Thomas Mann und die Musik

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Thomas Mann und die Musik
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Volker Mertens
Groß ist das Geheimnis
Thomas Mann
und die Musik
Militzke
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Der Abdruck der Zitate von Thomas Mann erfolgt mit freundlicher
Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M.
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Lektorat: Siegfried Kätzel
Bildlektorat und CD: Lars Pietzschmann
Umschlaggestaltung: Ralf Thielicke
unter Verwendung eines Fotos von Keystone
Satz und Gestaltung: Ralf Thielicke
Gesetzt aus der Agfa Rotis Serif
Printed in Germany
ISBN: 978-3-86189-747-7
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Inhalt
Vorwort
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1
Eine lebenslange Liebe
10
2
Bei Buddenbrooks
17
3
Thomas Mann in der Oper
25
4
Musik als dichterisches Bild und als Gefahr
33
5
Mann und Wagner im Sanatorium: »Tristan«
43
6
Wagners wirkmächtiges Werk
50
7
Ein musikalischer Bruderzwist im Hause Mann
58
8
»Sympathie mit dem Tode«
70
Thomas Mann und Pfitzner
9
»Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum«
79
Nietzsche und Thomas Mann
10 »Fülle des Wohllauts«
87
Musik auf dem Zauberberg
11 »Seelenzauber«
99
Musik als deutsche Kunst
12 »Wie ist mir wohl, das ich ein Deutscher bin«?
112
Thomas Mann und die italienische Musik
13 Das leichtere, genußreiche Musizieren:
119
der Freund Bruno Walter
14 Zwei fremde Sonntagskinder
Thomas Mann und Richard Strauss
128
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15 »Das kam zu mir!«
139
Thomas Mann und die Schallplatte
16 Leiden und Größe Richard Wagners
149
17 Der Richard-Wagner-Protest der Stadt München
155
18 Thomas Mann und die Musikalische Moderne
164
19 Ein deutscher Musiker
171
»Doktor Faustus«
20 Der »Wirkliche Geheime Rat«
181
Thomas Mann und Adorno
21 »Es ist viel Hitler in Wagner«
195
22 Einfluß auf mein eigenes Bilden und Bauen:
212
Thomas Manns musikalische Erzählkunst
23 Doktor Faustus – ein deutsches, ein musikalisches Thema
225
24 Thomas Manns Wunschkonzert
234
25 Wenn Thomas Mann Komponist geworden wäre ...
243
Epilog
Ein Wunschkonzert für Thomas Mann
249
Anhang
259
259
269
269
271
Anmerkungen
Quellen
Literatur
Musikstücke auf der CD
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Vorwort
Das Zusammenfallen des 130. Geburtstags und des 50. Todestags von Thomas Mann im Jahre 2005 war der Anlaß für eine Sendereihe im Kulturradio
des Rundfunks Berlin Brandenburg und des Mitteldeutschen Rundfunks. Die
gute Resonanz der 26 Folgen regte das vorliegende Buch an.
Wenn er nicht Dichter geworden wäre, hätte er Musiker sein mögen, hat
Thomas Mann einmal gesagt. In der Weltliteratur ist er der Autor, der wohl
die engste Beziehung zur Nachbarkunst gehabt hat. So entsteht ein Lebensund Schaffensbild Thomas Manns aus einer besonderen Perspektive, das
zugleich ein Panorama der Musikpflege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist.
Musik begleitet Manns Leben und Schaffen, er hat über Musik geschrieben, Musikbeschreibungen an Schlüsselstellen seiner Werke plaziert und sie
selbst nach musikalischen Prinzipien gebaut: Leitmotive verwendet wie
Richard Wagner, Montageprinzipien benutzt wie Igor Strawinsky und die
Reihentechnik wie Arnold Schönberg. Er war in Lübeck und München ein
begeisterter Opernbesucher, hat lange keine Tristan-Vorstellung versäumt,
aber auch Puccini und Verdi gehört. Wagner, dessen ›Lohengrin‹ sein erstes
großes Opernerlebnis war, hat ihn sein Leben lang fasziniert, doch auch
irritiert; vor allem seiner politischen Wirkungen wegen hatte er später ein
durchaus ambivalentes Verhältnis zu seinem Werk. Schließlich war sein
großer Wagner-Essay Anlaß für den »Protest der Richard-Wagner-Stadt
München«, der ihn letztlich aus Deutschland ins Schweizer und dann ins
amerikanische Exil getrieben hat. Er hat eine Zeitlang Hans Pfitzner
bewundert, mit Arnold Schönberg und Igor Strawinsky verkehrt und sich
von Theodor W. Adorno in musikalischen Fragen beraten lassen. Als junger
Mann war er ein guter Geiger, der sich an Sonaten von Edward Grieg und
Richard Strauss wagen konnte. Später hat er das Violinspiel aufgegeben
und wurde zum begeisterten Schallplattenhörer, er besaß eine große Sammlung, von der heute noch ein bedeutender Teil erhalten ist, so daß man
seine musikalischen und interpretatorischen Vorlieben erschließen kann.
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Die Kapitel sind so konzipiert, daß man sie einzeln lesen kann, daher
habe ich kürzere Zitatwiederholungen nicht gescheut. Um einen plastischen
Eindruck von Manns dichtender Beschäftigung mit Musik zu geben, kommt
er selbst in einigem Umfang zu Wort.
Dem Buch liegt eine CD bei, die auf Aufnahmen zurückgreift, die Thomas Mann nachweislich besessen und gehört hat, auf sie wird mit Angabe
der Nummer des Tracks im Text verwiesen. Auf diese Weise bekommt der
Leser einen guten Eindruck, nicht nur von Manns musikalischer Welt, sondern auch von der Eindringlichkeit der Musikbeschreibungen in seinen
Werken.
Im Januar 2006
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1
Eine lebenslange Liebe
Kein Autor von Weltrang hat die Musik so ins Zentrum seines Lebens und
Schaffens gestellt wie Thomas Mann, nicht E.T.A. Hoffmann, der selbst
Musiker war, nicht Hugo von Hofmannsthal, der für Richard Strauss die
Textbücher geschrieben hat. Thomas Mann konnte sich vorstellen, in einem
anderen Leben Dirigent geworden zu sein, sogar Komponist, so wie Goethe
oder Adalbert Stifter Maler geworden wären. Er hat gesagt:
»Groß ist das Geheimnis der Musik – sie ist ohne Zweifel die tiefsinnigste, philosophisch alarmierendste, durch ihre sinnlich-übersinnliche Natur,
durch die erstaunliche Verbindung, die Strenge und Traum, Sittlichkeit und
Zauber, Vernunft und Gefühl, Tag und Nacht in ihr eingehen die faszinierendeste Erscheinung der Kultur und Humanität. Von jung auf habe ich
dem Rätsel ihres Wesens nachgehangen, sie belauscht, sie zu ergründen
gesucht, bin als Schriftsteller ihren Spuren gefolgt, habe unwillkürlich ihrer
Wirkungsart Einfluß auf mein eigenes Bilden und Bauen gewährt.«1
In seinem Werk finden wir Musikbeschreibungen in reicher Form: Sie
charakterisieren die Figuren, sie bilden Sinnzentren. Mann hat mit dem
›Doktor Faustus‹ einen Musikerroman geschrieben, in dem die Musik nicht
nur das Ausdrucksmittel des Helden ist, nicht nur Stationen seines Lebens
charakterisiert, sondern Symbol der Weltgeschichte wird.
Der große Romancier hat musikalische Strukturen für sein Erzählen
benutzt. Der Autor Richard Schaukal schreibt schon früh über ihn:
»Thomas Mann ist eminent musikalisch. Man kann das nicht bloß aus
gelegentlichen delikaten Aeußerungen über Werke der Tonkunst an den bis
zur zitternden Sensibilität gesteigerten Musikergestalten, die er geschaffen,
man kann das noch überzeugender aus der durchaus rhythmischen Art
seiner gleichsam schwingenden Prosa erkennen. Sein Stil, ein gemeißelter,
bewußt erworbener Stil ist der Stil eines allmächtigen, durchaus taktfesten – Dirigenten. Er hat Gehalt, Selbstgewicht. Bei aller Reserve ist dieser Stil artistisch im Sinne der wirkungssicheren Nüancierung. Eine beson-
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dere Eigentümlichkeit sind die Leitmotive, wiederkehrende, der Erinnerung
behilfliche, der Verdeutlichung wirksame, festverbundene Charakteristika.«2
Thomas Mann verwendet von Anfang an sprachliche Leitmotive, ähnlich wie Richard Wagner musikalische. Seinen ›Josephsroman‹ baut er als
Großform sogar analog zur Ring-Tetralogie Wagners. Die Schönbergsche
Reihentechnik wird im ›Doktor Faustus‹ nicht nur beschrieben, sondern als
Strukturprinzip eingesetzt, Montagetechniken benutzt der Autor ähnlich
wie Igor Strawinsky oder der späte Richard Strauss. Ohne seine Liebe zur
Musik und seine Kenntnis musikalischer Werke und Techniken wäre sein
erzählerisches Werk weder vom Inhalt noch von der Erzählform her vorstellbar. »Was mich betrifft, muß ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen«, hat er gesagt. »Der Roman war mir immer eine Symphonie,
ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rolle
musikalischer Motive spielen«.3
Thomas Mann hat allerdings als ausübender Musiker nie den Stand eines
gebildeten Dilettanten hinter sich gelassen. Seine kompositionstechnischen
Kenntnisse gingen ebenfalls nicht über das Niveau eines verständigen Liebhabers hinaus, jedoch eines Liebhabers im wahren Sinn des Wortes. Mann
hat der Musik Möglichkeiten abgewonnen wie kein anderer Erzähler vor
und nach ihm. Er war ein unersättlicher aktiver Musikhörer, in der Oper, im
Konzert, von der Schallplatte, aus dem Radio. Darüber geben seine Tagebücher Auskunft. Die Musik war seine lebenslange Liebe.
Sie begann in seiner Jugend. Dem Vater, Inhaber einer Getreidehandlung und Senator der Hansestadt Lübeck, war die Musik gleichgültig, die
Mutter aber war hochmusikalisch: Julia da Silva-Bruhns, die schönste Frau
Lübecks. Sie war von deutsch-brasilianischen Eltern in Brasilien zur Welt
gekommen, sie spielte sehr gut Klavier und sang dazu. Ihre Liebe zur
Musik hat sie dem Sohn mitgegeben. Für ihn verband sich daher die Musik
immer mit der Sphäre des Weiblichen. Die Erinnerung an seine Kindheit ist
vom Liedgesang der Mutter durchklungen. Seine Liebe zur Vokalmusik,
»zur glorreichen Kultur des deutschen Kunstlieds«, wie er sagt, hat hier ihre
Wurzeln.
Eine Stimme wie eine Glocke habe Julia Mann gehabt, sagte man, ihr
Sohn spricht von ihrer »kleinen, aber überaus angenehmen und lieblichen
Stimme«. Sie begleitete sich selbst am Klavier, besonders gern habe sie
Lieder von Mozart, Schubert, Brahms und von Schumann gesungen, heißt
es. Thomas muß nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die Worte
genau gelauscht haben, denn viele Gedichte kannte er zuerst aus den Vertonungen.
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Auch auf dem Klavier bevorzugte Julia Mann die Romantiker, Chopin
war einer ihrer Lieblingskomponisten. Im erzählerischen Frühwerk ihres
Sohnes kommen immer wieder chopinspielende Frauen vor, so in seiner
Novelle ›Tristan‹, wo Detlev Spinell die lungenkranke Gabriele Klöterjahn
zum Klavierspielen verführt: zuerst spielt sie das Nocturne op. 9 Nr. 2 in Esdur, dann den Klavierauszug von Richard Wagners ›Tristan‹.
Ein Musikinstrument zu lernen, gehörte zum Bildungsprogramm der
Lübecker Honoratioren. Also bekam Thomas Geigenstunden. Er muß recht
begabt gewesen sein, denn er spielte nach den Sonatinen von Schubert bald
die Sonaten von Robert Schumann, sogar an eine technisch so anspruchsvolle Novität wie die Violinsonate von Richard Strauss will er sich gewagt
haben. Freunde sprechen davon, daß er vorzüglich geigte. Das eigene Üben
empfand er als »ernste Arbeit«. Es hat ihm die eine Dimension der Musik
vermittelt: die Disziplin. Von der zweiten, dem Rauschhaften, soll noch später die Rede sein.
Einmal füllte er einen Fragebogen im Gästebuch von Ilse Martens, der
Schwester seines Jugendfreundes Armin, aus. Unter den Lieblingskomponisten nach Wagner und vor Grieg nannte er Richard Strauss, den damals
noch umstrittenen, vielfach beargwöhnten und abgelehnten Neutöner.
Bis zu seinem 40. Lebensjahr hat er zur Geige gegriffen, mit Münchner
Freunden Kammermusik gemacht. Lange hat er auch noch mit der Mutter
gespielt, die ihn in seinen Jugendtagen begleitet hatte – so bei der Frühlingssonate von Ludwig van Beethoven. »Bei dem Adagio sang die Geige
wie ein Engel«, heißt es in Erinnerung daran in ›Buddenbrooks‹.
Sein Geigenspiel hat Thomas Mann verschiedenen Personen seiner
Romane und Erzählungen mitgegeben: Gerda Buddenbrook, Johannes Friedemann aus der Erzählung ›Der kleine Herr Friedemann‹, Tonio Kröger und
vor allem Rudi Schwerdtfeger im ›Doktor Faustus‹. Sein jugendlicher Hochstapler Felix Krull allerdings tut nur so: bei einem Kurkonzert spielt er auf
einer billigen Violine mit einem sorgfältig mit Vaseline bestrichenen Bogen,
er imitiert das Gehabe eines virtuosen Wunderkindes auf perfekte Weise.
»Die schwingende Bewegung der linken Hand zur Erzeugung eines seelenvollen Tones, das weiche Hinauf- und Hinabgleiten aus einer Grifflage
in die andere, die Fingergeläufigkeit bei virtuosenhaften Passagen und
Kadenzen, das schlanke und geschmeidige Durchbiegen des rechten Handgelenkes bei der Bogenführung, die versunkene und lauschend gestaltende
Miene bei hingeschmiegter Wange – dies alles wiederzugeben gelang mir
mit einer Vollkommenheit, die besonders meinem Vater den heitersten Beifall abnötigte.«4
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Wegen des bestrichenen Bogens hört man natürlich keinen Ton, aber der
Erfolg ist vollkommen. Er erzählt:
»Als ich mit einem vollen und energischen Bogenstrich über alle Saiten geendigt hatte, erfüllte das Geprassel des Beifalls, untermischt mit
hohen und tiefen Bravorufen, die Kuranlagen. Man hebt mich, nachdem
der kleine Kapellmeister meine Geige nebst Bogen in Sicherheit gebracht,
zur ebenen Erde nieder. Man überhäuft mich mit Lobsprüchen, mit
Schmeichelnamen, mit Liebkosungen. Aristokratische Damen und Herren
umdrängen mich, streicheln mir Haare, Wangen und Hände, nennen mich
Teufelsbub und Engelskind.«5
Von der Schule hatte Tommy, wie man ihn überall nannte, wenig Anregung zu erwarten. Das Lübecker Katharineum galt unter den bekannten
Gymnasien als eines der schlechtesten in Deutschland. Der junge Thomas
Mann war allerdings schwer zu beschulen, wie man heute sagt. Vielleicht
erging es ihm so wie seinem »Verfallsprinzen« Hanno Buddenbrook, der im
Unterricht versagt, weil er am Vorabend Wagners ›Lohengrin‹ besucht hatte.
Der Lohengrin, insonderheit das Vorspiel, blieb eines der Lieblingsstücke
Thomas Manns. Seine Mutter hatte ihm die Liebe zur Musik Richard Wagners vermittelt, sie begleitete ihn ein Leben lang. Er hat sie bewundert,
geliebt wie keine andere, kritisiert, abgelehnt, aber nie aufgehört, sie nahe
bei sich zu tragen. Vor allem faszinierte ihn der ›Tristan‹: Das war die Musik
des Rausches, der Entrückung, der »Sympathie mit dem Tode«, oder, wie
Friedrich Nietzsche sagt: »Mir behagt an Wagner … die ethische Luft, der
faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft«. Wenn Thomas Manns literarische
Figuren der Musik verfallen, sagen sie sich vom Leben los wie Hanno Buddenbrook oder Gabriele Klöterjahn in der ›Tristan‹-Novelle.
Daß der ›Lohengrin‹ seine und seines Lieblingshelden Hanno Buddenbrook erste Wagneroper war, ist typisch: es war die meistgespielte. Jedes
Stadttheater hatte sie auf dem Programm. Thomas Mann erinnerte sich
immer an die Zeit in Lübeck, als er diese romantische Oper zum ersten Mal
hörte. (• CD, tr. 1–3)
»Es war damals, daß mir zuerst die Kunst Richard Wagners entgegentrat,
diese moderne Kunst, die man erlebt, erkannt haben muß, wenn man von
unserer Zeit irgend etwas verstehen will. Und dieses ungeheure und fragwürdige Werk, das zu erleben und zu erkennen ich nicht satt werde, dieser
kluge und sinnige, sehnsüchtige und abgefeimte Zauber, diese fixierte theatralische Improvisation, die außerhalb des Theaters nicht vorhanden ist – sie
ist es in der Tat, und sie allein, die mich auf Lebenszeit dem Theater verbindet. Daß man die dramatischen Dichter, Schiller, Goethe, Kleist, Grillparzer,
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daß man Henrik Ibsen und unsere Hauptmann, Wedekind, Hofmannsthal
nicht ebensogut lesen als aufgeführt sehen könne, daß man in der Regel
nicht besser tue, sie zu lesen, wird niemand mich überzeugen. Aber Wagner
ist nur im Theater zu finden, ist ohne Theater nicht denkbar.«6
Als Thomas Mann 16 Jahre alt war, starb sein Vater. Er hatte seiner Frau
die Fortführung der Firma ebensowenig zugetraut wie seinem ältesten Sohn
Heinrich, die Getreidehandlung wurde daher liquidiert, Thomas erhielt aus
dem Vermögen eine monatliche Rente von umgerechnet etwa 1 500 Euro.
So konnte er unabhängig leben und war dem verhaßten Zwang zum Geldverdienen entkommen. Denn in dem erwähnten Fragebogen hatte er als
seine Idee vom Unglück genannt: »Mittellos und daher abhängig zu sein.«
Mit noch nicht ganz 20 Jahren zog er nach München, zunächst zur
Mutter, dann nahm er verschiedene Wohnungen in ihrer Nähe, sorgte stets
dafür, daß ein Klavier dort stand. Er lebte das Leben eines vernünftigen
Bohemiens. Er verbrachte viel Zeit in Italien, arbeitete an seinem Familienund Gesellschaftsroman ›Buddenbrooks‹, in dem die Musik eine Schlüsselrolle spielt.
In München erweiterte sich Thomas Manns musikalischer Gesichtskreis
erheblich. Während der Fertigstellung seines Romans begann die Bekanntschaft mit den Brüdern Paul und Carl Ehrenberg. Carl war Pianist, Paul, der
Maler, ein begabter Geiger. Zu ihm entwickelte sich eine erotisch gefärbte
Freundschaft. Paul wird noch in der Gestalt des Violinisten Rudi Schwerdtfeger im ›Doktor Faustus‹ gespiegelt. Man traf sich oft bei Julia Mann. Carl
Ehrenberg schreibt über seinen Freund Thomas:
»Oft kam er zum Plaudern oder um mich zu einem kleinen Bummel abzuholen zu mir auf meine ›Bude‹, wo er mich vor lauter Tabakqualm bisweilen nicht gleich sehen konnte, sonst aber trafen wir uns bei seiner Mutter.
Dort begann der Abend meist mit Musik, dann lasen wir, d. h. ›Tommy‹ las
aus Tolstoi, Knut Hamsun oder aus eigenen Werken vor, hierauf gabs wieder Musik und so fort bis spät in die Nacht, und wenn unsre Ausdauer auch
nicht zu bewundern war, so doch die Langmut der übrigen Hausbewohner,
welche diese Musikorgien geduldig sich gefallen ließen. Es wurden Klaviertrios und Geigensonaten von Haydn, Beethoven, Schubert, Grieg, Brahms
und R. Strauss gespielt.«
Bei den Trios hat vermutlich Julia Mann Klavier, Carl Ehrenberg Cello
und Paul Violine gespielt, vielleicht übernahm auch Thomas gelegentlich
den Geigenpart.
Als der Kontakt mit dem Geiger Paul Ehrenberg nach dem Weggang seines Bruders Carl zum Stadttheater Posen und Manns Heirat im Jahre 1905
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lockerer wurde, gewann er mit dem Nietzscheforscher Ernst Bertram einen
neuen Duopartner. Mit ihm musizierte er aus dem vertrauten Repertoire.
Im Jahre 1903 hatte Thomas Mann Katharina Pringsheim kennengelernt
und sich entschlossen, um sie zu werben. Er kommt damit in ein großbürgerlich-musikalisches Ambiente. Sie erzählt, daß sie schon mit elf Jahren in
den ›Meistersingern‹ war und alle dachten: »Ach, da wird das Kind ja einschlafen.« Dabei sei sie ganz betrübt gewesen, als die Oper vorbei war. Mit
Wagners Musik war sie aufgewachsen, mit der Idee, daß sie das Herrlichste
überhaupt sei. Aber wirklich viel gemacht aus Musik hat sich Manns Auserwählte nicht. In der Villa in der Arcisstraße 12, im Familienjargon ›Arcissi‹
genannt, gab es jeden Sonntag Hausmusik. Alfred Pringsheim, Manns späterer Schwiegervater, war nicht nur ein großer Wagnerverehrer, sondern
auch ein vorzüglicher Pianist, so erklang oft Wagner auf den zwei Flügeln
des Salons.
»Nach Tische Wagner. Champagner«, vermeldet Thomas Mann in seinem
Notizbuch. Die Kombination scheint ihm ausnehmend wohl gefallen zu haben,
denn für Luxus hatte er etwas übrig. Im Pringsheimschen Salon verkehrte
die Künstlerprominenz Münchens, die Komponisten Max von Schillings und
Richard Strauss, der Malerfürst Franz von Lenbach und sein Kollege Franz
von Stuck, die Dichter Paul Heyse und Karl Wolfskehl und die wegen ihrer
freizügigen erotischen Ansichten berüchtigte Franziska Gräfin Reventlow.
Zu den Musiknachmittagen kamen Sänger und Sängerinnen der Oper. Katia
Mann erinnert sich vor allem an die Kroatin Milka Ternina, die eine bedeutende Kundry und Isolde war – und die Geliebte des Hausherrn.
In die Oper ging Thomas Mann regelmäßig. Später notiert er, daß er keine
Tristan-Vorstellung ausließ. Aber er hörte auch alles, was das Haus sonst an
Repertoire zu bieten hatte: Puccini nahm einen wichtigen Platz ein, Verdi
gab es ebenfalls häufig, Mozart und Beethoven wurden gespielt, Bizet und
Gounod.
Seit 1920 hörte er mehr und mehr Schallplatten, ja wurde geradezu
süchtig danach, das Geigenspiel hingegen trat zurück: »Es widerte ihn an,
herumzudilettieren«, hat Katia Mann gemeint. Im ›Zauberberg‹ hat er der
neu entdeckten »technischen Reproduzierbarkeit« der Musik ein Denkmal
gesetzt. ›Fülle des Wohllauts‹ heißt das Kapitel. Von seinem Nobelpreis-Geld
kaufte er sich im Jahre 1929 ein elektrisches Grammophon und viele, viele
Schallplatten; etwa ein Drittel der Sammlung ist in Archiven in Wiesbaden
und Berlin erhalten.
Im Jahre 1933 verließ Thomas Mann Deutschland – den Anlaß bot
seine kritische Würdigung der Musik Wagners. Die bösartigen Reaktionen
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auf seinen Vortrag ›Leiden und Größe Richard Wagners‹ machten ihm
klar, daß er in Hitlerdeutschland nicht bleiben konnte. 1936 wurde er
ausgebürgert, sein Besitz konfisziert. Im Exil blieb er ein leidenschaftlicher Musikhörer – von Hausmusik, von Konzerten, aber vor allem von der
Schallplatte und aus dem Radio. Zweimal nannte er seine Lieblingsplatten: Wagner und Schubertlieder, Mendelssohn und Berlioz, Beethoven und
Schumann sowie die d-moll-Sinfonie von Cesar Franck, die er gern selbst
geschrieben hätte. Er traf Strawinsky und Schönberg, hörte Alban Bergs
Violinkonzert und seinen ›Wozzeck‹. Die Musik der Wiener Moderne wurde
ihm zum Modell für das Komponieren seines Musikerhelden Adrian Leverkühn im ›Doktor Faustus‹. Sein Duzfreund, der große Dirigent Bruno Walter,
fürchtete sogar eine Zeitlang, Thomas Mann könnte zur Zwölftonmusik
überlaufen, aber er brauchte keine Sorgen zu haben. Zwar hat Thomas
Manns »deutscher Tonsetzer« Leverkühn in der Reihentechnik komponiert,
der Autor aber meinte: »Ich würde nie eine solche Musik schreiben.«
Manns musikalische Heimat blieb trotz aller Horizonterweiterung die im
Elternhaus zuerst vermittelte deutsche Romantik: Wagner, gewiß, doch nicht
nur er. Schubert vor allem rückte ihm immer näher. Am 2. Januar 1947, fünf
Jahre vor seiner Rückkehr nach Europa, nach Zürich, notierte Thomas
Mann: »Abends das vertraute Trio von Schubert. Glücklicher Zustand der
Musik. Man wünschte, sie wäre auf der Stufe geblieben.« So kehrt er gewissermaßen zu den Vorlieben seiner Mutter zurück.
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Bei Buddenbrooks
Geplant war ein Roman von 250 Seiten, aber das Buch hatte seinen eigenen Willen und wurde dreimal so lang. Der Verleger zweifelte, ob es so von
den Lesern akzeptiert würde: Er könne es nur drucken, wenn der Autor es
um die Hälfte kürze. Der lehnte es rundum ab, denn die Länge mit den
motivischen Rückbezügen, so schrieb er, seien eine wesentliche Eigenschaft
des Werkes. Verleger Fischer war überzeugt und entschloß sich zum Druck.
Die Rezensenten allerdings waren unzufrieden: So ein Wälzer, wie ein im
Sand mahlender Lastwagen, hieß es. Langsam aber fand der Roman Anklang, im Lauf eines Jahres waren 1 000 Exemplare verkauft. Heute liegt die
Auflage bei über vier Millionen.
Thomas Manns Erstlingsroman, die Geschichte vom Verfall der Familie
Buddenbrook, ist andauernd populär: Im Oktober 2004 wählten ihn die
deutschen Leser auf Platz 6 der liebsten Bücher. »Wie Musik« sei der Roman
geschrieben, sagte der Laudator Heinrich Breloer und meinte damit die vom
Autor genannten »motivischen Rückbezüge«. Musik als Thema hingegen
spielt erst in der letzten, der vierten Generation eine Rolle: Hanno Buddenbrook, der »Verfallsprinz«, ist der einzig Musikalische der Familie. Die meisten Buddenbrooks, so heißt es, »konnten nicht einmal die Choräle erkennen,
die in der Marienkirche gespielt wurden«. Vier Generationen der Lübecker
Kaufmannsfamilie Buddenbrook treten im Roman auf: Der Urgroßvater
Johann Buddenbrook ist etwa 1765 geboren. Er verkörpert Selbstsicherheit,
ein ungebrochenes Lebensgefühl, vertraut auf seine Tatkraft und seinen
Unternehmergeist. Er führt ein gutbürgerliches Leben, Kunst ist darin Zierat,
wie schöne Möbel, wie zartfarbige Tapeten, nichts Existentielles. Musik
gehört zur bürgerlichen Bildung und so spielt Johann »gern ein wenig die
Flöte«.
Nach dem Festessen im himmelblauen Speisesaal, das am Anfang des
Romans beschrieben wird, will der 70jährige Johann den Gästen noch etwas
auf der Flöte vorspielen:
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Bei Buddenbrooks
»Die sechs Herren hörten noch, als sie durch die Säulenhalle schritten,
im Landschaftszimmer die ersten Flötentöne aufklingen, von der Konsulin
auf dem Harmonium begleitet, eine kleine, helle, graziöse Melodie, die sinnig durch die weiten Räume schwebte. Der Konsul lauschte, so lange etwas
zu hören war. Er wäre gar zu gern im Landschaftszimmer zurückgeblieben,
um in einem Lehnsessel bei diesen Klängen seinen Träumen und Gefühlen
nachzuhängen.«1
Die Flöte war das Lieblingsinstrument des 18. Jahrhunderts. Kronprinz
Friedrich von Preußen spielte sie und hatte Johann Joachim Quantz, den
bedeutendsten Flötenspieler der Zeit, an seinen Hof geholt. Er schrieb eine
Flötenschule: den ›Versuch einer Anweisung die Traversière [also die Querflöte zu spielen]‹. Vielleicht hat Johann Buddenbrook nach dieser das Flötenspiel erlernt. Das gehobene Bürgertum orientiert sich am Hof mit einiger
Verspätung. So wird er auch den Komponisten des 18. Jahrhunderts die
Treue gehalten haben. Zwar war er Zeitgenosse der Romantiker, der Brüder
Schlegel, von Novalis und Clemens Brentano, aber entrückte Stimmungen
wie in dessen Gedicht dürften seinem Flötenspiel fremd geblieben sein:
»Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen.
Golden wehn die Töne nieder,
Stille, stille, laß uns lauschen!
Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.«2
Die Enkelin, Tony Buddenbrook, liest allerdings E.T.A. Hoffmanns Novellensammlung ›Serapionsbrüder‹, eine nicht unbedenkliche Lektüre im Hinblick auf Lebenstüchtigkeit und Lebensbewältigung.
Für Johann ist das »fritzische« Flötenspiel »ein kleiner Nachtischspaß
und Ohrenschmaus«, Verschönerung des Lebens und zugleich Ausweis bürgerlicher Kultur. Anderen gegenüber zeigt man ihn gern vor, aber auf das
wirkliche Leben hat diese Kunstübung keinen Einfluß.
Johanns Sohn ist »der Konsul«, er heißt ebenfalls Johann, wird aber zur
besseren Unterscheidung Jean genannt. Er hat nicht mehr die Unbekümmertheit des Vaters, sondern stützt seine bürgerliche Lebensführung durch
ein pietistisch-protestantisches Moralkorsett. Zu Weihnachten werden die
Chorknaben der Marienkirche in Dienst genommen, die vierstimmige Weihnachtslieder singen, schließlich stimmt die Familie selbst ›O Tannebaum‹ an.
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Bei Buddenbrooks
Jean zeigt erstmals in der Familie ein emotionales Verhältnis zur Musik.
Beim Flötenspiel seines Vaters wäre er »gar zu gern im Landschaftszimmer
zurückgeblieben«, um in einem Lehnstuhl bei diesen Klängen seinen Träumen und Gefühlen nachzuhängen: Er ist der erste seines Geschlechts, der
»unalltägliche, unbürgerliche und differenziertere Gefühle gekannt und gepflegt hatte«, wie es heißt. Allerdings wird er stets schnell »wieder Herr seiner Gefühle«. Die Musik spielt im Leben der zweiten Generation letztlich
nur bei den pietistischen Morgen- und Abendandachten im Haus eine Rolle,
die nach seinem Tode von der Konsulin, seiner Frau, verstärkt und weitergeführt wurden. Dabei wird eines Morgens »zu einer feierlichen, glaubensfesten und innigen Melodie« folgender Text gesungen:
»Ich bin ein rechtes Rabenaas,
Ein wahrer Sündenkrüppel,
Der seine Sünden in sich fraß,
Als wie der Rost den Zwippel.
Ach Herr, so nimm mich Hund beim Ohr,
Wirf mir den Gnadenknochen vor
Und nimm mich Sündenlümmel
In deinen Gnadenhimmel!«3
Die ›Rabenaas‹-Strophe stammt leider nicht von Thomas Mann, sie war
damals seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt: als Parodie pietistischer Zerknirschung. Die »feierliche, glaubensfeste und innige Melodie« ist
wahrscheinlich die von Johann Schop zu dem Lied: ›Ermuntre dich, mein
schwacher Geist‹:
»Ermuntre dich, mein schwacher Geist,
und trage groß Verlangen,
ein kleines Kind, das Vater heißt,
mit Freuden zu empfangen.
Dieß ist die Nacht, darin es kam,
und menschlich’s Wesen an sich nahm,
dadurch die Welt mit Treuen
als seine Braut zu freyen.«4
Jean, der Konsul, ist als Kaufmann nicht eben erfolgreich, der »Verfall
der Familie« deutet sich an. Er geht weiter bei seinen vier Kindern, Thomas
und Christian, Tony und Clara. Thomas ist ein »später und komplizierter
Bürger«, wie sein Autor ihn nennt; an ihm sei »ein bißchen was Gewisses«,
meinen die Lübecker Honoratioren. Seine Kompliziertheit äußert sich in der
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Bei Buddenbrooks
Wahl der Ehefrau: Gerda Arnoldsen, Tochter eines großen Kaufmanns und
eines beinahe »noch größeren Geigenvirtuosen«. Thomas Buddenbrook
schreibt an seine Mutter über die Tischgespräche im Hause der Auserwählten:
»In der Musik konnte ich ihr nicht Widerpart halten, denn wir bedauernswerten Buddenbrooks wissen allzuwenig davon …
Nach Tische ließ ich mich dem alten Arnoldsen präsentieren, der mir mit
ausgesuchter Verbindlichkeit entgegenkam. Später, im Salon, trug er mehrere Konzert-Piecen vor, und auch Gerda produzierte sich. Sie sah prachtvoll dabei aus, und obgleich ich keine Ahnung vom Violinspiel habe, so
weiß ich, daß sie auf ihrem Instrument (einer echten Stradivari) zu singen
verstand, daß einem beinahe die Thränen in die Augen traten.«5
Was Gerdas Vater da gespielt haben mag, verrät der Erzähler nicht, aber
Thomas Mann spielte selbst gut Geige und hatte eine Vorstellung vom
Repertoire. Bach wird es nicht gewesen sein, das waren keine »Konzertpiecen«, eher romantisches Repertoire. Vielleicht eine Caprice von Paganini,
die Arnoldsens Virtuosität ins beste Licht setzte. Gerda spielte sicher etwas
Lyrisches, Gesangliches. Vielleicht eine Bearbeitung, vielleicht etwas Originales wie die Variationen über ›Letzte Rose‹ des bedeutenden Geigers Heinrich Wilhelm Ernst? Thomas Mann hat für die musikalische Form ›Thema
und Variation‹ immer eine Schwäche gehabt: »Die Abwandlung, Vertiefung,
Deutung des Gedankens: von hohem geistigen Reiz«, schreibt er. Bei der
Verlobungsfeier greifen Vater und Tochter wieder zu ihren Instrumenten:
»... hernach, während man den Kaffee nahm, spielte er die Geige wie ein
Zigeuner, mit einer Wildheit, einer Leidenschaft, einer Fertigkeit … aber
auch Gerda holte ihre Stradivari herbei, von der sie sich niemals trennte,
und griff mit ihrer süßen Cantilene in seine Passagen ein, und sie spielten
pompöse Duos, im Landschaftszimmer, beim Harmonium, an derselben Stelle, wo einstmals des Konsuls Großvater seine kleinen, sinnigen Melodien auf
der Flöte geblasen hatte.«6
Vielleicht war es eines der damals populären Duos von Louis Spohr,
etwas, was Thomas Mann selbst mit seinem Geigenlehrer, dem Konzertmeister des Stadttheaters, gespielt haben mag.
Thomas Buddenbrook aber bleibt die musikalische Welt seiner Frau verschlossen, und besonders besorgt macht ihn, daß auch sein Sohn Hanno an
ihr großen, zu großen Anteil nimmt.
»Nie hatte er geglaubt, daß das Wesen der Musik seiner Familie so gänzlich fremd sei, wie es jetzt den Anschein gewann … er selbst hatte immer
mit Wohlgefallen auf hübsche Melodien, die entweder eine leichte Grazie
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Musikstücke auf der CD
Die CD vereint Aufnahmen, die Thomas Mann nachweislich besessen hat, lediglich bei Nr. 15 wissen wir nicht,
welche des Schubert-Quintetts es war. Sie stammen teils aus der akustischen Zeit vor 1923/24, aus der
»elektrischen« Schellackzeit und aus der Ära der Langspielplatte (seit 1951). So kann der Hörer nicht nur die
Genauigkeit der Musikbeschreibungen z. B. im Grammophonkapitel aus dem ›Zauberberg‹ (Nr. 4–8, 11–13)
verfolgen, sondern auch die Entwicklung der Aufnahmetechnik.
Musikstücke
Track
Komponist
Werk
Titel
Interpreten
Aufnahmezeit
Zeitdauer
1
Richard Wagner
Lohengrin
In fernem Land
(Gralserzählung)
Franz Völker
Heinz Tietjen (Dir.),
Orchester der Bayreuther Festspiele
1936
4.28 min
2
Richard Wagner
Lohengrin
Einsam in trüben
Tagen
Delia Reinhardt
1922
5.06 min
3
Richard Wagner
Lohengrin
Vorspiel zum
1. Akt
Orchester der Bayerischen Staatsoper,
Rudolf Kempe
1951
10.32 min
4
Charles Gounod
Faust
Da ich nun
verlassen soll
Joseph Schwarz
1919
3.52 min
5
Giacomo Puccini
La Bohème
O soave fanciulla
Enrico Caruso, Nellie
Melba
1907
3.25 min
6
Giuseppe Verdi
Aida
O terra addio
Enrico Caruso,
Johanna Gadski
1909
4.04 min
7
Georges Bizet
Carmen
Je vais danser
Emmy Destinn,
Karl Jörn
1908
3.10 min
8
Georges Bizet
Carmen
La fleur que tu m'
avais jetee
Alfred Piccaver
1923
3.54 min
9
Richard Wagner
Die Walküre
Siegmund heiß ich
Lotte Lehmann,
Lauritz Melchior,
Bruno Walter (Dir.)
1935
3.26 min
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Musikstücke
Track
Komponist
10
Giacomo Puccini
11
Werk
Titel
Interpreten
Aufnahmezeit
Zeitdauer
Che gelida manina
Beniamino Gigli
1931
4.23 min
Gioacchino Rossini Il barbiere di
Siviglia
Largo al factotum
Titta Ruffo
1920
4.15 min
12
Giuseppe Verdi
La Traviata
E´strano!, Ah,
fors e lui, Follie!,
Sempre libera
Luisa Tetrazzini
1907/
1908
6.33 min
13
Franz Schubert
Winterreise
Der Lindenbaum
Richard Tauber
1923
2.58 min
14
Franz Schubert
Winterreise
Im Dorfe
Gerhard Hüsch
1935
3.58 min
15
Franz Schubert
Quintett C-Dur
op. 163
Allegretto
Isaac Stern,
Alexander Schneider,
Milton Katims,
Pablo Casals,
Paul Tortelier
1952
9.45 min
La Bohème
Printed in Germany
ISBN 3-86189-755-5
Tracks 1–4, 7, 12–15: Deutsches Musikarchiv Berlin
Tracks 5, 6, 9, 10: Mit freundlicher Genehmigung von NAXOS Deutschland GmbH.
Tracks 8, 11: Mit freundlicher Genehmigung von Preiser Records Wien.
Tracks 1, 4–8, 12–14: Nachbearbeitung durch RAUMER RECORDS, Peter Talmann Musikverlag, Berlin
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Lektorat: Dr. Siegfried Kätzel, Lars Pietzschmann
Gestaltung: Ralf Thielicke