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Quelle: http://www.waldhof-freiburg.de
Die Physik der globalisierten Ökonomie
14.05.2011, Dr. Michael Harder
Unser ökonomisches System wird zunehmend komplizierter und komplexer: Deflation oder Inflation, Export oder Binnenmarkt, Staatsschulden
und Eurozone, Politik und Grossindustrie, Realökonomie und Finanzsystem, Demografie und Niedriglöhne – wohin steuert unsere Wirtschaft?
Vor etwa 2000 Jahren sagte Seneca den wichtigen Satz: „Wo die Natur
nicht will, ist die Mühe umsonst“. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass –
will ich erfolgreich sein, und zwar nachhaltig – ich die Gesetze der Natur
beachten muss. Und damit sind wir plötzlich in der Naturwissenschaft.
Unser weitgehend auch in der Ökonomie verwendetes logizistisches
Weltbild, mit dem wir uns immer mehr spezialisieren, stimmt aber einfach
nicht. Die moderne Physik (Prozessphysik) zeigt längst, dass die Welt
nicht nur logisch ist, sondern in weiten Bereichen chaotischen und wahrscheinlichen Gesetzmässigkeiten gehorcht. Die Natur ist komplex, Logik,
d.h. direkte Kausalität von Ursache und Wirkung, existiert nur in sog.
Inseln. Das macht es für Spezialisten ungemein schwer, die wirklichen
Zusammenhänge zu erkennen. Vor allem, wenn sie überzeugt sind, dass
ihre „Insel“ die einzig richtige ist. Unsere wichtige Aufgabe für die Zukunft
ist es aber, die Komplexität zu meistern.
Wie lässt sich die Komplexität der Welt erfassen? In der Ökonomie entdeckte man die Existenz von sog. Chaordischen Systemen. Dies bedeutet,
dass offensichtlich zwei Attraktoren1 für die Dynamik unserer Welt verantwortlich sind: Es gibt immer einen Attraktor in Richtung Ordnung (in
der Physik ist dies Wirkung), und einen zweiten in Richtung Unordnung (in
der Physik bezeichnet man dies mit Entropie). Die Erkenntnis, dass
Systeme immer zwischen diesen beiden Attraktoren schwingen, wurde in
der Physik von einem Amerikaner namens Zurek bestätigt, der Quantenmechanik und Relativitätstheorie erfolgreich verbinden konnte. Zurek
entdeckte aber noch mehr: Grundlage der Physik (und damit auch der
Ökonomie) ist eine Art Darwinismus, der allerdings nach unseren Forschungen ein Mix aus 5 verschiedenen Mechanismen ist. Neben Wachstum
von Strukturen sind adaptive Anpassungen an die Umgebung, Wettbewerb
durch Stärke und Kooperation und Nachhaltigkeitsaspekte elementar.
Führt man diese Erkenntnisse in die neue Physik der Komplexen Systeme
1
Attraktor (von lat. ad trahere = zu sich hin ziehen) ist ein Begriff aus der Theorie dynamischer Systeme und beschreibt eine
Untermenge eines Phasenraums (d.h. eine gewisse Anzahl von Zuständen), auf die sich ein dynamisches System im Laufe der
Zeit zubewegt, und die unter der Dynamik dieses Systems nicht mehr verlassen wird. Das heisst, eine Menge von Variablen
nähert sich im Laufe der Zeit (asymptotisch) einem bestimmten Wert, einer Kurve, oder komplexerem (also einer Region im ndimensionalen Raum) und bleibt dann im weiteren Zeitverlauf in der Nähe dieses Attraktors. Ein Attraktor erscheint als klar
erkennbare Struktur.
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ein, wird Erstaunliches sichtbar: Wachsen Strukturen innerhalb eines
Gesamtsystems heran, ist dies lange Zeit problemlos, bis eine Art Sättigung erfolgt. Dann aber kehren sich plötzlich alle Regeln um: Mit weiterem Wachstum entstehen Schwingungen des Systems – mit denen sich
der Sättigungszustand stabilisiert. Stoppe ich dann nicht das Wachstum,
so treten mit der Zeit zusätzliche Schwingungen auf, bis das System
plötzlich crasht. Die Auswirkungen auf ökonomische Theorien sind heftig:
Bin ich mit meinem Wirtschaftssystem zu erfolgreich und setze weiter auf
Wachstum, d.h. verpasse ich die neuen Regeln der Sättigung, crasht das
Gesamtsystem.
Wendet man diese gesicherten systemischen Erkenntnisse auf unser
Wirtschaftssystem an, werden schnell vier elementare Systemfehler in
unserem westlichen und mittlerweile globalen Wirtschaftssystem deutlich,
die für fast alle unsere ökonomischen und auch für viele gesellschaftlichen
Probleme verantwortlich sind und dafür sorgen, dass es nicht für längere
Zeit funktionieren kann.
Der erste Systemfehler ist, dass die Ökonomie keine Menschen kennt,
sondern Menschen auf ihre Eigenschaften als Humankapital (zur Produktion) oder Homo Oeconomicus (zum Konsum) reduziert. Familienthemen,
Jugend, Alter spielen keine Rolle, sofern diese nicht ökonomisch zu verwerten sind. Die Ökonomie hat den Menschen vergessen, was zur Frage
führt: Passen wir als Naturwesen überhaupt noch in die Welt, die wir und
unsere Ökonomie uns künstlich geschaffen haben? Die Antwort: Eher
nicht.
Der zweite Systemfehler liegt darin, dass die Ökonomie bisher keine
Grenzen kennt, wie sie unser Planet Erde aber eindeutig hat. Bereits jetzt
bräuchte man beispielsweise einen zweiten Planeten, um unsere Nachfrage nach Nahrung, Energieträgern und anderen Rohstoffen einigermassen
nachhaltig zu decken. In unserem Streben nach Erfolg und Wachstum
haben wir jedoch übersehen, dass sich seit etwa 25 Jahren die Regeln der
Ökonomie umgekehrt haben: Weiterer Erfolg (=Wachstum) macht erfolglos. Das System wird – anscheinend stabil – eines Tages plötzlich zusammenbrechen.
Diese Erkenntnis zur Änderung der Systemregeln ist in der Ökonomie
tatsächlich neu. Sie führt aber direkt zum (oft übersehenen) Paradoxon
der Spielregeln in der Ökonomie. Dies besagt, dass mikroökonomisch und
damit für jedes Unternehmen darwinistische Erfolgsregeln gelten. Solange
diese Unternehmens-Ökonomie nicht zu gross wird, ist dies makroökonomisch durchaus sinnvoll, da es allgemeinen Wohlstand bringt. Dies ändert
sich aber dann, wenn die Sättigungsgrenzen der Makroökonomie erreicht
sind. Dann ist weiteres Unternehmens-Wachstum nur noch auf Kosten der
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Ressourcen des Gesamtsystems möglich, die aus ökologischen, Erwerbsarbeit- und Familienarbeit-Ressourcen bestehen. Man beobachtet das an
Beispielen wie Peak-Oil, Niedriglohn und Demografie- und Rentenproblemen. Eine ganze Reihe weiterer Widersprüche in unserem System wird
deutlich: Das Wettbewerbsdilemma, das Produktivitätsparadoxon und das
Schneeballsystem der Renten. Diese Probleme sind es aber, die schliesslich unausweichlich unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zusammenbrechen lassen. Ursache: Die Makroökonomie (Politik) erkennt nicht,
dass nun andere Regeln gelten, nämlich dass sie nun für Nachhaltigkeit
sorgen muss.
Das Ergebnis: Der alte Spruch „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es
den Menschen gut“ ist heute wohl der am meisten verbreitete Irrtum in
der Ökonomie. Seit etwa 20 Jahren ist eher das Gegenteil der Fall: Jede
weitere Unterstützung des ökonomischen Wachstum erschöpft die oben
genannten Ressourcen des Gesamtsystems. Und führt zum Crash des
Staatswesens.
Das Problem: Alle gegenwärtig praktizierten Wirtschaftstheorien verleugnen diese Systemgrenzen und sind daher für diese Situation unbrauchbar.
Zitat Fr. Malik: „Alle herkömmlichen Denkweisen und Methoden werden
dabei hoffnungslos versagen“. Warum brauchen wir dieses permanente
Wirtschaftswachstum? Damit stossen wir auf den dritten Systemfehler:
Unser Geldsystem mit seiner exponentiell steigenden Geld- und Schuldenmenge – auf der Basis von Zinseszins und multipler Geldschöpfung der
Banken. Die daraus entstehende Überschussliquidität fliesst nicht in die
Realökonomie, die mit diesem exponentiellen Wachstum nicht Schritt
halten kann, sondern in die Spekulation. Für die zwangsläufig entstehenden Spekulationsblasen kennt die Natur zwei Gesetze: Ein „Schwarzes
Loch“ (Attraktor Ordnung) oder Inflation (Attraktor Entropie). Beide sind
fatal. Beim „Schwarzen Loch“ gilt mittlerweile das Paradoxon der Systemrelevanz: Die Rettung sog. systemrelevanter Teilnehmer führt kurz oder
lang zum Crash des Systems. Eine Inflation entwertet massiv Vermögen
und führt irgendwann zur Währungsreform.
Damit kommen wir zum vierten Systemfehler, das die Medien derzeit
beherrscht: Die Eurozone. Begrenze ich ein Gesamtsystem, wie es die
gemeinsame Eurowährung leistet, so zeigen Simulationen der Spieltheorie, dass derartige Systeme nur dann funktionieren, wenn alle Teilnehmer
einen angemessenen Platz haben und diesen verteidigen können. Wird ein
Teilnehmer zu schwach oder zu stark, gefährdet dies das System und
führt schliesslich zum Crash des Systems. In der Praxis bedeutet dies,
dass die deutsche Volkswirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich
verringern muss, während jene von Staaten wie Griechenland gleichzeitig
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deutlich leistungsfähiger werden müssen. Wir fordern derzeit das zweite,
und vergessen das erste.
Damit stehen wir aber vor einem neuen Paradoxon: Wir sind eingebunden
in die Eurozone, müssten im Interesse dieser Zone schwächer werden,
wollen aber gleichzeitig auf dem Weltmarkt mit China konkurrieren und
weiter wachsen.
Die Schlussfolgerungen aus diesen Erkenntnissen sind zahlreich: Wollen
wir unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem vor dem Crash bewahren,
wartet eine ganze Liste von Aufgaben auf uns. Die Anerkennung dieser
Aufgaben bedeutet gleichzeitig ein Eingestehen, dass unsere ökonomischen Denkweisen veraltet sind und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen um Jahrzehnte hinterherhinken. Sie fordert aber auch das Primat der
Politik und die Abkehr vom Primat der Unternehmensökonomie.
Geschieht dies nicht, ist ein Systemzusammenbruch – zumindest in Teilen
– innerhalb der nächsten 3-10 Jahre wahrscheinlich.
Dr. Michael Harder (Büro für Interdisziplinäre Wissenschaften, Staufen): Interdisziplinäre Lösungsansätze
Dr. Michael Harder (*1951) forscht seit Jahren im Grenzbereich von Physik und
Ökonomie und ist Autor des Buches „Einsteins Irrtümer“, in dem er neue Erkenntnisse der Physik sammelt und anschliessend auf die Bereiche Wirtschaft
und Gesellschaft anwendet. Wie diese heute genutzt werden können, trägt er seit
2005 in zahlreichen Vorträgen, Workshops und Symposien vor.
Nach dem Studium der Chemie und Wirtschaftswissenschaften begann er seine
industrielle Forschungstätigkeit 1980 bei der BASF AG Ludwigshafen auf dem
Gebiet von Datenträgern. Darauf folgte die wissenschaftliche Leitung einer
Freiburger Consulting-Firma zu systemischen und ökologischen Fragen in Wirtschaft und Politik. Zwischenzeitlich gehörte Michael Harder zur Endauswahl
der Astronauten der D2-Mission. 2002 gründete er das "Büro für Interdisziplinäre
Wissenschaften" in Staufen im Breisgau, das sich mit den komplexen Grundlagen
und Fragestellungen in Physik und Ökonomie beschäftigt. Das Ergebnis dieser
Arbeiten ist eine neue Sichtweise ökonomischer Zusammenhänge, die helfen
kann, elementare Fehler und Fehlentwicklungen in unserem Wirtschaftssystem
besser zu verstehen und ihre Folgen besser abzuschätzen.