Verrückt nach Leben

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Verrückt nach Leben
Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen
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Verrückt nach Leben
Vor wenigen Tagen habe ich gelesen, dass die Löhne und Gehälter der Frauen hierzulande bei
gleicher Qualifikation auch heutzutage um durchschnittlich 12 Prozent geringer sind als die der
Männer - sind wir etwa 12 Prozent weniger Mensch? Über solche Skandale der anhaltenden
Diskriminierung gerät aber manchmal in Vergessenheit, wie viel wir schon erreicht und wie rapide
sich die Geschlechterrollen in den letzten hundert Jahren geändert haben. Sie haben sich geändert,
weil Frauen dagegen revoltiert haben, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, weil sie
geradezu verrückt nach Leben waren.
Was war denn vor hundert Jahren? Ich will willkürlich zwei Ereignisse herausgreifen: Bertha von
Suttner, nach der ja auch eine Siegener Gesamtschule benannt worden ist, hat 1905 als erste Frau
den Friedensnobelpreis bekommen. Helene Stöcker, hat ebenfalls 1905 den „Bund für
Mutterschutz“ gegründet, der sich für die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, für
die Gleichstellung unehelicher Kinder und die Streichung des Abtreibungsparagraphen 218
einsetzte.
Beide waren als Frauen absolute Ausnahmeerscheinungen: hochgebildet, sehr selbständig und mit
ihren Ideen ihrer Zeit um Lichtjahre voraus. Die Österreicherin Bertha von Suttner fand zuerst
nirgends einen Verlag für ihren Antikriegsroman „Die Waffen nieder“, 1889 erschien er dann aber
doch, und sie wurde mit ihren damals im wortwörtlichen Sinne unerhört pazifistischen Gedanken
weltberühmt. Den Friedensnobelpreis hat sie selbst ersonnen, als ehemalige Sekretärin und
Hausdame von Alfred Nobel übte sie einen starken Einfluss auf den Dynamit-Erfinder aus. Sie war
die erste Frau, die den renommierten Preis erhielt, doch dann sollten ihr fast nur noch Männer
folgen. Bis heute zählen nur zwölf Frauen zu den Preisträgerinnen. Das soll sich nach dem Willen
der Schweizer Initiative „1000 Frauen für den Friedensnobelpreis“ übrigens ändern, sie werden dem
Nobelpreiskomitee für dieses Jahr eine Liste von tausend Frauen aus aller Welt vorlegen, die den
Preis zusammen bekommen sollten.
Die gebürtige Elberfelderin Helene Stöcker, die manche „die Alice Schwarzer der zwanziger Jahre“
nennen, war eine Anhängerin Bertha von Suttners und als solche ebenso pazifistisch, aber darüber
hinaus kämpfte sie für Frauenrechte und freie Liebe. Vor hundert Jahren durften Frauen nicht
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wählen, nicht studieren, ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht arbeiten, sie durften sich ihren Gatten
nicht selbst aussuchen, von einem Freund ganz zu schweigen, sie waren fast ebenso rechtlos wie
heute die afghanischen Frauen. Auch Helene Stöcker wurde im deutschen Kaiserreich ein Studium
verwehrt. Als sie deshalb in die Schweiz ging und in Bern 1901 als erste Deutsche ihren Doktor
ablegte, berichteten viele deutsche Zeitungen aufgeregt über das „Fräulein Doktor Stöcker“. Erst
1908 öffneten sich die preußischen Universitäten für Frauen.
Bertha von Suttner ist hier in der typischen Mode der Zeit zu sehen, mit vielen Schleifchen und
Rüschchen. Der Schweizer Philosoph Georg Simmel schrieb in einem Aufsatz ebenfalls just im
Jahre 1905: „So häßliche und widrige Dinge sind manchmal modern, als wollte die Mode ihre
Macht gerade dadurch zeigen, daß wir ihretwegen das Abscheulichste auf uns nehmen; gerade die
Zufälligkeit, mit der sie einmal das Zweckmäßige, ein andermal das Abstruse, ein drittes Mal das
sachlich und ästhetisch ganz Indifferente anbefiehlt, zeigt ihre völlige Gleichgültigkeit gegen die
sachlichen Normen des Lebens, womit sie eben auf andere Motivierungen, nämlich die formalsozialen, als die einzig übrig bleibenden hinweist.“ Die jüngere Helene Stöcker hatte es da übrigens
wesentlich bequemer, in dieser wahrscheinlich aus den zwanziger Jahren stammenden Aufnahme
trägt sie ein taillenloses Reformkleid.
Dennoch: Beide Frauen sprengten das Korsett der traditionellen Geschlechterrollen. Sie waren
Pionierinnen, im Berufsleben wie auf erotischem Gebiet. Sie lebten ihr Leben, selbstbewußt,
eigensinnig, ohne sich dreinreden zu lassen, sie erweiterten weibliche Lebensräume. Welche
politischen, kulturellen, sozialpsychologischen Konsequenzen der damalige Aufbruch der Frauen
hatte, das können wir heute kaum mehr ermessen.
Das deutsche Kaiserreich war, wie alle militaristischen Staaten, gekennzeichnet durch eine starke
Polarisierung der Geschlechterrollen, die sich in der Weimarer Zeit entpolarisierten und
entspannten. In vielen Körpern und Köpfen führte das zu einer heillosen Verwirrung.
Im preußisch geprägten Kaiserreich war kein anderer Stand so angesehen wie das Militär, was sich
in der Uniformierung der Männermode niederschlug: steife Röcke, steife Kragen und steife Hüte,
auch die zivilen bürgerlichen Männer mussten gewissermaßen ständig stramm stehen und dieselbe
Ganzkörper-Erektion zeigen wie die Soldaten. Den bürgerlichen Frauen erging es nicht besser, sie
waren eingeschnürt und eingewickelt in Korsetts, Unterröcke, Reifröcke, Röcke, Jäckchen,
Rüschen, Spitzen, Schleifen, Schuhchen, Handschuhchen, Löckchen, Zöpfchen, Hütchen. Diese
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Mode war übrigens eine der Ursachen für die von Sigmund Freud so aufopfernd und ohne jeden
Erfolg behandelte weibliche Hysterie: Den im Fischkorsett eingeschnürten Damen blieb
sprichwörtlich die Luft weg, sobald sie etwas Aufregendes erlebten, und sie wurden ohnmächtig.
Hätten die Männerwesten so eng gesessen, wäre die Zahl der männlichen Hysteriker in die Höhe
geschnellt, und Freud wäre an Überarbeitung gestorben.
Er hatte auch so genug zu tun, denn die Gesellschaft der Jahrhundertwende war neurotisch bis zum
Überschnappen. Durch die Methode des Verhüllens und Verschweigens wurde nur erreicht, daß
alle ihre Mitglieder, Männer wie Frauen, unablässig nur an das Eine dachten. Mütter, Väter, Tanten,
Aufpasser aller Art ließen ihren Nachwuchs, vor allem ihren weiblichen, keine Minute aus den
Augen, ständig mit Grenzziehungen beschäftigt, mit neuen Definitionen dessen, was unpassend und
unsittlich sein könnte. Je stärker die Verbote, um so heftiger, befand Zeitzeuge Zweig,
"verschwülten sich die Sinne". Doch Sonne, Wasser und Luft, so schreibt er, durften einen
weiblichen Körper nicht berühren; Klosterschülerinnen mußten ihr häuslichen Bad in langen,
weißen Hemden nehmen.
Der tiefere ‚Sinn’ dieser Mode lag in der Zurichtung und Disziplinierung der Körper. Die
Bürgertöchter wurden im Haus eingemottet, um sie staubfrei für die Ehe aufzuheben. Ihnen wurde
jede Bewegungsfreiheit genommen, sie konnten sich nicht einmal selbständig an- und auskleiden.
Die so ‚verpanzerte’ Frau von damals sei ein „unseliges Wesen von bedauernswerter Hilflosigkeit“
gewesen, fand Stefan Zweig. Ich zitiere weiter: „So wollte die Gesellschaft von damals das junge
Mädchen, töricht und unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher
und unpraktisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein dazu bestimmt, in der
Ehe dann willenlos vom Manne geformt und geführt zu werden.“
Diese Strategie der ‚gezüchteten Dummheit’ konnte aber auch gründlich daneben gehen. Stefan
Zweig berichtet von seiner Tante, die in der Hochzeitsnacht bei ihren Eltern Sturm geklingelt habe:
Der ihr Angetraute sei ein Wahnsinniger und ein Unhold. Er habe versucht, sie zu entkleiden. Die
Schriftstellerin Vicky Baum berichtet Ähnliches von ihrer damals 18-jährigen Mutter: Auch sie
rannte in Panik zu ihren Eltern zurück. Vicky Baum erlebte eine unglückliche Kindheit zwischen
zwei miteinander verfeindeten Eheleuten und vermutete als Ursache dieser Feindseligkeit den
‚Schock’ der Hochzeitsnacht. „Ich glaube, daß meine Mutter noch bis zu diesem Tag mit Puppen
gespielt hat“, schreibt sie, über einem Foto ihrer Frau Mama sinnierend: Diese habe „das Aussehen
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einer vierzigjährigen Frau und den Verstand und die Lebenskenntnis eines neunjährigen Mädchens“
gehabt. „Sie war bleichsüchtig und meistens traurig. Sie konnte Chopin spielen und endlose
Meterrollen einer feinen Hemdspitze häkeln“, aber dem Leben sei sie in keiner Weise gewachsen
gewesen.
Und dann kam der Erste Weltkrieg: zwei Millionen Tote, knapp fünf Millionen Verwundete, auf
den Straßen Einbeinige und ‚Kriegszitterer’, die um ein paar Groschen bettelten. Die Frauen
ersetzten als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen oder Droschkenkutscherinnen die ausgefallenen
Männer. Es stürzte nicht nur das Kaiserreich in sich zusammen, sondern auch der angeberische
Hurra-Patriotismus, der Tschingderassabum-Militarismus, die gesamte bürgerliche Welt mit ihren
Zöpfen und Troddeln und mit ihren angesichts des Elends vollkommen lächerlich gewordenen
Vorstellungen von starker Männlichkeit und tugendhafter Weiblichkeit. „Die Männer waren ihren
Unternehmungen nicht mehr gewachsen“, stellte der Journalist Walter Kiaulehn nüchtern fest.
Aber sie spürte auch: Ausgerechnet der Krieg, bisher als Inbegriff des Mannestums gefeiert, hatte
die traditionelle Männlichkeit vom Sockel gestürzt. Plötzlich gab es eine weibliche Mehrheit: auf
100 Männer kamen nunmehr 110 Frauen. Und plötzlich gab es eine ganz neue weibliche
Bewegungsfreiheit: beruflich, privat, erotisch. Auf den Collagen der Dada-Künstlerin Hannah
Höchs sind es vor allem die Frauen, die Lebendigkeit und Bewegung ausstrahlen: Sie tanzen, sie
reiten, sie stürmen den Reichstag, während die Männer starr und steif, in grotesken Aufmachungen,
ihnen zuschauen.
Die Chansonette Claire Waldoff sang:
"Es geht durch die ganze Historie Ein Ruf nach Emanzipation.
Vom Menschen bis zur Infusorie Überall will das Weib auf den Thron.
Von der Amazone bis zur Berliner Range Braust ein Ruf wie Donnerhall daher:
Was die Männer können, können wir schon lange Und vielleicht `ne ganze Ecke mehr!
Raus mit den Männern aus dem Reichstag! Und raus mit den Männern aus dem Landtag!
Und raus mit den Männern auße´m Herrenhaus, Wir machen draus ein Frauenhaus.
Raus mit den Männern aus dem Dasein, Und raus mit den Männern aus dem Hiersein,
Und raus mit den Männern aus dem Dortsein, Sie müßten längst schon fort sein!
Ja, raus mit den Männern aus dem Bau, Und rein in die Dinger mit der Frau!"
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Tja. 1919, als die Frauen zum ersten Mal wählen konnten, lag ihre Wahlbeteilung bei stolzen 78
Prozent im Vergleich zu 62 Prozent bei den Männern. Fast zehn Prozent der Abgeordneten im
neuen Reichstag waren weiblich, das war ein Höchststand, der in keiner folgenden Reichstagswahl
und im Bundestag erst wieder 1983 erreicht werden sollte.
„Wir alle waren wie in ein Korsett eingeschnürt und wurden nun in die Freiheit entlassen“,
beschrieb die Künstlerin Hannah Höch die neue Bewegungsfreiheit für die Frauen. Sie durften nun
das Wahlrecht ausüben, studieren, arbeiten gehen, Sport treiben und ihre neue Unabhängigkeit im
Tanz ausdrücken: indepen-dance. Die Korsetts wurden gesprengt, die alten Zöpfe abgeschnitten, die
Reifröcke zugunsten von taillenlosen Einteilern weggeworfen. Mit der neuen Mode, schrieb
Heinrich Mann anerkennend, lasse sich „besser sowohl tanzen und Sport treiben wie auch in
Fabriken arbeiten“.
Die große Sehnsucht beider Geschlechter war die nach Annäherung und Androgynität. Die Damen
gingen als ‚Garçonne’, mit Bubikopf, Monokel, Schlips und Zigarettenspitze. Die Herren legten
ihre steifen Hüte und Krägen ab, rasierten ihre lächerlichen Kaiser-Wilhelm-Bärte weg,
parfümierten und pomadisierten sich und trugen seidene Frauenkleidung. Auch sie genossen es
sichtlich, die künstliche Polarisierung der Geschlechterrollen nicht mehr mitmachen zu müssen,
nicht mehr länger den harten Hartmut zu marikieren, Unisex, Geschlechterdemokratie! Arm in Arm
spazierten Knäbin und Knabe über den Kudamm. „Vielleicht auf keinem Gebiete des öffentlichen
Lebens“, staunte Stefan Zweig, „hat sich ...innerhalb eines einzigen Menschenalters eine so totale
Verwandlung vollzogen wie in den Beziehungen der Geschlechter zueinander.“ Es war noch nicht
einmal ein Menschenalter, es waren nur ein paar Jahre.
Der Kudamm wurde zum regelrechten Laufsteg für diese neuen Moden. Der Gesellschaftskritiker
Luigi Barzini beobachtete dort
„Männer in Frauenkleidung, Frauen als Männer oder Schulmädchen verkleidet, Frauen mit
hohen Stiefeln und Peitschen..., beinamputierte Veteranen auf Krücken, culs-de-jatte,
armamputierte oder blinde Veteranen mit dem Eisernen Kreuz und den hungrigen,
unrasierten Arbeitslosen; sie alle bettelten um Almosen. Ich traf Zuhälter, die jedem alles
anboten: kleine Jungen, kleine Mädchen, kräftige junge Männer, libidinöse Frauen und
(vermutlich) sogar Tiere.“
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Viele Straßenmädchen seien in Wirklichkeit Männer gewesen, schrieb die US-Schriftstellerin Anita
Loos, und „das schönste Mädchen war Conrad Veidt“ - damals ein bekannter Schauspieler und
Frauendarsteller. „Auf Transvestitenbällen“, notierte Stefan Zweig, „tanzten hunderte von Männern
in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Augen der Polizei.“
Und die Journalistin Gabriele Tergit berichtete über Transvestiten, die regelmäßig wegen „groben
Unfugs“ vor Gericht landeten: „Der grobe Unfug trägt sehr sittliche, dunkelgraue
Baumwollstrümpfe... Hier Ecke der Krausenstraße aß er ein paar Würstchen und wurde von einem
Sittenpolizisten...arrestiert”.
Die radikalste Wandlung in der Mode, die Frauenhose, ist uns heute am selbstverständlichsten
geworden. Wir tragen Jeans, aber keine ‚Krawallschleifen’ mehr, so wie die Sängerin Claire
Waldoff, und keine Monokel oder Zigarettenspitzen, so wie Marlene Dietrich. Doch ist es noch
nicht einmal hundert Jahre her, dass es dem weiblichen Geschlecht streng verboten war, das Wort
‚Hose’ überhaupt in den Mund zu nehmen, geschweige welche zu tragen; frau oder fräulein musste
Bezeichnungen wie ‚Beinkleider’ oder ‚die Unaussprechlichen’ zuhilfe nehmen. Nach dem Ersten
Weltkrieg aber wagten es die ersten Frauen, selbst Hosen zu tragen: die Sängerin und Kabarettistin
Claire Waldoff, die Schauspielerinnen Elisabeth Bergner und Louise Brooks. Marlene Dietrich
zeigte sich zu Beginn ihrer Karriere um 1926 auf den Brettern der Ku’damm-Bühnen mit Monokel
und seidenem Hosenanzug; die Tänzerin Anita Berber trat um 1922 entweder ganz nackt auf, nur
mit einem Diamanten im Bauchnabel, oder im Smoking.
Anita Berber und Marlene Dietrich kannten sich, aber dass sie viel füreinander übrig gehabt hätten,
erscheint fast ausgeschlossen. Sie waren sich zu ähnlich und gleichzeitig zu gegensätzlich. Sie
waren beide berühmt, von androgyner Schönheit, beide galten als verrucht, als Vamp und Femme
fatale, derentwegen sich Männer wie Frauen verrückt machten. Beide zeigten sie ihren Körper auf
der Bühne nur zu gerne her, beide bewiesen beträchtliches Talent, Konkurrentinnen wegzubeißen.
Beide waren weitgehend vaterlos groß geworden, hatten ihr weibliches Selbstbewusstsein von
Mütttern, Großmüttern und Tanten bezogen und ein Mädchenpensionat in Weimar besucht. Beide
galten als Sinnbild der neuen, der eigenständig begeherenden Frau, als Verkörperung des
weiblichen Bohemiens und Dandys, beide waren bisexuell und liebten Männer wie Frauen. Die
Heilige und die Hure symbolisierten sie beide scheinbar problemlos in einer Person.
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Anita Berber bot ihren Körper zum Kauf und verkleidete sich als Nonne. Sie zeigte sich nackt
ihrem Publikum und geriet doch über jeden Grabscher in Wut. In ihrer Hemmungslosigkeit
verkörperte sie den wilden Drang ihrer Generation zu leben, verrückt nach Leben eben, ohne einen
Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Sie ging keinem Skandal aus dem Weg, trank jeden
Abend eine Flasche Cognac leer, nahm Kokain und Morphium, prügelte sich mit jedem, der ihr
qauer kam. Mit nur 29 Jahren starb Anita Berber an Schwindsucht.
Marlene Dietrich hingegen galt als die Venus der Neuen Sachlichkeit, als die vollkommene
Symbiose von Unschuld und Laster, von Mutter und Liebesgöttin. Doch trotz ihres Rufes als Vamp
blieb sie ihr Leben lang ein braves preußisches Mädchen mit eiserner Disziplin, das nie über die
Stränge schlug. Sie lebte mehr als dreimal so lang wie die Berber und starb erst mit 91 Jahren.
Im Jahre 1922 tanzte die skandalöse Berber die “Tänze des Lasters, des Horrors und der Ekstase",
sie war die morbide Göttin des durch Krieg und Inflation ruinierten todessehnsüchtigen
Bürgertums. Das Korsett war gesprengt, die Zeit der entfesselten Körper und des entfesselten
Geldes brach an. Binnen kurzem kostete ein Buch mehr als eine ganze Druckerei, ein Stück Seife
mehr als eine ganze Seifenfabrik. Alle, die konnten, handelten und spekulierten mit Waren und
Devisen, das Schieberwesen blühte, die Großindustrie gedieh, und die einstmals so wohlhabende
Mittelschicht Deutschlands versank vollkommen verarmt im Abgrund.
Nicht nur reales Kapital wurde dadurch vernichtet. Für das Bürgertum war die Jungfräulichkeit
seiner höheren Töchter ein symbolisches Kapital von hohem Wert gewesen, denn sie konnte in
Heirat und ökonomische Sicherheit getauscht werden. Damit war es ein für allemal vorbei. Die
wirtschaftliche Stabilität war perdu, die Ökonomie des Heiratsmarkts brach zusammen, die
Familien waren gezwungen, die Aussteuer ihrer Töchter zu verkaufen, der Kurswert der
Jungfräulichkeit stürzte ins Bodenlose.
Er glaube, Geschichte ziemlich gründlich zu kennen, schrieb Stefan Zweig, aber seines Wissens
habe sie nie „eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen Proportionen“ produziert. Bedingt durch
den „Sturz aller Werte“ im sprichwörtlichen wie im übertragenen Sinne habe „eine Art Irrsinn“ vor
allem die bürgerlichen Kreise ergriffen. „Die jungen Mädchen rühmten sich stolz, pervers zu sein;
mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit verdächtig zu sein, hätte damals in jeder Berliner
Schule als Schmach gegolten.“ Die Mädchen erlebten es als Schande, mit 18 oder 20 noch Jungfrau
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zu sein, bestätigte der Sexualforscher Wilhelm Reich. Besonders im Arbeitermilieu sei
außerehelicher Sex selbstverständlich. „Die Frauen wurden frei“, kommentierte eine namenlose
Berliner Journalistin diesen Epochenbruch nüchtern. Und eine 1932 vom Frankfurter Institut für
Sozialforschung erhobene Studie zur „neuen Sexualmoral“ kam zu folgendem Ergebnis:
„In der Nachkriegszeit ist die monogame Ehe noch viel mehr als in der Vorkriegszeit eine
mit Mühe aufrechterhaltene Attrappe geblieben. Die Ehepaare, die einander aus Zuneigung
und innerer Überzeugung treu blieben, sind zumindest in der Großstadt sehr selten.“
Innerhalb von wenigen Jahren waren für das tonangebende Bürgertum alle Werte zerbrochen, an die
es jahrhundertelang geglaubt hatte: die monogame Ehe, die strenge Arbeitsteilung der Geschlechter,
die unumstößliche Ordnung des Patriarchats. Oder, in den Begriffen von damals: Moral, Treue,
Sitte, Zucht und Ordnung, Tugend, Anstand und Ehre, also alles, wofür ein preußischer Ehrenmann
zu leben glaubte, war perdu.
Besonders zu schaffen machte ihm die Lockerung der sexuellen Sitten. Die oben schon erwähnte
Sexualreformerin Helene Stöcker arbeitete in den zwanziger Jahren im Berliner Institut für
Sexualforschung, das der jüdische Arzt und Sexualreformer Magnus Hirschfeld gegründet hatte. Sie
setzte sich ein für freie Liebe, für die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, für das Recht auf
Verhütung und Abtreibung und initiierte mit Hirschfeld eine Reformbewegung, die sich zu einer
veritablen Volksbewegung anwuchs, ihre verschiedenen Organisationen hatten reichsweit zwischen
110.000 und 150.000 Mitglieder. Diese betrieben als freie Träger gut 400 Sexualberatungsstellen,
wesentlich mehr als heutzutage. Hier wurden Aufklärungskurse angeboten, Hilfe für ungewollt
Schwangere, Beratung über Verhütung mit Pessaren, Kondomen, Zäpfchen und Salben, in manchen
wurden Verhütungsmittel sogar gratis abgegeben.
Aber es gab zwei große Repressionsinstrumente, die die neue sexuelle Freiheit schnell wieder in
alte Grenzen presste: den Homosexuellen-Paragraphen 175 und den Abtreibungs-Paragraphen 218.
Der Schrei nach ihrer Abschaffung wurde immer lauter, doch alle Versuche scheiterten letztlich an
der Feigheit oder Unwilligkeit der parlamentarischen Mehrheit im Reichstag. Die Abgeordneten
wollten nicht zur Kenntnis nehmen, welche unglaublichen Ausmaße das Problem in jenen Zeiten
ökonomischen Elends und unzuverlässiger Verhütungsmittel angenommen hatte. Auf jede Geburt,
so wird geschätzt, kam damals eine Abtreibung. Jedes Jahr starben zwischen 10.000 und 40.000
Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen, also eine ganze Kleinstadt.
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Die Abtreibungen mögen auch vor dem Hintergrund der steigenden weiblichen Erwerbstätigkeit
und, ihr folgend, auch der weiblichen Erwerbslosigkeit in die Höhe geschnellt sein. Als Prototyp
der weiblichen Emanzipation galten nunmehr die jungen Angestellten, die "Tippmamsells",
"Bürofräuleins" und "Ladenmädchen". Rauchend, beineübereinanderschlagend, mal selbstbewußt,
mal einfach nur „niedlich“, voller Sehnsucht nach der „großen Welt“ geisterten sie als Mythos
durch die Feuilletons und Fortsetzungsromane meist männlicher Schreiber. Die neue Berufstätigkeit
der "Neuen Frauen" war allerdings nicht immer freiwillig: Millionen von männlichen
Familienversorgern waren gefallen oder zu Kriegsinvaliden geworden, Millionen von Frauen sahen
sich plötzlich gezwungen, selbst Geld zu verdienen.
Es war also eine durchaus widerspruchsvolle Emanzipation, die von den Frauen auch als solche
erlebt und gelebt wurde. „Ein halbseidener Beruf“, schimpfe die Psychologin Alice Rühle-Gerstel
1932 über das Angestelltenwesen. „Halbseiden wie die Strümpfe und Hemdchen der
Ladenfräuleins, halbseiden wie ihr Gemüt und ihre Gedankenwelt. Ihrer wirklichen Situation gemäß
Proletarierin, ihrer Ideologie nach bürgerlich, ihrem Arbeitsfeld zufolge männlich, ihrer
Arbeitsgesinnung nach weiblich. Schillernde Gestalten, von schillerndem Reiz oft, ebenso oft von
schillernder Fragwürdigkeit, auf alle Fälle von schillernder Sicherheit ihres sozialen und
seelischen Daseins.“
Doch so elend ihre Lebensökonomie und so naiv ihre Gedankenwelt auch gewesen sein mag, im
Vergleich zu ihren Müttern und Großmüttern lebten diese Frauen ungleich unabhängiger. Die
Bürgertöchter wurden nicht mehr im Haus eingemottet, um sie staubfrei für die Ehe aufzuheben; die
Arbeitertöchter empfanden ihren "sauberen" Beruf, auch wenn sie ihn vielleicht nur bis zur
Eheschließung ausübten, als enormen sozialen Aufstieg. "Die Eroberung der Büros durch die
weiblichen Angestellten ist die größte Revolution in der sozialen Stellung der Frau", glaubte Fritz
Croner, Funktionär des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Die Verweiblichung des
Angestelltenberufs sei der "Beginn der wirklichen Emanzipation der Frau durch die Erwerbsarbeit
in allen Schichten der Bevölkerung" gewesen.
Das gesprengte Korsett gab einen Körper preis, der endlich zu seinem Recht kommen wollte, der
sich sprichwörtlich entfesselt fühlte. Das Jahrzehnt der Körperlichkeit brach aus, der Kult der
"Natürlichkeit". Man wollte sich endlich spüren. Sich bewegen in Licht, Luft und Sonne, sich an
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Rhythmen und Geschwindigkeiten berauschen; wandern, turnen, schwimmen, tanzen, reiten,
radfahren, autofahren.
"Natürlich" wollte man sein, was auch immer das sei. Bis ungefähr 1907 war das gemeinsame
Baden von Männlein und Weiblein undenkbar, nun erhob sich an sommerlichen Wochenenden
großes Gekreische in den neuen Familienbädern am Wannsee oder Müggelsee. Seltsame
Nudistenvereinigungen und "Nacktgenossenschaften" bildeten sich, die, angeblich bar jeder
"triebhaften" Empfindung, die "Schönheit" des menschlichen Körpers anzubeten sich entschlossen
hatten. Die Nacktauftritte von Anita Berber ließ sich kein Berliner Bohemien entgehen. Im Sommer
sonnte man sich an FKK-Stränden, im Winter trafen sich die Nudisten in Privatgemächern zu
gemeinsamen Turnübungen oder liefen nur mit Ohrenschützern und Stiefeln bekleidet Schlittschuh.
Am heftigsten, wildesten, leidenschaftlichsten aber wütete der Tanz. Im Krieg hatte aus Gründen
der „Pietät“ Tanzverbot geherrscht, doch kaum war dieses an Sylvester 1918/19 aufgehoben
worden, verfiel die Metropole in einen jahrelang andauernden Tanztaumel. Überall entstanden
Tanzdielen, Tanzpavillons, Tanzclubs, selbst in den Bürgerhäusern tobten die Tänze der
"Fünfuhrtees" bis Mitternacht.
Der Tanz war auch Ausdruck einer neuen, egalitären Geschlechterunordnung. Die Modetänze, aus
den USA stammend, von afrikanischem Rhythmus durchsetzt, hießen Foxtrott, Shimmy,
Charleston. Statt exakter Schrittführung nun wilde Bewegung, statt gemäßigten Schreitens
Hüftschwung und Powackeln, statt männlicher Führung Damenwahl, statt weiblichen
Geführtwerdens gemeinsames Bewegen, Loslösen, Wiederzusammenfinden. Es war der Tanz, der
den gesellschaftlichen Bewegungsspielraum der Frauen erweiterte, und es war die neue weibliche
Unabhängigkeit, die sich im Tanz offenbarte. Männer und Frauen warfen die starren Rollenkorsetts
weg und wurden von einer ungeheuren androgynen Sehnsucht ergriffen.
Doch es war keineswegs nur Lebenslust, die sich hier zeigte. Es war auch die nackte Verzweiflung
angesichts der Kriegstoten, des Hungers, des Elends, die sich die Berlinerinnen vom Leib tanzten.
"Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen
Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur
idée fixe, zum Kult... Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen",
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schreibt Klaus Mann. "Anita Berber - das Gesicht zur grellen Maske erstarrt unter dem schaurigen
Gelock der purpurnen Coiffure - tanzt den Koitus."
Und dann kam die Weltwirtschaftskrise, und mit ihr die nackte ökonomische Angst. Alles Erreichte
wurde wieder rückgängig gemacht. In drei Wellen führte die Männermehrheit des Reichstags ihren
erfolgreichen Kampf gegen Frauenerwerbsarbeit und Frauenrechte: 1919, als die zurückkehrenden
Soldaten wieder Anspruch auf ihre Arbeitsplätze erhoben; 1923, als wegen der Inflation im
öffentlichen Dienst gespart wurde und die verheirateten Beamtinnen als "Doppelverdienerinnen"
entlassen wurden; 1932, als dieses Beamtinnen-Zölibat im Zuge der Weltwirtschaftskrise erneuert
wurde, diesmal sogar mit den Stimmen der SPD. Kaum eine Frauenvereinigung wehrte sich
dagegen, und im "Bund deutscher Frauenvereine", der mit rund einer Million Mitglieder stärksten
Frauenorganisation, wurde ein übers andere Mal die "Verantwortung" für die "Volksgemeinschaft"
beschworen.
Schlimmer noch, ein großer Teil der Frauen unterstützte und wählte nationalistisch-völkische
Parteien, später auch die Nationalsozialisten. Auch sie verherrlichten die "Frau als Hüterin des
Herdes" und "Mutterschaft als eigentlichen Beruf der Frau", auch sie meinten den „Willen zur
Volkserhaltung“ angesichts des "Vordringens der geburtenstarken Völker des Ostens" stärken zu
müssen - so formulierte es als eine von vielen Luise Scheffen-Döring, immerhin Vorsitzende des
Bevölkerungspolitischen Ausschusses im Bund deutscher Frauenvereine.
Die weibliche Mehrheit der Weimarer Republik, die doch ungleich mehr als die Männer von ihren
neuen Freiheiten profitierte, hat weder ihre eigenen Rechte noch die Republik verteidigt. Auch sie
hat die Sprengung ihres Korsetts nicht verkraftet. Auch sie setzte alles daran, sich neue
Rollenuniformen zu entwerfen und Zwangsjacken zu nähen. Es dauerte nicht mehr lange, und aus
dem Korsett wurde eine braune Uniform.
Warum willigen Frauen in ihre eigene Selbstbeschneidung ein? Weshalb unterwerfen sie sich
immer wieder freiwillig? Was fanden sie so attraktiv an diesem häßlichen Gefreiten aus Braunau
und seinen aggressiven spießigen Spießgesellen? Warum fanden sie es attraktiver, ihr Mutterkreuz
privat und öffentlich auf sich zu nehmen, anstatt einen Beruf zu ergreifen und eigenes Geld zu
verdienen?
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Offenbar fühlten sich viele Frauen überfordert von der Moderne, die viel zu schnell für ihr
Gefühlsleben über sie hereingebrochen und ihnen das Gebaren einer „Superfrau“, die fröhliche
Erfüllung aller Pflichten einer Mutter, Hausfrau, Ehefrau, Geliebten, Kameradin, Kollegin und
Mitverdienerin abverlangt hatte. Viele wollten lieber „das Feuer des heimischen Herdes“ hüten,
anstatt, wie sie glaubten, in den Frösten der Freiheit frieren zu müssen. Genau genommen war die
‚Neue Frau’ ein Mythos, ein in den Zeitungsfeuilletons herbeigeschriebenes Konstrukt, so ähnlich
wie das ‚Superweib’ von heute. Die ‚Neue Frau’ sollte alles sein: eigenständig verdienende
Berufstätige, zärtliche Mutter, sexuell aktive Geliebte, verständnisvolle Kameradin,
ernährungsbewusste Konsumentin, gesundheitsbewusste Sportlerin, praktische Hausfrau, elegante
Hausherrin. Natürlich konnte so gut wie keine Frau all diese Anforderungen gleichzeitig erfüllen,
ohne sich Migräne, Magenschmerzen und Stresssymptome aller Art einzuhandeln
Wo stünden wir heute, wenn die Nationalsozialisten nicht an die Macht gekommen wären? Wenn
sie nicht z Millionen von Menschen umgebracht und den kulturellen Reichtum Deutschlands und
Europas zerstört hätten? Wenn sich die Emanzipation der Frauen allmählich und kontinuierlich
hätte weiterentwickeln können, statt von der absoluten Männerherrschaft des Nationalsozialismus
erstickt zu werden? Hätten wir heute eine Republik der Gleichberechtigung, mit einer Kanzlerin an
der Spitze, das Parlament und viele Berufe zur Hälfte weiblich besetzt?
Die Nazis haben nicht nur Menschen vernichtet, sondern auch Orte, Kulturen, Ideen,
Entwicklungen, sodass nachholende Prozesse bis heute anhalten - in Berlin am deutlichsten
sichtbar. Nie wieder war die deutsche Metropole so fiebrig kreativ, so quirlig und rasant, selbst die
Reichsbahner zischten in den zwanziger Jahren mit ihren Dampflokomotiven schneller von
Hamburg nach Berlin als der heutige Schnarch- und Püh-Verein Deutsche Bahn. Auch in unseren
aktuellen Debatten könnten sich die Bewohner der Weimarer Republik, wenn sie noch leben
würden, mühelos wiedererkennen: Die Wucht der Modernisierung, die damit einhergehende
Massenerwerbslosigkeit, die Ungerechtigkeit in der Arbeitsverteilung, der Geschwindigkeitswahn,
die Technikgläubigkeit, alles ist wieder da. Und so viel hat sich gar nicht geändert. Nach dem
Quantensprung in der Weimarer Zeit folgte für die Frauen ab 1930 eine mehr als dreißig Jahre
währende Phase von Rückschritt, Repression und Terror und schließlich, nach Kriegsende, von
Restauration und Stagnation.
Ute Scheub, Verrückt nach Leben, Vortrag über die Frauen der zwanziger Jahre am 4.3. 2005 in Siegen
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Die „Versorger-„ oder „Hausfrauenehe“, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das
gesellschaftliche Leitbild bis weit hinein in linke Kreise, war in der Bundesrepublik weiterhin das
vorherrschende Modell. Bis 1977 durfte eine verheiratete Frau in der Bundesrepublik laut BGB nur
dann arbeiten, wenn ihr Mann ausdrücklich dem zustimmte. In der DDR hingegen schufteten beide
Eltern meistens in Vollzeit, während die Kinder ganztägig in Krippen und Kindergärten
untergebracht waren. Formal war dort die Frauenfrage gelöst, faktisch aber hatten die Ost-Frauen in
Politik und Gesellschaft genauso wenig zu melden wie ihre West-Schwestern. Und dennoch ist die
Mehrheit von ihnen in gewissem Sinne widerständig geblieben. Sie weigern sich bis heute,
Hausfrauen zu werden oder sich mit Minijobs zu begnügen und damit die Erwerbslosenstatistik
netter aussehen zu lassen. Das ist die langanhaltende Rache der Ostfrauen für eine Form der
Wiedervereinigung, in der niemand sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen fragte.
Doch mit oder ohne Ostfrauen: Auch heute gilt Deutschland immer noch als das härteste Patriarchat
Westeuropas. Zwar ist auch hierzulande der weibliche Siegeszug in den Bildungseinrichtungen
unaufhaltsam. Zwar sind die Abiturienten heute zu 60 Prozent und die Absolventen eines Studiums
zu 48 Prozent weiblich. Aber von 100 Personen, die in den Nachrichten namentlich genannt, zitiert
oder befragt werden, sind nach wie vor nur 22 Prozent weiblich. Und die Zahl der Professorinnen
liegt immer noch bei nur etwa sechs Prozent, die der Unternehmensführerinnen unter vier Prozent.
Viele Deutsche blicken arrogant auf die angeblich so unterdrückten türkischen Frauen in ihren
Kopftüchern herab. In der Türkei sind fast 22 Prozent aller Professoren weiblich, das sind beinah
viermal so viel wie in Deutschland. Offenbar brauchen wir hierzulande die Bilder von der armen
unterdrückten Frau im Islam, um uns nicht selbst in die Augen sehen zu müssen. Auch in Siegen,
das zeigen die Bilder der Ausstellung, haben Migrantinnen auf vielfältige Art und Weise ihr Leben
gemeistert. Sie haben sich nicht ins Jammertal gesetzt, um zu greinen, sondern sie haben
Schwierigkeiten im Leben als Herausforderungen begriffen, um sie zu überwinden. Ohne sie, ohne
den Reichtum ihrer Kulturen, wäre unser Leben ärmer. Ihnen gilt genauso unser Dank wie den
deutschen Pionierinnen, die in den zwanziger Jahren verrückt nach Leben ihre Unabhängigkeit
durchsetzten und damit auch uns unsere heutige Unabhängigkeit erst möglich gemacht haben.
Vielen Dank.