Tristan und Isolde im Wandel der Zeiten

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Tristan und Isolde im Wandel der Zeiten
Technische Universität Berlin, Fakultät Ι
HS: Tristanrezeption
Dozentin: Fr. Prof. Dr. Karina Kellermann
Tristan und Isolde im Wandel der Zeiten –
Gottfried von Straßburg, Richard Wagner und Thomas Mann
Janna Hennicke
Neuere Deutsche Philologie (TU), Bibliothekswissenschaft (HU)
Immatrikulationsnr.: 300049
Mail: [email protected]
Schöneberger Str.11
12163 Berlin
Datum: 4.4.07
1
Inhaltsverzeichnis
1
EINLEITUNG.....................................................................................................................................................2
2
LITERATURHISTORISCHE EINORDNUNG DER DREI WERKE .........................................................3
3
4
2.1
Gottfried von Straßburg .................................................................................................. 3
2.2
Richard Wagner ............................................................................................................... 5
2.3
Thomas Mann .................................................................................................................. 6
DAS MITTELALTER: GOTTFRIED VON STRAßBURG ..........................................................................7
3.1
Die Bildung von Tristan und Isolde ................................................................................ 7
3.2
Die Minnetrankszene ....................................................................................................... 9
3.3
Die Minnegrotte ............................................................................................................ 12
3.4
König Marke ................................................................................................................. 13
3.5
Ergebnis ......................................................................................................................... 14
19. JAHRHUNDERT: RICHARD WAGNER ...............................................................................................15
4.1
4.1.1
Die Trankszene auf dem Schiff (1. Aufzug) ......................................................... 15
4.1.2
Gartenszene (2. Aufzug) ....................................................................................... 16
4.1.3
Auf der Burg (3. Aufzug) ...................................................................................... 17
4.2
5
Die Reduktion des Stoffes ............................................................................................. 15
Ergebnis ......................................................................................................................... 18
20. JAHRHUNDERT: THOMAS MANN ......................................................................................................19
5.1
Kapitel 1-7 ..................................................................................................................... 19
5.2
Kapitel 8- 12 .................................................................................................................. 20
5.3
Wagners musikalische Konzeption bei Mann ............................................................... 22
5.4
Ergebnis ......................................................................................................................... 23
6
SCHLUSSBETRACHTUNG ...........................................................................................................................24
7
LITERATURVERZEICHNIS.........................................................................................................................26
2
1
Einleitung
Die tragische Liebesgeschichte um Tristan und Isolde, die ihren Ursprung im Mittelalter hat, und
die Wirkung dieser Sage bis in das 20. Jahrhundert hinein, soll Gegenstand dieser Arbeit sein.
Dafür sollen das Fragment des mittelalterlichen Dichters Gottfried von Straßburg, die Oper von
Richard Wagner und Thomas Manns Novelle „Tristan“ als jüngstes Beispiel genauer betrachtet
und in einigen Kernaussagen miteinander verglichen werden.
Den ersten Teil dieser Arbeit wird eine Auseinandersetzung mit Gottfrieds Epos darstellen und
die Besonderheiten dieses Fragments in Bezug auf die Epoche und den Stoff hervorheben. Da
Tristan und Isolde ein Ideal wahrer Liebe verkörpern sollen, das aber im Konflikt mit der
Gesellschaft steht, werden die Minnetrank- und Minnegrottenszene als aussagekräftigste
Episoden behandelt. Um jedoch ein vollständigeres Bild von Gottfrieds Liebesvorstellung und
seinem Anspruch an die Gesellschaft zu erhalten, müssen außerdem die Bildung der Helden und
die Figur des König Marke betrachtet werden.
Wie Richard Wagner die mittelalterliche Vorlage für seine Zwecke verwendet, soll Gegenstand
des zweiten Teils sein. Dass sich dabei der Mythos um „Tristan und Isolde“ zu einer Hommage
an die freie, absolute und metaphysische Liebe verändert, soll anhand der drei Akte des
Musikdramas aufgezeigt werden. Unberücksichtigt muss jedoch in dieser Arbeit, im Blick auf
den Umfang, die musikalische Umsetzung des Librettis bleiben.
Außerhalb der direkten Gottfried-Rezeption steht nun Thomas Mann, welchem der dritte Teil
gewidmet ist. Die Bedeutung der Novelle innerhalb dieser Arbeit basiert sowohl auf der
immensen Wirkung Wagners auf seine Rezipienten, als auch auf der daraus resultierenden
neuartigen Umgehensweise mit einem Mythos, die eine moderne Adaption und Interpretation,
wie sie Mann durchführte, zulässt.
3
2
Literaturhistorische Einordnung der drei Werke
2.1 Gottfried von Straßburg
Gottfried von Straßburg reiht sich in eine Tradition der Tristan-Rezeption ein, die ihren Ursprung
im französischen Mittelalter mit der um 11581 entstandenen „Estoire“ findet. Dieses Werk ist
zwar nicht überliefert, dennoch lassen sich in den folgenden erhaltenen Dichtungen
Ähnlichkeiten dazu und untereinander nachweisen, die diese Quelle begründen. In diese Folge
fügen sich der deutsche Roman „Tristrant“ von Eilhart von Oberg um 1170, der französische
Versroman „Tristan“ von Thomas von Britannien zwischen 1160 und 1170 und Gottfried von
Straßburgs „Tristan und Isolde“ zwischen 1205 und 1210 als besonders erwähnenswert ein.
Über Gottfried von Straßburg ist nichts Konkretes bekannt, was seine Biografie und seinen
Lebensweg anbelangt – nicht ungewöhnlich für Dichter des Mittelalters, schließlich stand zu
dieser Zeit das Werk im Vordergrund und der „Autor“ war nur das Instrument zur Erschaffung
einer Dichtung. Trotzdem wurde Gottfrieds Kunstfertigkeit nicht erst in heutiger Zeit gewürdigt.
Da er sein Werk „Tristan und Isolde“ als Fragment hinterließ, versuchten sich Heinrich von
Freiberg und Ulrich von Türheim an einer würdigen Fortsetzung:
und hab mich doch genumen an
zu volbringene dis mere,
daz so blunde hat untz har
mit schoner red betichtet
min herre meister Gotfrit
von Strazburc, […]2
und
sit meister Gotfried ist dor,
der diz buches begunde. […]
er was ein kunstrichter man:
uns zeiget din geschihte, […]3
Anhand dieser Äußerungen von Dichtern über Gottfried von Straßburg und der stilistischinhaltlichen Analyse der 27 Textzeugen4 konnte man sich in der Forschung auf immerhin einen
1
Vgl. BUSCHINGER, Danielle: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Greifswald: Reineke, 1995. S. 50
ff.
2
H. v. Freiberg: V.10-16
3
U. v. Türheim: V.4 - 9
4
Vgl. STEIN, Peter: Tristan. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker MERTENS und Ulrich Müller.
Stuttgart: Alfred Kröner, 1984. (Kröners Taschenbuchausgabe, Bd. 483). S. 365 ff.
4
Punkt einigen: Gottfried von Straßburg scheint ein sehr gebildeter Mann gewesen zu sein, was
seine Kenntnisse von mythologischen, antiken, theologischen, allegorischen und künstlerischmusikalischen Elementen5 und seine Betitelung als „meister“ belegen.
„Meister“ konnte jedoch nicht nur für eine grundlegende Bildung stehen, sondern war vielmehr
eine Unterscheidung zwischen „her“ des Adels und „meister“ des Beamtentums, was ihn damit
dem letzteren Stand zuschreibt.
Außer „Tristan und Isolde“ sind keine weiteren Werke, seien es Versromane oder Minnelieder,
eindeutig auf Gottfried zurückzuführen.
Die Überlieferungen6 des „Tristan und Isolde“ Textes stammen aus dem 13. Jahrhundert und
reichen bis ins 15. Jahrhundert hinein. Die elf noch vollständig erhaltenen Handschriften7 und
weitere Fragmente sind alle im Raum Elsass, auch in Straßburg, entstanden.
Zu seiner Vorlage und den Gründen für diese Wahl äußert sich Gottfried in seinem Prolog zu
„Tristan und Isolde“:
Ich weiz wol, ir ist vil gewesen,
die von Tristande hant gelesen;
und ist ir doch niht vil gewesen,
die von im rehte haben gelesen.
[…]
sin sprachen in der rihte niht,
als Thomas von Britanje giht,
der aventiure meister was […]8
Trotz dieser wörtlichen Nennung der Quelle bezogen sich die Fortsetzer Türheim und Freiberg
nicht auf Thomas von Britannien, sondern wandten sich inhaltlich der Eilhartschen Fassung zu,
die als einzige vollständig überliefert ist9. Beide Fortsetzungen verwenden den Tristan-Stoff je
nach Anliegen – Verurteilung der und / oder Warnung vor der sündigen Liebe – und können
nicht mit der Sprachkunst Gottfrieds verglichen werden. Denn das ist es, was Gottfried
auszeichnet: Er hat zwar inhaltlich und strukturell rezeptiv gearbeitet, aber die stilistische,
metrische und rhetorische Ebene der Dichtung wirkte durch ihre Kunstfertigkeit auf viele
Rezipienten als Vorbild. 10
Über die Tatsache, dass Gottfrieds Werk ein Fragment blieb, gibt es zwei Theorien: Die eine
lautet schlicht, dass sein Tod die Vollendung verhinderte. Die andere macht sich den kritischen
5
Vgl. STEIN, Peter: Tristan. S. 373
Vgl. GOTTFRIED von Straßburg. Tristan. Kommentar. Reclam: Stuttgart, 1995. S.295 ff.
7
Besonders: Münchener Codex M, Heidelberger Codex H
8
GOTTFRIED von Straßburg: V. 131-134; V. 149-151 (I. F.: G. v. S.)
9
Vgl. STEIN, Peter: Tristan. S. 374
10
Vgl. GOTTFRIED von Straßburg: Tristan. Kommentar. Reclam: Stuttgart, 1995. S. 347
6
5
und anrüchigen Inhalt der Geschichte zu Nutze – Gottfried habe aus Angst bzw. Respekt vor
höfischen Konventionen, gegen welche er durchaus verstößt, das Werk nicht zu Ende gebracht. 11
2.2 Richard Wagner
Gute 600 Jahre später erschafft Richard Wagner als Librettist und Komponist in einer Person
eine Oper namens „Tristan und Isolde“, die eine nachhaltige und radikale Wirkung auf viele
Arten der Kunst haben sollte.
Richard Wagner (*1813 - †1883) hat bis zur Uraufführung von „Tristan und Isolde“ im Jahre
1865 bereits den „Fliegenden Holländer“, „Tannhäuser“ und den „Lohengrin“ zur Vorstellung
gebracht.
So lassen Korrespondenzen Richard Wagners auf drei Motivationen zum Schreiben von „Tristan
und Isolde“ schließen: Seine außereheliche Liebesbeziehung mit Mathilde Wesendonk,
Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, in welchem Wagner nicht nur
seine Vorstellung von Leben und Tod realisiert sah12, sondern auch begann „die wahre
Verwirklichung [seiner Liebe] in einer Jenseitsvision zu ersehnen.“13 Zu guter Letzt wollte
Wagner diese Oper einfach zum Geldverdienen nutzen.
Bei seiner Bearbeitung des Gottfriedschen „Tristan“ verwendete Wagner die Editionen von
Friedrich Heinrich von der Hagen (1823) und von Hans Ferdinand Massmann (1843) und eine
Übersetzung durch Heinrich Kurtz (1844)14. Die Edition von F. H. von der Hagen beinhaltet nicht
nur den Gottfried Epos, sondern auch die Fortsetzung von Heinrich von Freiberg15, womit die
Kenntnis Wagners vom Schicksal der Liebenden bis zu ihrem Tod geklärt wäre.
Obwohl Wagner schon ein angesehener und bekannter Komponist war, gestaltete sich die
Aufführungspraxis von „Tristan und Isolde“ schwierig: Denn vollendet hatte Wagner diese Oper
schon 1859, aber erst 1865 kam es in München zur Uraufführung. Diese Premiere musste sogar
nochmals wegen Erkrankung einer Sängerin verschoben werden. Zuvor lehnten viele
Theaterhäuser „Tristan und Isolde“ ab, da es als unspielbar galt, wie es ein missglückter Versuch
in Wien 1863 zu beweisen schien16. Ein Grund für diese Annahme, es sei unspielbar, mag unter
anderem in dem zu dieser Zeit neu entstandenen Begriff „Musikdrama“ begründet liegen. Zwar
abgelehnt von Wagner, bis heute aber für seine Opern gebraucht, meint dieser Ausdruck die
11
Vgl. GRILL, Dorothee: Tristan-Dramen des 19. Jahrhunderts. Göppingen: Kümmerle Verlag, 1997. (Göppinger
Arbeiten zur Germanistik. Nr. 642). S. 42
12
Vgl. WAPNEWSKI, Peter / MÜLLER, Ulrich (Hrsg.): Richard-Wagner-Handbuch. Stuttgart: Alfred Kröner,
1986.
S. 310 ff
13
Ebd.
14
Ebd.
15
s.:http://dispatch.opac.d-nb.de/DB=4.1/SET=1/TTL=11/REL?PPN=968400817&RELTYPE=&MPSORT=A
16
Vgl. WAPNEWSKI: Richard-Wagner-Handbuch. S. 650
6
kompositorische Kunst Wagners die Musik und die Dichtung in einem Miteinander agieren zu
lassen, sich zu ergänzen, und dadurch ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Chromatik und
Leitmotivik sind in der Oper „Tristan und Isolde“ die herausstechenden Mittel zur Umsetzung
der Verbindung von Musik und Sprache17. Außerdem hat Wagner den mittelalterlichen Stoff auf
zentrale Aspekte und Situationen der tragischen Liebe von Tristan und Isolde reduziert: Auf den
Beginn der Liebe im 1. Akt, die Erfüllung im 2. Akt und die Vereinigung der Liebenden im 3.
Akt18. Diese Konzentration der Thematik führt zu einer wesentlich emotionaleren Wirkung.
2.3 Thomas Mann
Zu Thomas Manns (*1875 - †1955) Frühwerk bis 1903 gehören neben dem Roman „Die
Buddenbrooks“ auch schon einige Novellen wie z. B. „Bajazzo“ und „Der kleine Herr
Friedemann“, welche in einem ersten Novellenband (1898) mit selbigem Titel vereint sind. Seine
zweite Novellensammlung von 1903 war im Gegensatz zu der ersten wesentlich erfolgreicher.
Am 13.2.1901 schrieb Thomas Mann an seinen Bruder Heinrich von seinen Plänen eines
Novellenbandes, das Ruf und Geld einbringen sollte, und neben „Der Weg zum Friedhof“,
„Luischen“, „Der Kleiderschrank“ und „Gerächt“ auch „eine Burleske, die ich in Arbeit habe,
und die wahrscheinlich „Tristan“ heißen wird. (Das ist echt! Eine Burleske, die „Tristan“ heißt!)
[…]“19 beinhalten sollte. Letztlich wurde diese „Burleske“ zur Titelgeschichte des
Novellenbandes.
Diese Novelle ist keine Rezeption des mittelalterlichen Stoffes, wie es bei Wagner noch auf
rezeptiv-produktive Weise geschah, es ist vielmehr eine produktive Verwertung von
Personenkonstellationen und -beziehungen, welche in die Gegenwart projiziert wurden. Zwar hat
Thomas Mann den Gottfriedschen „Tristan“ gekannt, da er einst einen Auftrag zu einem
Drehbuch bekam, wo er diesen Stoff verarbeiten sollte. Aber diese Arbeit fand ganze zwanzig
Jahre später statt und zu diesem Zeitpunkt las Mann das mittelalterliche Werk zum ersten Mal20.
Zur Entstehungszeit der Novelle beschäftigte sich Thomas Mann hingegen sehr mit den Opern
von Richard Wagner. Er befand sich in einer „Periode der heftigsten Schwärmerei für
WAGNERs Opus metaphysicum“21. Mann erstellt im Makrokosmos seiner Erzählung ein
ähnliches Dreieck zwischen Gabriele Klöterjahn, ihrem Gatten Herrn Klöterjahn und dem
17
Brockhaus Enzyklopädie, 2002 (Digital)
Vgl. GIER, Albert: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. S. 163 ff
19
WYSLING, Hans / FISCHER, Marianne (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen. S. 171. Brief ThM an HM,
München, 13.2.1901.
20
Vgl. MENDELSSOHN, Peter de: Nachbemerkungen zu Thomas Mann 2: Frühe Erzählungen, Späte Erzählungen,
Leiden und Größe der Meister. Frankfurt/M. 1982. S. 79
21
KOOPMANN, Helmut (Hrsg): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 1990 (3. aktualisierte Auflage. Frankfurt/M.
2001 = Fischer TB 16610). S. 558.
18
7
Schriftsteller Spinell wie zwischen Tristan, Isolde und König Marke, verwertet jedoch dieses
Spannungsverhältnis für seine Zwecke. Dazu gehören Aspekte wie Kritik am Bürgertum, durch
den vitalen Herrn Klöterjahn und seinen Sohn verkörpert, und der Ästhet Spinell, der den
Künstler und den Kampf mit der Welt darstellen soll. Im Mikrokosmos hingegen taucht die Oper
Wagners namentlich auf, indem die Hauptpersonen Spinell und Gabriele in der Musik wie in eine
andere Sphäre abtauchen, wofür Mann wörtlich Passagen aus Wagners Libretti übernimmt.
Es ist demnach nicht zu übersehen, wie stark der Einfluss Richard Wagners auf Thomas Mann
und auch auf viele seiner Bekannten war. So hat er z. B. „Tristan“ seinem Freund Carl Ehrenberg
gewidmet, mit welchem er eine homosexuelle Beziehung gehabt haben soll und mit dem sehr oft
gemeinsam musizierte, insbesondere “Tristan und Isolde“ von Wagner. Außerdem hätten sie fast
keine Aufführung dieser Oper in München verpasst. Unverkennbar auch die zur Perfektion
gebrachte Leitmotivtechnik, die bei Wagner erstmalig vorkam und ihn auszeichnete.
3
Das Mittelalter: Gottfried von Straßburg
Wie erwähnt ist Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ ein schon im Mittelalter viel
beachtetes Werk: Nicht allein Gottfrieds Sprachkunst hat die Rezipienten fasziniert, besonders
die für dieses Zeitalter revolutionär anmutenden Gedanken und Ansichten, mit welchen er
singulär dasteht22, haben zu gesteigerter Aufmerksamkeit geführt. Um das grundlegende Thema
des Stoffes, nämlich die „minne“ der „edelen herzen“, deutlich machen zu können, werden im
Folgenden die Bildung der Helden, die Minnetrankszene, der Aufenthalt in der Minnegrotte und
die Darstellung von König Marke betrachtet.
3.1 Die Bildung von Tristan und Isolde
Bis zu seinem siebten Lebensjahr hatte Tristan eine sehr wohlbehütete Kindheit. Doch dann
begann der Weg seiner umfassenden Bildung. Er sollte „vremede sprache in vremediu lant“
lernen; dies „ist sehr modern gedacht und hat in hoch- und spätmittelalterlicher Literatur keine
Entsprechung“23. Die Aufgabe des Lehrers war es, „daz er aber al zehant der buoche lere an
vienge und den ouch mite gienge vor aller slahte lere.“24 Die Konsequenz war nicht nur, dass
Tristan sich mit größtem Eifer in Sprachen, Wissenschaft, dem Musizieren, den höfischen
Gesellschaftsspielen und ritterlichem Können bildete, sondern dass er auch die damit verbundene
Einschränkung seiner Freiheit erleben sollte: „Der bouche lere und ir getwanc was siner sorgen
22
Vgl. GOTTFRIED von Straßburg: Tristan. Kommentar. Reclam: Stuttgart, 1995. S. 295 ff.
RUH, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Zweiter Teil: „Reinhart Fuchs“, „Lanzelet“, Wolfram von
Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin: Erich Schmidt, 1980. (Grundlagen der Germanistik; 25)
24
G. v. S.: V2063-2067
23
8
anevanc“25. Außerdem „was aber diu saelde undersniten mit werndem schaden, als ich ez las,
wan er leider arbeitsaelic was.“26 Seine schon fast genial anmutende Fähigkeit mit 14 Jahren so
viele Sprachen zu beherrschen und außerdem musisch und im Spiel derart herauszustechen, sollte
ihm schon bald zum Verhängnis werden. Denn erst wegen seiner Fertigkeiten werden die
Handelsleute auf ihn aufmerksam, die ihn sogleich entführen, was ihn schließlich an den Hof von
König Marke, seinen Onkel, gelangen lässt. Dort findet der krönende Abschluss seiner
Ausbildung statt: die Schwertleite. In aller Kürze von Gottfried geschildert, dient diese Szene
lediglich dem Hinweis auf die nun von Tristan geforderten Tugenden: „wis diemüete und wis
unbetrogen, wis warhaft und wis wolgezogen. […] wis milte unde getriuwe und iemer dar an
niuwe!“27 Tristan ist nun offiziell Teil der höfischen Gesellschaft und wird sich schon bald in
seinen ritterlichen Künsten im Kampf mit Morgan, der einst Tristans Vater Riwalin tötete,
bewähren können. Durch den Tod von Morgan kann Tristan sein Heimatland Parmenie
wiedergewinnen.
Es werden noch weitere Kämpfe stattfinden – mit Morold, mit einem Drachen, mit dem Riesen
Urgan. Interessant ist hierbei jedoch, dass diese Auseinandersetzungen nicht dem Ziel der „êre“Erwerbung für den Ritter Tristan dient, wie es noch im Artusroman in Form der „aventiure“ des
Helden auftrat. Die Abenteuer fördern in erster Linie das Voranschreiten der Handlung, da sie
meist darin bestehen, einen Feind zu beseitigen oder eine „Belohnung“ zu erlangen: Tristan tötet
Morold und befreit damit das Reich von König Marke von einer Zinsherrschaft. Dabei trägt er
eine Wunde davon, die er sich, als „Tantris“ getarnt, von der Königin und ihrer Tochter heilen
lässt. Es kommt dadurch zur ersten Begegnung mit seiner zukünftig geliebten Isolde. Und
schließlich ermöglicht der Tod des Drachen Tristan erst die Werbung um Isolde.
Auf diese Kämpfe beschränkt sich Gottfried nun in der Schilderung der kämpferischen
Fähigkeiten Tristans. Gottfried verleiht damit der ritterlichen Bewährung des Helden einen
geringeren Stellenwert als der intellektuellen und ganz besonders der musikalischen Bildung.
Isolde steht Tristans Fertigkeiten in nichts nach: Sie ist ebenfalls eine wunderschöne
Erscheinung, eine hervorragende Musikerin und wurde in Lesen, Schreiben, Rhetorik, fremden
Sprachen usw. unterrichtet und zwar von niemand Geringerem als dem „Tantris“.
25
Ebd.: V2085-2086
Ebd.: V2128-2130
27
Ebd.: V5029 ff
26
9
Es scheint sich darin ein literaturhistorischer Wandel anzudeuten: Ein „Übergang vom
höfischen Roman, der Waffenruhm mit Minne verband, zum der Göttin Minne allein
verpflichteten Schicksalsroman.“28
In Zusammenhang mit dieser außergewöhnlichen Ausbildung der Protagonisten seien zwei
wichtige Begriffe erwähnt: Die der „êre“ und „triuwe“. Die Liebesbeziehung von Tristan und
Isolde auf der einen Seite und die höfische Gesellschaft auf der anderen stehen in Gottfrieds Epos
in einem besonderen Verhältnis. Durch seinen Stand als Ritter und als Adeliger hat sich Tristan
diesem „Ehrenkodex“ der Ehre und Treue verschrieben.29 Bis zur Minnetrankszene hat sich
Tristan in dieser Hinsicht auch nichts zu Schulden kommen lassen, er ist die Vervollkommnung
des höfischen Ideals. Ohne dass sie es wissen kann, ahnt Isolde schon die adelige Herkunft des
Spielmanns Tantris: „ein lip also gebaere, der so getugendet waere, der sollte guot und ere han“30.
Sie kann dieses beurteilen, schließlich ist sie selbst adeliger Abstammung und steht
dementsprechend in demselben verpflichtenden Verhältnis zum höfischen Kodex wie Tristan.
Die Treue zu Marke wird es sein, die zu der verhängnisvollen Fahrt mit dem Schiff führt. Marke
willigt auf Drängen der Landesherren und auch Tristans in eine Hochzeit ein und so begibt sich
Tristan auf Brautwerbefahrt zu der wunderschönen und talentierten Isolde von Irland.
3.2 Die Minnetrankszene
In dieser Szene offenbart sich das Schicksal der Hauptpersonen, denn dieser Trank zwingt
Tristan und Isolde in eine Entscheidungssituation, die eigentlich schon vorbestimmt ist. Die
Parallelen zur Vorgeschichte von Riwalin und Blanchefleur und die gleichwertige Einzigartigkeit
der Hauptpersonen haben den Leser sensibilisiert für Kommendes.31
Gottfried von Straßburg hat eine vielsagende Veränderung in der Bedeutung des Liebestrankes
vorgenommen: So eliminiert z. B. Thomas von Britannien die „symbolische, Liebe bewirkende
Macht“ des Trankes, indem sich Tristan und Isolde schon vor der Einnahme lieben. 32 In
Gottfrieds Epos hingegen werden sie sich erst in dieser Szene verlieben.33
28
KOLB, Herbert: „Ars venandi im ‚Tristan’. In: Medium aevum deutsch. Festschrift für Kurt Ruh zum 65.
Geburtstag. Hrsg. von Dieter Huschenbett. Tübingen: 1979.
29
Vgl.: EHRISMANN, Otfrid: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter.
München: C.H. Beck, 1995.
30
G. v. S.: V10027-10029
31
Vgl.: RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 236
32
Vgl.: GOTTFRIED von Straßburg: Kommentar. S. 345
33
Vgl.: RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 236: Uneinig ist sich wohl nach wie vor die Forschung über diesen Punkt:
Furstner, Schröder u.a. sehen die Liebe erst mit dem Minnetrank Einzug halten. Weber, Ranke, Mergell u.a.
bedienen sich eines psychologischen Ansatzes, mit welchem sie eine zunehmende Verliebtheit von Tristan und
Isolde zu entdecken meinen.
10
Die endgültige Vereinigung der Liebenden verläuft in mehreren Stadien34:
1. 11645 – 11706 (62 Verse): Tristan und Isolde trinken den Minnetrank
Eine Unachtsamkeit von Brangäne befördert diesen „zufälligen“ Genuss des Trankes. Sie erkennt
die diesem Umstand innewohnende Problematik: „ouwe Tristan unde Isot, diz tranc ist iuwer
beider tot!“35
2. 11707 – 11874 (168 Verse): die Wirkung des Trankes auf beide, sodann auf jeden der
beiden, abschließend wiederum auf beide
Tristan versucht gegen die Liebe anzukämpfen, indem er sich auf seine Verpflichtungen als
Ritter besinnt: „[…] er gedahte sa zehant der triuwen unde der eren unde wollte dannen keren:
‚nein’ dahter alez wider sich, ‚la stan, Tristan versinne dich, niemer genim es keine war.’“36
Auch Isolde geht es nicht anders: „diu versuohtez ouch genote, ir was diz leben ouch ande do si
den lim erkande der gespenstegen minne und sach wol, daz ir sinne dar in versenket waren
[…].“37 Beide werden sich der Minne nicht erwehren können. Damit zeigt Gottfried laut
Wapnewski auf, dass die „Herkunft und Stellung“ und wohl auch die Bildung der Protagonisten
es nicht verhindern konnten, „daß die Elementargewalt Liebe sie packte und hinwegriß aus ihrer
Welt.“38 Kurt Ruh meint hingegen hier lediglich eine Hervorhebung der Einzigartigkeit des
Helden, für den „eine einzigartige Frau und eine einzigartige Liebe bestimmt“39 ist, zu entdecken.
Letztlich erscheint es an diesem Punkt doch einzig wichtig, dass Gottfried von Straßburg die
unabdingbare Gemeinsamkeit des Gefühlslebens durch den Trank betont: „si haeten beide ein
herze: ir swaere was sin smerze, sin smerze was ir swaere; […].“40
3. 11875 – 12028 (154 Verse): das Geständnis der Minne
4. 12029 – 12182 (154 Verse): die Erfüllung der Minne
Schon im Prolog legt Gottfried den Grundstein zu seiner Auffassung von wahrer Liebe und den
„edelen herzen“, indem er Liebe und Leid in eine notwendige Wechselbeziehung stellt. Das
Geständnis befreit die Liebenden zwar zunächst von einem Leid, nämlich dem der Unwissenheit
von den Gefühlen des Anderen. Doch nun tritt der Schmerz um die nötige Heimlichkeit ihrer
Beziehung hinzu, sie können sich nicht, aus Angst vor Entdeckung, der endgültigen Vereinigung
hingeben. Deshalb offenbaren sie sich im Gespräch der Vertrauten Isoldes, Brangäne. Diese
bringt die Problematik der neuen Situation auf den Punkt, indem sie den Liebenden die
Entscheidung „Ehre oder Liebe“ überlässt:
34
Schema aus: RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 233
G. v. S.: V11705-11706
36
Ebd.: V11742-11747
37
G. v. S.: V11790-11795
38
WAPNEWSKI, Peter: Tristan der Held Richard Wagners. Berlin: Berlin Verlag, 2001. S. 75
39
RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 233
40
G. v. S.: V11727-11729
35
11
swes ir durch iuwere ere
niht gerne wellet lazen; […]
breitet irz iht mere,
ez gat an iuwer ere: […]
iuwer leben und iuwer tot
diu sin in iuwer pflege ergeben:
leitet tot unde leben,
als iu ze muote geste.41
5. 12183 – 12430 (248 Verse): die sog. Bußpredigt der Minne. Liebe und Furcht der
Liebenden
Sie entscheiden sich für die „minne“, fürchten jedoch im gleichen Atemzug um ihre
gesellschaftliche Reputation, „diu vorthe ir beider eren diu begunde ir herze seren; […]“42.
6. 12431 – 12506 (76 Verse): Brangänes Geständnis und Tristans Bejahung des
Minnetrankes
Brangänes Worte können Tristan in seiner Überzeugung, der wahren Liebe zugetan zu sein, nicht
mehr abbringen. „ez hat mir sanfte vergeben. Ine weiz, wie jener werden sol: dirre tot der tout
mir wol. […] so wollte ich gerne werben umb ein eweclichez sterben.“ Damit hat sich Tristan
bewusst für „die schicksalhafte Gewalt […] als die ihr Leben (und Sterben) bestimmende höchste
Macht“43 entschieden. Außerdem ist das „eweclichez sterben“ „Kennzeichen des bewussten
Einstehens für das aus der Minne resultierende Leid, das durch das beständige Vorhandensein
einer Antithetik gekennzeichnet ist und nicht, wie Brangäne meint, durch eine statische, weil
einmalige Abfolge von Freude und Leid oder Minne (als nur Lust) und Tod.“44
Und so könnte das Fazit aus der Minnetrankszene lauten: „Der Dichter bedarf des Trankes, um
die Dialektik von Zwang und Freiheit, damit aber auch das Problem von Ethik und Schuld
aufzuweisen.“45 Der Trank enthebt die Liebenden nicht jeglicher, besonders nicht der
moralischen, Verantwortung, wie es noch bei Vorgängern und Zeitgenossen der Fall war,
sondern sieht sie vielmehr im Spannungsverhältnis von Liebe und Ehre in der höfischen
Gesellschaft, in welchem sie Entscheidungen treffen müssen.
41
Ebd.: V12138 - 12153
G. v. S.: V12421-12422
43
WAPNEWSKI: Richard-Wagner-Handbuch. S. 41
44
BAUMGARTNER, Dolores: Studien zu Individuum und Mystik im Tristan Gottfried von Strassburg. Göppingen:
Kümmerle, 1978. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Nr.259). S. 295
45
RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 235
42
12
3.3 Die Minnegrotte
Diese „minnenden hol“ stellt in Gottfrieds Minnekonzeption den Gipfel dar: Denn erst hier
können Tristan und Isolde ihre Liebe ungestört und ohne Schranken genießen, sie führen ein
„wunschlebene.“46
Gottfried verwendet in der Beschreibung der Grotte die Methode der Allegorie. So verbindet er
die räumlichen Gegebenheiten der Grotte mit den jeweiligen Kennzeichen der Minne und
erläutert deren Bedeutung, ähnlich zu der mittelalterlichen Bibelexegese, die jedoch auch auf
nicht-biblische Gegenstände übertragen werden konnte.47 Beispiele für diesen „sensus
allegoricus“48 sind: „diu sinewelle binnen, daz ist einvalte an minnen: einvalte zimet der minne
wol, diu ane winkel wesen sol; […] diu wite deist der minnen craft, wan ir craft ist unendenhaft.
[…] Daz bette inmitten inne der cristallinen minne, daz was vil rehte ir namen benant. […] diu
minne soll ouch cristallin, durchsihtic und durchluter sin.“49
Die allegorische Ausgestaltung der Grotte hat in der Forschung zu konträren Meinungen geführt:
Mit weitreichender und langanhaltender Wirkung auf die weitere Forschung führte Friedrich
Ranke50 in seiner Arbeit aus, dass „die Gestaltung und Ausdeutung der Minnegrotte nach dem
Typus und Schema der tropologisch-mystischen Erklärung des Kirchengebäudes angelegt ist.
Gottfrieds Liebesbegriff wird damit als eine in die Sphären religiöser Andacht emporgesteigerte
Liebesverherrlichung verstanden, in der die Liebesgrotte als kirchlicher Tempel erscheint.“ 51
Dem setzt Herbert Kolb eine „literarische Erklärung“ entgegen, „Gottfried habe sich von der
Tradition der französischen Minne-Allegorie beeinflussen lassen.“52 Dort existiert das sogenannte
„maison d`amour“, welches parallel zum „minnen hus“53 interpretiert werden kann.54 Dennoch
kann auch Kolb nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass die allegorische Darstellungsweise
seinen Ursprung in der der Theologie findet.55
Welche Theorie nun am ehesten überzeugt, soll und kann hier nicht verhandelt werden. Prämisse
soll hier jedoch sein, dass „die Grotte als Ganzes“, wie Gottfried von Straßburg sie aufbaut und
46
G. v. S.: V16846; 16872
GOTTFRIED von Straßburg: Kommentar. S. 241
48
RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 239
49
G. v. S.: V16931ff.
50
RANKE, Friedrich: Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan. Berlin: Dt. Verl. f. Politik u. Gesch.,
1925. (Schriften d. Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswiss. Kl., 2,2)
51
GOTTFRIED von Straßburg: Kommentar. S. 232
52
Ebd. S. 233
53
G. v. S.: V17029
54
GOTTFRIED von Straßburg: Kommentar. S. 233
55
KOLB, Herbert: Der minnen hûs. Zur Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan. In: Euphorion 56.
Heidelberg: Winter, 1962. S. 242 ff.
47
13
erläutert, „ein Sinnbild der ganzen Minne“56 darstellt und die „Minne zum Absoluten
erhoben“57 wird.
Eine weitere Eigenart ihres Aufenthaltes besteht in dem sogenannten „Speisenwunder“58. Sie
benötigen keine „irdische“ Nahrung, sondern „sie sahen beide ein ander an, da generten si sich
van; […]“59 Ähnlich utopisch verfährt Gottfried in der Beschreibung der Natur: Es geschieht,
dass „die belebte und befiederte Natur die herrlichste Gesellschaft, Artûses tavelrunden (16900),
zu ersetzen vermag.“60 Zu guter Letzt verleiht Gottfried in dieser Szene dem Bildungsstand der
Liebenden einen besonders hohen Stellenwert, da deren gleichwertige Ausbildung ebenso eine
entrückte Weltenerfahrung ermöglicht. Sie erzählen sich gegenseitig Geschichten von
unglücklich Verliebten (V17183-17199), sie musizieren und singen gemeinsam (V17200-17225)
und vergnügen sich auf der Jagd (V17244-17274).
In diesen Gemeinsamkeiten zeigt sich nicht nur „die Qualität und Intensität ihrer Beziehung“61, es
ist vielmehr eine „Aufhebung der Individualität“ beim „Ineinandermusizieren“. Dieses kann als
„Gleichnis der Liebeseinheit, der unio mystica aufgefasst werden […] und [Tristan und Isolde]
können in der Tat als die wahrhaft edlen Minnenden betrachtet werden.“62
Warum sollten nun Tristan und Isolde dieses wundervolle, liebeserfüllte Leben aufgeben? Die
Antwort steht bereits zu Beginn der Episode: „sin haeten umbe ein bezze leben niht eine bone
gegeben wan eine umbe ir ere“63. Und tatsächlich appelliert König Marke mit seinem
Versöhnungsangebot an ihre Ehre, sodass sie „durch got und durch ir ere“64 an den Hof
zurückkehren. Denn es war „Ehre im Sinne gesellschaftlichen Ansehens, was ihnen in der
Minnegrotte fehlte“65.
3.4 König Marke
König Marke kommt in dieser Dreierkonstellation eine schon fast tragische Stellung zu: Ihm
werden von Gottfried Attribute wie „Schwäche, Blindheit, Sinnengier und Schwanken“66
56
Ebd. S. 238
BUSCHINGER, Danielle: Studien. S. 65
58
RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 237
59
G. v. S.: V16815-16816
60
RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 237
61
Digitale Bibliothek: Deutsche Literatur im Mittelalter. Bd.88. München: dtv, 2002
62
BUSCHINGER, Danielle: Studien. S. 65
63
G. v. S.: V16875-16878
64
G. v. S.: V17698
65
RUH, Kurt: Höfische Epik. S. 243
66
WAPNEWSKI , Peter: Tristan. S. 93
57
14
zugeschrieben, die dem Bild eines idealen Herrschers entgegenstehen, und ist dazu noch
unfähig die wahre Liebe, wie sie Tristan und Isolde erleben, zu erfahren.
König Marke wird von Beginn an hintergangen und betrogen, zeigt jedoch keine eigenständige
und vor allem dauerhafte Entscheidungskraft bezüglich des Umgangs mit den Liebenden. Immer
schwankt er in seiner Beurteilung der Situation, lässt sich sogar von weit unter ihm stehenden
Gestalten beeinflussen in seiner Entscheidung. Schließlich verweist er doch das Paar von seinem
Hofe, doch als er Isolde in der Minnegrotte in einer sittengerechten Lage vorfindet und ihre
Schönheit wiederentdeckt, will er seinen Anspruch auf seine Ehefrau erneut wahrnehmen, trotz
des Wissens um Isoldes bestehende Liebe zu Tristan. Sowohl hier als auch in der
Vertauschungsszene mit Brangäne bedeutet Liebe für Marke „Gelüst und Verlangen, reine
Sinnlichkeit“67. Er wird schuldig gesprochen, da für ihn „wîp alse wîp“ ist und er Isolde nur „zur
Freude“ benutzt, drastisch ausgedrückt ist sie „Gegenstand für ihn, eine Ware“68.
In der Figur des König Marke hat Gottfried zwei kontroverse Punkte vereint: Einerseits eine
Kritik der „Praxis der politischen Eheschließung“69, welche Marke den rein körperlichen
Anspruch auf Isolde ermöglicht. Andererseits wird „ein König – als Ehemann – betrogen“, was
„die von Gottes Willen bestimmte Ordnung der Welt verletzt“70.
Letztlich verkörpert Marke in Bezug auf die Liebesthematik die negativen Eigenschaften, die ihn
und auch andere von der Form von „minne“ entfernen, wie sie Tristan und Isolde sie erleben.
3.5 Ergebnis
Die „minne“- Problematik in Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ konnte hier nicht in
seiner ganzen Fülle an Details ausgearbeitet werden, doch eine Schlussfolgerung findet sich auch
in dieser exemplarischen Darstellung: Tristan und Isolde stehen für ein Ideal, sie sind eine
Vervollkommnung der wahren Liebe wie sie Gottfried sie sich vorstellte. Nicht umsonst wendet
sich Gottfried schon in seinem Prolog an die „edelen herzen“, die als einzige fähig seien von der
„vröude“ abzusehen und die reine Liebe erfahren zu können, die immer mit Freud und Leid
verbunden sei.
Mit der Einnahme des Minnetrankes und der gegenseitigen Bejahung ihrer ehebrecherischen
Liebe nimmt das Verhängnis, aber eben auch das Glück, seinen Lauf. Sie lieben sich heimlich,
aber innig und bedingungslos und diese Bedingungslosigkeit führt zu List und Betrügereien
67
BUSCHINGER, Danielle: Studien. S. 64
Ebd.
69
Ebd.
70
WAPNEWSKI , Peter: Tristan. S. 94.: Peter Wapnewski weist darauf hin, dass der Umstand, dass Gott sich beim
Ordal auf die Seite von Tristan und Isolde, also den Ehebrechern, stellt, noch nicht befriedigend interpretiert werden
konnte.
68
15
gegenüber der Gesellschaft und insbesondere dem Ehemann Isoldes, König Marke. Letztlich
finden sie in dem autarken und gesellschaftsentrückten Leben der Minnegrotte eine kurze Zeit
des absoluten Glücks. Sie kehren zurück, denn „das Handeln des Paares hat seine Ehre in der
Liebe, und diese Ehre steht gegen das gesellschaftliche, das soziale Ansehen, dem beide
ebenfalls verpflichtet sind. Der Konflikt ist unlösbar.“71 Wie es sich in Tristans Worten vom
„eweclichez sterben“ schon andeuten mag, wird dieser Konflikt die Liebenden in den Tod
führen, der ihnen die endgültige Vereinigung ermöglichen kann.
4
19. Jahrhundert: Richard Wagner
Die Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner kann im Zuge dieser Arbeit nicht in der
ganzen Fülle ihrer Themen behandelt werden. Der Fokus soll hier auf den gravierendsten
Änderungen des Stoffes, die Wagner gegenüber Gottfried vornahm, liegen.
4.1 Die Reduktion des Stoffes
In formaler Hinsicht sind die Änderungen offensichtlich: Gottfrieds Versroman findet sich auf
das Format eines Dramas komprimiert wieder. Komprimiert ist auch der Inhalt, denn Wagner hat
aus den 16 Teilen des Gottfriedschen Textes ein dreiaktiges Drama konzipiert, in welchem die
Vorgeschichte bis zur Brautwerbefahrt nur in Rückblenden vorkommt.
Inhaltlich hat Wagner noch wesentlich tiefer gehende Änderungen vorgenommen:
4.1.1 Die Trankszene auf dem Schiff (1. Aufzug)
Die Voraussetzungen, unter denen Tristan und Isolde die Fahrt mit dem Schiff antreten, sind
äußerlich ähnlich zu Gottfried: Tristan begibt sich auf Reise um Isolde als Braut für Marke zu
gewinnen. Innerlich hat sich jedoch etwas begeben, dass Wagner vollkommen neu formulierte:
Tristan und Isolde lieben sich, zwar noch unwissentlich, aber schon seit dem Zeitpunkt, als sich
beim Tötungsversuch durch Isolde ihre Blicke trafen. Außerdem dient der Trank hier nicht mehr
der Evozierung der Liebe aus einer zufälligen Situation heraus, sondern bekommt sogar die
vermeintliche Funktion eines Todestrankes zugeschrieben. Dass es jedoch der von der Mutter
gebraute Liebestrank sein wird, den Tristan und Isolde zu sich nehmen, ist einer bewussten
Handlung der Zofe Brangäne zuzuschreiben.
71
WAPNEWSKI: Richard-Wagner-Handbuch. S. 42
16
Der Suizidgedanke basiert auf der „von vornherein im Bewusstsein der Personen angelegten
Dualität zwischen Gesellschaftsansprüchen und Leidenschaft“72. „Ungeminnt / den hehrsten
Mann / stets mir nah zu sehen, - / wie könnt` ich die Qual bestehen!“ bedeutet nämlich für Isolde,
dass sie Tristans Zurückhaltung nicht ertragen kann und ein gemeinsames Leben nicht möglich
scheint. Auch Tristan ist zunächst noch seinen „Werten von Ehre und Ruhm verhaftet und hatte
[…] noch nicht den wahren, höchsten Wert, die Liebe, erkannt.“73 Dies konstatiert sich in
folgenden Worten: „Tristans Ehre - / höchste Treu`: / Tristans Elend - / kühnster Trotz. / Trug
des Herzens; / Traum der Ahnung: / ew`ger Trauer / einz`ger Trost, / Vergessens güt`ger Trank!
Dich trink` ich sonder Wank.“ Bestand bei den Gottfriedschen Figuren noch ein Wunsch nach
Anerkennung durch die Gesellschaft, ist Wagners Werk eine totale Loslösung von dem Konflikt
mit der Gesellschaft immanent. Epochale Einflüsse sind hier zu erkennen: Das Bürgertum wird
zunehmend vom Staat infiltriert, was zu Einschränkungen im privaten Lebensraum führt und
wiederum in Konsequenz den Drang nach Individualität und Entfaltungsmöglichkeiten
befördert.74 Hinzu kommt Wagners Beschäftigung mit Arthur Schopenhauers romantischer
Philosophie, welche Weltverneinung, Aufgabe der Individualität und eine Absage an den
Weltwillen postuliert.75 Diese Einwebung der Philosophie Schopenhauers wird im zweiten
Aufzug im endgültigen Beschluss zum gemeinsamen Tod seinen Höhepunkt finden.
4.1.2 Gartenszene (2. Aufzug)
Diese Szene ist den Liebenden und ihrer intimen Vereinigung gewidmet. Wagner hat die
Baumgarten- und die Minnegrottenszene und alle heimlichen Begegnungen der Liebenden des
mittelalterlichen Textes komprimiert und in der Form eines mittelalterlichen Tagelieds76 vereint.
Wichtig erscheint hier u. a. das Motiv der Fackel, welche als äußeres Zeichen für Tristan zur
sicheren Begegnung mit Isolde dient. Doch der Fackel und ihrem Licht kommt eine noch
tiefgründigere Bedeutung zu – sie steht für den Tag: „Dem Tag! Dem Tag / Dem tückischen
Tage, / dem härtesten Feinde / Haß und Klage! / Wie du das Licht, / o könnt` ich die Leuchte, /
der Liebe Leiden zu rächen, / dem frechen Tage verlöschen!“ Der Tag symbolisiert die
Bedrohung durch die Gesellschaft77, die Nacht hingegen ist „heilig“, die Zeit, „wo ur-ewig, /
einzig wahr / Liebes-Wonne ihm lacht.“
72
ROSENBAND, Doris: Das Liebesmotiv in Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“. Göppingen:
Kümmerle, 1973. S. 34. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 94)
73
WAPNEWSKI: Richard-Wagner-Handbuch. S. 43
74
Vgl. GRILL, Dorothee: Tristan-Dramen. S. 42
75
Vgl. MAYER, Hans. Richard Wagner. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt, 1959.
76
Vgl. WAPNEWSKI: Richard-Wagner-Handbuch. S. 44
77
Vgl. GIER, Albert: Das Libretto. S. 168
17
Kohärent mit der Sehnsucht nach der Nacht ist die Sehnsucht nach dem Tod, denn erst im
Verlassen dieser Welt, in der Dunkelheit, können Tristan und Isolde „höchste Liebes-Lust“
erleben. Das begründet sich „in der romantischen Auffassung“ von Liebe, denn dort „wird ja die
Einheit von Liebeserfüllung und Tod postuliert“78, wie es sich nicht nur bei Schopenhauer
sondern auch bei Novalis („Hymnen an die Nacht“) finden lässt.
Im Gegensatz zu Gottfried, der die „Problematik des Liebesverhältnisses […] niemals aus dem
öffentlichen Geschehen entfernt“79, sublimiert Wagner die Abgeschiedenheit des Gartens und die
Form des Tageliedes zu dem, „was im Epos die Allegorie der Minnegrotte leistet: Die
Überhöhung und Verklärung“80 des Liebesglücks. Zu dieser Verklärung gehören auch folgende
Worte, die Tristan nach ihrer Entdeckung mit einem „mitleidigen“ Blick an König Marke richtet:
„O König, das - / kann ich dir nicht sagen; / und was du frägst, / das kannst du nie erfahren.“
Denn hiermit schließt Tristan Marke aus dem Kreis der wahrhaft Liebenden aus, da dieser solch
eine Liebe „nie erfahren“ könne, da sie, transzendent, in eine „andere“ Welt gehöre.81
4.1.3 Auf der Burg (3. Aufzug)
Von diesem Akt an muss Wagner auf die Fortsetzung von Freiberg zurückgegriffen haben, denn
Gottfrieds Werk endet mit der Episode von Isolde Weißhand. Doch führt man den Gedanken des
mittelalterlichen Tristans vom „eweclichez sterben“ konsequent aus, kann man ein ähnlich
dramatisches Ende der Liebenden auch in der Gottfriedschen Sage imaginieren.
Die Todessehnsucht Tristans zieht sich als Leitmotiv durch alle drei Akte: Er erkennt und nimmt
wie selbstverständlich die todbringende Wirkung des Trankes auf sich, im zweiten Aufzug
verletzt er sich selbst, ohne vorherigen Kampf, mit dem Schwert von Melot und zu guter Letzt
entfernt er bewusst den Verband von seiner Wunde.82 Mit ihren Worten im zweiten Akt
vermitteln die Liebenden auch gemeinsam ihren innigsten Wunsch: „So starben wir / um
ungetrennt, / ewig einig / ohne End` / ohne Bangen, / namenlos / in Lieb` umfangen, / ganz uns
selbst gegeben / der Liebe nur zu leben.“ Nur konsequent erscheint somit der kollektive
Liebestod,
der
eine
„metaphysische
Wesenseinheit,
die
einfließt
jenseits
alles
Verstandesbewusstseins, in die Dynamik der schaffenden Gewalt des Alls“83 darstellt.
78
GEERDTS, Hans Jürgen: Thomas Manns „Tristan“ in der literarischen Tradition. In: Wenzel, Georg (Hrsg.):
Betrachtungen und Überblicke. Zum Werk Thomas Manns. Berlin(Ost)/Weimar, 1966. S. 198
79
Ebd. S. 199
80
WAPNEWSKI: Richard-Wagner-Handbuch. S. 44
81
WAPNEWSKI, Peter: Richard-Wagner-Handbuch. S. 46
82
Vgl. RICHARD WAGNER: Tristan und Isolde. Textbuch m. Varianten der Partitur. Hrsg. von Egon Voss.
Stuttgart: Reclam 2003. S. 120
83
BERTRAM, Johannes: Mythos, Symbol, Idee in Richard Wagners Musik-Dramen. Hamburg: Kulturverlag, 1957.
S. 247
18
Würde an diesem Punkt nur der Schopenhaueresche Einfluss geltend gemacht, wäre die Sicht
auf Wagners Werk sehr einseitig: Zwar ist unbestritten, dass das gemeinsame Begehren der
Liebenden nach „Erlösung von den Grenzen des Ichs“84, was zwangsläufig den Tod nach sich
zieht, auf Schopenhauer zurückzuführen ist, doch kann ebenfalls Platons Liebesphilosophie in
Grundzügen
wiedererkannt
werden.
Nach
Platon
ist
nämlich
das
„unbezwingbare
Zueinanderstreben“ des Paares die „Erinnerung an ihre Urzusammengehörigkeit, die die Seele
vor ihrer Geburt geschaut, danach jedoch, im Leben selbst, wieder vergessen hat.“85
4.2 Ergebnis
Wagners Oper „Tristan und Isolde“ ist beherrscht von den Begriffen der „Liebe, Liebesnot,
Liebesqual, Liebestrieb, Liebestod.“86 Seine Vorstellung von Liebe muss in Zusammenhang mit
biografischen Umständen und der Epoche gesehen werden, denn im 19. Jahrhundert konnte man
sich wohl kaum der Einflüsse der Romantik und ihrer großartigen Denker erwehren. So hebt
Wagner den bei Gottfried vorherrschenden Gegensatz zwischen Natur- und Sittenrecht auf und
versucht den „Heilsweg zur vollkommenen Beruhigung des Willens durch die Liebe, und zwar
nicht in seiner abstrakten Menschenliebe, sondern der wirklich, aus dem Grunde der
Geschlechtsliebe […] nachzuweisen.“87
Der Konflikt mit der Gesellschaft, wie er bei Gottfried noch im Spannungsverhältnis Liebe –
Ehre auftrat, besteht bei den Wagnerschen Charakteren nicht mehr. Sie „definieren“ sich „einzig
über ihre wechselseitige Liebe.“88 Im mittelalterlichen Epos setzen sich die Liebenden immer
wieder mit ihrer „Schmach“ bzw. ihrer „Ehre“ und „Treue“ gegenüber der Gesellschaft,
insbesondere gegenüber Marke, auseinander. Dem König kam bei Gottfried insofern eine aktive
Rolle zu, als dass er ein Gegenpart zu Tristans und Isoldes „minne“ der „edelen herzen“
repräsentierte und in den schicksalhaften Verlauf der Geschichte mit eingebunden war. Wagner
hingegen spart ihn als aktive Gestalt vollkommen aus, so wie die übrigen Mitglieder der
Gesellschaft. Ihnen allen kommt eine Statistenrolle zu, die die Entwicklung der Handlung nur
indirekt mitbestimmen – ausgenommen natürlich Brangäne, welche nicht nur den Tausch der
Getränke vornimmt, sondern schließlich Marke von diesem Vorgang erzählen wird. Die
„Handlung“ im dramatischen Sinne findet jedoch bei Wagner im Inneren der Charaktere statt,
84
URMONEIT, Sebastian: Die Tragödie einer unmöglichen Liebe. In: WAGNER: Tristan und Isolde. Handlung in
drei Aufzügen. Ein Opernführer. Hrsg. von der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Frankfurt/M; Leipzig: Insel,
2000. S. 56
85
Ebd. S. 55
86
WAPNEWSKI, Peter: Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden. München: dtv, 1982. S. 45, 46
87
Wagner Brief: Venedig, 1. Dezember 1858 (an Mathilde Wesendonck)
88
GIER, Albert: Das Libretto. S. 168.
19
ihre „Seelenzustände spiegeln den Zustand der Außenwelt“ und „diese Verlagerung der Welt
ins Innere der Subjekte eröffnet die Möglichkeit, alles, was Welt bedeutet und was sie zu bieten
hat, durch das Subjekt zu transzendieren.“89 Carl Dahlhaus sieht außerdem die Intention
Wagners, „daß im Tristan das innere Drama, auf das es ankommt, aus der Verkrustung durch das
äußere, durch das Gedränge der Ereignisse, befreit“90 werde.
Zu guter Letzt soll an dieser Stelle Wagner selbst zu Wort kommen: „Da ich nun aber doch im
Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller
Träume noch ein Denkmal setzen, in dem vom Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so
recht sättigen soll: Ich habe im Kopf einen Tristan und Isolde entworfen, die einfachste, aber
vollblutigste musikalische Konzeption; mit der „schwarzen Flagge“, die am Ende weht, will ich
mich dann zudecken, um – zu sterben.“91
.
5
20. Jahrhundert: Thomas Mann
Wie fügt sich nun Thomas Manns Novelle „Tristan“ in die literarische Rezeption des
Gottfriedschen Epos ein? Nachweislich war ihm der mittelalterliche Text zur Entstehungszeit der
Erzählung nicht bekannt92, demnach muss Thomas Mann eine andere Form der Rezeption erlebt
haben. Im 19. Jahrhundert ist die „Sage von Tristan und Isolde […] noch mehr als bisher zum
Bestandteil des allgemeinen literarischen Kulturgutes geworden.“93 Richard Wagner ließ den
Mythos um das tragische Liebespaar noch in der mittelalterlichen Welt seiner Oper
wiederauferstehen, Thomas Mann hingegen konnte „seine Hauptcharaktere in die Gegenwart
transponieren“, sodass „der Titel [seiner Novelle] symbolhaft ausreicht die Assoziation zu
Wagner und Gottfried herzustellen.“94 Besagte Assoziationen sollen nun in Zusammenfassung
der einzelnen Kapitel, mit Herausstellung des 8. Kapitels, erläutert werden.
5.1 Kapitel 1-7
Wie es Herbert Lehnert in seinem Aufsatz 95 erläutert hat, können die Kapitel 1 bis 5 als eine
„Exposition“ angesehen werden, die durch Vorstellung der Charaktere die ab dem 6. Kapitel
89
BERMBACH, Udo: Tagsgespenster, Morgenträume. Reflexionen zu „Tristan und Isolde“. In: WAGNER: Tristan
und Isolde. Handlung in drei Aufzügen. Ein Opernführer. Hrsg. von der Staatsoper Unter den Linden Berlin.
Frankfurt/M; Leipzig: Insel, 2000. S. 89
90
DALHAUS, Carl (Hrsg.): Richard Wagners Musikdramen. Velber : Friedrich, 1971. S. 55.
91
Wagner Brief: Zürich, um den 16. Dezember 1854 (an Franz Liszt)
92
Vgl. MENDELSSOHN, Peter de:Nachbemerkungen. S. 79
93
GRILL, Dorothee: Tristan-Dramen. S. 29
94
Ebd.
95
Vgl. LEHNERT, Herbert: „Tristan“, „Tonio Kröger“ und „Der Tod in Venedig“. Ein Strukturvergleich. In: Orbis
Litterarum 24, 1969, S. 271-304
20
beginnende Handlung vorbereiten. Nach vorsichtiger Kontaktaufnahme beginnen nun nämlich
Gabriele Klöterjahn und Detlev Spinell eine Beziehung aufzubauen, eine Annäherung, die
aufgrund ihrer doch sehr unterschiedlichen Charaktere als nicht selbstverständlich erscheint.
Über Spinell sagt Thomas Mann: Er ist „entschieden eine komische Figur, was nicht besagt, daß
der Autor ihn durchaus als verächtlich hinstellen will. Er ist ein Ästhet, der im Zusammenstoß
mit einem Mann der praktischen Realität eine klägliche Rolle spielt, aber gegen den ordinären
Klöterjahn vertritt er mit seinem skurrilen Schönheitssinn doch schließlich das höhere Prinzip.“96
Gabriele Klöterjahn - krank, schwach, weich, gleichzeitig aber schön, graziös, unirdisch umgeben nach ihrer Bekanntschaft mit Spinell zwei konträre Lebensauffassungen und – weisen.
Das Bürgerliche, „Ordinäre“, äußert sich in Form ihres Ehemanns und ihrem außerordentlich
vitalen Sohn Anton. Den Gegenpol stellt Spinell ganz allein dar, der „einzelgängerisch sein
Leben der Schönheit geweiht“97 hat und sogar von anderen Patienten als „verwester Säugling“
bezeichnet wird.
Gabrieles Zuneigung zu dem Schriftsteller Spinell scheint zunächst rein höflicher und
neugieriger Natur zu sein. Spinell hingegen „verehrt“ Gabriele auf fast „dekadente“ Weise: Sie
„bietet ihm nur die figurale Vorstellung eines Mythos; sie ist also „Rollenträgerin“, die formale
Repräsentantin einer Abstraktion“98. Das äußert sich z. B. in seiner Abneigung gegenüber ihrem
Nachnamen, den er als „komisch und zum Verzweifeln unschön“ bezeichnet. Außerdem verklärt
er beharrlich die sogenannte „Springbrunnenszene“, in welcher Gabriele Eckhof eine „kleine
goldene Krone, ganz unscheinbar aber bedeutungsvoll“ trug.
Schließlich beginnt Gabriele sich zunehmend, abseits des Einflusses von ihrem Ehemann, der
Ästhetisierung der Welt und ihrer Person seitens Spinells zu öffnen.
5.2 Kapitel 8- 12
Im 8. Kapitel vollzieht sich nun auf inhaltlicher Ebene die „eigentliche Verführung [Gabrieles] in
die ästhetische Welt [Spinells]“99, auf formaler Ebene hingegen lassen sich derart viele
intertextuelle Bezüge zu Wagner nachweisen, die aufgrund ihrer Fülle in dieser Arbeit nicht
vollständig erwähnt werden können.100
96
T.M. an Norbert Jobst: Erlenbach, 24.3. 1953.
WAPNEWSKI, Peter: Tristan. S. 179
98
GEERDTS, Hans Jürgen: „Tristan“. S. 193
99
LEHNERT, Herbert: „Tristan“. S. 283
100
Sehr ausführlich, anschaulich und überzeugend führt Frank W. YOUNG die Parallelen zw. Wagner und Mann
auf. Die schematischen, tabellarischen Vergleiche der treffenden Passagen sind eine sehr nützliche
Interpretationshilfe.
97
21
Alle Einwohner des Sanatoriums sind zu einer Schlittenpartie aufgebrochen, einzig Gabriele,
ihre ständige Begleiterin Frau Spatz und Spinell entziehen sich diesem Ausflug. Im
Konversationszimmer treffen diese Drei nun aufeinander. Schon diesem äußerlichen Rahmen
sind einige Parallelen zu Wagners Oper immanent: Die Schlittenpartie „has been compared to the
hastily arranged nocturnal hunting expedition which sets the events of the second act in
motion.“101 Gabriele und Rätin Spatz „are, as were Isolde and Brangäne at the corresponding
point, spiritually worlds apart.“102 Das Zimmer repräsentiert in gewisser Form durch seine
Abgeschiedenheit und das dortige Geschehen das wagnersche Liebesidyll in der Gartenszene.
Wie auch dort Brangäne, wird sich Rätin Spatz zu einem gewissen Zeitpunkt zurückziehen und
die Musizierende und den „Musiklehrer“ allein lassen. Als Spinell nach Gabrieles Vortrag
mehrerer Nocturne von Chopin plötzlich die Partitur von „Tristan und Isolde“ entdeckt, wird er
„ganz bleich, ließ das Buch sinken und sah sie mit zitternden Lippen an.“ Analogien zu Wagners
dramatischen Anweisungen zur Liebestrankszene sind präsent, was sich schon zuvor u. a. in
Spinells „Durst“ nach Musik andeutet.
Als Gabriele mit dem zweiten Aufzug der Oper, dem Liebesduett beginnt, - sie sind inzwischen
unter sich - verwendet Thomas Manns verstärkt textgetreue Zitate, er lässt den Erzähler
„zwischen Wagners Text und einer enthusiastisch überhöhten Prosa“ spielen, dieser „fasst in
Worte, was in Spinell und Gabriele vorgeht.“103 Eine Differenzierung zwischen der Oper und der
Novelle, zwischen Gabriele-Spinell oder Tristan-Isolde, ist im Klavierspiel von Gabriele nahezu
aufgehoben.104 Am Punkt der berühmten Passage „Du Isolde, Tristan ich, nicht mehr Tristan,
nicht mehr Isolde“ werden Gabriele und Spinell ebenso wie Tristan und Isolde in ihrer trauten
Zweisamkeit durch Eindringen der Hofgesellschaft, hier verkörpert durch die Pastorin
Höhlenrauch, gestört. Anders als Tristan und Isolde kommen sich Gabriele und Spinell in dieser
Situation keineswegs körperlich näher, sie verbindet einzig eine „ästhetische Liebesvereinigung
im Medium der Musik.“105 Dem Handlungsverlauf entsprechend spielt Gabriele nach der kurzen,
„erschreckenden“ Störung durch Frau Höhlenrauch „den Schluss des Ganzen, spielte Isoldens
Liebestod“.
Dass diese „Vereinigung“ keinen positiven Ausgang für Gabriele haben wird, die sich gegen
ärztlichen Rat dieser aufrührenden Musik vollkommen hingegeben hat, deutet sich zwar bereits
im anschließenden Kapitel an, aber nach der komisch anmutenden Auseinandersetzung zwischen
101
YOUNG, Frank W.: Montage and Motif in Thomas Mann`s “Tristan”. Bonn: Bouvier, 1975. (Abhandlungen zur
Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; Bd.183). S. 30
102
Ebd.
103
LEHNERT, Herbert: „Tristan“. S. 283
104
Vgl. NORTHCODE-BADE, James: Die Wagner-Mythen im Frühwerk Thomas Manns. Bonn: Bouvier, 1975.
(Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; Bd.167). S. 49
105
LEHNERT, Herbert: „Tristan“. S. 283
22
Herrn Klöterjahn und Spinell ändert sich Frau Klöterjahns Situation radikal. Denn „sie saß
ganz ruhig im Bette und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, und da kam es, lieber Gott,
so übermäßig viel [Blut]…“. Ihr Tod steht demnach kurz bevor. In der Reaktion Spinells auf
Gabrieles Tod zeigt sich besonders deutlich die parodistische Umformung von Wagners Oper
und insbesondere die damit verbundene Intention Manns, den „Konflikt des Künstlers mit der
Gesellschaft“106 aufzeigen zu wollen. Denn Spinell zeigt keine emotionale Regung über das
Ableben seiner „Angebeteten“, die „schon in der ersten leidenschaftlichen Expression zum Tode
verurteilt wird.“107 Stattdessen verunsichert ihn vielmehr die Begegnung mit dem vor Vitalität
strotzenden Sohn Gabrieles, in welchem sich „sein Ästhetizismus […] verletzt wähnt.“108
Ebenso steht Gabrieles Tod nicht im Sinne von Wagners Liebestod: Es ist „einer in Isolde, ist ein
Tod in Kunst.“109
5.3 Wagners musikalische Konzeption bei Mann
In der Beschäftigung mit Thomas Mann Novelle erscheint es schier unmöglich, sich nicht,
zumindest umreißend, mit Manns Verhältnis zu Wagners Musik und dem daraus resultierenden
Einfluss auf sein literarisches Gestalten auseinanderzusetzen.
Schon in den „Buddenbrooks“ spielt die Musik Wagners und insbesondere „Tristan und Isolde“
eine gewichtige Rolle. Doch „Tristan ist der erste große Versuch, Wagnersche Musik mit Worten
zu vergegenwärtigen“110 und steht dadurch singulär im Schaffen von Thomas Mann.
Ungewöhnlich ist auch die Mann auszeichnende Ambivalenz in seiner Beziehung zu Wagner:
Einmal vertritt er eine an „Sucht grenzende[...] Begeisterung“, dann wieder „die der schieren
Antipathie.“111 Mal ordnet sich Thomas Mann in die Reihe der „Wagnerianer“ ein, dann geht er
genau dagegen vor. Deshalb wird seine Novelle auch als „Satire“, die sich „mitnichten gegen das
Werk WAGNERs, sondern gegen die WAGNER-Schwärmerei und gegen die wagnerisierenden
Ästheten“112 vorgeht, interpretiert.
Schließlich soll noch das Stichwort des „Leitmotivs“ genannt werden. Es basiert auf der Kunst
Wagners, „der Handlung auf der Bühne das enthüllende Motiv aus dem Orchester“ 113
entgegenzuhalten und findet sich literarisch umgesetzt in dem „blauen Äderchen“ von Gabriele,
in der ständigen Verwendung von dem Wort „schön“ und nicht zuletzt in dem „Stückchen
106
WAPNEWSKI, Peter: Tristan. S. 181
GEERDTS, Hans Jürgen: „Tristan“. S. 194
108
Ebd.
109
WAPNEWSKI, Peter: Tristan. S. 182
110
KOOPMANN, Helmut (Hrsg): Thomas-Mann-Handbuch. S. 559
111
KOOPMANN, Helmut: Thomas-Mann-Handbuch. S. 329
112
KOOPMANN, Helmut: Thomas-Mann-Handbuch. S. 559
113
GREGOR-DELLIN, Martin: „Tristan“ – Faszination für einen Dichter. In: WAGNER, Wieland (Hrsg.): Hundert
Jahre Tristan. Neunzehn Essays. Emsdetten: Lechte, 1965,
107
23
Musik“, welches Gabriele kurz vor ihrem Blutsturz und Spinell vor der Begegnung mit Anton
summt.
In seinem fulminanten Essay „Leiden und Größen Richard Wagners“ artikuliert Mann sein
Verhältnis zu Richard Wagner im Detail: „Die Passion für Wagners zaubervolles Werk begleitet
mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr wurde und es mit zu erobern, es mit Erkenntnis zu
durchdringen begann. Was ich ihm als Genießender und Lernender verdanke, kann ich nie
vergessen, nie die Stunden tiefen, einsamen Glückes inmitten der Theatermenge, Stunden voll
von Schauern und Wonnen der Nerven und des Intellekts, von Einblicken in rührende und große
Bedeutsamkeiten, wie eben nur diese Kunst sie gewährt.“114
5.4 Ergebnis
Thomas Manns Novelle konnte in dieser Arbeit kaum gerecht werden, aber einige Punkte
konnten geklärt werden: Mann steht nicht mehr in der literarischen Rezeption des Epos von
Gottfried, er erfährt vielmehr eine neue Sichtweise auf das Mittelalter und ihre Mythen. Einige
Forscher erzwingen unverständlicherweise trotzdem eine Assoziation zu Gottfried von
Straßburg. Sicherlich ist Manns „Beschreibung der Tristan-Musik […] nicht die Konfession einer
unio mystica erotica in der Auffassung Gottfrieds von Straßburg“115, genauso wenig sollte aber
die These aufgestellt werden, die Mann in direkte Verbindung mit Gottfried bringt, dass Thomas
Mann „als realistisch orientierter Künstler“ den „humanistischen Kern der Aussage Gottfrieds“
herausarbeitet und damit „die Unterdrückung der Frau in der bürgerlichen Klassengesellschaft
enthüllt.“116
Omnipräsent ist hingegen Richard Wagners „Tristan und Isolde“, welches für Mann die
Projektionsfläche für seine Kritik an der Dekadenz und für den Konflikt des Künstlers mit der
Gesellschaft darstellte. Dafür verwendet er in Vollendung sein „Welterkenntnis-Mittel“117, die
Ironie, und auch das wagnersche Leitmotiv.
Zum Schluss gebührt Thomas Mann noch einmal das Wort: „Es war die Zeit der Maienblüte
meiner Begeisterung für das 'Opus metaphysicum', und ich habe mich da wohl wirklich etwas
gehen lassen. Aber Musikbeschreibung war immer meine Schwäche (und Stärke?).“118
114
MANN, Thomas: Leiden und Größen Richard Wagners. S. 373 (MANN, Thomas: Gesammelte Werke in zwölf
Bänden. Reden und Aufsätze. Bd.4. Oldenburg: Fischer, 1960)
115
GEERDTS, Hans Jürgen: Tristan. S. 201
116
Ebd. S.206
117
WAPNEWSKI, Peter: Tristan. S. 174
118
An Friedrich H. Weber. Erlenbach, 24.3.1953
24
6
Schlussbetrachtung
Die Auseinandersetzung mit diesen drei Werken hat eines deutlich gemacht: Die Begeisterung
für den Mythos um „Tristan und Isolde“ ist über die Jahrhunderte hinweg nicht geschwunden.
Gottfried von Straßburg hat mit seinem Epos die nachfolgende Rezeption maßgeblich
beeinflusst, auch wenn ihm die gebührende Aufmerksamkeit erst später zukam. Dennoch hat sich
gezeigt, welche provokative Aussage er in seiner Auffassung von Liebe im Kontrast zur
damaligen Gesellschaft vertreten hat und wie er dadurch erst zur Vorlage für Richard Wagners
Oper werden konnte. Schließlich hätte sich dieser auch für eine andere Version, wie z. B. der
Eilhartschen Fassung, zuwenden können. Doch offensichtlich faszinierte Wagner die in
Gottfrieds Werk ausgedrückte Unabdingbarkeit der Liebe zwischen Tristan und Isolde, sodass er
sich bei seiner Rezeption auf diese Thematik beschränkte und auf seine Weise interpretierte.
Wagners Interpretation erhebt Tristan und Isolde zu einem Beispiel für die Freiheit des
Individuums, Freiheit zur schrankenlosen Liebe, die sich den Beschränkungen durch die
Gesellschaft nicht stellen kann und will.
Es könnte sich nun die Frage stellen, warum eine Novelle des 20. Jahrhunderts, die sich
inhaltlich einzig auf die Oper von Wagner bezieht, in diese Analyse Eingang gefunden hat:
Thomas Mann war zur Entstehungszeit der Novelle in Empathie und Sympathie zu Wagner
entbrannt, entwickelte dennoch ein eigenständiges Substrat aus dem Mythos um „Tristan und
Isolde“ .
Thomas Mann steht damit als Exempel für eine neuartige Rezeptionsweise, die sich dem
Mittelalter nicht mehr in verherrlichender Weise wie die Romantik zuwendet, sondern das
Kulturgut aus dieser Epoche zum produktiven Umgang mit der jeweiligen Zeitthematik nutzt.
Mann übernahm den Grundkonflikt, der aus einer unmöglichen Beziehung zwischen zwei
Personen besteht, die wiederum im Kontrast zur Umwelt stehen, und adaptierte diesen in die
Gegenwart. Bei der Analyse der Novelle ist eine Unterscheidung in Kategorien wie „Liebe“,
„Bildung“ und ähnliches nicht mehr möglich. Stattdessen muss der Mythos um Tristan und
Isolde durch seinen kritischen Gehalt als geeignete Projektionsfläche für neuzeitliche
Vorstellungen angesehen werden und daraufhin kann eine Interpretation erfolgen.
Zuletzt soll Richard Wagner noch einmal das Wort gebühren, dessen Werk eine weitreichende
Wirkung auf die weitere, aber auch auf die zurückliegende, Analyse der Rezeptionsgeschichte
25
gehabt hat. So wie es auch Mann vielleicht persönlich erfahren, auf jeden Fall literarisch
umgesetzt hat, sollen folgende Zeilen als Prämisse jeglicher Rezeption diese Arbeit abschließen:
„Du Isolde,
Tristan ich,
nicht mehr Tristan,
nicht Isolde;
ohne Nennen
ohne Trennen,
neu Erkennen,
neu Entbrennen;
endlos ewig
ein-bewußt:
heiß erglühter Brust
höchste Liebes-Lust!“
26
7
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