Interpretation. Heinrich Heine: "Die schlesischen Weber"

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Interpretation. Heinrich Heine: "Die schlesischen Weber"
Renate Stauf
Heinrich Heine: Die schlesischen Weber
Reclam
Heinrich Heine: Die schlesischen Weber
»Wo jede Blume früh geknickt«
Von Renate Stauf
Heinrich Heine: »Die schlesischen Weber«
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch –
Wir weben, wir weben!
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Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –
Wir weben, wir weben!
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Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt,
Und uns wie Hunde erschießen läßt –
Wir weben, wir weben!
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© 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Reclam
Renate Stauf
Heinrich Heine: Die schlesischen Weber
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt –
Wir weben, wir weben!
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Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht –
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!
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(Heinrich Heine: Gedichte. Hrsg von Bernd Kortländer.
Stuttgart: Reclam, 1990 [u. ö.], S. 84)
»Wo jede Blume früh geknickt«
Heines Weberlied gehört zu den seltenen Gedichten, die Wellen schlugen, Öffentlichkeit
mobilisierten, die Gemüter aufbrachten und herausforderten. Als unmittelbare Reaktion
auf das die Zeitgenossen aufrüttelnde Ereignis der blutig niedergeschlagenen
Weberaufstände (4.–6. Juni 1844) im schlesischen Peterswaldau und Langenbielau
wurde es am 10. Juli 1844 in seiner zunächst vierstrophigen Fassung unter dem Titel
Die armen Weber innerhalb einer Weber-Artikelserie im Pariser Vorwärts! veröffentlicht.
(Die hier vorliegende, vom Autor revidierte fünfstrophige Fassung erschien erst 1846 in
Püttmanns Lyrikanthologie Album.) Das Gedicht wurde als Flugblatt in Deutschland
rasch verbreitet, etwa ein Dutzend Mal nachgedruckt und sofort strafverfolgt.
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Gleichwohl fand es bald Eingang in die sich formierende Arbeiterbewegung, avancierte
zum Kampflied der Arbeitervereine, wurde in Wirtshausversammlungen halböffentlich
und heimlich »hundertfach gelesen und gesungen« (DHA 2,817; vgl. auch Füllner
[u. a.], S. 134 f.).
Die stark emotionale Wirkung des Liedes beruht auf seiner ebenso einfachen wie
kunstvollen Struktur (vgl. Höhn, S. 93). Anders als in seinen übrigen Zeitgedichten
enthält sich Heine hier jeglichen ironisierenden Sprechens (vgl. Hinck, S. 194;
Kaufmann, S. 160 f.). Die Wucht der Anklage wird getragen vom Ton eines sich stetig
steigernden Pathos (vgl. Wehner, S. 39), das einprägsam und agitatorisch verstärkt
wird durch das insgesamt 15-mal monoton wiederholte, dem Rhythmus der
Arbeitsbewegung nachempfundene »Wir weben«. Unterstützt wird diese einhämmernde
Funktion des Refrains (vgl. Hinck, S. 193) durch syntaktischen Parallelismus von
Reimzeilen, kunstvolle Vokalreihung, Alliterationen, anaphorische Wiederholung von
Strophen- und Versanfängen, Kontrastbildungen und durch die raffinierte, selbst in den
kleinsten Bestandteilen des Textes wiederkehrende Fünf- und Dreigliederung (vgl.
Wehner, S. 37 f.). Dass das Gedicht trotz dieser ästhetischen Durchgeformtheit nicht
künstlich wirkt, erreicht Heine durch seine Nähe zur Volksballade, die sich zum Beispiel
in der geschickten Ausnutzung eines unregelmäßigen Metrums (freie Füllung der
Senkungen), in grammatikalischen Verstößen (»gebeten«) und in dem Verzicht auf
semantische Eindeutigkeit (sprachliche Verquickung von Bitten und Beten) erweist (vgl.
Wehner, S. 38).
Im Vergleich mit anderen Weberliedern der Zeit (so dem von einem anonymen
Verfasser schon vor 1844 in Umlauf gebrachten Das Blutgericht; zit. bei Wehner,
S. 21 f.) unterscheidet sich Heines Gedicht durch den Verzicht auf eine
individualisierende, mitleidheischende Milieuschilderung. Es beschreibt keine äußeren
Begebenheiten, richtet sich nicht gegen die Fabrikanten als Verursacher des Elends,
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sondern verfolgt und illustriert anhand der Konzentration auf eine fast statisch
anmutende Situation einen Gedankenprozess (vgl. Kaufmann, S. 239; Wehner, S. 39).
Neben dem politischen hat den historisch-philosophischen Charakter des
Gedichts insbesondere Hans Kaufmann hervorgehoben. Seiner Deutung zufolge
identifiziert sich Heine hier mit einem kommunistischen Selbst- und Weltverständnis,
indem er sich auf die symbolische Gestaltung der geschichtlichen Bedeutung einer
neuen Klasse konzentriert. Sowohl seinen Hass auf den Nationalismus als auch seine
Überzeugung von der Notwendigkeit einer sozialen Revolution habe er dem
proletarischen Protest eingeschrieben: »Die Weber, indem sie die Summe ihrer
Erfahrung ziehen, verkünden den Sinn der Geschichte. [. . .] Die sinnbildliche
Ausdeutung der wirklichen Tätigkeit des Webens zur Bedeutung: im Kollektiv
selbstbewußt werden, die alte Gesellschaft abschaffen, die Revolution vorbereiten,
Geschichte machen, stellt sich, da sie im Bilde bleibt, scheinbar ganz zwanglos ein.«
(Kaufmann, S. 165) Obwohl schon Ludwig Marcuse einen solchen operativen Gestus
des Gedichts infrage stellte (vgl. S. 307 f.), hat die neuere Heine-Forschung diese
Deutung bisher nicht entkräften wollen. Lassen sich doch Heines intensive Beziehungen
zu Marx und Engels in den Vierzigerjahren wie auch die zeitgenössische Rezeption
leicht als Belege dafür anführen, dass hier eines der »besten kommunistischen
Gedichte überhaupt« entstanden sei (Schweikert, S. 42; vgl. dazu Wehner, S. 34 f.).
Insgesamt vermittelt die Forschung den Eindruck, als ob alles Wesentliche über Heines
Weberlied bereits gesagt worden sei. Es gehört zu jenen Texten, die dem Leser keine
unüberwindbaren Schwierigkeiten zu bieten scheinen, ist in zahlreiche Anthologien und
Schullesebücher eingegangen und wird in literarischen Handbüchern als d a s Beispiel
für sozialkritische Dichtung angeführt (vgl. Best, S. 487; Wehner, S. 48). Verse und
Bilder, die sich dem nicht so ohne weiteres fügen wollen, werden entweder übergangen
(vgl. Gafert, S. 173 f.) oder als »Gedankenarmut« bzw. als inhaltlich-formale
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Schwächen abgetan. So zum Beispiel die »das ganze Gedicht und dessen Aussage
überschattende« Raubtiermetaphorik der beiden erzählenden Eingangsverse oder die
»störende Metaphorik« der »geknickten Blume« und des sich in Fäulnis und Moder
erquickenden Wurms in den umgearbeiteten Zeilen der vierten Strophe (Stolpmann,
160 f.).
Gerade diese Schwierigkeiten mit einzelnen Bildern des Weberliedes wie auch
seine von Kaufmann durchaus richtig erkannte philosophische Tendenz fordern zu einer
Neulektüre heraus. Dabei kann es nur um einen Analyseversuch gehen, der dem
zweifellos vorhandenen revolutionären Appell auf der Grundlage von Heines politischen
und weltanschaulichen Ideen in den 30er- und 40er-Jahren nachfragt und das Gedicht
als Brückentext hinüber ins Spätwerk ernst nimmt. Erst dann wird deutlich, auf welche
Weise sich hier Heines Gesellschaftskritik und Zukunftserwartungen bündeln, die im
Kontext seiner Beobachtungen und Begegnungen in der Juli-Monarchie stehen.
Bereits die erste Strophe des Lieds exponiert in einem aussagestarken Bild die
zentrale Stoßrichtung der Anklage: am Pranger steht »Altdeutschland«, sein
bevorstehender Untergang wird in der Metapher des »Leichentuchs« zum Ausdruck
gebracht. Dabei entsteht durch den Wechsel vom »Sie« zum »Wir« (2,3) und durch die
Kennzeichnung des Folgenden als ›Rede‹ der Weber gleich am Anfang eine Situation
der Distanz zum Dargestellten, die von großer Bedeutung ist und – weil sie nicht
aufgehoben wird – dem ganzen Gedicht seinen eigenwilligen Charakter verleiht. Die
beiden ersten Verse zwingen den Leser oder Hörer in die Rolle des Betrachters einer
Situation. Das erlaubt ihm, die folgenden Verfluchungen noch auf einer anderen Ebene
wahrzunehmen und zu beurteilen als auf der der chorischen Rede der Weber. Das
heißt, das Gedicht hat einen doppelten Adressaten: die von der sozialen Not
betroffenen Arbeiter, an die sich der zur Identifikation einladende, kämpferische Appell
der Rede richtet, und den gebildeten Leser oder Hörer, der aus dem inszenierten Bild
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