Franz Jungbluth: Von der Untergrund

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Franz Jungbluth: Von der Untergrund
Franz Jungbluth: Von der Untergrund- zur Massenbewegung. Von der Untergrund- zur
Massenbewegung: Der Siegeszug der neuen Kraft, in: DAMALS 2/2013, S. 36-42
(Manuskriptversion, alle Rechte vorbehalten)
Es war nur eine kleine Delegation , die ihn am Bahnhof erwartete, aber das war ihm gerade recht.
Natürlich war es nützlich, dass er seine Geschäftsreisen mit Belangen der Partei verbinden konnte.
Aber stets von einer Traube Gefolgsleute umringt zu sein, war nicht unbedingt die beste Referenz –
und manchmal einfach ziemlich anstrengend. Immerhin musste er so die schweren Koffer nicht
selbst tragen. Leichten Schrittes, wenn auch mit betrüblichen Gesprächen – ob „sie“ nach Berlin
und Hamburg jetzt wirklich auch Leipzig in Angriff nehmen würden? - erreichte er das Hotel. Den
Portier kannte er noch von letztem Mal. Netter Kerl, insgeheim auch ein Sympathisant. Doch sein
breites Grinsen konnte er sich nicht erklären. „Herr Bebel, endlich sind Sie da.“ „Ja, freue mich Sie
wiederzusehen. Aber wieso denn endlich? “ „Tja, das fragen Sie mal Ihren Wächter. Der fragt schon
seit acht Tagen, wann Sie ankommen. Gerade erst ist er durch die Hintertür raus.“
Glaubt man den Memoiren August Bebels, so spannten die Polizeibehörden der deutschen Staaten
nach 1878 ein geradezu geheimdienstliches Netz um die sozialdemokratischen Abgeordneten – die
einzigen Mitglieder der Partei, die noch relativ frei in der Öffentlichkeit auftreten konnten.
Ausgerechnet Bebel, der bereits mehrmals verurteilte „Hochverräter“, war wohl einer der freiesten
führenden Genossen während der ersten Jahre des Sozialistengesetzes. Als Teilhaber eines
Leipziger Drechslerbetriebs war er nicht nur materiell unabhängig von der Lage der Partei, sondern
konnte als Handelsvertreter mit gutem Grund quer durch das Reich reisen.
Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ ermöglichte es,
fast alle Aktivitäten der Partei zu verbieten: Presse, Vereine, Versammlungen. Mit dem „kleinen
Belagerungzustand“ konnten die Behörden zudem, „Personen, von denen eine Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu besorgen ist“ aus „gefährdeten“ Städten ausweisen.
Dieses Mittel kam zunächst in Berlin, 1880 auch in Hamburg zum Einsatz. Im Juli 1881 traf es auch
August Bebel, als der kleine Belagerungszustand über Leipzig verhängt wurde. Der erzwungene
Umzug ins sächsische Umland brachte Unannehmlichkeiten im Geschäfts- und Familienleben mit
sich. Und als er zwischenzeitlich sein Abgeordnetenmandat verlor, drohte auch ihm eine Haftstrafe.
Dennoch erging es Bebel weiter deutlich besser, als anderen führenden Sozialdemokraten, die vor
dem persönlichen Ruin standen. Wilhelm Hasenclever etwa, der letzte Präsident des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins, war vor 1878 Mitbegründer der wichtigen Parteiblätter Vorwärts und
Hamburg-Altonaer Volksblatt. Als Redakteur und freier Schriftsteller hatte er ein leidliches
Auskommen und dennoch genügend Zeit für seine politische Karriere gehabt. Nachdem die
Zeitungen und ein Großteil seiner weiteren Publikationen verboten worden waren, konnte er sein
wichtiges, aber damals unbesoldetes Reichstagsmandat nur dank Spenden von Parteigenossen und
den Umsätzen des Berliner Ladens seine Frau wahrnehmen. Die materielle Unsicherheit und die
stete Rastlosigkeit durch Ausweisungen aus Berlin, Hamburg und Leipzig, forderten ihren Tribut:
1888 erlitt der Politiker einen Nervenzusammenbruch, ein Jahr später starb er gerade einmal
52jährig in Schöneberg.
Als Familienvater mit einem politischen Mandat fiel eine andere Option für Hasenclever aus, die
für die Beteiligten zwar schmerzhaft, oft aber existenzsichernd war, im einen oder anderen Fall gar
die politische Karriere beförderte: der Gang ins Exil. Für die Redakteure der Parteipresse war dies
eigentlich die einzige Möglichkeit, weiter in ihrem Beruf tätig zu sein. Dabei erfuhren sie teilweise
Förderung durch die Partei, für die die Stützpunkte im Ausland nicht nur in propagandistischer
Hinsicht wertvoll waren. Die Redaktion des Parteiorgans Der Sozialdemokrat, das in Zürich bis zu
einer Intervention der deutschen Regierung im Jahr 1888 legal erschien, leistet auch wichtige
Unterstützung bei der Durchführung der Untergrundparteitage der SAP in Wyhl und St. Gallen.
Auch für die Verbreitung der Zeitung und anderer Druckschriften im Kaiserreich war dieser
Erscheinungsort gut gewählt. Die alten Schmuggelpfade im Voralpenland und dem Schwarzwald
wurden zu Ausgangspunkten der „Roten Feldpost“, die eine beträchtliche Auflage von Zeitungen
und Broschüren ins Land schaffte. Organisiert wurde dieses Netzwerk von Julius Motteler, einem
Veteranen der sächsischen Arbeiterbildungsvereine, der mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel
den Weg von der liberalen zur sozialistischen Arbeiterbewegung gegangen war. Die Verbotsgesetze
brachten den Sozialdemokraten insgesamt Solidaritätsbekundungen aus dem linken Liberalismus,
von dem sie sich seit der Reichsgründung eher entfremdet hatte. Eugen Richter, einer der
erbittertsten Gegner der Sozialdemokratie in der Fortschrittspartei, begründet seine Ablehnung
des Sozialistengesetzes damit, dass dies eine Schwäche der Reichsregierung und „eine
Bankrotterklärung der bürgerlichen Gesellschaft“ darstelle. . Der Offenbacher Verleger Adolf Geck,
Sekretär der Deutschen Volkspartei, stellte sich gar in den Dienst der Roten Feldpost und wechselte
nach 1890 offen zur SPD, auf deren linken Flügel er sich positionierte.
In mancherlei Hinsicht stärkten die Gesetze, auch wenn sie einzelnen Mitgliedern hohe Opfer
abforderten, unwillentlich die Organisationskraft der Partei: Gerade führende Köpfe wurden aus
ihren Heimatstädten vertrieben. Wer nicht ins Exil ging oder aus wirtschaftlichen Gründen ganz
neue Wege beschreiten musste, ließ sich meist im direkten Umland nieder, um die Kontakte zu
Familie, Kollegen und Mitstreitern in der Stadt nicht abreißen zu lassen. Hierdurch breitete sich die
Sozialdemokratie im ländlichen Raum schneller aus als vor 1878.
Auch die Entwicklung im Vereinswesen entsprach nicht immer den Absichten, die Bismarck und die
Konservativen mit dem Gesetz verbunden hatten. Während offensichtlich politische Vereine
schlicht und einfach verboten wurden, kam es unter der Hand zu einer Radikalisierung der
Arbeiterturner und –sänger, denen nicht so einfach beizukommen war. Zahlreiche
Sozialdemokraten nutzen sie als Tarnorganisation für regelmäßige Treffen – politisierten damit
aber auch die Mitglieder, die zuvor tatsächlich nur wegen des Ringens oder Singens eingetreten
waren.
Ambivalent war schließlich auch die Wirkung auf die Gewerkschaften: Über sämtlichen
Arbeitervereinen hing das Damoklesschwert des Verbots wegen politischer Betätigung. Lediglich
spezialisierte Fachvereine, die Beratung in Arbeitsschutz und Arbeitsrecht für die Mitglieder einer
bestimmten Branche anboten, blieben „unter dem Gesetz“ unbehelligt, wenn auch misstrauisch
beäugt. Gerade dies zwang jedoch die sozialistischen Gewerkschaften, die sich zuvor eher in
politischer Rhetorik geübt hatten, zu einer fachlichen Professionalisierung und legte die Grundlage
für ihren schnellen Aufstieg zur Massenbewegung.
In einen solchen Fachverein tritt 1886 auch der Drechslergeselle Carl Legien in Hamburg ein. Durch
Militärdienst und lange Walz ist der 25jährige bereits in ganz Deutschland herum und mit
zahlreichen politischen Organisationen in Berührung gekommen. Binnen eines Jahres wird er
Vorsitzender des Hamburger Vereins. Mehr noch: trotz der gesetzlichen Einschränkungen gelingt
es ihm, diesen zur reichsweiten Vereinigung der Drechsler Deutschlands auszubauen. Nach 1890
wird das Modell von Branchengewerkschaften, die großen Wert auf die praktische Beratung ihrer
Mitglieder in Arbeitersekretariaten legen, Grundlage für die straff organisierte Generalkommission
der Gewerkschaften Deutschlands. Ihr Vorsitzender: Carl Legien!
Während der Aufstieg des ersten Spitzenfunktionärs der freien Gewerkschaften in diesen Jahren
eher im Stillen erfolgte, führten andere Entwicklungen dem „Eisernen Kanzler“ und seiner
Regierung deutlich vor Augen, dass die Verbotsgesetze zumindest alleine kein geeignetes Mittel
waren, der „roten Gefahr“ Herr zu werden. Trotz der massiven Einschränkungen legte die Partei,
nach einem ersten Schock 1881 in den Reichstagswahlen zu. 1884 konnte sie ihre Mandate fast
verdoppeln, 1890, kurz vor Auslaufen des Gesetzes, errang sie gar eine relative Mehrheit an
Wählerstimmen! Die erste Wahl von Sozialdemokraten in die Landtage des Königreichs Sachsen
und des Großherzogtums Baden fiel in diese Zeitspanne und selbst im mit Ausnahmegesetzen
überzogenen Berlin gab es ab 1883 rote Stadtverordnete.
Neben politischem und polizeilichem Druck versuchte die Regierung daher, ab 1883 inhaltlich zu
punkten. Innerhalb von nur sechs Jahren wurde das Kaiserreich mit der Einführung zunächst der
Kranken-, dann der Unfall- und schließlich der Rentenversicherung der Staat mit der
umfassendsten sozialen Absicherung in Europa. Doch auch diese Flucht nach vorne, die es laut
Bismarcks eigener Aussage nicht gegeben hätte, „wenn es keine Sozialdemokratie gäbe und wenn
nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten“, nützte dem Kanzler nicht. Selbst großangelegte
Streiks ließen sich weder durch Zuckerbrot noch durch Peitsche verhindern. Nachdem im Sommer
1885 bereits 12.000 Maurer und Bauarbeiter die Arbeit niedergelegt hatten, legte 1889 ein
Arbeitskampf im Ruhrbergbau mit bis zu 90.000 Beteiligten fast das gesamte Revier flach. Und die
Streikenden waren nicht nur „Sozis“. Auch traditionell kirchlich geprägte Arbeiter legten die Arbeit
nieder und schickten eine Deputation zum jungen Kaiser, um ihren Forderungen Gehör zu
verschaffen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit den Arbeitgebern zögerten sie jedoch
nicht, sich mit anderen Arbeitern in einem neuen Arbeiterverband zusammenzuschließen der
ersten, wenn auch kurzlebigen, Einheitsgewerkschaft in Deutschland.
Der junge Wilhelm II. wies Streiks und Sozialismus zwar weit von sich. Die Entwicklungen rund um
den Bergarbeiterstreik und die weiteren Wahlerfolge der SPD im Jahr 1890 nährten jedoch die
Zweifel an den innenpolitischen Konzepten seines Kanzlers. Bei der Entlassung Bismarcks im März
1890 war bereits klar, dass das Sozialistengesetz Ende September auslaufen würde.
.
Das Jahr 1889 erscheint nicht nur wegen des Bergarbeiterstreiks als der eigentliche Wendepunkt in
der Geschichte der Sozialdemokratie. Während offizielle Parteiveranstaltungen in Deutschland
weiter unterbunden waren, tagte in Paris ein internationaler Sozialistenkongress – wobei
international weitgehend als europäisch zu verstehen ist. Einige der Teilnehmer hatten keine allzu
weite Anreise, war das Paris der dritten Republik, mit seinem fließenden Übergängen zwischen
radialdemokratischen und sozialistischen Kleinparteien, neben London und der Schweiz doch eines
der Zentren des Exils für verfolgte Sozialisten aus Ost- und Mitteleuropa. Gleichzeitig stellte der
Gründungskongress der „Zweiten Internationale“ auch ein Familientreffen der deutschen
Sozialdemokraten dar, und stellte wichtige Weichen für den schnellen Aufstieg der Partei nach
1890. Die Parteiführung um Wilhelm Liebknecht und August Bebel traf mit Exilredakteuren um
Eduard Bernstein zusammen. Emma Ihrer, die wenig später in die Generalkommission der
Gewerkschaften Deutschlands gewählt werden sollte, traf auf die Exilantin Clara Eißner, die sich
nach ihrem Lebensgefährten Clara Zetkin nannte und auf dem Paris Kongress ein fulminantes
Plädoyer für die Rechte der Frauen hielt.
An den Beispielen Zetkins und Bernsteins lassen sich sowohl die paradoxen Folgewirkungen des
Sozialistengesetzes, als auch die künftige Entwicklung der SPD, die seit ihrem Parteitag in Halle an
der Saale 1890 auch unter diesen Namen auftrat, exemplarisch aufzeigen. Die meisten Exilanten
kehrten nach Auslaufen der Ausnahmegesetze nicht nur schnell nach Deutschland zurück, sondern
gelangten im Zuge des rasanten Aufschwungs, den die sozialdemokratische Partei und
„freie“ Gewerkschaften im folgenden Jahrzehnt nahmen, relativ schnell in einflussreiche und
zumindest existenzsichernde Positionen als Arbeitersekretäre, Redakteure der wieder auflebenden
Parteipresse oder der neu hinzugekommenen „wissenschaftlichen“ Wochen- und Monatsblätter.
So übernahm Clara Zetkin 1892 von Emma Ihrer die Redaktion der sozialdemokratischen
Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“ und wurde für einige Jahre das prominenteste Sprachrohr der
„proletarischen“ deutschen Frauenbewegung. Da das preußische Vereinsgesetz die Übernahme
politischer Ämter durch Frauen weiterhin verbot, war die reichsweite Frauenpresse bis 1907 das
einzige politische Forum, in dem sich die Bewegung überregional zu Wort meldete. Ironischerweise
gab ausgerechnet die reaktionäre preußische Gesetzgebung somit einer der radikalsten
Sozialistinnen in der SPD eine entscheidende Bühne. Denn so klar, wie sie sich für die Rechte der
Arbeiterinnen einsetzte, so entschieden positionierte sie sich auf der äußersten Linken der Partei,
stritt für den politischen Massenstreik und gegen jede Form von Kompromiss mit dem
herrschenden System. Gemeinsam mit Karl Liebknecht – dem Sohn Wilhelm Liebknechts – und
Rosa Luxemburg versuchte sie immer wieder, die Positionen der internationalen
Sozialistenkongresse, die sich oft durch rhetorische Radikalität auszeichneten, in die Praxis der SPD
einfließen zu lassen – meist allerdings vergeblich.
Eduard Bernstein hingegen musste noch ein ganzes Jahrzehnt im Londoner Exil ausharren. Seine
Tätigkeit als verantwortlicher Redakteur des Sozialdemokrat hatten ihm eine Reihe von
Strafanträgen und Haftbefehlen eingebracht, von denen der letzte erst 1901 aufgehoben wurde. Zu
diesem Zeitpunkt war Bernstein jedoch, anders als man es bei einem kriminalisierten Exilanten und
Weggefährten Friedrich Engels vermuten würde, der gefeierte Theoretiker der
„Parteirechten“ geworden. In einer Reihe von Artikeln über „Probleme des Sozialismus“, die er
später in einem Buch zusammenfasste, formulierte er nachdrückliche Zweifel an den
„Gesetzen“ des marxistischen Klassenkampfes. Die SPD befinde sich in einem stetigen
Aufwärtstrend – ihre Ergebnisse wurden von Wahl zu Wahl besser – und könne daher darauf
bauen, im Reichstag und den Ländern eine Umgestaltung der Gesellschaft zu bewirken. Alte
Weggefährten wie Bebel oder Karl Kautsky, mit dem Bernstein 1891 gemeinsam das immer noch
gültige Erfurter Parteiprogramm ausgearbeitet hatte, waren irritiert. Jüngere Politiker aus den
süddeutschen Bundesstaaten positionierten sich hingegen nicht nur auf Bernsteins Seite in diesem
„Revisionismusstreit“. Wenige Jahre später begannen sie sogar Wahlbündnisse mit bürgerlichen
Parteien einzugehen – ab 1905 in Baden – oder sich aktiv in Haushalts- und Steuerfragen
einzubringen, obwohl das Credo der Partei doch lautete, dem alten System „keinen Mann und
keine Mark“ zu gönnen. Und auch die Gewerkschaften schwenkten immer stärker auf einen
reformorientieren Kurs ein. Zwar waren sie von einer gleichberechtigten Verhandlungsposition
gegenüber den Arbeitgebern immer noch weit entfernt und führten für ihre Forderungen nach
höherem Lohn, kürzeren Arbeitszeiten und Tarifverträgen harte Arbeitskämpfe. Andererseits zeigte
ihre Arbeit vor Ort, etwa die Beratung in den Arbeitersekretariaten oder die Förderung von
Konsumgenossenschaften, durch die ihre Mitglieder verbilligt an Lebensmittel oder Güter des
täglichen Bedarfs kamen, konkrete Erfolge. Eine Politik der kleinen Schritte erschien der
Generalkommission um Legien also möglich. Und erste Fortschritte wollte man sich nicht durch
radikale Forderungen der Parteilinken streitig machen lassen.
Dass es dennoch in den Friedensjahren des Kaiserreichs zu keiner Spaltung der Partei kam, war
dem Kurs des Vorstandes zu verdanken. Einigkeit war für die Generation um Bebel, der bis zu
seinem Tod 1913 einer der Parteivorsitzenden blieb, nach den Erfahrungen der frühen
Streikbewegungen und des Sozialistengesetzes das höchste Gut. Diese bewahrte man durch
Kompromissanträge auf Parteitagen und ein gleichmäßiges „Bedienen“ beider Parteiflügel: Die in
ihrer Praxis reformorientierten Gewerkschaften und Genossenschaften wurden vom
Parteivorstand ausdrücklich gefördert. Am 1. Mai und dem internationale Frauentag pflegte man
hingegen gegen alle Widerstände und Schikanen der Behörden nicht nur die politische Symbolik
der Internationale, sondern würdigte auch ihre Ziele. Auf den Achtstundentag, das
Frauenwahlrecht und eine Kritik des Militarismus ließen sich schließlich alle Parteiflügel
einschwören.
Die Frage, wie lange dieser Grundkonsens unter ruhigeren Zeitläuften Bestand gehabt hätte, ist so
interessant wie müßig: Im August 1914 kannte nicht nur der Kaiser „keine Parteien, sondern nur
noch Deutsche“. Die Gewerkschaften und ein Großteil der SPD-Führung stützen den sogenannten
„Burgfrieden“. Die Internationale zerbrach. Die Parteilinke verstummte zunächst zwangsweise, trat
ab 1916 mit der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung jedoch in neuer, radikaler Form
wieder an die Öffentlichkeit. Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur „das Ende des bürgerlichen
Zeitalters“ (Wolfgang J. Mommsen), sondern beendete auch für lange Zeit die Einheit und Einigkeit
der deutschen Sozialdemokratie.