Auszug aus dem Buch

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Auszug aus dem Buch
Natur und Haiku –
Haiku und Natur
Zur wechselseitigen Beziehung von
Natur und Haiku
Der Nährboden und die Wurzeln für die enge
Verbundenheit des Haiku und seiner Vorgängerformen mit der Natur lassen sich in Japan bis weit
in die vorliterarische Vergangenheit zurückverfolgen. Allein schon die topografischen und klimatischen Gegebenheiten des im Pazifik gelegenen und immer wieder von Taifunen und Erdbeben heimgesuchten Inselstaates förderten einen
großen Respekt vor der Natur. Ihr ausgeliefert,
war man bemüht, in Harmonie mit ihr und ihren
Kräften, ihren jahreszeitlichen Zyklen von Werden
und Vergehen zu leben. Aus dieser Lebensweise
ist die japanische „Ur-Religion“, der Shintō, hervorgegangen, als dessen eigentlicher Begründer,
wie Motohisa Yamakage bemerkt, die Natur selbst
betrachtet werden kann1.
An dieser Naturverehrung änderte sich wenig,
1 Yamakage, Motohisa: The Essence of Shinto – Japan's Spiritual Heart, Tokyo 2006. S. 38.
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als der Buddhismus über China und Korea im 6.
Jahrhundert nach Japan gelangte. Die neue Religion verdrängte die alte nicht. Im Gegenteil, jahrhundertelang lebten beide in friedlicher Koexistenz neben- und miteinander. In ihrem Verständnis der Natur fanden beide Religionen einen weitgehenden gemeinsamen Nenner darin, dass Natur
und Mensch aufs Engste miteinander verwoben
sind – dass „die Natur in uns lebt und wir in der
Natur“2. Der Mensch sollte die Natur nicht zu
beherrschen trachten, vielmehr sich ihrer Macht
beugen und im Einklang mit ihr leben. Dass solche Einsichten wie auch eine über die Jahrhunderte sich verfeinerte Sensibilität in der ästhetischen
Wahrnehmung von Naturphänomenen Eingang
in die Literatur finden sollten, ist wenig überraschend.
Bereits in der ersten Anthologie japanischer
Dichtung, dem Manyōshū, das 4500 Waka aus der
Zeit vom 4. Jahrhundert bis zum Jahre 759 vereint,
bilden die Natur und die Jahreszeiten als Thema
und Einteilungskriterium einen wichtigen Bestandteil. Waka, (ab Ende des 19. Jahrhunderts
Tanka genannt), sind fünfzeilige Gedichte mit der
2 Suzuki, Daisetz T.: Zen and Japanese Culture, Tokyo 1988. S.
351.
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japanischen Silben- beziehungsweise Morenabfolge 5-7-5-7-7. Unschwer lässt sich in den ersten drei
Versen die Form des späteren Haiku ablesen, als
dessen eigentliche Vorform das Hokku mit ebendieser Folge von 5-7-5 Moren gilt. Dabei handelte
es sich um die Eingangsverse eines Kettengedichtes, eines Renga oder eines Renku, das von mehreren Autoren als Gemeinschaftsarbeit verfasst
wurde. Während seiner gesamten Geschichte tendierte das Hokku zur Verselbstständigung3, bis es
diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seiner
Aufwertung – zuungunsten des nachfolgenden
Kettengedichtes – durch Masaoka Shiki (1867–
1902) unter der fortan geltenden Bezeichnung
Haiku auch erlangte.
Zuvor schon waren aber selbstständige Hokku
über Jahrhunderte geschrieben und publiziert
worden, allein oder im Zusammenhang von kurzer Prosa, in Tagebüchern, Reiseberichten oder
Essays. So ist der berühmte Matsuo Bashō (1644–
1694) heute vor allem als Haiku-Dichter bekannt.
Als Eingangsvers zu einem Kettengedicht war
dem Hokku unter anderem die Funktion zugekommen, auf die Entstehungszeit des Gesamtge3 Higginson, William J.: The Haiku Seasons – Poetry of the
Natural World, Berkeley 1996. S. 19.
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dichtes hinzuweisen, was der zuständige Dichter
oft mit der Benennung eines für die jeweilige Jahreszeit typischen Gegenstandes, einer Pflanze,
eines Tieres oder einer klimatischen Eigenheit,
einem sogenannten Kidai tat. Ab Beginn des 20.
Jahrhunderts setzte sich dafür der heute gebräuchliche Begriff Kigo oder „Jahreszeitenwort“
durch. Solche Kigo wurden immer wieder in
Nachschlagewerken, sogenannten Saijiki, gesammelt und sind für das traditionelle Haiku in Japan
auch heute noch im Gebrauch.
Während sich das Tanka an der Wende vom 19.
zum 20. Jahrhundert von seinen vorgeschriebenen
jahreszeitlichen Bezügen befreite, blieb der Bezug
zur Natur über ein Kigo im Haiku weitgehend
erhalten. Der Dichter Takahama Kyoshi (1874–
1959), der den damaligen Reformbestrebungen
um ein modernes Haiku wenig oder nichts abgewinnen konnte, erklärte noch 1930, ein 17-silbiges
Gedicht könne ohne Kigo wohl ein Gedicht sein,
nicht aber ein Haiku4.
Auch wenn es schon davor Hokku ohne Jahreszeitenbezug gegeben hatte, und bereits kein Geringerer als Bashō dies auch schon hatte gutheißen
Zit. nach Inahata, Teiko: Welch eine Stille – Die Haiku-Lehre
des Takahama Kyoshi, Hamburg 2000. S. 27.
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können5, spätestens ab der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts war das Haiku ohne obligatorischen
Jahreszeitenbezug – wenn auch in weit geringerer
Zahl – nicht mehr wegzudenken. Shikis Schüler
Kawahigashi Hekigotō (1873–1937) setzte sich im
Rahmen einer „freien Haiku-Bewegung“ für eine
„stärkere Nähe zur Lebenswirklichkeit“ ein, während sein eigener Schüler Ogiwara Seisensui
(1884–1976), um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die Überwindung der festen Morenabfolge
von 5-7-5 zugunsten des ‚freien Rhythmus‘ propagierte6.
Nach der von 1635 bis 1853 dauernden, beinahe
vollständigen Isolation Japans von der übrigen
Welt (jap. Sakoku) stieß japanische Kunst und Kultur im Westen auf ein großes Interesse. Das Haiku
allerdings blieb lange noch ein Rätsel, bereitete es
anfänglich doch einige Mühe sich vorzustellen,
dass eine Form von solcher Kürze – im Japanischen wird das Haiku gewöhnlich in einer einzigen senkrechten Zeile wiedergegeben – überhaupt
5 S. Kimura, Toshio: A New Haiku Era. In: Frogpond – The
Journal of the Haiku Society of America, Vol. 37:1, 2014. S.
37f.
6 Schneider, Elisabeth & Quenzer, Jörg B. (Hrsg.): „Mit den
Sternen nächtlich im Gespräch...“ - Moderne japanische
Haiku, Gossenberg 2011, S. xvf.
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als ein Gedicht angesehen werden konnte, ja sogar
als eines, das philosophische Tiefe erreichen konnte.
Von ersten Ansätzen einer Rezeption des
Haiku in Form von Übersetzungen und eigenen
Textproduktionen in der jeweiligen Muttersprache in den Vereinigten Staaten und Europa in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgesehen, begann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem
Haiku außerhalb Japans vor allem nach dem
Zweiten Weltkrieg. Insbesondere die Übersetzungen von tausenden von Haiku ins Englische durch
den Engländer Reginald H. Blyth in den 1950erund 60er-Jahren machten das japanische Kurzgedicht einer breiteren Leserschaft in Amerika, in
England und weit darüber hinaus zugänglich.
Das Interesse an Haiku im Westen verband sich
sehr oft mit einem Interesse an Zen. Kein Wunder,
waren doch für R. H. Blyth Haiku und Zen aufs
Engste miteinander verknüpft. Auch für den einflussreichen, japanischen Zen-Experten Daisetz T.
Suzuki, der sich zeitlebens um eine Vermittlung
japanischer Kultur im Westen bemühte, waren
Haiku und Zen untrennbar. Mit dem Zen stieß
auch das japanische Verständnis der Natur im
Westen auf Sympathie. Natur nicht als Werk eines
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Schöpfers, nicht als Verweis auf etwas Transzendentes, sondern als Urkraft, „berstend vor Vitalität, werdend und vergehend in Zyklen von Leben
und Tod, von Sommer und Winter, Frühling und
Herbst“7. In einer Lebensweise in Harmonie mit
der Natur sah man ein bewundernswertes Gegengewicht zur westlichen Egozentrik, Naturentfremdung und -beherrschung. Paradoxerweise
vermeinte man dies ausgerechnet noch zu einem
Zeitpunkt so zu sehen, als sich Japan anschickte,
in eine Phase der Industrialisierung und Verwestlichung einzutreten, die alles Bisherige bei Weitem
übertreffen sollte8.
In den 1970er-Jahren, als zumindest das englischsprachige Haiku schon weit verbreitet war,
zeigten sich Anzeichen einer zunehmenden Bevorzugung menschlicher Thematik und des Senryu9, einem dem Haiku ähnlichen, aber freieren
Genre, ohne zwingenden Natur- oder Jahreszeitenbezug. Zur selben Zeit trugen in Hamburg
die Japanologen Oscar Benl, Géza S. Dombrády
und Roland Schneider eine Sammlung moderner
Hoffmann, Yoel: Japanese Death Poems, Tokyo 1986. S. 39.
Burns, Allan (ed.): Where the River Goes – The Nature Tradition in English-Language Haiku, Ormskirk 2013. S. 45f.
9Burns, Allan (ed.), (s. Anm.8), S. 57.
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japanischer Haiku des 20. Jahrhunderts zusammen und übersetzten sie ins Deutsche. Anlass
war, wie im Vorwort des erst 2011 herausgegebenen Bandes zu lesen ist, „zum einen der Unmut
über das Haiku-Bild im deutschsprachigen Raum
als exotischer Gedichtform mit pathetischem Anstrich, welche sich auf die Verherrlichung der Natur [!] beschränkt, zum anderen der Wunsch, diesem Klischee mit einer Auswahl aus der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts entgegenzutreten, die
im Haiku eine lebendige Alltagslyrik Japans erkennen lässt, in seiner Entwicklung hin zu einer
thematischen Vielfalt, die nahezu jeden Aspekt
des täglichen Lebens zulässt“10.
Im internationalen Haiku außerhalb Japans ist
dies auf der produktiven Seite heute selbstverständlich. Sowohl thematisch als auch formal hat
man sich – von der Kürze mal abgesehen – von
etlichen als einschränkend oder erstarrend empfundenen Elementen befreit, was nicht heißt, dass
nach wie vor nicht auch Haiku der traditionellen
Art geschrieben werden. Dass im Zuge dieser
Entwicklung moderne Haiku mit Naturthematik
Schneider, Elisabeth. In: Schneider, E. & Quenzer J.B.
(Hrsg.): „Mit den Sternen nächtlich im Gespräch ...“ –
Moderne japanische Haiku, Gossenberg 2011. S. xi.
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auch ohne Kigo auskommen, versteht sich von
selbst. Rückendeckung hat dieser Befund 1999
auch von japanischer Seite bekommen. Namhafte
Experten erklärten damals in der als Matsuyama
Declaration bekannten Schrift: „While it is extremely important to describe nature by perceiving the
relationship between nature and human beings
based on the haiku insight, it doesn't necessarily
have to be in the form of kigo [...]“11.
Interessant ist, dass laut dieser Erklärung zwar
auf ein Jahreszeitenwort verzichtet werden kann,
der Beziehung zwischen Natur und Mensch aber
nach wie vor große Bedeutung beigemessen wird.
Dies ist umso interessanter, wenn man bedenkt,
dass sowohl die Natur als auch die Beziehung des
Menschen zu ihr im heutigen Japan (und natürlich
nicht nur dort) eine ganz andere ist als zu Zeiten,
in denen die großen Klassiker des Haiku – Bashō,
Buson, Issa und selbst noch Shiki – ihre Gedichte
schrieben. Wer heute mit offenen Augen das Land
der aufgehenden Sonne bereist, wird angesichts
der nicht zu übersehenden und oft wenig rücksichtsvollen Eingriffe in sie Mühe haben, das Kli11Arima, Akito et al.: Matsuyama Declaration:
http://kulturserver-nds.de/home/haiku-dhg/Archiv/ Matsuyama_Declaration (1.3.2013). S. 4.
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schee von der „einzigartigen Naturliebe“ der Japaner bedenkenlos weiter zu kolportieren. Zu
Recht bedauert Yamakage, dass heute vielen Japanern die Ehrfurcht vor der Natur abhanden
gekommen ist12.
Überreste japanischer Sensibilität und Naturwahrnehmung finden sich aber auch heute noch,
nicht zuletzt im Haiku, wie Susumu Takiguchi zu
verstehen gibt, der diesem im 21. Jahrhundert die
Rolle zuschreibt, uns die Wichtigkeit von Umweltund Naturschutz bewusster zu machen13. Zu
einem ähnlichen Schluss kommen die Verfasser
der Matsuyama Declaration in den folgenden
Zeilen: „[...] haiku reminds its readers that men as
living beings exist in nature, hence it suggests to
them that they should live a symbiotic and sympathetic life together with other creatures in nature“14.
Wie „symbiotisch“ die Beziehung von Mensch
und Natur beispielsweise im 17. Jahrhundert ausYamakage, Motohisa: The Essence of Shinto – Japan's Spiritual Heart, Tokyo 2006. S. 31.
13 Takiguchi, Susumu: Nature in Haiku – What Nature?
https://sites.google.com/site/worldhaikureview2/whrsummer-2013 (16.10.2013). S. 4.
14 Arima, Akito et al.: Matsuyama Declaration (s. Anmerkung
11). S. 2.
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