morgen.« Seine Stimme klang heiser, es war der erste gesprochene Satz des Tages. Der Steg am anderen Ufer ließ ihn an einen alten Witz denken. Spaziert ein Pfarrer den See entlang und erwischt drei nackte Nonnen beim Baden. »Geht ihr manchmal auch schwimmen?«, fragte er und sah sie an. Sie kicherte kurz auf. »Für solche Dinge haben wir nur wenig Zeit. Aber wenn der See im Sommer so schön funkelt, dann…«, sie hielt kurz inne und sprach die übrigen Worte langsamer, wie ein Kind, dem es zum ersten Mal gelingt, ein Gedicht fehlerfrei aufzusagen, »…reicht auch der Anblick, um das Herz mit Freude zu erfüllen und der Herrlichkeit Gottes gewahr zu werden.« Sie lächelte immer so lange, wie sie erzählte, danach wirkte ihr Blick verunsichert und suchend. Ihre Finger klammerten sich fest ineinander. Er zündete sich eine Zigarette an und sah wieder auf den See. Er hatte sie beim Singen genau beobachtet, sie hatte neben der Nonne mit dem leichten Buckel gestanden. Er konnte nicht klar ausmachen, ob sie wirklich mitmachte oder nur die Lippenbewegungen imitierte. Trotzdem musste er sich widerwillig eingestehen, dass sie sich gut in das Bild einfügte. Wenn er seine Augen unscharf stellte, konnte er seine Mutter nur noch am weißen Schleier erkennen, der sie inmitten der schwarzen Kutten als Novizin auswies. Vor einem halben Jahr hatte sie noch lächerlich in dieser Verkleidung gewirkt. Edith war es noch unangenehmer gewesen als ihm, sie war schon nach zehn Minuten wieder nach draußen gegangen. Diesmal war es anders. Er suchte nach einem Wort, das ihren Gesichtsausdruck am besten beschrieb, und entschied sich für »selig«. Ein »seliges« Lächeln. Mitten im See stand eine Trauerweide, deren Stämme wie Arme aussahen, die ein Ungeheuer zum Angriff hebt. Er stellte sich vor, wie sie im Gegenlicht der aufgehenden Sonne aussehen musste. Das letzte Mal hatte es geregnet. Der See war ein Nagelbrett gewesen, das peitschende Wasser hatte dem Baum alle Kontur genommen. Jetzt stand es still. »Wir sind fusioniert, bei uns in der Firma. Mit einem Unternehmen aus Seoul.« Sie hörte ihm aufmerksam lächelnd zu, erwiderte aber nichts. »Das ist in Südkorea. Einer von uns sollte vor Ort sein.« Seinen Blick ließ er mit Absicht auf den See gerichtet, doch aus den Augenwinkeln konnte er ihr regloses Gesicht erkennen. Er zog an seiner Zigarette, die schon bis zum Filter heruntergebrannt war. »Jedenfalls hab ich mich gemeldet. Für drei Jahre. Am Freitag geht der Flieger«, sagte er und drückte die Zigarette an der Bank aus. Im selben Moment kam ihm das aufgesetzt vor. Sie lächelte immer noch, genau wie vorhin, genau wie die ganze Zeit schon. »Ich werde dann erst einmal eine Weile nicht mehr zu Besuch kommen«, sagte er und es fühlte sich an, als würde er einen Witz erklären. Er sah weder Überraschung noch Trauer in ihrem seligen Lächeln, stattdessen schien sie auf etwas hinter ihm zu starren und beinahe hätte er sich umgedreht. Doch dann fiel ihm ein, dass sie bei seinem letzten Besuch auch schon so gewesen war. Er wusste selbst nicht, welche Reaktion er sich gewünscht hatte. Ihre Hände waren immer noch ineinander vertäut. Die dünne Haut spannte sich über ihre Knöchel wie Papier. 35 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Selig sind die Sanftmütigen Max Schäffer »Wie schön«, brachte sie endlich heraus, wieder in diesem naiven Ton. »So eine Reise bringt viel Gutes.« Sie sah in den Himmel. Sie suchte wohl nach einem passenden Bibelzitat, während ihr Lächeln an beiden Enden ihre rosigen Wangen verdickte. Eine Farbe, wie er sie in ihrem Gesicht sonst nur in Verbindung mit einer Flasche Gin und dem alten Badmintonschläger kannte. Sie hatte ihn damit gejagt, durchs ganze Haus, Edith war damals noch zu klein. Komm her, ich hab gesagt, du sollst herkommen. Es war wie Räuber und Gendarm, würde sie ihr danach erklären. Komm her, du kleiner Mistsack, dir werd ich‘s schon zeigen. Aber eigentlich war es nicht lustig und tat richtig weh. Stell dich nicht so an. Wenn du wüsstest, wie das damals bei uns war. Die Flecken gingen manchmal erst nach einer Woche weg. Als seine Schwester und er dann groß genug waren, um den Badmintonschläger in der Luft abzufangen, musste ihr das wie eine Niederlage vorgekommen sein. Sie hatte das Spiel verloren. Die Besuche beim Arbeitsamt, die stundenlangen Gespräche und dieser vertraute, süßliche Gestank, der ihr Zimmer erfüllte, wenn sie zu Besuch kamen. Sie hatte begonnen, sich in der Opferrolle wohl zu fühlen. Ich krieg das nicht hin, hatte sie immer wieder geweint, manchmal lallend, ständig um Verzeihung bittend, bis sie in ihren Armen zusammenbrach. Er begann, sie dafür zu hassen, dass es ihr immer wieder leidtat. Aber je mehr er sie hasste, desto öfter kam er zu ihr. Und er konnte ihr das nicht sagen, denn dann hätte sie wieder geweint und sich ihm in die Arme geworfen und ihn um Verzeihung gebeten und er hätte sie noch mehr hassen müssen. Noch immer sah sie in das Grau über ihren Köpfen. Zum Nachdenken hatte sie ihre Zungenspitze wenige Millimeter aus dem Mund gestreckt. »Wenn der Fluss kein Bett hat, fließt er nicht mehr, sondern wird zum Sumpf«, sprach sie Wort für Wort behutsam aus und strahlte ihn an. Nicht einmal das fiebrige Glänzen von früher war noch in ihren Augen, stattdessen eine Leere, die alles verschluckte. Er musste den Blick abwenden. Eine Mischung aus Ekel und Wut stieg in ihm auf, als er diese Leere in sich selbst größer werden spürte. Wie eine undurchdringliche Schicht spiegelte sich das Grau des Himmels auf der Oberfläche des Sees. »Aber was, wenn da einer ertrinkt«, murmelte er leise vor sich hin. Sie hörte ihn erst, als er den Satz wiederholte, diesmal lauter. »Was, wenn da einer ertrinkt? Dürft ihr dann schwimmen?« Ihr Lächeln war schwächer geworden, dafür zuckten jetzt ihre Mundwinkel, ihre Augen suchten wieder unruhig nach Halt. »Könnt ihr denn überhaupt schwimmen? Also wenigstens eine von euch. Ich meine, ihr wohnt immerhin an einem riesigen See. Auch wenn ihr da selbst nie reinsteigt. Angenommen, ihr seid gerade am Blumengießen oder Liederauswendiglernen und dann genießt ihr den Anblick und werdet der Herrlichkeit Gottes gewahr und plötzlich seht ihr ein paar wild fuchtelnde Hände und ein Gesicht, das nach Hilfe ruft – wer von euch reißt sich dann die Kutte runter und springt rein?« Sie hatte den Blick gesenkt, starr sah sie auf das matte Wasser. Seine Finger hatten sich in der vordersten Planke der Bank festgekrallt. Als er sich dazu zwang, 36 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Selig sind die Sanftmütigen Max Schäffer sie zu lösen, fielen ihm die kleinen Kerben auf, die seine Nägel ins Holz gebohrt hatten. Dann verschmolzen die Spuren mit der Maserung. Es war Edith gewesen, die sie in der Entzugsklinik besucht hatte. »Sie trinkt nicht mehr«, hatte sie nur gesagt, aber das Beben in ihrer Stimme konnte sie nicht unterdrücken. Ihre glasigen Augen wanderten unruhig im Raum umher, sie zündete sich eine Zigarette an und zog doppelt so lang wie sonst. Ihr dünner Arm zitterte wie eine Fahnenstange im Wind, als sie sich am Tisch abstützte. Ein paar Minuten wehrte sie sich gegen seine Umarmung, bis die Tränen kamen. Seitdem kannte er den Unterschied zwischen Niederlage und Verlust. Ein paar Vögel hatten schon die ganze Zeit gezwitschert, jetzt stimmten immer mehr in den Gesang ein, der wie eine Ouvertüre vor dem Vorhang des matten Himmels zu hören war. Die Sonne war immer noch nicht zu sehen. Doch er konzentrierte sich auf die Richtung, in der sie aufgehen musste, bis er tatsächlich einen gelblichen Schimmer zu erkennen glaubte. »Du hast schön gesungen vorhin«, sagte er, den Blick auf das graue Gelb gerichtet. »Obwohl ich eigentlich kein Wort verstanden habe. Nur einen einzigen hohen Oberton. Aber es war bestimmt schön.« Er war sich fast schon sicher, Licht zu sehen. »Und ihr singt ja nicht für mich.« Sie lächelte. Sein Gesicht streifte den weißen Saum ihres Schleiers, als er sie zum Abschied küsste. Er hatte mit einem weiteren Zitat gerechnet, doch sie wünschte ihm nur alles Gute und bat ihn, zu schreiben. Auf dem Rückweg kam er am Turm vorbei. Er war ungefähr sechs Meter hoch und stand mitten auf dem Klostergelände. Beim ersten Mal hatte er die Fenster gesehen und gedacht, es würde sich um einen Speicher handeln, doch als er nachsah, waren da bloß ein paar Fahrräder und kein Weg nach oben. Er hatte zumindest eine Leiter erwartet, stattdessen fand er nur Spinnweben im Gebälk, durchsetzt von Fliegenkadavern. Drei Treppenstufen, die ins Leere liefen, eine von Sträuchern bewachsene Kuhle, die ohne erkennbare Funktion in den Boden gehauen war. »FREIES KLOSTER NOVO EXCITATIO« auf einem hellblau bemalten Holzschild, das Bild einer Blumen gießenden Nonne neben dem Schriftzug. Ein mechanisches Brummen drang von weitem an sein Ohr und wurde immer lauter. Am anderen Ende des Geländes zwängte sich ein orangefarbener Laster vorsichtig durch die enge Einfahrt. Es war die Müllabfuhr. Seine Schwester klang müde, als sie telefonierten, vielleicht war ihre Stimme auch nur durch den Lautsprecher verzerrt. Die Morgenluft pfiff kalt durch den kleinen Schlitz im Fenster, dem er den Rauch entgegen blies. »Wie ist es gelaufen?«, fragte sie. Die Sonne war aufgegangen, als er den Wagen ausgeparkt hatte. Er hätte den See und die Weide gern im Licht gesehen, doch eine Steinmauer trennte seinen Blick vom Gelände. Jetzt schien ihm die Sonne mitten ins Gesicht. Die Hand mit der Zigarette am Lenkrad, klappte er mit der anderen die Blende herunter. »Wir werden sie nicht mehr besuchen müssen.« 37 / 55 BEEF . BETEN . BOXEN . Imke Bachmann Wie eine Umarmung Das Quietschen und Rumpeln draußen hört abrupt auf. Die Pflastersteine schweigen. Das Fahrzeug, es muss ein großes sein, ist stehen geblieben. Warm unter der Bettdecke. Arti mit dem Rücken zu mir. Die hellblaue Decke ist verrutscht. Seine nackte Rückseite. Meine Finger streicheln die Schulterblätter. Meine Fingerspitzen drücken in die Haut, keine dicke Schicht, gleich darunter der massive Knochen. Das Blatt ist so groß wie meine Hand. Ich lege meinen Zeigefinger an die untere Kante, fast kann ich ihn darunter schieben. Mit der Fingerspitze meines Mittelfingers ziehe ich jede Wirbelwelle vom Hals abwärts bis hinunter zum Steißbein nach. Das Fahrzeug rangiert unter dem Fenster. Arti dreht sich auf den Rücken. Ich schiebe mich zur Bettkante, stehe auf und schlinge die Bettdecke fest um meinen nackten Körper. Vom Fenster aus kann ich gerade noch erkennen, wie ein weißer hoher Anhänger von einem dunkelblauen Mercedes in das Einfahrtstor direkt unter uns geschoben wird. Das Auto bleibt stehen. Es schaut nur noch ein kleiner Teil der Motorhaube hervor. Das Brummen des Motors klingt ab. Die Morgendämmerung ist fast vorbei. »Heute werden bei uns Rinder geschlachtet.« Ich höre wie Arti aufsteht. Ein paar Schritte und zwei kräftige Arme umschlingen mich von hinten. »Mein Vater macht das. Mit zwei Kollegen. Hinten im Hof.« Ich drücke seine Arme noch fester um meinen Körper 38 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Wie eine Umarmung Imke Bachmann und atme seinen Geruch ein, wie an jenem Abend. Ich war mit meiner Freundin auf einem Dorffest. Schlechte Musik, spärliches Licht, billiges Bier. Gut genug, dass irgendwann Menschen auf der Tanzfläche zappelten, mein Körper unabhängig von meinen Gedanken in der Masse pulsierte und auf Arti traf. Er roch eigenartig süß, beißend. Mein Magen rumorte, mein Kopf wurde schwerer und fiel auf seine Brust. Meine Nase sog sein intensives Aroma ein, mit jedem Atemzug wurde ich schwächer und Artis Griff stärker. Alles war weiß und ich nur noch unbelebte Masse. Das ist jetzt eine Woche her. »Darf ich zusehen?« Ich sehe direkt in Artis dunkelbraune Augen. »Wir können’s vom Badezimmerfenster sehen. Im Hof stehen die Rinder in der Falle und werden mit der Bolze betäubt.« Ich nicke. »Weißt du, was das bedeutet?« Ich schüttle den Kopf. Nackt geht Arti zur Zimmertür hinaus. Ich folge ihm über den Flur ins Bad. Er lässt mich zum Fenster vortreten, nimmt mir die Decke ab und schwingt sie um uns beide. Von dem Luftzug bildet sich Gänsehaut auf meinem Körper. Arti schmiegt sich eng an mich. Ich spüre sein schlaffes Glied an meinem Steißbein. Wir schauen hinunter. Ein Metallgerüst, darin ein Rind. »Das nennt man Falle.« Vorne schaut der gehörnte Kopf heraus. Drei Männer sind im Hof. »Der ohne die weiße Gummischürze, das ist mein Vater. Er gibt den Viechern eigentlich nur den Schuss.« Arti öffnet das Fenster, kippt es an. Und jetzt kann ich ihn riechen. Diesen süßen, beißenden Geruch. Arti. Er dringt von draußen zu uns ins Zimmer. Meine Beine geben nach. »Alles okay?« Ich nicke. Sein Vater nimmt sich einen Bolzen, die zwei anderen Männer fixieren mit einem Seil das Rind in der Falle. Es wird unruhig. Der Vater steht jetzt mit dem Bolzen direkt vor dem Tier, hebt die Arme. Der Bulle brüllt und schmeißt seinen Kopf umher. »Papa wartet jetzt auf den richtigen Moment.« Die zwei Männer ziehen fester am Strick. Das Tier wendet seinen Kopf Richtung Bolzen. Das Gerät wird angesetzt und entladen. Das Rind jault auf. Artis Vater lädt die Pistole nach, selbe Stelle, ein zweiter, ein dritter Schuss und endlich hängt der Kopf schlaff. Im Einschussloch wird ein Haken mit Metallseil eingehängt, dann lassen die beiden beschürzten Männer den Strick los, die Falle öffnet sich und das Rind fällt auf den Hof. Es zuckt, tritt mit den Beinen. »Das sind nur noch Nervenreaktionen.« Ein Metalltor wird geöffnet. Ich kann in eine weiß geflieste Halle sehen, in der Mitte eine Abflussrinne. Von der Decke hängt eine elektrische Säge. Links und rechts Metallschränke, darauf Messer, Bügelsägen, ein Waschbecken. An einer Kettenschnur wird das betäubte Rind an der Stirn in die Halle gezogen. Die Vorderbeine schlagen gegen den Rahmen des Tores. »Der bekommt gleich einen Kehlschnitt und dann blutet der aus. Dann ziehen sie ihm die Haut ab. Kopf ab, Mägen raus, Füße ab, und dann wird’s geviertelt.« Einer der Männer mit Schürze beugt sich mit einem Messer über den Kopf des Tieres. Artis Vater schließt das Tor. Der dritte bleibt im Hof. Er schiebt ein neues Rind in die Falle. Das Tier brüllt und windet sich, aber er drückt es mit der Metallwand immer weiter vor. »In der Falle können sich die Viecher beruhigen. Das entspannt sie irgendwie. Wie eine Umarmung.« 39 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Wie eine Umarmung Gesche Herkert »Mir ist schwindelig.« Arti dreht mich zu sich um. Die Decke umhüllt uns. Seine Lippen berühren sanft meine Stirn. Er küsst mich dreimal auf dieselbe Stelle »Komm, wir gehen wieder ins Bett.« Arti überlässt mir die Decke. Mit der einen Hand halte ich sie fest, an der anderen zieht er mich hinter sich her ins Schlafzimmer. Dort hebt er mich aufs Bett. Schließt die Tür. Life as it should be Wenn man nur hindurchfährt, nicht so genau hinguckt, eigentlich nur verträumt aus dem Fenster schaut, sieht es dort schön aus. Ordentlich, hell, etwas verschlafen. Eine Plansiedlung, genau durchdacht, mit dem Lineal getrimmt, vorausschauend auf zukünftige Bewohner angepasst. Neben dem Schild, das Besucher willkommen heißt, kann man auf einer übersichtlichen Tafel sehen, wo welches Haus steht und wie viel Raum es einnimmt. Auch ein Park ist eingezeichnet, aber in der realen Nachbildung nicht zu finden. Ein roter Punkt gibt an: Sie sind hier. Aber wo sind die anderen? Kein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Der Wind tobt über den Bürgersteig und lässt Äste rascheln. Die glattgebügelten Wege lenken durch die Siedlung, eine Dauerschleife von gleichgemachten Häusern, cremeweiß gestrichen mit braunen Fensterbänken. Nur die Türen sind bunt, vielleicht, damit man sie unterscheiden kann. Abzweigung nach links. Eine zweite Reihe aus grauen Backsteinen, Großfamiliengröße, vor keinem der Fenster Vorhänge, man kann vorne durch ein Fenster hineinschauen und durch ein anderes weiter hinten wieder hinaus. Aber – in einem der Häuser brennt Licht. Auf der Wäscheleine im Garten flackert ein Blumentischtuch im Wind, Hosen und Shirts plustern sich auf. Connor läuft auf die Veranda, wirft einen Blick Richtung Himmel und ruft hinein: Es sieht wirklich nach Regen aus, wollen wir nicht…? Und dann hängen er und Sophie gemeinsam die 40 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Life as it should be Gesche Herkert noch halbnasse Wäsche ab und breiten sie über den Möbeln und dem Treppengeländer aus. Der Wäscheständer ist zwischen den Kartons verschwunden, irgendwann ist ihnen die Lust am Auspacken vergangen. Weiter hinten im Garten baut der zehnjährige Michael Sandschlösser, die im Regen aufweichen und ihre Form verlieren. Die Mutter ruft ihn herein und er sieht vom Küchenfenster aus, wie die Bauten langsam in sich zusammensacken. Vor dem Essen Hände waschen, wird er ermahnt. »Life as it should be« stand im Katalog, aus denen ihr Traumhaus glänzte. Wie ruhig es hier ist, hatte Sophie erstaunt gesagt, als sie mit der Maklerin im Haus umhergingen und »Was wäre wenn« spielten. Stolz hatte die Maklerin genickt, eine wirklich fabelhafte Gegend, genau richtig um Kinder groß zu ziehen. Und wenn erst die Geschäfte kommen, Cafés, Fitness Center, was da alles geplant ist! Man müsste die Stadt nie wieder verlassen. Was es hier nicht gibt, das finden sie nirgendwo! Sie ließen sich von der Begeisterung der Maklerin anstecken, sagten: das oder keines! Dort das Sofa, hier die Stehlampe, die Küche vielleicht grün streichen. Sie konnten es kaum erwarten, dieses neue Leben. Wochen später sind die anderen Häuser noch immer unbewohnt. Sophie läuft die Straße entlang an ihnen vorbei, in federnden, gleichmäßigen Schritten, ihr Atem kommt stoßweise. 30 Minuten Joggen, ihr tägliches Training, bevor sie sich an ihren Schreibtisch setzt. Sie versucht starr nach vorn zu blicken, nicht auf die vom Regen verklumpten Telefonbücher, die in den Auffahrten liegen, die weißen Aufkleber in den Fenstern oder die zerschlissenen Werbeaufsteller. Nur auf das Atmen konzentrieren, auf die Schritte. Die feuchte Luft legt sich ihr in den Nacken, lässt ihr Haare krausen. Auf einer Zaunspitze aufgespießt ist ein einsamer Handschuh zum Gruß gespreizt, den sie ebenfalls ignoriert. Am Himmel zieht ein dunkler Vogelschwarm seine Kreise, sie hört entfernte schrille Schreie, ist kurz abgelenkt und stolpert über einen Ast. Fluchend reibt sie sich den schmerzenden Knöchel. Als sie wieder aufblickt, registriert sie einen Schatten auf dem verschmierten Fenster in einem der Häuser und fährt herum. Jim, der zweimal am Tag mit einem leeren Bus hier ankommt, steht vor ihr, sein speckiges Gesicht zu einem Grinsen verzogen, prostet ihr grüßend mit seiner Zigarette zu. Sie lächelt zurück, versucht sich den Schreck nicht anmerken zu lassen, bemerkt im Plauderton, wie schön das Wetter ist. Er wünscht ihr einen guten Tag, läuft die Straße hinunter zur Haltestelle und mit einem Brummen bewegt sich der zweistöckige Bus außer Sichtweite. Sophie bleibt zurück und stellt sich vor, sie wäre ebenfalls eingestiegen und würde die hohlen Häuser vorbeiziehen sehen. Sie schaut die Straße hinunter und hinauf und hat das Gefühl, die Häuser starren aus blinden Augen zurück. Ein hoher Ton liegt ihr plötzlich im Ohr, ein dringendes Zischen, leise nur, doch jagt es sie die Straße hinunter, zurück in ihr Haus, wo sie vor sich hin lärmt, um ihm zu entkommen. Aber es folgt ihr überallhin, mal dumpfer, mal pochend, immer da. Sie stellt sich vor, dass eine riesige Karawane von Umzugswagen die Straße hinaufkommt, ihre Nachbarn, die sie mit einem schüchternen Lächeln grüßen – fast 41 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Life as it should be Gesche Herkert als wollten sie sich für die kleine Verspätung entschuldigen. Man hatte sich nur verfahren. Nach dem Duschen steckt sie ihre langen, blondierten Haare gekonnt hoch und schminkt sich dezent. Man muss immer auf alles vorbereitet sein, hat ihre Mutter oft gesagt. Sie schickt Michael zum Spielen raus, damit sie ungestört an ihrer Übersetzung arbeiten kann, ruft stattdessen ihre Kollegin an, bespricht das Projekt noch einmal mit ihr, fragt sie, wie es den Kindern geht und ob sie schon Urlaubspläne hat. (Gut, danke. Nein, mal schauen.) Fragt und fragt und ärgert sich, weil sie nicht zurückgefragt wird. Fängt unaufgefordert an zu erzählen, bis die Kollegin ihre Belanglosigkeiten unhöflich unterbricht und auflegt. Sie lässt das Radio durchs Haus dröhnen, schaltet zwischen unruhigem Jazz und Popsongs hin und her. Während sie den französischen Text laut vor sich hin spricht und versucht, englische Worte zu finden, die den gleichen warmen Klang haben, unterbricht die Musik und eine vertraute Stimme verkündet die Nachrichten. Schwerer Unfall auf der… Unwetterwarnungen in… kein Vorankommen in den Verhandlungen… Zu Beginn sind noch Freunde zu Besuch gekommen, die beim Tee erklärten: Wirklich, es sei schön hier. Aber doch etwas ruhig, sie selber würden vielleicht die Geschäftigkeit der Stadt vermissen. Und dann auflachten, als hätten sie unbeherrscht etwas Dummes gesagt. Sophie verteidigte das Haus sofort. Jeden Zweifel löste sie auf, indem sie von den Vorteilen sprach, die es mit sich brachte, außerhalb der Stadt zu wohnen. Weniger Schmutz, weniger Lärm, weniger... So lange sie es sich laut sagen hörte, klang es wirklich überzeugend, vernünftig, erwachsen. Du musst Geduld haben, versucht Connor sie ständig zu beruhigen, die anderen werden schon noch kommen. Sophie denkt, dass es leicht für ihn ist, das zu sagen. Schließlich verbringt er den ganzen Tag in der Stadt, zwischen den anderen. Sie schaut sich in dem länglichen Spiegel im Esszimmer an, der den Raum optisch vergrößert, so dass es wirkt, als stehe sie viel weiter von ihrem Spiegelbild entfernt. Sie ist ganz zufrieden mit dem, was sie sieht, lächelt, mit geschlossenen Lippen, dann strahlender, als hätte jemand gerade eine amüsante Bemerkung gemacht, spöttisch mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihr Lächeln steht ihr hervorragend. Sie hat noch einige gute Jahre vor sich, sagt sie sich. Sie geht ein wenig im Zimmer umher, kramt in den Kartons, stellt Bilderrahmen auf den Kaminsims, rückt Vasen und Kerzenständer zurecht und immer wieder schaut sie verstohlen zum Spiegel zurück. Draußen läuft Michael in Richtung der Bauruinen, eine Gruppe angefangener Fundamente mit angedeuteten Wänden, manchmal noch bis zum nächsten Stockwerk hochgezogen, rauer farbloser Stein. Ein löchriger Bauzaun grenzt das Gelände von den fertigen Häuserreihen ab, er schlüpft zwischen den Stäben hindurch. Die Steine sind mit einer grünen, faserigen Schicht überzogen, überall liegt Bauschutt herum. Auf der Erde liegt ein vergessener Hammer. Eine Zeit lang haut er damit auf Holzlatten und Metallstangen herum, es knallt und dröhnt, dann lässt er ihn wieder fallen und klettert zurück auf die fertige Seite der Stadt. Michael fordert sich 42 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Life as it should be Gesche Herkert selbst zur Mutprobe heraus. Er steht mit einem Stein in der rechten Hand in einem herrenlosen Schlammgarten zwischen wilden Gräsern, die ihn im Ohr und am Hals kitzeln. Ihm ist schwindelig vor Aufregung. Jetzt, sagt er sich und holt aus. Noch bevor es klirrt ist er ganz starr, erschrocken über sich selbst. Ohne sein Werk recht zu besehen, rennt er los, er ist sicher, das Klirren ist ihm voraus durch die ganze Stadt geschallt. Schuldbewusst klopft er an die Haustür und die Mutter öffnet, hektisch, ihr Auflauf muss in den Ofen geschoben werden. Doch in ihrem Blick ist keine Wut, die allwissende Mutter, sie weiß es nicht. Wasch dir die Hände, sagt sie und Michael schrubbt sich die Erde von den Fingern, bis sie ganz rot sind und jucken. Connor kommt abends nach Hause, bringt Geschichten mit, die er am Tisch als Beilage zum Essen serviert. Anfangs ist Sophie froh, dass er die Stille füllt. Dann ärgert sie sich über seinen unaufhaltsamen Wortfluss, hat das Gefühl, dass er absichtlich übertreibt, sich Dinge ausdenkt. Wie viel kann ein Mensch an einem normalen Tag erleben? Sophie beginnt, von dem Autounfall aus den Nachrichten zu erzählen, kann sich aber nicht mehr ganz an die Details erinnern, unkontrolliert stolpern die Worte aus ihr hinaus, brechen hervor. Connor hat aufmerksam zugehört und berichtigt sie jetzt, nein, es waren drei Autos, auch bei den Toten irre sie sich, die Beifahrer seien zwar schwer verletzt, aber würden durchkommen. Beleidigt funkelt sie ihn an und behauptet, sie sei sich ganz sicher, dass im Radio von fünf Toten gesprochen wurde. Beide über die Dickköpfigkeit des anderen schweigend, essen sie weiter. Michael kratzt abwesend mit der Gabel über den Teller, bei dem Geräusch verkrampft Sophies Kiefer sich und sie zieht ihn sachte am Arm. Er hat den Streit kaum mitbekommen. Auch Connor ist jetzt in Gedanken versunken. Die zwei Falten über seiner Nase bilden steile Linien, er erzählt, dass er draußen Terry getroffen habe, der für diese Sicherheitsfirma arbeitet – wie heißt sie noch? – und hier regelmäßig zur Kontrolle die Straßen abfährt. In einem der Häuser ist vermutlich eingebrochen worden, sagt er, vielleicht waren es aber auch randalierende Teenager aus der Umgebung, jedenfalls haben sie ein Fenster eingeschmissen. Vermutlich kein Grund zur Beunruhigung, aber sie sollten ein wenig achtgeben, man wisse ja nie. Besorgt blickt Sophie zu Michael, der weiter auf seinen Teller starrt. Dieser kleine, zarte Junge mit dem verträumten Blick. Er sieht blass aus, seine Augen sind ängstlich geweitet und sie ärgert sich, dass Connor das Thema überhaupt vor ihm angeschnitten hat. Sie blickt aus dem Fenster in die Dunkelheit, beinahe in Erwartung, dass dort eine irre Fratze auftaucht. Aber draußen herrscht vollkommene Dunkelheit. Die Straßenlaternen sind nicht installiert, daher sieht sie nur ihre eigene verschwommene Spiegelung. Lange nachdem Connor die Nachttischlampe ausgeschaltet und ihre Hüfte mit einem Arm umschlungen hat, liegt sie noch wach und horcht angespannt auf fremde Geräusche im Haus. Etwas wird passieren, sie fühlt es. Sie versucht ihre unregelmäßigen Atemzüge unter Kontrolle zu bringen. Einatmen, ausatmen. Der Sekundenzeiger des Weckers 43 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Life as it should be Sirka Elspaß knackt laut. Sie denkt an den Autounfall, stellt sich eine regennasse Straße vor, Glassplitter, die zwischen den deformierten, verkeilten Autos liegen. Schreie, Tränen und schweißbedeckte Gesichter, Menschen die sich fassungslos umschlungen halten. Das Zischen im Kopf ist wieder da, wird greller, sie wünscht sich, dass Michael davon aufwacht, möchte ihm am liebsten den Ellbogen in die Magengegend stoßen. Ihr eigener warmer Atem prallt vom Kissen ab, zurück in ihren Mund. Sie stellt sich vor, brutale Schreie von draußen zu hören, betrunkenes Gelächter. Stellt sich vor, wie eine der Schattengestalten einen Stein wirft, wie unten im Haus Möbel umgestoßen werden, Flaschen zersplittern. Die Fremden würden rauchen, die Glut würde auf den Alkohol treffen und ein Feuer verursachen, das die Meute verscheucht. Dann die Erleichterung, gemischt mit Verzweiflung, wenn sie, Michaels zittrigen Kinderkörper im Arm und kraftlos an Connor gelehnt, die tänzelnden Flammen beobachtet, die das Haus verschlingen. Ein prickelnder Schauer durchläuft ihren Körper, während sie den Bericht der Nacht für Freunde und Bekannte probt. Über das Jockey-Sein Radrennfahrer sind Jockeys, die strampeln. Wenn du Jockey werden willst, musst du schrumpfen. Du musst O-Beine kriegen. Du musst im Supermarkt übersehen werden. Vielleicht hast du eine Essstörung, weil du deine 54kg nicht überschreiten darfst, vielleicht hast du ein Kokain-Problem, aber das sind selbstverständlich Klischees. Du hast gelernt, den großen Menschen nicht einmal auf die Brusthaare zu schauen, du schaust einfach durch sie hindurch. Irgendwo in Asien hat jemand dein glänzendes Seiden-Trikot zusammengenäht, wenn du Pech hast, klebt dir ein pinker Stern auf dem Rücken, aber wenn du damit viel Geld gewinnst, kann dir das egal sein. Es ist dein verdammter Job. Du schwingst dich auf irgendein teures Pferd, das nie gelernt hat, einfach nur zu gehen, wie jedes andere Pferd auch. Eigentlich wirst du drauf geworfen, während das Pferd nicht still halten kann und du siehst von weitem aus wie ein Zehnjähriger. Alle Zehnjährigen, die dir zusehen, wollen plötzlich Jockey werden, bis sie 14 sind und längst nicht mehr deine Maße haben. Auf Mrs. Robinson wird eine Menge gewettet, weil das Publikum besondere Sympathien für den Namen entwickelt. Die, die Simon and Garfunkel nie leiden konnten, setzen lieber auf Iraklion, weil sie denken, es lohnt sich an der griechischen Mythologie festzuhalten. Wenn das kleine Mädchen ihren Vater fragt, ob es auch mal wetten 44 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Über das Jockey-Sein Sirka Elspaß darf, setzt der Vater natürlich auf Wirbelwind. Wirbelwind ist absolut kindgerecht, so heißen auch die Shettys auf dem Ponyhof. Jedes Pferd hat seine Zielgruppe. Du kannst dir das nicht aussuchen. Du bist Pferde geritten, vor deren Namen du dich nicht retten konntest. Wenn du reitest, sagen sie nicht deinen Namen, sondern den des Pferdes. Es gibt Pferde, die einfach Schwarzgelb heißen. Ein Pferd, das Nadelwald heißt, wird auch komisch angeguckt. Pferde mit Namen wie Betsy Princess, Pretty Highness oder Sugar Love fügen sich nahtlos ein in die Reihen von Chantals und Jeremy-Pascals dieser Welt. Und weil Frauen nicht kräftig genug peitschen können, wirst du auf das Pferd geworfen, du bist Mitte 40, du bist Jockey und für anderthalb Minuten bist du Sugar Love. Du trägst ein schlecht verarbeitetes Seiden-Trikot und am besten denkst du nicht daran, wie es wäre, wenn du jetzt runterfällst – genau an dem Punkt, an dem du die Mitte des wütenden Mobs erreicht hast, wenn dein Pferd sich nach vorne drängt und jemand auf der Tribüne sein Opernglas zückt. Trampelnde, stampfende Pferdehufe rasen an der Zuschauerbande vorbei und alle bekommen Dreck ins Gesicht und schaffen es nicht schnell genug, den Auslöser ihrer Kameras zu drücken. Ein verwackeltes Bild von zerstörtem Gras. Du weißt, wie die Erdbrocken hinter deinem Pferd in die Luft fliegen, immer, wenn ein Huf brutal vom Rasen abhebt. Hufe von Pferden, deren Muskeln sich anfühlen wie ein Tastspiel für Blinde. Du bist Teil eines Donnerns auf einem Volksfest für die gehobene Mittelklasse. Kein Rennrad kann dieses Donnern leisten. Kein Rennrad ist nach anderthalb Minuten so nah am Exitus, wie dein Rennpferd, das gerade 10 Kilo auf 1700m verloren hat. Radrennfahrer sind Jockeys, die strampeln. Schon dein Großvater hat gemeint, dass das höchst albern ist. 45 / 55 BOXEN . Elena Zay Ready? Babyface schlägt die Augen auf. Blassblau, helle Wimpern, die nur sichtbar sind, weil Schweiß drin hängt. Das Haar aschblond, die Milchhaut tropft und trieft. Muskeln in der Brust, im Arm. Am Rücken wachsen Pickel. Alles ist weiß im Hallenlicht – auch das andere knochige Gesicht, dessen Wangen sind ausgebrochen. Der Kopf ist beinah kahl. BEEF . BETEN . Die Blicke auf der Haut des Anderen. Schwarze Shorts und Brust sind Uniform. Die Hände Skarabäen in harter Schale. Des Mentors letzter Rat zieht Bahnen durch den Kopf: Sieh in die Augen, nicht auf Fäuste. Die eigenen groß und rund, die fremden eng beieinander, Pupillen schwarz und weit für Licht und Sicht. Darin steht wie Schrift die Angst vorm ersten Mal. Ihr Oktagon ist ausgeleuchtet, die Gitter sind aus Gummi. Auf beiden Seiten Ausstiege im Cage, der keiner ist. Gehen geht jetzt trotzdem nicht. Ready? Ready? Fight. Doch vor dem Kampf die Kreise. Männer, Jungen ziehen hektisch hüpfend über gelben Grund. Der Ref schwirrt stets umher. Mit Blick auf beide Leben. In die Augen, in die Augen. Die komm’ näher und die Lider weit nach oben. 46 / 55 BOXEN . Ready? Das Herz schlägt als erstes zu. Die draußen werfen Blicke in den Käfig, schmeißen Schreie durch die Maschen. Das Kommando stürmt ins Innere. Der gehört dir. Uppercut bricht durch die Deckung. Erste Rechte hart auf weißem Kinn – Blitz durch Haut und Knochen. Adrenalin in Kopf und Körper: Noch dann, als das Knie in die Hüfte kracht. . Noch dann, als er in fremden Armen zu Boden geht. Gegnerarsch auf seiner Lunge. Im Rhythmus setzen Fäuste auf. Jap. Jap. Jap. Anzüge draußen nicken im Takt. Baby keuchend, windend unterm Knochenkörper. Von oben schlägt’s weiter, als Bauch und Beine spannen. Bizeps, ein Bäumen, der Gegner rutscht vom roten Hals. Atmen. Auf die Knie. Atmen. . BETEN Eine Brust fällt auf die andere. Nochmal Boden. Babyface oben. Knöchel drescht auf Niere und Leber. Will Schmerzen in fremden Organen. Aus den Mündern pfeift es Ff. Ellenbogen. Brust. Finger landen auf Nasenbeinen. Knacken in Knochen. Haut platzt rot unter schwarzer Schale. Aber Ff. Ff. Ff. Elena Zay wie aus einer Brust. Blutbahnen verknoten. Im Körper steht’s still. Guillotine denkt er noch. Dann vorbei, das wissen beide. Hände zittern auf nasser Haut. Tap – Tap – T – nichts mehr drin im Babybody. Kein ap. Kein Jap. Kaum Leben. Über ihnen schwebt noch der Ref. Guckt und surrt und sieht nichts. Luft und Blut verknappen. Schwärze rückt vors gelbe Licht. Tief umschlungen stößt letzte Luft aus den Lungen. Stimmen dringen ins Dunkel ein: Runde eins vorüber. Körper fallen kraftlos auseinander und Luft hält Einzug in die Brust. Das Blut hat wieder freie Bahn. Erschöpftes Krallen an Käfigmaschen. Dahinter regt sich der Mentormund. Statt Worten aber rauscht Blut durch den Kopf. Blut und die Sehnsucht nach Ruhe. Ready? Nein. Ready? No. Fight. Solang sie stöhnen leben sie. BEEF Draußen tobt es: Mach ihn fertig. Drinnen klemmen sich Körper ein. Schweiß verschwimmt in roten Strömen. Erster Arm um Babys Face. Zweiter rutscht unter die Achsel. Wangen drücken aneinander. Atmen 47 / 55 Kontext BOXEN . Kontext 39 35 42 45 . 7 36 43 BETEN 40 46 . 37 BEEF 38 41 44 47 48 / 55 Kontext 58 51 55 48 . BOXEN . Kontext 59 BETEN 52 49 56 60 . 53 BEEF 50 54 57 61 49 / 55 Kontext Kevin Kuhn 62 . BOXEN . Nachwort 63 BETEN 66 64 . 67 BEEF 65 68 Ich kann den Blick nicht von seiner Nase lassen. Ein weißes Pflaster, einem Verband schon nah, klebt ihm mittig im Gesicht. Er steht hinter einem einfachen Schreibtisch, ein altes Faxgerät, Din-A-Zettel mit Namen, Zahlen, einen eigentümlichen Computer hat er vor sich. Seine Haare sind graumeliert, ein feines Sakko über einer roten Bundhose, eine Krawattenspange als dezentes Accessoire. An ihm kommt keiner vorbei. Es ist ein enger Raum, eher einem Durchgang gleich. An den Wänden hängen illustre Vollblüter, lächelt ein Jockey mit Renngerte im Halbprofil. Die Haare hat sie windschnittig nach hinten gebunden, ihr Dress wirkt wie die umfunktionierte Fahne eines utopischen Inselstaats. Um sich Jockey nennen zu dürfen, braucht der Rennreiter mindestens 50 Siege. Es gibt keine weibliche Form. In der Tiefe des Raums öffnet sich eine Tür, huschen die Jockeys hinaus und setzen sich auf einen einfachen Plastikstuhl. Sie werden gewogen, sie flachsen mit dem Herrn, der immer noch steht und abwechselnd auf seine Listen, auf die Reiter schaut. Codes werden durch den Raum geworfen und auf einer Tafel eingetragen. Ein geschäftiges Treiben, der Jockey steht auf – er ist nicht größer als ein Schuljunge –, ein weiterer wartet bereits ungeduldig mit Rennsattel, Satteldecke und die Ausgleichsgewichte in der Hand. Wir verstehen die Codes nicht, aber wir notieren. Wir stehen als Pulk inmitten dieses Durchgangs, gerade noch können sie sich an uns vorbei nach draußen 50 / 55 . BOXEN . BETEN . BEEF Nachwort Kevin Kuhn zwängen. Wir bewundern ihren Tunnelblick, an dessen Rändern wir klanglos untergehen. Wir sind unsichtbar, wir sind – unsichtbare Turffans. Zumindest strengen wir uns an, welche zu sein. Manchmal schwingt die Tür nach draußen auf, dringt die Stimme des Stadionsprechers der Neuen Bult zu uns hinein. Das Saisonfinale steht kurz bevor – der Renntag der Gestüte. Ein Vibrieren, das sich von der Herzkammer dieses Sports, dem Raum, in dem wir uns befinden, auf die Rennbahn überträgt. Top-Gallopper werden angekündigt, aus deutschen Landen gefährlich, heißt es, Lady Liberty, die in einem prestigeträchtigen Europagruppen-III-Listenrennen für 3-jährige und ältere Stuten (55.000 Euro, 2200 Meter) antritt. 10 weitere Rennen, ein Ausgleich I, sagen sie, ein kurzfristig aus Baden-Baden übernommener Ausgleich II. Und immer wieder hören wir den Namen eines Jockeys, und wir notieren ihn brav in unsere Bücher, denn wir wollen ja auch wetten, und wir fragen uns, ob er es gerade ist, der da mit angespannten Schultern, tippelnden Schritten, auf dem Stuhl herumrutscht – Adrie de Vries. In der Medizin, Zoologie oder Botanik betrachtet die Anatomie Gestalt, Lage und Struktur von Körperteilen, Organen, Gewebe oder Zellen. Basierend auf dem Seminar »Die Anatomie des Lebens. Recherchieren. Sezieren. Hinausgehen.«, das im Wintersemester 2014/2015 an der Universität Hildesheim stattfand, führten uns Exkursionen zu eben jenen Herzkammern, von denen Impulse für einen ganzen Organismus ausgehen. Wir recherchierten zu Milieus, deren Idiom und Eigentümlichkeiten. Als läge das zu Erkundende wie ein Körper vor uns, versuchten wir den inneren Aufbau nachzuzeichnen, die einzelnen Organe zu lokalisieren, Verbindungen herzustellen. Wir forschten zu klösterlichem Leben, zu Wettquoten, zur Pankration als Vorläufer des heutigen populären MMA-Kampfes. Wir sahen Autos am Fließband, wir sahen Schweine am Fließband in wackeligen Video-Aufnahmen. Wir gingen zu den Orten und nahmen hautnah daran Teil. Wir boxten nicht mit, aber wir jubelten, als Treffer landeten. Oder wir wendeten uns ab, wenn wir selbst getroffen waren. BEEF. BETEN. BOXEN. sammelt Texte aus diesen Seminar- und Einzelexkursionen, am eindrücklichsten aber aus den persönlichen Erfahrungen der Autoren-/innen. Erfahrungen, die wiederum in Textform überführt und fiktionalisiert wurden. Mal sind sie nah, aus der Perspektive der Beteiligten, mal schweben sie kühl darüber. Mal sind die Orte nur Kulisse anderer Konflikte, mal scheint der Ort selbst zu sprechen. Mal sind sie noch vor Ort skizziert, mal unterliegen sie einer ausgeklügelten Dramaturgie. Was sie eint, ist eine szenenhafte Nähe; Szenen aus Teilbereichen des Lebens, die unserem Alltags-Tunnelblick entgehen. Wir sitzen an unseren Tischen der Zuschauertribüne und haben einen prächtigen Blick über die weite Rennbahn. Zerknüllte Wettscheine um uns herum, die gewonnenen haben wir gleich eingelöst. Unser Adrie de Vries hat doch glatt auf dem Victorious den Sieg davon getragen. Manche von uns haben verloren, weil sie sich Wirbelwind oder Suger Love notiert hatten. Namen, die sich immerhin gut in Anthologien machen. 51 / 55 . Autorinnen und Autoren Autorinnen und Autoren Livia Anne Hott, geboren 1991 in Saarbrücken, Milan Lugerth, geboren 1990, studiert seit lebt in Brighton und studierte in Hildesheim 2013 in Hildesheim Kreatives Schreiben und »Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus«. Kulturjournalismus. U.a. eingeladen zum Treffen Junger Autoren * BOXEN Berlin 2010 und Teilnahme an der Jürgen-Ponto-Werkstatt 2013; seit Sommer 2014 Mither- Olivia Kuderewski, 1989 geboren, in einer ausgeberin der BELLAtriste. Ihr erster Roman bayerischen Traumblase aufgewachsen, die in erscheint im Herbst 2015. Hildesheim geplatzt ist. Arbeitet gern dort, wo andere trinken und studiert Literarisches * Schreiben. Sophie Johanna Steinbeck, geboren 1994 in Rup- . perswil, aufgewachsen in Zürich, ausgezogen * nach Hildesheim, weil sie sich die Miete nicht Mareike Köhler, geboren in Berlin 1994, Kind mehr leisten konnte. gewesen auf stinkenden Großstadt-Spielplätzen, aufgewachsen im Thüringer Wald, Frischluft ge- BETEN * atmet auf Baumwipfeln, gegraben durch Bücher- Hyun-Kyung Yi ist 1989 in Hamburg geboren und berge, Kultur lieben gelernt auf der Wartburg, studiert seit dem Wintersemester 2014/2015 Provinzstädte lieben gelernt in der Stamm-Eck- Literarisches Schreiben an der Universität kneipe, erwachsen geworden in Ostfriesland, Hildesheim. mitgemacht auf Festivals, studiert Kulturwissenschaften im 2. Semester in Hildesheim. * * . Tim Schauenberg, 1988 geboren und in Münster aufgewachsen, arbeitet als freier Journalist Paula Hauch, geboren 1994, Wohnort: Hildes- für Print und Hörfunk, studierte in Köln, Me- heim, Beruf: Student, Familienstand: Hamster. xiko und nun den Master Literarisches Schrei- Preise: Vorlesewettbewerb 3. Klasse, Luftbal- ben in Hildesheim. lonwettbewerb 4. Klasse, Wallertheimer Wein- BEEF bergcross 2004. 52 / 55 BOXEN . Autorinnen und Autoren Autorinnen und Autoren Rachel Bleiber hat noch keine Bestseller ver- Sirka ElspaSS, geboren 1995 in Oberhausen. kauft, dafür aber mal in der Schule einen Studiert derzeit Kreatives Schreiben und Kul- Vorlesewettbewerb gewonnen. Das ist lange her. turjournalismus in Hildesheim. Mitherausgebe- Heute träumt sie von einem Leben in Hamburg rin der BELLA triste seit Dezember 2014. und von friedlichen Demos in ganz Deutschland. www.fred-erika.de * * Max Schäffer, gebürtiger Ulmer und rastlos Ge- Elena Zay, geboren 1987, schreibt journalis- triebener, Bademeister unter den Nichtschwim- tisch und literarisch. mern, professioneller Dilettant und Hüter des gefährlichsten Halbwissens. Glaubt an die Existenz des einen Satzes, der die Welt zusam- . menfassen kann und hofft, ihn durch Geschichten auszustanzen. So lange weitermalen, bis das Bild voll ist, dann: Markieren, Rechtsklick, Auswahl umkehren * BETEN Imke Bachmann, geboren 1992 in Bückeburg. Wohnt in Braunschweig. Davor in Hildesheim. Davor in Rudolstadt. Davor in Heeßen. Hinterließ dort überall theaterpädagogische und kulturjournalistische Spuren.Studiert derzeit Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis mit den Fächerschwerpunkten Literatur und The- . ater in Hildesheim. Sieht auf Selfies immer gut aus. * BEEF Gesche Herkert, geboren 1992. 53 / 55 . BOXEN . Quellen 11 canine-takeover Napolean_70 CC BY-NC 2.0 2 Frankfurt am Main – Anti-Fragida/Pegida protest Picturepest CC BY 2.0 12 Saida Zeinab interior cut mirror mosaic walls with woman praying carimachet CC BY-NC-SA 2.0 22 Pub in Berlin-Neukölln martin CC BY-ND 2.0 3 Schlacht- und Viehhof Chemnitz Uwe Kaufmann CC BY 2.0 13 german tradition Daniel Bammert CC BY-NC-SA 2.0 23 Moschee qiv CC BY-SA 2.0 4 RJN0000BP0023 School of Veterinary Medicine and Science University of Nottingham, UK CC BY-NC-SA 2.0 14 Beim Training solonaut CC BY-NC-SA 2.0 24 VOLKSWAGEN_Kombi_factory-11x MATEUS27_24&25 CC BY-NC-SA 2.0 15 Daddy come back home York Berlin CC BY-ND 2.0 25 Pizza Delivery PINKÉ CC BY-NC 2.0 16 Sultan-Moschee: Frau mit Katze mmatting CC BY-NC-SA 2.0 26 OKAL Musterhaus Mannheim OKAL Haus GmbH CC BY 2.0 17 Sam in der Hundeschule Günter Hentschel CC BY-ND 2.0 27 Islamischen Gebetskalender für Halle (Saale) gynti_46 CC BY-ND 2.0 5 Döner Sascha Kohlmann CC BY-SA 2.0 BETEN 7 VOLKSWAGEN_Kombi_factory-10x MATEUS27_24&25 CC BY-NC-SA 2.0 . 8 Library for Muslim women Michał Huniewicz CC BY 2.0 9 Catholic nuns praying by candlelight Meg Hunter-Kilmer CC BY-NC-SA 2.0 10 Volkswagen Transparent Factory – Dresden, Germany Dave Pinter CC BY-NC-ND 2.0 18 Pferderennen Neue Bult Martin Knaack CC BY-NC-SA 2.0 19 Pegida Frankfurt opposition24.de CC BY-ND 2.0 20 Volkswagen Transparent Factory – Dresden, Germany Dave Pinter CC BY-NC-ND 2.0 31 © Marie-Lan Nguyen Wikimedia Commons 21 Sides of beef at the McLean County Locker in Calhoun, Kentucky Nate Gray CC BY-NC-SA 2.0 1 Neue Bult Langenhagen Michael Radtke CC BY-ND 2.0 6 DSC_0798 Paul Miles CC BY-NC 2.0 BEEF Quellen 32 A Nun During the Christmas Vigil Prayer Government Press Office CC BY-NC-SA 2.0 33 Blue Mosque, inside Camil Tulcan CC BY-NC-SA 2.0 34 Arnold Amateur Mixed Martial Arts (MMA) Competition fightlaunch CC BY 2.0 35 Cloudy with a Chance of Dirt John Lloyd CC BY 2.0 36 MMA Fighter MartialArtsNomad.com CC BY 2.0 37 Städtischer Schlachthof gato-gato-gato CC BY-NC-ND 2.0 38 Volkswagen Phaeton Factory Dresden Adam Singer CC BY-ND 2.0 28 It wasn’t his day Carsten Senkfeil CC BY-NC-SA 2.0 39 Porkcamp 2011 lietz.photography CC BY-NC-ND 2.0 29 – txmx 2 CC BY-NC-ND 2.0 30 RJN0000BP0021 School of Veterinary Medicine and Science University of Nottingham, UK CC BY-NC-SA 2.0 40 06/03/2015 Week 8 Group B Match Morocco Atlas Lions vs Cuba Domadores WorldSeriesBoxing CC BY-ND 2.0 54 / 55 . Quellen 41 © Kloster Marienrode 42 © Hyun-Kyung Yi BOXEN 43 Pferderennen Neue Bult Martin Knaack CC BY-NC-SA 2.0 44 wackeldackel [ I film] CC BY-NC-SA 2.0 . 45 © Elena Zay 46 Edgbaston 2005 – Eng v Aus – Day 3 – Girl in the Crowd – For Boxing Day 2010 Gareth Williams CC BY 2.0 BETEN 47 Games! Beth Rankin CC BY 2.0 48 Carmelite nun praying in her cell-1904 ADiamondFellFromTheSky CC BY-NC 2.0 49 Pferderennen Neue Bult Martin Knaack CC BY-NC-SA 2.0 . 50 Frankfurt am Main – Pub – “Let you get served some of the finest ...” Picturepest CC BY 2.0 BEEF 51 Lyle Hennebelle with home model nouveaustar CC BY-NC-ND 2.0 52 IMG_4740 Dirk Wiemer CC BY-NC-SA 2.0 53 Gebetsraum im Islamischen Kulturzentrum von Halle (Saale) gynti_46 CC BY-ND 2.0 54 © Elena Zay 55 Wolfsburg – Inside the Volkswagen Plant Roger CC BY-SA 2.0 56 © Marie-Lan Nguyen / Wikimedia Commons 57 Pferderennen Neue Bult Martin Knaack CC BY-NC-SA 2.0 Quellen 63 Islamische Gebetszeiten für Halle (Saale) [2014-10-03] gynti_46 CC BY-ND 2.0 64 Frankfurt am Main – Anti-Fragida/Pegida protest Picturepest CC BY 2.0 65 VW Werk Daniel Zimmermann CC BY-NC-ND 2.0 66 © Kloster Marienrode 67 Inspektion Schlachterei der Produktion Hamburg Hamm 1916 von Johann Hamann 68 Ursprüngliches Madeira 9.Tag enbodenumer CC BY-NC-SA 2.0 58 Egyptian Prayer daniel marques CC BY-NC-SA 2.0 59 Combat Sport Medics at AMA 7 MartialArtsNomad.com CC BY 2.0 60 Döner Hans-Jörg Aleff CC BY-NC-SA 2.0 61 Columbiadamm, Berlin-Neukölln onnola CC BY-SA 2.0 62 © Kloster Marienrode 55 / 55