Verrückt nach Leben
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Verrückt nach Leben
Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 1 Verrückt nach Leben Vor wenigen Tagen habe ich gelesen, dass die Löhne und Gehälter der Frauen hierzulande bei gleicher Qualifikation auch heutzutage um durchschnittlich 12 Prozent geringer sind als die der Männer - sind wir etwa 12 Prozent weniger Mensch? Über solche Skandale der anhaltenden Diskriminierung gerät aber manchmal in Vergessenheit, wie viel wir schon erreicht und wie rapide sich die Geschlechterrollen in den letzten hundert Jahren geändert haben. Sie haben sich geändert, weil Frauen dagegen revoltiert haben, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, weil sie geradezu verrückt nach Leben waren. Was war denn vor hundert Jahren? Ich will willkürlich zwei Ereignisse herausgreifen: Bertha von Suttner, nach der ja auch eine Siegener Gesamtschule benannt worden ist, hat 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis bekommen. Helene Stöcker, hat ebenfalls 1905 den „Bund für Mutterschutz“ gegründet, der sich für die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, für die Gleichstellung unehelicher Kinder und die Streichung des Abtreibungsparagraphen 218 einsetzte. Beide waren als Frauen absolute Ausnahmeerscheinungen: hochgebildet, sehr selbständig und mit ihren Ideen ihrer Zeit um Lichtjahre voraus. Die Österreicherin Bertha von Suttner fand zuerst nirgends einen Verlag für ihren Antikriegsroman „Die Waffen nieder“, 1889 erschien er dann aber doch, und sie wurde mit ihren damals im wortwörtlichen Sinne unerhört pazifistischen Gedanken weltberühmt. Den Friedensnobelpreis hat sie selbst ersonnen, als ehemalige Sekretärin und Hausdame von Alfred Nobel übte sie einen starken Einfluss auf den Dynamit-Erfinder aus. Sie war die erste Frau, die den renommierten Preis erhielt, doch dann sollten ihr fast nur noch Männer folgen. Bis heute zählen nur zwölf Frauen zu den Preisträgerinnen. Das soll sich nach dem Willen der Schweizer Initiative „1000 Frauen für den Friedensnobelpreis“ übrigens ändern, sie werden dem Nobelpreiskomitee für dieses Jahr eine Liste von tausend Frauen aus aller Welt vorlegen, die den Preis zusammen bekommen sollten. Die gebürtige Elberfelderin Helene Stöcker, die manche „die Alice Schwarzer der zwanziger Jahre“ nennen, war eine Anhängerin Bertha von Suttners und als solche ebenso pazifistisch, aber darüber hinaus kämpfte sie für Frauenrechte und freie Liebe. Vor hundert Jahren durften Frauen nicht Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 2 wählen, nicht studieren, ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht arbeiten, sie durften sich ihren Gatten nicht selbst aussuchen, von einem Freund ganz zu schweigen, sie waren fast ebenso rechtlos wie heute die afghanischen Frauen. Auch Helene Stöcker wurde im deutschen Kaiserreich ein Studium verwehrt. Als sie deshalb in die Schweiz ging und in Bern 1901 als erste Deutsche ihren Doktor ablegte, berichteten viele deutsche Zeitungen aufgeregt über das „Fräulein Doktor Stöcker“. Erst 1908 öffneten sich die preußischen Universitäten für Frauen. Bertha von Suttner ist hier in der typischen Mode der Zeit zu sehen, mit vielen Schleifchen und Rüschchen. Der Schweizer Philosoph Georg Simmel schrieb in einem Aufsatz ebenfalls just im Jahre 1905: „So häßliche und widrige Dinge sind manchmal modern, als wollte die Mode ihre Macht gerade dadurch zeigen, daß wir ihretwegen das Abscheulichste auf uns nehmen; gerade die Zufälligkeit, mit der sie einmal das Zweckmäßige, ein andermal das Abstruse, ein drittes Mal das sachlich und ästhetisch ganz Indifferente anbefiehlt, zeigt ihre völlige Gleichgültigkeit gegen die sachlichen Normen des Lebens, womit sie eben auf andere Motivierungen, nämlich die formalsozialen, als die einzig übrig bleibenden hinweist.“ Die jüngere Helene Stöcker hatte es da übrigens wesentlich bequemer, in dieser wahrscheinlich aus den zwanziger Jahren stammenden Aufnahme trägt sie ein taillenloses Reformkleid. Dennoch: Beide Frauen sprengten das Korsett der traditionellen Geschlechterrollen. Sie waren Pionierinnen, im Berufsleben wie auf erotischem Gebiet. Sie lebten ihr Leben, selbstbewußt, eigensinnig, ohne sich dreinreden zu lassen, sie erweiterten weibliche Lebensräume. Welche politischen, kulturellen, sozialpsychologischen Konsequenzen der damalige Aufbruch der Frauen hatte, das können wir heute kaum mehr ermessen. Das deutsche Kaiserreich war, wie alle militaristischen Staaten, gekennzeichnet durch eine starke Polarisierung der Geschlechterrollen, die sich in der Weimarer Zeit entpolarisierten und entspannten. In vielen Körpern und Köpfen führte das zu einer heillosen Verwirrung. Im preußisch geprägten Kaiserreich war kein anderer Stand so angesehen wie das Militär, was sich in der Uniformierung der Männermode niederschlug: steife Röcke, steife Kragen und steife Hüte, auch die zivilen bürgerlichen Männer mussten gewissermaßen ständig stramm stehen und dieselbe Ganzkörper-Erektion zeigen wie die Soldaten. Den bürgerlichen Frauen erging es nicht besser, sie waren eingeschnürt und eingewickelt in Korsetts, Unterröcke, Reifröcke, Röcke, Jäckchen, Rüschen, Spitzen, Schleifen, Schuhchen, Handschuhchen, Löckchen, Zöpfchen, Hütchen. Diese Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 3 Mode war übrigens eine der Ursachen für die von Sigmund Freud so aufopfernd und ohne jeden Erfolg behandelte weibliche Hysterie: Den im Fischkorsett eingeschnürten Damen blieb sprichwörtlich die Luft weg, sobald sie etwas Aufregendes erlebten, und sie wurden ohnmächtig. Hätten die Männerwesten so eng gesessen, wäre die Zahl der männlichen Hysteriker in die Höhe geschnellt, und Freud wäre an Überarbeitung gestorben. Er hatte auch so genug zu tun, denn die Gesellschaft der Jahrhundertwende war neurotisch bis zum Überschnappen. Durch die Methode des Verhüllens und Verschweigens wurde nur erreicht, daß alle ihre Mitglieder, Männer wie Frauen, unablässig nur an das Eine dachten. Mütter, Väter, Tanten, Aufpasser aller Art ließen ihren Nachwuchs, vor allem ihren weiblichen, keine Minute aus den Augen, ständig mit Grenzziehungen beschäftigt, mit neuen Definitionen dessen, was unpassend und unsittlich sein könnte. Je stärker die Verbote, um so heftiger, befand Zeitzeuge Zweig, "verschwülten sich die Sinne". Doch Sonne, Wasser und Luft, so schreibt er, durften einen weiblichen Körper nicht berühren; Klosterschülerinnen mußten ihr häuslichen Bad in langen, weißen Hemden nehmen. Der tiefere ‚Sinn’ dieser Mode lag in der Zurichtung und Disziplinierung der Körper. Die Bürgertöchter wurden im Haus eingemottet, um sie staubfrei für die Ehe aufzuheben. Ihnen wurde jede Bewegungsfreiheit genommen, sie konnten sich nicht einmal selbständig an- und auskleiden. Die so ‚verpanzerte’ Frau von damals sei ein „unseliges Wesen von bedauernswerter Hilflosigkeit“ gewesen, fand Stefan Zweig. Ich zitiere weiter: „So wollte die Gesellschaft von damals das junge Mädchen, töricht und unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher und unpraktisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein dazu bestimmt, in der Ehe dann willenlos vom Manne geformt und geführt zu werden.“ Diese Strategie der ‚gezüchteten Dummheit’ konnte aber auch gründlich daneben gehen. Stefan Zweig berichtet von seiner Tante, die in der Hochzeitsnacht bei ihren Eltern Sturm geklingelt habe: Der ihr Angetraute sei ein Wahnsinniger und ein Unhold. Er habe versucht, sie zu entkleiden. Die Schriftstellerin Vicky Baum berichtet Ähnliches von ihrer damals 18-jährigen Mutter: Auch sie rannte in Panik zu ihren Eltern zurück. Vicky Baum erlebte eine unglückliche Kindheit zwischen zwei miteinander verfeindeten Eheleuten und vermutete als Ursache dieser Feindseligkeit den ‚Schock’ der Hochzeitsnacht. „Ich glaube, daß meine Mutter noch bis zu diesem Tag mit Puppen gespielt hat“, schreibt sie, über einem Foto ihrer Frau Mama sinnierend: Diese habe „das Aussehen Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 4 einer vierzigjährigen Frau und den Verstand und die Lebenskenntnis eines neunjährigen Mädchens“ gehabt. „Sie war bleichsüchtig und meistens traurig. Sie konnte Chopin spielen und endlose Meterrollen einer feinen Hemdspitze häkeln“, aber dem Leben sei sie in keiner Weise gewachsen gewesen. Und dann kam der Erste Weltkrieg: zwei Millionen Tote, knapp fünf Millionen Verwundete, auf den Straßen Einbeinige und ‚Kriegszitterer’, die um ein paar Groschen bettelten. Die Frauen ersetzten als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen oder Droschkenkutscherinnen die ausgefallenen Männer. Es stürzte nicht nur das Kaiserreich in sich zusammen, sondern auch der angeberische Hurra-Patriotismus, der Tschingderassabum-Militarismus, die gesamte bürgerliche Welt mit ihren Zöpfen und Troddeln und mit ihren angesichts des Elends vollkommen lächerlich gewordenen Vorstellungen von starker Männlichkeit und tugendhafter Weiblichkeit. „Die Männer waren ihren Unternehmungen nicht mehr gewachsen“, stellte der Journalist Walter Kiaulehn nüchtern fest. Aber sie spürte auch: Ausgerechnet der Krieg, bisher als Inbegriff des Mannestums gefeiert, hatte die traditionelle Männlichkeit vom Sockel gestürzt. Plötzlich gab es eine weibliche Mehrheit: auf 100 Männer kamen nunmehr 110 Frauen. Und plötzlich gab es eine ganz neue weibliche Bewegungsfreiheit: beruflich, privat, erotisch. Auf den Collagen der Dada-Künstlerin Hannah Höchs sind es vor allem die Frauen, die Lebendigkeit und Bewegung ausstrahlen: Sie tanzen, sie reiten, sie stürmen den Reichstag, während die Männer starr und steif, in grotesken Aufmachungen, ihnen zuschauen. Die Chansonette Claire Waldoff sang: "Es geht durch die ganze Historie Ein Ruf nach Emanzipation. Vom Menschen bis zur Infusorie Überall will das Weib auf den Thron. Von der Amazone bis zur Berliner Range Braust ein Ruf wie Donnerhall daher: Was die Männer können, können wir schon lange Und vielleicht `ne ganze Ecke mehr! Raus mit den Männern aus dem Reichstag! Und raus mit den Männern aus dem Landtag! Und raus mit den Männern auße´m Herrenhaus, Wir machen draus ein Frauenhaus. Raus mit den Männern aus dem Dasein, Und raus mit den Männern aus dem Hiersein, Und raus mit den Männern aus dem Dortsein, Sie müßten längst schon fort sein! Ja, raus mit den Männern aus dem Bau, Und rein in die Dinger mit der Frau!" Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 5 Tja. 1919, als die Frauen zum ersten Mal wählen konnten, lag ihre Wahlbeteilung bei stolzen 78 Prozent im Vergleich zu 62 Prozent bei den Männern. Fast zehn Prozent der Abgeordneten im neuen Reichstag waren weiblich, das war ein Höchststand, der in keiner folgenden Reichstagswahl und im Bundestag erst wieder 1983 erreicht werden sollte. „Wir alle waren wie in ein Korsett eingeschnürt und wurden nun in die Freiheit entlassen“, beschrieb die Künstlerin Hannah Höch die neue Bewegungsfreiheit für die Frauen. Sie durften nun das Wahlrecht ausüben, studieren, arbeiten gehen, Sport treiben und ihre neue Unabhängigkeit im Tanz ausdrücken: indepen-dance. Die Korsetts wurden gesprengt, die alten Zöpfe abgeschnitten, die Reifröcke zugunsten von taillenlosen Einteilern weggeworfen. Mit der neuen Mode, schrieb Heinrich Mann anerkennend, lasse sich „besser sowohl tanzen und Sport treiben wie auch in Fabriken arbeiten“. Die große Sehnsucht beider Geschlechter war die nach Annäherung und Androgynität. Die Damen gingen als ‚Garçonne’, mit Bubikopf, Monokel, Schlips und Zigarettenspitze. Die Herren legten ihre steifen Hüte und Krägen ab, rasierten ihre lächerlichen Kaiser-Wilhelm-Bärte weg, parfümierten und pomadisierten sich und trugen seidene Frauenkleidung. Auch sie genossen es sichtlich, die künstliche Polarisierung der Geschlechterrollen nicht mehr mitmachen zu müssen, nicht mehr länger den harten Hartmut zu marikieren, Unisex, Geschlechterdemokratie! Arm in Arm spazierten Knäbin und Knabe über den Kudamm. „Vielleicht auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens“, staunte Stefan Zweig, „hat sich ...innerhalb eines einzigen Menschenalters eine so totale Verwandlung vollzogen wie in den Beziehungen der Geschlechter zueinander.“ Es war noch nicht einmal ein Menschenalter, es waren nur ein paar Jahre. Der Kudamm wurde zum regelrechten Laufsteg für diese neuen Moden. Der Gesellschaftskritiker Luigi Barzini beobachtete dort „Männer in Frauenkleidung, Frauen als Männer oder Schulmädchen verkleidet, Frauen mit hohen Stiefeln und Peitschen..., beinamputierte Veteranen auf Krücken, culs-de-jatte, armamputierte oder blinde Veteranen mit dem Eisernen Kreuz und den hungrigen, unrasierten Arbeitslosen; sie alle bettelten um Almosen. Ich traf Zuhälter, die jedem alles anboten: kleine Jungen, kleine Mädchen, kräftige junge Männer, libidinöse Frauen und (vermutlich) sogar Tiere.“ Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 6 Viele Straßenmädchen seien in Wirklichkeit Männer gewesen, schrieb die US-Schriftstellerin Anita Loos, und „das schönste Mädchen war Conrad Veidt“ - damals ein bekannter Schauspieler und Frauendarsteller. „Auf Transvestitenbällen“, notierte Stefan Zweig, „tanzten hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Augen der Polizei.“ Und die Journalistin Gabriele Tergit berichtete über Transvestiten, die regelmäßig wegen „groben Unfugs“ vor Gericht landeten: „Der grobe Unfug trägt sehr sittliche, dunkelgraue Baumwollstrümpfe... Hier Ecke der Krausenstraße aß er ein paar Würstchen und wurde von einem Sittenpolizisten...arrestiert”. Die radikalste Wandlung in der Mode, die Frauenhose, ist uns heute am selbstverständlichsten geworden. Wir tragen Jeans, aber keine ‚Krawallschleifen’ mehr, so wie die Sängerin Claire Waldoff, und keine Monokel oder Zigarettenspitzen, so wie Marlene Dietrich. Doch ist es noch nicht einmal hundert Jahre her, dass es dem weiblichen Geschlecht streng verboten war, das Wort ‚Hose’ überhaupt in den Mund zu nehmen, geschweige welche zu tragen; frau oder fräulein musste Bezeichnungen wie ‚Beinkleider’ oder ‚die Unaussprechlichen’ zuhilfe nehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg aber wagten es die ersten Frauen, selbst Hosen zu tragen: die Sängerin und Kabarettistin Claire Waldoff, die Schauspielerinnen Elisabeth Bergner und Louise Brooks. Marlene Dietrich zeigte sich zu Beginn ihrer Karriere um 1926 auf den Brettern der Ku’damm-Bühnen mit Monokel und seidenem Hosenanzug; die Tänzerin Anita Berber trat um 1922 entweder ganz nackt auf, nur mit einem Diamanten im Bauchnabel, oder im Smoking. Anita Berber und Marlene Dietrich kannten sich, aber dass sie viel füreinander übrig gehabt hätten, erscheint fast ausgeschlossen. Sie waren sich zu ähnlich und gleichzeitig zu gegensätzlich. Sie waren beide berühmt, von androgyner Schönheit, beide galten als verrucht, als Vamp und Femme fatale, derentwegen sich Männer wie Frauen verrückt machten. Beide zeigten sie ihren Körper auf der Bühne nur zu gerne her, beide bewiesen beträchtliches Talent, Konkurrentinnen wegzubeißen. Beide waren weitgehend vaterlos groß geworden, hatten ihr weibliches Selbstbewusstsein von Mütttern, Großmüttern und Tanten bezogen und ein Mädchenpensionat in Weimar besucht. Beide galten als Sinnbild der neuen, der eigenständig begeherenden Frau, als Verkörperung des weiblichen Bohemiens und Dandys, beide waren bisexuell und liebten Männer wie Frauen. Die Heilige und die Hure symbolisierten sie beide scheinbar problemlos in einer Person. Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 7 Anita Berber bot ihren Körper zum Kauf und verkleidete sich als Nonne. Sie zeigte sich nackt ihrem Publikum und geriet doch über jeden Grabscher in Wut. In ihrer Hemmungslosigkeit verkörperte sie den wilden Drang ihrer Generation zu leben, verrückt nach Leben eben, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Sie ging keinem Skandal aus dem Weg, trank jeden Abend eine Flasche Cognac leer, nahm Kokain und Morphium, prügelte sich mit jedem, der ihr qauer kam. Mit nur 29 Jahren starb Anita Berber an Schwindsucht. Marlene Dietrich hingegen galt als die Venus der Neuen Sachlichkeit, als die vollkommene Symbiose von Unschuld und Laster, von Mutter und Liebesgöttin. Doch trotz ihres Rufes als Vamp blieb sie ihr Leben lang ein braves preußisches Mädchen mit eiserner Disziplin, das nie über die Stränge schlug. Sie lebte mehr als dreimal so lang wie die Berber und starb erst mit 91 Jahren. Im Jahre 1922 tanzte die skandalöse Berber die “Tänze des Lasters, des Horrors und der Ekstase", sie war die morbide Göttin des durch Krieg und Inflation ruinierten todessehnsüchtigen Bürgertums. Das Korsett war gesprengt, die Zeit der entfesselten Körper und des entfesselten Geldes brach an. Binnen kurzem kostete ein Buch mehr als eine ganze Druckerei, ein Stück Seife mehr als eine ganze Seifenfabrik. Alle, die konnten, handelten und spekulierten mit Waren und Devisen, das Schieberwesen blühte, die Großindustrie gedieh, und die einstmals so wohlhabende Mittelschicht Deutschlands versank vollkommen verarmt im Abgrund. Nicht nur reales Kapital wurde dadurch vernichtet. Für das Bürgertum war die Jungfräulichkeit seiner höheren Töchter ein symbolisches Kapital von hohem Wert gewesen, denn sie konnte in Heirat und ökonomische Sicherheit getauscht werden. Damit war es ein für allemal vorbei. Die wirtschaftliche Stabilität war perdu, die Ökonomie des Heiratsmarkts brach zusammen, die Familien waren gezwungen, die Aussteuer ihrer Töchter zu verkaufen, der Kurswert der Jungfräulichkeit stürzte ins Bodenlose. Er glaube, Geschichte ziemlich gründlich zu kennen, schrieb Stefan Zweig, aber seines Wissens habe sie nie „eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen Proportionen“ produziert. Bedingt durch den „Sturz aller Werte“ im sprichwörtlichen wie im übertragenen Sinne habe „eine Art Irrsinn“ vor allem die bürgerlichen Kreise ergriffen. „Die jungen Mädchen rühmten sich stolz, pervers zu sein; mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit verdächtig zu sein, hätte damals in jeder Berliner Schule als Schmach gegolten.“ Die Mädchen erlebten es als Schande, mit 18 oder 20 noch Jungfrau Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 8 zu sein, bestätigte der Sexualforscher Wilhelm Reich. Besonders im Arbeitermilieu sei außerehelicher Sex selbstverständlich. „Die Frauen wurden frei“, kommentierte eine namenlose Berliner Journalistin diesen Epochenbruch nüchtern. Und eine 1932 vom Frankfurter Institut für Sozialforschung erhobene Studie zur „neuen Sexualmoral“ kam zu folgendem Ergebnis: „In der Nachkriegszeit ist die monogame Ehe noch viel mehr als in der Vorkriegszeit eine mit Mühe aufrechterhaltene Attrappe geblieben. Die Ehepaare, die einander aus Zuneigung und innerer Überzeugung treu blieben, sind zumindest in der Großstadt sehr selten.“ Innerhalb von wenigen Jahren waren für das tonangebende Bürgertum alle Werte zerbrochen, an die es jahrhundertelang geglaubt hatte: die monogame Ehe, die strenge Arbeitsteilung der Geschlechter, die unumstößliche Ordnung des Patriarchats. Oder, in den Begriffen von damals: Moral, Treue, Sitte, Zucht und Ordnung, Tugend, Anstand und Ehre, also alles, wofür ein preußischer Ehrenmann zu leben glaubte, war perdu. Besonders zu schaffen machte ihm die Lockerung der sexuellen Sitten. Die oben schon erwähnte Sexualreformerin Helene Stöcker arbeitete in den zwanziger Jahren im Berliner Institut für Sexualforschung, das der jüdische Arzt und Sexualreformer Magnus Hirschfeld gegründet hatte. Sie setzte sich ein für freie Liebe, für die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, für das Recht auf Verhütung und Abtreibung und initiierte mit Hirschfeld eine Reformbewegung, die sich zu einer veritablen Volksbewegung anwuchs, ihre verschiedenen Organisationen hatten reichsweit zwischen 110.000 und 150.000 Mitglieder. Diese betrieben als freie Träger gut 400 Sexualberatungsstellen, wesentlich mehr als heutzutage. Hier wurden Aufklärungskurse angeboten, Hilfe für ungewollt Schwangere, Beratung über Verhütung mit Pessaren, Kondomen, Zäpfchen und Salben, in manchen wurden Verhütungsmittel sogar gratis abgegeben. Aber es gab zwei große Repressionsinstrumente, die die neue sexuelle Freiheit schnell wieder in alte Grenzen presste: den Homosexuellen-Paragraphen 175 und den Abtreibungs-Paragraphen 218. Der Schrei nach ihrer Abschaffung wurde immer lauter, doch alle Versuche scheiterten letztlich an der Feigheit oder Unwilligkeit der parlamentarischen Mehrheit im Reichstag. Die Abgeordneten wollten nicht zur Kenntnis nehmen, welche unglaublichen Ausmaße das Problem in jenen Zeiten ökonomischen Elends und unzuverlässiger Verhütungsmittel angenommen hatte. Auf jede Geburt, so wird geschätzt, kam damals eine Abtreibung. Jedes Jahr starben zwischen 10.000 und 40.000 Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen, also eine ganze Kleinstadt. Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 9 Die Abtreibungen mögen auch vor dem Hintergrund der steigenden weiblichen Erwerbstätigkeit und, ihr folgend, auch der weiblichen Erwerbslosigkeit in die Höhe geschnellt sein. Als Prototyp der weiblichen Emanzipation galten nunmehr die jungen Angestellten, die "Tippmamsells", "Bürofräuleins" und "Ladenmädchen". Rauchend, beineübereinanderschlagend, mal selbstbewußt, mal einfach nur „niedlich“, voller Sehnsucht nach der „großen Welt“ geisterten sie als Mythos durch die Feuilletons und Fortsetzungsromane meist männlicher Schreiber. Die neue Berufstätigkeit der "Neuen Frauen" war allerdings nicht immer freiwillig: Millionen von männlichen Familienversorgern waren gefallen oder zu Kriegsinvaliden geworden, Millionen von Frauen sahen sich plötzlich gezwungen, selbst Geld zu verdienen. Es war also eine durchaus widerspruchsvolle Emanzipation, die von den Frauen auch als solche erlebt und gelebt wurde. „Ein halbseidener Beruf“, schimpfe die Psychologin Alice Rühle-Gerstel 1932 über das Angestelltenwesen. „Halbseiden wie die Strümpfe und Hemdchen der Ladenfräuleins, halbseiden wie ihr Gemüt und ihre Gedankenwelt. Ihrer wirklichen Situation gemäß Proletarierin, ihrer Ideologie nach bürgerlich, ihrem Arbeitsfeld zufolge männlich, ihrer Arbeitsgesinnung nach weiblich. Schillernde Gestalten, von schillerndem Reiz oft, ebenso oft von schillernder Fragwürdigkeit, auf alle Fälle von schillernder Sicherheit ihres sozialen und seelischen Daseins.“ Doch so elend ihre Lebensökonomie und so naiv ihre Gedankenwelt auch gewesen sein mag, im Vergleich zu ihren Müttern und Großmüttern lebten diese Frauen ungleich unabhängiger. Die Bürgertöchter wurden nicht mehr im Haus eingemottet, um sie staubfrei für die Ehe aufzuheben; die Arbeitertöchter empfanden ihren "sauberen" Beruf, auch wenn sie ihn vielleicht nur bis zur Eheschließung ausübten, als enormen sozialen Aufstieg. "Die Eroberung der Büros durch die weiblichen Angestellten ist die größte Revolution in der sozialen Stellung der Frau", glaubte Fritz Croner, Funktionär des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Die Verweiblichung des Angestelltenberufs sei der "Beginn der wirklichen Emanzipation der Frau durch die Erwerbsarbeit in allen Schichten der Bevölkerung" gewesen. Das gesprengte Korsett gab einen Körper preis, der endlich zu seinem Recht kommen wollte, der sich sprichwörtlich entfesselt fühlte. Das Jahrzehnt der Körperlichkeit brach aus, der Kult der "Natürlichkeit". Man wollte sich endlich spüren. Sich bewegen in Licht, Luft und Sonne, sich an Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 10 Rhythmen und Geschwindigkeiten berauschen; wandern, turnen, schwimmen, tanzen, reiten, radfahren, autofahren. "Natürlich" wollte man sein, was auch immer das sei. Bis ungefähr 1907 war das gemeinsame Baden von Männlein und Weiblein undenkbar, nun erhob sich an sommerlichen Wochenenden großes Gekreische in den neuen Familienbädern am Wannsee oder Müggelsee. Seltsame Nudistenvereinigungen und "Nacktgenossenschaften" bildeten sich, die, angeblich bar jeder "triebhaften" Empfindung, die "Schönheit" des menschlichen Körpers anzubeten sich entschlossen hatten. Die Nacktauftritte von Anita Berber ließ sich kein Berliner Bohemien entgehen. Im Sommer sonnte man sich an FKK-Stränden, im Winter trafen sich die Nudisten in Privatgemächern zu gemeinsamen Turnübungen oder liefen nur mit Ohrenschützern und Stiefeln bekleidet Schlittschuh. Am heftigsten, wildesten, leidenschaftlichsten aber wütete der Tanz. Im Krieg hatte aus Gründen der „Pietät“ Tanzverbot geherrscht, doch kaum war dieses an Sylvester 1918/19 aufgehoben worden, verfiel die Metropole in einen jahrelang andauernden Tanztaumel. Überall entstanden Tanzdielen, Tanzpavillons, Tanzclubs, selbst in den Bürgerhäusern tobten die Tänze der "Fünfuhrtees" bis Mitternacht. Der Tanz war auch Ausdruck einer neuen, egalitären Geschlechterunordnung. Die Modetänze, aus den USA stammend, von afrikanischem Rhythmus durchsetzt, hießen Foxtrott, Shimmy, Charleston. Statt exakter Schrittführung nun wilde Bewegung, statt gemäßigten Schreitens Hüftschwung und Powackeln, statt männlicher Führung Damenwahl, statt weiblichen Geführtwerdens gemeinsames Bewegen, Loslösen, Wiederzusammenfinden. Es war der Tanz, der den gesellschaftlichen Bewegungsspielraum der Frauen erweiterte, und es war die neue weibliche Unabhängigkeit, die sich im Tanz offenbarte. Männer und Frauen warfen die starren Rollenkorsetts weg und wurden von einer ungeheuren androgynen Sehnsucht ergriffen. Doch es war keineswegs nur Lebenslust, die sich hier zeigte. Es war auch die nackte Verzweiflung angesichts der Kriegstoten, des Hungers, des Elends, die sich die Berlinerinnen vom Leib tanzten. "Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult... Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen", Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 11 schreibt Klaus Mann. "Anita Berber - das Gesicht zur grellen Maske erstarrt unter dem schaurigen Gelock der purpurnen Coiffure - tanzt den Koitus." Und dann kam die Weltwirtschaftskrise, und mit ihr die nackte ökonomische Angst. Alles Erreichte wurde wieder rückgängig gemacht. In drei Wellen führte die Männermehrheit des Reichstags ihren erfolgreichen Kampf gegen Frauenerwerbsarbeit und Frauenrechte: 1919, als die zurückkehrenden Soldaten wieder Anspruch auf ihre Arbeitsplätze erhoben; 1923, als wegen der Inflation im öffentlichen Dienst gespart wurde und die verheirateten Beamtinnen als "Doppelverdienerinnen" entlassen wurden; 1932, als dieses Beamtinnen-Zölibat im Zuge der Weltwirtschaftskrise erneuert wurde, diesmal sogar mit den Stimmen der SPD. Kaum eine Frauenvereinigung wehrte sich dagegen, und im "Bund deutscher Frauenvereine", der mit rund einer Million Mitglieder stärksten Frauenorganisation, wurde ein übers andere Mal die "Verantwortung" für die "Volksgemeinschaft" beschworen. Schlimmer noch, ein großer Teil der Frauen unterstützte und wählte nationalistisch-völkische Parteien, später auch die Nationalsozialisten. Auch sie verherrlichten die "Frau als Hüterin des Herdes" und "Mutterschaft als eigentlichen Beruf der Frau", auch sie meinten den „Willen zur Volkserhaltung“ angesichts des "Vordringens der geburtenstarken Völker des Ostens" stärken zu müssen - so formulierte es als eine von vielen Luise Scheffen-Döring, immerhin Vorsitzende des Bevölkerungspolitischen Ausschusses im Bund deutscher Frauenvereine. Die weibliche Mehrheit der Weimarer Republik, die doch ungleich mehr als die Männer von ihren neuen Freiheiten profitierte, hat weder ihre eigenen Rechte noch die Republik verteidigt. Auch sie hat die Sprengung ihres Korsetts nicht verkraftet. Auch sie setzte alles daran, sich neue Rollenuniformen zu entwerfen und Zwangsjacken zu nähen. Es dauerte nicht mehr lange, und aus dem Korsett wurde eine braune Uniform. Warum willigen Frauen in ihre eigene Selbstbeschneidung ein? Weshalb unterwerfen sie sich immer wieder freiwillig? Was fanden sie so attraktiv an diesem häßlichen Gefreiten aus Braunau und seinen aggressiven spießigen Spießgesellen? Warum fanden sie es attraktiver, ihr Mutterkreuz privat und öffentlich auf sich zu nehmen, anstatt einen Beruf zu ergreifen und eigenes Geld zu verdienen? Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 12 Offenbar fühlten sich viele Frauen überfordert von der Moderne, die viel zu schnell für ihr Gefühlsleben über sie hereingebrochen und ihnen das Gebaren einer „Superfrau“, die fröhliche Erfüllung aller Pflichten einer Mutter, Hausfrau, Ehefrau, Geliebten, Kameradin, Kollegin und Mitverdienerin abverlangt hatte. Viele wollten lieber „das Feuer des heimischen Herdes“ hüten, anstatt, wie sie glaubten, in den Frösten der Freiheit frieren zu müssen. Genau genommen war die ‚Neue Frau’ ein Mythos, ein in den Zeitungsfeuilletons herbeigeschriebenes Konstrukt, so ähnlich wie das ‚Superweib’ von heute. Die ‚Neue Frau’ sollte alles sein: eigenständig verdienende Berufstätige, zärtliche Mutter, sexuell aktive Geliebte, verständnisvolle Kameradin, ernährungsbewusste Konsumentin, gesundheitsbewusste Sportlerin, praktische Hausfrau, elegante Hausherrin. Natürlich konnte so gut wie keine Frau all diese Anforderungen gleichzeitig erfüllen, ohne sich Migräne, Magenschmerzen und Stresssymptome aller Art einzuhandeln Wo stünden wir heute, wenn die Nationalsozialisten nicht an die Macht gekommen wären? Wenn sie nicht z Millionen von Menschen umgebracht und den kulturellen Reichtum Deutschlands und Europas zerstört hätten? Wenn sich die Emanzipation der Frauen allmählich und kontinuierlich hätte weiterentwickeln können, statt von der absoluten Männerherrschaft des Nationalsozialismus erstickt zu werden? Hätten wir heute eine Republik der Gleichberechtigung, mit einer Kanzlerin an der Spitze, das Parlament und viele Berufe zur Hälfte weiblich besetzt? Die Nazis haben nicht nur Menschen vernichtet, sondern auch Orte, Kulturen, Ideen, Entwicklungen, sodass nachholende Prozesse bis heute anhalten - in Berlin am deutlichsten sichtbar. Nie wieder war die deutsche Metropole so fiebrig kreativ, so quirlig und rasant, selbst die Reichsbahner zischten in den zwanziger Jahren mit ihren Dampflokomotiven schneller von Hamburg nach Berlin als der heutige Schnarch- und Püh-Verein Deutsche Bahn. Auch in unseren aktuellen Debatten könnten sich die Bewohner der Weimarer Republik, wenn sie noch leben würden, mühelos wiedererkennen: Die Wucht der Modernisierung, die damit einhergehende Massenerwerbslosigkeit, die Ungerechtigkeit in der Arbeitsverteilung, der Geschwindigkeitswahn, die Technikgläubigkeit, alles ist wieder da. Und so viel hat sich gar nicht geändert. Nach dem Quantensprung in der Weimarer Zeit folgte für die Frauen ab 1930 eine mehr als dreißig Jahre währende Phase von Rückschritt, Repression und Terror und schließlich, nach Kriegsende, von Restauration und Stagnation. Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen 13 Die „Versorger-„ oder „Hausfrauenehe“, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das gesellschaftliche Leitbild bis weit hinein in linke Kreise, war in der Bundesrepublik weiterhin das vorherrschende Modell. Bis 1977 durfte eine verheiratete Frau in der Bundesrepublik laut BGB nur dann arbeiten, wenn ihr Mann ausdrücklich dem zustimmte. In der DDR hingegen schufteten beide Eltern meistens in Vollzeit, während die Kinder ganztägig in Krippen und Kindergärten untergebracht waren. Formal war dort die Frauenfrage gelöst, faktisch aber hatten die Ost-Frauen in Politik und Gesellschaft genauso wenig zu melden wie ihre West-Schwestern. Und dennoch ist die Mehrheit von ihnen in gewissem Sinne widerständig geblieben. Sie weigern sich bis heute, Hausfrauen zu werden oder sich mit Minijobs zu begnügen und damit die Erwerbslosenstatistik netter aussehen zu lassen. Das ist die langanhaltende Rache der Ostfrauen für eine Form der Wiedervereinigung, in der niemand sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen fragte. Doch mit oder ohne Ostfrauen: Auch heute gilt Deutschland immer noch als das härteste Patriarchat Westeuropas. Zwar ist auch hierzulande der weibliche Siegeszug in den Bildungseinrichtungen unaufhaltsam. Zwar sind die Abiturienten heute zu 60 Prozent und die Absolventen eines Studiums zu 48 Prozent weiblich. Aber von 100 Personen, die in den Nachrichten namentlich genannt, zitiert oder befragt werden, sind nach wie vor nur 22 Prozent weiblich. Und die Zahl der Professorinnen liegt immer noch bei nur etwa sechs Prozent, die der Unternehmensführerinnen unter vier Prozent. Viele Deutsche blicken arrogant auf die angeblich so unterdrückten türkischen Frauen in ihren Kopftüchern herab. In der Türkei sind fast 22 Prozent aller Professoren weiblich, das sind beinah viermal so viel wie in Deutschland. Offenbar brauchen wir hierzulande die Bilder von der armen unterdrückten Frau im Islam, um uns nicht selbst in die Augen sehen zu müssen. Auch in Siegen, das zeigen die Bilder der Ausstellung, haben Migrantinnen auf vielfältige Art und Weise ihr Leben gemeistert. Sie haben sich nicht ins Jammertal gesetzt, um zu greinen, sondern sie haben Schwierigkeiten im Leben als Herausforderungen begriffen, um sie zu überwinden. Ohne sie, ohne den Reichtum ihrer Kulturen, wäre unser Leben ärmer. Ihnen gilt genauso unser Dank wie den deutschen Pionierinnen, die in den zwanziger Jahren verrückt nach Leben ihre Unabhängigkeit durchsetzten und damit auch uns unsere heutige Unabhängigkeit erst möglich gemacht haben. Vielen Dank.