Morgenandachten von Professor Dr. Schallenberg

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Morgenandachten von Professor Dr. Schallenberg
Morgenandachten WDR 6. bis 11. 8 2007 – Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg
Montag 6. August
Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer! In dieser vor uns liegenden Woche, mitten im Sommer
und in der Ferienzeit, möchte ich mit Ihnen in Gedanken zu einem europäischen Ferienziel
aufbrechen, nämlich nach Rom. Jeden Tag werden wir einen besonderen Punkt in Rom aufsuchen
und uns dort einige Gedanken machen. Heute Morgen lade ich Sie ein in den Süden von Rom, an
die Via Appia Antica. Dort steht, fast unbemerkt und sehr schmucklos, am Straßenrand das kleine
Kirchlein "Domine quo vadis". Zu Deutsch: "Herr, wohin gehst Du?" Die Kirche kündet von einer
legendären Begebenheit aus der Frühzeit des Christentums, 64 oder 67 nach Christus. Damals
soll der Apostel Petrus in der großen Christenverfolgung des Kaisers Nero versucht haben, sich
durch Flucht aus der Stadt Rom in Sicherheit zu bringen. Auf der Flucht vor den Häschern soll ihm
dann just an dieser Stelle der Via Appia Antica Christus mit dem Kreuz auf den Schultern begegnet
sein, Petrus entgegenkommend und sich zur Stadt wendend. Und auf die einigermaßen erstaunte
Frage des Petrus "Herr, wohin gehst Du?", soll der Herr geantwortet haben: "Ich gehe, um mich
ein zweites Mal kreuzigen zu lassen!" Da durchzuckt es Petrus wie ein Blitz, sofort erkennt er
seinen Irrtum, kehrt um und stirbt bald darauf den Märtyrertod. Die kleine Kirche aber hält bis
heute die Erinnerung an diese Sternstunde des Christentums wach.
Nur eine belanglose Geschichte, nur eine Fußnote der Kirchengeschichte, nur ein gut
ausgedachtes Märchen? Oder steckt mehr dahinter? Freilich - ob diese Szene sich historisch
nachprüfbar wirklich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Aber darauf kommt es auch eigentlich gar
nicht an. Wichtig ist, dass diese Geschichte wichtig wurde: wichtig und bedeutsam für viele
Menschen in ihrem eigenen Leben. Wichtig, um zu verstehen, was denn nun wirklich wichtig sei im
Leben, so wichtig, dass man dafür auch zu sterben bereit wäre. Denn darauf käme doch wohl alles
an im Leben: Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden, Vordringliches nicht vom
Nachgeordneten verdrängen zu lassen, am Ende des eigenen Lebens nicht mit leeren Händen
oder gar vor dem Scherbenhaufen eines bloß verbrachten Lebens zu stehen. Was also zeigt die
kleine Geschichte von Jesus und Petrus?
Mir scheint, der Schlüssel ist genau in der Frage des Petrus zu finden, der dann der Kirche den
Namen gab: "Herr, wohin gehst Du?" Ja, ganz einfach und fast naiv gefragt: Wohin geht der Herr,
wohin ist er unterwegs? Und die Antwort lautet: Er geht dorthin, wo wir nicht sind, wo wir uns
entziehen, wo wir scheinbar Besseres vorhaben, wo wir Aufgabe und Pflicht und Treue und
Beistand vernachlässigen. Denn dazu ist Gott doch Mensch geworden und ans Kreuz gegangen:
um jedem Menschen in seiner Not nachzugehen und beizustehen, um gerade den Ärmsten und
Verlassenen die Liebe des Vaters zu offenbaren. Im Abendmahlssaal sagt Jesus zu den Jüngern:
"Tut dies zu meinem Gedächtnis!" Und er meint keineswegs nur die Feier der Eucharistie, er meint
genauso auch das Zeugnis der Liebe. Einer oft stillen und fast unscheinbaren Liebe zu jedem
Menschen, zu den Menschen in der eigenen Umgebung und Nachbarschaft, den Ausgegrenzten
und Ausgestoßenen. Wenn wir da fehlen und uns dieser Tat der Liebe entziehen - dann wäre er in
der Tat gezwungen, ein zweites Mal sich kreuzigen zu lassen. (Ende der Kurzfassung, 3 min. 30)
Es gibt in Deutschland eine Kirche, die fast die natürliche Ergänzung zu dem römischen Kirchlein
"Domine quo vadis" darstellt: St. Ludgeri in Münster. Dort nämlich hängt im Seitenschiff ein
Kruzifix, das bei einem Bombenangriff des 2. Weltkriegs beide Arme verloren hatte. Und an Stelle
der Arme brachte man nach dem Krieg die Inschrift an: "Ich habe keine anderen Hände als die
euren!" Das ist es, ganz einfach und ganz schwierig zugleich: Durch jeden von uns will Gott und
seine Liebe zu den Menschen kommen! Und jeden von uns erwischt früher oder später die Frage:
Bin ich wirklich da, wo ich gebraucht werde - Oder bin ich nur da, wo ich etwas verdiene? Bin ich
wirklich da, wo es wichtig ist - Oder bin ich nur da, wo ich mich wichtig machen kann? Bin ich
wirklich beim Mitmenschen - Oder bin ich in Wirklichkeit nur bei mir selbst? Ich wünsche Ihnen für
heute diese aufrüttelnde Frage des hl. Petrus: Herr, wohin gehst Du? Und wohin bin ich
unterwegs? (Ende der Langfassung 4 min 10)
Dienstag 7. August
Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer! Heute morgen möchte ich Sie auf einer kleinen
geistigen Reise nach Rom entführen, genauer gesagt: An den nördlichen Stadtrand, in die
Priscilla-Katakomben an der Via Salaria, einer alten römischen Konsularstraße. Hier findet sich
eine der ältesten und zugleich weitläufigsten römischen Katakombenanlagen. Ursprünglich handelt
es sich um heidnische, später auch christliche unterirdische Begräbnisstätten, viele Kilometer unter
der Erde. Die Toten wurden in Tücher gehüllt in Grabnischen gelegt, die in mehreren Stockwerken
übereinander aus dem weichen römischen Tuffstein gegraben und mit einer Grabplatte
verschlossen wurden. Sowohl die Heiden wie auch die Christen pflegten den Brauch, an
bestimmten Tagen des Jahres in das kühle Dämmerlicht der unterirdischen Friedhöfe
hinabzusteigen und dort am Grab eines lieben Verstorbenen gemeinsam Mahl zu halten. Noch
heute ist das gute Gewohnheit in vielen Ländern der Welt, in Südeuropa und Lateinamerika, aber
auch im beispielsweise in Georgien, wo manches Grab sogar einen steinern Tisch und eine Bank
bereit hält: Man hält die Gemeinschaft mit den Toten durch ein Essen am Grab. Und wiederum bis
heute wird dieser uralte Brauch in jedem christlichen Gottesdienst lebendig: Wir beten für unsere
Verstorbenen, wir stehen gemeinsam mit ihnen vor Gott und wir hoffen für sie und für uns dereinst
auf die Auferstehung von den Toten. Es ist, wie einst die hl. Monika beim Sterben zu ihrem Sohn
Augustinus sagte: "Weint nicht um mich, sondern gedenket meiner am Altare Gottes!"
Ein kluger Mann hat einmal gesagt: Sage mir, wie Du dich um die Verstorbenen sorgst, und ich
sage Dir wer Du bist! Es sagt viel aus über ein Volk, über uns selbst und unser Leben, wie
lebendig wir die Toten im Gedächtnis haben, wie wir Friedhöfe und Erinnerungen pflegen, wie
dankbar wir den Menschen sind, die von uns gegangen sind und ohne die wir nicht wären, was wir
sind! Gerade das war der tiefere Sinn der tief unter der Erde gelegenen christlichen Katakomben:
Sie gaben Gelegenheit, nicht nur dankbar an die Toten zu denken, sondern ebenso als Lebende in
die Tiefe des eigenen Lebens und der eigenen Erinnerung hinabzusteigen. Ein Mensch, der sich
nicht erinnert, ist bei lebendigem Leibe tot, verdorrt und ohne Wurzeln. Jeder von uns lebt ja mit
vielfältigen Wurzeln und Ursprüngen. Niemand von uns wurde gefragt, ob er gezeugt und geboren
werden wollte. Jeder geht unwidersprochen und selbstverständlich davon aus, dass es ein
wunderbarer Entschluss von Eltern und Großeltern war, neuen Menschen das Licht der Welt zu
schenken. Und dann die Kindheit und Jugend: so viele Menschen, die unseren Lebensweg
säumten und begleiteten, uns freilich auch manchmal Leid und Not zufügten. Aber wir müssen mit
beidem versöhnt sein, in innerer Verbitterung kann auf Dauer niemand leben. Denn jeder lebt doch
auf einem Sediment von Irrungen und Wirrungen, für die man dankbar sein darf. So sind die
Katakomben ein Bild unseres Lebens: sich mutig und gefasst und dankbar den Tiefen und
Abgründen und Ursprüngen der eigenen Geschichte zu stellen. Das lässt zugleich nachdenklich
und dankbar werden! (Ende der Kurzfassung 3 min. 30)
In den römischen Priscilla-Katakomben gibt es aber außer leeren Grabkammern noch etwas ganz
Ungewöhnliches und Wunderbares zu entdecken: die früheste Darstellung Jesu als der gute Hirt.
Das leicht verblasste Fresko stammt aus dem 3. frühchristlichen Jahrhundert und zeigt einen
jungen Mann, der liebevoll, fast zärtlich, ein Schaf auf seinen schultern trägt. Unwillkürlich erinnert
sich der Betrachter an die Beschreibung des guten Hirten im Evangelium, der um des einen
verlorenen Schafes willen und um es zu suchen, die neunundneunzig allein zurücklässt!
Betriebswirtschaftlich gesehen heller Wahnsinn! Aber nicht nach der Logik Gottes: Bei ihm zählt
nicht die Menge, sondern die Not jedes Einzelnen. Und könnten wir nicht davon lernen? Bei
Menschen, Freunden, Ehepartnern zählen am Ende nicht messbare Ergebnisse, sondern einzig
und allein das Maß an eingebrachter Mühe und Sorge. Und hier wendet sich das in jedem
Abschlusszeugnis gefürchtete Wort ins Gute: Er hat sich sehr bemüht! Wohl uns, wenn es das von
uns einmal heißen wird! (Ende der Langfassung 4 min. 10)
Mittwoch 8. August
Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer! An diesem neuen Tag möchte ich mit Ihnen in
Gedanken nach Rom reisen, zu der Basilika St. Paul vor den Mauern, im Süden Roms direkt am
Tiber gelegen. Die Kirche erhebt sich in beeindruckender Größe über dem Grab des
Völkerapostels Paulus, der unweit von hier im Jahre 64 oder 67 nach Christus den Märtyrertod
gestorben ist. Vor einigen Wochen ging eine Nachricht um die ganze Welt: Man habe bei
Ausgrabungen unter dem Hochaltar einen antiken Sarkophag gefunden, der nach alter
Überlieferung die Gebeine des hl. Paulus enthalten solle. Und seitdem wogt der Streit um die
Frage: Soll man den Sarg öffnen und die Gebeine auf ihre Echtheit untersuchen oder nicht?
Ähnlich kennen wir die Diskussionen um das Grabtuch von Turin oder um die Reliquien von
Heiligen: Echt oder unecht?
Was eigentlich ist echt in unserem Leben und in unserer Geschichte? Der Historiker wird um die
Antwort nicht verlegen sein: Echt ist, was der Nachprüfung und dem Experiment standhält. Wovon
man sich mithin mit Augen, Ohren und Verstand überzeugen kann. Aber waltet hier nicht ein
reduzierter Begriff von Verstand? Sind wir nicht in unserem Leben von viel mehr Dingen
überzeugt, als nur von dem, was sich überprüfen lässt? Sind wir nicht, um mit dem Wichtigsten
gleich anzufangen, von der Liebe und Freundschaft von Menschen innerlich überzeugt, ohne dass
wir diese Zuneigung im Experiment überprüfen dürften, auf die Probe stellen könnten, durch
Nachweisbarkeit erweisen würden? Und schärfer noch gefragt: Leben wir nicht in gewisser
Weise viel mehr von solchen Beziehungen, die wir nicht überprüfen sollen, die wir, bei
naturwissenschaftlichem Licht besehen, eigentlich nur vermuten, annehmen, ersehnen? Und doch
beschleicht uns oftmals die bange und klamme Frage, ob nicht der Wunsch Vater des Gedankens
sei, wenn wir der Liebe eines Menschen vertrauen. Und erst recht, wenn wir an Gott und seine
Liebe glauben: Wird hier nicht messerscharf und kurzschlüssig von Wunsch auf die Wirklichkeit
geschlossen?
Was wäre, wenn? Diese Frage steht am Ursprung des Glaubens und geht über jede
Naturwissenschaft weit hinaus. Was wäre, wenn Paulus und viele andere Heilige wirklich gelebt
hätten und für ihren Glauben gestorben wären? Was wäre, wenn uns Menschen wirklich lieben
und nicht nur gut gebrauchen könnten? Was wäre, wenn es Gott wirklich gäbe? Eine verstörende
und verwirrende Frage, mit der alles Nachdenken des Christen und jeder Glaube an Gottes Güte
im eigenen Leben anfängt. Und dies im Gegenüber zu Menschen, die so lebten, als gäbe es Gott
wirklich. Wenn wir damit Ernst machen wollten und so leben würden? Ich vermute, es würde sich
vieles verändern, vielleicht schon heute! (Ende der Kurzfassung 3 min. 30)
In der Basilika von St. Paul werden wir unwillkürlich an ein wunderbares und doch oft
missverstandenes Wort des Apostels Paulus aus dem 13. Kapitel seines 1. Korintherbrief, dem
berühmten Hohen Lied der Liebe, erinnert: "Wenn ich alle Sprachen der Welt sprechen würde,
hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts!" Wie hart und schroff klingt der Satz! Und doch:
Gedacht ist nicht an eine weltfremde Diffamierung von guten Taten, aber gut und lauter und rein
sollen sie eben sein und sind es erst, wenn mehr als Technik im Spiel ist. Leistungen allein können
auch Roboter und Computer herstellen, und dies womöglich störungsfreier als Menschen. Nein,
Paulus meint: Es kommt auf das innere Feuer und die innere Motivation an. Die gute Tat nimmt
nicht nur ein richtiges und korrektes Ziel in den Blick, sie lebt von der inneren Anteilnahme des
ausführenden Menschen. Seelen sollen wir berühren, nicht Türme bauen! Das wäre doch ein
gutes Programm für den Tag und die Woche: zu achten auf wirklich gute und lautere Gesinnung!
(Langfassung 4 min. 10)
Donnerstag 9. August
Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer! Im Geiste darf ich Sie auf einer kurzen Reise nach
Rom entführen, und dort mit Ihnen vor der eindrucksvollen Fassade der Basilika San Giovanni in
Laterano, der römischen Bischofskirche des Papstes, stehen. Ganz oben auf dem Giebel der
Fassade steht die Figur Christi, dargestellt als auferstandener Erlöser mit dem Kreuz in den
Händen. Wenn man sich umwendet und die Fassade im Rücken hat, sieht man am anderen Ende
des Platzes ebenfalls eine Statue, kleiner und fast unscheinbar. Ein Denkmal. Die Figur des hl.
Franz von Assisi. Warum steht er hier und hebt die Arme in Richtung auf die Fassade der
Lateranbasilika?
Die Legende berichtet, Papst Innozenz III. habe nachts im Traum gesehen, wie ein einfacher
Bettelmönch die im Einsturz befindliche Fassade der Lateranbasilika mit seinen Armen stützte und
so vor dem Zusammenruch bewahrte. Am nächsten Tag aber sei eben jener Bettelmönch vor dem
Papst erschienen und habe ihn um die Bestätigung seines neuen Ordens gebeten. Und der Papst
erinnerte sich seines Traumes und ermutigte Franziskus zur Ordensgründung und bewahrte so die
Kirche vor dem Einsturz.
Ein Bild - wenn nicht Menschen den Bau der Kirche stützen und stärken, droht der Ruin. Es
braucht lebendige Menschen, um den Bau der Kirche aus lebendigen Steinen, aus lebendigen
Menschen aufrechtzuerhalten. Und hat nicht jener hl. Franziskus in dem halb zerfallenen Kirchlein
von San Damiano in Assisi die Stimme Christi vom Kreuz herab gehört: "Franziskus, bau meine
Kirche wieder auf"? Und hat er nicht zuerst gedacht, gemeint sei der äußere Bau von San
Damiano, bis ihm nach einiger Zeit aufging: Der Herr meint den lebendigen Menschen, besonders
jenen, der in ruinösen Verhältnissen leben muss, der halb zerfallen mit sich und der Welt lebt, der
mehr tot als lebendig scheint, der dringend Stütze und Sorge und Aufmerksamkeit braucht? Die
Begegnung von Innozenz III. und Franziskus, zwischen dem reichen Papst und dem armen Mönch
verändert die Welt: Die Kirche ist um der Menschen willen da, sie ist kein Museum, sie ist ein Bau
zur größeren Ehre Gottes aus lebendigen Menschen.
Jeder von uns ist oft versucht zu denken: Wer stützt mich? Wer hilft mir? Wen brauche ich?
Heilsamer scheint mir oft die Frage zu sein: Wen kann und soll ich stützen und stärken? Wer
braucht mich und meine stille und unaufdringliche Aufmerksamkeit? "Die Ehre Gottes ist der
lebendige Mensch" sagt der hl. Irenäus von Lyon. Und unsere Aufgabe ist es, Sorge zu tragen für
lebendige Menschen - jeden Tag mit neuer Kraft! (Kurzfassung 3 min 30)
Am heutigen Tag, dem 9. August, gedenkt die Kirche auch der hl. Edith Stein, einer Karmelitin, die
am 7. August von den Nazis aus dem holländischen Lager Westerbork im Viehwaggon mit der
Bahn in das Konzentrationslager Auschwitz transportiert wurde und dort vermutlich am 9. August
wegen ihrer jüdischen Herkunft ermordet wurde. Auf ihrer letzten Briefkarte am Tag vor dem
Abtransport finden sich neben Grüßen an die Mitschwestern auch die lapidaren Worte: "Konnte
bisher herrlich beten!" Das schreibt ein Mensch im Angesicht des sicheren Todes und aus der
Hölle eines Nazi-Lagers. Da denkt ein Mensch bis zuletzt an die Möglichkeit des Betens und ist
dankbar für solches Beten. Was wären wohl unsere letzten und vorletzten Gedanken in Erwartung
des eigenen Todes? Worum würden wir uns sorgen? Und könnten wir uns vorstellen, wie
Franziskus und ungezählte andere Männer und Frauen durch unser Gebet die Kirche zu stützen
und Menschen zu stärken? Menschen, für die wir oft nichts anderes mehr tun können als beten es ist der wichtigste Dienst, den wir einander leisten können! (Endfassung 4 min. 10)
Freitag 10. August
Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer! Heute, am 10. August, dem Fest des hl. Laurentius,
lade ich Sie ein nach Rom, zur Grabeskirche des hl. Laurentius. Es ist eine alte, frühchristliche
Basilika am östlichen Stadtrand, direkt neben dem großen römischen Hauptfriedhof gelegen, und
gehört seit alters her zu den sieben Pilgerkirchen Roms. Der hl. Laurentius, dessen Grab wir hier
finden, war Diakon und als solcher mit der Sorge um die Kranken und Bedürftigen in der
römischen Christengemeinde des 3. Jahrhunderts, aber auch mit der Verwaltung der spärlichen
Finanzen betraut. Als er in einer großen Christenverfolgung verhaftet wurde, soll ihm der
geldgierige Richter befohlen haben, innerhalb von drei Tagen die Schätze der Kirche
herbeizubringen. Laurentius, so die Legende, verschwand und kehrte nach drei Tagen vor dem
überraschten Richter mit einer großen Schar von Kranken und Notleidenden zurück, auf die er
wies mit den Worten: "Da sind die Schätze der Kirche!" Der Richter aber verstand keinen Spaß
und ließ ihn auf einem glühenden Rost hinrichten.
Ganz im Ernst und ohne Spaß: Was sind wohl die Schätze unseres Lebens? Was häufen wir auf
an Geld und Aktien, an Titeln und Ämtern, an Wichtigkeit und Bedeutsamkeit? "Nebentätigkeiten
und deren Einkünfte" nennt das neuerdings der Bundestag - aber im Ernst: Hat nicht jeder von uns
solche Nebentätigkeiten, die immer mehr und fast unter der Hand zu Hauptfeldern des
tagtäglichen Karnevals der Eitelkeiten werden? In denen wir uns zunehmend verlieren, ohne am
Ende noch zu wissen, worauf es eigentlich im Leben ankäme? Auf den Todesanzeigen bleiben die
gedruckten Titel, auf den Konten das hinterlassene Geld - was aber bleibt von uns in den Herzen
von Menschen? Welche Eindrücke und Spuren hinterlassen wir?
Jeder Tag fügt sich unserem Leben hinzu. Es wäre gut, wenn wir auch an jedem Tag unserem
Leben etwas hinzufügten: Schätze sammeln durch Hingabe und Liebe, durch Sorge um
Menschen, die es uns vielleicht nicht überreich vergelten. Damit wir wissen, was die Schätze
unseres Lebens sind! (Ende Kurzfassung 3 min. 30)
Wenn man die Laurentiusbasilika wieder verlässt, stößt man in der ansonsten recht
unansehnlichen Vorhalle der Basilika noch auf das Grab eines anderen bedeutenden Mannes
unserer Tage: Alcide de Gasperi, aus Trient gebürtig, und nach dem 2. Weltkrieg zusammen mit
dem Franzosen Robert Schuman und dem Deutschen Konrad Adenauer einer der geistigen
Gründungsväter Europas. "Europa braucht eine Seele!" lautete einer seiner oft wiederholten
Lieblingssätze, und er, der noch als österreichischer Staatsbürger geboren war und zwei
Weltkriege erlebt hatte, wusste, wovon er sprach. Gasperi dachte an das Christentum als Seele
eines vereinten und friedlichen Europa. Heute sind wir bescheidener geworden, vielleicht
manchmal zu bescheiden. Dabei wäre es gut zu wissen, was die Schätze eines Staates und einer
Gesellschaft sind. Wozu soll Europa dienen? Nur zu mehr wirtschaftlicher Leistung und zu mehr
Waren und zu mehr Mobilität? Oder könnten und müssten wir fragen: Wozu dient denn ein Staat?
Und dieses Europa? Wo sind die Armen und Bedrängten, die Notleidenden und Schwächsten?
Werden sie immer mehr an den Rand gedrängt und offen verachtet? Und es braucht, heute mehr
denn je, viele Menschen wie den hl. Laurentius, die klar und deutlich wissen: Die Schätze von
Staat und Kirche sind die Stillen im Lande! Endfassung 4 min. 10)
Samstag 11. August
Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer! Am Ende unserer gemeinsamen Woche mit römischen
Ausflugszielen möchte ich Sie noch einmal zu einer letzten kurzen Reise nach Rom einladen. Wir
stehen auf dem weiten Oval des Petersplatzes und schauen hinauf zu den Kolonnaden, die den
Platz einrahmen wie einladende und zugleich beschützende Arme. Arme einer Mutter, und so war
es die Idee des Künstlers Lorenzo Bernini im 17. Jahrhundert ja auch gewesen: Die Kirche soll und
darf für jeden Menschen wie eine Mutter sein, die aufnimmt und beherbergt und beschützt. Aber
um das zu verstehen, brauchen wir ein anderes Bild der Kirche als das Schreckgemälde von
Schreibtischen und Aktenordnern und Bleistiften und Verwaltungen. Christus hat keine Verwaltung
gestiftet, er hat seine Kirche gestiftet aus lebendigen und höchst unterschiedlichen Menschen und
Temperamenten. Menschen, die treulos und feige und aufbrausend waren, aber dennoch stets
zurückfanden zu Reue und Umkehr und neuerlichem Versuch, Gott und den Menschen zu lieben.
Wir brauchen, um die Kirche verstehen und lieben zu können, ein lebendiges Bild von der Kirche.
Und sehen wir, wenn wir zu den Kolonnaden hinaufblicken: Dort oben stehen die vielen
verschiedenen Figuren von Heiligen Männern und Frauen aus allen Jahrhunderten der
Kirchengeschichte. Ein berühmter Mann hat einmal gesagt: "Ich würde kein Wort des Evangeliums
glauben, wenn nicht Menschen dafür gestorben wären!" In der Tat: Am Glauben der altrömischen
Märtyrer und der modernen Heiligen entzündet sich erst unser Glaube an Gottes Liebe und
Barmherzigkeit. Thesen schwingen kann jeder - aber Sterben aus Liebe für andere, das ist eine
ganz andere Sache. Vielleicht sind wir heutzutage skeptisch angesichts fundamentalistischer
Selbstmordattentäter, und auch das Christentum kennt solche und ähnliche Verirrungen. Aber der
Gedanke bleibt doch faszinierend: Dass ein Mensch ganz und hingebend für andere und für Gott
sein Leben einsetzt - in der Treue von Ehe und Freundschaft, in stiller Pflichterfüllung und in nicht
nachlassender Bereitschaft zur Vergebung. Und so erst gewinnt ein Bild von Kirche und ein Bild
Gottes deutliche Gestalt! (Ende der Kurzfassung 3 min. 30)
Wenn wir dann hineingehen in die Petersbasilika, sind wir zunächst fast erschlagen von der Größe
und der Pracht des Raumes. Aber wenn wir dann nach vorn, rechts vom Papstaltar, zu einem
Seitenaltar gehen, sehen wir viele Beter fast immer dort knien: Es ist das Grab des Seligen
Papstes Johannes XXIII. Welche Güte und Menschenfreundlichkeit strahlte dieser einfache
Bauernsohn aus Norditalien zeitlebens aus! Und Jahrzehnte noch nach seinem Tod danken
Menschen dafür, dass er gelebt hat, dass durch ihn Gottes Güte sichtbar und leibhaftig wurde! Und
jeder, der dort kniet, wird auch nachdenklich und sich fragen: Werden Menschen sich Deiner
dankbar erinnern? Dankbar sein, dass Du gelebt hast? Und mehr noch, und schon jetzt: Werden
Menschen durch mich und meine Güte hindurch Gott entdecken können? Und darauf, und nur
darauf, käme alles an!