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Karin Kortmann Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Rede beim Verband türkischer Industrieller und Unternehmer in Europa Düsseldorf, 29. Februar 2008 Gliederung I. II. III. IV. V. VI. Begrüßung und Einleitung Die Sicherheitslage Die Situation der Frauen in Afghanistan Deutschlands Beitrag Erfolge Schluss / Ausblick • Herzlichen Dank für Ihre Einladung! • Das Engagement des Verbandes türkischer Industrieller und Unternehmer in Europa ist beispielhaft. Ihre Arbeit ist so wichtig, weil es immer noch nötig ist, für ein gutes Miteinander zu werben, Vorurteile übereinander abzubauen und miteinander ins Gespräch zu kommen. • Besonders mit der Vergabe von Stipendien an junge Türkinnen und Türken legen Sie einen Grundstein für eine erfolgreiche Integration durch Bildung. • Denn in der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft gilt mehr denn je: „Wissen ist Macht“. Macht, um sich selbstbestimmt und selbstbewusst in unserer komplexen Welt bewegen zu können, um verantwortungsvoll Entscheidungen treffen zu können, um eine gute Arbeisstelle zu bekommen. • Ich freue mich sehr, dass Sie heute mehr zu Afghanistan wissen wollen und mich eingeladen haben, zu der Situation vor Ort und der Arbeit der Bundesregierung zu sprechen. • Zentrale Herausforderungen in Afghanistan sind die Stabilisierung des Landes, der Staatsaufbau und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, insbesondere der Frauen. Dafür setzt sich die Bundesregierung besonders ein. 2 II. Die Sicherheitslage • Der Erfolg unserer Arbeit in Afghanistan hängt stark von der Unterstützung der afghanischen Bevölkerung ab. Ein Forscherteam der Freien Universität Berlin hat im Januar d.J. die erste repräsentative Studie zur Einschätzung der Arbeit von Sicherheits- und Entwicklungsakteuren durch die afghanische Bevölkerung in Nord-Ost-Afghanistan vorgelegt. – Und uns damit Auftrieb gegeben: 76%, d.h. eine überwältigende Mehrheit der Befragten findet, dass sich die Sicherheitslage sehr verbessert hat. Weitere 23% der Befragten sind der Meinung , dass es eine Verbesserung gab. Damit bewerten 99% der Befragten die Situation heute besser als vor dem internationalen Einschreiten! Besonders erfreulich ist, dass 88% dies den ausländischen Truppen zuschreiben. Dieses enorme Vertrauen müssen wir weiter aufbauen indem wir die Sicherheitslage weiter verbessern und den zivilen Aufbau verstärken. • Leider hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschärft. Wir erleben aktuell eine neue Dimension an Selbstmordattentaten, die wir so 2001 nicht vorhergesehen haben. Und es ist absehbar, dass sich diese gefährliche Entwicklung weiter fortsetzen wird. Sorgen bereiten uns die militanten regierungsfeindlichen Kräfte und die organisierte Kriminalität, einschließlich der Drogenkriminalität. Immer wieder brechen lokale Konflikte um die regionale Vorherrschaft oder um die Oberhand beim Opiumanbau auf. Die instabile Lage erschwert den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie enorm. • Und zeigt: Entwicklungszusammenarbeit hat beides: Erfolge und Grenzen. Der Wiederaufbau Afghanistans ist eine primär politische Aufgabe, keine militärische. Primär eine Aufgabe der afghanischen Regierung, des afhanischen Parlaments, der gesamten afghanischen Bevölkerung. Wir und die internationale Gemeinschaft unterstützen sie dabei. Dennoch ist Wiederaufbau und Entwicklung nur in einem stabilen Umfeld möglich. Nur mit einem Mindestmaß an Sicherheit können die afghanischen Staatsorgane und die vielen internationalen Helfer ihre Arbeit machen. Natürlich gilt dies genauso für die Zivilisten, die in ihrem Alltag darauf vertrauen müssen, sich nicht permanent in Lebensgefahr zu befinden. Dies ist durch Entwicklungspolitik allein nicht leistbar. • Die internationale Schutztruppe ISAF unterstützt Afghanistan bei der schwierigen Aufgabe, Sicherheit zu schaffen, und die notwendige Reform des Sicherheitssektors zu bewältigen, vor allem den Aufbau einer funktionierenden afghanischen Armee. • Für Sicherheit und Stabilität muss die afghanische Regierung Korruption und Amtsmissbrauch aufdecken und verfolgen. Bemerkenswert ist: Wie in vielen anderen Ländern zeigt sich auch in Afghanistan: wo mehr Frauen in der Verwaltung arbeiten, nimmt die Korruption spürbar ab. • In der Drogenbekämpfung ist die afghanische Regierung stärker gefragt. Sie muss ihre Glaubwürdigkeit beweisen und die Drahtzieher des Schmuggels vor Gericht stellen. • Korruption zerstört mühsam aufgebautes Vertrauen. Und das Misstrauen der Menschen gegenüber der eigenen Regierung ist durch Korruption und rechtsfreie Räume besonders groß. 3 • Weil man sich dem eigenen Stammesverband oft stärker verpflichtet fühlt als der Kabuler Zentralregierung. • Weil kriminelle Netzwerke im Opiumhandel rasches Geld versprechen. • Weil die Strafverfolgung einem Dorfpolizisten oder einem Distriktrichter Courage bis zur Selbstverleugnung abverlangen. • Weil staatliche Positionen als Lizenz für Menschenrechtsverletzungen interpretiert werden • Oder weil die Berge hoch sind und Kabul weit ist… • Denn nach wie vor gibt es in Afghanistan große Unterschiede zwischen Stadt und Land. Die Stimmungslage außerhalb der Städte ist aber entscheidend für den Erfolg! Die Verbesserungen müssen gerade in den ländlichen Regionen für die Menschen greifbar sein! Durch einen funktionierenden Dorfbrunnen, eine Asphaltstraße zur nächsten Distriktstadt, eine Dorfhebamme… Durch Verbesserung solcher staatlichen Dienstleistungen sollen die Menschen Vertrauen in die staatlichen Institutionen gewinnen. • Die internationale Gemeinschaft ist also gefordert gemeinsam mit der gewählten afghanischen Präsidenten, der Regierung, dem Parlament und der Zivilgesellschaft, um das Vertrauen der Bevölkerung zu werben. Dazu muss der Dialog mit den Stammesältesten, Provinzräten und lokaler Verwaltung geführt und intensiviert werden. III. Die Situation der Frauen in Afghanistan • Afghanistan unter den Taliban bedeutete für die meisten Frauen eine Zeit voller Dunkelheit. Mädchen war die Schulbildung untersagt, Frauen durften keinen Beruf ausüben, dadurch brach das Schul- und Gesundheitssystem nahezu zusammen. Kinos, Musik, Spiele, öffentliche Hochzeiten, Radio und Fernsehen waren verboten. Für Frauen sogar die ärztliche Versorgung. Rund 400 fundamentalistische Sittenpolizisten patrouillierten täglich durch Kabul. Sie schlugen Frauen, die nicht genügend verschleiert waren, mit Gerten. Frauen, die sich ohne Begleitung eines männlichen Verwandten in der Öffentlichkeit bewegten, wurden dafür ebenfalls bestraft. Wer von Ihnen den Roman „Tausend strahlende Sonnen“ von dem afghanischstämmigen Autor Khaled Hosseini (Autor von der „Drachenläufer“) gelesen hat, bekommt einen bewegend-erschreckenden Eindruck von der Situation der Frauen in dieser Zeit. • In den letzten Jahren haben sich die politischen und sozialen Rahmenbedingungen für Frauen etwas gebessert: Die afghanische Verfassung schreibt die Gleichberechtigung und besondere Förderung von Frauen in sozialen Bereichen sowie Diskriminierungsverbote fest. Für Parlamentsabgeordnete ist eine Frauen-Quote von 27% vorgegeben. Frauen nahmen bei den Wahlen 2004 und 2005 ihre Rechte auf politische Teilhabe wahr. Afghanistan hat heute ein gewähltes Parlament, das sich zu 4 einem Viertel aus Frauen zusammensetzt, die sich aktiv an der Gestaltung des Landes beteiligen. 68 Frauen sind im Parlament. Eine steigende Anzahl von Frauen bekleidet hohe Ämter im Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsbereich. • Konnte noch zu Taliban-Zeiten so gut wie kein Mädchen zur Schule gehen, liegt der Anteil 2007 bereits bei landesweit 35-40%. Unter den Taliban war Frauen der Lehrberuf praktisch verwehrt, heute sind gut 25% des landesweiten Lehrpersonals Frauen. Trotz dieser Erfolge liegt die Quote der Analphabetinnen noch immer bei 80%. Dies erschwert die Situation der Frauen erheblich. Die meisten Frauen wissen kaum etwas über ihre Rechte und können sich nicht selbst informieren, weil sie weder lesen noch schreiben können. • So bleibt noch erheblicher Verbesserungsbedarf für das tägliche Leben von Frauen und Mädchen, insbesondere auf dem Land. Zu wenige haben Zugang zu Trinkwasser, medizinischer Versorgung, Einkommen oder auch Rechtsberatung. Nach wie vor haben es Frauen schwer, überhaupt zu arbeiten. Bevor sie eine Arbeit aufnehmen, müssen sie noch immer ihren Mann um Erlaubnis bitten. Allerdings verletzt es vielfach sein Ehrverständnis, wenn er nicht alleine in der Lage ist, die Familie zu ernähren. So haben viele Frauen kein eigenes Einkommen und befinden sich dauerhaft in der Abhängigkeit ihrer Männer. • Die schlechte Sicherheitslage wirkt sich besonders negativ für die Frauen aus. Wenn sie nicht vollständig verschleiert sind, müssen sie oftmals mit Gewaltakten rechnen. In ländlichen Gegenden ist dies besonders schlimm. Gewalt gegen Frauen wird vielerorts nicht als Verbrechen geahndet, und Mädchenhandel, Steinigungen und Entführungen sind häufig. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen beträgt 43 Jahre. • Erschreckend hoch ist zudem die Selbstmordrate bei Frauen. Seit 2002 hat sich die Zahl der Selbstmorde allein in der Provinz Herat von 26 auf 700 erhöht. Die Selbsttötung wird vielerorts als letzte Möglichkeit gesehen, um der häuslichen Gewalt und den Misshandlungen zu entkommen. Da viele Frauen kaum Kontakt zur Außenwelt haben, kommen sie nicht an Medikamente oder Schusswaffen. Am einfachsten kommen sie an Benzin, das sie zum Kochen verwenden. Die besonders grausame Selbstverbrennung ist deshalb die häufigste Form der Selbsttötung. • Diejenigen, die ihre Suizidversuche – oft schwer verletzt - überleben, haben mit tiefer Missachtung zu rechnen, weil sie der Familie Schande zugefügt haben. Häufig fordern die Familien der Ehemänner den Brautpreis zurück. Die Ehemänner und oft Peiniger ihrer Frauen werden hingegen selten zur Rechenschaft gezogen. Wenn sie wirklich verurteilt werden, kaufen ihre Familien sie vielfach nach ein paar Monaten Haft wieder frei. Den Männern bleibt die Unterstützung der Familie sicher. • Frauen bleiben so von elementaren Rechten ausgeschlossen. Oftmals werden sie zur Zwangsheirat genötigt. Traurige Berühmtheit hat das UNICEF Bild des Jahres 2007 erlangt. Die Aufnahme zeigt ein Brautpaar in Afghanistan, das gegensätzlicher kaum sein könnte. Der Bräutigam ist 40 Jahre alt, wirkt wie ein alter Mann. Die Braut ist 11 Jahre alt, noch ein Kind. Sie wird gefragt, was sie bei der Eheschließung empfände. Sie empfände nichts, sagt sie, denn sie kenne den Mann nicht. Ein selbstbestimmtes und 5 selbstbewusstes Leben bleibt ihr, wie vielen anderen Frauen in Afghanistan, verwehrt. • Die Ursachen für diese ernüchternde frauenpolitische Bilanz liegen zum einen an den hartnäckigen traditionellen Gesellschaftsstrukturen in Afghanistan, die Frauen und Mädchen systematisch diskriminieren. Zur Umsetzung der politischen Gesamtstrategie, die zum Ziel hat, Frauen und Mädchen konsequent und umfassend zu fördern, und die diese Förderung in den kulturellen Kontext einbettet, mangelt es bei manchen afghanischen Entscheidungsträgern an politischem Willen.. • „Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen.“ (Kurt Tucholsky) – das gilt insbesondere für Entwicklung. Afghanistan zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Wenn es wirtschaftlich und sozial auf friedlichem Wege vorankommen soll, darf das Potenzial von 50% der Bevölkerung nicht ignoriert werden. • Die afghanische Regierung hat sich dazu ehrgeizige Ziele gesetzt: So soll die Armut bei Frauen bis 2010 um 20% reduziert werden, der Grad an weiblichen Beschäftigten um 20% zunehmen und die Müttersterblichkeit um 20% sinken. Zudem sollen bis 2020 die mit Frauen besetzten Ämter um 30% steigen und bis 2015 die Anzahl von Gerichtsverfahren, die die Rechte der Frauen schützen, um 50% steigen. Ein von UNIFEM und dem afghanischen Frauenministerium organisierter „National Action Plan for Women“ ist dazu in Umsetzung. IV. Deutschlands Beitrag • „Ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“ So knapp brachte Wilhelm von Humboldt die herausragende Bedeutung von Sicherheit für die menschliche Entfaltung auf den Punkt. Auch gilt: Ohne Sicherheit ist keine Entwicklung! Denn dauerhafter Frieden und Stabilität sind Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung. Hierbei unterstützt Deutschland zusammen mit der internationalen Gemeinschaft die afghanische Regierung. • Besonders engagiert ist Deutschland im Norden und Nordosten des Landes. Im paschtunischen Südosten leisten wir Unterstützung beim Aufbau von Basisinfrastruktur und Beschäftigungsförderung für Frauen. Außerdem unterstützen wir Programme der afghanischen Regierung, die landesweit laufen. • Deutschland führt das Regionalkommando Nord in Mazar-e Sharif seit Mitte 2006. In Kundus und Faisabad haben wir Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRTs). Aufklärungsflugzeuge TORNADOs – leisten Luftaufklärung in ganz Afghanistan und unterstützen damit auch die ISAF-Kräfte im Süden des Landes. • Der Polizeiaufbau ist ein weiteres wichtiges deutsches Anliegen. Der Aufbau der afghanischen Polizei muss intensiviert und in der Fläche vorangetrieben werden. Die Europäische Polizeimission EUPOL muss ihre Startschwierigkeiten und logistischen Probleme rasch überwinden und die volle Handlungsfähigkeit erreichen. Die EU muss jetzt ihrer Verantwortung nachkommen und entschlossen beim Aufbau der Polizei helfen, Einer Polizei die Menschenrechte schützt und Sicherheit gewährleistet. In der 6 Polizeiakademie in Kabul wurden bislang über 60.000 Polizisten und 12.000 Grenzschützer ausgebildet. Darunter auch Frauen. Damit dies mit ihrer Familie vereinbar ist, wurde sogar ein Kindergarten eingerichtet. • Insgesamt fördert Deutschland als viertgrößter bilateraler Geber den Wiederaufbau und die Entwicklung Afghanistans seit 2002 mit jährlich 100 Mio. EUR und steigt 2008 auf mehr als 140 Mio EUR an (AA und BMZ zusammen). • Zudem hat die Bundesregierung Afghanistan Schulden in Höhe von 73 Mio. EUR erlassen und wird bis 2009 auch die Restsschulden von 15 Mio. EUR erlassen. Voraussetzung dafür ist, dass Afghanistan den internationalen Entschuldungsprozess erfolgreich abschließt, die Erfolge in den sozialen Bereichen stabilisiert und makroökonomische Balance beibehält. Insbesondere muss Afghanistan zeigen, dass es in der Lage ist, seine Strategien zur Bekämpfung der Armut verbindlich zu formulieren und auch umzusetzen (endgültiges Dokument zur Afghanischen Entwicklungsstrategie wird im März 2008 erwartet). • Die Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind: • • Grundbildung (für Jungen und Mädchen) in der Stadt und auf dem Land ermöglichen, • Energie- und Trinkwasserversorgung sichern, • die Wirtschaft voranbringen, • Rechtsstaatlichkeit fördern, • Frauen stärken. Diese Bereiche sind besonders wichtig für das alltägliche Leben der Afghaninnen und Afghanen. An den Beispielen Energie und Bildung zeigt sich dies deutlich: • Keine Energie zu haben, bedeutet auch, dass die Krankenhäuser nicht funktionstüchtig sind, dass die Wasserpumpen für die Trinkwasserversorgung nicht arbeiten, dass die Familien keine warmen Mahlzeiten zubereiten können, dass die Kinder ihre Hausaufgaben nicht mehr abends machen können. Strom macht einen großen Unterschied. In Herat haben inzwischen gut 95% der Stadtbevölkerung jeden Tag Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wiederaufgebaute Wasserkraftwerke in der Nähe von Kabul sorgen dafür, dass tausende von Kleinunternehmen mit Strom für ihre Geschäfte versorgt werden. • Wie wichtig Bildung ist, zeigt ein Blick in die Statistik: 68% der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Es gilt jetzt, den Grundstein zu legen, dass junge Menschen - und vor allem Frauen - an der Entwicklung ihres Landes teilhaben und diese selbst mit gestalten können. Daher haben wir das Engagement im Grundbildungsbereich verstärkt. Konkret: mit den im Jahr 2007 zugesagten 17 Mio. EUR zur Umsetzung des Nationalen Bildungsplans können landesweit z.B. 100 neue Schulen gebaut und etwa 8.000 Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet werden. Das ist dringend notwendig denn ihr Arbeitsalltag 7 bedeutet bis heute oft Unterricht in ungeheizten Schulräumen, spärliche bis nicht vorhandene Ausstattung, Klassenstärken von bis zu 100 Kindern, keinerlei fachliche Ausbildung, geschweige denn staatliche Unterstützung. Auch für die Eltern bietet diese Misere keine Anreize, die Kinder von Feld- oder Hausarbeit freizustellen und einzuschulen. Investitionen in Bildung sind daher als Investitionen in die Zukunft und den Frieden Afghanistans dringend erforderlich! Wir dürfen die Menschen nicht enttäuschen! • Aus meinem Ministerium arbeiten derzeit drei Mitarbeiter in NordAfghanistan, in Masar-e-Sharif, Kundus und Faisabad, sowie ein weiterer Mitarbeiter an der Botschaft in Kabul. Diese Experten koordinieren die Entwicklungszusammenarbeit und unterstützen den Wiederaufbau. Viele deutsche Nicht-Regierungsorganisationen und unsere deutschen Durchführungsorganisationen haben insgesamt ca. 80 internationale Experten und mehrere hundert lokale Mitarbeiter vor Ort. Dass ihre Arbeit nicht ungefährlich ist, zeigte im März 2007 die Ermordung des Wiederaufbauhelfers der Deutschen Welthungerhilfe, Dieter Rübling. Es wird deshalb für uns zunehmend schwieriger, geeignete Fachkräfte für den Einsatz in Afghanistan zu gewinnen. Und natürlich müssen wir uns fragen, welches Risiko wir schultern und was wir unseren Fachkräften zumuten wollen. • Zusammen mit der Internationalen Gemeinschaft engagiert sich Deutschland besonders dafür, die Lage der Frauen zu verbessern. So fördert die Bundesregierung die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern in einem umfassenden Grundbildungsprogramm, wovon allein bis 2007 ca. 3000 Lehrerinnen profitierten. • Deutschland berät zudem das Frauenministerium, wie gender-orientierter Politikansätze umgesetzt werden können. Zum Beispiel in dem wichtigen Feld der Haushaltsplanung. In fünf Fachministerien wurden GenderEinheiten eingerichtet, auch im Finanzministerium. Ein erstes wichtiges Ergebnis der Arbeit der Gender-Einheiten ist, dass bei allen Entwicklungsprogrammen der afghanischen Regierung Frauen in Zukunft berücksichtigt werden müssen. • Parallel dazu fördert Deutschland in mehreren Provinzen kostenlose Rechtsberatung für Frauen, um ihre Position in der Gesellschaft zu stärken. Ca. 500 Frauen und Mädchen konnten hiervon bereits profitieren. Auch stärkt die Bundesregierung die Präsenz von Frauen im Justiz- und Sicherheitssektor. Rund 350 Polizistinnen, Staatsanwältinnen und Richterinnen konnten in rechtlichen Fragen weitergebildet werden. Die Programme werden 2008 weiter in die ländlichen Provinzen ausgedehnt. • Auch sollen Frauen stärker am wirtschaftlichen Leben teilhaben. Ein großes Hindernis zur wirtschaftlichen Teilhabe ist der fehlende Zugang zu Finanzdienstleistungen. Wir ermöglichen den Frauen Zugang zu Kleinstkredite. Weltweit wie auch in Afghanistan sind Frauen besonders zuverlässige Kreditnehmer, die geliehenes Geld nicht für Konsum, sondern für den Aufbau einer Geschäftsidee verwenden und es auch fristgerecht zurückzahlen. Von bislang 28.000 Krediten kamen 15% der Existenzgründung von Frauen zu Gute. 8 • Um die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen zu fördern, bieten wir Alphabetisierungs-, Englisch- und Computerkurse an oder auch Ausbildungen im Bereich des Handwerks. Hatten Frauen während der Taliban-Zeit so gut wie keine Einkommensmöglichkeiten, konnte allein mit diesen Maßnahmen für ca. 3.500 Frauen eine Berufsgrundlage gesichert werden. • Wichtig bei allen Maßnahmen mit und für Frauen ist, dass diese Ansätze behutsam durchgeführt werden und wir die Menschen da abholen, wo sie sind. Ich möchte dies an einem Beispiel aus Badakhshan verdeutlichen: • Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit baut dort viele Vorrichtungen zum Hochwasserschutz der Gemeinden, bei denen die Straßen und Wege mit großen Drahtgestellen gesichert werden. Die Herstellung dieser Drahtgestelle sollte durch Frauen – abgeschirmt von den Männern – durchgeführt werden, damit sie sich ein eigenes Einkommen erwirtschaften können. Die Männer haben protestiert, dass sie neben den Bauarbeiten draußen selbst die Fertigung der Drahtgestelle übernehmen wollten. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat daraufhin einen Wettbewerb veranstaltet: Die Gruppe, die die beste Qualität an Drahtgestellen produziert, sollte den Auftrag bekommen. Sie ahnen es: Die Frauen gewannen haushoch. Seitdem wird diese einkommensschaffende Maßnahme für die Frauen in Badakhshan von den Männern nicht mehr in Frage gestellt. • Diese Erfolge führen zu einer hohen Akzeptanz der Entwicklungszusammenarbeit durch die Bevölkerung. Die Afghaninnen und Afghanen nannten in der bereits erwähnten Studie der Freien Universität Berlin zahlreiche Projekte, von denen ihre Gemeinden profitiert haben, insbesondere im Infrastrukturbereich. Auch bestätigten sie, dass diese Projekte spürbar zu Fortschritten beitragen, was wir als hohe Zufriedenheit mit unserer Projektarbeit werten. • Dies gibt mir Anlass zur Hoffnung, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. V. Erfolge • Die Bundesregierung verfolgt in ihren Anstrengungen einen ganzheitlichen Ansatz von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Wir können auf einige Erfolge blicken: • Straßen und Infrastruktur haben sich erheblich verbessert: Ein landesweites afghanisches Infrastruktur-Programm ist in allen 34 Provinzen tätig und hat darin bereits 70% aller Gemeinden erreicht. Insgesamt laufen 31.000 Projekte, wie z. B. kleinere Straßen, Brücken, Hochwasserschutz, Brunnen, Schulen oder Ausbildungskurse. 16.000 davon haben die Gemeinden oder lokale Nicht-Regierungsorganisationen eigenverantwortlich durchgeführt. Deutschland unterstützt das Programm seit 2005 mit 8 Mio EUR jährlich. Diese Mittel kommen insbesondere den Menschen im fragilen Süden und Südosten zu Gute. • Auch die Anzahl der Kinder, insbesondere von Mädchen und Frauen, die eine Schulbildung erhalten, steigt stetig: Mittlerweile gehen 6,5 Mio. Kinder 9 wieder in die Schule, davon ca. 40% Mädchen – vor Beginn unseres Engagements 2001 ging fast kein Mädchen mehr zur Schule. • Das Gesundheitswesen erreicht mit einer Basisversorgung nunmehr fast 80% der Bevölkerung, die Kindersterblichkeit ist um 25% in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen, und die Zahl der Frauen, die professionelle Hebammenunterstützung erhält, hat sich verdreifacht. Dennoch bleiben gerade hier die Herausforderungen riesig: Die Müttersterblichkeitsrate in Afghanistan ist immer noch eine der höchsten der Welt. • Auch die Eigeneinnahmen des Staates wachsen. Das zeigt, dass sich die Leistungsfähigkeit der afghanischen Verwaltung verbessert hat: Von 2005 bis 2006 konnte die Regierung die Eigeneinnahmen fast verdoppeln [von 375 auf 715 Mio. USD]. Fast zwei Drittel der laufenden Staatsausgaben – ohne Polizei und Armee – sind damit gedeckt. VI. Schluss / Ausblick • Nach dem Fall der Taliban haben wir im Deutschen Bundestag die wichtigsten Herausforderungen für den Wiederaufbau Afghanistans benannt: • Schaffung eines funktionierenden Rechtsstaats, • Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, • Überwindung von Armut und Hoffnungslosigkeit. • Der Ernstfall ist der Wiederaufbau! Wir wussten bereits damals: diese Herausforderungen übersteigen alles, was die deutsche und internationale Entwicklungspolitik bis dahin kannte! • Wir sind unseren damaligen Versprechen verpflichtet. Ich will mich nicht aus der Verantwortung stehlen, indem ich mit einem Verweis auf die objektiv schwierige Lage jetzt den Rückzug fordere. Und damit den Menschen Afghanistans auf unbestimmte Zeit alle Chancen auf Zukunft abspreche. Wir sind den Afghaninnen und Afghanen unsere Unterstützung schuldig. Deshalb muss sich die Bundesregierung dieser schwierigen Situation auch langfristig stellen. • Das heißt aber nicht, dass wir unser Engagement in Afghanistan nicht hinterfragen dürfen. Wir wollen kein Denkverbot! Wir sind uns bewusst, dass es nach wie vor offene Fragen gibt. Fragen, auf die wir noch keine Antwort haben, die uns aber einholen werden. Wir brauchen eine Gesamtstrategie für das Land und müssen die Bevölkerung Afghanistans davon überzeugen, dass die Freiheit den Kampf gegen die Taliban wert ist. • Dafür brauchen wir auch die Unterstützung der Öffentlichkeit hier in Deutschland und Europa. Ich hoffe, ich habe Ihnen heute Abend unsere Anliegen in Afghanistan und die Situation der Menschen vor Ort etwas näher gebracht.