Vierteljahresschrift - Deutsche Haiku Gesellschaft
Transcription
Vierteljahresschrift - Deutsche Haiku Gesellschaft
Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft 18. Jahrgang · Oktober 2005 · Nr. 70 Sommergras verblüht in goldner Abendsonne leuchtet weißes Haar. 2 Impressum Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V. Mitglied der Federation of International Poetry Associations (assoziiertes Mitglied der UNESCO) Mitglied der Haiku International Association T´òkyò́ Mitglied der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V. Mitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. Leipzig Die Deutsche Haiku-Gesellschaft unterstützt die Förderung und Verbreitung deutschsprachiger Lyrik in traditionellen japanischen Gattungen (Haiku, Tanka, Renga und Renshi) sowie die Vermittlung japanischer Kultur. Sie organisiert den Kontakt der deutschsprachigen HaikuDichter/innen untereinander und pflegt Beziehungen zu entsprechenden Gesellschaften in anderen Ländern. Der Vorstand unterstützt mehrere Arbeits- und Freundeskreise in Deutschland sowie Osterreich, die wiederum Mitglieder verschiedener Regionen betreuen und weiterbilden. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 40 € im Jahr; darin ist die Lieferung der Zeitschrift enthalten. Anschrift: Ehrenpäsidentin: 1. Vorsitzender: 2. Vorsitzende: Schriftführer: Geschäftsführer: Frankfurter Haiku-Kreis: Ahlener Haiku-Gruppe: Regionalgruppe Halle: Regionalgruppe Magdeburg: Bankverbindungen: Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V. Falkstraße 116 · 60487 Frankfurt am Main Tel.: 069/47 40 92 · Fax: 069/47 88 58 11 Web: http://haiku-dhg.kulturserver-nds.de eMail: [email protected] Margret Buerschaper · Auenstraße 2 · 49424 Goldenstedt-Lutten Martin Berner · Falkstraße 116 · 60487 Frankfurt am Main Tel.: 069/47 40 92 · Fax: 069/47 88 58 11 · eMail: [email protected] Christa Beau · Louis-Jentzsch-Straße 14 · 06132 Halle/Saale Tel./Fax: 0345/775 99 94 · eMail: [email protected] Volker Friebel · Denzenbergstraße 29 · 72074 Tübingen Tel.: 07071/26 80 3 · eMail: [email protected] Georges Hartmann · Saalburgallee 39-41 · 60385 Frankfurt a.M. Tel.: 069/45 94 33 · eMail: [email protected] Erika Schwalm · Niemandsfeld 1 · 60435 Frankfurt am Main Tel.: 069/43 54 47 · Fax: 069/43 99 97 · eMail: [email protected] Elke Rehkemper · Steinbrückenkamp 24 · 59229 Ahlen Tel.: 02382/71 32 5 · eMail: [email protected] Christa Beau · Louis-Jentzsch-Straße 14 · 06132 Halle/Saale Tel./Fax: 0345/775 99 94 · eMail: [email protected] Wolfgang Dobberitz · Dessauer Straße 37 · 39340 Haldensleben Tel./Fax: 03904/72 06 66 · eMail: [email protected] Postbank Hannover · BLZ 250 100 30 · Kto.-Nr. 74532-307; Landessparkasse zu Oldenburg, Vechta · BLZ 280 501 00 · Kto.-Nr. 070-450 085 · Spenden können direkt auf ein Konto der DHG überwiesen werden. Eine steuerbegünstigende Quittung wird umgehend zugeschickt. 3 EDITORIAL Impressum Liebe Mitglieder der Deutschen Haiku-Gesellschaft, ich grüße Sie und hoffe, Sie sind wohlauf und voller Haiku-Ideen. Seit dem ersten Europäischen Haiku-Kongress in Bad Nauheim sind schon wieder ein paar Monate vergangen, aber noch immer erreichen uns viele positive Rückmeldungen. Anscheinend hat die DHG einen wichtigen Impuls für das Haiku in Europa gesetzt. Der broschierte Kongressbericht wird im September fertig und kann über mich bestellt werden. Im Juli fand in Sofia der 3. Kongress der World Haiku Association statt. Leider verlief er bei weitem nicht so positiv und brachte als Ergebnis den Rücktritt der Direktoren aus Europa und USA, so dass zur Zeit nur noch eine Organisationsstruktur in Japan besteht. Ich selbst habe wegen einiger unerfreulicher Ereignisse meinen Austritt aus der WHA erklärt. Jetzt wende ich mich mit einem Problem an Sie, das mich sehr bedrückt: Leider hat Gerd Börner die Arbeit für und an der Internet-Seite der DHG beendet. Zur Zeit ist sie ohne Betreuung und wir suchen dringend eine Nachfolge. Gibt es ein Mitglied, das Zeit, Lust und die Fähigkeiten dazu hat oder kennen Sie jemand, der oder die bereit ist, die Seite weiter zu pflegen? Der DHG-Kalender für 2006 ist in Arbeit und kann ab Oktober bei Margret Buerschaper bestellt werden. Und noch ein Aufruf an alle Mitglieder, die künstlerisch tätig sind: Wir suchen Zeichnungen oder Grafiken zur Gestaltung der Titelseiten und Haiga für die Seite 3. Einen Herbst voller bunter kreativer Einfälle und alles Gute wünscht Ihnen Ihr Martin Berner 4 Impressum INHALTSVERZEICHNIS EDITORIAL...................................................................................................... 3 AUFSÄTZE UND ESSAYS Ruth Franke: Amerikanische Haiku – Dee Evetts ..................................................... 5 Ruth Franke: Zeitreisen – Neue Haibun von David Cobb ........................................ 7 Udo Wenzel: Haiku am Scheideweg – Takahama Kyoshi u. Kawahigashi Hekigotô .... 9 Autorentreffen der DHG (4): Ruth Franke ............................................................ 13 TEXTE DER MITGLIEDER Haiku – Tan-Renga – Rengee. Verschiedene Autoren ............................................. 14 Ilse Hensel: Haibun ........................................................................................ 17 Haiku heute: Verschiedene Autoren ................................................................... 18 BESPRECHUNGSHAIKU Angelika Wienert: Ein Haiku von Dirk Bunje ...................................................... 23 Ruth Franke: Ein Haiku von Bernd Reklies ........................................................... 24 Ruth Franke: Ein Haiku von Erika Schwalm ......................................................... 25 Volker Friebel: Ein Haiku von Erika Schwalm ...................................................... 26 Margret Buerschaper: Ein Haiku von Erika Schwalm ............................................ 27 Hubertus Thum: Ein Haiku von Daniel Dölschner ................................................. 28 BERICHTE Gerd Börner / Volker Friebel: Der 1. Europäische Haikukongress – Teil 2 ............... 29 Eine Frühe Rose / An Early Rose ..................................................................... 38 Volker Friebel: Projekt Haiku-Jahrbuch ................................................................ 41 Johannes Ahne: Werkstattbericht Burg Lauenstein ................................................ 45 Protokoll der Mitgliederversammlung vom 16. Mai 2005 ................................... 47 Rechenschaftsbericht des Vorstandes ............................................................... 50 REZENSIONEN Besprechungen verschiedener Titel (Margret Buerschaper) .................................... 54 MITTEILUNGEN ............................................................................................. 61 IMPRESSUM ................................................................................................. 63 5 AUFSÄTZE UND ESSAYS Impressum Ruth Franke Amerikanische Haiku Dee Evetts B ashô hätte diese Gedichte schreiben können, wenn er in New York Ende des 20. Jahrhunderts gelebt hätte, nachdem er Jahrzehnte lang die Welt durchquert hatte.« Kein anderer als Bill Higginson schrieb diese Worte 1997 nach Erscheinen von »Endgrain«, dem Hauptwerk von Dee Evetts, das ihm den Durchbruch zur Spitze der amerikanischen Haiku-Dichter brachte. Der gebürtige Engländer war Mitbegründer der British Haiku Society und engagierte sich nach seiner Übersiedlung in die USA für die Verbreitung des Haiku, rief die noch heute bestehende New Yorker »Spring Street Haiku Group« ins Leben und war in verschiedenen Positionen für die HSA tätig. In seiner Wahlheimat gilt Dee Evetts als »Senryu-Meister«; bei seiner Hinwendung zum Senryu wurde er von George Swede beeinflusst. Ihn interessiert der Mensch in seiner alltäglichen Umwelt; seine Eigenheiten und Schwächen zeigt er in eindrucksvollen Bildern auf, humorvoll und oft ironisch, ohne zu urteilen oder zu kommentieren. Die Natur erscheint bei ihm, wenn überhaupt, lediglich als Hintergrund für die Schilderung von Verhaltensweisen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Dennoch wäre es falsch, sein Werk nur unter diesem Aspekt zu sehen. Wenn Dee Evetts schreibt: chill night after you the toilet seat slightly warm kalte Nacht nach dir der Toilettensitz leicht angewärmt ist der Leser zunächst amüsiert, vielleicht sogar schockiert. Aber dann wird er zum Nachdenken angeregt, denn mit diesem trivialen Bild wird ein Gefühl menschlicher Wärme vermittelt. – Sozialkritische und psychologische Themen finden sich ebenfalls und zeigen oft die dunkle Seite der menschlichen Natur. Ein vieldeutiges und bewegendes Haiku schildert einen Heimkehrenden, der nach Einbruch der Dunkelheit im erleuchteten Fenster seine Familie als Fremde sieht: »home after dark / through the window my family / of strangers». – Immer sind seine »Momentaufnahmen« gut beobachtet und präzise formuliert, das Wesentliche in kürzester Form erfassend. Unter seinen Haiku finden sich etliche Motive aus seinem Schreiner-Beruf, die hinter dem Bild essentielle Einsichten vermitteln. Das Titel-Haiku seines Hauptwerkes: 6 Impressum Amerikanische Haiku – Dee Evetts endgrain of the staircase droughts and seasons Jahresringe (Hirnholz) der Treppe Dürren und gute Zeiten kennzeichnet gut den Inhalt des Buches, in dem sich Auf und Ab im täglichen Leben des Autors spiegeln. (»Hirnholz« erhält man, wenn ein Baumstamm quer geschnitten wird, dann sieht man die Jahresringe). Durch seinen besonderen Stil, seine einprägsamen, in knapper Form vermittelten Bilder, die dem Leser Spielraum für eigene Schlüsse lassen, und nicht zuletzt durch sein Qualitätsbewusstsein (er veröffentlicht nur wenige Gedichte im Jahr) hat sich Dee Evetts einen Platz unter den besten englischsprachigen Haiku-Autoren erobert. morning sneeze the guitar in the corner resonates Niesen am Morgen die Gitarre in der Ecke hallt wider rainy night half the cat still indoors regnerische Nacht die Katze zur Hälfte noch drinnen »Welcome back, children« the principal with arms tightfolded »Willkommen zurück, Kinder« der Schulleiter mit fest verschränkten Armen with a flourish the waitress leaves behind rearranged smears mit einem Schwung hinterlässt die Kellnerin neu verteilte Flecken first weekend his wedding ring chafing a little erstes Wochenende sein Ehering scheuert ein wenig loud applause for the last speech before lunch lauter Applaus für die letzte Rede vor dem Essen custody battle a bodyguard lifts the child to see the snow Kampf ums Sorgerecht ein Leibwächter hebt das Kind damit es den Schnee sieht 7 Impressum Amerikanische Haiku – Dee Evetts / Neue Haibun von David Cobb however close we put the beds together the gap between us wie nah wir auch die Betten zusammenrücken die Kluft zwischen uns summer’s end the quickening of hammers towards dusk Sommerende die Beschleunigung der Hämmer gegen Dämmerung thunder my woodshavings roll along the veranda Donner meine Hobelspäne rollen die Veranda entlang Ruth Franke Zeitreisen Neue Haibun von David Cobb D ie Kunst des Haibun erlebt heute eine Renaissance. Auch immer mehr deutsche Autoren entdecken die Faszination dieser Haiku-Prosa, bei der von der reinen Erzählung, vom Reisetagebuch bis hin zum Surrealen, Traumhaften alles möglich ist. Da ist es interessant, einmal über den Tellerrand zu schauen, um zu sehen, was in Ländern mit längerer Haibun-Tradition geschieht. Der britische Haiku-Dichter David Cobb, ein erfahrener Haibun-Autor, setzt in seiner kürzlich erschienenen Sammlung »Forefathers« neue Maßstäbe. Schon der Titel weist in die Vergangenheit, und so geht dieses Buch über die Schilderung gegenwärtigen Erlebens (die »horizontale Achse«) hinaus und erschließt neue Dimensionen durch Abstecher in die Vergangenheit (die »vertikale Achse«). Der Autor lässt so Personen und Ereignisse aus der historischen und kulturellen Vergangenheit Englands wieder aufleben und sieht sich dabei in der Tradition von Bashô. Ein besonderer Gag gelingt David Cobb in der skurrilen Titelgeschichte, bei der er seine eigenen Wurzeln wieder entdeckt hat. Verschiedene Generationen seiner Vorfahren (von 1584 bis 1917) kommen zu einem fiktiven Familientreffen im Glockenturm ihrer Abteikirche zusammen und tauschen eine Art historischen Klatsch aus über wichtige Dinge aus ihrem Leben. Zwischen den knappen Sätzen werden Abgründe sichtbar, und das Schicksal der Untertanen in harten (Kriegs-) Zeiten jenseits des heroischen »dulce et decorum est…« wird deutlich. 8 Impressum Neue Haibun von David Cobb Ähnlich kritisch hinterfragend und sehr bewegend ist das Haibun »Business in Eden«. Hier treffen sich horizontale und vertikale Achse in der Person eines einfachen Soldaten im Irak-Krieg. Die kursiv gedruckten Sätze aus der Ansprache des Colonels wechseln ab mit den Gedanken des Soldaten an daheim und an seine Frau, die ein Kind erwartet. Das Bild des zur Gartenarbeit zweckentfremdeten Bajonett-Erbstücks ist eine zeitgenössische Variante von »Schwerter werden zu Pflugscharen«. Inspiriert von Bashôs »Oku-no-hosomichi«, unternimmt David Cobb in »The Spring Journey to the Saxon Shore« eine Reise mit dem Rad an Norfolks Küste, um Ostenglands geschichtliches und kulturelles Erbe wieder zu entdecken. Knappe Schilderungen einer Frühlingslandschaft mit realen Begegnungen wechseln bei jedem Halt ab mit Erinnerungen an die Geister der Vergangenheit, die für ihn untrennbar an den Ort gebunden sind. Die Haiku passen perfekt in die Prosa und verbinden beide Zeitebenen oder führen wieder in die Gegenwart zurück. Bei diesen Zeit- und Gedankenreisen erhebt sich natürlich die Frage: welches Wissen kann man beim Leser voraussetzen? Der Autor gibt Anhaltspunkte, damit der Text verständlich und erkennbar wird, wann beim Zusammentreffen beider Achsen die Realität in Erinnerung oder Imagination wechselt. In »A Day in Twilight« z.B., wo zwei Dichter verschiedener Epochen zu einer amüsanten Konversation aufeinander treffen, könnte ein rotbeiniges Rebhuhn sich in den altmodisch gekleideten Poeten Edward Benlowes verwandelt haben. Manchmal weisen besondere Wörter oder symbolische Bilder auf den historischen oder mythischen Hintergrund hin. Aber nicht jedes Detail muss entschlüsselt werden, gerade das Rätselhafte, Geheimnisvolle macht den Reiz dieser Haibun aus. David Cobb ist hier ein faszinierendes Buch gelungen, das neue Dimensionen erschließt und Impulse geben kann. Für deutsche Leser stellt es eine Herausforderung dar – nicht nur wegen der mitunter schwer verständlichen Sprache, sondern auch wegen des historischen Hintergrundes einer uns nicht so vertrauten Kultur. Wer sich darauf einlässt, wird es mit großem Gewinn lesen, denn hier ist ein Haibun-Kenner und -Könner am Werk, der in der Tradition wurzelt, aber kritisch und illusionslos durchleuchtet, was er in Geschichte und Gegenwart entdeckt: torso, this world, struggling to bring together its head and its heart David Cobb: »Forefathers«, published 2004 by Leap Press, P.O. Box 1424, North Falmouth, MA 02556, $ 7 + postage. (Das Buch kann auch beim Autor selbst bezogen und in Euro bezahlt werden: [email protected]). 9 AUFSÄTZE UND ESSAYS Impressum Udo Wenzel Haiku am Scheideweg: Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô M asaoka Shiki (1867-1902) war der Wegbereiter des modernen Haiku. Scharf griff er nicht nur die Haiku-Dichtung seiner Zeit an, er attackierte auch den damals kritiklos verehrten Urvater des Haiku Matsuo Bashô (16441694). Aus dem westlichen Realismus übernahm Shiki das Konzept des naturgetreuen Skizzierens (Shasei) und entwickelte einen objektiven, an der Wirklichkeit orientierten Haiku-Stil. Nach seinem Tod gabelte sich dieser Weg. Seine beiden bedeutendsten Schüler, Takahama Kyoshi (1874-1959) und Kawahigashi Hekigotô (1873-1937) gaben dem Japanischen Haiku divergierende Impulse, die bis heute nachwirken. Hekigotô setzte die Reformen Shikis weiter fort, Kyoshi belebte das traditionelle Haiku aufs Neue. Kawahigashi Hekigotôs Neue Richtung omowazu mo hiyoko umarenu fuyubara Ganz unerwartet war das Küken geboren. Eine Winterrose.1 Hekigotô schloss sich 1893 gemeinsam mit seinem Freund und späteren Rivalen Kyoshi der Reformbewegung Shikis an. Er wurde von diesem wegen seiner realistischen und objektiven Verse geschätzt. Nach Shikis Tod betreute er dessen Haiku-Spalte in der Zeitung Nihon und veröffentlichte vier Jahre später eine erste Anthologie (Zoka shunkashûtô). Ab 1908 nannte Hekigotô seine Schule »Neue-Richtungs-Bewegung« (shin keikô undô). Nach Otsuji (1881-1920) erweiterte Hekigotô nun das streng an Objektivität ausgerichtete Konzept des Shasei, und seine Verse zeichneten sich durch »Feierlichkeit, Implikation und Tiefe« aus. Das oben zitierte Haiku sei dafür beispielhaft. Hekigotô stimmte Otsuji zu, der das naturgetreue Skizzieren nur für Anfänger geeignet hielt. Otsuji vertrat die Ansicht, dass das Haiku einen »metaphorischen« oder »suggestiven« Stil entwickeln müsse, um die »wahren« Eigenschaften eines Objekts und subtile Gefühle mitteilen zu können. (Reck, S. 59). Doch Hekigotô ging über Otsuji hinaus. Sein erklärtes Ziel war es, dem »wirklichen Leben« näherzukommen und »wirkliche Gefühle« (jikken) auszu1 von Hekigotô, aus Reck 1968, S. 59. 10 Impressum Haiku am Scheideweg: Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô drücken (Reck, S. 61). Deshalb schrieb er erste freie Verse ohne festes Silbenschema und gab 1909 auch die konventionelle Jahreszeitenbindung auf. Die Haiku-Dichtung solle sich nicht an Stilen orientieren, wesentlich sei stattdessen »eine tiefe Verbindung mit dem Universum« (zitiert nach Reck, S. 61). Hekigotô bereiste das ganze Land. Seine Bewegung gewann großen Einfluss in der japanischen Haiku-Welt. Aber als Kyoshi 1913 nach einer Zeit des Rückzugs wieder zur Haiku-Dichtung zurückkehrte, wurde die Bedeutung Hekigotôs und seiner Schule zurückgedrängt. An seinem 60. Geburtstag gab er das Haiku-Schreiben auf. Er starb im Alter von 65 Jahren an Typhus. akai tsubaki shiroi tsubaki to ochinikeri Die Blüten der roten, der weißen Kamelie: sie fallen beide.2 Takahama Kyoshi: Erhalte das Alte Kumo ni are ami o kakeneba naranu-kana Als Spinne geboren bleibt ihr nur eines: weben am Spinnennetz.3 Takahama Kyoshi war seit 1898 Redakteur bei der Literaturzeitschrift Hototogisu4, nach Shikis Tod übernahm er dessen Position des Chefredakteurs (und verblieb darin für beinahe 50 Jahre). Kyoshi zog sich 1907 bis 1912 von der HaikuBühne zurück und schrieb Romane. In Hototogisu veröffentlichte er nun auch Prosa im Shasei-Stil (shasei-bun), auch bedeutende Schriftsteller wie beispielsweise Natsume Sôseki veröffentlichten in ihr. Die Zeitschrift blühte auf. Kyoshis Ablehnung des Haiku-Stils von Hekigotô und seiner Neue-Richtungs-Bewegung motivierte ihn 1913 sich mit ganzer Kraft für ein anderes Haiku zu engagieren. Er initiierte eine Gegenbewegung, der er den konservativ-programmatischen Namen »Erhalte-das-Alte-Gruppe« (Shukyû-ha) gab. Kyoshi kritisierte Hekigotô sowohl wegen seiner Preisgabe des Silbenschemas und Abkehr vom traditionellen Kigo-Konzept als auch wegen seiner anfänglichen Idealisierung des objektiven Shasei-Stils. Er war der Ansicht, dies führe insgesamt zu einer Verflachung der Haiku-Dichtung. Zwar sei eine Orientierung am naturgetreuen Skizzieren nicht unwichtig, aber wesentlicher sei es, Verse zu schrei2 von Hekigotô, aus Satô Kazuo 1990, S. 180. 3 von Kyoshi, aus: Inahato Teiko, 2005. Übersetzung aus dem Englischen vom Verfasser. 4 hototogisu heißt Kuckuck, eine andere Bezeichnung für Kuckuck ist shiki. Hototogisu wurde von Yanagihara Kyuokudô (1867-1957), einem Anhänger Shikis, gegründet. 11 Impressum Haiku am Scheideweg: Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô ben, die von Harmonie (onchô) und Phantasie (kusô) geprägt sind. Die HaikuDichtung vor Shiki zeichnete sich durch einen großen Anspielungsreichtum aus. Durch den strikten Gegenwartsbezug des naturgetreuen Skizzierens werde diese Verbindung zu früherer Literatur vernachlässigt (Reck, S. 52 f.). Kyoshi teilte Shikis Ablehnung der Kettendichtung (Renga) ebensowenig wie dessen Kritik an Bashô. Im Gegenteil, er schätzte Bashô sehr und leitete eine Renaissance der Kettendichtung ein. Nicht zuletzt aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Chefredakteur von Hototogisu wurde er um vieles einflussreicher als Hekigotô. Seine neo-traditionalistische Schule dominierte die Haiku-Dichtung für lange Zeit und hielt sowohl am Silbenschema als auch an der traditionellen Vorstellung des Jahreszeitenwortes fest. Kyoshi nannte sein Konzept kachô fûei5. Die Natur sollte nicht einfach objektiv beobachtet, sondern bewundert und verehrt werden. Ein Haiku habe die Harmonie und Verbindung zwischen Mensch und Natur auf poetische Weise zu thematisieren. Die Gedanken oder Ideologien des Autors werden nicht direkt ausgesprochen, aber sie müssen metaphorisch durch die Auswahl des Objektes oder des Jahreszeitenwortes enthalten sein. Seine konservative Haltung brachte ihm den Vorwurf ein, dass er hinter Shiki zurückfalle. Dies änderte nichts an seiner Wirkung auf die japanische Haiku-Welt. Häufig wird er wegen dieser mit Matsuo Bashô verglichen. Kyoshi starb 86-jährig und hinterließ circa 200.000 Haiku. Schlussbemerkung Der beachtliche Einfluss Kyoshis zeigt sich heute noch an der weiten Verbreitung des traditionellen Haiku in Japan. Seiner Schule entwuchsen viele wichtige Dichter, es sei hier nur Mizuhara Shuôshi (1892-1981) erwähnt. Aus Hekigotôs Bewegung entwickelte sich die freie Form des Haiku. Bedeutende Haiku-Dichter wie Ippekiro Nakatsuka (1887-1946), Ogiwara Seisensui (18841976), Hôsai Ôzaki (1885-1926) und vor allem Taneda Santôka (18821940), der zu den meistgelesenen Haiku-Autoren in Japan gehört, entstammen dieser Linie. Das zeitgenössische japanische Haiku (gendai)6, das außerhalb Japans weniger bekannt ist, hat hier eine seiner Wurzeln. Bei diesem finden sich freilich unterschiedliche poetische Positionen. Manche halten am 5-7-5 Muster fest, andere lediglich am Jahreszeitenwort, wieder andere lehnen beides ab. Auf die literarische Qualität des jeweiligen Haiku haben diese Entscheidungen letztlich keinen Einfluss. 5 kachô: Blumen und Vögel, fûei: ein Gedicht schreiben. 6 1990 erschien die Haiku-Anthologie »Treibeis«, die einen Querschnitt zeitgenössischer Haiku aus Hokkaidô vorstellt. Das Buch ist leider vergriffen. 12 Impressum Haiku am Scheideweg: Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô Im deutschsprachigen Raum wird das moderne Japanische Haiku nur wenig wahrgenommen. Bisher herrscht großteils eine restringierte Rezeptionsweise vor, die ein konservatives Haiku-Bild gefördert hat. In den letzten Jahren wurde mit der Veröffentlichung der kommentierten Übersetzungen Bashôs, Busons und Issas von Geza S. Dombrady und den Shômon-Bänden von Ekkehard May mit ihren ausführlichen Kommentierungen ein wichtiger Schritt zu einem besseren Verständnis der Gattung getan. Doch stellen diese Bücher ausschließlich Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts vor. Bezogen auf moderne Haiku nach Shiki ist hierzulande leider nur noch der Band »Santôka – Haiku, Wandern, Sake« des Japanologen Robert F. Wittkamp erhältlich. Dieser ist, auch in seiner Übersetzungsleistung, vorbildhaft für eine adäquate Haiku-Rezeption. Eine vergleichbare Darstellung weiterer zeitgenössischer Haiku-Autoren Japans steht noch aus.7 Toki mono o kaiketsu suru ya haru o matsu Möge die Zeit lösen Sorgen und Nöte – warten auf den Frühling – 8 Literatur Mario Fitterer: Das Verschwinden der Schwalbe. Aspekte moderner deutschsprachiger Haiku. In: Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, Nr. 67, 2005, S. 5-24. Inahata Teiko: The World of Kyoshi. In: Simply Haiku: A Quarterly Journal of Japanese Short Form Poetry, Summer 2005, Volume 3, Number 2. www.simplyhaiku.com Inahata Teiko: Hundred Haiku of Kyoshi. In Vorbereitung. Ausschnitte auf der Website des Kyoshi Memorial Museum: http://www.kyoshi.or.jp/work/e-work.htm Michael Reck: Masaoka Shiki und seine Haiku-Dichtung. Inaugural-Dissertation. München, 1968. Satô Kazuo: »Heiter, liebenswürdig, spontan«. In: Siegfried Schaarschmidt und Michiko Mae (Hg.). Japanische Literatur der Gegenwart, S. 180 ff. München/Wien: Hanser, 1990. Treibeis. Haiku in Geschichte und Gegenwart auf Hokkaidô Japan. Herausgegeben von Hachirô Sakanishi. Thalwil (Schweiz): Adonia-Verlag, 1990. Robert F. Wittkamp: Santôka. Haiku, Wandern, Sake. Tôkyô: Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, OAG Taschenbuch Nr. 66, 1996 (erhältlich beim iudicium Verlag, München, www.iudicium.de). 7 In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf den Aufsatz »Vom Verschwinden der Schwalbe« von Mario Fitterer, in dem (auch) ein Überblick über zeitgenössische japanische Haiku gegeben wird. 8 von Kyoshi, aus: Inahato Teiko, in Vorbereitung. Übersetzung aus dem Englischen vom Verfasser. 13 Impressum Autorentreffen: Ruth Franke Autorentreffen der DHG (4) Ruth Franke G eboren 1932, lebt in Emmendingen bei Freiburg und beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Haiku und Ikebana. Publikationen in Anthologien, HaikuMagazinen und auf internationalen Websites; vertreten in der Autoren-Präsentation der World Haiku Society. 2002 erschien im Mafora Verlag »Lapislazuli / Haiku«. Die Augen schließen schwimmen im See der Jugend – bis zum Beckenrand Zwischen Farbkübeln das Weiß der Orchidee Kurz vor dem Start durch die Windschutzscheibe der Blick der Biene Alter Mühlenhof vor dem Misthaufen 20 Harley Davidson Leuchtendes Herbstlaub – nach einer Woche im Sturmreif für den Besen Blätter schweben im Abendlicht – wie schwer so leicht zu sein Lapislazuli Meer und Träume tiefer tauchen Kein Platz für Vögel nur noch für Kunst-Touristen – verhüllte Bäume Brütende Hitze beim Arzt warten geduldig zwei Regenschirme Beim Zwiebelsetzen stummer Protest der Regenwürmer Kein Hundeleben der letzte Schluck des Penners für den Gefährten Der Vorhang fällt vor reglosen Krähen Schnee ohne Ende Ferien-Ende im rauhen Seewind schwingen die leeren Schaukeln Der Mond spielt Versteck mein Nachbar Wolkensonaten Secluded lake warbler’s song from the reed silence deepens Boulevard in snow coloured shadows of the neon signs Nyuusen 8. Kusamakura-Wettbewerb 2003 14 Impressum TEXTE DER MITGLIEDER Kurt F. Svatek Pfeifender Südwind wiegt ein leeres Elsternnest, das Pappellaub flieht. Gepflügte Felder; die Heimfahrt schon im Dunkeln, wenn der Mond nicht wär. In der Dämmerung formieren sich die Jäger. Lauf, stolzer Fehbock. Günther Klinge Hoch in den Lüften der Vögel Flug in den Süden. Fernwehgefühle. Nur ein Tag im Jahr und doch so voller Leben. Reife Kastanien. Allerheiligen: Sich der Toten erinnern. Ferne und Nähe. Regina Franziska Fischer Abends im Basar – den Duft des Gewürzmarktes noch im Seidenschal Eine Schweißperle auf der Banküberweisung – beim EURO Der Wind trägt den weichen Ton der Klangschale zum kranken Nachbarn... Conrad Miesen Ein Grund zum Zittern? Die Espen sehen uns zu beim Steinchenwerfen… Auf dem Kopfkissen kann ich sie nachts verlassen – diese Welt aus Staub Ist Helga tierlieb? Sie nagt am Apfel und hat Wespen als Gäste 15 Impressum TEXTE DER MITGLIEDER Angelika Wienert Höllenfeuer… der Prediger schwitzt im Hyde Park Teestunde – ergraute Damen beißen in kleine Kuchen Tate Gallery. In Turners Sturmbild versinken Dieter Klawan Seine Netze spannt der Herbst und fängt den letzten Sommersonnenschein Die Herbstzeitlose werden hier und dort verteilt – uns´re sind lila Ramona Linke der sommertag strahlt lange noch von der hauswand Horst Ludwig und Ramona Linke Tan-Renga Spaziergang am Fluß; die Hüfte schmerzt immer mehr. Ein Vogel fliegt auf. Jene Leichtigkeit spüren, nach dem Sprung in das Wasser. Zwischen den Zweigen blitzen Spinnenfäden – wie Elektrizität 16 TEXTE DER MITGLIEDER Impressum Udo Wenzel und Volker Friebel Tan-Renga Mit dem Stocherkahn den Neckar hinauf durch Bärlauchduft. Träge entgegen strömt der Atem des Wassers. Horst Ludwig und Udo Wenzel Rengee Besonders am Tage Zwei munt’re Fischlein in einem Bächlein helle. – Kofferradio. Nach einer schlaflosen Nacht morgens auf das Meer blicken. Wie mächtig sie sind, die Niagarafälle, besonders am Tag. Sommergewitter. Um das Kriegerdenkmal rollt ein Plastikeimer. Und hier droht eine Dürre, wie schon seit Jahren nicht mehr. Hamburger Hafen. Queen Mary zeigt sich einmal von allen Seiten. (HL: 1, 3, 5; UW: 2, 4, 6) 17 TEXTE DER MITGLIEDER Impressum Ilse Hensel Haibun Regnerischer Augusttag am Wattenmeer. Auf der Deichkrone. Im Voranschreiten sich gegen den NORDWESTWind stemmen, einmal mehr, einmal weniger, je nach Deichverlauf. Kurz vor Niedrigwasser schimmert das flache Wasser über dem Wattboden blaugrau. Auf dem Watt nur einige sich bewegende Menschenumrisse gegen die offene See, gegen die tief hängenden Wolken, durch die ab und zu die Sonne blinkt, sich ein Stück blauer Himmel zeigt. Der in weiten Kurven verlaufende Priel steht noch bis zum Rand voll Wasser. Nach einer starken Böe auf dem Gras der Deichböschung schräg abwärts gehen, unten weiterwandern. Links der das Watt begrenzende Steinwall, rechts der grüne Deich. Das Watt inzwischen fast trocken, darauf die spiraligen Schlickauswürfe der Wattwürmer und das Rillenmuster des zurückgewichenen Wassers. Auch im Priel sinkt das Wasser. Mir begegnen, mich überholen nur wenige Menschen. Ein Kind lacht. Ansteckend. Erreiche die metallene Weg- und Deichabzäunung zur Schafweide. Gehe durch das Gatter. Die Schafherde zusammengedrängt vor dem Wind. Auf dem Steinwall und im Gras kleine Wollbüschel, gebleichte Hölzer, Reste von Tauwerk aus Hanf, auch aus Polyester, rostrot, türkisfarben. Da weht eine Flaumfeder über das Gras hin – Eine Flaumfeder im stürmenden NORDWESTWind – strecke die Hand aus 18 Impressum Haiku heute www.Haiku-heute.de In den Monaten Mai bis Juli 2005 wurden auf der Netzseite www.Haiku-heute.de 635 Texte eingereicht. Die folgenden Haiku bilden die Monatsauswahlen. Christine Hallbauer Abstieg – vom Schatten der Gondel überfahren Antonieta Schmid Sperrmüll. Den alten Schlitten, blau anstreichen … Andrea D’Alessandro Versetzungszeugnis. Ein Kind wirft Steine nach den Fischen Strandvergnügen – Vater packt den Playboy aus Dämmerlicht. Beim Schilf schlägt der Hund an sonnenuntergang – die laterne übernimmt meinen schatten Livia D’Alessandro Warmer Regen – ich renne barfuß hinaus Sommerferien – das Unkraut im Hof trägt eine Blüte 19 Impressum Haiku heute Volker Friebel Verirrt. Die Waldtaube gurrt. Im Bus, die Gedanken verstummt: Berge! Angelika Wienert Alter Kreuzgang. Was Vater gesagt hätte, erzählen wir uns Piraten ... der Garagenhof ihr Meer Marita Schrader Der Fremde erzählt mir sein Leben – niemand steigt zu Kerstin Kollenbach & Anja Viehmann Am Meer den Krebs verdrängen Ankunft – An den Gleisen Distelblumen Matthias Korn blaues Schattenspiel noch immer hämmert der Bass aus dem Autowrack am Fuß der Pappel zwischen Samenwolle zerknüllte Tempos Hubertus Thum Erste Schneeflocken Auf meinen Händen das Gewicht des Himmels Zwischen dem Berg und der zeichnenden Hand – das Schweigen Nach der Trauung – Die Blumenkinder fechten mit Gladiolen. Nischen am Dom Die Heiligen im Blättertreiben 20 Impressum Haiku heute Dietmar Tauchner Gipfel treffe den Wind ihre sms fliederduft Wolfgang Beutke Horch – Nach jeder Welle das Klickern der Kiesel Hans Lesener ihre worte noch verschlossen im briefumschlag Luise Eilers Jäh aus dem Traum erwacht Noch das Fallen fühlen Stromausfall – mit der Kerze auf Streichholzsuche Sabine Hartrampf Mittagshitze – ein Blatt trägt seinen Schatten über den Flussgrund Roswitha Erler Beichte – ein siebzehnjähriges Enkelkind Sie wartet am Gartenzaun – silbermondfarben die Fußnägel 21 Impressum Haiku heute Udo Wenzel Morgensonne. Feiner Dunst gleitet über den Teich Sommerabend der Briefkasten warm und leer Stehengelassen ... die Rücken der Strandkörbe vor dem Meer Gerhard Winter vielleicht lose das geländer vielleicht lose Sebastian Tupikevics allein im regen Feucht eine träne die wange runter Maurice Sippel dem blick in meine Augen – nicht ausweichen ins Gras legen – doch die Schnecke klebt fest am Asphalt mein Lied singen die Leute passierend mein Lied singen nächtliche straße verfolgt vom duft des flieders Tanz in den Mai ihr schlohweißes Haar im Takt der Musik 22 Impressum Haiku heute Michael Denhoff es regnet in die Gedanken an gestern Jürgen Hoberg Sonnenuntergang – sie streift ihre Jacke über Ramona Linke nach dem kopfsprung die stille unter wasser Druckfehlerberichtigung Betr.: VJS Nr. 69, Haiku heute, S. 27/28 Marita Schrader (nicht Roswitha Erler) Herbstwind – ein Vogelnest treibt ans Ufer Roswitha Erler (nicht Matthias Korn) Im Museum den Blick nicht lösen können vom fremden Besucher im Nachtgarten nur noch das Weiß der Hortensie 23 BESPRECHUNGSHAIKU Impressum Ein Haiku von Dirk Bunje kommentiert von Angelika Wienert Auf der Terrasse – Wind blättert in der Zeitung landet in Kultur Dirk Bunje W o immer die genannte Terrasse sein mag, in Gedanken sitze ich sofort in meinem Garten. Sommerwind, der mir hoch willkommene Kühle bringt, blättert in meiner Samstagszeitung, die auf dem Tischchen neben mir liegt. Amüsiert beobachte ich das Spiel des Windes. Da sind die Leserbriefe, weiter geht es zum Wirtschaftsteil, Immobilien scheinen auch von Interesse zu sein. Dann drückt dieser Wind, der einen jungen Baum biegt, den Sonnenschirm rüttelt, die erste Seite des Kulturteils wie mit Geisterhand auf die Unterlage, liest sich scheinbar fest. So sehr habe ich mittlerweile das Wehen personifiziert, dass es mir widerstrebt, dem Wind die Zeitung gewissermaßen zu entwenden, wieder in meine Leserinnenhände zu nehmen. Während mir inhaltlich dieses Sommerhaiku gefällt (wie oben ersichtlich meine Phantasie anregt), so muss ich bei der sprachlichen Gestaltung des Textes Abstriche machen. Zur Verdeutlichung verkürze ich die drei Zeilen: … der … – … in der … … in … Als Alternativen für die dritte Zeile bieten sich zum Beispiel »landet bei Kultur«, »bleibt im Kulturteil«, »zaust den Kulturteil« an. Ganz spontan setze ich bei meinen Notizen zum Text ein Komma an das Ende der zweiten Zeile. Da geschieht etwas in Folge, was durch eine kleine Lesepause an der genannten Stelle besser zum Ausdruck kommt. Wie immer die Entscheidung auch ausfallen mag (bei der ursprünglichen Fassung bleiben, einen der genannten Vorschläge aufgreifen, den Text in ganz anderer Weise verändern), ich wünsche noch viele schöne Tage auf dieser Terrasse, ab und zu eine kühle Brise. 24 Impressum BESPRECHUNGSHAIKU Ein Haiku von Bernd Reklies kommentiert von Ruth Franke Verloren sind die Blumen für dich; wohl aus der Tasche gefallen Bernd Reklies B ei den letzten Einsendungen häufen sich die Texte, in denen ein Satz ohne Zäsur und Rücksicht auf Sinnzusammenhänge in drei Teile »zerlegt« wurde, um dem 5-7-5-Schema gerecht zu werden. Hier ist die Aufteilung besonders unglücklich, weil zweimal Artikel und Substantiv willkürlich getrennt werden. Zudem ist die Aussage »Verloren sind die Blumen für dich« nicht ganz eindeutig; gemeint ist wohl, dass der Autor die Blumen verloren hat, und das sollte auch zum Ausdruck kommen. Der zweite Satzteil »wohl aus der Tasche gefallen« ist allzu lapidar und keine Entschuldigung dem Partner oder sonstigen Adressaten der Blumen gegenüber. Außerdem sollte ein Haiku möglichst keinen Kommentar, keine Schlussfolgerung enthalten. Aus dem zu beurteilenden Text wird auch durch andere Aufteilung kein Haiku. Es fehlt eine interessante erste Zeile, die im Leser Interesse weckt, es wird kein Spannungsbogen aufgebaut, der in der letzten Zeile durch eine überraschende Wendung den Leser verblüfft oder schmunzeln lässt. Es wird alles gesagt, und nichts bleibt offen für eigene Assoziationen. Man könnte höchstens einen humorvollen Dreizeiler daraus machen, etwa so: Mit leeren Händen steh ich vor dir – die Blumen fraß der Terrier (wobei die letzte Zeile variabel ist). 25 BESPRECHUNGSHAIKU Impressum Ein Haiku von Erika Schwalm kommentiert von Ruth Franke Vor dem Pfandhaus fallen die Schneeflocken in seinen Nacken Erika Schwalm I ch stelle mir dieses Bild vor und versuche, den Inhalt zu ergründen: ein Mann steht vor einem Pfandhaus und die Schneeflocken fallen »in seinen Nacken«. Dieser Ausdruck wirkt, als sei er wörtlich aus dem Englischen übersetzt. Sprachlich besser wäre: »fallen ihm in den Nacken«. Die Formulierung des Textes erweckt den Anschein, als wenn der Schneefall erst vor dem Pfandhaus eingesetzt hat. Oder hat der Mann seinen Mantel oder Anorak ausgezogen, um ihn zu versetzen und spürt jetzt die Kälte im Nacken? Es bleibt offen. Vielleicht ist er auch schon so verarmt, dass er in leichter Kleidung in den Winter geht. Mit einer kleinen Umformung würde das Gedicht gewinnen. Da eine Aussage in einem Satz leicht eintönig wirken kann, würde ich nach der ersten Zeile eine Zäsur setzen (Gedankenstrich oder Punkt sind möglich). Vor dem Pfandhaus (die) Schneeflocken fallen ihm in den Nacken Jetzt spürt man die Kälte stärker, vielleicht auch das Zögern vor dem Schritt über die Schwelle des Pfandhauses, und der Leser mag sich Gedanken machen, was dem Mann noch Bedrohliches »im Nacken« sitzt – vielleicht der Gerichtsvollzieher? 26 Impressum BESPRECHUNGSHAIKU Ein Haiku von Erika Schwalm kommentiert von Volker Friebel Vor dem Pfandhaus fallen die Schneeflocken in seinen Nacken Erika Schwalm P fandhaus – Nacken – Schnee: ein sehr gutes Haiku, klar und hart geschaut. Zunehmende Armut, und Nackenschläge, die Kühle des Schnees. Zur Literatur muss das werden durch Sprache, durch Einschränkungen des Assoziationsraumes, die nicht drängen, nicht interpretieren, nur vorsichtig in eine Richtung deuten. Ein ganzer, ungebrochener Satz wird im Gedicht allerdings nur selten zufrieden stellen. Ich verändere also mal – vielleicht um auf diesen Satz am Schluss doch wieder zurückzukommen, falls er sich im Variieren bewährt und erhärtet. Vor dem Pfandhaus – Schneeflocken fallen in seinen Nacken. Das Metrum des Originals ist 4-6-5, auf eine bestimmte Silbenzahl ist also keine Rücksicht zu nehmen. Mir gefallen allerdings meist Haiku am besten, bei denen die Mittelzeile entweder die kürzeste oder die längste ist – ganz wie im Original. Am Pfandhaus – Schneeflocken fallen in seinen Nacken. Beim Vergleich mit dem Original denke ich nun, dass jenes tatsächlich ein Problem mit der Umsetzung hat. Man sollte weiter variieren. Vielleicht wäre es gut, die Sinne direkter anzusprechen, etwa »kühl« ausdrücklich in den Text zu nehmen. Vor dem Pfandhaus. Im Nacken die Kühle fallenden Schnees. Vielleicht wirkt das zu schwer, oder zu aufdringlich, der Original-Text kommt distanzierter und leichter daher als die Varianten. Wäre es besser, diese Leichtigkeit und Distanz beizubehalten, trotz, vielleicht gerade wegen des schweren Themas? Dann müsste die Kühle wieder weg, die nah ist, die nur der 27 Impressum BESPRECHUNGSHAIKU Betroffene spüren kann. Und die »Flocken« könnten wieder dazu, die leichter machen, während »Schnee« allein eher schwer wirkt. Solche Entscheidungen sind nicht einfach, ich finde es aber wichtig, nicht bei der Idee und ersten Ausformung eines Haiku stehenzubleiben, sondern zu variieren. Das Haiku mag ganz spontan entstanden sein, zur literarischen Ausformung aber bedarf es der Veränderung und Kritik. Ein Haiku von Erika Schwalm kommentiert von Margret Buerschaper Vor dem Pfandhaus fallen die Schneeflocken in seinen Nacken Erika Schwalm D as Bild dieses Mannes vor dem Pfandhaus besetzt leicht die Vorstellung, man könnte eine ganze Kurzgeschichte aus diesem Dreizeiler machen. Wer ins Pfandhaus gehen möchte, will einen Gegenstand gegen Bares einwechseln – meistens vorübergehend. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es ein schwerer Entschluss ist. Deshalb auch das Zögern vor dem Betreten des Hauses, das nochmalige Überlegen, die eventuelle Suche nach einem anderen Ausweg. Dieses bedenkende Verhalten wird sehr gut durch die in den Nacken fallenden Schneeflocken verdeutlicht. Wer hält schon freiwillig still, wenn Schnee bis in den Nacken fallen kann? Er hat keinen Schal um, mitten im Winter, vielleicht auch keinen Mantel, dessen Kragen man hochschlagen könnte, was die Gedanken an die Bedürftigkeit und damit zugleich die Notwendigkeit dieses Vorhabens nahe legt. Der Mann ist traurig darüber, dass er diesen Weg gehen muss, das kommt durch die winterliche Kälte zum Ausdruck. Hier verbindet sich das äußere Bild mit der inneren Gefühlswelt. Kälte und Nässe scheint er nicht zu spüren, so sehr ist er von den Überlegungen und den diese begleitenden Gefühlen beansprucht. Man spürt die Ausweglosigkeit, die ja einer Verpfändung eines liebgewordenen Gegenstandes vorausgeht. So gesehen ist der Inhalt des Gedichtes traurig. Man könnte ihm eine kleine tröstliche Wendung geben, wenn die zweite Zeile lautete: weich fallen Schneeflocken. 28 Impressum BESPRECHUNGSHAIKU Ein Haiku von Daniel Dölschner kommentiert von Hubertus Thum Wolkenloser Himmel. In der Luft der Geruch frischer Farbe Daniel Dölschner S kizzenhaft, als Shasei, und beinahe harmlos kommt es daher, dieses Haiku, und fügt augenzwinkernd zum (unausgesprochenen) Blau des wolkenlosen Himmels den Geruch frischer Farbe. Geschickt und mit Gewinn für das kleine Gebilde sind gleich zwei Sinne ins Spiel gebracht, Gesichts- und Geruchssinn, ein bewährter Griff in den Werkzeugkasten des Haikuschreibens. Nun ja, die Wiederholung des Artikels und die das Gedicht so zahlreich durchrollenden »r«, die eher ein aufziehendes Gewitter assoziieren – läßt sich daran noch feilen? Die Frage, ob das Bild erlebt oder imaginiert ist, soll uns hier nicht zu sehr beschäftigen. Tatsache ist, dass es solche »Zufälle« gibt. So kennen wir von Masaoka Shiki das in Japan zu Recht berühmte Haiku, in dem er das Verspeisen einer Kakifrucht mit dem Läuten der Glocke des Tempels Hôryû-ji in Nara synchronisiert, einem der ältesten buddhistischen Heiligtümer im Land. Zwischen dem Klang der Glocke und dem Essen der Kakipflaume scheinen geheimnisvolle Verbindungen zu bestehen. Warum nicht ebenso zwischen dem Blau des Himmels und dem Geruch frischer Farbe? Behaupten doch alte Philosophen und moderne Wissenschaftler wie Rupert Sheldrake gleichermaßen, dass im Universum kein Ding vom anderen getrennt ist. Was der Verfasser gar für einen scherzhaften Einfall hielt, gewinnt vor diesem Hintergrund eine ganz andere Dimension. Schreiben wir dann, falls die These stimmt, alle an ein und demselben Haiku? Vielleicht. Unsere Skizze wäre ein Baustein dafür. 29 Impressum BERICHTE Gerd Börner / Volker Friebel Der 1. Europäische Haikukongress Teil 2 I m letzten Heft wurde über den Eröffnungsvortrag von David Cobb sowie über den Rahmen berichtet, auch wurden Schlussfolgerungen aus dem Kongress gezogen. Der Hauptteil des Kongresses bestand aus Vorträgen der einladenden Honoratioren und der einzelnen Haikugesellschaften. Dieser 2. Teil des Berichts gibt sie in Kurzfassungen wieder. Wir haben jeweils ein, zwei, drei Haiku aus den einzelnen Ländern hinzugefügt, die zum Teil dort gelesen, zum Teil von uns später herausgesucht wurden. Grußworte In seinem Grußwort brachte der japanische Generalkonsul Junichi Kosuge seine Freude über die Ausrichtung des 1. Europäischen Haiku-Kongresses zum Ausdruck. Er zollte der Stadt Bad Nauheim, seinem Bürgermeister Bernd Rohde, und dem Präsidenten der Deutschen Haiku-Gesellschaft Martin Berner seinen Respekt für die Realisierung dieses wichtigen Haiku-Ereignisses. Herr Kosuge wies darauf hin, dass die Rosenstadt Bad Nauheim in einer langen Tradition steht, Haiku-Dichtung in Deutschland zu würdigen. Haiku trägt dazu bei, die Verständigung der Menschen und der Völker dieser Welt zu vertiefen. In frohen sowie in sorgenvollen Momenten seien Haiku Partner in seinem Leben. Issa Auch auf der kleinsten Insel hat der Bauer im Feld über sich seine Lerche. Martin Berner, Präsident der Deutschen Haiku-Gesellschaft (DHG), bedankte sich für die großzügige Unterstützung durch die Stadt Bad Nauheim und ihres Bürgermeisters – und bei den Aktivisten des Frankfurter Haiku-Kreises, insbesondere bei Erika Schwalm, für die Unterstützung bei der Vorbereitung zum Kongress. In seiner Begrüßungsrede erklärte Martin Berner den Schwerpunkt des Kongresses: Die Vertreter der teilnehmenden Nationen stellen Entwicklung und aktuellen Stand der Haiku-Dichtung vor, lernen sich kennen und starten gemeinsame Aktionen. 30 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 Bernd Rohde (Bürgermeister von Bad Nauheim) Heller Rosensaal Zweige wachsen aus Rosen Haiku schlägt Brücken Die Länder Niederlande (und Flandern): Max Verhart hat die Situation im niederländischen Sprachraum vorgestellt. Das erste veröffentlichte Haiku eines Niederländers stammt von Hendrik Doeff (1777-1835), der in Nagasaki arbeitete. Aber erst um 1980 herum begann das Haiku im Niederländischen heimisch zu werden, 1980 wurde der Haiku Kring Nederland (Haikukreis Niederlande) gegründet, der heute etwa 200 Mitglieder hat. Das Haiku Centre Flanders (Haikuzentrum Flandern) hat 90 Mitglieder. Außerdem gibt es regionale Haikukreise. Vuursteen, die Vierteljahresschrift von HKN und HCF, wurde 1981 gegründet und dürfte damit die älteste noch existierende Haiku-Zeitschrift Europas sein. Es gibt Anthologien und Einzel-Veröffentlichungen in kleinen Verlagen. Max Verhart mahnte zur Gelassenheit: Als Antwort auf die Ignoranz der Feuilletons sollten wir nicht um literarische Anerkennung buhlen, sondern uns darauf konzentrieren, exzellente Haiku zu schreiben, wenn auch eine Anerkennung der nationalen Literatur hilfreich wäre. Paul Mercken ze glijdt het bad in het zacht voelende water lijkt op zijn adem sie gleitet ins Bad das sanfte Wasser gleicht seinem Atem Max Verhart stille zondag de schaduw van de iep doet zijn ronde stiller Sonntag der Ulmenschatten macht seine Runde Marianne Kiauta kijk, die olifant – langzaam wordt hij twee hondjes wolken in de wind schau, der Elefant – allmählich werden es zwei Hunde Wolken im Wind 31 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 Frankreich: Seit 1903 werden Haiku in Frankreich geschrieben, berichteten Jean Antonini und Georges Friedenkraft. Zwischen den Weltkriegen gab es einen Höhepunkt an Veröffentlichungen, zwischen 1945 und 1975 eine Schaffens-Pause, 1980 bis 2000 erfolgte, inspiriert durch Beatniks wie Jack Kerouac, ein Neuanfang, der ab 2000 in eine kraftvolle literarische Bewegung mündete. Bei der Realisierung ihrer Haiku versuchen die französischen Autoren durch eine Betonung der Semantik einen »French Touch« in ihre Haiku-Dichtung zu bringen. Das soziale Engagement in der französischen Poesie findet sich auch in der Dichtkunst französischer Haiku wieder. Die französische Haiku-Gesellschaft wurde 2003 gegründet, aber in der französischen Literatur nimmt das Haiku noch eine Randstellung ein. Jean Antonini Qu’était ce poème? Mots? Jambes? Petite pierre? Oubli? Mon corps d’automne Was war dieses Gedicht? Wörter? Beine? Kiesel? Vergessen? Mein herbstlicher Körper Georges Friedenkraft Nous dégraferons le soutiens-gorge de l’aube à perpétuité Wir werden den Büstenhalter der Morgendämmerung aufhaken für immer Deutschland (und Österreich): Das Haiku kam über französische Übersetzungen nach Deutschland, in den 1920er und 1930er Jahren gab es Versuche einiger bekannter Dichter mit dieser Lyrikform, so von Rainer Maria Rilke. Das 1962 veröffentliche Buch »Haiku« der Österreicherin Imma von Bodmershof ist das erste bekannt gewordene eigenständige Haikubuch im deutschen Sprachraum. Martin Berner führte aus, dass viele deutschsprachigen Haiku in der Tradition des Interpretierens stehen, meist zu ihrem Nachteil. Zu großen Wert wurde lange Zeit auf die äußere Form eines 17-Silben-Schemas gelegt. Im allgemeinen literarischen Leben hat das Haiku im deutschsprachigen Raum eine Außenseiterposition. Großen Wert legt die Deutsche Haiku-Gesellschaft auf die Aktivitäten der Regionalgruppen und Haiku-Kreise. 32 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 Martin Berner (Deutschland) ein Krähenflügelschatten und alles fällt wieder ins Dunkel Dietmar Tauchner (Österreich) Ein Fenster geht auf im oberen Stock niemand zu sehen Serbien und Montenegro: Dragan Ristic verwies auf das Jahr 1927 als dem der ersten Übersetzung japanischer Haiku in das Serbische, noch aus anderen europäischen Sprachen. Aber erst in den 1950er und 1960er Jahren wurden in Serbien selbst die ersten Haiku geschrieben. Eine erste serbokroatische Zeitschrift (»Haiku«) erschien zwischen 1977 und 1981 im heutigen Kroatien. Die schwere Zeit des Krieges der 1990er Jahre sah einen Aufbruch in der serbischen Haiku-Literatur, in der viele Haiku-Clubs und -Zeitschriften gegründet wurden, oft mit nur kurzer Lebensdauer. Eine gesamtserbische Vereinigung gibt es nicht, aber sehr viele Haiku-Autoren, Bücher, Anthologien und Wettbewerbe. Das Haiku ist in Serbien recht populär, wird aber von der offiziellen Literaturkritik noch zu wenig gewürdigt. Dragan J. Ristic ein Falter folgt mir und flattert ein Stück mit auf dem Sonnenweg Slovenien: Alenka Zorman trug zur Situation in Slovenien vor. Erst in den 1970er Jahren erschienen erste Übersetzungen japanischer Haiku. Der Haiku Club of Slovenia (HCS, 1997 gegründet, heute etwa 40 Mitglieder), gibt eine Zeitschrift (»Jahreszeiten«) heraus, zwei Doppelnummern im Jahr, mit einer Auflage von 200 Exemplaren. Der literarische Club Apokalipsa beschäftigt sich auch mit Haiku. Er organisiert jedes Jahr einen internationale HaikuWettbewerb und veröffentlicht in seiner Zeitschrift Apokalipsa von Zeit zu Zeit Haiku. Haiku wird auch in slowenischen Grund- und weiterführenden Schulen 33 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 gelehrt, wo es jährlich einen Haiku-Wettbewerb gibt. Haiku sind nicht durchgehend als literarische Form anerkannt, die wichtigsten Zeitungen des Landes veröffentlichen aber Artikel und Buchbesprechungen. Alenka Zorman poçitek v senci – v ritmu mojega diha skarabej Rast im Schatten – im Rhythmus meines Atems ein Mistkäfer Rumänien: Mihaela Popescu trug den von ihr übersetzten Bericht von Radu Patrichi vor. Das Haiku gelangte schon vor dem 2. Weltkrieg über Frankreich nach Rumänien. Wohl im 2. Weltkrieg wurden die ersten rumänischen Haiku geschrieben, aber erst ab 1990 gab es zunehmend Veröffentlichungen. Die Haikugesellschaft von Konstanza (am Schwarzen Meer) entstand 1992, sie trifft sich einmal im Monat und gibt ein- bis zweimal im Jahr die Zeitschrift »Albatros« heraus, in der Beiträge auf Rumänisch und Englisch erscheinen. Haikutreffen und Anthologien werden organisiert. Auch andere Haiku-Vereinigungen existieren und geben Zeitschriften heraus, so die 1991 entstandene »Rumänische Haikugesellschaft« von Bukarest, die halbjährlich die Zeitschrift »Haiku« veröffentlicht. Haikudichter geben auch Veranstaltungen an Schulen. »Der Rumäne ist für die Dichtung geboren«, endete der Vortrag, und mit dem Hinweis auf ein inzwischen typisches rumänisches Haiku. Vasile Moldovan O scrisoare de dragoste in buzunarul de langa inima – floarea de trandafir Der Liebesbrief in der Tasche, nah am Herz – eine Rosenblume Mihaela Popescu Tunete si ploaie acorduri de pian imi potolesc nelinistea Donner und Regen Klavierakkorde stillen meine Erregung 34 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 Radu Patrichi vorbind cu melcul ajuns pe gardul verde privire mirata mit der Schnecke sprechen auf dem grünen Zaun – ein überraschter Blick Ungarn: Judit Vihar führte aus, dass das Haiku schon Anfang des 20. Jahrhunderts in englischen und französischen Übersetzungen nach Ungarn gekommen sei und von impressionistischen Schriftstellern aufgenommen worden war, manchmal recht frei, auch gereimt, manchmal mehr der japanischen Form angenähert. Etwa ab Anfang der 1980er Jahre wurde das Haiku in Ungarn populär, wieder in verschiedenen Strömungen. Der Ungarische Haiku-Club wurde im Jahr 2000 gegründet und hat gegenwärtig etwa 60-70 Mitglieder. Judit Vihar Fáradt hajnalon kényelmesen feküszünk – bombarobbanás Am frühen Morgen wir sind gemütlich im Bett Bombenterror Estland: Andres Ehin trug zur Situation in diesem baltischen Land vor. Es gibt etwa 100 Esten, die Haiku dichten – wohl keiner habe sich aber ausschließlich dieser Literaturgattung verschrieben, auch existiert keine Haikugesellschaft. Die ersten Haiku in estnischer Sprache wurden bereits vor dem 1. Weltkrieg geschrieben, sind aber nicht erhalten. Eine Anthologie estnischer Haiku wurde 1980 herausgegeben. Ehin hebt eine Verbindung des Haiku zu alten estnischen Volksgedichten sowie zwischen der Sprache des Estnischen und dem Japanischen hervor, auch Ähnlichkeiten zwischen dem Shintoismus und der vorchristlichen estnischen Religion würden bestehen. Andres Ehin Der Flug der Schwäne die Wolkenwatte noch weißer 35 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 Dänemark: Hanne Hansen berichtete über die Entwicklung des Haiku in Dänemark. 1963, in der Zeit des Vietnamkrieges, in der eigentlich politische Aktionen auf der Tagesordnung standen, machte Hans-Jørgen Nielsen dort das Haiku, das bereits vorher schon von einigen Autoren verwendet worden war, weiteren Kreisen bekannt. Viele Autoren nahmen seit dieser Veröffentlichung Haiku in ihr eigenes dichterisches Repertoire auf. Seit dem Jahr 2000 gibt es zunehmend Aktivitäten wie Aufsätze, Anthologien, Mitarbeit an Renku. Die dänische Sprache ist dem Deutschen sehr ähnlich, entsprechende Schwierigkeiten wie im Deutschen gibt es deshalb auch im Dänischen beispielsweise beim Vergleich der japanischen onji mit den dänischen Silben. Sys Matthiesen En smal gul stribe Havens første rosenknop åbnes mod solen Schmaler gelber Streifen Die allererste Rosenknospe In meinem Garten Hanne Hansen Orange roser Klatrende op ad muren Kun halvvejs endnu Orange Rosen Die Mauer erst halb erklettert Kate Larsen Over lilla lyng Sensommerens månelys Fasanen skriger Die lila Heide Das Mondlicht des Spätsommers Der Schrei des Fasanes Schweden: Die Besprechung des englischsprachigen Haikubuchs eines Japaners 1933 dürfte Helga Härle zufolge die erste Erwähnung des Haiku in schwedischer Sprache gewesen sein. 1959 erschien die erste Ausgabe japanischer Haiku in schwedischer Sprache, 1961 die erste Ausgabe von Haiku eines schwedischen Lyrikers. 1963 wurde aus dem Nachlass des 1961 ums Leben gekommenen UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld eine tagebuchartige Sammlung von Notizen, Beobachtungen und Haiku veröffentlicht. Seit den 1970er Jahren gibt es Haiku in vielen Lehrmaterialien für alle Schulstufen, meist aber nur durch das Silbenzählen und allenfalls ein Jahreszeitenwort gekenn- 36 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 zeichnet. Aber einige bekannte Lyriker veröffentlichen Haiku, so in eigenwilliger Form Tomas Tranströmer. 1999 wurde die Schwedische Haiku-Gesellschaft gegründet, die Anthologien und die Zeitschrift »Haiku« veröffentlicht sowie Haiku-Wettbewerbe und Workshops veranstaltet. Gegenwärtig hat die Schwedische Haiku-Gesellschaft etwa 150 Mitglieder. Helga Härle en liten hand genom dagisstaketet – plockar maskrosbukett eine kleine Hand langt durch den Kita-Zaun – nach Pusteblumen Kaj Falkman På dörrhandtaget möts deras händer på väg ut Auf dem Türgriff ihre Hände treffen sich auf dem Weg hinaus Großbritannien: Annie Bachini stellte die 1990 gegründete Britische Haikugesellschaft vor, die etwa 300 Mitglieder hat, davon 100 aus Ländern außerhalb Großbritanniens. Neben ihrer Vierteljahresschrift »Blithe Spirit« erscheint gleichfalls vierteljährlich ein internes Mitteilungsblatt. Vor allem werden Veranstaltungen wie Lesungen, Workshops und Haiku-Spaziergänge organisiert, außerdem finden Konferenzen und Wettbewerbe statt, es gibt eine verleihbare Plakatausstellung sowie einen Haiku-Bausatz für Schulen und Fortbildungen. Meist bei kleinen Verlagen erschienen viele Anthologien und Solo-Publikationen. Annie Bachini under the sea a fish becomes human in an air pocket Im Meer ein Fisch wird menschlich in einer Luftblase David Cobb evening by the river, red-painted toenails sinking into silt Abend am Fluß – rote Zehennägel versinken im Schlick 37 Impressum 1. Europäischer Haikukongress – Teil 2 Aus zwei weiteren Ländern gab es keine Vorträge, aber beim Organisator waren schriftliche Berichte eingegangen. So informierte Serge Tomé über eine eher tragische Situation im französischsprachigen Belgien insofern, als das Haiku dort so gut wie unbekannt sei. Während sich im flämischen (flämisch und niederländisch sprechenden) Norden die Menschen kulturell eher zu den Niederlanden hingezogen fühlen, gibt es eine enge kulturelle Bindung der Menschen in Wallonien zu Frankreich. Es gibt kaum 20 Haiku-Dichter, keine Haiku-Gesellschaft, keine Haiku-Zirkel, keine gemeinsamen Treffen der HaikuAktivisten, keine Haiku-Zeitschrift und kaum Veröffentlichungen des Genre. Serge Tomé demain la pluie la couleur dorée du vin dans mon verre Morgen Regen die goldene Farbe des Weins in meinem Glas In Bulgarien erschien 1985 ein erstes Buch mit klassischen japanischen Haiku. 2000 wurde in Sofia ein Haiku-Club gegründet, der etwa 40 Mitglieder hat und sich zweimal im Monat trifft. Es gibt Wettbewerbe, recht viele Buchveröffentlichungen, die Beachtung in der Öffentlichkeit, in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen, erscheint gut. Ginka Biliarska Geruch nach Regen Ameisen rennen schnell: »heim, heim, heim!« Nachspiel Der erste Europäische Haiku-Kongress hatte noch ein dichterisches Nachspiel: Dick Pettit aus Dänemark leitete die gemeinsame Arbeit an einem 20-strophigen Renku (nijûi). Viele Teilnehmer des Haiku-Kongresses beteiligten sich daran und brachten ihre Ideen und ihre Dankbarkeit gegenüber der Stadt Bad Nauheim ein. Via eMail wurden die Renku-Autoren auf dem Laufenden gehalten, konnten das Wachsen des Renku verfolgen, Änderungswünsche vorschlagen und Übersetzungsversuche diskutieren. Das Renku ist auf den folgenden Seiten abgedruckt. Über den Kongress hinaus ist so ein wunderbares Projekt gestartet und vollendet worden, das auch in Zukunft auf eine engere Zusammenarbeit der Haiku-Dichter in Europa hoffen lässt. 38 Impressum 1. Europäischer Haikukongress Eine Frühe Rose / An Early Rose V om 13. bis zum 15. Mai 2005 fand in Bad Nauheim / Steinfurth der erste Europäische Haiku-Kongress statt. Schon bald danach entschieden sich einige Mitglieder dafür, gemeinsam ein E-Mail-Renku zu verfassen. Es entstand ein Kettengedicht, das aus 20 Strophen besteht, die abwechselnd von den Mitgliedern der Renku-Gruppe geschrieben wurden. Der Leiter des Renku, sabaki, achtet darauf, das die Prinzipien von Anschluss und Verschiedenartigkeit (link and shift) eingehalten werden und wählt aus den von den Autoren angebotenen Strophen die passende aus. Die Texte werden gemeinschaftlich diskutiert und Änderungsvorschläge eingebracht – aber das letzte Wort hat der sabaki . Das Kettengedicht unterscheidet sich insofern von einem normalen japanischen Renku, als die klassischen Kirschblüten durch die Rosen der Rosenstadt Steinfurth ersetzt wurden. Das Renku wurde in freier Assoziation mit den Sinneseindrücken der Konferenztage komponiert. Der Rosensaal (Strophen 1, 2, 4, 18), in dem die Konferenz stattfand, wurde am häufigsten besucht, aber auch die alten Kelten, die diesen hessischen Landstrich besetzt hatten (3), treten auf. Dann treffen wir Elvis Presley, einen Held dieser Stadt (7), wandeln durch den wunderschönen Park der Stadt Bad Nauheim (8), lernen den Stadtführer kennen, der uns die Stadt und die Badeanstalt erklärt (9), bewundern die Blumenschau im Rosensaal (11, 19), das Rosenmuseum mit dem Haiku-Stein (16) und die mobile Druckerei von Ingo Cesaro (17), der mit den Kindern der Stadt Bad Nauheim Haiku-Texte setzte und druckte. Wir hoffen, dass unser Renku einen fairen Kompromiss gefunden hat zwischen unseren Aktivitäten und Gefühlen und das was ein Renku ausmacht. Das Renku entstand in einer eMail-Kommunikation vom 21. Mai bis zum 15. Juli 2005. Spieler (renjuin): mk jh-k pm hh es dt rw az kf ab Marianne Kiauta (3) Jochen Hahn-Klimroth (2) Paul Mercken (3) Hanne Hansen Erika Schwalm (2) Dietmar Tauchner Ruth Wellbrock Alenka Zorman Kai Falkman Annie Bachini Niederlande Deutschland Niederlande Dänemark Deutschland Österreich Deutschland Slowenien Schweden England 39 Impressum Eine Frühe Rose / An Early Rose vm mv br gb Vasile Moldovan (2) Max Verhart Bernd Rohde Gerd Börner (transl.) Rumänien Niederlande Deutschland Deutschland Folgende Autoren, deren eingesandte Texte hier nicht erscheinen, haben das Entstehen des Renku aktiv und interessiert verfolgt: Jean Antonini Martin Berner Ingo Cesaro Georges Friedenkraft Graham High Ramona Linke Sys Matthiesen Laura Vaceanu Frankreich Deutschland Deutschland Frankreich England Deutschland Dänemark Rumänien Koordinator (sabaki): Dick Pettit Dänemark Eine frühe Rose An Early Rose Kongresshalle zwischen Feder und Papier eine frühe Rose mk the conference room between pencils and paper an early rose mk so viele lange Reden kein Fenster zum Rapsfeld hin jh-k so many endless speeches no window to the rape field jh-k ancient Celts burnt miles of this forest to make salt pm die Kelten verbrannten diesen Wald für Salz pm /gb die Suppe am Mittag verführt zum Schlemmen … hh/gb Zimtkerzen für drei lachende Mädchen – draußen der Mond es Am Morgen nach dem Schneefall die Autos der Nachbarn einfarbig dt *** Kommt raus, Leute Elvis hören auf der Straße rocken a nourishing soup for lunch I fear I shall eat too much hh/gb cinnamon candles for three laughing girls – outside, the moon es a morning after snow my neighbours’ cars one colour dt *** pm/gb Come all you rockers hear the songs of Elvis echo in the streets pm 40 Impressum der Stadtpark kaum verständlich ohne Gebrauchsanweisung rw the town park hard to fathom without a book of maps rw Glockengeläut lauter die Stimme und Scherze des munteren Stadtführers mk a peal of bells our wide-awake guide lifts his voice and jokes mk mit deinem Flüstern werden Nachtwolken zum sternhellen Traum az/gb with your whisper cloudy nights become a starlit dream az Haiku-Narren entdecken einander durch den Rosenstrauch haiku fools discover each other through the rosebush kf kf bedecke du nur Haar und Augen ich schau’ durch deine Burkah pm/gb cover your hair and eyes I see through your burqa Markt in Amman eine alte Frau ohne Beine verkauft Streichhölzer es the Amman souq an old women without legs sells matches es jh-k a dilapidated bunker hidden by the autumn wood jh-k Hallowe’en moon the murmurs of souls from their tombs ab in front of the Rose Museum poets give life to a stone vm ein vergessener Bunker vom Herbstwald überwachsen Halloween-Mond – das Murmeln der Seelen von den Gräbern her ab/gb Dichter vor dem Rosenhaus und der Stein lebt vm/gb *** begeisterte Schüler setzen in Blei und drucken uns’re tiefsten Gedanken geübte Hände kritzeln Männchen auf’s Blatt im hellen Saal Zweige wachsen aus Rosen Haiku schlägt Brücken pm *** mk mv/jh-k br Menschen und Sommerdüfte ziehen gemeinsam weiter vm/jh-k eager pupils set in type and print our inmost thoughts mk practised hands make doodles on the programme notes mv in the bright hall straight shoots grow from roses bridges from haiku people leave together with the summer fragrances br vm 41 Impressum BERICHTE Volker Friebel Projekt Haiku-Jahrbuch Ein Zwischenbericht W enn sich das Haiku in der deutschsprachigen Literatur durchsetzen möchte, muss sie sich als eigenständige Lyrik auch zeigen. Zwar gibt es viele Haiku-Veröffentlichungen in Buchform, fast durchweg handelt es sich aber um Selbstverlage oder Anthologien mit Eintrittsgeld. Auch gute Texte, derart veröffentlicht, leiden unter mangelnder Akzeptanz durch die Literaturkritik. Für eine Akzeptanz nötig sind Veröffentlichungen, die sich ausschließlich nach der literarischen Qualität von Texten richten – und dies auch deutlich machen können. Mit der Auswahlseite Haiku heute im Netz entstand deshalb auch die Idee eines Haiku-Jahrbuchs. Sofort war klar, dass es sich dabei nicht einfach nur um eine Auswahl der besten auf Haiku heute erschienenen Texte handeln durfte, sondern dass möglichst alle im jeweiligen Jahr geschriebenen oder veröffentlichten deutschsprachigen Haiku die Basis bilden sollten. Auswahlen zu treffen, scheint schwierig. Was sollen die Kriterien sein? Die Erfahrung zeigt erstaunlicherweise, dass die Übereinkunft auch von Menschen mit ganz unterschiedlichem Haiku-Verständnis groß ist – wenn sie denn nicht auf einen bestimmten Kriterienkatalog festgelegt werden, sondern einfach nach ihrem lyrischen Empfinden entscheiden. So stimmen auch die Ergebnisse der Monatsauswahlen von Haiku-heute.de und des ganz anders organisierten und orientierten Haiku.de erstaunlich gut überein. Die beiden ersten Bände des Jahrbuch-Projekts sind inzwischen erschienen. Das Jahrbuch 2003, »Gepiercte Zungen«, basiert auf der Durchsicht von etwa 3000 Haiku. Eine Jury aus 21 Autoren erstellte eine erste Auswahl, drei Redakteure (Mario Fitterer, Hubertus Thum und ich selbst) dann die endgültige Auswahl von 153 Texten. Einige Prosatexte von Udo Wenzel, Hubertus Thum, Dietmar Tauchner und Mario Fitterer wurden noch dazugenommen, um auch der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Haikuthemen einen Raum zu bieten. Das Jahrbuch 2004, »Der Lärm des Herzens«, hat etwa 4000 Texte als Grundlage. Eine Jury aus 13 Autoren erstellte die erste Auswahl, drei Redakteure (Ingrid Kunschke, Dietmar Tauchner und Hubertus Thum) legten die 142 endgültig aufzunehmenden Haiku fest. Wieder gibt es einen Prosateil, mit Haibun und theoretischen Texten von Horst Ludwig, Ingrid Kunschke, Udo Wenzel und Ruth Franke. Ich denke, dass die beiden Bände ihrem hohen Anspruch, Maßstab für das deutschsprachige Haiku zu sein, gerecht werden. Aber noch fehlen manche Autoren. Ein solches Projekt ist auf die Mitarbeit möglichst aller deutschsprachigen Haiku-Autoren angewiesen. Manche Autoren hatten nichts eingesendet, 42 Impressum Projekt Haiku-Jahrbuch bei anderen drängte sich der Eindruck auf, dass sie einfach auf eine der nicht wenigen Einreichmöglichkeiten reagierten, also auch zum Jahrbuch noch ein paar Haiku sandten, um diese Veröffentlichungsmöglichkeit noch mitzunehmen. Der Anspruch der Jahrbücher ist aber nicht, ein möglichst breites Autorenspektrum vorzustellen, sondern die besten Haiku eines Jahres zu versammeln – auch wenn manche Autoren dann wegfallen, weil sie keine oder in Unkenntnis des aufwändigen Ausleseverfahrens ungenügende Texte eingesandt haben. Für das Jahrbuch-Projekt ist es gleichgültig, ob Texte bereits andersweitig veröffentlicht oder zur Veröffentlichung eingereicht wurden. »Was erschien in einem bestimmten Jahr in der Haikuwelt?« Diese Frage und das entsprechende Jahrbuch aus dem Regal ziehen, soll eines werden (noch ist es nicht so). Im Jahrbuch sollen die besten der verstreuten Veröffentlichungen versammelt werden. Auch für das Haiku-Jahr 2005 wird es ein Jahrbuch geben, in der nächsten Ausgabe der Vierteljahresschrift findet sich eine ausführliche Ausschreibung. Hier einige Texte aus den beiden ersten Jahrbüchern: Sigrid Baurmann Stromausfall. In der Wohnung des Nachbarn spielt jemand Klavier. Udo Wenzel Überfüllter Zug. Auf die beschlagene Scheibe malt sie ein Herz. Jochen Hahn-Klimroth Kirschblüten fallen – Kinder zimmern ein Haus in den Baum Dietmar Tauchner Handschlag – unsere Ärmel berührt vom Herbstwind 43 Impressum Projekt Haiku-Jahrbuch Jörg Rakowski Frühstück – am Finger der Tochter ein Ring Mario Fitterer im tordrehkreuz der vollzugsanstalt eine sonnenblume Hubertus Thum erster schnee den ganzen morgen kein wort Gerd Börner Hochwasser – der Wind treibt das Funkeln bis unter die Weiden Michael Denhoff keine Worte für das Licht, das mich streifte Eckhard Erxleben der puppenspieler packt alle die da kämpften in seine kiste 44 Impressum Projekt Haiku-Jahrbuch Volker Friebel Kinderkreide. Laub weht durch Himmel und Hölle. Arno Herrmann Friedhofsbrunnen – das Wasser nimmt Erde mit von meinen Händen Ingrid Kunschke Marienfäden – im Schoß das Jäckchen fürs spielende Kind. Hubertus Thum dieses Rauschen im Regen von dort komme ich her Angelika Wienert Kirschkerne spucken … So weit wie früher! Haiku-heute (Herausgeber): Gepiercte Zungen. Haiku-Jahrbuch 2003. Wolkenpfad-Verlag, Tübingen, 2004. Haiku-heute (Herausgeber): Der Lärm des Herzens. Haiku-Jahrbuch 2004. WolkenpfadVerlag, Tübingen, 2005. Bestellung über: [email protected] oder über Volker Friebel, Denzenbergstr. 29, 72074 Tübingen oder über jede Buchhandlung. Preis jeweils 9,00 Euro, weltweit versandkostenfrei. 45 Impressum BERICHTE Werkstattbericht Burg Lauenstein Von Johannes Ahne Kunigunde läßt grüßen. Kennen Sie Kunigunde? Die weiße Frau auf der Mantelburg zu Lauenstein im nördlichen Zipfel Bayerns im Frankenwald nördlich von Kronach? Vor vielen hundert Jahren eine Untat vollbracht, findet die weiße Frau bis heute keine Ruhe, geistert seufzend, klagend, des Nachts durch die Burggemäuer. Warnt vor drohenden Gefahren, wirft ihre weißen Schleier des Morgens und bei Regen in und über die Hügelwälder, beflügelt die Phantasie. die weiße Burgfrau haucht im Schlaf mir Verse zu kann sie nicht fassen. »Oh Kunigunde, wie ich Reime hasse.« Nr. Sechs Unter diesem Motto bot Ingo Cesaro hochoben über Lauenstein im Burghotel (die freundliche Hoteliersfamilie stellte einen hellen Gastraum als Atelier zur Verfügung) von Mittwoch bis Sonntag nach Pfingsten eine Literaturwerkstatt für interessierte Dreizeiler-Verfasser/-innen an. Dreizeiler in strenger siebzehnsilbiger – 5-7-5 – traditioneller Form wurden geschrieben, besprochen, verworfen, geschrieben, ausgewählt, in Bleilettern selbst von Hand gesetzt und gedruckt. Holzschnitte wurden entworfen unter Anleitung vom Künstler Peter M. Bannert/ Cronach, mit dessen Messern in Lindenholz geschnitten und selbst gedruckt. Auch einige Papierbögen wurden selbst hergestellt. Buchbinder- und Papierspezialist Stefan Cseh/Gutenfelden ließ uns aus der Bütte schöpfen, die Bögen danach pressen, trocknen, bügeln und bedrucken. Zwischen all diesen konzentrationserforderlichen Hand- und Kopfarbeiten ließen wir uns gerne bei stillen Wanderungen mit frischen Eindrücken von Wiese und Wald beschenken, die dann in Dreizeilern sorgfältig verpackt wieder dargeboten wurden. zum Gebetsläuten Weht der Wind Wolken herbei das Kirchlein bleibt leer. 46 Impressum Werkstattbericht Burg Lauenstein Das Süßeste der Gegend verkosteten wir in der literatenfreundlichen Lauensteiner Pralinenfabrik. Das Harte und Spröde – das blaue Gestein – wurde uns im Schiefermuseum Ludwigstadt liebevoll ans Herz bzw. in die Hand gelegt (sogar mit Katzengoldadern). millionen Jahre in den blauen Stein gepresst millimeterdick. Ingo Cesaro führte und organisierte in seiner ruhigen, sicheren Art unsere bunte Gruppe von acht Teilnehmern (ab Freitag machte der evangelische Pastor, Besitzer einer Milchschafsherde – Frühstücksmilch für uns – begeistert mit). Anfängern und Gefestigten, fünf Frauen, drei Männer aus Nord-, Süd-, West- und Mitteldeutschland, zwei davon Mitglieder der DHG. Ein ganz und gar handgemachtes Büchlein, Auflage 19 Stück zum Eigenbedarf, entstand mit dem Titel »Gedanken verstreut«. Gedanken verstreut in den Wäldern, auf Hügeln sagenumwoben. Ingo Cesaro leitet auf Burg Lauenstein jährlich mehrere Projekte und fördert dadurch Kunst, Literatur, Land und Leute. Danke! Nachtrag: Die Nacht auf Montag verbrachte ich mit etwas mulmigem Gefühl allein auf Burg Lauenstein, die Teilnehmer und die anderen Gäste waren alle abgereist. Der Vollmond schien, und Kunigunde … Burgherr eine Nacht, allein das Gruseln gelernt, ein Käutzchen rief mir. 47 Impressum Mitgliederversammlung der DHG Protokoll der Mitgliederversammlung vom 16. Mai 2005 Pfarrscheune Steinfurth (Bad Nauheim) Beginn: 9.30 Uhr Ende: 12.30 Uhr Pause: 10.30 bis 11.00 Uhr Anwesenheit der Vorstandsmitglieder: Georges Hartmann Erika Schwalm Waltraud Schallehn Christa Beau entschuldigt: Margret Buerschaper Martin Berner Gerd Börner Gäste + Teilnehmer: 18 Protokollführerin: Christa Beau Tagesordnung: 1. Begrüßung durch Martin Berner 2. Bericht des Vorsitzenden mit Aussprache 3. Bericht des Kassenprüfers mit Aussprache 4. Entlastung des Vorstandes 5. Wahlen 1.Vorsitzende/r 2.Vorsitzende/r Schriftführer/in Kassenprüfer/innen erweiterter Vorstand (3-5 Mitglieder) 6. Anträge 7. Verschiedenes Zu 1. + 2.: Im Anhang der Rechenschaftsbericht des Vorsitzenden der DHG e.V. Martin Berner. Erika Schwalm berichtete über die reichhaltigen Initiativen in der Frankfurter Haikugruppe und Christa Beau über die im Raum Magdeburg/Halle. Herr Jünger sprach über die Bemühungen im Stuttgarter Raum eine Gruppe zu bilden, Frau Matthiesen erzählte von ihren Lesungen im Sauerland (hatte Zweifel ob ihre klassischen Haiku noch zeitgemäß sind), Ingo Cesaro sprach von vielen Veranstaltungen, die er über das Jahr durchführt. Gerd Börner sagte, dass die Website der DHG sich unbedingt ändern muss, sollte attraktiver, informativer sein, um mehr angenommen zu werden, möchte das Amt als Webmaster abgeben. 48 Impressum Mitgliederversammlung der DHG Nach der Pause weitere Diskussionen zum Rechenschaftsbericht, Vorschlag von Herrn Wolfschütz – offener Brief an alle Mitglieder der ersten Stunde, das Alte kann beibehalten werden, man sollte aber auch offen für Neuerungen sein. Georges Hartmann macht den Vorschlag die Haikuschreiber gezielt mit Projektkonzepten anzusprechen. Martin Berner sagte, dass seiner Meinung nach das Wort »Senruy« nicht mehr verwendet werden sollte, weil die Definition des Senryu auch in Japan sehr unklar ist. Frau Mathiessen meinte, es sollte gleichgestellt werden. Gerd Börner meinte, Respekt und Achtung vor Haiku sollte man nicht an der Definition messen, wichtig seien die Augenblickserfahrung, der Nachhall, der Sinneseindruck. Zu 3.: In Vertretung für Wolfgang Dobberitz liest W. Schallehn die Kassenprüfung vom 1. Mai 2003 bis 30. April 2005. Geprüft wurden die Konten der DHG e.V. bei der Postbank Hannover und der Landessparkasse zu Oldenburg Vechta. Es ergab sich, dass beide Konten und die Kasse ordnungsgemäß vom Kassenwart geführt wurden. Das Konto der DHG e.V. bei der Postbank Hannover weist ein Guthaben von 14.450,23 € und das Konto bei der Landessparkasse zu Oldenburg Vechta ein Guthaben von 9.983,81 € aus, insgesamt 24.434,04 €. Georges Hartmann und Martin Berner informieren über Ausgaben nach der Kassenprüfung: für den Kongress wurden 3.000 € verwendet, für alle weiteren Ausgaben fanden sich Sponsoren, vom Konto gehen weitere Ausgaben für Biblio-Biografie ab, 2.000 € als Druckkostenzuschuss für einen Literaturwissenschaftler. Zu 4.: Herr Jünger stellt den Antrag auf Entlastung des Vorstandes – Antrag wurde einstimmig angenommen. Zu 5.: Es erfolgte die Wahl des neuen Vorstandes der DHG e.V. – die Wahlleitung übernahm Herr Jünger. Zu wählen waren: Vorsitzender Stellvertetende/r Vositzende/r Schriftführer/in Erweiterter Vorstand Die Teilnehmer/innen entschieden sich für eine offene Wahl, es wurde im Block gewählt. Vorschläge: Vorsitzender Martin Berner Stellvertreterin Christa Beau Schriftführer Volker Friebel 49 Impressum Mitgliederversammlung der DHG Die Vorgeschlagenen erklärten sich bereit diese Funktion in der DHG e.V. auszuführen. Die Vorschläge wurden einstimmig angenommen. Vorschläge für den erweiterten Vorstand: Erika Schwalm Stefan Wolfschütz Winfried Benkel Gerd Börner Georges Hartmann Die Vorgeschlagenen erklärten sich bereit diese Funktion in der DHG e.V. zu übernehmen. Die Vorschläge wurden einstimmig angenommen. Als Kassenprüfer wurden einstimmig Ramona Linke und Waltraud Schallehn gewählt. Zu 6.: Antrag von Horst Ludwig wurde unterbreitet: er beantragt, dass 6 Wochen vor der Wahl die Kasse offen dargelegt wird, eine Korrektur bei einer Differenz sollte bei der Wahl erfolgen. Antrag abgelehnt mit zwei Stimmenthaltungen. Er beantragt, dass die Mitglieder per Brief gewählt werden können, der Kassenstand und größere Ausgaben in jeder Vierteljahreszeitschrift bekannt gegeben werden sollen. Antrag von der Mehrheit abgelehnt mit zwei Stimmenthaltungen. Es wurde festgelegt, dass der Kassenbericht bei der Mitgliederversammlung allen vorliegen wird. Zu 7.: Martin Berner informiert über eine Wettbewerbsausschreibung der deutschen Botschaft in Japan. Martin Berner teilte mit, dass nicht daran gedacht sei, einen Sonderdruck mit den Ergebnissen des Kongresses herauszubringen, da dies zu arbeitsaufwendig sei. Die Ergebnisse des 1. Europäischen Haikukongresses in Bad Nauheim werden in der Vierteljahreszeitschrift veröffentlicht. Herr Jünger bietet sich an das Layout für einen Druck zu erstellen, will diese Möglichkeiten noch bedenken. Halle, 15.6.05 Christa Beau 50 Rechenschaftsbericht Impressum Rechenschaftsbericht des Vorstands Liebe Mitglieder, dies ist die erste Mitgliederversammlung der Deutschen Haiku-Gesellschaft ohne Margret Buerschaper! Margret wollte natürlich dabei sein, aber ihre aktuellen Gesundheitsprobleme erlauben es ihr nicht. In Gedanken ist sie bei uns und wünscht uns gutes Gelingen. Ich wünsche ihr – ich denke in unser aller Namen – von Herzen gute Besserung. Wie viel Margret für die DHG getan hat wurde erst so richtig deutlich, nachdem sie sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hat. Trotzdem ist sie der DHG und dem Vorstand noch sehr mit Rat und Tat verbunden und dafür danke ich ihr sehr. Bevor wir uns mit Einzelfragen unserer Arbeit beschäftigen, möchte ich Sie bitten, sich zum Andenken an die in den letzten zwei Jahren verstorbenen Mitglieder von Ihren Plätzen zu erheben. Wir denken an Hildegard Diekmann, Hans-Joachim Kunold, Werner Manheim, Friedrich Ranz, Heinz Röhr, unser Ehrenmitglied Hachiro Sakanishi und Dorothea Wittek. Ich danke Ihnen. Wir stehen noch unter den Eindrücken des ersten europäischen Haikukongresses, den wir gestern erfolgreich abschließen konnten. Ich muss gestehen, es war ein ungeheurer Kraftakt, der uns seit Monaten in Atem hielt, aber ich denke, es hat sich gelohnt. Die DHG hat zur Zeit 204 Mitglieder. Es gab seit dem letzen Kongress 21 Austritte, 22 neue Mitglieder konnten wir gewinnen. Leider erfahren wir meist nicht, was die Gründe für den Austritt sind. Wenn Gründe genannt werden, sind es oft finanzielle und häufig Unzufriedenheit mit der »Linie« der DHG. Und damit sind wir bei einem Kernproblem angekommen: ich weiß, dass vielen Mitgliedern die offenere Art des Umgangs mit Haiku nicht gefällt. Immer wieder erreichen mich Hinweise, dass wir bitteschön wieder mehr die »Regeln« vertreten sollten. Nicht allen gefällt es auch, dass bei den Haikubesprechungen in der Werkstatt mal ein Text nicht so gut wegkommt. Auf der anderen Seite wird mir von vielen vorgehalten, ich beziehe nicht klar genug Position für die experimentelle Richtung. Es ist nicht so ganz einfach, hier als Vorsitzender die Balance zu halten. Ich habe oft den Eindruck, die DHG befindet sich in einer Phase der Verbreiterung, die etwas von einer Umbruchsituation hat. Manche Mitglieder wollen sich keine neuen Ideen anhören und beharren auf siebzehn Silben und Natur- (oft noch nicht einmal Jahreszeiten-) bezug. Aber gerade durch das Internet ist Haiku in einer Weise bekannt geworden, die wir uns vor zehn Jahren nicht hätten träumen lassen. Ich habe im letzen halben Jahr mehr als 120 Anfragen über die DHG erhalten, die über die Internetseite des Hamburger Haiku-Verlags zu uns gekommen sind. Einige der Anfragenden sind auch schon Mitglied geworden. Das ist eine ganz neue Gruppe von Men- 51 Impressum Rechenschaftsbericht schen: sie sind es gewohnt, sich im Internet zu bewegen und per eMail zu kommunizieren. Für sie ist Briefverkehr und das Warten auf die nächste Zeitschrift schon fast ein bisschen lästig. Gerd Börner, dem ich an dieser Stelle ganz herzlich für die Betreuung der DHG-Webseite danken möchte, weist mich immer wieder darauf hin und ist unzufrieden, dass wir als Gesellschaft die schnelle Kommunikation noch nicht so richtig organisieren können. Da kommen ganz neue Herausforderungen auf uns zu. Gleichzeitig gibt es aber die langjährigen Mitglieder, die keinen Zugang zum Internet haben, auf die nächste Zeitschrift warten und richtig unruhig werden, wenn sie sich um ein paar Tage verspätet. Auch sie sollen sich in der DHG heimisch fühlen. Lassen Sie mich, ehe ich zur Zeitschrift komme, noch ein paar Anmerkungen zu unserer Webseite machen: Gerd Börner hat sie ja im letzen Jahr neu gestaltet. Sie ist jetzt übersichtlicher. Auf Gerds Initiative entstand das Autorentreffen, in dem immerhin 44 Autorinnen und Autoren vertreten sind. Es ist nicht etwa so, dass die Mitglieder Gerd die Tür einrennen und fragen, wann sie denn ihre Seite bekommen. eher muss Gerd heftig dafür werben mitzumachen. Das ist ein wenig irritierend. Auch die Schatztruhe, in der einfach gelungene Haiku gesammelt werden, entstand auf Gerds Anregung. Und auch hier wird er nicht etwa mit Vorschlägen überschüttet. Beim letzten Kongress haben viele Mitglieder versprochen, sich mehr auf die DHG-Seite einzuklinken. Es wäre jetzt an der Zeit, das umzusetzen! Es gibt noch einen ganz banalen Punkt, über den wir immer wieder diskutieren: wenn die gesamte Zeitschrift im Internet steht, braucht man ja kein Mitglied zu sein, um alle Informationen zu bekommen. Auch hier müssen wir noch einen guten Weg finden. Die Zeitschrift hat seit dem letzten Kongress einiges an Wandel erlebt. Frau Klutky hat ganz überraschend und kurzfristig ihre Mitarbeit beendet. Ich war Andreas Wittbrodt sehr dankbar, dass er ohne zu zögern in die Lücke gesprungen ist und danke ihm an dieser Stelle noch einmal dafür. Er hat einige gute Vorschläge zur inhaltlichen Straffung eingebracht. Leider kann er aus beruflichen Gründen diese Arbeit nicht weitermachen und wir haben Herrn Peringer gefunden, der das Layout ab der nächsten Nummer übernimmt. Es wird ein paar stilistische Änderungen geben, an die Sie sich aber schnell gewöhnen werden. Über den Inhalt der Zeitschrift gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Viele begrüßen es, dass wir noch mehr den Blick nach draußen richten, anderen ist das nicht recht. Manche hätten gerne noch mehr theoretische Beiträge. Dazu kann ich nur sagen: in der Zeitschrift erscheint, was von Mitgliedern geschrieben oder über sie organisiert wurde. Ich sehe es nicht als den Job des Vorsitzenden, die Zeitschrift zu schreiben. Zum Glück gibt es einige Mitglieder, die unermüdlich für gute Beiträge sorgen. Dank sei ihnen dafür. Ein ständiges Thema ist, wie wir mit der Veröffentlichung von Texten der Mitglieder umgehen sollen. Ich habe mit der von Margret Buerschaper begründeten Tradition gebrochen, darauf zu achten, dass jedes Mitglied mindestens einmal im Jahr einen eigenen Text in der Zeitschrift lesen kann. Dafür hat Margret stundenlang in den ihr vorliegenden Sammlungen gesucht und Texte übernommen. Die 52 Impressum Rechenschaftsbericht Mitglieder mussten sich um nichts kümmern. Seit wir darauf umgestellt haben, dass nur Texte erscheinen, die zu jeder Nummer eingeschickt werden, sind viel weniger Namen in den Texten der Mitglieder vertreten. Nur bleibt das Problem der Qualität. Ich halte es nicht für richtig, alles was kommt zu veröffentlichen. David Cobb hat uns da am Samstag einiges ins Stammbuch geschrieben. Auf der anderen Seite sind bisher alle Versuche, ein Gremium zu schaffen, das auswählt, fehlgeschlagen. Ich möchte meine Stellung als Vorsitzender nicht dafür gebrauchen. An diesem Punkt müssen wir unbedingt diskutieren und einen guten Weg finden. Unser Aufruf, Haiga für die 3. Seite einzureichen, ist auf ganz wenig Echo gestoßen. Woran mag das liegen? Auch für die Gestaltung des Deckblatts suche ich händeringend Beiträge. Noch ein Wort zu der Sondernummer für den Kongress: auch hier hielten sich laute Begeisterung und heftige Kritik die Waage. Das sei ja alles zu Japan-lastig wurde gesagt. Meine Antwort darauf ist: die DHG hat es sich zur Aufgabe gemacht, über japanische Gedichtformen zu informieren und sie im Deutschen heimisch zu machen. Das sind zwei sehr unterschiedliche Aufgaben, und mit der Sondernummer haben wir den ersteren Aspekt herausgestellt. Das wird nicht immer so weitergehen. Was ich für eine große Errungenschaft halte, und auch hier war es wieder Gerd Börner, der die Idee einbrachte und sie mit viel Engagement umsetzt, ist die Besprechungs-Werkstatt. Ich halte es nicht für schlimm, wenn ein Text mal hoch gelobt, mal verrissen wird. Das passiert, wenn man Dichtung genauer betrachtet. Poesie ist nun mal subjektiv. Wer das nicht erleben möchte, braucht ja keine Texte für die Werkstatt einzusenden. Nachdem wir für 2004 keinen Kalender herausgebracht haben, gab es häufiger den Wunsch, dies wieder zu tun. Der 2005er Kalender wurde gut angenommen. Für 2006 planen wir wieder einen. Margret Buerschaper hat sich dankenswerter Weise bereit erklärt, die grafische Gestaltung, das Layout und die technische Umsetzung zu übernehmen. Es liegen nur noch keine Texte vor. Wir rufen in der kommenden Zeitschrift dazu auf und ich bitte Sie, schnell zu reagieren. Ein besonderes Thema ist die Bio-Bibliografie der Mitglieder. Auf zweimaligen Aufruf gab es keine sehr große Resonanz, nur etwa ein Drittel der Mitglieder hat reagiert. Das verstehe ich bis heute nicht, sind doch die letzten beiden Ausgaben eine wahre Fundgrube über das deutschsprachige Haiku und seine Autoren/innen. Wir haben nach einiger Diskussion beschlossen, die Bio-Bibliografie so herauszubringen, wie halt Einsendungen vorlagen. Es wird aber wohl der letzte Versuch gewesen sein. Auch an dieser Stelle vielen Dank an Magret Buerschaper, die die ganze Arbeit dafür geleistet hat. Wir hatten eigentlich gehofft, dass die Ausgabe zum Kongress vorliegt, das hat nun leider nicht geklappt. Viel Resonanz gab es wieder auf den Jal-Aufruf für Kinderhaiku. Margret Buerschaper, Waltraud Schallehn, Anna-Helene Kurz und Reiner Bonack haben ein arbeitsreiches Wochenende mit Bewerten verbracht. Herzlichen Dank dafür. 53 Impressum Rechenschaftsbericht Das wirkliche Leben der DHG vollzieht sich in den Regionalgruppen. Christa Beau wird uns kurz über die Arbeit der Regionalgruppe Magdeburg/Halle und Erika Schwalm über den Frankfurter Haikukreis berichten. Die Ahlener Gruppe konnte im Januar 2004 ihr 10-jähriges Bestehen feiern. An der von fast 100 Menschen besuchten Veranstaltung nahm der gesamte Vorstand teil. Über die Österreicher Aktivitäten dringt selten etwas nach Deutschland durch. Frau Tomalla sammelt die Kölner Haikufreunde, sie hat ja darüber in der Zeitschrift berichtet. In Hamburg ist die Gründung einer Gruppe leider noch nicht vorangekommen. Der Vorstand hat im Anschluss an den Kongress in Bad Grönenbach am 7. Juni 2003, am 17.Januar 2004 in Lutten und am 30. Januar 2005 in Frankfurt getagt. Im November 2004 haben wir eine virtuelle Vorstandssitzung abgehalten. Ich danke allen Vorstandsmitgliedern für ihre Arbeit für die DHG. Im September 2004 haben Gerd Börner und ich Volker Friebel in Tübingen besucht, um zu besprechen, wie die Aktivitäten von Haiku-heute und DHG weiter zusammen geführt werden können. Ein Ergebnis ist, dass in der Zeitschrift jetzt Ergebnisse der Monatswertungen von Haiku-heute veröffentlicht werden. Um die Liste der Aktivitäten zu vervollständigen: ich habe Gespräche mit Frau Brüll und Herrn Prof. May geführt. Beide haben ihre Wertschätzung der DHG zum Ausdruck gebracht und ihre Unterstützung angeboten. Und nun zur Wahl eines neuen Vorstands. Ich freue mich sehr, dass zwei Haiku-Aktivisten, die bisher unabhängig von unserer Gesellschaft – aber immer in wohlwollendem Einvernehmen – viel für das deutschsprachige Haiku getan haben und weiter tun, nämlich Volker Friebel und Stefan Wolfschütz bereit sind, im Vorstand mitzuarbeiten. Das gibt gute Möglichkeiten, konzertiert für die Verbreitung des Haiku im deutschen Sprachraum zu wirken. Volker Friebel hat auch schon zwei konkrete Vorschläge eingebracht, wie wir Betätigungsmöglichkeiten für Mitglieder schaffen können: er schlägt vor, zwei Arbeitskreise zu bilden, einen zum Thema Haikudefinition (zitieren) und einen zweiten zum Thema Verteiler (zitieren). Ich denke, das sind gute Vorschläge, über die wir nachher diskutieren sollten. Waltraud Schallehn möchte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kandidieren, ist abr bereit, zusammen mit Ramona Linke die Kassenprüfung zu übernehmen. Christa Beau ist bereit, als stellvertretende Vorsitzende zu kandidieren. Georges Hartmann hat manchmal genug von nicht eingehenden Mitgliedsbeiträgen und manchen Reaktionen auf seine Mahnschreiben. Auf der letzten Vorstandssitzung hat er mitgeteilt, dass er das Amt nur noch ein Jahr lang bekleiden will. Ich würde das sehr bedauern und einen Luftsprung machen, wenn Georges darüber noch mal nachdenkt. Gerd hat vor zwei Wochen mitgeteilt, dass er die Webseite nicht mehr betreuen möchte. Das ist ein herber Schlag, und ich habe noch überhaupt keine Idee, wie wir diese Lücke füllen können. Gerd ist aber bereit, weiter im vorstand mitzuarbeiten. Frau Rehkemper hat sich aus der Vorstandsarbeit komplett zurückgezogen. Erika ist weiter bereit mitzumachen und ich bin es auch. 54 Impressum REZENSIONEN Besprechungen verschiedener Titel Von Margret Buerschaper D ie hier angesprochenen Bücher wurden im Laufe des Jahres ins Archiv der DHG eingestellt und sind somit auch für unsere Mitglieder durch Ausleihe erreichbar. Bei dem einen oder anderen lohnt sich die Anschaffung. Erwin Egloff: Die beste Jahreszeit. Zen – und die Liebe zum Leben. Buchverlag Lokwort, Bern 2005. 202 S., Leinenbd., ISBN 3-906786-27-7. Aus dem Begleittext des Verlages: »Das Wunderbare dieser Tanka und Tagebuchnotizen liegt darin, dass zwei Wirklichkeiten – der kleine vergängliche Alltag und der weite, befreiende Horizont – hier zusammentreffen und zu einem Ganzen werden. Mutig gehen die Texte den Dingen auf den Grund und versuchen, im Unbeständigen das Bleibende, im Dunkel das Licht und in den oftmals eng begrenzten Tätigkeiten das Grenzenlose zu entdecken.« Seit der Gründung der DHG ist Erwin Egloff Mitglied. Noch in diesem Jahr können wir ihm zur Vollendung seines 75. Lebensjahres gratulieren. Er war in der Berufs- und Laufbahnberatung als Psychologe in Wettingen in der Schweiz tätig und verfasste für diese Bereiche ausgezeichnete Lehrmittel. Als Schüler und Assistent des Zen-Meisters Niklaus Brantschen, der auch das Vorwort dieses Buches verfasste, praktiziert Egloff seit vielen Jahren die Übungen des Zen, ist inzwischen anerkannter Zen-Lehrer und gibt die Erfahrungen und Erkenntnisse, die sein eigenes Leben veränderten und bereichern, an interessiert Suchende weiter. Mit seinem Buch bezieht er auch jeden Leser in diesen Kreis ein und beschenkt uns mit nachhaltigen Einsichten. Der individuelle Weg des Zen ist mittlerweile eine Sache, die sehr viele Menschen anspricht. Vielleicht auch deshalb, weil man sich dabei keiner Religion oder Person gegenüber verpflichten muss, sondern sich selbst näher kommt. Diesen Akt des Sich-Selber-Findens können wir in den nach Jahreszeiten gegliederten Tanka Egloffs nachvollziehen, deren Inhalte die ganz schlichten, gewöhnlichen Alltäglichkeiten festhalten. Jedem Tanka ist begleitend ein Prosatext gegenüber gestellt, der mal die Entstehungssituation, mal die Verbindung zum Zen oder zu dem christlichen Glauben aufzeigt, mal die angesprochenen Gefühle und Gedanken weiter ausführt. In einem Nachwort mit dem Titel »Tanka und Zen« sagt der Autor: »Jede dieser drei Betätigungen – Fünfzeiler, Tagebuch und Zen – bietet zum Beispiel Gelegenheit, das Aussen mit dem Innen, den Kopf mit dem Herzen zu verbinden und erfüllte, frohe Augenblicke zu erleben. Und jede mag für einen Teil des Menschen geeignet sein, zum 55 Impressum REZENSIONEN Wesen der Dinge hinzuführen, zu neuen Einsichten und zufriedener Gelassenheit«. (S.186) Egloff wählt die Form des Tanka, weil sich in ihr ein Bild, eine erlebnishafte Wahrnehmung mit dem Sinngehalt im übergeordneten Ganzen in Kürze verbinden lassen. Kurzgedichte mit Prosatexten zu verbinden ist keine neue Dichtungsform, wir kennen sie aus den Aufzeichnungen der japanischen Wandermönche und -Dichter, aus eigenen Erfahrungen mit dem Haibun. Dabei ist der Text nicht als Interpretation des Gedichtes gedacht sondern vermittelt Alltagsbeobachtungen, Naturerfahrungen, Lebensumstände und biographische Zusammenhänge, die den Zugang zu den Gedichten erleichtern. Hilfreich für den Laien sind auch die kurzen Erläuterungen in Nachwort zu den »Drei Übungsbereichen des Zen«. (S.192f.) Als Beispiel für die sich nur in Andeutungen begrenzende Vorstellung wähle ich ein Tanka und den Prosatext aus dem Herbstzyklus (S.128f.): Ankommen Eine Reise nach Dubai, Padang, Kyoto. Verlockend, aber ... Bin noch kaum angekommen, wo ich seit Jahren lebe. »Ich begriff sofort, dass die Schwalben (...) und die Reisen, alle Reisen, nur Mystik für Anfänger waren.« Adam Zagajewski Ankunft ist innerlich Eine Reise kann mehrfach zum Erlebnis werden: Bei der Vorbereitung, beim Aufnehmen der Eindrücke unterwegs, bei der Ankunft an den Zielorten und beim Nacherleben. Ein weiterer Aspekt: Wenn man auch das eigene Verhalten während der Reise beobachtet, gelangt man zu neuen Erkenntnissen über sich selbst. Von diesen Phasen ist die dritte, die Ankunft, vielleicht am schwierigsten zu erreichen. Ein Pilger, während Wochen zu Fuß unterwegs nach Santiago, notiert nach dem Eintreffen am Ziel: »Jede Ankunft ist innerlich«. Um irgendwo innerlich anzukommen, muss ich zunächst selber ruhig werden. Dann vermag vielleicht ein besonderer Duft, ein Klang, die Ansicht eines Gartens, eines weiten Platzes, eines Menschen mir die Lebensqualität an diesem Ort exemplarisch aufzuzeigen. »Mystik für Anfänger«: Ein harmonischer Ort vermag Gefühle der Geborgenheit, Freude und Energie zu wecken. An Orten des Grauens 56 Impressum REZENSIONEN und Leidens hingegen besteht das Ankommen im Mitleiden, Erschauern und wird zum Engagement für andere. Einer meiner bisher nicht realisierten Reiseträume hat mit Japan zu tun. Briefe eines früheren Nachbarn, der viele Jahre im Land lebte, Bildbände und andere Lektüre erschlossen mir Schönheiten und Schattenseiten des Inselreiches und vermittelten mir Einblicke in die Lebensweise der Menschen. Jahre später begegnete ich der Zenmeditation. Seither befinde ich mich auf einer lebenslangen Reise – zum Selbst. Nebenbei erschließt sie mir einen wesentlichen Teil der japanischen Kultur von innen her. Und gleichzeitig hat der Ort, wo wir seit vierzig Jahren zu Hause sind, an Attraktion gewonnen: als tägliche Einladung, immer wieder neu anzukommen. Dem Autor möchte ich gratulieren und seinem Buch eine erfolgreiche Verbreitung wünschen. Es stellt eine Ermutigung dar, trotz aller Krisen des eigenen Daseins und der heutigen Zeit über das Wunder des Lebens zu staunen und sich daran zu freuen. Wer es als Einladung zur achtsamen Wahrnehmung des Alltäglichen versteht, ist nicht fern der »besten Jahreszeit«. *** Manfred Böttcher: Herbstblätter. 42 Tanka und 21 Aquarelle von Eberhardt Purrucker. Selbstverlag 2004. M. Böttcher, Schefferweg 7, 12249 Berlin. Zur Vorstellung dieses dritten Tanka-Bandes von Manfred Böttcher zitiere ich aus dem Vorwort von Joachim Grünhagen. Er fasst zusammen, was ich ebenfalls gerne dazu sagen würde (S.7): Nicht jeden Poeten ist die Begabung für Kürze in die Wiege gelegt. Böttcher allerdings gehört zu denen, deren sicherer, ja geradezu meisterhafter Umgang mit dieser Kurzversarchitektur auffällt, ebenso der evokative Reiz seiner Wortbilder. In Eberhardt Purrucker, dem bekannten Berliner Künstler, hat Manfred Böttcher abermals einen adäquaten, schon mehrfach bewährten Partner für dieses Buch gefunden. Purruckers Aquarelle mit ihrem geradezu kühnen Pinselzug stärken die poetische Grundeinstimmung und Bewegtheit der Sprache, sind indessen nicht als Ergänzung oder Umrahmung anzusehen, eigenständig stehen Vers und Bild einander gegenüber. In ihren Auffassungen ähneln sich beide Künstler: spontan und mit wachsamem Blick für Wahrheit und Schönheit statuieren sie ihre Eindrücke und Sichtweisen. Die Dichte und Geschlossenheit dieser Sammlung wird vertieft durch die durchgängig eingehaltene Versform. 57 Impressum REZENSIONEN Böttchers feinfühlig-spielerischer Umgang mit Sprachrhythmik zeigt sich in der Liedhaftigkeit der Dichtungen, die auch ohne Reimsonanz auskommt. Zuweilen erinnern die im Wechsel jambisch und daktylisch ausgeprägten Zeilen an Versarchitekturen der Antike. Sprache, an Vorbildern gewachsen, gehört in gute Hände! Die als Beispiele ausgewählten Tanka fand ich auf den Seiten 20, 38, 50 und 52: In Muße gehen – rostbraunes Roteichenlaub heiter betrachten. Bedeckt der Himmel. Still von den Zweigen rieseln dämmernde Farben. Es schwindet die Kraft des Lichts – nichts mehr muß man erreichen. Im Zwielicht dieses Leben nicht mehr Erde, noch nicht Geist. Rotahornbäume – eine Handvoll Blätter ist übriggeblieben. Weintrauben, Verse die Sphäre des Heiteren bedarf der Freunde. Ähnlich stets um die Jahre die Reise zu vollenden. Unbeschwert wandert der Mond durchs Weidenrutengesicht. *** Kurt F. Svatek: Des Mondes Silbergarten. Haiku, Senryu und Tanka. Triga-Verlag, Gelnhausen 2004. Pb., 92 S., ISBN 3-89774-360-4. Die nach den Formen gemischten Kurzgedichte nach japanischem Vorbild sind in neun Abschnitte untergliedert, die jeweils eine Überschrift kennzeichnet. Durchgehend ist das Buch mit kalligraphischen Kanji-Zeichen illustriert etwa für Schnee, Frühling, Sonne oder Fluss. Der Autor gibt eine kurze Einführung zu den drei verwendeten Gedichtformen. Die einzelnen Verse halten sich streng an die Silbenzahl. Hier einige Beispiele: Der erste Regen tropft stetig in das Holzfass ganz ohne Boden Früh am Nachmittag ist die Schule schon verwaist, vor den Ferien. Ein Kindergesicht mit kleinen, weißen Tupfen förmlich übersät. Kriegsbemalung im Fasching oder doch die Windpocken? *** 58 Impressum REZENSIONEN Gerhard Stein: So sieht es hier aus. Haiku-Sammlung / haiku-shû, deutsch und japanisch. Baumzeichnungen des Autors. Ammasem, Kiel 2004. Pb., 89 S. Gerhard Stein arbeitet heute nach verschiedenen Studien und Abschlüssen an der Universität Kiel in den Bereichen Coaching, Psychotherapie und Supervision in freier Praxis. Er leitet auch Kurse im Autogenen Training. Seinen Weg zum Haiku und zur Kultur Japans fand er über die Beschäftigung mit Zen. Die Übersetzungen ins Japanische besorgte Yukari Matsunaga die nach ihren Abschlüssen für »Japanisch für Ausländer« und japanischer Literaturwissenschaft in Kiel Sinologie und Germanistik studiert. Unterstützt wurde sie von Takashi Osagawara. Verschiedene Anlässe bewegten Stein, das Buch zweisprachig zu gestalten: da ist einmal der Umstand, dass Japan 2005 das zentrale Thema im kulturellen Leben Schleswig-Holsteins ist, zum anderen das 50jährige Bestehen der Deutsch-Japanischen Gesellschaft des Landes und die zehnjährige Partnerschaft mit Hyogo und nicht zuletzt die Tatsache, dass das Haiku eine Lyrikform der japanischen Literatur ist. Auf all diese Themen und auf die Form und Geschichte des Haiku geht der Autor auch in seinem Vorwort ein. Beschäftigte sich Gerhard Steins erste Haiku-Sammlung mit »Momente im Garten« so ist »So sieht es hier aus« seinem Heimatland Schleswig-Holstein gewidmet und verschiedenen Erlebnisaugenblicken auf Urlaubsreisen, z.B. in Frankreich, Schottland, Irland, Norwegen oder Australien. Schleswig-Holstein / bei Stohl, August (S.26) Schleswig-Holstein / Kiel, Bellevue, September (S.31) Am frühen Morgen, die junge Mohnblüte – so viele Falten Die Nebelhörner und die Schreie der Möwen – so sieht es hier aus Schleswig-Holstein / bei Lippe, Mai (S.18) Das Rapsblütenmeer direkt neben der Ostsee – hier und dort Wellen Südfrankreich / bei Collobrières, Juli (S. 63) Zentralaustralien /Simpson’s Gap, August (S. 76) Neben dem Rastplatz Im graugrünen Gras macht ein Schwalbenschwanz Pause sprungbereit ein Känguruh – auf einer Blüte wir schauen uns an *** 59 Impressum REZENSIONEN Christine Hallbauer: Stern im Glas. Gedichte und Fotos 2004. Selbstverlag. »LOS-lassen«, das Los, das einen getroffen hat nicht festhalten, nicht krampfhaft in Händen und Herzen vergraben, das war die Absicht dieser Reise in die Berge. Atem schöpfen, neue Kraft gewinnen, das Alleinsein lernen – es gibt manchen Weg, dies zu üben und zu versuchen. Sicherlich ist, wie die in diesem Buch vereinten Verse und Fotos beweisen, ein Ein-Gehen in die und ein Aufgehen in der Natur dazu ein guter Weg, der bei offener Sensibilität viele positive Augenblicke bereit hält um Ruhe zu finden, ein sich Befrieden ohne Resignation mit zurück in den Alltag zu nehmen. Neben den exquisiten Fotos finden sich Seiten mit ein bis drei Dreizeilern und Tanka, Seite 27 auch ein Haibun. Die Gedichte halten sich an die traditionelle Form. Den Meisten sind die Einbrüche ins Leben, die ein Loslassen erzwingen, bekannt. Jeder sucht für sich einen Weg, um Schmerz, Verzweiflung, Trauer zu überwinden. Ich bin Christine Hallbauer auf ihren Wanderungen gefolgt und habe die Augenblicke gesucht, die mir persönlich hilfreich sind: Wasserläufer auf glitzerndem Gefunkel – die Wogen glätten Keines soll fehlen – Wiesenstrauß im Kerzenschein und ein Stern im Glas Schrittpuls bergan – hinter Nebeltropfen im Stirnhaar, Gedanken Struppige Haare sind dir im Dunst gewachsen – ertragen sie Licht Schwere Schneeschuhe abstreifen – in die Heimat der Seele … barfuß Ballast abwerfen – auf dem Schneegipfel im Blau Windarme spüren Unter dem Himmel das Glockenblumengeläut – horchen auf Antwort Durchblick zum Himmel – das winzige Dreieck verspricht Unendlichkeit *** Daniel Dölscher: Die Hochhäuser im Rücken. Haiku und Senryu. Zeichnungen von Silvia Burghardt. Minimart Verlag, Frankfurt 2004. Hemdtaschenformat, Fadenheftung, o.S., ISBN 3-933213-23-1. Der Minimart Verlag in Frankfurt bietet ein Forum für kleine literarische Formen. Die in grauer Pappe mit Fadenheftung gebundenen Büchlein passen in Hemd- 60 REZENSIONEN Impressum und Blusentaschen. Sie sind in Handarbeit hergestellt, vom Autor nummeriert und signiert. Die in diesem Büchlein vorgestellten Haiku und Senryu von Daniel Dölscher sind sowohl in der traditionellen als auch in freier Form gestaltet. Zu den üblichen 17-Silben-Dreizeilern sind auch jene zu rechnen, die den Zeilenumbruch dem Inhalt anpassen und so die 15 bis17 Silben unregelmäßig verteilen: Filmpremiere. In der Schlange vor dem Kino ein herrenloser Hund Der Sitznachbar im Zug ein Fremder. Wir haben dasselbe Ziel Unten am Main die Hochhäuser im Rücken weiß der Blick nicht wohin Nun noch zwei Beispiele für Dreizeiler im freien Stil: Eine Schar Tauben umringt eine Schar Touristen An der Grenze die Häuser auf beiden Seiten gleich *** Andreas Wittbrodt (Hg.): Tiefe des Augenblicks. Essays zur Poetik des deutschsprachigen Haiku. Hamburger Haiku-Verlag, Hamburg 2005. Pb., 150 S., ISBN 3-937257-10-1. Aus dem Klappentext: Tagtäglich halten Menschen Augenblicke ihres Erlebens in der kurzen Form des Haiku fest. Drei Zeilen, eine Jahreszeit und siebzehn Silben machen das klassische japanische Haiku aus. Vermittelt durch das Internet hat diese minimalistische Gedichtform mittlerweile in allen bedeutenden Sprachen und auf allen Kontinenten ihre Anhänger gefunden. Im vorliegenden Buch erzählen 20 deutschsprachige Autorinnen und Autoren von ihren Beweggründen Haiku zu schreiben. Die Texte verschaffen Einblicke in 20 Gedichtwerkstätten und machen Lust auf Haiku. Die Autoren: Margret Buerschaper, Johannes Ahne, Martin Baumann, Martin Berner, Gerd Börner, Ingo Cesaro, Eckhard Erxleben, Volker Friebel, Mario Fitterer, Gerhard Habarta, Georges Hartmann, Krisztina Kern, Petra Lueken, Horst Ludwig, Erika Schwalm, Kiki Suarez, Markus Sulzberger, Dietmar Tauchner, Klaus Dieter Wirth, Stefan Wolfschütz. Vorwort des Herausgebers, im Anhang biografische Angaben zu den Autoren sowie bibliografische Anmerkungen. 61 MITTEILUNGEN Impressum Hinweis zur Haiku-Werkstatt Von Gerd Börner Schicken Sie bitte einen (!) unveröffentlichten (!) Text für ein mögliches Werkstattgespräch in der Haiku-Werkstatt des Dezemberheftes 2005 ab sofort bis zum 20. Oktober 2005 an: Gerd Börner, Brahmsstrasse 17, 12203 Berlin oder via Email an: [email protected]. Die Rezensenten haben dann einen Monat Zeit, ihre Rezension zu einem anonymen, d.h. auch bisher unveröffentlichten, Text zu schreiben und ihren Beitrag bis zum 20. November 2005 an mich zu schicken. Danach werde ich die rezensierten Texte mit dem Namen der Autorin oder des Autors versehen und an die Redaktion senden. Wenn die Texte erst nach dem 20. Oktober 2005 bei mir eintreffen, werden diese den Rezensenten für die nächste Besprechungsrunde angeboten. Redaktionsschluss für das Dezemberheft ist der 21. November 2005, einen Monat vor der nächsten Ausgabe der Vierteljahresschrift der DHG. Die Veröffentlichung auf der Homepage der DHG ist noch nicht abschließend geklärt, da ich die Funktion des Webmasters für die Betreuung der Homepage der DHG niedergelegt habe. Lyrikpreis Meran 2006 Der Kreis Südtiroler Autorinnen und Autoren schreibt den Preis zum 8. Mal aus. Die Preise: Lyrikpreis Meran 8.000 €, Alfred-Gruber-Preis 3.100 €, Förderungspreis 2.100 €. Eingesandt werden können nur unveröffentlichte Gedichte (maximal 10 in fünffacher Ausführung) jeweils mit Kennwort. Name und Adresse des Einsenders mit Bio-Bibliografie muss in gesondertem verschlossenem Umschlag mitgeschickt werden an: Kurverwaltung Meran Freiheitsstraße 35 I-39012 Meran Einsendeschluss ist der 31.10.2005. 62 MITTEILUNGEN Impressum Das 68. Frankfurter Haiku-Treffen in Frankfurt a.M. Zeit: Samstag, 29.10.2005 Beginn 15.00 Uhr – Ende 18.00 Uhr Ort: Saalbau GmbH am Dornbusch 1. Stock (U-Bahn 1, 2 und 3 bis Dornbusch) 60320 Frankfurt a.M. Veranstalter: Deutsch-Japanische Gesellschaft, Frankfurt a.M. Deutsche Haiku-Gesellschaft, Goldenstedt Teil I: Referent: Volker Friebel, Mitglied in der DHG und Herausgeber von Haiku-heute.de Thema: Haiku-Achtsamkeit in der Literatur Teil II: freies Haikudichten Überraschungsthema Teil III: Besprechungshaiku Jahresvorschau 2006 Frankfurter Haiku-Kreis Haikustammtisch am Do. 2.3.06 ab 19.00 Uhr und am Do. 7.9.06 ab 19.00 Uhr im Künstlerkeller, Seckbächer Gasse 4, 60311 Frankfurt, (Nähe Weißfrauenstraße, nächste U-Bahn-Station: Willy-Brandt-Platz). 69. Haikuseminar Sa. 28.1.06, Referent: Georges Hartmann, Geschäftsführer in der DHG, Thema: Die Inszenierung winterlicher Impressionen im Haiku. 70. Haikuseminar Sa.29.4.06, Referent: Max Verhart, Präsident der holländischen Haiku Gesellschaft, zum Thema: Das Wesen im Haiku in der Auffassung westlicher Haikuschreiber. 71. Haikuseminar Ginko (Haikuwanderung) im Chinesischen Garten im Bethmannpark. Treffpunkt Bethmannpark (Eingang Chinesischer Garten, U4 bis Höhnstraße), Abschluß im Restaurant »Zur schönen Müllerin«, Baumweg 12, Tel. 069/432069. 72. Haikuseminar Sa.11.11.06 zum Thema Haikuklinik, mit Martin Berner. 63 IMPRESSUM Impressum Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft 18. Jahrgang · Oktober 2005 · Nr. 70 Herausgeber: Martin Berner (v.i.S.d.P.) Falkstraße 116 · 60487 Frankfurt am Main Tel.: 069/47 40 92 · Fax: 069/47 88 58 11 eMail: [email protected] Wechselnde Mitarbeiter · Freie Mitarbeit erwünscht. Beiträge bitte (per eMail) an den Herausgeber. Redaktionsschluss für Nr. 71: 21. November 2005 Redaktion und Gestaltung: Gerhard P. Peringer Nernstweg 24 · 22765 Hamburg Tel./Fax: 040/39 64 76 · eMail: [email protected] Druck: Hamburger Haiku Verlag – Erika Wübbena Curschmannstraße 37 · 20251 Hamburg Tel.: 040/48 34 62 · Fax: 040/460 958 12 Web: www.haiku.de · eMail: [email protected] Vertrieb und Anzeigen: Geschäftsstelle der Deutschen Haiku-Gesellschaft e.V. Georges Hartmann · Saalburgallee 39-41 · 60385 Frankfurt am Main Tel.: 069/45 94 33 · eMail: [email protected] Jahresabonnement Inland (incl. Porto) 25 € Jahresabonnement Ausland (incl. Porto) 30 € Einzelheftbezug Inland/Ausland 6 € (zuzügl. Versandkosten) Auslandsversand nur auf dem Land-/Seeweg. Für Mitglieder der DHG ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten. Auflage: 300 ISSN: 1615-7931 © Alle Rechte bei den Autoren. Nachdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet. Titelgrafik und Haiku: Johannes Ahne