Geschichte und Gesellschaft, 2016, 42. Jahrgang, Heft 1

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Geschichte und Gesellschaft, 2016, 42. Jahrgang, Heft 1
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Druck- und Bindearbeit: q Hubert & Co, GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6,
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Geschichte und Gesellschaft
Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft
Herausgegeben von
Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag
Ute Frevert / Svenja Goltermann / Dagmar Herzog / Wolfgang Kaschuba
Simone Lässig / Philip Manow / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel
Margrit Pernau / Sven Reichardt / Stefan Rinke / Rudolf Schlögl
Martin Schulze Wessel / Adam Tooze / Hans-Peter Ullmann
Geschäftsführend
Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte
Vandenhoeck & Ruprecht
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Geschichte und Gesellschaft
42. Jahrgang 2016 / Heft 1
Surveillance Studies
Herausgegeben von
Christoph Conrad und Sven Reichardt
Vandenhoeck & Ruprecht
Inhalt
Sven Reichardt
Einführung: Überwachungsgeschichte(n). Facetten eines Forschungsfeldes
Introduction: Histor(ies) of Surveillance. Facets of a Research Field . . . . . . .
5
Anton Tantner
Zwischen „policie“ und „strengster Verschwiegenheit“. Europäische
Adressbüros der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld obrigkeitlicher und
privater Interessen
“Policie” or “the strictest secrecy”: Early Modern Intelligence Offices in Europe
Caught Between Government and Private Interests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
Daniel Brückenhaus
Identifying Colonial Subjects: Fingerprinting in British Kenya, 1900 – 1960
60
Kerstin Brückweh
Das Eigenleben der Methoden. Eine Wissensgeschichte britischer
Konsumentenklassifikationen im 20. Jahrhundert
Knowledge Production, Surveillance and Consumer Classifications in
Twentieth-Century Britain: A History of Methods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Sami Coll
Discipline and Reward. The Surveillance of Consumers through Loyalty
Cards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Diskussionsforum
David Gugerli und Hannes Mangold
Betriebssysteme und Computerfahndung. Zur Genese einer digitalen
Überwachungskultur
Operating Systems and Computerized Policing: The Advent of a Digital
Surveillance Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
Sabine Maasen und Barbara Sutter
Dezentraler Panoptismus. Subjektivierung unter techno-sozialen
Bedingungen im Web 2.0
Decentralized Panopticism: Subjectification Under the Techno-Social
Conditions of Web 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Wissenschaftliche Nachrichten
Dieter Langewiesche
M. Rainer Lepsius und die Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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Einführung: Überwachungsgeschichte(n)
Facetten eines Forschungsfeldes
Von Sven Reichardt*
Abstract: The introduction to this issue on historical surveillance studies argues for an
integrated understanding of surveillance that focuses on the interconnectedness of the
state, economy and sciences within the context of different forms of technological revolution. It suggests reading contemporary diagnoses of ‘total surveillance’ from a long-term
historical perspective beginning in the seventeenth century. In this light, surveillance is not
limited to intelligence history or state control. Rather, it produces patterns of order and
data that can be deployed for political processes like urban planning, welfare policy, crime
prevention, or the persecution of political opponents. Furthermore, surveillance is also
part of the economy, encompassing market and consumption research, advertising, and
workplace monitoring. Research into the political and the economic aspects of surveillance
should be combined. After defining the term ‘surveillance’ and differentiating between
security and surveillance studies, the article provides an overview of different empirical
studies in this new historiographical field. It concludes with short summaries of the articles
collected in this issue.
Im Januar 2014 schrieb die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der „unstillbare Datenhunger der NSA
nahe dran [sei], selbst der Terror zu sein“. Das Internet werde „zum Ort eines
neuen, digital gestützten, durch eine Verschmelzung privatwirtschaftlicher
und staatlicher Interessen untermauerten Totalitarismus“.1 Seit den Gesetzesänderungen im Zuge des Terroranschlages vom 11. September 2001 liest man
in nahezu jeder Zeitung und jedem Magazin die Stimmen von public
intellectuals, die davor warnen, die USA könnten zu einer total überwachten
Gesellschaft werden. Mit jedem weiteren Terroranschlag, zuletzt am 13. November 2015 mit den Pariser Attentaten, wird die Diskussion über das
Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, von Überwachung und Privatsphäre in
freiheitlich-liberalen Gesellschaften erneut entfacht. Gerade die transnationale
Vernetzung der westlichen Geheimdienste, die ungeheuere Menge der von ihnen
überprüften Daten und die Kooperation zwischen wirtschaftlichen Dienstleistern
und staatlichen Institutionen stehen dabei im Fokus der Kritik.
* Für die kritische Lektüre und viele hilfreiche Hinweise möchte ich mich in erster Linie
bei meinem Mitherausgeber Christoph Conrad, aber auch bei den anonymen Gutachterinnen oder Gutachtern von Geschichte und Gesellschaft sowie bei Heike Drotbohm,
Valentin Rauer, Thomas Hinz und Ole Münch ganz herzlich bedanken.
1 Shoshana Zuboff, Wir stehen vor dem Abgrund, Mr. President, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 17. 1. 2014, S. 31.
Geschichte und Gesellschaft 42. 2016, S. 5 – 33
" Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2016
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
6
Sven Reichardt
Hintergrund für solche düsteren Ausblicke auf einen „technologischen
Totalitarismus“2 sind die Überwachungsmöglichkeiten, die sich seit der
Informationsrevolution vervielfacht haben. Die digitalen Technologien erschaffen, wie die kanadischen Sozialwissenschaftler Kevin D. Haggerty und
Richard V. Ericson in einem viel beachteten Aufsatz schrieben, neuartige
„surveillant assemblages“.3 Damit ist gemeint, dass sich die gegenwärtige
Vervielfältigung und Verdichtung der Überwachung einer zentralen Steuerung
entziehen. Das panoptische Überwachungszentrum wird pluralisiert: monitoring wird diffus, nicht-strategisch und zugleich total. Multiple Identifizierungsmöglichkeiten und Aggregierungsverfahren erschaffen ubiquitäre Überwachungsnetze und Beobachtungsverhältnisse, in denen – folgt man den
Thesen postmoderner Kultursoziologen – die Beobachteten die Machtverhältnisse derart in sich aufgenommen haben, dass sie das „automatische
Funktionieren der Macht“ sicherstellen.4 Die unterschiedlichen Elemente des
Überwachens verschwimmen immer stärker ineinander : Disziplinarmacht,
Subjektivierung und Regierungstechnologie lassen sich nicht ohne weiteres
voneinander unterscheiden.5
Angesichts der vielseitigen technischen Möglichkeiten wird also die Grenze
zwischen Überwachten und Überwachenden unscharf: Aus dem Panoptikum
wird ein Synoptikum der „freiwilligen Knechtschaft“ ohne Zentrum, Mauern
oder Wachtürme.6 Gerade die Verknüpfung von einzelnen Datenbanken und
Erfassungssystemen ist es, die die Qualität einer umfassenden und länderübergreifenden dataveillance erzeugen, vor der sich gegenwärtig viele Bürgerinnen und Bürger mehr fürchten als vor der Preisgabe von Einzelinformationen.
Offenbar ist unsere Gegenwart von der Ausweitung und Dezentralisierung,
Entgrenzung und Individualisierung von Überwachungen bedroht.
In dieser präsentisch geführten Debatte, die zahlreiche Dystopien von Kulturund Sozialwissenschaftlern hervorgebracht hat,7 sind Historikerinnen und
2 Zur journalistischen Debatte siehe Frank Schirrmacher (Hg.), Technologischer Totalitarismus, Berlin 2015.
3 Kevin D. Haggerty u. Richard V. Ericson, The Surveillant Assemblage, in: British Journal
of Sociology 51. 2000, S. 605 – 622.
4 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt
1976, S. 258.
5 Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003, S. 18; Zygmunt Bauman u. David
Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Berlin
2013, S. 91 – 97.
6 Thomas Mathiesen, The Viewer Society. Michel Foucault’s Panopticon Revisited, in:
Theoretical Criminology 1. 1997, S. 215 – 232, hier S. 218 – 225 u. S. 228 – 231.
7 Vgl. nur David Brin, The Transparent Society. Will Technology Force Us to Choose
Between Privacy and Freedom?, Reading, MA 1998; Simson Garfinkel, Database Nation.
The Death of Privacy in the 21st Century, Sebastopol 2000; Wolfgang Sofsky,
Verteidigung des Privaten. Eine Streitschrift, München 2007; Myriam Dunn Cavelty u.
Kristian Søby Kristensen (Hg.), Securing ,the Homeland‘. Critical Infrastructure, Risk
and (In)Security, New York 2008; Glenn Greenwald, Die globale Überwachung. Der Fall
Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen, München 2014; Marcel
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Einführung
7
Historiker aufgerufen, die gegenwärtigen Überwachungsverhältnisse in eine
längerfristige historische Perspektive zu rücken. Dieses Themenheft möchte
einen Beitrag zu dieser historischen Einordnung leisten.
Im Folgenden seien knapp die Chancen und Einsichten skizziert, die aus einer
Historisierung der Debatte zur gegenwärtigen Überwachungsgesellschaft
erwachsen könnten (Abschnitt I). Neben der eingangs erwähnten Forderung
nach einer langfristigen historischen Einordnung der durch technologische
Revolutionen ermöglichten Überwachungsformen wird für eine Perspektive
plädiert, die staatliche und wirtschaftliche Formen der Überwachung in ihrer
Verschränkung untersucht. Zunächst wird der hier zugrunde liegende Begriff
der Überwachung vorgestellt (Abschnitt II). Ein Überblick der geschichtswissenschaftlichen Überwachungsforschung (Abschnitt III) zeigt den stark
fragmentarischen Charakter der historischen Studien, gerade im Vergleich
zum deutlich weiter entwickelten sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld.
Dies liefert einen ersten Hinweis darauf, dass die vorgestellten Beiträge dieses
Heftes (Abschnitt IV) nicht systematisch ausgewählt werden konnten. Sie
liefern vielmehr Einblicke in unterschiedliche Geschichten der Überwachung.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihren Blick nicht auf eine Geschichte der
Geheimdienste oder ähnlicher staatlicher Institutionen verengen, sondern
jeweils weitergreifend nach den Zusammenhängen von staatlicher und
wirtschaftlicher Überwachung fragen.
I. Zur Notwendigkeit der Historisierung einer präsentisch
geführten Debatte
Das Anlegen von globalen Wissensdatenbanken führt weit über die aktuelle
Situation und die gegenwärtigen Überwachungsmöglichkeiten der Geheimdienste hinaus. „Die Menschen zu führen“, so schreiben die historisch
argumentierenden Soziologen Leon Hempel, Susanne Krasmann und Ulrich
Bröckling, heißt „sie in Listen, Datenbanken usw. aufzuführen“.8 Die Registrierung als Bürgerinnen und Bürger, als Marktteilnehmende oder als
Migrantinnen und Migranten gehört zum Grundmuster eines modernen
Rosenbach u. Holger Stark, Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die
totale Überwachung, München 2014; Yvonne Hofstetter, Sie wissen alles. Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen
müssen, München 20142 ; Peter Schaar, Überwachung total. Wie wir in Zukunft unsere
Daten schützen, Berlin 2014; Malte Spitz u. Brigitte Biermann, Was macht ihr mit
meinen Daten? Hamburg 2014; Sebastian Stiller, Planet der Algorithmen. Ein Reiseführer, München 2015; Markus Jansen, Digitale Herrschaft. Über das Zeitalter der
globalen Kontrolle und wie Transhumanismus und synthetische Biologie das Leben neu
definieren, Stuttgart 2015.
8 Leon Hempel u. a., Sichtbarkeitsregime. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2011,
S. 7 – 24, hier S. 10 f., [Hervor. i. O.].
8
Sven Reichardt
Staates, der für seine Steuerungsprozesse die Fähigkeiten, sozialen Verhältnisse, Krankheitsrisiken oder die Kaufkraft der Gesellschaftsmitglieder als
Informationsmerkmale verzeichnet und bearbeitet, klassifiziert und miteinander verknüpft.9 Überwachung in ihrer Doppelrolle aus Kontrolle und
Fürsorge gehört nicht erst seit dem globalen Terrorismus der Jahrtausendwende zu den Problemen eines modernen Staates.
Überwachung ist also mehr als nur Kontrolle, sie entwirft Ordnungsmuster
und liefert Planungsdaten, die bei staatlichen und nichtstaatlichen politischen Prozessen, in der Stadtplanung oder Wohlfahrtspolitik ebenso
nützlich sind wie bei der Verbrechensbekämpfung oder der Verfolgung von
politisch Oppositionellen. Zudem bezieht sich diese Überwachung nicht
nur auf den Staat, denn sie ist bei der Online-Partnersuche und in der
Werbung genauso wirksam einzusetzen wie bei der Vermögensbildung
oder bei der Arbeit von Krankenkassen. Die gigantischen Datenbanken
unserer Tage verfügen über Software-Tools, die nicht nur Daten sammeln,
sondern diese über Algorithmen nach komplexen Mustern durchsuchen
und die richtigen Schlüsse aus den Ergebnissen ziehen können. Big Data ist
eine moderne Herausforderung und Chance – für Kontrolle und Planung
gleichermaßen.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat die Ursprünge der
gegenwärtigen Kontrollgesellschaft im ordnenden Territorial- und Disziplinarstaat seit dem 17. Jahrhundert gesucht.10 So überzeugend diese
langfristige Perspektive auf den modernen Staat ist, so einseitig ist ein
solcher Ansatz für die Überwachungsgeschichte, da er ausschließlich den
Staat in den Mittelpunkt stellt und Technologieschübe als bloße Mittel zum
Zweck und als nachgeordnete Entwicklungen behandelt. Vielmehr ist
danach zu fragen, wann, wie schnell und unter welchen sozialen und
kulturellen Bedingungen institutionelle Einbettungen den neuen technologischen Möglichkeiten folgten. In dieser Perspektive erscheint der Staat
nicht als der ausschließlich zwecksetzende Souverän, sondern als eine in
gesellschaftliche Entwicklungen integrierte, machtvolle Verwaltungsinstanz. Die Kommunikations- und Verkehrstechnologien von der elektrischen Telegrafie über das Telefon bis zum Internet, von der Bahn über das
Auto bis zu den Flugzeugen entwickelten sich in den letzten beiden
Jahrhunderten fast ebenso rasant wie die Technologien zur Erfassung und
Sortierung von Informationen seit den Hollerith-Lochkarten der 1890er
9 Ebd.
10 Giorgio Agamben, Die Geburt des Sicherheitsstaats, in: Edition Le Monde diplomatique
16. 2015, S. 6 – 9. Zu den Übergängen zwischen Privatwirtschaft und Staat im
17. Jahrhundert siehe Jana Herwig u. Anton Tantner (Hg.), Zu den historischen
Wurzeln der Kontrollgesellschaft, Wien 2014; Anton Tantner, Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-Comptoirs, Berlin 2015.
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Einführung
9
Jahre. Inwiefern erlaubte die Verknüpfung dieser beiden Felder den Ausbau
von Überwachungsmöglichkeiten bis hin zu den Tracking-Dienstleistern
unserer Tage ?11
Zu fragen wäre, in welchen historischen Situationen politische Institutionalisierungen und Regelungen von Überwachungstechnologien gelangen und in
welchen Konstellationen sie scheiterten. Waren die Einhegungen von Überwachungsmöglichkeiten Folge eines öffentlichen Misstrauens in die behördlichen und kommerziellen Register, waren sie Ergebnis zivilgesellschaftlichen
Protests oder einer wachsenden Konkurrenz zwischen alten und neuen Eliten?
Das Thema weist in jedem Fall über die staatlichen Akteure und demokratisch
gewählte Politikerinnen und Politiker, über staatliche Organe wie Militär und
Polizei, Verwaltung und Geheimdienste oder internationale politische Institutionen hinaus. Neben zivilgesellschaftlichen Organisationen sind private
Dienstleister oder soziale Medien, Versicherungen oder Wirtschaftsunternehmen ebenso bedeutend für das Verständnis von Privatheit und Überwachung
in der modernen Gesellschaft.
II. Zum Begriff der Überwachung
Überwachung und Sicherheit sind zwei eng miteinander verflochtene, oft
komplementäre Begriffe. Daher ist das in den letzten zehn Jahren beständig
wachsende Forschungsfeld der interdisziplinären Sicherheitsforschung, in
dem sich jüngst auch eine Variante der Sicherheitsgeschichte herausgebildet
hat,12 besonders wichtig für die Surveillance Studies. Schließlich hat sich auch
die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung unmittelbar mit unterschiedlichen Formen der Überwachung beschäftigt. Überwachung wurde
und wird oft als Maßnahme zur Herstellung von Sicherheit eingesetzt. In
11 Vgl. David Lyon (Hg.), Surveillance as Social Sorting, London 2003; Roger Clarke,
Information Technology and Dataveillance, in: Communications of the Association for
Computing Machinery 31. 1988, S. 498 – 512.
12 Siehe den Überblick von Cornel Zwierlein, Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der
Geschichtswissenschaften, in: GG 38. 2012, S. 365 – 386; Eckart Conze, Securitization.
Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: ebd., S. 453 – 467; Christopher Daase, Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: ebd., S. 387 – 405. Zwei DFGfinanzierte Drittmittelprojekte werden dieses Feld stark erweitern: Das Projekt
„SFB / Transregio 138: Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in
historischer Perspektive“ der Universitäten Marburg und Gießen (seit 2014) und die
Forschungsgruppe „Sicherheitskommunikation“ der Medienwissenschaft in der Universität Siegen (seit 2009). Vgl. auch Christopher Daase u. a. (Hg.), Sicherheitskultur.
Gesellschaftliche und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt 2012;
Christoph Kampmann u. Ulrich Niggemann (Hg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit.
Norm – Praxis – Repräsentation, Köln 2013; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit.
Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart,
München 2009.
10
Sven Reichardt
beiden Forschungsfeldern werden, aus unterschiedlichen Blickwinkeln, bisweilen die gleichen Themen behandelt. In beiden Fällen beziehen sich nicht
wenige Forscherinnen und Forscher auf eine durch Michel Foucault zur
Verfügung gestellte Perspektive, welche die Versprechungen von Sicherheit
und Freiheit miteinander zu verbinden trachtet und hierbei flexibilisierte
Mechanismen und Machttechniken des wirtschaftlichen Liberalismus mit dem
Leitbegriff der Gouvernementalität zu erfassen sucht.13
Im Unterschied zur Sicherheitsforschung wird mit dem Begriff der Überwachung
eine Praxis untersucht, während der Begriff der Sicherheit ein normatives Ziel
behandelt und dabei nicht selten staats- oder institutionenbezogen argumentiert.
Der nationale Staat und internationale Sicherheitssysteme stehen im Zentrum der
Analyse vieler Sicherheitsforscherinnen und -forscher. So ist beispielsweise aus
der Sicht der Sicherheitsgeschichte bedenkenswert, ob und inwiefern vor- und
postmoderne Souveränitätsprinzipien Ähnlichkeiten aufweisen. Schließlich sei in
beiden Zeitepochen, so liest man bei dem Historiker Cornel Zwierlein, die
Trennung von äußerer und innerer Sicherheit weniger bedeutend, als dies in der
Zeit vom 17. bis zum 20. Jahrhundert der Fall gewesen sei, in der die staatliche
Souveränität, eine vereinheitlichte Bevölkerung und eine abgegrenzte Territorialität deutlich ausgeprägter waren.14
Dieses Thema ist auch für die Überwachungsgeschichte von Bedeutung. In den
Surveillance Studies wird jedoch immer von multiplen Überwachungsformen
ausgegangen. Auch und gerade für die Zeit der Moderne vom 17. bis zum
20. Jahrhundert legt man kopräsente und umstrittene, geteilte und pluralisierte
Souveränitäten zugrunde. Die Surveillance Studies untersuchen die Übergänge
und Mischformen von Sicherheit und Freiheit. Überwachung, ganz im Sinne des
englischen Wortes surveillance, dient dabei nicht nur repressiven Zwecken,
sondern auch dem Ziel der Sorgfaltspflicht des modernen Staates. Von dieser
Perspektivierung ausgehend wird Überwachung als ein Aktivitätsbündel untersucht und auf seine gesellschaftlichen Ursachen und Effekte hin analysiert.
Mit dem Forschungsgegenstand der Überwachung wird also primär ein gesellschaftliches Mittel thematisiert, welches nicht nur dem Ziel der Kriminalitätsbekämpfung oder der Verhaltenssteuerung durch Sicherheitsimperative dient,
sondern auch für Planungsprozesse von Bedeutung ist. Während der Begriff der
Sicherheit einen Wert thematisiert, kann unter Überwachung eine Praxis
verstanden werden, die stark prozessorientiert gedacht und erforscht wird.15
13 Vgl. für die Ethnologie die im November 2015 in Graz ausgerichtete kulturwissenschaftliche Konferenz „Der Alltag der (Un)Sicherheit. Ethnographisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Sicherheitsgesellschaft“, 6. 11. 2015 – 7. 11. 2015, http://
volkskunde.uni-graz.at/de/neuigkeiten/detail/article/tagung-sicherheit-611–7112015/.
14 Zwierlein, Sicherheitsgeschichte, S. 378; ders., Return to Premodern Times? Contemporary Security Studies, the Early Modern Holy Roman Empire, and Coping with
Achronies, in: German Studies Review 38. 2015, S. 373 – 392, insb. S. 376.
15 Mit diesem praxeologischen Zuschnitt ist die Überwachungsforschung mit dem Begriff
der „Sicherheitskultur“ verwandt. Siehe Valentin Rauer u. a., Konjunkturen des
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Einführung
11
Überwachungsforscherinnen und -forscher untersuchen Prozesse und Praktiken, die jeweils zwar auch Formen der Machtausübung sind, sich jedoch
einer institutionellen Verortung stärker entziehen können, als dies in der
Sicherheitsforschung der Fall ist. Der Überwachungsbegriff umfasst eine
ganze Palette von Praktiken, angefangen beim Beobachten und Erfassen über
das Identifizieren und Sammeln bis hin zum Kontrollieren und schließlich gar
zur Intervention. Gerade das prozessorientierte Zusammendenken in diesen
Einzelschritten zeichnet den Begriff der Überwachung aus. Mit David Lyon
verstehen wir unter Überwachung „any collection and processing of personal
data, whether identifiable or not, for the purposes of influencing or managing
those whose data have been garnered“.16 Das Monitoring, die Erfassung und
die Klassifikation von Daten, Körpern oder Bewegungen sind Gegenstand
einer Überwachungsgeschichte, die staatliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Beobachtungspraktiken in ihren gesellschaftspolitischen Ursprungs- und Verwendungszusammenhängen analysiert. Überwachung ist
aus dieser Sicht mit den Kategorien von „schlecht“ oder „gut“ nicht normativ
zu begreifen, sondern wird als ein Basisprozess der Verhaltensbeobachtung
und -regulierung verstanden, der gesellschaftspolitisch eingebettet ist und
insofern unterschiedliche politische Aufgaben und Ziele haben kann.
Foucaults Begriff des Panoptikums hilft, die machtvollen Prozesse der
Informationserhebung und -auswertung in eine historische Perspektive zu
rücken. Indem er die Ausbildung von modernen Disziplinarinstitutionen im
Bereich der Ökonomie, in der Politik und dem Recht sowie in der Wissenschaft
identifizierte, konnte er asymmetrische Überwachungsverhältnisse in voneinander unterschiedenen Gesellschaftsebenen thematisieren, die sich im
Aspekt der Überwachung überkreuzten und synchronisierten. Während die
Überwachung im Bereich des Kapitalismus dem Imperativ der Kostensenkung
und Leistungssteigerung folgte, wurde die Überwachung durch Militär und
Staat zu einem gesetzlich geregelten Recht der Registrierung und Lenkung. In
der Wissenschaft schließlich entwickelte sich die Forderung nach Transparenz
zu einem zentralen, die Wissenschaft selbst konstituierenden Element.
Dementsprechend wurden ausgefeilte Methoden und überprüfbare Untersuchungsverfahren mit dem Ziel der Wahrheitsfindung verknüpft. Die unterschiedlich klassifizierenden Formen der Überwachung wurden in diesen drei
„Laboratorien der Macht“, so Foucault, seit dem 18. Jahrhundert zunehmend
automatisiert, internalisiert und individualisiert.17
Kulturbegriffs. Von der politischen und strategischen Kultur zur Sicherheitskultur, in:
Hans-Jürgen Lange u. a. (Hg.), Dimensionen der Sicherheitskultur, Wiesbaden 2014,
S. 33 – 56, insb. S. 35, S. 37 u. S. 50 – 52.
16 David Lyon, Surveillance Society. Monitoring Everyday Life, Buckingham 2001, S. 2.
17 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 251 – 292, hier S. 263. Die Entstehung des
Konzepts „Panoptikum“ führt Foucault bekanntlich auf die architektonischen Zeichnungen und Briefe des englischen Juristen, Sozialreformers und Philosophen Jeremy
Bentham zurück, der mit dem „Panopticon“ im Jahr 1791 ein Modell-Gefängnis entwarf.
12
Sven Reichardt
Zygmunt Bauman hat in seinem Werk „Flüchtige Moderne“ den Versuch
unternommen, anhand des Denkmodells des Panoptikums aufzuzeigen, dass
sich die alten Überwachungsverhältnisse in der Postmoderne zunehmend
verflüchtigt haben. Machtverhältnisse seien unabhängig von Territorien
geworden und bewegten sich nun mithilfe von elektronischen Signalen, etwa
über das Handy oder im Internet. Diesen gegenwärtigen Zustand der
Überwachungsverhältnisse bezeichnet er als „post-panoptisch“.18 Es gebe
mittlerweile eine synoptische Überwachungsfreude in der hochmodernen
Transparenzgesellschaft, und die dezentralisierten Assemblagen eines Aufmerksamkeitsmonitorings könnten nicht mehr mit dem Modell des Panoptikums erfasst werden.19 Da tendenziell alles von allen überwacht werde, könne
ein reines Objekt der Überwachung nicht mehr identifiziert werden. Immer
wieder ist daher der Begriff des Panoptikums abgewandelt und in neue
Fassungen vom „Pädagopticon“ über das „Polyopticon“ bis zum „Panspectron“ umformuliert worden. Letztlich wurde der Begriff des Panoptikums um
den Begriff der post-disziplinarischen Informationsgesellschaft (Gilles
Deleuze) ergänzt.20
III. Ein kursorischer Forschungsüberblick
Die angloamerikanischen Sozial- und Geisteswissenschaften prägen derzeit
das Feld der Surveillance Studies, welches sich seit den 1990er Jahren durch
Pionierarbeiten von James Rule und Gary T. Marx, David Lyon, Clive Norris
und Kevin D. Haggerty fest etabliert hat.21 Mittlerweile haben sich in vielen
18
19
20
21
Vgl. Jeremy Bentham, The Panopticon Writings, hg. v. Milan Božovič, London 1995;
Oscar Gandy Jr., The Panoptic Sort. A Political Economy of Personal Information,
Boulder 1993.
Bauman, Flüchtige Moderne. Vgl. David Lyon (Hg.), Theorizing Surveillance. The
Panopticon and Beyond, Cullompton 2006.
Vgl. William Bogard, Simulation and Post-Panopticism, in: Kirstie Ball u. a. (Hg.),
Routledge Handbook of Surveillance Studies, London 2012, S. 30 – 37. Allerdings
schrieb Foucault selbst von zunehmend „weichen, geschmeidigen, anpassungsfähigen
Kontrollverfahren“, zit. n. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 271.
Gilles Deleuze, Postscript on the Societies of Control, in: October 59. 1992, S. 3 – 7; Steve
Mann u. a., Sousveillance. Inventing and Using Wearable Computing Devices for Data
Collection in Surveillance Environments, in: Surveillance & Society 1. 2003, S. 331 – 355.
Vgl. William Bogard, The Simulation of Surveillance. Control in Telematic Societies,
New York 1996; Nikolas Rose, Government and Control, in: British Journal of
Criminology 40. 2000, S. 321 – 339 sowie den Beitrag von Sami Coll in diesem Heft.
Vgl. nur folgende Überblickswerke und Handbücher : Ball, Routledge Handbook; Elia
Zureick u. a. (Hg.), Surveillance, Privacy, and the Globalization of Personal Information,
Montreal 2010; Sean P. Hier u. Josh Greenberg (Hg.), Surveillance. Power, Problems, and
Politics, Vancouver 2009; William Staples, Encyclopedia of Privacy, Westport 2007; Sean
P. Hier u. Josh Greenberg (Hg.), The Surveillance Studies Reader, Buckingham 2007;
Katja Franko Aas u. a. (Hg.), Technologies of InSecurity. The Surveillance of Everyday
Life, London 2007; David Lyon, Surveillance Studies. An Overview, Cambridge, MA
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Einführung
13
Ländern mehrere Forschungszentren unterschiedlicher Größe an Universitäten oder Instituten angesiedelt. Als größere, drittmittelgestützte Initiative
wurde der vom kanadischen National Research Council geförderte Verbund
The New Transparency (2008 – 2015) gegründet, der fünfzig Forscher verschiedener Disziplinen aus Kanada, Nord- und Zentralamerika, Japan und
Europa zusammengeführt hat. Das EU-finanzierte Forschungsprogramm
Living in Surveillance Societies (2009 – 2013) mit über einhundert Wissenschaftlern aus 21 verschiedenen Ländern inspirierte ähnliche Initiativen, die
derzeit in Lateinamerika, Australien und Asien im Aufbau begriffen sind. Seit
2002 erscheint zudem die interdisziplinäre Zeitschrift Surveillance & Society,
die im Wesentlichen vom Surveillance Studies Center der kanadischen Queen’s
University in Ontario getragen wird.22
Überwachung, so zeigen die innerhalb und außerhalb dieser institutionellen
Zusammenhänge vorgelegten interdisziplinären Forschungen, fand und findet
keineswegs nur im Feld staatlicher Verwaltung und Bürokratien statt, sondern
auch in großem Umfang in der Wirtschaft: am Arbeitsplatz ebenso wie in der
Konsumentenforschung und der Werbebranche. Im Feld der Sicherheit,
angefangen beim Militär mit der Beobachtung des Kriegsgegners über die
Geheimdienste, die Polizei und den Grenzschutz bis hin zu privaten Sicherheitsfirmen, ist Überwachung ebenso essenziell wie ubiquitär. Von der
Statistik und anderen Technologien der Überwachung reicht das Interesse
über kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Performanzen und Visualisierungsstrategien bis hin zu Selbstdarstellungs- und Identitätsformen in den
sozialen Medien des Internets. Zahlreiche Disziplinen von den Rechtswissenschaften und der Kriminalistik über Politologie und Soziologie, Philosophie
und Psychologie, Medien- und Kommunikationswissenschaften, der Informatik und den Technikwissenschaften bis zu den Wirtschafts-, Bevölkerungsund Gesundheitswissenschaften widmen sich diesem Thema.
Wie sieht im Vergleich zu dieser nur sehr knapp skizzierten Forschungslage in
den Sozial- und Kulturwissenschaften der Forschungsstand in der Geschichtswissenschaft aus? Während in den systematischen Wissenschaften die
Institutionalisierungsprozesse durch drittmittelgestützte, internationale und
interdisziplinäre Forschungsverbünde und Zeitschriftengründungen weit
vorangeschritten sind, existiert eine Historiografie der Überwachung erst in
2007; Torin Monahan, Surveillance and Security. Technological Politics and Power in
Everyday Life, New York 2006; Kevin D. Haggerty u. Richard V. Ericson, The New Politics
of Surveillance and Visibility, Toronto 2006. Für Deutschland bislang: Nils Zurawski
(Hg.), Surveillance Studies. Perspektiven eines Forschungsfeldes, Opladen 2007; ders.
(Hg.), Überwachungspraxen – Praktiken der Überwachung. Analysen zum Verhältnis
von Alltag, Technik und Kontrolle, Opladen 2011; Sandro Gaycken (Hg.), Jenseits von
1984, Bielefeld 2013.
22 Siehe dazu jeweils The New Transparency, http://www.sscqueens.org/projects/the-newtransparency ; Living in Surveillance Societies, http://www.liss-cost.eu/liss-home/latestnews/; Surveillance & Society, http://library.queensu.ca/ojs/index.php/surveillanceand-society/index.
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Sven Reichardt
Ansätzen. Sie wird vornehmlich durch miteinander unverbundene Einzelstudien getragen. Zudem bleiben die meisten Untersuchungen, wie jüngst die
amerikanischen Deutschlandhistoriker S. Jonathan Wiesen und Andrew
Zimmerman in der German Studies Review gezeigt haben, im engeren Feld
der Analyse von staatlichen Institutionen und ihren Sanktionsformen, in der
Analyse von rechtlichen Regelungen der Überwachung und entsprechend
öffentlichen (Legitimations-) Diskursen stecken.23
Während die Intelligence History bereits über einen eigenen Verband und eine
eigene Zeitschrift verfügt,24 steckt die gesellschaftsgeschichtliche Verknüpfung
von Wirtschafts-, Technologie- und Herrschaftsverhältnissen innerhalb der
Überwachungsgeschichte noch in den Kinderschuhen. Am ehesten lassen sich
noch Studien zu den Verbindungen von Politik, (Wohlfahrts-) Staat und
Bevölkerung identifizieren, die den Wandel und die Entwicklung von Repressions-, Macht- und Herrschaftsstrukturen untersuchen.
1. Welfare Surveillance: Inklusion und Exklusion
Überwachen und Erfassen haben keineswegs nur eine exkludierende, sondern
auch eine inkludierende Dimension, die von den Überwachten als Sorgeleistung geschätzt werden kann. Überwachen ist schlichtweg ein Routinevorgang
moderner Verwaltung, welcher für den Aufbau von Aktensystemen und
Datenbanken, und für das Funktionieren ihrer Planungsinstanzen auf entsprechende Wissensbestände aus der Dauerüberwachung ihrer Bevölkerung
angewiesen ist.25 Staatliche Kontrolle und Fürsorge sind mit der Durchsetzung
des modernen Wohlfahrtsstaates unmittelbar verbunden. Insofern ist „welfare
surveillance“, wie die britische Historikerin Toni Weller geschrieben hat,
immer ein zweischneidiges Schwert: „pastoral care of citizens’ health and
23 Special Issue „Surveillance and German Studies“, German Studies Review 38. 2015, H. 2,
hg. v. S. Jonathan Wiesen und Andrew Zimmerman.
24 Die Zeitschrift The Journal of Intelligence History wurde im Jahr 2001 gegründet. Zu der
von Deutschland aus gegründeten Trägerorganisation International Intelligence History
Association (IIHA) siehe http://intelligence-history.org/.
25 Vgl. exemplarisch Oliver Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich
1871 – 1945, Diss. Universität Konstanz 2004; Elia Zureik u. Mark B. Salter (Hg.), Global
Surveillance and Policing, Collumpton 2005; Xavier Crettiez u. Pierre Piazza, Du papier
& la biom-trie. Identifier les individus, Paris 2006; Anil K. Jain u. a. (Hg.), Biometrics.
Personal Identification in Networked Society, New York 2006; Aldo Legnaro, Das Projekt
Biometrie und das Verschwinden der Unschuld, in: Kriminologisches Journal 3. 2008,
S. 179 – 199; Nicolas Quinche u. Pierre Margot, Coulier, Paul-Jean (1824 – 1890). A
Precursor in the History of Fingermark Detection and Their Potential Use for
Identifying Their Source (1863), in: Journal of Forensic Identification 60. 2010,
S. 129 – 134. Zur Geschichte der Biometrie in der Kriminalitätsbekämpfung siehe
Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen
des Kriminellen, München 1999; Colin Beavan, Fingerprints. The Origins of Crime
Detection and the Murder Case that Launched Forensic Science, New York 2001; Miloŝ
Vec, Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik 1879 – 1933,
Baden-Baden 2002.
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Einführung
15
welfare“ ist zugleich auch immer eine gute Rechtfertigung für Kontrolle und
Überwachung, die dem Staat sehr breite Machtressourcen zur Verfügung
stellt.26
Der Historiker James Beniger und der Politikwissenschaftler und Anthropologe James C. Scott haben diese Entwicklungen und Ambivalenzen wohl am
wirkmächtigsten analysiert. Beniger verwies mit seinem 1986 publizierten
Standardwerk „Control Revolution“ auf die moderne Bürokratie mit ihrer
Ordnungs- und Strukturierungsmacht einer seit dem späten 18. Jahrhundert
rationalen und standardisierten, koordinationsstarken und zentralisierten
Verwaltung. Wesentlich an diesem Buch war, dass Beniger die Routineinformationssammlungen und entsprechende Verarbeitungen der staatlichen
Verwaltung in die neuen technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen
der Zeit einbettete. Beniger zeigt zweierlei auf, sowohl die wirtschaftliche
Koordinationsnotwendigkeit als auch die Ermöglichungsstrukturen der Bürokratie.27 Scotts einflussreiches Buch „Seeing Like a State“ von 1998 hat für
den Staat des 20. Jahrhunderts darauf aufmerksam gemacht, dass jedes
Schema von sozialer Ordnung ein totalitäres Potenzial enthält, sofern die
Sozialingenieure und Gesellschaftsplaner in ihrem Gestaltungsfuror die
Verhandlungsbalance verlieren und den Ausgleich mit ihren Bürgerinnen
und Bürgern vernachlässigen.28
Ein Extrembeispiel dieses Ordnungswahns bildete der nationalsozialistische
Staat, der für seine rassistische Politik der Aussonderung und Ausmerze auf
die „Reinigung“ des „Volkskörpers“ mittels Meldekarteien und Standesamtsregistern, Lohnsteuerkarteien und staatlichen Statistiken setzte und diese für
seine Vernichtungspraxis umfangreich nutzte.29 Die erschreckende Effektivität
der Judenvernichtung hing zuweilen mit dem vorherigen Grad der amtlichen
Erfassung der Juden zusammen, wie etwa im Falle der besetzten Niederlande,
die einerseits durch die starke Stellung der SS und der radikalen Parteikräfte in
der Besatzungsverwaltung, andererseits aber auch durch die Kooperationsbereitschaft der niederländischen Behörden geprägt waren. Die umfassende
26 Toni Weller, The Information State. A Historical Perspective on Surveillance, in: Ball,
Routledge Handbook, S. 57 – 63, hier S. 59.
27 James Beniger, Control Revolution. Technological and Economic Origins of the
Information Society, London 1986.
28 James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human
Condition Have Failed, New Haven 1998, hier S. 4.
29 Götz Aly u. Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren,
Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984; Jutta Wietog, Volkszählungen unter
dem Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten
Reich, Berlin 2001 (mit deutlich zurückhaltender Deutung der Verwicklung des
Statistischen Reichsamtes in den Holocaust); Gudrun Exner u. Peter Schimany, Die
Volkszählung in Österreich und die Erfassung der österreichischen Juden, in: Rainer
Mackensen (Hg.), Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 137 – 160.
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Sven Reichardt
Registrierung der in den Niederlanden lebenden Jüdinnen und Juden hatte zu
dem erschreckend hohen Ausmaß der Judenvernichtung beigetragen, die im
westeuropäischen Vergleich ungewöhnlich war.30
2. Hoheitliche Identifizierungen
Dass die Bestimmung einer unverwechselbaren Identifikation älter als der
moderne Staat ist und auch viel älter als der Entwurf einer Staatsangehörigkeit,
hat Valentin Groebner in seinem Buch zu den Steck- und Geleitbriefen, zu den
Erkennungszeichen und zum Passwesen eindrucksvoll aufzeigen können.
Bereits in der Zeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert hat es diverse Identifikations- und Personenbeschreibungssysteme gegeben, auf die daran anschließend die zentralisierte Staatsadministration seit dem 17. Jahrhundert zurückgreifen konnte. Es war mithin ein altes Verlangen nach zweifelsfreier
Identifikation, welches zur „Verdopplung der Person“ führte und dabei auch
den subjektiven Wunsch nach Einmaligkeit und Ausbildung einer „Identität“
nachhaltig beeinflusste. Markierungen, Registrierungen und Identifizierungen, die papierenen Spuren der begrenzten Vervielfältigung durch Verwaltungen, ließen, gerade angesichts der durchsetzungsstarken Verwaltungsapparate der Moderne, die Persönlichkeitsbildungen und -bindungen ihrer
Bürger nicht unberührt: „Identität“, so Groebner, „ist der Versuch, die
Definitionen anderer, wer man sei, zu kontrollieren“.31 Der kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf solcherlei Wechselwirkungen hat sich die
jüngere Forschung eher in den Literatur- und Kulturwissenschaften angenommen.
3. Konsum- und Meinungsforschung sowie Arbeitsplatzkontrollen
Nicht nur beim Staat, sondern auch in der Konsum- und Meinungsforschung
entstanden umfassende Datenmengen, die mit komplexen Auswertungsmethoden bearbeitet wurden. Erstmals lässt sich dies seit den 1920er Jahren
beobachten, gefolgt von einem rasanten Beschleunigungs- und Verwissenschaftlichungsschub in den 1970er Jahren. Zuweilen bediente sich auch
der Staat dieser privatwirtschaftlichen Erhebungen, wie etwa bei den Daten
30 Bob Moore, Victims and Survivors. The Nazi Persecution of the Jews in the Netherlands
1940 – 1945, London 1997; Peter Romijn, The „Lesser Evil“. The Case of Dutch Local
Authorities and the Holocaust, in: ders u. a. (Hg.), The Persecution of the Jews in the
Netherlands, 1940 – 1945, Amsterdam 2012, S. 13 – 26; Peter Romijn, Der lange Krieg der
Niederlande. Besatzung, Gewalt und Neuorientierung in den vierziger Jahren, Göttingen
[2016]. Vgl. auch Gerald D. Feldman u. Wolfgang Seibel (Hg.), Networks of Persecution.
Bureaucracy, Business, and the Organization of the Holocaust, New York 2005.
31 Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im
Mittelalter, München 2004, hier S. 124 u. S. 182.
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Einführung
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von Versicherungen für biopolitische Gesundheitspolitik.32 Konrad Adenauer
und Ludwig Erhard nutzten bekanntlich früh die Ergebnisse der Meinungsforschung des Allensbacher Instituts, als diese noch als Arkanwissenschaft
galt, bevor sie in den 1970er Jahren rasant expandierte.33 Mittlerweile sind
Meinungsforschungsergebnisse öffentliche Güter und daher aus kaum einer
Zeitung, einer Zeitschrift oder einem TV-Politmagazin wegzudenken.34
Die faszinierende Geschichte der modernen Meinungs-, Markt- und Konsumforschung reicht, wie etwa Sarah Igo, Lo0c Blondiaux und Christoph Conrad
eindrucksvoll zeigen konnten, bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück,
mit einem deutlichen Anstieg der wissenschaftlich-quantitativen Erforschung
von Kaufentscheidungen und der Entstehung kommerzieller Marktforschungsinstitute seit den 1930er Jahren.35 Die Sprache der Ordnung, Rationalität und Strukturierung, die nach dem englischen Historiker Edward Higgs
32 Vgl. Stephen J. Collier u. Andrew Lakoff, Health, Security, and New Biological Threats.
Reconfigurations of Expertise, in: Chloe Bird u. a. (Hg.), Handbook of Medical
Sociology, Nashville 20106, S. 363 – 379.
33 Jörg Becker, Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und
Konservatismus, Paderborn 2013; Norbert Grube, Das Institut für Demoskopie
Allensbach und die „Deutschen Lehrerbriefe“ als Instrumente staatsbürgerlicher
Erziehung? Ansprüche und Umsetzungen 1947 bis 1969, in: Jahrbuch für historische
Bildungsforschung 13. 2007, S. 267 – 288.
34 Zur Geschichte der Umfrage- und Meinungsforschung siehe etwa Lo0c Blondiaux, La
fabrique de l’opinion. Une histoire sociale des sondages, Paris 1998; Felix Keller,
Archäologie der Meinungsforschung. Mathematik und die Erzählbarkeit des Politischen, Konstanz 2001; Sarah Igo, The Averaged America. Surveys, Citizens, and the
Making of Mass Politics, Cambridge, MA 2007; Anja Kruke, Demoskopie in der
Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949 – 1990,
Düsseldorf 2007; Kerstin Brückweh, Menschen zählen. Wissensproduktion durch
britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter,
München 2015.
35 Vgl. unter den jüngeren Publikationen in diesem Feld Nils Zurawski, Consuming
Surveillance. Mediating Control Practices Through Consumer Culture and Everyday
Life, in: Andr- Jansson u. Miyase Christensen (Hg.), Media, Surveillance and Identity.
Social Perspectives, New York 2014, S. 32 – 48; Jonathan S. Wiesen, Creating the Nazi
Marketplace. Commerce and Consumption in the Third Reich. Cambridge 2011;
Hartmut Berghoff (Hg.), Marketing-Geschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt 2007; Michael Jäckel (Hg.), Ambivalenzen des Konsums und der
werblichen Kommunikation, Wiesbaden 2007; Minas Samatas, Surveillance in Greece.
From Anticommunist to Consumer Surveillance, New York 2004; Adam Arvidsson, On
the „Pre-History of the Panoptic Sort“. Mobility in Market Research, in: Surveillance &
Society 2. 2004, S. 456 – 474; Clemens Zimmermann, Marktanalysen und Werbeforschung der frühen Bundesrepublik. Deutsche Traditionen und US-amerikanische
Einflüsse, in: Manfred Berg u. Philipp Gassert (Hg.), Deutschland und die USA in der
internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker, Stuttgart
2004, S. 473 – 491; Christoph Conrad, Observer les consommateurs. ðtudes de march- et
histoire de la consommation en Allemagne, des ann-es 1930 aux ann-es 1960, in: Le
Mouvement Social 206. 2004, S. 17 – 39.
18
Sven Reichardt
zentrale Aufgaben der modernen Bürokratie waren, bildete sich somit auch
außerhalb des „Informationsstaates“ aus.36
Auch am Arbeitsplatz stellten Kontrolle und Überwachung der Arbeiterinnen
und Arbeiter sowie der Angestellten wichtige Maßnahmen für die Planbarkeit
und Effizienzsteigerung in der Produktion dar. Zum Instrument für das
Überwachungsregiment avancierte die Zeitkontrolle durch Uhren. Mitte des
19. Jahrhunderts hatten die Arbeitgeber damit begonnen, am Eingang der
Fabrik die Namen der ankommenden Arbeiterinnen und Arbeiter aufzuschreiben. Später gab es die ersten Kontrollsysteme mit Nummernschildern,
die am Eingang an ein Brett gehängt wurden und schließlich gegen Ende des
Jahrhunderts die ersten „Arbeiter-Kontrollapparate“ in den Fabriken. Von E. P.
Thompsons berühmtem Aufsatz zu den Fabrikuhren über die Literatur zu den
Stech- und Stempeluhren bis zu den Chipkarten unserer Tage, die nicht nur
Arbeitszeiten, sondern auch Bewegungsprofile erfassen, existiert eine reichhaltige Literatur.37 Umfangreiche Kontrollen gab es schon in den 1920er
Jahren, wie bei der global agierenden tschechischen Schuhfabrik Bata, in der
sogar die Telefone der Angestellten abgehört wurden.38 Heutzutage könnten
nicht nur Telefongespräche, sondern auch das Online-Verhalten, E-Mails,
Fahrten mit dem Dienstwagen oder Zigaretten- und Toilettenpausen erfasst
und analysiert werden. Je mehr die Arbeit digitalisiert wird, umso leichter und
weitreichender funktionieren Überwachungsmaßnahmen zu Arbeitstempo,
Effizienz, Pünktlichkeit oder Pausenverhalten.
4. Polizei, Denunziation und nachrichtendienstliche Überwachungen
Sichtet man die Arbeiten zu den Organisationsstrukturen von Geheimdiensten
oder zu den rechtlichen Rahmungen von polizeilichen Apparaten, so lassen
sich nur wenige Untersuchungen identifizieren, die über eine traditionelle
Politik- und Institutionengeschichte hinausreichen. Mit der historischen
36 Edward Higgs, The Information State in England. The Central Collection of Information
on Citizens 1500 – 2000, London 2004.
37 Siehe nur: Edward Palmer Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial-Capitalism, in: Past and Present 38. 1967, S. 56 – 97; Hubert Treiber u. Heinz Steinert, Die
Fabrikation der zuverlässigen Menschen. Über die „Wahlverwandtschaft“ von Klosterund Fabrikdisziplin, München 1980; Bernd Flohr, Arbeiter nach Maß. Die Disziplinierung der Fabrikarbeiterschaft während der Industrialisierung Deutschlands im Spiegel
von Arbeitsordnungen, Frankfurt 1981; Werner Siebel, Zeit und Zeitverständnis in der
industriellen Arbeitergesellschaft, in: Uwe Drepper (Hg.), Das Werktor, München, 1991,
S. 86 – 95; Reg Whitaker, Das Ende der Privatheit. Überwachung, Macht und soziale
Kontrolle im Informationszeitalter, München 1999; Gabriela Muri, Pause! Zeitordnung
und Auszeiten aus alltagskultureller Sicht, Frankfurt 2004.
38 Rudolph Phillipp, Der unbekannte Diktator Thomas Baťa, Berlin 1928, S. 362 (hier geht
es um die Verletzung des Postgeheimnisses); Martin Kohlrausch u. Helmut Trischler,
Building Europe on Expertise. Innovators, Organizers, Networkers, London 2014, S. 132
(der Hinweis zur telefonischen Überwachung der Angestellten fand sich nicht in der von
den Autoren angegebenen Quelle).
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Einführung
19
Denunziationsforschung hat sich dagegen in den letzten zwanzig Jahren ein
innovativer Ansatz herausgebildet,39 in dem das Verhältnis sowohl von
Bevölkerung und Polizei als auch von Sicherheit und Bürgerrechten intensiv
diskutiert wurde. Einige Studien zur Denunziationsgeschichte, zunächst im
Nationalsozialismus,40 dann auch im Stalinismus41 und italienischen Faschismus,42 haben sich dabei der foucaultschen Machtanalyse bedient, um die
39 Vgl. als jüngere Überblicksdarstellung Anita Krätzner (Hg.), Hinter vorgehaltener
Hand. Studien zur historischen Denunziationsforschung, Göttingen 2015 mit Beispielen
aus Deutschland (Vormärz, Nationalsozialismus, DDR), der Schweiz in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts und Frankreich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
40 Robert Gellately, The Gestapo and German Society. Enforcing Racial Policy 1933 – 1945,
Oxford 1991; Gisela Diewald-Kerkmann, Politische Denunziation im NS-Regime oder
„Die kleine Macht der Volksgenossen“, Bonn 1995; Gerhard Paul u. Klaus-Michael
Mallmann (Hg.), Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995; Rudolf Schlögl
u. a., Konsens, Konflikt und Repression. Zur Sozialgeschichte des politischen Verhaltens
in der NS-Zeit, in: ders. u. Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Zwischen Loyalität und Resistenz.
Soziale Konflikte und politische Repression während der NS-Herrschaft in Westfalen,
Münster 1996, S. 9 – 30; Eric A. Johnson, Nazi Terror. The Gestapo, Jews and Ordinary
Germans, New York 1999; Gerhard Paul u. Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo
im Zweiten Weltkrieg. Heimatfront und besetztes Europa, Darmstadt 2000; Bernward
Dörner, NS-Herrschaft und Denunziation. Anmerkungen zu Defiziten in der Denunziationsforschung, in: Historical Social Research 26. 2001, S. 55 – 69; Karl-Heinz
Reuband, Denunziation im Dritten Reich. Die Bedeutung von Systemunterstützung und
Gelegenheitsstrukturen, in: Historical Social Research 26. 2001, S. 219 – 234; Robert
Gellately, Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany, Oxford 2002; Eric
Johnson u. Karl-Heinz Reuband, What We Knew. Terror, Mass Murder and Everyday Life
in Nazi Germany. An Oral History, New York 2005; Karl-Heinz Reuband, Das NS-Regime
zwischen Akzeptanz und Ablehnung. Eine retrospektive Analyse von Bevölkerungseinstellungen im Dritten Reich auf der Basis von Umfragedaten, in: GG 31. 2006,
S. 315 – 343; Thomas Roth, „Verbrechensbekämpfung“ und soziale Ausgrenzung im
nationalsozialistischen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten
zwischen Machtübernahme und Kriegsende, Köln 2010, S. 398 – 441.
41 Vgl. exemplarisch Peter Holquist, „Information is the Alpha and Omega of Our Work“.
Bolshevik Surveillance in Its Pan-European Context, in: Journal of Modern History 69.
1997, S. 415 – 450; Sheila Fitzpatrick, Signals from Below. Soviet Letters of Denunciation
of the 1930s, in: dies. u. Robert Gellately (Hg.), Accusatory Politics. Denunciation in
Modern European History 1789 – 1989, Chicago 1997, S. 85 – 120; Golfo Alexopoulos,
Victim Talk. Defense Testimony and Denunciation Under Stalin, in: Law & Social
Inquiry 24. 1999, S. 637 – 654; Jörg Baberowski, „Die Verfasser von Erklärungen jagen
den Parteiführern einen Schrecken ein“. Denunziation und Terror in der stalinistischen
Sowjetunion 1928 – 1941, in: Friso Ross u. Achim Landwehr (Hg.), Denunziation und
Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens, Tübingen 2000,
S. 165 – 198; Amir Weiner, Getting to Know You. The Soviet Surveillance System
1939 – 57, in: Kritika 13. 2012, S. 5 – 45; Orlando Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins
Russland, Berlin 2008; Themenheft „Rumours and Dictatorship“, Journal of Modern
European History 10. 2012, H. 3, hg. v. Jörg Baberowski u. a.
42 Mimmo Franzinelli, Delatori. Spie e confidenti anonimi. L’arma segreta del regime
fascista, Mailand 2002; Mauro Canali, Le spie del regime, Bologna 2004; Amedeo Osti
Guerrazzi, Caino a Roma. I complici romani della Shoah, Rom 2005; ders., Die
ideologischen Ursprünge der Judenverfolgung in Italien. Die Propaganda und ihre
Wirkung am Beispiel Roms, in: Lutz Klinkhammer, ders. u. Thomas Schlemmer (Hg.),
20
Sven Reichardt
Verkopplung von Freiheits- und Unterwerfungspraktiken und das Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft zu analysieren. Die diktatorischen
Staaten nutzten Emotionen und Gefühle wie Eifersucht, Neid, Rachsucht,
Gewinnstreben oder Profilierungsgehabe in der Bevölkerung für ihre Unterdrückungsregime aus. Sie perfektionierten eine Herrschaftstechnik, indem sie
ihre Staatsbürger am Repressionsregime beteiligten. Der U. S.-amerikanische
Historiker Robert Gellately hat bereits zu Beginn der 1990er Jahre im Rahmen
seiner Forschungen zur Gestapo auf die grassierende Denunziationsbereitschaft der deutschen Bevölkerung hingewiesen, sodass er den Nationalsozialismus als eine „sich selbst überwachende Gesellschaft“ beschrieb.43 Sechzig
bis siebzig Prozent der Verhaftungen der Gestapo lassen sich auf eine
Denunziation zurückführen, ein Umfang, der übrigens auch in vielen
Demokratien erreicht wird.44 Nach Gellatelys Deutung genoss der diktatorische Terrorapparat, eben weil er sich scheinbar selektiv gegen einzelne
Minderheiten richtete, breite gesellschaftliche Unterstützung.
In der reichhaltigen Literatur über die umfassenden Überwachungssysteme in
stalinistischen und sozialistischen Gesellschaften wird die vom Herrschaftssystem letztlich nicht mehr zu überschauende und zu bändigende Informationsfülle hervorgehoben. Der sowjetische Geheimdienst KGB durchdrang die
gesamte Gesellschaft und instrumentalisierte und funktionalisierte dabei auch
nachbarschaftliche Beobachtungen für seine politische Überwachung. Diese
herkömmliche Verhaltensformen nutzende Überwachungstechnik wurde im
Übrigen auch noch nach 1991 praktiziert.45
Unüberschaubar ist auch die Literatur zum Ministerium für Staatssicherheit
und seinen inoffiziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der DDR. Die
Deutungskontroverse, an welcher Stelle zwischen den idealtypischen Extrempolen von staatlich-parteilicher „Durchherrschung“ (Kocka) einerseits und
der Existenz einer „Nischengesellschaft“ (Gaus) andererseits die Effekte der
Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939 – 1945, Paderborn 2010,
S. 434 – 455; Frauke Wildvang, Der Feind von nebenan. Judenverfolgung im faschistischen Italien 1936 – 1944, Köln 2008; dies., Kein „Tee mit Mussolini“, in: Petra
Terhoeven (Hg.), Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010, S. 61 – 85; Michael Ebner, Ordinary Violence in
Mussolini’s Italy, Cambridge 2011, insb. S. 239 – 258.
43 Robert Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Zur Entstehungsgeschichte
einer selbstüberwachenden Gesellschaft, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.),
Anpassung, Verweigerung, Widerstand. Soziale Milieus, Politische Kultur und der
Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im regionalen Vergleich,
Berlin 1997, S. 109 – 121.
44 Vgl. Karl-Heinz Reuband, Denunziation im Dritten Reich. Die Bedeutung von
Systemunterstützung und Gelegenheitsstrukturen, in: Historical Social Research 26.
2001, S. 219 – 234; ders., Das NS-Regime zwischen Akzeptanz und Ablehnung. Eine
retrospektive Analyse von Bevölkerungseinstellungen im Dritten Reich auf der Basis
von Umfragedaten, in: GG 31. 2006, S. 315 – 343.
45 Siehe Mark MacKinnon, You’re Being Watched by „Big Babushka“, in: The Globe and
Mail, 22. 10. 2003, S. A3.
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Einführung
21
staatlichen Dauerüberwachung einzuordnen sind, haben diese Untersuchungen noch nicht endgültig entscheiden können.46
Die „subjektkonstituierende Bedeutung von Denunziationen“ wurde mittlerweile auch für Demokratien analysiert.47 Der Kölner Historiker Olaf Stieglitz
zeigt an der U. S.-amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie die
„Genese des modernen Staates“ mit der „Genealogie des modernen Subjektes“
verbunden war. Er demonstriert, wie sich polizeiliche Überwachung und
Wachsamkeit des Einzelnen als Arten des Sehens und Sprechens miteinander
verbanden:
Instanzen, die zu Denunziationen aufrufen, bieten eine ,Angebotsstruktur‘ – Gesetze,
Verordnungen, Aufrufe und Fahndungsplakate –; daneben gelangen zwei weitere Aspekte in
den Blick: zum einen die selbsttechnische Arbeit einzelner Individuen oder Gruppen, diesen
Vorgaben entweder möglichst gut zu entsprechen oder sich ihnen möglichst umfassend zu
entziehen. Und zum anderen das Bedürfnis, das Begehren, diese Handlungsfreiheit zu
dokumentieren und zu kommunizieren, sie gerade in einem liberalen System des Aushandelns als freiheitlichen Akt einzuschreiben.48
Den vergleichenden Analysen zur Denunziationspraxis in unterschiedlichen
politischen Regimetypen, in verschiedenen Kulturen und institutionellen
Arrangements wird die Zukunft dieser produktiven Forschungsrichtung
gehören.
Ähnlich fruchtbar war die Auswertung der Abhörprotokolle der angloamerikanischen Alliierten, die seit 1939 spezielle Internierungslager eingerichtet hatten, in denen deutsche und italienische Kriegsgefangene über
versteckte Mikrofone heimlich belauscht wurden. Auf rund 150.000 Seiten
waren die Gespräche mehrerer Tausend gewöhnlicher Soldaten gesammelt und
aufgezeichnet worden: neben der Zensur in Feldpostbriefen eine herausra46 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble u. a. (Hg.),
Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547 – 553; Günter Gaus, Wo Deutschland
liegt. Eine Ortsbestimmung, Stuttgart 1983, S. 156 – 233. Da die umfangreiche Literatur
zum Ministerium für Staatssicherheit in einer Fußnote nicht darstellbar ist, sei hier nur
(mit der älteren Literatur darin) verwiesen auf Jens Gieseke, Die Stasi. 1945 – 1990,
München 2011; Siegfried Suckut, Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur
politisch-operativen Arbeit, Berlin 2012; Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013; ders. u. Arno Polzin, Fasse Dich
kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren
und das Ministerium für Staatssicherheit, Göttingen 2014.
47 Olaf Stieglitz, Undercover. Die Kultur der Denunziation in den USA, Frankfurt 2013,
S. 40; vgl. Sheila Fitzpatrick u. Robert Gellately (Hg.), Accusatory Politics. Denunciation
in Modern European History 1789 – 1989, Chicago 1997; Friso Ross u. Achim Landwehr
(Hg.), Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens,
Tübingen 2000; Inge Marszolek u. Olaf Stieglitz (Hg.), Denunziation im 20. Jahrhundert. Zwischen Komparatistik und Interdisziplinarität, Köln 2001; Karol Sauerland,
Dreißig Silberlinge. Das Phänomen Denunziation, Frankfurt 2012.
48 Stieglitz, Undercover, S. 43.
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gende Quelle für die Analyse der Meinungen von Soldaten und des kommunikativen Kitts von Kameradschaftsverhältnissen.49
Für die Bundesrepublik hat Josef Foschepoth eine detailreiche Studie zum
Post- und Fernmeldeverkehr in der alten Bundesrepublik vorgelegt und dabei
auf den riesigen Umfang von Überwachungsverfahren hingewiesen. Er kann
zeigen, wie früh die Nachrichtendienste des Bundes und der Siegermächte
einen großen, effizienten und effektiven Überwachungsstaat auf- und ausgebaut hatten, der auch nach den Pariser Verträgen von 1955 bis zum Ende der
alten Bundesrepublik weitergeführt wurde. Allein zwischen 1955 und 1968
wurden einhundert Millionen Postsendungen beschlagnahmt und größtenteils vernichtet. Der Erlass entsprechender gesetzlicher Maßnahmen wurde
still und leise an den öffentlichen Debatten vorbeigeschleust. Ähnliches gilt für
die Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Telefonaten bis zu Fernschreiben und Telegrammen. Vor allem die USA haben die Kommunikation nahezu
exzessiv überwacht.50 Das große Wachstum der Geheimdienste im Kalten
Krieg als auch danach sowie die Technisierung ihrer Tätigkeit und ihre
Nutzung von modernen Kommunikationsmitteln wird in der künftigen
Forschung eine große Rolle spielen.
Erste Aufsätze und Studien der vor einigen Jahren eingerichteten Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes,
des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz
zeigen zunächst, dass die personellen Kontinuitäten zwischen dem NS-Regime
und der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre hinein hoch waren.51 Überall
kam es zu cliquenhaften Verdichtungen und Klientelbildungen, ohne dass
damit notwendigerweise organisatorische Fortschreibungen oder Kontinuitäten in den Arbeitsmethoden verknüpft gewesen wären. Zur Zeit dominieren
49 Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2014, hier S. 21 – 24;
Sönke Neitzel u. Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben,
Frankfurt 2011; Amedeo Osti Guerrazzi, Noi non sappiamo odiare. L’esercito italiano
tra fascismo e democrazia, Turin 2010.
50 Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der
alten Bundesrepublik, Göttingen 2012. Vgl. Kevin D. Haggerty u. Minas Samatas (Hg.),
Surveillance and Democracy, Oxon 2010.
51 Die personellen Kontinuitäten waren vor allem in BND und BKA stark ausgeprägt.
Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 – 1968 (Hg.), Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND
1945 – 1968. Umrisse und Einblicke – Dokumentation der Tagung am 2. Dezember 2013,
Marburg 2014; Klaus-Dietmar Henke, Zur innenpolitischen Rolle des Auslandsnachrichtendienstes in der Ära Adenauer, in: APuZ 18 / 19. 2014, S. 32 – 36. Alle BKABerichte der Kommission finden sich online unter Projekt „BKA-Historie“, http://www.
bka.de/DE/DasBKA/Historie/ProjektBKAHistorie/projektBKAHistorie__node.
html?__nnn=true. Zum Bundesamt für Verfassungsschutz siehe den Zwischenbericht,
https://www.verfassungsschutz.de/de/das-bfv/; Constantin Goschler u. Michael Wala,
„Keine neue Gestapo“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015. Vgl. auch die Website des Gesprächskreises Nachrichtendienste in
Deutschland e. V., http://www.gknd.de/.
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Einführung
23
in diesem Feld – neben rechtswissenschaftlichen Arbeiten zu Formen und
Problemen der demokratischen Steuerung von Geheimdiensten – biografische
Studien, Arbeiten zu Institutionalisierungsstrukturen und zur Bedeutung von
Netzwerken, Seilschaften und Patronagebeziehungen oder aber kulturwissenschaftliche Arbeiten zu den Imaginationen von Geheimdiensttätigkeiten in
Literatur, Kunst und Medien.52
Eng mit der Geschichte des Bürgertums ist die Geschichte des Privatdetektivs
und des private investigator verbunden. Ausgerechnet in Frankreich, und
nicht in England, wurde mit dem Bureau des Renseignements Universels pour
le commerce et l’Industrie von Eug*ne FranÅois Vidocq im Jahr 1833 erstmals
eine solche Unternehmung nachgewiesen. Der Berufszweig der Privatermittler, der sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert in Westeuropa entwickelte, hing
mit dem Ausbau der Privatsphäre, der Spionage von Industriegeheimnissen
und der Kultur des Wegschauens in der Geschichte des Bürgertums zusammen. In den USA, Australien und mehreren afrikanischen Staaten übernahmen die frühen Privatdetekteien des 19. Jahrhunderts bekanntlich eher
Polizeifunktionen, da es dort nur schwach ausgeprägte staatliche Gewaltmonopole gab.53
52 Vgl. etwa Christopher Andrew u. a. (Hg.), Secret Intelligence. A Reader, London 2008;
Charmian Brinson u. Richard Dove, A Matter of Intelligence. MI5 and the Surveillance of
Anti-Nazi Refugees 1933 – 50, Manchester 2014; Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat,
Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt 2007; James Smith, British Writers and MI5
Surveillance 1930 – 60, Cambridge 2012; Hannes Mangold, Zur Kulturgeschichte des
Polizeicomputers. Fiktionale Darstellungen der Rechenanlage im Bundeskriminalamt
bei Rainald Goetz, F. C. Delius und Uli Edel, Zürich 2014; Patrick Wagner, Ehemalige SSMänner am „Schilderhäuschen der Demokratie“? Die Affäre um das Bundesamt für
Verfassungsschutz 1963 / 64, in: Gerhard Fürmetz u. a. (Hg.), Nachkriegspolizei.
Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945 – 1969, Hamburg 2001,
S. 169 – 198; Bernd Stöver, Der Fall Otto John. Neue Dokumente zu den Aussagen des
deutschen Geheimdienstchefs gegenüber MfS und KGB, in: VfZ 47. 1999, S. 103 – 136;
Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das BKA, München 2000. Zu den
rechtswissenschaftlichen Arbeiten siehe nur Christoph Gröpl, Die Nachrichtendienste
im Regelwerk der deutschen Sicherheitsverwaltung. Legitimation, Organisation und
Abgrenzungsfragen, Berlin 1993; Wolbert K. Smidt, Geheimhaltung und Transparenz.
Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich, Berlin 2007;
Stefanie Waske, Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und
Regierung 1955 – 1978, Wiesbaden 2009.
53 Clive Emsley u. Haia Shpayer-Makov, Police Detectives in History 1750 – 1950, Aldershot
2006; Dominique Kalifa, Naissance de la police priv-e. D-tectives et agences de
recherches en France 1832 – 1942, Paris 2000; Gerhard Feix, Das große Ohr von Paris.
Fälle der S'ret-, Berlin 1979. Aus der reichhaltigen Literatur zum Vigilantismus siehe
nur Roger D. McGrath, Gunfighters, Highwaymen and Vigilantes. Violence on the
Frontier, Berkeley 1987; Robert P. Ingalls, Urban Vigilantes in the New South. Tampa
1882 – 1936, Knoxville 1988; Les Johnson, What is Vigilantism?, in: British Journal of
Criminology 36. 1996, S. 220 – 236; Ray Abrahams, Vigilante Citizens. Vigilantism and
the State, Cambridge 1998; William D. Carrigan, The Making of Lynching Culture.
Violence and Vigilantism in Central Texas 1836 – 1916, Urbana 2004; David T. Pratten
(Hg.), Global Vigilantes. Perspectives on Justice and Violence, New York 2007; William
24
Sven Reichardt
Die computertechnische Überwachung, die seit den 1970er Jahren in der
Polizei und bei den Geheimdiensten eingeführt wurde, resultierte in einem
tiefen Einschnitt in der Geschichte der Überwachung: Die neuen Datenbanken
wurden schnell in einem bis dato ungeahnten Ausmaß mit den aus der
Kybernetik entlehnten Modellen verzahnt. Bereits 1968 formulierte der spätere
BKA-Chef Horst Herold als Polizeipräsident von Nürnberg in einem Aufsatz
über die „organisatorischen Grundzüge der elektronischen Datenverarbeitung
im Bereich der Polizei“ seine zu dieser Zeit noch visionären Vorstellungen:
Auch brauchen die ,Sätze‘ nicht auf einmal gewonnen zu werden; die können vielmehr im
Laufe eines Lebens von der Geburtsurkunde über die Schulimpfung, als Zeugnis und über
die Lehre bis zur Eheschließung, Straffälligkeit oder sonstigen markanten Lebensabschnitten entstehen, so wie sie jetzt schon aufgespalten auf eine unübersehbare Vielfalt von
Behörden, Ämtern, Institutionen, Schulen, Betrieben entstanden und dort archiviert sind.54
Das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, welches das Bundesverfassungsgericht im Dezember 1983 nach den Protesten gegen die Volkszählung
dieses Jahres im sogenannten „Volkszählungsurteil“ als Grundrecht anerkannt
hat, war auch eine Reaktion auf die ersten Erfahrungen mit der Vorfeldermittlung der Polizei qua Rasterfahndung seit den späten 1970er und frühen
1980er Jahren.55
D. Carrigan, Lynching Reconsidered. New Perspectives in the Study of Mob Violence,
New York 2008; Thomas G. Kirsch u. Tilo Grätz (Hg.), Domesticating Vigilantism in
Africa, Woodbridge 2010.
54 Horst Herold, Organisatorische Grundzüge der Datenverarbeitung im Bereich der
Polizei. Versuch eines Zukunftsmodells, in: Taschenbuch für Kriminalisten 18. 1968,
S. 240 – 254; Birgit Seiderer, Horst Herold und das Nürnberger Modell 1966–1971. Eine
Fallstudie zur Pionierzeit des polizeilichen EDV-Einsatzes in der Reformära der
Bundesrepublik, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 91.
2004, S. 317 – 350; Lea Hartung, Kommissar Computer. Horst Herold und die Virtualisierung des polizeilichen Wissens, 2010, http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000005003.
55 Reinhard Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, Köln 19922 ; Christoph
Gusy, Rasterfahndung nach Polizeirecht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 85. 2002, S. 474 – 490; Sönke Hilbrans, Grundlage und
Problematik der Rasterfahndung, in: Nils Leopold u. a. (Hg.), Innere Sicherheit als
Gefahr, Berlin 2003, S. 268 – 285; Marion Albers, Informationelle Selbstbestimmung,
Baden-Baden 2005; Matthew G. Hannah, Dark Territory in the Information Age.
Learning From the West German Census Controversies of the 1980s, Burlington 2010;
Larry Frohman, Datenschutz, the Defense of Law, and the Debate Over Precautionary
Surveillance. The Reform of Police Law and the Changing Parameter of State Action in
West Germany, in: German Studies Review 38. 2015, S. 307 – 327. Noch bis in unsere
Tage reichen die Gerichtsurteile in dieser Sache. Im Jahr 2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht die präventive polizeiliche Rasterfahndung in Nordrhein-Westfalen
für verfassungswidrig, sofern diese nur auf Grundlage einer „allgemeinen
Bedrohungslage“ geschehe, siehe BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 4. April
2006. 1 BvR 518 / 02 - Rn. (1–184) (1 BvR 518 / 02), http://www.bverfg.de/entscheidun
gen/rs20060404_1bvr051802.html. Mittlerweile hat, bis auf drei Bundesländer, jede
Landespolizei die Rasterfahndung eingeführt. Unter der Maßgabe bundesdeutscher
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Einführung
25
5. Identifizieren: Pass, Biometrie, Videoüberwachung
Ein weites und wichtiges Feld in der geschichtswissenschaftlichen Forschung
ist die Geschichte von Identifizierungspapieren und anderen staatlichen
Techniken der Identifikation von Personen – beginnend beim portrait parl#
Alphonse Bertillons, Kriminalfotografien und der Daktyloskopie des 19. Jahrhunderts bis zu den computertechnisch verarbeitbaren biometrischen Erfassungsmethoden und Videoüberwachungen unserer Zeit.56 Die moderne
Staatsbürgerschaft wurde erstmals, wie der französische Historiker G-rard
Noiriel wohl am eindrucksvollsten gezeigt hat, mit der zentralen Erfassung
und der direkten administrativen Personenerfassung und dem staatlichen
Aufschreibesystem des "tat civil von 1792 durchgesetzt.57
Diese lange Tradition reicht bis zum weltweiten Siegeszug der dezentralisierten
Videoüberwachung in öffentlichen und vor allem in kommerziellen Räumen
unserer Tage. Obwohl bereits in den 1970er Jahren als Closed Circuit Television
(CCTV) in England eingeführt, boomt der Verkauf von Videoüberwachungssystemen in den USA, Polen oder China erst seit rund zwanzig Jahren. Die
Absatzmärkte der im Jahr 2014 weltweit rund 15 bis 16 Milliarden U. S.-Dollar
schweren Industrie für Überwachungskameras wachsen weiter, mit zweistelligen Wachstumsraten – gerade in den wohlhabenden Zonen der USA und
Südamerikas, Europas und Asiens. Dieser Siegeszug ist deswegen bemerkenswert, weil bei dieser Überwachungsform vielfach nachgewiesen werden
konnte, dass die tatsächliche nachträgliche Aufklärungsquote von Verbrechen
sehr gering ist und weit hinter dem Glauben der Bevölkerungen an deren
Rechtsprechung bedarf jede Verknüpfung personenbezogener Daten für Zwecke Dritter
der Zustimmung dieser Personen. Aufgrund dieser Rechtslage werden in den globalen
sozialen Medien wie Facebook Standardvereinbarungen eingefordert, die zwischen den
Beteiligten getroffen werden und damit als ausdrückliche Zustimmung der Beteiligten
die Weiterverarbeitung dieser Daten erlauben.
56 Siehe dazu die Literatur in den Fußnoten 25 und 71.
57 G-rard Noiriel, L’identification des citoyens. Naissance de l’-tat civil r-publicain, in:
Gen*ses 13. 1993, S. 3 – 28. Einen sehr guten Überblick bietet John Torpey u. Jane Caplan
(Hg.), Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the
Modern World, Princeton 2001. Vgl. unter den vielen Forschungen zum modernen
Ausweis- und Passwesen nur G-rard Noiriel, Surveiller les d-placements ou identifier les
personnes? Contribution ( l’histoire du passeport en France de la Ie & la IIIe R-publique,
in: Gen*ses 30. 1998, S. 77 – 100; John Torpey, The Invention of the Passport.
Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000; Andreas Fahrmeir, Citizens
and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and in the German States 1789 – 1870,
Oxford 2000; Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung
der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland,
Göttingen 2001; Martin Lloyd, The Passport. The History of Man’s Most Travelled
Document, London 2003; G-rard Noiriel u. Ilsen About (Hg.), L’identification. Gen*se
d’un travail d’-tat, Paris 2007; Stephen Collier u. Andrew Lakoff, Distributed Preparedness. Notes on the Genealogy of „Homeland Security“, in: Space and Society 26. 2008,
S. 7 – 28; David Lyon, Identifying Citizens. ID Cards as Surveillance, Cambridge 2009;
Paul-Andr- Rosental, Civil Status and Identification in Nineteenth-Century France. A
Matter of State Control?, in: Proceedings of the British Academy 179. 2012, S. 137 – 165.
26
Sven Reichardt
Sicherheitsversprechen zurückbleibt.58 Ständige Sichtbarkeit und umfassende
Kontrolle durch Videoüberwachungssysteme und das weitgehende Einverständnis mit dieser Überwachung sind weltweit betrachtet neuartige Phänomene. Großbritannien hat aktuell immer noch die meisten Überwachungskameras pro Kopf: Zählt man die britischen Überwachungskameras in
Verkehrsmitteln wie Bus, U-Bahn und Taxis, in Einkaufszentren, Parkanlagen
und Fitnessstudios, in Banken und auf öffentlichen Straßen zusammen, so
kommt auf jeden 14. Bewohner eine Kamera, in Sekundarschulen ist es
durchschnittlich eine Kamera pro fünf Schüler. Ähnlich entwickeln sich
derzeit die Überwachungsarchitekturen in den städtischen Ballungszentren
Chinas und Brasiliens.59
Die Analyse solcher Techniken zeigt, dass es nicht nur Daten sind, sondern
immer auch der Körper, der ein wichtiges Medium der Überwachung ist. Die
aktuellen Überwachungstechniken sind mit Migrations- und Verwissenschaftlichungsprozessen in den europäischen Kolonien des 19. Jahrhunderts
vergleichbar, wie die Postcolonial Studies zeigen konnten. Daniel Brückenhaus
verdeutlicht das in diesem Heft am Beispiel Kenias, indem er die Bedeutung
der Daktyloskopie für Kontrolle und Herrschaft im britischen Ostafrika
zwischen 1900 und 1960 herausstellt. Wie in Kenia die Bewegungsprofile der
Arbeiter auch innerhalb des Landes überwacht wurden, so werden die Körper
von Migrantinnen und Migranten in den gegenwärtigen Grenzkontrollpraxen
58 Vgl. Nicholas R. Fyfe, City Watching. Closed Circuit Television Surveillance in Public
Spaces, in: Area 28. 1996, S. 37 – 46; Clive Norris u. Gary Armstrong, The Maximum
Surveillance Society. The Rise of CCTV, Oxford 1999; Jason Ditton, Crime and the City.
Public Attitudes Towards Open-Street CCTV in Glasgow, in: British Journal of
Criminology 40. 2000, S. 692 – 709; Pete Fussey, New Labour and New Surveillance.
Theoretical and Political Ramifications of CCTV Implementation in the UK, in:
Surveillance & Society 2. 2004, S. 251 – 269; Benjamin J. Goold, CCTV and Policing.
Public Area Surveillance and Police Practices in Britain, Oxford 2004; William R.
Webster, The Diffusion, Regulation and Governance of Closed-Circuit Television in the
UK, in: Surveillance & Society 2. 2004, S. 230 – 250; Leon Hempel u. Jörg Metelmann
(Hg.), Bild-Raum-Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt 2005; Kevin D. Haggerty u. Richard V. Ericson, The New Politics of
Surveillance and Visibility, Toronto 2006; Dietmar Kammerer, Bilder der Überwachung,
Frankfurt 2008; Aaron Doyle u. a. (Hg.), Eyes Everywhere. The Global Growth of Camera
Surveillance, Oxon 2012; Fredrika Björklund u. Ola Svenonius (Hg.), Video Surveillance
and Social Control in a Comparative Perspective, New York 2013; Jan Abt u. a. (Hg.),
Dynamische Arrangements städtischer Sicherheit. Akteure, Kulturen, Bilder, Wiesbaden 2015. Im Internet siehe unter vielen anderen nur folgende Seiten Safer Cities,
http://www.nec.com/en/global/ad/campaign/publicsafety/pdf/SaferCitiesWhitePaper.
pdf; Urban Eye, www.urbaneye.net und Leon Hempel u. Eric Töpfer, Urban Eye Working
Paper No. 15. Final Report – CCTV in Europe, http://www.urbaneye.net/results/ue_
wp15.pdf.
59 Priya Basil, Jetzt mal unter vier Augen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 7. 2014,
S. 9; Pete Fussey u. Jon Coaffee, Urban Spaces of Surveillance, in: Ball, Routledge
Handbook, S. 201 – 208; Teresa P. R. Caldeira, City of Walls, Crime, Segregation, and
Citizenship in S¼o Paulo, Berkley 2000.
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Einführung
27
in Europa nicht nur an der Grenze selbst oder in Grenzräumen wie dem
Mittelmeer erfasst, sondern auch im Inneren des Zuwanderungslandes
kontrolliert, wie diverse ethnologische und soziologische Studien zeigen
konnten.60 Biometrische Erfassung und Speicherung in europaweiten Datenbanken gehören derzeit zu den Standardprozeduren, denen sich Flüchtlinge
sowie Migrantinnen und Migranten ohne gültigen Pass unterziehen müssen.61
6. Geschichte der Datenbanken
Während über die Geschichte der Lochkarten einige gute Studien vorliegen,62 ist die Geschichte der Datenbanken seit der „Kathedrale“ des
britischen Mathematikers und Informatikers Alan Turing aus den 1930er
Jahren, welcher die Begriffe des Algorithmus und der Berechenbarkeit
mathematisch fassbar machte, erst in Ansätzen erforscht. Die Kinderschuhe des Computers und der Codierungen im Princeton Institute for
Advanced Studies wurden zwar in den Blick genommen,63 aber die Idee,
eine Softwareschicht zwischen Betriebssystem und Anwendungsprogramm einzurichten, um Daten flexibel zu verwalten, hat erst seit den
1960er Jahren mit den relationalen Datenbanksystemen von IBM einen
kometenhaften Aufstieg genommen.64 Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Kevin Driscoll hat in seinen Studien zur Genealogie der
Verarbeitung großer Datenmassen drei sozialhistorisch konturierte Perioden unterschieden : Während in der Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis
zu den 1970er Jahren zunächst Lochkartensysteme und seit den 1950er und
1960er Jahren Zentralrechner die massenhafte Verarbeitung von Informa60 Siehe nur Saskia Sassen, Territory – Authority – Rights. From Medieval to Global
Assemblages, Princeton 2006, insb. S. 378 – 424; Martin Lemberg-Pedersen, Private
Security Companies and the European Borderscapes, in: Thomas Gammeltoft-Hansen
u. Ninna Nyberg Sørensen (Hg.), The Migration Industry and the Commercialization of
International Migration, London 2013, S. 152 – 172; Gregory Feldman, The Migration
Apparatus. Security, Labor, and Policymaking in the European Union, Stanford 2012;
Sabine Hess u. Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen
in Europa, Berlin 2010; David Wright u. Reinhard Kreissl (Hg.), Surveillance in Europe,
New York 2015; Stefan Kaufmann, Grenzregimes im Zeitalter globaler Netzwerke, in:
Helmuth Berking (Hg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt
2006, S. 32 – 65.
61 Miltiades Oulios, Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne
geblieben wären, Berlin 2013; Serhat Karakayali, Gespenster der Migration. Zur
Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008.
62 William Aspray (Hg.), Computing Before Computers, Ames 1990; Geoffrey D. Austrian,
Herman Hollerith. Forgotten Giant of Information Processing, New York 1982.
63 George Dyson, Turings Kathedrale. Die Ursprünge des digitalen Zeitalters, Berlin 2014,
[englisches Original 2012].
64 Vgl. Jon Agar, The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer,
Cambridge, MA 2003; Martin Campbell-Kelly u. William Aspray, Computer. A History
of the Information Machine, Boulder 20042 ; David Gugerli, Suchmaschinen. Die Welt als
Datenbank, Frankfurt 2009.
28
Sven Reichardt
tionen erlaubten, die zentralisiert und an bestimmten, abgegrenzten Orten
erhoben wurden, wandelte sich seit den späten 1970er Jahren diese
organisatorische Logik grundlegend. Mit der massenhaften Verbreitung
des dezentralisierten Personal Computers und dem vielfachen Aufbau
kleinerer Datenmengen verband sich eine Pluralisierung und Mobilisierung in der sozialen Organisation des Wissens. Mit der Verbreitung des
Internets und entsprechender Browserprogramme seit den späten 1990er
Jahren wurden veränderte Formen von Zentralisierungsprozessen möglich : „[T]he demanding task of tracking millions of users through highlycentralized communication systems such as Facebook brought about new
approaches to database design that departed significantly from the
previous decades“.65
7. Überwachung im Informationszeitalter
Mit den wachsenden technischen Möglichkeiten des Informationszeitalters
weiteten sich die Überwachungssysteme in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft
immer weiter aus. Je ausgefeilter diese Erfassungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten wurden, desto machtvoller wirkten sie in soziale Verhältnisse ein.
Dass heutzutage Google oder Facebook unsere Daten an Werbetreibende und
Händler verkaufen, die uns deswegen ausspähen können, dass in Zeiten von
Big Data und Big Tech Datenvernetzungen zwischen Banken, Versicherungen
und der Werbewirtschaft zu Bedrohungen einer freiheitlichen Gesellschaft
werden, wird gegenwärtig von vielen Beobachterinnen und Beobachtern
kritisch bewertet.66
Zeitgleich zu der Ausbreitung von Überwachungsformen kommt es aber auch
zu neuen Formen der Selbstüberwachung in den sozialen Medien, zu
65 Kevin Driscoll, From Punched Cards to „Big Data“. A Social History of Database
Populism, in: Communication +1 1. 2012, S. 1 – 33, hier S. 7, http://scholarworks.umass.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1006&context=cpo.
66 Vgl. nur (mit weiterführenden Literaturhinweisen) Heinrich Geiselberger u. Chris
Anderson, Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit. Berlin 2013; Viktor
Mayer-Schönberger u. Kenneth Cukier, Big Data. A Revolution that Will Transform How
We Live, London 2013; Ball, Routledge Handbook; Ram,n Reichert (Hg.), Big Data.
Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld 2014. Siehe
auch Christoph Kolodziejski, Tagungsbericht zu: Big Data in a Transdisciplinary
Perspective. Herrenhäuser Konferenz 25. 03. 2015 – 27. 03. 2015, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=6084. Zur Diskussion in der Geschichtswissenschaft siehe nur Jo Guldi u. David Armitage, The History Manifesto, http://
historymanifesto.cambridge.org/ und die überzeugende Kritik von Peter Mandler u.
Deborah Cohen, The History Manifesto. A Critique, in: American Historical Review 120.
2015, S. 530 – 542 sowie die Antikritik von David Armitage u. Jo Guldi, The History
Manifesto. A Reply to Deborah Cohen and Peter Mandler, in: American Historical
Review 120. 2015, S. 543 – 554. Die neuen Datenmengen und ihre komplexe Auswertung
erlauben, so ist in aktuellen sozialwissenschaftlichen Studien nachzulesen, mittlerweile
nicht nur die Vorhersage von künftigen Wahlentscheidungen oder Finanztrends,
sondern auch von Protestbewegungen und Wirtschaftskrisen.
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Einführung
29
Zurschaustellungen des Intimen in Trash-Talkshows und Reality-Serien, in
denen Privatheit geringer geschätzt wird als die öffentliche Inszenierung des
Selbst und seiner Sozialbeziehungen.67 Löst sich damit die bürgerliche Sorge
um sich selbst in einer von Markt- und Gruppenprozessen getriebenen
Selbststilisierung auf ? Und wenn ja, wo wären die historischen Wurzeln für
diese Entwicklung zu suchen? Die Intimisierung des Öffentlichen sowie der
Verfall einer Kultur der Rollendistanz und konventionalisierten Höflichkeit in
den 1970er Jahren mag eine dieser Wurzeln sein.68 Die Pflicht zur Transparenz
scheint eine Ideologie der Gegenwart zu sein. Zwischen den Polen der Fluidität
und Pluralität sozialer Netzwerke im Raum der virtuellen Vergemeinschaftung
einerseits und der gleichzeitig beschleunigten und verstärkten Überwachbarkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und ihrer Kommunikation durch
entsprechende Algorithmen oder Protokolle mutet es so an,69 so legt das
Studium der Befunde aus der Kultursoziologie nahe, als ob sich eine neue
Sphäre des Kulturellen jenseits klassischer Formen der Gestaltung des Selbst
und seiner Gemeinschaftsbindungen öffnet.70 Allein das Wissen um die
ubiquitären Überwachungsmöglichkeiten im Netz löst bei den Betroffenen
vielfältige Anpassungs- und Veränderungsprozesse sowie Befangenheiten in
deren Verhaltensformen aus. Die Erzeugung einer vorauseilenden Unauffälligkeit und Konformität sei, so schreiben die englischen Politologen Tom Sorell
und John Guelke, ein Effekt des Wissens um eine nicht zentral gesteuerte und
zugleich allseitige Erfassung und Beobachtung.71
67 Mark Andrejevic, Reality TV. The Work of Being Watched, New York 2004.
68 Richard Sennett, The Fall of Public Man, New York 1977; Lionel Trilling, Sincerity and
Authenticity, Cambridge, MA 1972; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft.
Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 20142,
S. 61 – 66.
69 Tarleton Gillespie, The Politics of ,Platforms‘, in: New Media & Society 12. 2010,
S. 347 – 364; Katherine N. Hayles, Print is Flat, Code is Deep. The Importance of MediaSpecific Analysis, in: Poetics Today 25. 2004, S. 67 – 90; Wendy H. K. Chun, Programmed
Visions. Software and Memory. Cambridge, MA 2011; Reichert, Big Data, S. 289 – 384.
70 Sherry Turkle, Leben im Netz. Identität im Zeichen des Internet, Reinbek 1998;
Andrejevic, Reality TV; Daniel Solove, The Digital Person. Technology and Privacy in
the Information Age, New York 2004; Mark Andrejevic, iSpy. Surveillance and Power in
the Interactive Era, Lawrence 2007; Christian Fuchs u. a. (Hg.), Internet and Surveillance, London 2011; Daniel Trottier, Social Media as Surveillance. Rethinking Visibility
in a Converging World, London 2012; Martin Doll, Sozio-technische Imaginationen.
Social Media zwischen „Digital Nation“ und pluralistischem Kosmopolitismus, in:
Reichert, Big Data, S. 453 – 488.
71 John Guelke u. Tom Sorell, Relative Moral Risks of Detection Technology, http://www.
detecter.bham.ac.uk/pdfs/D05.2.The_Relative_Moral_Risks_of_Detection_Technolo
gy.doc.
30
Sven Reichardt
IV. Die Beiträge
Anders als die meisten im Forschungsüberblick vorgestellten historiografischen Arbeiten beschränken sich die Beiträge dieses Heftes nicht auf den
engen Ausschnitt der unmittelbar politischen Überwachung, sondern fassen
Überwachung im Sinne der Surveillance Studies als ein weiteres Feld auf, so
wie es in den Abschnitten I und II beschrieben wurde. Die Beiträge umfassen
sowohl Aufsätze aus verschiedenen Zeitepochen in der Geschichte des
modernen Europas vom 17. bis in das 20. Jahrhundert als auch einen
exemplarischen Aufsatz über die koloniale Herrschaft der Briten im Afrika
des 20. Jahrhunderts.
Den Anfang macht der Wiener Historiker und Kommunikationswissenschaftler Anton Tantner, indem er Institutionen und Verfahren der Verknüpfung von kommerziellen und staatlichen Daten vorstellt. Bereits im
17. Jahrhundert wurden in Zentraleuropa mit den Adressbüros, Frag- und
Kundschaftsämtern systematisch erste Datensätze aufgebaut, die die Infrastrukturen für eine überwachende Moderne in den frühneuzeitlichen
Städten Paris und London, Wien und Brünn, Prag oder Bratislava legten.
Wer etwas kaufen oder verkaufen wollte, Arbeit, Wohnung, ein Hausmädchen oder einen Arzt suchte oder zu vermitteln hatte, konnte sein Anliegen
gegen Gebühr in ein Register eintragen lassen oder Auszüge aus diesem
Register erhalten. Der Aufsatz zeigt, wie sich die beiden großen Überwachungsagenturen der Moderne, Wirtschaft und Staat, ergänzen konnten. So
entstanden aus den privat geführten Fragämtern und Adressbüros, die in
verschiedenen europäischen Städten Aufenthaltsorte er- und Arbeit vermittelten, im Laufe des 19. Jahrhunderts die staatlichen Melde- und Arbeitsämter. Das Problem der Verschwiegenheit und die Notwendigkeit der
Anonymisierung entsprechender Informationen, so Tantner, stellten schon
im 17. Jahrhundert für die privat geführten Dienstleister eine zentrale
Herausforderung dar.
Der Beitrag von Daniel Brückenhaus geht einem aus den Postcolonial Studies
bekannten Thema der biometrischen Identifizierung am Beispiel Kenias in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Er behandelt Vorgänge, die mit
Migrations- und Verwissenschaftlichungsprozessen in anderen europäischen Kolonien des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind. Die Methoden der
Identifizierung und Kontrolle wurden in den afrikanischen Kolonien der
Briten nicht nur bei Kriminellen, sondern bei der ganzen einheimischen
Bevölkerung als Verwaltungspraxis durchgängig eingesetzt, nicht zuletzt, um
die Binnenmigration von Arbeitern in wichtigen Wirtschaftszweigen wie in
den Minen überwachen zu können. Solche Studien zur Überwachung in den
kolonialen „Laboratorien der Moderne“ werden bei Brückenhaus, wie auch
in anderen Studien dieser Art, in größere Prozesse sozialer, wirtschaftlicher
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Einführung
31
und rassistischer Regulation eingepasst.72 Der Autor zeigt in seinem Beitrag
zudem, wie durch diese Kontrollpraxen Widerstand und Protest hervorgerufen wurden.
Die Historikerin Kerstin Brückweh veranschaulicht am Beispiel Großbritanniens im 20. Jahrhundert, dass wissenschaftliche Klassifizierungssysteme
nicht nur Fakten abbilden und durch ihre klassifikatorischen Vereinfachungen Erkenntnisstrukturen ausbilden, sondern auch, dass durch wissenschaftliche Datenproduktionen neue Deutungssysteme erschaffen werden
konnten. Sie beginnt ihren Aufsatz mit der Schilderung der Genese
grundlegender Klassifizierungssysteme, die in den englischen Sozialwissenschaften bekanntlich mit der Unterscheidung zwischen upper, middle und
working classes operierten. Diese Klassifizierung führt sie auf die britische
Volkszählung von 1911 zurück und zeigt sodann, wie dieses Wissen die
Markt- und Meinungsforschung zwischen den 1930er und 1970er Jahren
einerseits nachhaltig und langfristig beeinflusste und andererseits, wie der
Klassenbegriff und das Social Grading insbesondere in den Jahren nach 1945
weiterentwickelt wurden. Ihre Wissensgeschichte endet damit aufzuzeigen,
wie tief der Einschnitt in den späten 1970er und 1980er Jahren letztlich war,
als die Konsumforschung sich vom Klassenbegriff als Ordnungsprinzip
zugunsten eines sozialräumlichen Nachbarschaftsbegriffs und eines geodemografischen Klassifikationssystems verabschiedete. Im neoliberalen Klima
dieser Zeit waren solche Umbrüche auch in anderen Wissenschaften zu
beobachten, wie etwa in der Soziologie über Milieus oder in der, mit
geografischen Daten statt mit Sozialdaten arbeitenden, Kriminalistik.
Kulturgeschichtlich basieren Brückwehs Überlegungen auf der Untersuchung von Identifizierungsprozessen und auf den Verbindungen zwischen
Staat, Wissenschaft oder Wirtschaftsunternehmen einerseits und dem
Individuum andererseits. Datenbanken von Versicherungen, die im Zuge
72 Exemplarisch für die Forschungen seit den 1990er Jahren David M. Anderson u. David
Killingray (Hg.), Policing the Empire. Government, Authority and Control 1830 – 1940,
Manchester 1991; Christopher A. Bayly, Empire and Information. Intelligence Gathering
and Social Communication in India, Cambridge 1996; Simon A. Cole, Suspect Identities.
A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge, MA 2001; Cahndak
Sengoopta, Imprint of the Raj. How Fingerprinting Was Born in Colonial India, London
2003; Priva Satia, Spies in Arabia. The Great War and the Cultural Foundations of
Britain’s Covert Empire in the Middle East, Oxford 2008; Martin Thomas, Empires of
Intelligence. Security Services and Colonial Disorder after 1914, Berkeley 2008; Anette
Hoffmann (Hg.), What We See – Reconsidering an Anthropometrical Collection from
Southern Africa. Images, Voices, and Versioning, Basel 2009; Daniel Brückenhaus, The
Transitional Surveillance of Anti-Colonialist Movements in Western Europe 1905 – 1945,
Diss. Yale University 2011; Keith Breckenridge, Biometric State. The Global Politics of
Identification and Surveillance in South Africa, 1850 to the Present, New York 2014.
32
Sven Reichardt
der Risikoabschätzung und besonders im Bereich Präventivmedizin entstanden, stellen hier einen lohnenden Forschungsbereich dar.73
Der Lausanner Soziologe Sami Coll zeigt in seinem Aufsatz zur Geschichte der
mittlerweile 2,7 Millionen computertechnisch auswertbaren Schweizer Kundenkarten, wie die neuen Formen der Käuferbindung und der intelligenten
Datengewinnung zur Transparenz von marktrelevanten Konsumptionsclustern und zu zunehmend zielgenaueren und differenzierten Entwicklungen in
der Kundenwerbung führen. Punktesammeln und Belohnen ist damit nur noch
eine Variante eines mittlerweile ausdifferenzierten Kundenkartensystems, welches
wegen der erhobenen Datenmassen und der nur durch aufwendige Programme
gegebenen Auswertbarkeit innerhalb der Schweiz, anders als bei einigen amerikanischen Unternehmen, von der geschlossenen Rückkopplungsschleife eines
relationship marketing noch Abstand nimmt.
Unsere beiden Beiträge für das Diskussionsforum beobachten und analysieren
kulturelle und politische Prozesse in der digitalen Informationsgesellschaft
unserer Gegenwart. Sie markieren in zugespitzter Form Positionen der
sozialwissenschaftlichen Debatte, mit deren Hilfe ein spannungsreicher
Experimentalraum zwischen Maschinensprache und Subjektivierungsbricolage ausgeleuchtet wird. Die Schweizer Technikhistoriker David Gugerli und
Hannes Mangold widmen sich in ihrem Diskussionsbeitrag den 1960er und
1970er Jahren und demonstrieren einerseits, wie die Entwicklung von
Computerbetriebssystemen in den USA seit den 1960er Jahren Ressourcenallokationen und die Steuerung von Nutzern und Programmen mit Überwachungsfunktionen verbinden konnte. Andererseits wird am Fall der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz die Rasterfahndung der
Polizeibehörden des Bundes und Landes vorgestellt. Dies geschieht in der
Absicht aufzuzeigen, wie die Staatsmaschinerie den neuen Informations- und
Datenverarbeitungsmöglichkeiten folgte. Der Beitrag thematisiert somit das
Verhältnis von Politik und Computerbetriebssystemen anhand von zwei
Fallstudien mit jeweils umgekehrter Perspektive. Es geht den Autoren um die
Frage, inwiefern sich im „digitalen Zeitalter“ politische Suchprozesse und
Entscheidungen an der Informations- und Datenverarbeitung orientieren und
ausrichten, beziehunsgweise inwieweit Computerspezialisten politisch denken
und dementsprechend programmieren.
Die Münchner Wissenssoziologinnen Sabine Maasen und Barbara Sutter
beschäftigen sich mit dem Selbstüberwachungsverhalten im Internet. Soziale
Medien, so Maasen und Sutter, bieten Usern eine Vielzahl von Anwendungen
73 Vgl. nur (mit weiterführenden Literaturhinweisen) Alan Petersen u. Deborah Lupton,
The New Public Health. Health and Self in the Age of Risk, London 1996; Martin
Lengwiler u. Jeannette Madar(sz (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte
moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010; Deborah Lupton, Fat, London 2013;
Martin Lengwiler, Risikowahrnehmung und Zivilisationskritik. Kulturgeschichtliche
Perspektiven auf das Gesundheitswesen der USA, in: ZF 10. 2013, http://www.
zeithistorische-forschungen.de/3-2013/id=4584.
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Einführung
33
eines self-fashioning. Sie erlauben es, Identität zu gestalten und zu kontrollieren. Im Beitrag der Autorinnen steht das Blogging im Vordergrund, welches
nicht nur zum exhibitionistischen Selbstmanagement genutzt wird, sondern
Sozialität unter techno-sozialen Bedingungen ermöglicht. So lässt sich aus den
Praktiken des Bloggings auch eine Bitte um Aufmerksamkeit herauslesen, die
das Verhältnis von self-fashioning, Freiheit, Sicherheit und Überwachung
rekonfiguriert.
In allen Beiträgen wird das Zusammenspiel von wirtschaftlichen und
staatlichen Überwachungspraxen in unterschiedlichsten Facetten thematisiert, um die gesellschaftsgeschichtlich eingebetteten Überwachungsverhältnisse jenseits einer politikgeschichtlichen Zentrierung auf Geheimdienste und ähnliche staatliche Institutionen in den Blick zu bekommen.
Angesichts des insgesamt fragmentarischen Forschungsstandes kann dies
freilich nur ein allererster Baustein für eine erweiterte Überwachungsgeschichte sein, die sich an die sozialwissenschaftlichen Surveillance Studies
anschließen will.
Prof. Dr. Sven Reichardt, Universität Konstanz, Lehrstuhl für Zeitgeschichte,
Universitätsstraße 10, 78457 Konstanz
E-Mail: [email protected]
Zwischen „policie“ und „strengster
Verschwiegenheit“
Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit im
Spannungsfeld obrigkeitlicher und privater Interessen
von Anton Tantner
Abstract: Intelligence offices emerged in European urban centers beginning in the
seventeenth century. Most were privately run institutions and procured work, goods,
real estate, and capital. They registered requests in protocol ledgers and sometimes
published them in advertising papers. The registration procedures that intelligence
offices imposed on job seekers contributed to surveillance and disciplinary power.
The data stored by information offices were coveted by the authorities, and in some
cases, the existence of intelligence offices inspired far-reaching fantasies of control
that aimed to transform them into registration or credit information offices.
In der Frühen Neuzeit entstanden Institutionen des Umgangs mit Informationen, die von der Forschung bis vor kurzem nur wenig beachtet wurden und
die in den großen europäischen Metropolen unter verschiedenen Bezeichnungen auftauchten: Sie wurden Intelligence oder Registry / Register Office
genannt, auf Französisch Bureau d’adresse oder Bureau de rencontre, auf
Deutsch Adresshaus, Adresscomptoir, Frag- und Kundschaftsamt, Berichthaus,
Intelligenzbüro, Intelligenzamt oder Notizamt. Da es sich dabei zumeist um
private Einrichtungen handelte, die allenfalls mit einem Privileg versehen
waren, hinterließen sie in den europäischen Archiven und Bibliotheken nicht
allzu viele aussagekräftige Spuren, worüber auch der Umstand nicht hinwegtäuschen darf, dass manche von ihnen die Bezeichnung „Amt“ führten. Nur
wenige Dokumente haben sich erhalten, die über das Innenleben dieser
Institutionen Auskunft geben, über die Konflikte, die diese mit Konkurrenten
und Widersachern austrugen, oder über ihr alltägliches Funktionieren. Noch
am greifbarsten sind die von diesen Institutionen zumeist herausgegebenen
Anzeigenblätter, die dazu führten, dass Adressbüros zuweilen im Kontext der
Pressegeschichte und einer Geschichte der Werbung Erwähnung fanden.1
1 Hjalmar Schacht, Zur Geschichte des Intelligenzwesens, in: Die Grenzboten. Zeitschrift
für Politik, Literatur und Kunst 61. 1902, S. 545 – 552 u. S. 605 – 612; Viktor Mataja, Die
Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben, Leipzig 1910, S. 239 f.; Otto Groth, Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik), Bd. 3, Mannheim 1927 – 1930, S. 157 – 209; Justin Stagl, Eine
Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550 – 1800, Wien 2002, S. 175 – 190;
Astrid Blome, Vom Adressbüro zum Intelligenzblatt. Ein Beitrag zur Genese der
Geschichte und Gesellschaft 42. 2016, S. 34 – 59
" Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2016
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
35
Die Basisfunktionen der Adressbüros bestanden in der Vermittlung von
Arbeit, Waren, Immobilien und Kapital. Darüber hinaus war ihr Auftauchen
eine Antwort auf das durch Zuwanderung bewirkte Städtewachstum: Neuankömmlinge verfügten im Gegensatz zur schon ansässigen städtischen Bevölkerung nicht über ein funktionierendes Beziehungsnetzwerk, das die Vermittlung und Befriedigung ihrer Bedürfnisse problemlos besorgen konnte,
welche Adressbüros jedoch zu erfüllen versuchten.
Unter Verwendung eines „kontrollierten Anachronismus“2 können derlei
Adressbüros als frühneuzeitliche „Suchmaschinen“ bezeichnet werden: Eine
solche Vorgangsweise versucht, mit Hilfe der Reibung, die sich aus der
Unzeitgemäßheit eines Begriffs, der „Suchmaschine“, mit einer bestimmten
Epoche, in diesem Fall der Frühen Neuzeit, ergibt, unser Wissen über
Vergangenheit wie Gegenwart zu vermehren. Es handelt sich dabei um eine an
den geschichtstheoretischen Überlegungen Walter Benjamins orientierte
Perspektive, die anbietet, aus der Konstellation, in der die Gegenwart mit
dem in diesem Beitrag untersuchten Befunden aus dem 17. und 18. Jahrhundert tritt, Erkenntnisse herauszusprengen.3
Etwas zurückhaltender formuliert, können Adressbüros, gemeinsam mit den
Zettelkästen der Gelehrten, den Katalogen der Bibliotheken und einer Vielzahl
menschlicher Informationsvermittler wie Lohnlakaien, Hausmeister und
sonstigen Beziehungsmakler, als Teil der Vorgeschichte heutiger InternetSuchmaschinen betrachtet werden.4 Diese Perspektive verspricht insbesondere dann ertragreich zu sein, wenn die spätestens seit den Enthüllungen
Wissensgesellschaft, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 8. 2006, S. 3 – 29;
Martin Gierl, Zeitschriften – Stadt – Information – London – Göttingen – Aufklärung,
in: Hans Erich Bödeker u. ders. (Hg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und
Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive (= Veröffentlichungen des
Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 224), Göttingen 2007, S. 243 – 264; Anton
Tantner, Adressbüros im Europa der Frühen Neuzeit, Habil. Universität Wien 2011,
http://phaidra.univie.ac.at/o:128115, gekürzt erschienen als: ders., Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-Comptoirs, Berlin 2015.
2 Diesen Begriff hat die Altertumshistorikerin Nicole Loraux eingeführt: Nicole Loraux,
Eloge de l’anachronisme en histoire, in: Le genre humain 27. 1993, S. 23 – 39. Für die
deutschsprachige Geschichtswissenschaft hat ihn Peter von Moos angewendet: Peter
von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten
Anachronismus, in: Gert Melville u. ders. (Hg.), Das Öffentliche und Private in der
Vormoderne (= Norm und Struktur, Bd. 10), Köln 1998, S. 3 – 83. Vgl. auch Caroline
Arni, Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. Gegenwart und Transformationen
der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive, in: L’Homme.
Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 18. 2007, H. 2,
S. 53 – 76.
3 Dazu u. a. Willi Bolle, Geschichte, in: Michael Opitz u. Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins
Begriffe, Frankfurt 2000, S. 399 – 442.
4 Thomas Brandstetter u. a. (Hg.), Vor Google. Eine Mediengeschichte der Suchmaschine
im analogen Zeitalter, Bielefeld 2012; Anton Tantner, Before Google. A Pre-History of
Search Engines in Analogue Times, in: Ren- König u. Miriam Rasch (Hg.), Society of the
Query Reader. Reflections on Web Search, Amsterdam 2014, S. 121 – 138.
36
Anton Tantner
Edward Snowdens breit diskutierten Erkenntnisse zur Überwachung der
Internetkommunikation durch staatliche Behörden auf die frühneuzeitliche
Situation übertragen werden:5 Es mag nicht unmittelbar naheliegend sein, die
doch so nützliche Einrichtung der Adressbüros auch in einem Kontext von
Kontrolle und Überwachung zu sehen, doch gerade mit dem heutigen Wissen
lassen sich die von Beginn ihres Bestehens an feststellbaren Bemühungen,
Adressbüros zu polizeilichen Aufgaben heranzuziehen, schärfer in den Blick
nehmen. Tatsächlich lässt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, auch an den
Adressbüros der frühen Neuzeit die Doppelgesichtigkeit von Dienstleistungseinrichtungen nachweisen, die zum einen die Informationsvermittlung entscheidend vereinfachten, zum anderen aber ermöglichten, ihre Benutzerinnen
und Benutzer zu kontrollieren.
Im vorliegenden Beitrag soll somit zum einen das Spannungsfeld zwischen
Öffentlichkeit und Privatheit behandelt werden, in dem sich die neu geschaffenen Einrichtungen bewegten: Welche Konflikte entstanden rund um die von
den Adressbüros registrierten Daten ihrer Benutzerinnen und Benutzer,
welche Strategien verfolgten die zuweilen scheel beäugten Institutionen, um
als vertrauenswürdig zu gelten? Zum anderen soll gezeigt werden, wie in den
Projektvorschlägen für Adressbüros, die staatlichen Behörden in der Regel von
Privatpersonen vorgelegt wurden, von vornherein deren Anspruchnahme für
gouvernementale Zwecke angeboten wurde. Schließlich steht zur Frage, in
welchen Fällen Adressbüros in ihrer alltäglichen Praxis tatsächlich Aufgaben
der Überwachung und Kontrolle übernahmen. Die Perspektive richtet sich
hier insbesondere auf die Rolle, die diese Einrichtungen bei der Arbeitsvermittlung und hier speziell bei der Vermittlung von Dienstbotinnen und
Dienstboten spielten.
Eine solche Fragestellung ist in vielerlei Hinsicht anschlussfähig an die
Forschungsfelder der zumeist auf die Zeitgeschichte und die Gegenwart
ausgerichteten Surveillance Studies: Für die kann es nur ertragreich sein, auch
vormoderne Epochen in ihren Untersuchungsfokus aufzunehmen, neigen sie
doch, wie dies David Lyon zuletzt betonte, allzuoft dazu, die historische
Dimension zu vernachlässigen.6
Im Folgenden werden nach einem chronologischen Überblick über die
Gründung der ersten Adressbüros und einer Auflistung ihrer wichtigsten
5 Als journalistische Darstellungen siehe Glenn Greenwald, Die globale Überwachung.
Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen, München 2014;
Marcel Rosenbach u. Holger Stark, Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in
die totale Überwachung, München 2014. Was bereits 1986 bekannt war, fasste der
Medienwissenschafter Friedrich Kittler in einer Rezension zusammen: Friedrich Kittler,
Jeder kennt den CIA, was aber ist NSA?, in: taz, 11. 10. 1986, http://www.taz.de/tazArtikel-von-1986-ueber-NSA/!5050644/.
6 David Lyon, Situating Surveillance. History, Technology, Culture, in: Kees Boersma u. a.
(Hg.), Histories of State Surveillance in Europe and Beyond, Abingdon 2014, S. 32 – 46,
hier S. 33 u. S. 43.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
37
Tätigkeitsfelder (Abschnitt I) die erwähnten Fragen in Form einer an drei
thematischen Achsen orientierten Querschnittsanalyse behandelt, die Parallelen zu gegenwärtigen Problemlagen erkennen lässt: Erstens der Umgang der
Adressbüros mit den ihnen anvertrauten persönlichen Daten, denn die Sorge
um privacy war auch in der Frühen Neuzeit bekannt (Abschnitt II). Zweitens
die zumeist Projekt gebliebenen Bestrebungen von Adressbüros, als eine
Vorform von Meldeämtern oder Kreditauskunfteien Aufgaben hoheitlicher
oder wirtschaftlicher Kontrollinstanzen zu übernehmen (Abschnitt III). Und
drittens die bei der Arbeitsvermittlung ausgeübte Überwachung und Disziplinierung der Arbeitssuchenden, die insbesondere durch deren Registrierung
erfolgen sollte (Abschnitt IV).
I. Institutionen der Informationsvermittlung
Als paradigmatisch für alle folgenden Adressbüros kann schon die erste
bekannte Einrichtung dieser Art gelten: das 1630 auf Grundlage eines Privilegs
aus dem Jahr 1612 durch Th-ophraste Renaudot in Paris gegründete Bureau
d’adresse et de rencontre. Angesiedelt auf der $le de la Cit- nahe Notre-Dame
fungierte es zum einen als Verkaufsagentur : Wer auch immer Karossen,
Zugtiere, Schiffe, Holz oder Luxusgegenstände wie Tafelbilder, Medaillen und
antike Münzen, Manuskripte und Bücher, seltene Pflanzen und fremde Tiere
verkaufen wollte, konnte diese am Ort des Büros gegen die relativ geringe
Gebühr von drei Sous in ein Register eintragen lassen.7 Renaudot rechnete
dabei damit, dass derlei Anliegen mündlich vorgebracht wurden und darauf
ein Bediensteter die Eintragung in das Register vorzunehmen hatte.8 Gegenüber der Mündlichkeit wurde jedoch die Schriftlichkeit des Verfahrens
bevorzugt, das heißt, die Einbringer wurden dazu aufgefordert, noch bevor sie
sich ans Bureau wandten, eine möglichst exakte Beschreibung des Angebotenen mitsamt Angabe des Preises zu verfassen, auf deren Grundlage dann der
Eintrag ins Register vorgenommen werden konnte. Umgekehrt wiederum
konnte, wer eine Ware suchte, gegen eine ebenso hohe Gebühr von drei Sous
7 Th-ophraste Renaudot, Inventaire des addresses du Bureau de Rencontre. Ou chacun
peut donner et recevoir avis de toutes les necesitez, et commoditez de la vie et societhumaine, Paris 1631, S. 28. Zu Renaudot unter anderem: Howard M. Solomon, Public
Welfare, Science and Propaganda in Seventeenth Century France. The Innovations of
Th-ophraste Renaudot, Princeton 1972; Gilles Feyel, L’annonce et la nouvelle. La presse
d’information en France sous l’ancien r-gime 1630 – 1788, Oxford 2000, Kap. 1 : „Le
,mod*le Renaudot‘“, S. 11 – 308; G-rard Jubert (Hg.), P*re des journalistes et m-decin
des pauvres. Th-ophraste Renaudot 1586 – 1653, Paris 2005.
8 Vgl. Th-ophraste Renaudot, Le Renouvellement des bureaux d’adresse, a ce nouvel an
M. DC. XLVII. Avec une ample explication de leurs utilitez et commoditez, Paris 1647,
S. 11 f.
38
Anton Tantner
einen Auszug aus diesen Registern erhalten, mit der Angabe, bei wem und wo
die gewünschte Ware erhältlich war.9
Zum anderen übernahm das Bureau die Funktion der Arbeits- und Immobilienvermittlung: Im Bureau sollte ein eigenes Register geführt werden, das
Meister verzeichnete, die Lehrlinge suchten. Des Weiteren sollte ein Buch
angelegt werden über Handwerksgesellen und Arbeiter jeglicher Sorte, die
eine Anstellung suchten, und es sollten alle möglichen Gattungen von
Dienstpersonal vermittelt werden, wie Sekretäre, Hauslehrer, Kammerdiener,
Kopisten, Köche und Stallburschen. Der Aufgabenbereich der Immobilienvermittlung wiederum erstreckte sich auf Häuser, Wohnungen und Zimmer,
leer oder möbliert, in der Stadt oder den Vorstädten. Auch auf dem Land
befindliche Bauernhöfe wurden zur Miete oder zum Verkauf angeboten.
Darüber hinaus wurden all jene zur Registrierung aufgerufen, die Geld zum
Verleihen anbieten wollten oder vice versa solches zu leihen suchten.10
Anfangs wurden diese Vermittlungsangebote nur in den Verzeichnissen vor
Ort erfasst, bald jedoch wurden manche derjenigen Registereinträge, deren
Vermittlung nicht bald nach deren Verzeichnung zustande kam, in einem
gedruckten Anzeigenblatt veröffentlicht, dem Feuille beziehungsweise der
Semaine du Bureau d’adresse.11
Diesem Muster – registerbasierte Vermittlung in einem Gassenlokal zu
festgelegten Geschäftszeiten sowie etwaige Publikation mancher zur Vermittlung eingebrachter Anliegen in einem Annoncenblatt – folgten die meisten
Adressbüros, die nach Pariser Vorbild in weiteren europäischen Städten
konzipiert und gegründet wurden, ganz gleich, ob dies in London, Frankfurt,
Wien oder Dresden der Fall war.
Zusätzlich zu den Kernfunktionen von Verkaufs-, Arbeits-, Immobilien- und
Kapitalvermittlung konnte das Angebot der Adressbüros variieren und glich in
seiner Vielfalt manchmal einer frühneuzeitlichen Wunderkammer. So fungierte Renaudots Bureau d’adresse auch als Pfandleihanstalt, als Kunstgalerie,
als Mitreisezentrale, als Fundamt, als Stätte medizinischer Betreuung für
Arme, als Auskunftsbüro für Reisende sowie als Vorform einer wissenschaftlichen Akademie: Von 1632 oder 1633 an wurden jeden Montag in den
Räumlichkeiten des Bureau Vorträge abgehalten, die Themen wie Medizin,
Physik oder Ökonomie behandelten und in der gelehrten Welt eine gewisse
Berühmtheit erlangten. Diese vor jeweils vierzig bis fünfzig Personen –
zugelassen war nur männliches Publikum – vorgetragenen conf#rences du
9 Renaudot, Inventaire, S. 31 f.; Th-ophraste Renaudot, Instruction pour se servir des
commoditez du Bureau d’Adresse, Paris 1634, S. 2.
10 Renaudot, Inventaire, S. 2 – 26.
11 Verzeichnis der erhaltenen Ausgaben: Tantner, Suchmaschinen, S. 141, Fn. 51.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
39
Bureau d’adresse wurden auch in Druck gegeben, allerdings anonym, ohne die
Namen der Referenten zu nennen.12
Das Privileg, Adressbüros in Frankreich zu eröffnen, blieb nach Renaudots
Tod am 25. Oktober 1653 im Besitz seiner Familie und in den folgenden
Jahrzehnten wurden auf dessen Grundlage wiederholt derlei Einrichtungen in
Paris geschaffen. Diese gaben zumeist sehr kurzlebige Annoncenblätter
heraus, beschränkten sich aber im Unterschied zu Renaudots Bureau in der
Regel auf die Kernfunktionen.13
Die zweite Metropole, die die Gründung von Adressbüros erleben sollte, war
London: Nachdem schon 1611 der Dichter und Übersetzer Sir Arthur Gorges
(gestorben 1625) und der Verwalter Sir Walter Cope (etwa 1553 – 1614) ein
Patent zur Errichtung eines Publique Register for generell Commerce erlangt
hatten, planten ab Mitte des 17. Jahrhunderts eine Reihe von Personen derlei
Offices of Address, darunter der Universalgelehrte Samuel Hartlib, dessen
Office of Address for Communications mitsamt einem Office of Address for
Accomodation sich nicht nur profanen Vermittlungstätigkeiten widmen sollte,
sondern als umfassende, auch der Politikberatung dienende Bildungseinrichtung und Sammelstätte allen verfügbaren Wissens konzipiert war. Verwirklicht
wurden Adressbüros in London ab 1649, als das kurzlebige Office of Ent(e)ries
or Publique Register unter seinem Leiter, dem Journalisten und Prediger Henry
Walker seine Pforten eröffnete.14 Ihm sollten eine Reihe ähnlicher Büros
folgen, die zumeist in der Nähe der Börse angesiedelt waren. Eine besondere
Berühmtheit erlangte das am 19. Februar 1750 vom Schriftsteller Henry
Fielding und seinem blinden Halbbruder John Fielding eröffnete Universal
Register Office.15
Nur wenige Jahre nach dem Start des Pariser Bureau d’adresse projektierte
1636 in Wien der baskische Sprachlehrer Johannes Angelus de Sumaran – auch
Juan !ngel de Zumaran – eine offentliche fragstuben, die nicht nur die üblichen
12 Zur Analyse des Inhalts der Vorlesungen siehe Simone Mazauric, Savoirs et philosophie
& Paris dans la premi*re moiti- du XVIIe si*cle. Les conf-rences du bureau d’adresse de
Th-ophraste Renaudot 1633 – 1642, Paris 1997; Feyel, L’annonce, S. 78 – 130 sowie
Kathleen Anne Wellman, Making Science Social. The Conferences of Theophraste
Renaudot 1633 – 1642, Norman, OK 2003. Eine kleine Auswahl daraus ist publiziert bei
Th-ophraste Renaudot, De la petite fille velue et autres conf-rences du Bureau d’Adresse,
hg. v. Simone Mazauric, Paris 2004.
13 Feyel, L’annonce, S. 279 – 308.
14 J. B. Williams, A History of English Journalism to the Foundation of the Gazette, London
1908, S. 158 – 171; Dorothy George, The Early History of Registry Offices. The
Beginnings of Advertisment, in: Economic Journal. Economic History Supplement 1.
1929, S. 570 – 590; Blanche B. Elliott, A History of English Advertising, London 1962,
S. 13 – 73; Stagl, Eine Geschichte der Neugier, S. 179 – 182.
15 Bertrand A. Goldgar, General Introduction, in: Henry Fielding u. Bertrand A. Goldgar
(Hg.), The Covent-Garden Journal and a Plan of the Universal Register-Office, Oxford
1988, S. xv – liv ; Miles Ogborn, Spaces of Modernity. London’s Geographies 1680 – 1780,
New York 1998, S. 201 – 230 u. S. 295 – 302.
40
Anton Tantner
Vermittlungstätigkeiten anbieten wollte, sondern darüber hinaus die Funktion
eines Debattierklubs, wenn nicht gar einer Akademie auszuüben gedachte.
Sumarans Ansinnen scheiterte jedoch am Widerstand der katholischen
Fakultät der Wiener Universität, die eine solche Einrichtung, bei der die
verschiedenen sozialen Klassen aufeinander trafen, als „Zuchtstätte der
Sünde“ („seminarium peccatorum“) bezeichnete.16 Bis in Wien ein Adressbüro realisiert werden konnte, sollte es noch mehr als sieben Jahrzehnte
dauern: 1707 wurde das Frag- und Kundschaftsamt eingerichtet, eine dem
ebenfalls neu gegründetem Versatzamt angeschlossene Institution, die über
mehr als hundert Jahre Bestand hatte und die meiste Zeit ihrer Existenz in
enger Verbindung zur deutschsprachigen Zeitung Wiens, dem Wien[n]erischen Diarium, ab 1781 Wiener Zeitung, stand. Das Wiener Fragamt und das
von ihm herausgegebene Inseratenblatt, das sogenannte Kundschaftsblatt,
wurden zum Vorbild für etliche weitere habsburgische Einrichtungen dieser
Art. So wurden Fragämter in den folgenden Jahrzehnten in Prag, Brünn
(Brno), Pressburg (Bratislava), Ofen, Pest (Budapest), Graz, Lemberg (Lwiw)
und Innsbruck installiert.17
Auch in den übrigen deutschsprachigen Territorien setzten sich Adressbüros
im Laufe des 18. Jahrhunderts durch: In Berlin war bereits 1689 an einen
hugenottischen Kaufmann ein Privileg für ein Adress-Haus beziehungsweise
Bureaux d’adresse et de vente publique ergangen, doch hatte dieses, als es ab
1692 realisiert wurde, im Wesentlichen nur die Funktion eines Pfandhauses
übernommen und bat kaum darüber hinausgehende Vermittlungstätigkeiten
an.18 In Sachsen wiederum suchte im Dezember 1714 der Kameralist Paul Jacob
Marperger (1656 – 1730) gemeinsam mit Emanuel Jacobi um ein Privileg eines
Adreß-Kontoirs an, doch blieb dies ebenso unverwirklicht wie das 1721 von
Johann Gottfried Gutkäß vorgebrachte, groß angelegte „Projekt zur Einrichtung eines regulirten Adreßwesens“, das neben der Gründung eines Adressbüros auch die Schaffung einer Kaufmannsbörse und einer Armenhauskasse
vorsah. Ebenso wenig realisiert wurde der von Generalmajor Friedrich
Wilhelm Freiherr von Kyaw in den 1710er Jahren ausgearbeitete Vorschlag
16 O. A., Zur Geschichte des Wiener Fragamtes, in: Wiener Communal-Kalender und
städtisches Jahrbuch 31. 1893, S. 419 – 426; Universitätsarchiv Wien [im Folgenden
UAW], Kodex Th 16, Acta Facultatis Theologicae IV 1567 – 1666, f. 289, r – 291a, r ; f.
291b, v – 292b, v, Einträge vom 27. 10. 1636 und 23. 11. 1636.
17 Anton Tantner, Das Wiener Frag- und Kundschaftsamt. Informationsvermittlung im
Wien der Frühen Neuzeit, in: Wiener Geschichtsblätter 66. 2011, S. 313 – 342; ders., Die
Frag- und Kundschaftsämter in Prag und Brünn. Informationsvermittlung im frühneuzeitlichen Böhmen und Mähren, in: Folia Historica Bohemica 26. 2011, S. 479 – 506;
ders., Das Pressburger Frag- und Kundschaftsamt des Anton Martin, 1781 – 1783, in:
Hungarian Studies 25. 2011, S. 127 – 142.
18 Clara Gelpke, Zur Geschichte des Berliner Intelligenz- und Adreßwesens, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 49. 1932, S. 117–125.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
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eines in Dresden und Leipzig zu gründenden General-Notiz und Kundschaftshaus, das den Handel beleben sollte.19
Realisiert hingegen wurde ab Januar 1722 das erste deutsche Intelligenzblatt,
die Wochentliche Frankfurter Frag- und Anzeigungsnachrichten.20 Deren
Gründer, der Drucker und Verleger Anton Heinscheidt, nannte in seinem
Gesuch um ein Druckprivileg explizit das Wiener Fragamt als Vorbild. Eine
eigene Bezeichnung für den Vermittlungsort, an dem ein Protokoll mit den zu
vermittelnden Anliegen aufliegen sollte, scheint Heinscheidt nicht verwendet
zu haben, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass das Intelligenzblatt
bereits für wichtiger gehalten wurde als das Adressbüro selbst. Als er im
August 1722 eigene Räumlichkeiten für den Verkauf der annoncierten Waren
anmietete, bezeichnete Heinscheidt „diese neue Anstalt“ als „ein annexum der
Frag- und Anzeigungs Nachrichten“.21 In Preußen begann die Gründung von
Adressbüros mit dem Jahr 1727: Das Intelligenzwerk entstand als staatliche
Gründung zur Finanzierung des Potsdamer Waisenhauses und war eng mit der
Post verknüpft. War ursprünglich vorgesehen, dass die Postämter Annoncen
aus den preußischen Provinzstädten nach Berlin einsenden sollten, erkannten
die Behörden allerdings recht rasch, dass eine stärkere Regionalisierung nötig
war. Noch im Jahr der Gründung des Berliner Intelligenzblatts erschienen
erstmals Intelligenzblätter in Stettin, Königsberg, Duisburg, Minden und
Magdeburg, zwei Jahre darauf kamen die Wöchentlichen Hallischen Frag- und
Anzeigungs-Nachrichten heraus.22 Knapp nach Preußen wurden in der Schweiz
sogenannte Berichthäuser geschaffen. Den Start machte das Berichthaus oder
Adresse-Comtoir zu Basel, dessen Gründung Ende 1728 einem gewissen
Johann Burckhardt bewilligt wurde. Sein Avis-Blatt kam Anfang 1729 heraus,
ein Jahr später starteten die Donnstags-Nachrichten von Zürich, herausgegeben
vom Buchhändler Hans Jacob Lindinner in dessen Zürcher Berichthaus.23
Gemeinsam war all diesen Einrichtungen, dass die Vermittlung der eingebrachten Anliegen mit Hilfe des von den Adressbüros herausgegebenen
Intelligenzblatts im Vergleich zu der Vermittlung am Ort der Büros zuneh19 Walter Schöne, Die Anfänge des Dresdner Zeitungswesens im 18. Jahrhundert (= Mitteilungen des Vereins für Geschichte Dresdens, Bd. 23), Dresden 1912, S. 18 f., S. 75 u.
S. 78; J[ohannes] F[alke], [2. Miscelle], in: Archiv für die sächsische Geschichte 4. 1866,
S. 220 – 224.
20 Alexander Dietz, Frankfurter Nachrichten und Intelligenz-Blatt. Festschrift zur Feier
ihres zweihundertjährigen Bestehens 1722 – 1922, Frankfurt 1922, S. 14 f.
21 Ebd.; Österreichisches Staatsarchiv [im Folgenden ÖStA], Haus- Hof und Staatsarchiv
[im Folgenden HHStA], Reichsarchive, Reichshofrat, Gratialia et Feudalia, Impressorien, Kt. 29, Anton Heinscheidt an Karl VI., 3. 2. 1722, f. 175, r.; ebd., Johann Joseph
Wirsching an Karl VI., pr 16. 11. 1722, f. 183, v.
22 Günther Ost, Das preußische Intelligenzwerk, in: Forschungen zur Brandenburgischen
und Preussischen Geschichte 43. 1930, S. 44 – 75.
23 F. Mangold, Das Basler „Avis-Blatt“ 1729 – 1844, in: Basler Jahrbuch 1897, S. 187 – 225;
Alfred Cattani, Das Berichthaus von Zürich. Ein Kulturbild im Spiegel der DonnstagsNachrichten 1730 – 1754, Zürich 1956.
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Anton Tantner
mend wichtiger wurde und um 1800 die Adresscomptoirs, Fragämter und
Intelligenzbüros langsam in den Redaktionen und Anzeigenabteilungen der
von ihnen herausgegebenen Intelligenzblättern beziehungsweise Zeitungen
aufgingen. Dies bedeutete allerdings noch nicht das völlige Ende der
Adressbüros, denn offensichtlich gab es weiter Bedarf nach einem physischen
Ort, an den sich Interessierte wenden konnten, um Informationen zu erfragen.
So entstanden im Vormärz von neuem derlei Einrichtungen, die diesmal keine
eigenen Annoncenblätter herausgaben, sondern ihre Anzeigen in bestehenden
Zeitungen veröffentlichten, genannt seien etwa das 1819 in Wien von Baron
Karl von Steinau und Joseph Jüttner errichtete Anfrage- und Auskunftscomptoir,24 das auch auch Fremdenverkehrsinformation avant la lettre anbot, weiter
das in München ab 1826 von honorigen Beamten betriebene Anfrag- und
Addreß-Bureau25 sowie das ein Jahr später im alten Rathaus zu Breslau
gegründete Anfrage- und Adreß-Bureau von Israel Saul und George Leopold
Baron von Reißwitz.26
Mit der Übernahme so unterschiedlicher Aufgaben nehmen Adressbüros in
der europäischen Mediengeschichte eine Position ein, die wohl am angemessensten als eine Übergangsstellung bezeichnet werden kann. Sie institutionalisierten Tätigkeiten, die bislang von sogenannten „Mensch-Medien“27 übernommen worden waren, wobei davon auszugehen ist, dass die überwiegende
Mehrheit der Vermittlungsakte auch nach dem Auftreten der Adressbüros
durch persönliche Beziehungsnetzwerke oder die Inanspruchnahme traditioneller Mittelspersonen zu Stande kam. Dies sind etwa Unterkäufer, die Händler
an ihren Zielorten in die Besonderheiten der jeweiligen Märkte einwiesen,
„keuflerinnen“, die als Spezialistinnen der Pfandleihe tätig waren oder
Gesindezubringerinnen, über die in den Dienstbotenordnungen wiederholt
geklagt wurde, da sie die Dienstbotinnen und Dienstboten oft mehrmals
hintereinander an neue Dienstherren vermittelten, um nochmals Vermittlungsgebühr zu kassieren.28
24 Über das allgemeine Anfrage- und Auskunfts-Comptoir in Wien, in: Erneuerte
vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, 15. 1. 1820, Nr. 5, S. 17–20.
25 Bekanntmachung, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 13. 1. 1826, Nr. 13, Beilage,
S. 51 f.; Bekanntmachung, in: Königlich-Baierisches Intelligenz-Blatt für den Unterdonau-Kreis, Stück 3, Passau 18. 1. 1826, S. 30. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Bruckbräu,
Neuestes Taschenbuch der Haupt- und Residenzstadt München und den Umgebungen
für Einheimische und Fremde, München 1828, S. 36.
26 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [im Folgenden GSTA-PK], 1. Hauptabteilung [im Folgenden HA], Repositur [im Folgenden Rep.] 95, Preußische Bank,
Signaturnummer 68, Bekanntmachung Anfrage- und Adreß-Bureau, Breslau, 18. 8. 1827,
f. 80, 81.
27 „Mensch- oder Primärmedien“ sind nach Werner Faulstich Medien, die ohne Technikeinsatz auskommen, wie zum Beispiel das Theater. Werner Faulstich, Medium, in: ders.
(Hg.), Grundwissen Medien, München 20045, S. 13 – 102, hier S. 13 u. S. 23 – 25.
28 Diese Personengruppen sind bislang noch wenig erforscht, vgl. z. B. Eberhard Schmieder, Unterkäufer im Mittelalter. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Handelsgeschichte
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Entstanden in einem ursprünglich oft philanthropisch aufgeladenen Kontext,
weisen die Adressbüros schon auf die sich ab dem 19. Jahrhundert bildenden
großen Medienkonzerne voraus und können als Agenten von Informatisierung und Medialisierung betrachtet werden. Auch wenn ihre unmittelbare
Wirkung auf die zeitgenössische Form der Kommunikation und des Informationsaustausches begrenzt gewesen sein mag, so ist doch belegt, dass ihre
schiere Existenz erhebliches Aufsehen hervorrief und die Fantasien der
Menschen anregte. Zeugnis davon liefern Ballette und Theaterstücke, die
sowohl in Paris als auch in London auf die neuen Einrichtungen reagierten. Sie
thematisierten zum einen den enormen Zulauf, den diese erhielten,29 und
stellten sie zum anderen in einen frivolen Kontext, indem sie behaupteten,
Adressbüros würden Heiratsvermittlung beziehungsweise gar Zuhälterei
betreiben: So wird in den zu einem dieser Ballette veröffentlichten Versen
den heiratswilligen Mädchen und Burschen angeraten, das Bureau d’adresse zu
besuchen, „um eure Seelen zu befriedigen“.30 In dem von Joseph Reed
verfassten Theaterstück „The Register Office“ (1761) wiederum wurde
konstatiert, dass die darin beschriebene Einrichtung das „gute alte Gewerbe
der Zuhälterei“ ausüben würde.31
Dass Adressbüros von Männern und Frauen benutzt wurden, war jedoch
keineswegs selbstverständlich. So verbot Renaudots Bureau d’adresse explizit
Frauen den Zutritt zum Bureau und begründete dies mit einem nur vage
angedeuteten moralischen Argument: Das Jahrhundert sei verdorben und
man fürchte die üble Nachrede.32 Vielleicht befürchtete Renaudot den in den
erwähnten Balletten thematisierten Vorwurf, das Bureau könne der Prostitution Vorschub leisten. Arbeitssuchenden Frauen und Dienstgeberinnen wurde
allenfalls erlaubt, mittels deren Männer Kontakt zum Bureau aufzunehmen.
Spätere Institutionen waren nicht so strikt, doch bedurfte es zum Beispiel im
Fall des Pressburger Fragamts der eigens geäußerten Nachfrage, bis Arbeitsvermittlung auch für Frauen angeboten wurde.33 Generell können Adressbüros
als Agenten einer Vermännlichung der Informationsvermittlung betrachtet
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vornehmlich Süddeutschlands, in: VSWG 30. 1937, S. 229 – 260; Markus A. Denzel, Das
Maklerwesen auf den Bozner Messen im 18. Jahrhundert, in: VSWG 96. 2009,
S. 297 – 319; Die Arbeitsvermittlung in Österreich, in: Statistischen Departement im
k.k. Handelsministerium (Hg.), Wien 1898, S. 26; Valentin Groebner, Mobile Werte,
informelle Ökonomie. Zur „Kultur“ der Armut in der spätmittelalterlichen Stadt, in:
Otto Gerhard Oexle (Hg.), Armut im Mittelalter, Ostfildern 2004, S. 165 – 187, hier
S. 175 – 180.
Balet du Bureau de Rencontre. Danc- au Louvre devant Sa Majest-, Paris 1631, S. 22;
Remerciment du Maistre du Bureau d’addresse & ceux qui dansent son ballet, o. O.
3. 2. 1631, S. 3.
„Filles qui cherchez maris, / Beaux garÅons qui cherchez femmes, / Voici l’unique &
Paris / Pour satisfaire vos ames, / Donnez trois sols tant seulement, / Vous aurez contentement“. Vers du ballet du bureau des addresses, o. O. 1631, S. 4.
Joseph Reed, The Register-Office. A Farce of Two Acts, Dublin 1761, S. 7.
Renaudot, Inventaire, S. 26 f.
Preßburger Kundschaftsblatt, V. Stück, 29. 4. – 5. 5. 1781, S. 19.
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Anton Tantner
werden, boten sie doch unter zumeist männlicher Direktion und mit in der
Regel männlichen Angestellten Tätigkeiten an, die zuvor auch von Frauen
ausgeübt worden waren.34 Zu den wenigen Ausnahmen gehörten das Prager
Fragamt, an dessen Spitze 1762 bis 1774 die Buchdruckerwitwe Johanna
Pruschin stand sowie das Fragamt zu Lemberg, das ab 1785 für wenige Jahre
von Josepha Pillerin geleitet wurde.35
Die Tendenz, Adressbüros als Kontrollinstanzen zu modellieren, kann beispielhaft anhand der Planungen des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm
Leibniz demonstriert werden, dessen Fantasie durch die Pariser und Londoner
Adressbüros geradezu beflügelt wurde.36 Über mehrere Jahrzehnte hindurch
entwarf er derlei Einrichtungen, die mal mehr in Richtung einer umfassenden
Bildungs- und Vermittlungsagentur, mal mehr in Richtung eines vorwiegend
auf kommerzielle Zwecke ausgerichteten Adressbüros mit den Schwerpunkten
auf den Dienstleistungen einer Verkaufsagentur und Arbeitsvermittlung
tendierten; waren das im September 1675 in Leibniz’ Dr!le de pens#e
vorgestellte Bureau general d’adresse pour tous les inventeurs als eine über
Renaudot und Hartlib noch hinausgehende Bildungs- und Freizeiteinrichtung
konzipiert37 und das im September 1678 Herzog Johann Friedrich von
Braunschweig-Calenberg vorgeschlagene Adressbüro mehr kommerziell ausgerichtet gewesen,38 so betonte Leibniz in späteren Adressbüroplänen, die in
Zusammenhang mit seinen Akademieprojekten standen, die Möglichkeit, sie
für obrigkeitliche Zwecke in Anspruch zu nehmen: So wollte Leibniz – ähnlich
wie vor ihm schon der Kameralist Wilhelm von Schröder –39 das gesamte
deutsche Reich samt Italien mit einem Netz von sogenannten Notizämtern
34 Beschwerden über die nicht vertrauenswürdigen, Gesindevermittlung betreibenden
Zubringerinnen sind ein gängiger Topos in den Selbstdarstellungen der Adressbüros,
vgl. UAW, Kodex Th 16, Acta Facultatis Theologicae IV 1567 – 1666, f. 290, v – 291a, r ;
Wilhelm von Schröder, Fürstliche Schatz- und Rent-Cammer, Leipzig 1686, S. 155 – 158;
N(rodn1 Archiv, Prag [im Folgenden NA], Česke Gubernium, Publicum [im Folgenden
ČG-Publ.] 1756 – 1763, N 3 Kt. 215, Ignaz Pruscha, […] Vorschlag durch was Mittel […]
das […] Prager Frag- und Kundschaft-Amt […] empor gebracht werden könnte., o. D.
(einbegleitet am 11. 4. 1761).
35 Tantner, Kundschaftsämter, S. 487 f.; ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv [im Folgenden AVA], Hofkanzlei, Akten Kt. 542 (IV. D. 7), Mappe Buchdrucker, „27. Juli 1785“,
Schreiben des galizischen Guberniums, 7. 2. 1785; Mappe Buchdrucker, „März 1785“,
Aktenfragmente; Mappe Buchdrucker, „Oktober 1791“ Aktenfragmente.
36 Zu Leibniz’ Adressbüroplänen siehe auch Blome, Adressbüro, S. 13 f. u. S. 19 f.
37 Gottfried Wilhelm Leibniz, Dr+le de pens-e [September] 1675, in: Akademie der
Wissenschaften der DDR (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und
Briefe. Politische Schriften, Bd. 1, Berlin 19833, S. 562 – 568; deutsche Übersetzung in
Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der
Natur und Kunst, Berlin 2004, S. 237 – 246.
38 Gottfried Wilhelm Leibniz, Gedanken zur Staatsverwaltung u. a. – De Republica
[September 1678], in: Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Gottfried
Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe. Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Bd. 2, Darmstadt 1927, S. 74 – 77.
39 Schröder, Rent-Cammer, S. 155 – 158, S. 495 – 498 u. S. 503 – 511.
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überziehen, die in den größeren und mittleren Städten anzusiedeln waren. Sie
sollten eine Reihe von Dienstleistungen anbieten und mit einem „werck-,
waisen- und armen-hauß“ sowie einem Eichamt für Maße und Gewichte
verbunden werden, des Weiteren könnten diese auch zur Aufsicht über die
Juden verwendet werden, weil – so Leibniz im Aufgreifen eines jahrhundertealten Vorurteils – deren „ganze nahrung insgemein in schacherey“ bestünde.
Obendrein schlug Leibniz noch vor, das Notiz-Amt nach venezianischem
Vorbild als Annahmestelle für anonyme Anzeigen zu verwenden, wobei er sich
genötigt sah zu betonen, dass ein solches Angebot nicht missbraucht werden
dürfte. Leibniz Conclusio lautete: „polizey und ordnung, handel und wandel,
commercien und manufacturen, studien und künste“ würden dadurch
„überauß befördert werden“.40 – Stärker noch als seine französischen und
englischen Vorbilder erscheinen somit die von Leibniz projektierten Adressbüros als Polizeianstalt, die gleichermaßen der Kontrolle der jüdischen
Bevölkerung sowie als Ort der Entgegennahme von Denunziationen dienen
sollte.
II. Das Versprechen vom Schutz der persönlichen Daten
Von Anfang an hatten Adressbüros mit dem Vorwurf zu kämpfen, dass in den
von ihnen aufbewahrten Registern, die die Wünsche und Anliegen der sie
benutzenden Personen festhielten, ein „mysterie or policie of State“ lauerte,
dass die Register offiziellen Stellen einsichtig seien und die Vermögensverhältnisse der vermittlungswilligen Personen öffentlich machen würden.41 So
musste 1676 der damalige Pächter des Pariser Bureau d’adresse, der Dichter
FranÅois Colletet gegen „falsche Gerüchte“ vorgehen,42 gemäß denen das
Bureau erfunden worden wäre, um öffentlich zu machen, was man in den
Familien verstecken müsse.43 Dass in Zürich der Tag, an dem im dortigen
Berichthaus bevorzugt die Anzeigen entgegengenommen wurden, als „Verhörtag“ bezeichnet wurde,44 trug wahrscheinlich nicht dazu bei, derlei
Bedenken zu zerstreuen und es wundert somit nicht, dass in den Selbstdar40 Gottfried Wilhelm Leibniz, Errichtung eines Notiz-Amtes / Cr-ation d’un bureau
d’adresse, in: A. Foucher de Careil, Gottfried Wilhelm Leibniz. Oeuvres, Bd. 7, Leibniz
et les Acad-mies. Leibniz et Pierre le Grand. Paris 1875, S. 358 – 366, Zitate S. 364 f. u.
S. 366.
41 Arthur Gorges, ATrue Transcript and Publication of his Majesties Letters Pattent. For an
Office to be Erected, and Called the Publique Register for Generell Commerce, [London]
16122, o. S.
42 Sixi*me Journal et Suite des Avis et des Affaires de Paris, in: Le Journal de Colletet,
premier Petit journal parisien, 3. 9. 1676, Beilage zu: Le Moniteur du Bibliophile. Gazette
litt-raire, anecdotique et curieuse 1. 1878, S. 97.
43 Quatorzi*me Journal et Suite des Avis et des Affaires de Paris, 29. 10. 1676, in: ebd.,
S. 201.
44 Donnstags-Nachrichten von Zürich, Nr. XLV, 29. 12. 1730.
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Anton Tantner
stellungen der Adressbüros immer wieder Diskretion und Geheimhaltung der
ihnen anvertrauten Daten versprochen wurden. Kaum ein Büro unterließ es,
seine „honestie and discretion“ zu betonen, gesichert durch Bedienstete, die
einen körperlichen Eid zu schwören hatten45 und während etwa das Zürcher
Berichthaus verhieß, die Geschäfte mit „vertrauter Verschwiegenheit“46 zu
verrichten, verpflichtete sich das Pressburger Fragamt zu „strengster Verschwiegenheit“,47 während das Anfrag- und Addreß-Bureau zu München
„tiefste Verschwiegenheit“ zu gewährleisten beabsichtigte.48
Die mannigfaltigen Aktivitäten, die am Ort der Adressbüros stattfanden,
konnten allerdings solche Bemühungen um Geheimhaltung konterkarieren.
Als der Pressburger Fragamtsdirektor Anton Martin in seinem Büro auch eine
Leihbibliothek eröffnete, wollten manche Leserinnen und Leser die Bücher
gleich vor Ort einsehen, was keineswegs auf Martins Gegenliebe stieß:
Letzterer bat „die Herrn Liebhaber ergebenst, sich mit Lesen der Bücher im
Amte selbst nicht zu beschäftigen“, da sie dadurch in ihren Geschäften
aufgehalten würden und dies außerdem jenen „Fremden, die etwa etwas
Geheimes anzubringen h[ätt]en, unangenehm“ sei.49
Was den Umgang mit den ihnen anvertrauten Anliegen betraf, so boten
Adressbüros verschiedene Stufen zwischen völliger Öffentlichkeit und möglichst weitgehender Diskretion an. Am offensten war es, das eingebrachte
Anliegen mitsamt Namen und Wohnort im Anzeigenblatt zu publizieren, was
eher die Ausnahme war. Manche Adressbüros erwähnten eigens, dass eine
solche Anonymisierung automatisch erfolgte,50 während beim Bureau d’adresse des Donneau de Vis- und beim Dresdner Intelligenzblatt des Buchhändlers
Gottlob Christian Hilscher die Anonymisierung erst auf ausdrücklichen
Wunsch vorgenommen wurde.51 Eine weitere Form der Offenlegung eingebrachter Anliegen konnte deren Bekanntgabe auf einer im Äußeren des Büros
befestigten Tafel darstellen: Eine solche „Kundschafts-Taffel“ hing vor dem
Wiener Fragamt aus, das sich jedoch zu betonen beeilte, dass „alle eingehende
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Gorges, Transcript, o. S.
Donnstags-Nachrichten von Zürich, Nr. I, 23. 2. 1730.
Preßburger Kundschaftsblatt, V. Stück, 29. 4. – 5. 5. 1781, S. 20.
Bekanntmachung, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 13. 1. 1826, Nr. 13, Beilage, S. 52.
Preßburger Kundschaftsblatt, XXXV. Stück, 25.8. – 31. 8. 1782, S. 140.
Anton Heinscheidt, Ausführlicher und deutlicher Bericht Von einem Zu Frankfurt am
Mayn aufzurichtenden Gemeinnützlichen Werk; […], in: Maria Belli (Hg.), Leben in
Frankfurt. Auszüge der Frag- und Anzeigungs-Nachrichten (des Intelligenz-Blattes) von
ihrer Entstehung an im Jahre 1722 bis 1821, Bd. 1, Frankfurt 1850, S. 3 – 16, hier S. 9.
51 Biblioth*que Nationale de France [im Folgenden BNF], manuscrits franÅais [im
Folgenden m. f.] 21. 741, f. 253 r, Journal general de France, ou Inventaire des adresses du
Bureau de Rencontre ou chacun peut donner et recevoir avis de toutes les necessitez et
commoditez de la Vie et Societ- Humaine, Paris 1681, S. 15; Herbert Zeissig, Eine
deutsche Zeitung. Zweihundert Jahre Dresdner Anzeiger. Eine zeitungs- und kulturgeschichtliche Festschrift, Dresden 1930, S. 15 f.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
47
Begehren und Anfragen“ hierauf nur „mit verschwiegenen Namen […]
angeheftet“ würden.52
Im Verhältnis dazu diskreter war die schriftliche Verzeichnung des Anliegens
samt persönlicher Daten im Protokollbuch oder Register : Fast alle Adressbüros führten solche Bücher, definierten sich durch solche geradezu, wobei es
auch hier Varianten der Geheimhaltung gab. Trugen die einen die Daten nur in
ein einziges Buch ein, in das potenzielle Interessenten Einsicht nehmen
konnten oder aber nach Formulierung ihres Wunsches einen von einem
Angestellten verfertigten Auszug erhielten, pries Renaudot die ab Ende der
1630er Jahren in seinem Bureau praktizierte doppelte Buchführung an:
Während in einem öffentlichen Register, „ausgesetzt den Augen eines jeden“,
nur Angaben zum angebotenen Gegenstand der Vermittlung niedergeschrieben wurden, verzeichnete ein geheimes Register auch Namen und Wohnort des
Einbringers.53 Sowohl das Projekt von Sir Arthur Gorges und Sir Walter Cope
als auch das Projekt von Samuel Hartlib und John Dury versprachen eine
solche Vorgangsweise.54 Ob auf den Einsatz des Speichermediums Papier bei
der Vermerkung der persönlichen Daten jemals völlig verzichtet wurde, ist
fraglich: Renaudot etwa behauptete in seinen Anfängen, dass die Register des
Büros nur das eingebrachte Anliegen verzeichnen würden, Name und Wohnort
der Person nur einem, selbstverständlich gut beleumundeten und ehrenvollen,
Angestellten bekannt seien und Anfragenden erst dann mitgeteilt würden,
wenn das Geschäft nahe seinem Abschluss sei.55 Während eine solche Variante
in ihrer Umsetzung wenig wahrscheinlich ist, war eine darüber hinaus
gehende, praktikable Form der Anonymisierung die zuweilen angebotene
Möglichkeit, dass der potenzielle Einbringer eines Anliegens sich einer
Vertrauensperson bediente, die bereit war, ihren Namen und Wohnort dem
Büro preiszugeben.56 Als am weitesten gehende Form der Geheimhaltung
persönlicher Daten kann die anonyme Benutzung gelten, bei der Personen, die
etwas verkaufen wollten, ihre Geschäfte ohne Angabe ihres Namen abwickeln
konnten. Diese Variante bot Renaudot an, als er plante, Bureaux d’adresse in
französischen Provinzstädten einzurichten, wie jedoch in diesem Fall ein
Verkäufer wieder aufgefunden werden konnte, dessen Angebot erst einige Tage
52 Wienerisches Diarium, Nr. 85, 23. 10. 1723; ebd., Nr. 31, 15. 4. 1724.
53 L’usage et commoditez des Bureaux d’Adresse dans les Provinces, Paris 1639, S. 30,
überliefert in: A Complete Text and Image Database of the Papers of Samuel Hartlib
(ca. 1600 – 1662) held in Sheffield University Library, Sheffield (UK), [im Folgenden
Hartlib Papers], CD-ROM, Sheffield, HROnline, Humanities Research Institute, 20022,
48 / 7 / 1 / 15B.
54 Gorges, Transcript, o. S.; [John Dury u. Samuel Hartlib], Considerations Tending to the
Happy Accomplishment of Englands Reformation in Church and State, o. O. 1647, S. 44.
55 Renaudot, Inventaire, S. 31.
56 Ebd.; Gorges, Transcript, o. S.
48
Anton Tantner
oder Wochen nach dem Einbringen seines Anliegens gefragt war, fand keine
Erwähnung.57
Manche Adressbüros betrachteten selbst den Preis, um den eine Ware zum
Verkauf angeboten wurde, als schutzwürdig und offerierten ihren Kunden die
Möglichkeit, diesen nur im Register zu vermerken, nicht aber im Anzeigenblatt.58 Auch bei anderen Dienstleistungen der Büros war das Bewusstsein um
die Notwendigkeit von Diskretion vorhanden: Renaudot bewarb etwa die
Pfandleihaktivitäten seines Bureau d’adresse mit dem Argument, dass viele
Personen aus Scham davon Abstand nahmen, bei Geldbedarf ihre Besitztümer
zum Verkauf anzubieten, da eine solche Transaktion bei Abwicklung über die
üblichen Händler und Händlerinnen nicht geheim bliebe, während das Bureau
d’adresse die nötige Geheimhaltung garantieren könne.59 Ähnlich agierte das
Pressburger Fragamt: Dieses bot seinen Benutzern an, deren Geschäfte am
dortigen Versatzamt zu erledigen. Wer nicht selbst seine dort deponierten
Pfänder auslösen wollte, konnte sich des Fragamts als Mittler bedienen, auf
Wunsch auch anonym. Es reichte, dem Fragamt ein versiegeltes Billet ohne
Unterschrift zukommen zu lassen, in dem das Anliegen genau beschrieben
wurde, und „mit pünktlichster Genauigkeit“ werde der Wille des Einbringers
befolgt.60
Die Benutzung eines Adressbüros stellte somit nicht zwangsläufig ein Risiko
dar, wenn jemand etwas geheim halten wollte, sondern konnte im Gegenteil
gerade dann attraktiv sein. So betrachtete Renaudot die Zwischenschaltung
des Bureau bei der Dienstbotenvermittlung und die damit einhergehende
Anonymisierung der Arbeitssuche als Vorteil gegenüber der herkömmlichen
Empfehlung von Dienstboten durch Freunde: Durch die existierende Beziehung zwischen dem Bekannten und dem Dienstboten komme ein neu
angestellter Dienstbote einem Spion gleich, der alles, was sich im eigenen Haus
abspielte, dem Freund berichte.61 Das Ringen zwischen einer „prädiskursiven
Öffentlichkeit“ sowie Geheimnis und Arkanum ist eine der großen Auseinandersetzungen in der politischen Sphäre der frühen Neuzeit. Bereits im
17. Jahrhundert sahen sich Fürsten einem Publikum gegenüber, das durch
periodische Druckmedien über Staatsgeschäfte informiert war, die die
Souveräne lieber gut geschützt in ihren Kanzleien belassen hätten, als sie
57 Hartlib Papers, 48 / 7 / 1 / 4B - 5A, L’usage et commoditez, S. 9.
58 BNF, m. f. 21. 741, f. 253 r, Journal general de France, S. 15.
59 L’Ouverture des Ventes, Troques et achats du Bureau d’Adresse. En execution de l’Arrest
de Nosseigneurs du Conseil, du 27 Mars 1637. O) tous ceux qui auront des meubles
trouveront & les vendre, ou de l’argent dessus, o. O. 1637, S. 3 f. Vgl. Hartlib Papers,
48 / 7 / 1 / 11A, L’usage et commoditez, S. 21.
60 Preßburger Kundschaftsblatt, V. Stück, 29. 4. – 5. 5. 1781, S. 20.
61 Renaudot, Renouvellement, S. 39 f.; vgl. auch Hartlib Papers, 48 / 7 / 1 / 6A, L’usage et
commoditez, S. 11.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
49
den Augen der Lesenden ausgesetzt zu wissen.62 Die unermüdlichen Beteuerungen der Adressbüros, behutsam mit den ihnen überlassenen Informationen umzugehen, beweisen, dass – unter umgekehrten Vorzeichen – auch im
profanen Alltag um Öffentlichkeit und Geheimnis gestritten wurde.
III. Vorboten von Meldeämtern und Kreditauskunfteien
Die Frühe Neuzeit ist sowohl von Versuchen durchzogen, der immerfort
vagierenden Bevölkerung Herr zu werden, als auch über ihren Aufenthaltsort
Bescheid zu wissen. Zu diesem Zweck werden wiederholt Gesetze erlassen, die
beispielsweise die Hauseigentümer dazu verpflichten, die bei ihnen lebenden
Menschen regelmäßig den Behörden bekanntzugeben63 und Polizeibeamte
entwickeln monströse Allmachtsfantasien zur Überwachung der Bevölkerung:
Jacques FranÅois Guillaute etwa schlug in einer 1749 dem französischen König
unterbreiteten Denkschrift vor, mittels einer ausgeklügelten, aus an riesigen
Holzrädern aufgehängten Regalen bestehenden Papiermaschine, eine Million
Certificats mit Angaben zu allen Einwohnerinnen und Einwohnern von Paris
zu verwalten, also ein auf ganz Frankreich ausweitbares System der permanenten Kontrolle über die Bewegung der in ihm lebenden Menschen einzurichten.64
Adressbüros haben, wie im Folgenden gezeigt wird, Teil an diesen schwarzen
Utopien, auch wenn ihre zuweilen geäußerten Versprechen, ein Meldewesen zu
errichten, nicht verwirklicht wurden – dies blieb den Polizeibehörden des
19. Jahrhunderts vorbehalten.65
Die Verzeichnung des Aufenthaltsorts samt dessen Bekanntgabe konnte auf
freiwilliger Basis erfolgen, wie im Falle des von einem gewissen Matthias Leeb
zu Wien 1717 vorgelegten Projekt eines „allgemeine[n] Fragambt“, auch als
„Universal Insinuations- oder VormerckhungsAmbt“ bezeichnet. Das von
Leeb skizzierte Fragamt bot Fremden an, ihre Anwesenheit mittels des
Fragamts bekanntzugeben.66 Es war wohl kein Zufall, dass Leeb als „Spörreinnehmer“ an einem der Wiener Stadttore beschäftigt war und damit an einer
jener frühneuzeitlichen Grenzstationen, in denen Torschreiber die eine Stadt
62 Vgl. Maren Richter, „Prädiskursive Öffentlichkeit“ im Absolutismus? Zur Forschungskontroverse über Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, in: GWU 59. 2008, S. 460 – 475.
63 Anton Tantner, Policeyliche Hausbeschreibungen als Maßnahmen gegen fremde
Bettler / innen in der Habsburgermonarchie, in: PoliceyWorkingPapers. Working
Papers des Arbeitskreises Policey / Polizei in der Vormoderne 2007, H. 13, S. 1 – 16.
64 M. Guillaute, M-moire sur la R-formation de la Police en France. Soumis au Roy en 1749,
hg. v. Jean Seznec, Paris 1974. Ich verdanke den Hinweis darauf Gr-goire Chamayou.
65 Für Wien siehe Michaela Laichmann, Die historischen Meldeunterlagen im Wiener
Stadt- und Landes-Archiv, in: Sylvia Mattl-Wurm u. Alfred Pfoser (Hg.), Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859 – 1942, Wien 2011, S. 216 – 227.
66 ÖStA, Finanz- und Hofkammerarchiv, Verschiedene Vorschläge 102, Ansuchen Matthias Leeb, o. D., f. 51 r – v.
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Anton Tantner
betretenden Neuankömmlinge registrierten und deren Namen an die städtischen Behörden, zuweilen auch an die Zeitungen zur Publikation weiterleiteten.67 Umgekehrt wiederum sollte man sich bei Leebs Fragamt nach dem
Aufenthaltsort anderer Personen erkundigen können, ein Service, der in Wien
vor ihm schon 1636 der baskische Sprachlehrer Sumaran vorgeschlagen hatte,
mittels dessen fragstube jeder in Erfahrung bringen sollte, was für Leute in der
Stadt seien, wo sie herkämen, „was ihr thuen und lassen sey, wo sie wohnen,
undt mit wem sie sich aufhalten“.68
Noch weiter ging Johann Friedrich Schütz in seinem Antrag, in Lemberg ein
Intelligenz- und AdreßKomtoir einzurichten: Täglich sollten diesem Wohnort
und die Namen der in Lemberg ankommenden Fremden, die sich bislang bei
der Polizeidirektion meldeten, mitgeteilt werden. Dies sei zum Nutzen der
„Sicherheit des Publikums“, da es ansonsten sehr „mühsam wäre, die
Wohnung seines Schuldners […] auf[zu]suchen“, noch dazu, „da verschiedene Fremde aus allerley Absichten, besonders um ihren Gläubigern auszuweichen, ihre Wohnung sehr oft verändern“. Zur Sicherstellung dieser
Maßnahme müssten alle Hauseigentümer unter Androhung einer Strafe
jeden bei ihnen aus- und einziehenden Fremden angeben.69 In diesem Fall
sprach sich die zuständige Behörde, das galizische Gubernium, gegen die
Übernahme einer solchen Meldeamtsfunktion durch das Adressbüro aus,
bewilligt wurde das Fragamt allerdings dennoch.70
Schützens Erwähnung von Schuldnern als Personengruppe, deren Aufenthalt
es vorrangig ausfindig zu machen gelte, verweist schon ansatzweise auf die ab
dem 19. Jahrhundert entstehenden Kreditauskunfteien, deren Aufgabe es
unter anderem war, die Bonität von Kreditnehmern zu prüfen.71 Tatsächlich
gab es Bestrebungen von Adressbüros, nicht nur Informationen über den
Aufenthaltsort, sondern auch über die moralische Qualität, den Leumund von
Stadtbewohnern Interessenten zur Verfügung zu stellen. Sumarans Fragstube
wollte etwa mitteilen, von welchem Schlag („farinae“) die darin registrierten
Menschen seien,72 während das von Johann Christian Crell im März 1730 in
Dresden erfolglos eingereichte Frag- und Nachricht-Am[t] ganz explizit eine
Kontrollfunktion bei der Wohnungsvermietung ausüben wollte: Vermieter
67 Daniel Jütte, Entering a City. On a lost Early Modern Practice, in: Urban History
41. 2014, S. 204 – 227.
68 UAW, Kodex Th 16, Acta Facultatis Theologicae IV 1567 – 1666, f. 290, v.
69 ÖStA, AVA, Hofkanzlei, Akten Kt. 1857 (V. G. 3.), Ansuchen Johann Friedrich Schütz an
Joseph II., Wien 12. 7. 1782.
70 Ebd., Akten Kt. Kt. 542 (IV. D. 7), Mappe „Personal Privileg Schütz“ März 1783:
Galizisches Gubernium an Joseph II., 25. 10. 1782; Aktenfragment der Hofkanzlei,
17. 3. 1783; undatiertes Aktenfragment; ÖStA, HHStA, Kabinettsarchiv, Staatsratsprotokolle, 1783 / I, Nr. 1045.
71 Hartmut Berghoff, Markterschließung und Risikomanagement. Die Rolle der Kreditauskunfteien und Rating-Agenturen im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess des 19. Jahrhunderts, in: VSWG 92. 2005, S. 141 – 162.
72 UAW, Kodex Th 16, Acta Facultatis Theologicae IV 1567 – 1666, f. 290, v.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
51
sollten dort nur mehr jene Mieter annehmen dürfen, die eine vom Fragamt
besiegelte Bescheinigung vorzeigen konnten. Auf diese Weise könnten die
„ordentl. Einwohner“ besser von dem „lose[n] Gesindel“ getrennt werden.73
In der Praxis gingen Adressbüros weniger weit, keinem gelang es auch nur
ansatzweise, in seinen Registern die Wohnorte aller oder nur der Mehrheit der
in der jeweiligen Stadt lebenden Menschen zu verzeichnen. Dies sollte den
Stadtadressbüchern vorbehalten bleiben, die nur in Ausnahmefällen in
Zusammenhang mit Adressbüros standen und zur Erlangung dieses Ziels
Jahrzehnte brauchten.74 Belegt ist allerdings, dass Adressbüros ihre Anzeigenblätter zur Personensuche einsetzten, indem sie darin die Namen von
abgängigen Personen veröffentlichten, so zum Beispiel im Prager Kundschaftsblatt, das nach einem Fleischhacker fragte, der 1757 während der
Belagerung Prags durch preußische Truppen „ersprießliche Dienste geleistet“
hatte und in der Moldau ertrunken war. Sein Name war „unbewust“ und die
Leserinnen und Leser des Kundschaftsblatts wurden dazu aufgerufen, diesen
sowie den Aufenthaltsort seiner hinterlassenen Witwe zu „entdecken“.75 Auch
das Pressburger Fragamt war auf Personensuche spezialisiert und konnte
zumindest einmal eine Erfolgsmeldung bringen. So war einem Pressburger
Handelsmann ein Brief samt Paket zugestellt worden, die an eine „Madame de
Weinert n-e de Plecrer de Plan ( Preszbourg“ adressiert waren. Da alle
Nachfrage ergebnislos verlief, wandte sich Fragamtsdirektor Anton Martin
mittels des Kundschaftsblatts an die Pressburger Öffentlichkeit und konnte
eine Woche später feststellen, dass die Post „der Frau Eigenthümerinn zu ihrer
nicht geringen Zufriedenheit richtig zugestellet und behändiget worden“ sei76.
Martin nahm dies zum Anlass mitzuteilen, „daß alle Personen, deren
Wohnungen unwissend sind, durch dieses Fragamt leicht aufgesucht und
gefunden werden könn[t]en“.77
Ähnlich agierte das Berliner Address-Comptoir, indem es im Anschluss an eine
im Intelligenzblatt veröffentlichte Personensuchanzeige die Leserinnen und
Leser aufforderte, etwaige Nachrichten über die entwichene Person „entweder
schrifftlich oder mündlich zu melden“.78 Eine mehr aktive Form der Personensuche befand sich im Portfolio des Breslauer Anfrage- und Adreß-Bureau:
Zu seinen Tätigkeitsbereichen zählte „die Ausmittelung der hier und in der
73 Zeissig, Zeitung, S. 11.
74 Otto Ruf, Das Adreßbuch. Eine geschichtliche und wirtschaftliche Untersuchung, Diss.
Universität Würzburg 1932; Helmut Zwahr, Das deutsche Stadtadreßbuch als orts- und
sozialgeschichtliche Quelle, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 3. 1968, S. 204 – 229;
Mattl-Wurm u. Pfoser, Vermessung.
75 Im Königreich Böheim 19. 10. 1757, Nr. 31, S. 144 sowie u. a. 9. 11. 1757, Nr. 34, S. 166.
Vgl. auch eine drei Jahre zuvor publizierte Anzeige: 21. 1. 1754, Nr. III, S. 21.
76 Preßburger Kundschaftsblatt, XXXI. Stück, 28. 10. – 3. 11. 1781, S. 134.
77 Ebd., XXXII. Stück, 4. 11. – 10. 11. 1781, S. 137.
78 Wochentliche Berlinische Frag- u. Anzeigungs-Nachrichten, Nr. I, 5. 1. 1728.
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Anton Tantner
Nachbarschaft domicilirenden Personen, an welche Briefe abzugeben, oder
Aufträge auszurichten sind“.79
IV. Arbeitsvermittlung als Überwachung der
Arbeitssuchenden
Zu den Kernaufgaben der Adressbüros gehörte die Arbeitsvermittlung und
Erfolgsmeldungen über zustande gekommene Stellenvermittlungen zählten
schon zum Standardrepertoire des Pariser Bureau d’adresse. So behauptete
Renaudot bereits kurz nach dessen Gründung, nicht weniger als 3.000
Personen vermittelt zu haben,80 eine Zahl, die bis 1634 auf mehr als 50.000
anstieg.81 Dreizehn Jahre später sprach Renaudot von 80.000 erfolgten
Arbeitsvermittlungen.82 Das Universal Register Office der Gebrüder Fielding
war vergleichsweise bescheiden, als es vermeldete, ein Jahr nach seiner Anfang
1750 erfolgten Gründung Hunderte Dienstboten und Dienstbotinnen an
Dienstherrinnen und Dienstherren weitergeleitet zu haben.83 In Pressburg
wiederum, wo nicht weniger als die Hälfte der von Anton Martins Fragamt
geführten Protokolle der Arbeitsvermittlung dienen sollten, kämpfte dieses
zunächst mit Akzeptanzproblemen, denn Arbeitssuchende wie Arbeitgeber
mussten von der Nützlichkeit des Fragamts erst überzeugt werden. Im dritten
Jahr seiner Geschäftstätigkeit konnte schließlich zufrieden festgestellt werden,
dass einige herrschaftliche Familien dazu bereit waren, ihre Dienstbotinnen
und Dienstboten exklusiv über den Kanal des Fragamts aufzunehmen.84
Zu den Argumenten, mit denen Adressbüros die Tätigkeit der Arbeitsvermittlung den Behörden schmackhaft zu machen versuchten, zählte die
Behauptung, dass sie dadurch zur Kontrolle und Steuerung der Migration
beitragen würden. Ein besonders ausgeklügeltes System propagierten dabei
die in den französischen Provinzstädten zu errichtenden Büros: Gemäß ihrer
Absichtserklärung wurde von potenziell einzustellenden Domestiken eine
Bürgschaft verlangt, insbesondere, wenn diese aus fern gelegenen Orten
kommen würden. Da eine solche Bürgschaft oft von den Eltern oder von
Freunden ausgestellt werde, die außerhalb deren Ort niemand kenne, sollte in
jedem Abwanderungsort ein Mitarbeiter oder Intendant des Bureau d’adresse
installiert werden; dieser habe der notariellen Ausstellung der Bürgschaften
beizuwohnen und letztere an dem Ort, wo der Arbeitssuchende beschäftigt
79 GSTA-PK, 1. HA Rep. 95, Preußische Bank, Signaturnummer 68, Bekanntmachung
Anfrage- und Adreß-Bureau, Breslau, 18. 8. 1827, f. 80, 81.
80 Table des choses dont on peut donner et recevoir avis au Bureau d’adresse, 1630, in:
Jubert, P*re, S. 102 – 107, hier S. 107 sowie Hartlib Papers, 48 / 8 / 21A.
81 Renaudot, Instruction, S. 8 f.
82 Ders., Renouvellement, S. 17.
83 Henry Fielding, Covent-Garden Journal, S. 8.
84 Preßburger Kundschaftsblatt, Nr. 13, 28. 6. 1783, S. 197.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
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werden wollte, zu bestätigen. Somit werde das Finden einer Arbeit erleichtert
und die Zahl der Vagabunden verringert; wenn jemand in seinem Geburtsort
niemanden finde, der für ihn bürgen wolle, sei dies ein untrügliches Zeichen
dafür, dass es sich um einen „Bengel und Mann von schlechtem Lebenswandel“
handle.85 Überhaupt war daran gedacht, das aufwändige und oft ergebnislose
Herumreisen bei der Arbeitssuche zwischen 100 oder 200 Orten abzustellen.
Bereits im Abwanderungsort sollte das lokale Adressbüro den Gesellen und
Lehrlingen freie Arbeitsplätze anzeigen.86
Die Registrierung zur Arbeitssuche erfolgte auf freiwilliger Basis; Bemühungen von Adressbüros, dabei eine Monopolstellung zu erlangen, wurden von
den Behörden in der Regel zurückgewiesen. Dies geschah nicht zuletzt auf
Grund von Rücksicht auf die traditionell mit Arbeitsvermittlung betrauten
Personen, wie groß auch immer die Beschwerden über diese „Zubringerinnen“
und „Zubringer“ waren, die von den Fürsprechern der Adressbüros als
„dekhmantl alles übels“,87 als „Kupler / Hurenwirthe / und Diebs-Beheger“,88
gar als für „manchen Kindermord“ verantwortliche „Hehler“ beschimpft
wurden.89 So entgegnete etwa die böhmische Repräsentation und Kammer dem
Ansinnen von Joseph Ferdinand Bock, in Prag die Dienstboten darauf zu
verpflichten, für ihre Arbeitssuche das dortige Fragamt zu benutzen, dass die
Arbeitsvermittlung nur auf freiwilliger Basis erfolgen dürfe.90 Nicht anders
erging es dem Direktor des Prager Fragamts Ignaz Pruscha, als er ein paar
Jahre später vorschlug, dasselbe zu einem regelrechten Dienstbotenamt
auszubauen. Er verlangte, dass den Dienstbotinnen und Dienstboten, die ihre
Herrschaften verließen, verpflichtend ein Führungszeugnis auszustellen sei,
das Auskunft über ihr Verhalten während der abgeleisteten Dienstzeit gebe
und im Fragamt zu hinterlegen sei. Dort sei des Weiteren ein Verzeichnis mit
Angaben zur Person anzufertigen, außerdem seien diese dienstlosen Leute an
die Sicherheitskommission zu melden. Dienstherren, die Gesinde benötigten,
könnten das im Fragamt aufliegende Verzeichnis durchsehen und die
geeignete Person auswählen. Ohne dies explizit auszusprechen, hätte bei
Verwirklichung dieses Vorschlags das Fragamt eine Monopolstellung bei der
Dienstbotenvermittlung innegehabt. „Zubringer und Zubringerinnen“, so
Pruscha, seien „gäntzlich abzuschaffen“, und ein Teil der bislang diesen für die
Leistung der Vermittlungsdienste bezahlten Gebühr sollte nunmehr dem
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87
88
89
Hartlib Papers, 48 / 7 / 1 / 1B - 2A, L’usage et commoditez, S. 2 f.
Ebd., 48 / 7 / 1 / 6 A - B, L’usage et commoditez, S. 11 f.
UAW, Kodex Th 16, Acta Facultatis Theologicae IV 1567 – 1666, f. 290, v.
Schröder, Rent-Cammer, S. 155.
Ueber das Kundschaftsamt, in: Das Fünfkirchner Bergmandl, 1848, Nr. 8, S. 60 – 63,
Nr. 9, S. 64 f., Nr. 10, 78 f., hier Nr. 9, S. 64.
90 NA, ČG-Publ., 1748 – 1755, O 3, Kt. 130, Böhmische Repräsentation und Kammer an
Sicherheitskommission, 27. 7. 1752.
54
Anton Tantner
Fragamt zufallen.91 Pruschas Initiative hatte nur bedingt Erfolg. Als im Januar
1765 für Böhmen eine Dienstbotenordnung erlassen wurde, versuchte diese
zwar, die „Zubringere Manns- oder Weibs-Personen“ abzuschaffen, machte
aber die Benutzung des Fragamts zur Dienstbotenvermittlung nicht verpflichtend. Sie verwies stattdessen nur darauf, dass es in Prag jedem und jeder
Dienstsuchenden frei stünde, sich in das beim Fragamt geführte Verzeichnis
einzutragen.92 Pruschas Nachfolgerin als Fragamtsdirektorin, seine Witwe
Johanna Pruschin sollte sich in den darauf folgenden Jahren wiederholt
darüber beklagen, dass die Bestimmungen dieser Dienstbotenordnung nicht
befolgt wurden. Weiter meldete sich „alles vaccirende Gesind“ bei den
Zubringern und nur in Ausnahmefällen im Fragamt. Auch sie suchte bei der
Landesstelle darum an, dem Fragamt eine Monopolstellung zur Vermittlung
von Dienstboten zuzusprechen,93 schließlich kam aber von der Hofkanzlei eine
ablehnende Entscheidung: Die Supplikantin sei „mit dem unanständigen
Gesuche der Dienstbothen-Macklerey […] abzuweisen“.94
Nur selten kam es vor, dass die Behörden selbst Arbeitssuchende zu verpflichten
suchten, Adressbüros zu verwenden und damit die Arbeitsvermittlung mit einer
polizeilichen Aufgabe vermengten. So wurden im Falle des Bureau d’adresse in den
Jahren 1639 und 1640 zwei Anordnungen erlassen, gemäß denen sich alle nach
Paris kommenden Handwerker beziehungsweise überhaupt alle arbeitssuchenden
Fremden binnen 24 Stunden dort einschreiben lassen und die ihnen angebotene
Arbeit annehmen mussten. Diese Zwangsmaßnahme war für Mittellose gratis, auf
ihre Nichtbeachtung stand die Galeerenstrafe. Auch die Vermieter sollten in dieses
Überwachungssystem, das in der Praxis wohl kaum funktionierte, einbezogen
werden: Wenn die bei ihnen wohnenden nicht binnen 24 Stunden über ein vom
Bureau ausgestelltes Zertifikat verfügten, durften die betreffenden Personen nicht
länger beherbergt werden.95
Während derlei Kontrollfantasien kaum Chancen auf Realisierung hatten, ist sehr
wohl anzunehmen, dass die Registrierungsprozedur, der sich Arbeitssuchende bei
den Adressbüros zu unterziehen hatten, insbesondere für Dienstbotinnen und
Dienstboten reale, disziplinierende Auswirkungen hatte, sodass von einer
„Disziplinierung durch Registrierung“ gesprochen werden kann. Die Angaben,
die von den Arbeitssuchenden verlangt wurden, konnten nicht umfangreich genug
91 NA, ČG-Publ. 1756 – 1763, N 3 Kt. 215, Ignaz: Pruscha, […] Vorschlag durch was Mittel
[…] das […] Prager Frag- und Kundschaft-Amt […] empor gebracht werden könnte.,
o. D. (einbegleitet am 11. 4. 1761).
92 „neue Hausgenossen-, Gesinde- und Dienstboten-Ordnung vor das Königreich Böheim“, 25. 1. 1765, ediert in: Archiv Česky 24. 1908, S. 352 – 363, hier S. 353 f. Vgl. auch
Im Königreich Böheim, 27. 4. 1765, Nr. 17, S. 129 – 133.
93 NA, ČG-Publ. 1764 – 1773, N 2 / 1 (Mappe Poptavkový fflřad), Kt. 445, Pruschin an
Gubernium, o. D., ca. 1770.
94 Ebd., Reskript der Hofkanzlei an böhmisches Gubernium, 29. 12. 1770.
95 Die entsprechenden Verordnungen bei: Jubert, P*re, S. 241 – 243 u. S. 247 f.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
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sein, im Dresdner Fall etwa verlangte Gottlob Christian Hilscher, dass diese
auff einen Zeddel ihren Tauff- und Zunahmen wie alt sie sind, ihren jetzigen Auffenthalt, wer
ihre Eltern, ob sie noch am Leben, und wo sie wohnhafft, bey was vor Herrschaften sie und
wie lange in Diensten gestandten, ob sie Abschiede erhalten, und was sie vor Profeßion
verstehen, ob sie mit Peruquen acommodiren oder Barbieren umgehen können / setzen
lassen sollen, dabey denn die so der Schreiberey zugethan, jedesmahl ihre Hand mit
Lateinischen und Teutschen Schrifft auch ihres Nahmens Unterschrift zugleich mit
abzugeben haben.96
Es war insbesondere das Universal Register Office der Gebrüder Fielding, das
die segensreiche disziplinierende Wirkung lobte, die eine solche Einschreibung auf die Dienerinnen und Diener ausübte. Hier wurden nicht nur Namen,
Aufenthaltsort, Qualifikation, Alter und Familienstand erfasst, sondern auch
Angaben über den letzten Wohnort, die Dauer des dortigen Aufenthalts, ihren
Leumund und ob sie die Pocken gehabt hätten. Kein Diener, keine Dienerin
sollte registriert werden, der oder die verdächtig erschien oder an einem
verrufenen Ort wohnte. Auch wurden Dienstherrinnen und -herren zur
Denunziation aufgerufen: Jene, die einen Diener oder eine Dienerin wegen
einer Verfehlung entlassen hatten, sollten an das Büro einen Brief schreiben,
der oder die Betreffende würde dann nicht mehr registriert werden.97 Auch
Johann Christian Crell pries in seinem im März 1730 in Dresden eingereichten
Gesuch, ein Frag- und Nachricht-Am[t] zu gründen, derlei Methoden als
Mittel, „das böse von dem guten Gesinde zu separiren“: Kein Dienstbote, keine
Dienstbotin dürfe mehr eingestellt werden, der oder die sich nicht mit einem
vom Inspektor des Fragamts unterschriebenen „Zettul“ ausweisen könne und
damit ein Zeugnis seines oder ihres Wohlverhaltens vorlege.98
Dieses Wohlverhalten wurde nicht nur implizit vorausgesetzt, sondern
manchmal in eigenen schriftlichen, von den Adressbüros herausgegebenen
Verhaltenskodizes explizit verlangt: Das Universal Register Office etwa
publizierte 1755 einen eigenen Katalog von 24 Geboten für Dienstbotinnen
und Dienstboten, der unter anderem beinhaltete, dass niemals Familienangelegenheiten weiter erzählt werden sollten und Trunkenheit zu vermeiden
sei.99 Das späte, nicht realisierte Kundschaftsamts-Projekt für Fünfkirchen
(P-cs) wollte Dienstbotinnen und Dienstboten vorschreiben, nächtens und
während der Dämmerung zu Hause zu verbleiben und „[s]ich überhaupt
während dem Hiersein, sittlich, ruhig und ordentlich zu verhalten“.100
Arbeitssuchende wurden somit potenziell in die Nähe von Kriminellen
gerückt. Schon das Mitte des 17. Jahrhunderts von Cressy Dymock, einem
Schöne, Anfänge, S. 89.
Fielding, Covent-Garden Journal, S. 8.
Zeissig, Zeitung, S. 11.
Henry Fielding u. John Fielding, A Plan of the Universal Register-Office, in the Strand,
and of that in Bishopsgate-Street Near Cornhill, London 17558, S. 18 – 21.
100 Ueber das Kundschaftsamt, in: Das Fünfkirchner Bergmandl, 1848, Nr. 9, S. 65.
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Anton Tantner
Landwirtschaftsexperten aus dem Kreis um Samuel Hartlib, geplante Office of
Addresse for Servants wollte in seinen Registern das Fehlverhalten von
Dienstbotinnen und Dienstboten aufzeichnen, darunter Prostitution, Trunkenheit, Diebstahl, Trägheit, Verrat von Geheimnissen des Dienstgebers,
Verheiratung ohne Einverständnis des Dienstgebers sowie schlechten Umgang.101 Die Gebrüder Fielding wiederum priesen die in ihrem Adressbüro
praktizierte Stellenvermittlung ganz explizit als Mittel der Kriminalitätsbekämpfung an: Für die meisten Verbrechen wären vom rechten Weg abgekommene Dienstbotinnen und Dienstboten verantwortlich. Das Universal Register
Office könne demgegenüber dafür garantieren, dass es unschuldige Neulinge
vom Land, die in die Stadt kommen würden, vor Betrügerei schütze.102 Diese
Übernahme quasi-polizeilicher Aufgaben wurde noch durch Henry Fieldings
seit 1748 ausgeübte Tätigkeit als Friedensrichter für Westminster und
Middlesex verstärkt. In dieser Funktion befragte er Tausende Verdächtige
und urteilte ähnlich über deren Glaubwürdigkeit wie dies die Angestellten des
Universal Register Office in Bezug auf die Aussagen der Dienstbotinnen und
Dienstboten taten.103 Die im Adressbüro praktizierte Registerführung wurde
auch in Fieldings Amtsbüro verwendet, um Informationen über Betrügereien
und sonstige Verbrechen an einem Ort zu sammeln. Des Weiteren wurden dort
Register aller Verbrecher, der verübten Raube, aller verlorenen Güter sowie der
Namen und Beschreibungen angeklagter Personen geführt.104
Teil der Registrierungsprozedur, der sich die Arbeitssuchenden unterziehen
mussten, war die Vorlage von Bürgschaften beziehungsweise Führungszeugnissen. So betonte der Pressburger Fragamts-Direktor Anton Martin, dass nur
„derley Dienstsuchende Weibspersonen“ eingeschrieben würden, die, sofern
sie noch nicht in Dienst gewesen seien, „hübsche Eltern“ hätten, die für sie
bürgen könnten oder aber Empfehlungsschreiben von angesehenen Personen
vorweisen könnten. Von denjenigen Dienstbotinnen, die bereits beschäftigt
gewesen waren, verlangte Martin Dienstzeugnisse, die im Amt deponiert
werden sollten.105 Ähnliches galt in Wien, wo dienstsuchende Personen neben
Angaben über Alter, Geburtsort, Eltern, Vermögensverhältnisse und Fähigkeiten Führungszeugnisse und Empfehlungsschreiben einzubringen hatten.
Im Gegenzug wurde dafür eine schriftliche Bestätigung ausgegeben,106 ein wie
im oben angeführten Dresdner Projekt vom Fragamt ausgestellter „Zettul“.107
In Prag versuchte Johanna Pruschin, aus solchen schriftlichen Attestaten
101 Hartlib Papers, 3 / 11 / 4A – B, Mr Dymocks Advice Concerning an Office of Address for
Servants.
102 George, History, S. 583 – 589; Ogborn, Spaces, S. 216 – 221.
103 Lance Bertelsen, Henry Fielding at Work. Magistrate, Businessman, Writer, New York
2000, S. 1 f.
104 Ogborn, Spaces, S. 219 – 221.
105 Preßburger Kundschaftsblatt, VI. Stück, 6. 5. – 12. 5. 1781, S. 22.
106 Wiennerisches [sic!] Diarium, Nr. II, 7. 1. 1722.
107 Zeissig, Zeitung, S. 11.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
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regelrechte amtliche Dokumente zu machen: Nach Vorbild der vom Lehnwagenamt an die Lehnkutscher ausgegebenen Ausweise sollten Dienstbotinnen
und Dienstboten nummerierte „Balletten“ erhalten, ohne die es Dienstherren
und Dienstfrauen nicht mehr erlaubt sei, jemanden aufzunehmen.108 Es
verwundert nicht, dass diese versuchte Übernahme gouvernementaler Aufgaben durch Adressbüros bei der Arbeitsvermittlung sowie ihre Absicht, auf
die Dienstbotinnen und Dienstboten disziplinierend zu wirken, von den
Arbeitssuchenden mit Skepsis beobachtet wurde, dass sie, wie es der Betreiber
des Pressburger Fragamts formulierte, „die Güte dieses Amtes nicht einsehen
woll[t]en, und sich für die ämtliche Einschreibung gleichsam scheu[t]en“.109
Diese Skepsis wuchs noch angesichts des von manchen Adressbüroprojekten
vorgebrachten Arguments, dass eine solche Vermittlungstätigkeit den Mangel
an geeignetem Dienstpersonal behebe und somit die von den Dienstherren zu
bezahlenden Löhne sinken könnten.110
Manchmal versuchten Adressbüros, diesem Odium, einseitig die Interessen
der Behörden und der Arbeitgeberseite zu vertreten, zu entkommen und
richteten sich mit ihrer Rhetorik an die Arbeitssuchenden, indem sie zum
Beispiel diesen versicherten, auch etwaiges Fehlverhalten von Seiten der
Dienstgeber zu registrieren: Cressy Dymocks Office of Addresse for Servants
war bereit, derlei Vergehen, wie etwa die Verweigerung angemessener
Nahrung sowie von Pflege bei Krankheit, übertriebene Grausamkeit bei
Züchtigungen und am Sonntag verlangte Dienste, die nur aus Profitgier und
nicht für die Familie zu leisten waren, festzuhalten, sofern sie von zumindest
zwei Personen bezeugt werden konnten.111 Joseph Lichtensteins Fünfkirchner
Kundschaftsamtsprojekt fand – vielleicht der Stimmung des Revolutionsjahrs
1848 geschuldete – drastische Worte, die beweisen sollten, dass ihm das
Wohlergehen der Dienstbotinnen und Dienstboten ein großes Anliegen war :
Manche Herren seien „wahrhaftige Satanas“ und behandelten die Dienerinnen
und Diener ärger als „Plantagensklave[n]“. Sie bekämen nicht nur Schläge,
sondern darüber hinaus „miserabelst[e] Kost“, während doch „treu[e] und gut[e]
Diener […] eine liebevolle Behandlung zu genießen“ hätten. Lichtenstein
führte allerdings nicht näher aus, wie sein Kundschaftsamt einen Beitrag zu
diesem fürsorglichen Umgang zu leisten gedachte und ging dafür ausführlich
auf die bereits oben genannten Pflichten der Dienstleute ein.112
Somit blieb es wohl in den meisten Fällen bei solchen Beteuerungen: Ein
tatsächlich arbeitnehmerfreundlicheres Verhalten jedoch mag es allenfalls in
den wenigen Fällen gegeben haben, in denen die Adressbüros zueinander in
108 NA, ČG-Publ. 1764 – 1773, N 2 / 1 (Mappe Poptavkový fflřad), Kt. 445, Pruschin an
Gubernium, o. D., ca. 1770.
109 Preßburger Kundschaftsblatt, XXII. Stück, 26. 8. – 1. 9. 1781, S. 87.
110 Schröder, Rent-Cammer, S. 155.
111 Hartlib Papers, 31 / 11 / 3A – B.
112 Das Fünfkirchner Bergmandl, 1848, Nr. 8, S. 61 – 63.
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einer Konkurrenzsituation standen. Dies war der Fall in London, wo sich das
Universal Register Office nach seiner Gründung einem Public Register Office
gegenübersah, das von dem aus Brüssel stammende Philip D’Hall(o)uin
eingerichtet war und ähnliche Dienstleistungen wie das Universal Register
Office anbot.113 Die beiden Büros lieferten sich in der Presse einen regelrechten,
mit Anzeigen und Gegenanzeigen ausgefochtenen Kleinkrieg, und folgt man
der Analyse von Lance Bertelsen, handelte es sich bei diesem Streit um eine Art
„Miniaturversion von Klassenkampf“,114 der auch um die Zuneigung der
Dienstbotinnen und Dienstboten ausgefochten wurde: Während die Fieldings
einseitig die Position des Dienstherren oder der Dienstherrin bezogen und
Fragen der Disziplin in den Vordergrund rückten, nahm D’Halluin eine
freundlichere Position gegenüber den Dienerinnen und Dienern ein und
betonte den beiderseitigen Nutzen, der Dienstherr und Diener durch die
Serviceleistung des Public Register Office erwachse.115
V. Schlussbetrachtung: Adressbüros als „friendemy“
Die Internettheoretikerin Mercedes Bunz verwendete den Begriff „friendemy“,
um die Janusgesichtigkeit von Suchmaschinen wie Google zu beschreiben, die
zwischen freundlicher Nützlichkeit und feindlicher Kontrolle über die Wünsche der Userinnen und User oszillieren. Nach Bunz kommt diesen Anwendungen auf Grund des über ihre Benutzer generierten Wissens eine Form der
Macht zu, die gefährlich ist, jedoch „nicht automatisch unterwerfend, schlecht
oder böse.“116
Ein solches Wechselspiel – Überwachungs- und Kontrollfunktion auf der einen
Seite, Dienstleistung auf der anderen – lässt sich auch bei den frühneuzeitlichen Adressbüros feststellen: Diese versprachen, die Anliegen ihrer Benutzerinnen und Benutzer möglichst diskret abzuwickeln, deren Geheimnisse zu
bewahren und verpflichteten sich wortgewandt zu Verschwiegenheit. Doch
weckten die gespeicherten Daten obrigkeitliche Begehrlichkeiten, wenn auch
weitergehende, sich an den Adressbüros entzündende Kontrollfantasien, diese
zu Meldeämter oder Kreditauskunfteien avant la lettre umzufunktionieren,
nicht realisiert wurden. Im Fall der Arbeitsvermittlung vertraten Adressbüros
113 Plan of the Public Register-Office, in King-Street, Covent-Garden, Very Commodiously
Situated and Conveniently Fitted Up, in: Bertelsen, Fielding, S. 177 – 179.
114 Bertelsen, Fielding, S. 39 – 43, hier S. 39.
115 Ebd.
116 Mercedes Bunz, Sozial 2.0, Herr, Knecht, Feind, Freund. Soziale Netzwerke und die
Ökonomie der Freundschaft, in: De:Bug. Elektronische Lebensaspekte, 11. 3. 2008,
http://de-bug.de/mag/5422.html; Als Versuch, die Tätigkeiten Googles mit Hilfe
foucaultscher Machtkonzeption und der Akteur-Netzwerk-Theorie zu analysieren
siehe Theo Röhle, Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets, Bielefeld
2010.
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Europäische Adressbüros der Frühen Neuzeit
59
zumeist die Interessen der Dienstherrinnen und Dienstherren, machten aber
zuweilen, freiwillig oder gezwungenermaßen, Zugeständnisse an die Arbeitssuchenden. Dass ihnen vorgeworfen wurde, dass nur die schlechtesten
Dienerinnen und Diener derlei Einrichtungen zur Arbeitssuche verwenden
würden, lag wohl darin begründet, dass die Befragungsprozeduren als
entwürdigend empfunden wurden und arbeitswillige Dienstbotinnen und
Dienstboten als potenzielle Diebe und Prostituierte stigmatisierten.117
Mit der Ausnahme der preußischen Intelligenzbüros waren Adressbüros
privat geführte Einrichtungen. Ihre Geschichte weist viele Berührungspunkte
und Überschneidungen mit der Ausbreitung der auch durch Anzeigen
finanzierten Tagespresse auf.118 Dies rechtfertigt es, sie in Analogie zu
heutigen, werbefinanzierten Suchmaschinen wie Google zu setzen. Vielleicht
werden künftige Archivfunde, zum Beispiel von Protokollbüchern über die
von Adressbüros vermittelten Anliegen,119 es erlauben, den „kontrollierten
Anachronismus“, sie als vormoderne Suchmaschinen zu betrachten, weiter
produktiv zu machen.
Dr. Anton Tantner, Universität Wien, Institut für Geschichte,
Universitätsring 1, 1010 Wien, Österreich
E-Mail: [email protected]
117 Bertelsen, Fielding, S. 55; siehe auch J.C. Hüttner, Vermischte Bemerkungen. Bilderläden. Frühstück. Badshilings. Bänkelsänger. Adreßbureaus für Bediente. Umgehungen
der Stempeltaxen, in: London und Paris 1. 1798, H. 1, S. 138 – 144, hier S. 142 f.
118 Blome, Adressbüro, S. 22.
119 Bislang konnte ich nur für das Prager Fragamt eine den Zeitraum von 1. April bis Ende
1753 umfassende Aufstellung dessen Ausgaben und Einnahmen vorfinden, aus der
hervorgeht, dass mehr als die Hälfte der eingebrachten Anliegen – 53 von 91
Vermittlungangeboten – die Arbeitsvermittlung berührte: NA, ČG-Publ. 1748 – 1755, O
3, Kt. 130, Extractus Protocolli Über die a 1ma Aprilis bis ult Xbris Ao 1753 respectu
deren Dienst Suchenden Persohnen, Geldaufnehmenden und verkaufenden Sachen
Eingekommene Einschreibgebührnussen, o. D.
Identifying Colonial Subjects
Fingerprinting in British Kenya, 1900 – 1960
by Daniel Brückenhaus
Abstract: Examining the introduction of fingerprinting in British sub-Saharan Africa
between 1900 and 1960, this article demonstrates how this region became an important site of experimentation in the use of biometric methods for maintaining a
racial hierarchy. Focusing on British Kenya, the article shows that many Africans
experienced race-based fingerprinting as a threat to their personal honor and dignity.
African opposition to this practice caused political conflict not only in Kenya, but also
in the British metropole, and was a significant factor behind the emergence of the
Kenyan nationalist movement.
In a passionate speech to the 1945 Pan-African Congress, Jomo Kenyatta, the
future president of independent Kenya, recounted the early days of anti-British
activism in his home colony. As he argued, one of the most crucial reasons for a
rise in anti-colonial feeling after the end of the First World War was the passing
of the Native Registration Ordinance of 1919. This required all black Kenyans
over the age of sixteen to have their fingerprints taken, as if they were
“common criminals”. The fingerprints were recorded on a registration
certificate that had to be worn around the neck in a small box, called a Kipande.
The prints were thus kept in a strange state of limbo: Detached from the body
and objectified, Africans nevertheless always had to keep this proof of their
identity close to themselves. The Kipande had to be “produced on demand” not
only to policemen but also to European employers, who thereby became part of
a unified white system of surveillance of all male adult Africans.1
The experiences of Kenyatta and countless other Africans help us gain new
perspectives on two central projects that characterized the early history of
biometric data collection and analysis. Late nineteenth and early twentiethcentury biometric scholars analyzed people’s physical features, including their
facial characteristics and fingerprints, in hopes of proving the existence of
evolutionary hierarchies between various racially and socially defined groups.
At the same time, pragmatically-minded administrators and police officers
were attempting to develop a more reliable method of distinguishing one
person from another. There was in fact an in-built tension between these two
projects; for while biometric scientists hoped to find collective patterns in the
1 The East African Picture, in: George Padmore (ed.), Colonial and Coloured Unity – A
Program of Action. History of the Pan-African Congress, London 1963, pp. 40 – 43, here
pp. 41 f.
Geschichte und Gesellschaft 42. 2016, S. 60 – 85
" Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2016
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Identifying Colonial Subjects
61
data they collected, the existence of such patterns inevitably weakened the
claim of police officers that each fingerprint was entirely unique to a given
person and therefore constituted a legal basis for potential conviction.2 As I
want to argue, however, the colonial experience in sub-Saharan Africa bound
closely together the goals of racial differentiation and personal identification.
First, in the African colonies, it was precisely the hope of maintaining a racial
hierarchy that led to innovations in individual identification. Second, data
collected as part of the administrative effort to identify individual Africans
frequently became the raw material for scientific studies aimed at finding
racial “types” among the African population. And third, the practice of
fingerprinting of some, but not all, inhabitants of a given colony turned the
process of being identified, in itself, into a marker of belonging to a low-status
social group.
To date, research on biometric data collection in the European colonies has
mostly focused on India. Historians have demonstrated the importance of that
colony as a laboratory for modern forms of identification. As they have shown,
while fingerprints had been used at a local level at various earlier points in
history, including in seventh-century China, late nineteenth-century India was
the first region where fingerprinting was applied in a large-scale administrative context, before being “re-imported” to the British metropole.3
In contrast, except for some recent important studies on South Africa, there is
still little work on how biometric measures were applied in the African
continent.4 Focusing on the sub-Saharan British colonies, and British Kenya
more specifically, and covering the period between 1900 and 1960, the article
argues that this region was in many ways of equal importance, as compared to
India, when it came to the development and application of biometric methods.
In their scholarly analysis of fingerprints and other forms of biometric data,
European experts frequently relied on information that had been collected in
the African colonies, usually in close cooperation with the colonial admin2 Simon A. Cole, Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge, MA 2001, pp. 99 f.; Allan Sekula, The Body and the Archive, in:
October 39. 1986, pp. 3 – 64, here pp. 17 – 19, pp. 25 – 27 and pp. 30 – 33.
3 Cole, Suspect Identities, p. 60; Chandak Sengoopta, Imprint of the Raj. How
Fingerprinting was Born in Colonial India, London 2003; Carlo Ginzburg, Morelli,
Freud and Sherlock Holmes. Clues and Scientific Method, in: History Workshop Journal
9. 1980, pp. 5 – 36, here pp. 26 f. See also Colin Beavan, Fingerprints. The Origins of
Crime Detection and the Murder Case that Launched Forensic Science, New York 2001.
4 See Keith Breckenridge, Biometric State. The Global Politics of Identification and
Surveillance in South Africa, 1850 to the Present, New York 2014; Karen L. Harris, Paper
Trail. Chasing the Chinese in the Cape (1904 – 1933), in: Kronos 40. 2014, pp. 133 – 153;
Uma Dhupelia-Mesthrie, The Form, the Permit and the Photograph. An Archive of
Mobility between South Africa and India, in: Journal of Asian and African Studies 46.
2011, pp. 650 – 662. See also Anette Hoffmann (ed.), What We See. Reconsidering an
Anthropometrical Collection from Southern Africa. Images, Voices, and Versioning,
Basel 2009.
62
Daniel Brückenhaus
istration and police. At the same time, sub-Saharan Africa formed one of the
crucial early sites of experimentation with the widespread administrative use
of fingerprints as a means of racial segregation.
The first part of the article provides an overview of the introduction and
spread of fingerprinting in British sub-Saharan Africa, and details the British
administrative and scholarly motivations behind this process. I then focus on a
case study of one important British colony, Kenya, and examine in detail the
controversies and conflicts surrounding the use of fingerprinting there in the
period between the First World War and 1960. The article is based primarily on
the memoirs of Africans and Europeans in Kenya and on transcripts of British
and Kenyan parliamentary debates, while also taking into account newspaper
articles published in Kenya and a number of petitions sent to the British
Colonial Office. It shows how fingerprinting, often experienced as dishonorable and demeaning by Africans, was discussed critically not only in the
colonies but also in Europe. As will become clear, in Kenya, resistance to
fingerprinting quickly developed into an important driving force behind the
emergence of the nationalist movement.
I. British Approaches to Fingerprinting in Africa
The introduction of fingerprinting to Africa was closely connected to a broader
modern European project, both scientific and administrative in nature, of
deciphering, analyzing and processing people’s physical features. Beginning in
the late eighteenth century, phrenologists and craniometrists attempted to
deduct individuals’ mental characteristics from the shapes and volumes of
their skulls.5 These early approaches were developed further in the late
nineteenth century, when a new statistics-based science of large numbers
gained ground in Europe. In 1870, the Belgian scholar Adolphe Quetelet argued
that quantitative methods should be applied to the field of “anthropometry”, a
term invented in the seventeenth century to describe the use of technical
devices to measure the human body.6 At the same time, British scholars such as
Francis Galton and Karl Pearson began to adopt social-Darwinist ideas into
their theories. From 1901 onwards, they proposed and popularized a new
science of “biometry”, defined by Galton as “the application to biology of the
modern methods of statistics.”7 Information collected in Africa frequently became
5 Sekula, The Body and the Archive, p. 11.
6 Angelo Albrizio, Biometry and Anthropometry. From Galton to Constitutional
Medicine, in: Journal of Anthropological Sciences 85. 2007, pp. 101 – 123, here
pp. 110 f.; Sekula, The Body and the Archive, pp. 19 – 23.
7 Francis Galton, Biometry, in: Biometrika 1. 1901, pp. 7 – 10, here p. 7. See also Michael
Bulmer, Francis Galton. Pioneer of Heredity and Biometry, Baltimore 2003, pp. 299 f.;
Theodore M. Porter, Karl Pearson. The Scientific Life in a Statistical Age, Princeton 2004,
pp. 249 – 268.
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Identifying Colonial Subjects
63
the basis for studies that applied this new statistical approach to facial angles.8
Moreover, Galton and others hoped that academic work on African fingerprints
would finally allow them to make valid statements about social and racial “types”,
and thus to prove the power of heredity across generations.9
At the same time, the new quantitative and systematic approach to observing
people’s physical traits not only had scholarly applications but also became
increasingly important in police work. Late nineteenth-century scholars
developed new ways of translating visual characteristics into small units of
data, as only then could statistical methods be used to find collective patterns
in how these characteristics were distributed among different groups. This
scholarship influenced the French police officer Alphonse Bertillon who in
1883 introduced a method of archiving information on physical characteristics, such as the length and breadth of the head, or the length of the middle
finger, that quickly spread around the world.10
From the mid-1890s onwards, however, Bertillon’s technique began to be
replaced by a more efficient system, based on the taking and cataloging of
fingerprints, that Galton and other biometricians were working on. In 1895,
Edward Henry, Inspector General of Police in Bengal, India, revived an earlier,
aborted experiment with fingerprinting for administrative usage that had been
carried out by William Herschel between the late 1850s and 1870s in the same
province. After having improved upon Herschel’s method of classifying
fingerprint data, Henry re-introduced the technique in his police department
and beyond.11
Henry has often been identified as a crucial link between the use of biometric
methods in the colonies and in the metropole; for after moving to Britain in
1901, he went on to introduce fingerprinting to the London police.12 In
contrast, the months after he left India and before he arrived in Britain have
been studied to a much lesser extent. It was during this period that Henry
brought fingerprinting to the African continent.
In Africa, just like elsewhere, the introduction of fingerprinting as an
administrative technique followed earlier experiments with so-called Bertillonage.
Bertillon’s method was likely first tried out in Africa in the late 1890s, when a
police commissioner in Natal set up a biometric identification bureau.13 However,
8 For an example, see R. Crewdson Benington and Karl Pearson, A Study of the Negro
Skull with Special Reference to the Congo and Gaboon Crania, in: Biometrika 8. 1912,
pp. 292 – 339.
9 Francis Galton, Finger Prints, London 1892, pp. 18 f.
10 E. R. Henry, Classification and Uses of Finger Prints, London 19053, pp. 69 f. By 1911, the
term “anthropometry” had become closely identified with police work, and Bertillon’s
technique more specifically ; see Anthropometry, in: Encyclopedia Britannica, vol. 2,
New York 191111, pp. 119 f.
11 Cole, Suspect Identities, pp. 64 – 66 and pp. 81 – 90.
12 See Francis Galton, Memories of My Life, London 1908, p. 256.
13 Breckenridge, Biometric State, pp. 77 f.
64
Daniel Brückenhaus
it was fingerprinting that was destined to become the dominant method of
identifying Africans. In 1900, when Henry was sent from Bengal to Johannesburg
in the Transvaal, his task was to establish a new Crime Investigation Department
(CID) and a new “scientific” system of classification.14
As Henry explained, his approach relied on first taking a person’s ten fingerprints.
Each fingerprint was then examined, and its form easily identified as one of four
possible shapes: whorl, loop, arch, or composite. If necessary, additional, more
detailed information on characteristics such as the number of ridges on a given
finger could also be recorded. This data was then translated into a short code
consisting of a few numbers and letters. The code was written down on a slip, along
with the person’s name and address. The many slips were stored in the police
office, catalogued according to their codes. As Henry argued, using this system of
classification, an unknown person who had been fingerprinted at some point in
the past could be identified in no more than “five or six minutes” even when “the
Record consists of 100,000 slips”.15
Fingerprinting was spreading simultaneously in Western countries as well, but
there it was used solely for the identification of suspected criminals. In Britain,
the prospect of obligatory fingerprinting of larger groups met with strong
resistance from within the political establishment.16 In the colonies, of course,
Africans were often defined as criminals simply for resisting the colonial order.
Moreover, fingerprinting in Africa was to go beyond the identification of
criminals and would be applied to create racial divisions, whether through
enforced fingerprinting of entire populations thought pre-disposed to crime,
or through its use on Africans, and sometimes Asians, only, and not on white
people.
From the first decade of the twentieth century onwards, one central goal
behind the administrative use of fingerprinting in Africa was to control the
employment and the movements of Africans and Asian immigrants. This effort
was connected to the white settlers’ interest in maintaining their political
hegemony and maximizing their economic profits. The settlers wished to
protect themselves from competition with skilled immigrant and African
workers, but at the same time they were interested in drawing unskilled
Africans into the work force as cheap sources of labor.
In order to achieve these goals Africans were forced to carry registration cards
containing their names and fingerprints. These were then used to channel the
population within a given colony to wherever the colonizers wished them to be,
as Africans were only allowed to reside and work where they were registered.
Practically speaking, in most cases fingerprinting was restricted to adult men
only, as it was primarily they who were engaged in migrant labor.
14 Ibid., p. 22.
15 Henry, Classification and Uses of Finger Prints, p. 22 and pp. 78 – 101.
16 See Edward Higgs, Finger Prints and Citizenship. The British State and the Identification
of Pensioners in the Interwar Period, in: History Workshop Journal 69. 2010, pp. 52 – 67.
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Identifying Colonial Subjects
65
The close ties of fingerprinting to the economic interests of white elites become
clear immediately in Henry’s early experiments in South Africa. He first
applied this method of identification in the Transvaal gold mines of the
Witwatersrand, whose owners wished to bind mobile workers to their work
places. Soon a stipulation existed according to which African workers who
were found without a registration card would be imprisoned for a week to give
the police sufficient time to identify them.17
In the years after Henry left Africa, the fingerprinting of immigrants was
introduced as well. After 1904, all adult Chinese males in the Transvaal were
registered through fingerprint identification, and in the first decade of the
twentieth century, the Transvaal administration introduced a system of
fingerprint registration for all male Indians, leading to a large-scale resistance
campaign led by Gandhi.18
Henry’s system soon spread from the Transvaal to other South African
colonies, and into more distant British African territories. In 1902 in Natal,
Commissioner of Police William James Clarke, upon advice from Henry, began
to create a collection that grew to 160,000 fingerprints by 1907. After 1906,
fingerprints were used to enforce the local pass laws in the Orange River
Colony.19 Among white people, only in the Cape Colony was there considerable
liberal resistance to the selective fingerprinting of Africans, and even there, the
Chinese immigrant population was subjected to systematic fingerprint
registration after the passing of the Chinese Exclusion Act of 1904.20
Fingerprinting continued to be adopted throughout the African colonies. In
1903, the Commissioner of Police in Southern Nigeria began to take
fingerprints from those whom colonial administrators imagined were
predisposed, through their racial heritage, to be both criminal and mobile,
namely “the hereditary nomadic robber type”.21 In 1912, fingerprinting had
spread to the Congo Copperbelt.22
Kenya soon followed. The Kipande system described by Kenyatta was first
introduced in the middle period of the First World War in order to organize the
recruitment of African workers for the Carrier Corps. After the end of the war,
rather than treating the system as a temporary measure that could be abolished
with the ceasing of hostilities, the British administration expanded its
application to the rest of the adult male African population, consistent with the
interests of white employers who wished to control the location and
17
18
19
20
21
Breckenridge, Biometric State, p. 68, p. 73 and p. 77.
Harris, Paper Trail, pp. 137 – 139; Breckenridge, Biometric State, pp. 79 – 82.
Breckenridge, Biometric State, p. 78 and p. 83.
Ibid., pp. 82 f.; Harris, Paper Trail, pp. 142 – 149.
L. W. LaChard, Finger-Print Characteristics, in: Journal of Criminal Law and
Criminology 10. 1919, pp. 195 – 201, here p. 196.
22 Breckenridge, Biometric State, p. 88.
66
Daniel Brückenhaus
employment of African workers.23 During this expansion of fingerprinting,
both South Africa and India served as models. According to one of the
organizers of the new bureau, “a finger-print expert was obtained from South
Africa and a number of Indians [were] trained by the Government of India to
carry out the classification of fingerprints.”24 After 1920, male Kenyans were
only allowed to seek new employment if their previous employer had approved
their departure on the registration document, and Africans outside of their
own “reserves” who travelled without their Kipande pass, or who had damaged
their pass, were subject to criminal prosecution and imprisonment.25
Registration proceeded rapidly. As was pointed out in a 1925 British
parliamentary debate, by the end of 1923 already more than 550,000
fingerprints had been taken in Kenya to generate identity passes.26
The spread of fingerprinting did not slow its pace over the following decades.
In March of 1925, the Under-Secretary of State for the Colonies reported that
the recording of fingerprints had recently been expanded from Kenya to the
Gold Coast.27 Rhodesia followed in 1936 and Sierra Leone in 1941.28 By then,
fingerprint identification had been adopted throughout much of sub-Saharan
Africa – even though the exact groups that were supposed to be fingerprinted
still differed from colony to colony, and registration usually was enforced less
strictly in the countryside than in the cities and mining areas.
In addition to its usefulness for administrative purposes, fingerprinting was
and remained an important source of data for European “racial science”, and
aimed at finding collective patterns in Africans’ physical characteristics. In this
context, it is important to point out that the seemingly disparate projects of
using fingerprinting for the purposes of identification on the one hand, and for
scholarly goals on the other, were in fact frequently interconnected.
Francis Galton was always at least as interested in using fingerprint data to
prove the power of heredity as he was in finding a means of individual
23 David Anderson, Master and Servant in Colonial Kenya, 1895 – 1939, in: Journal of
African History 41. 2000, pp. 459 – 485, here pp. 464 f.; Anthony Clayton and Donald C.
Savage, Government and Labour in Kenya, 1895 – 1963, London 1974, p. 131; Greet
Kershaw, Mau Mau from Below, Oxford 1997, p. 204; Oginga Odinga, Not Yet Uhuru. The
Autobiography of Oginga Odinga, New York 1967, pp. 23 f.; R. Mugo Gatheru, Child of
Two Worlds, London 1966, p. 88; Caroline Elkins, Imperial Reckoning. The Untold Story
of Britain’s Gulag in Kenya, New York 2005, p. 16; Michael Pesek, Das Ende eines
Kolonialreichs. Ostafrika im Ersten Weltkrieg, Frankfurt 2010, p. 169.
24 John Ainsworth, Pioneer Kenya Administrator, 1864 – 1946, being the hitherto
unpublished memoirs of Colonel John D. Ainsworth, London 1955, p. 107.
25 Clayton and Savage, Government and Labour in Kenya, pp. 131 – 134.
26 Kenya (Registration of Natives), in: Hansard British Parliamentary Debates [hereafter
Hansard], House of Commons, 24. 6. 1925, vol. 185, col. 1540W, http://hansard.millbanksystems.com.
27 Natives (Finger Prints), in: Hansard, House of Commons, 2. 3. 1925, vol. 181, col. 6.
28 Natives Registration Act, in: Hansard, House of Commons, 21. 7. 1936, vol. 315, col. 250;
Breckenridge, Biometric State, p. 88.
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67
identification. African fingerprints collected in the territories of the Royal
Niger Company formed one of his principal sources of data. To his regret, due
to lack of conclusive results, Galton eventually had to abandon his project of
finding systematic differences between African and European fingerprints.
After the widespread introduction of administrative fingerprinting in the
African colonies, however, colonial officials hoped to succeed where their
famous predecessor had failed.29
Racial scientists who collected fingerprints as scientific data could frequently
count on the active cooperation of the local police forces.30 Sometimes one and
the same person would act, simultaneously, as both police officer and racial
scholar. L. W. LaChard, Assistant Commissioner of the Northern Provinces
Police in the Niger Colony, for instance, immediately made scientific use of the
fact that his subordinates had begun to collect “many thousands of [fingerprint] records of all tribes and races.”31 As he argued in 1908, through an
analysis of files first created for policing purposes, he had determined that the
percentages of whorls and arches on people’s fingertips was higher among
Africans, as compared to Europeans, while there were fewer loops on African
fingertips.32 LaChard hoped that it might now at last be possible to develop the
“various characteristic racial co-efficients” that Galton had been searching
for.33
II. The African Experience of Fingerprinting, and the
Beginnings of Protest Movements in Kenya
So far, we have focused primarily on the British intentions behind the
introduction of fingerprinting in Africa. However, this process certainly did
not proceed without challenges. Rather, throughout the history of British
colonialism in Africa, fingerprinting remained an inherently conflictive and
divisive project that was attacked as unjust by many Africans (and some
Europeans). For the remainder of this article I will focus on such critical
reactions, with an emphasis on the example of British Kenya and the
controversies surrounding the Kipande system in that colony.
When analyzing the African experience of fingerprinting, it is important to
stress, first of all, that reactions to the collection of biometric data were not the
same among all social groups. In European reports, Africans from so-called
un-civilized tribes and from the lower classes were often described as having
29 Galton, Memories, pp. 252 f.; Galton, Finger Prints, pp. 18 f.
30 See Anette Hoffmann, Widerspenstige Stimmen – Unruly Voices – Gespenster –
Spectres, in: Hoffmann, What We See, pp. 23 – 57, here pp. 33 – 35.
31 LaChard, Finger-Print Characteristics, p. 196.
32 Ibid., pp. 197 f.
33 Ibid., p. 200.
68
Daniel Brückenhaus
resisted the taking of facial casts and fingerprints because of their fears of the
“magical” dangers inherent in the process. Typically, Europeans thought this
to be an irrational anxiety that indicated the pre-scientific mindset of this subset of the population. In 1916, P. Amaury Talbot, in his report on an expedition
aimed at collecting biometric data from Africans, noted specifically that it was
members of isolated, wild tribes who showed a “deep suspicion as to the nature
of the ‘magic’ which it was proposed to perform upon [them].”34 While
Europeans frequently greeted such sentiment with ridicule, it is in fact not
difficult to imagine why to Africans the metaphor of magic appeared suitable
for a process that involved the collection of their physical traces and the later
use of these same traces to exercise power over them from afar.35
The second way in which many Africans seem to have interpreted fingerprinting was through the language of honor. One rural Kenyan remembered
that he and his compatriots had called the Kipande boxes that Kenyans had to
carry around their necks “mbugi or goat’s bell”. This designation expressed
the feeling of many Africans that they were being de-humanized, that is,
through their selective identification they were in effect put into one category
with farm animals: “I was no longer a shepherd, but one of the flock, going to
work on the white man’s farm with my mbugi around my neck.”36
In contrast to such statements of nomads and farmers, those of the Europeaneducated African elites often showed more complex attitudes towards the
introduction of fingerprinting. Members of these elites usually refrained from
using the language of magic when resisting fingerprint identification. After all,
they themselves derived part of their status from their adherence to a modern,
scientific mindset that rejected as irrational a belief in magic. However, they
shared with other Africans the interpretation of enforced fingerprinting as a
threat to their dignity.
Some members of such elite groups stressed explicitly that they were not
opposed to fingerprinting in principle; instead they saw it as a potentially
efficient, progressive means of modern administration. Harry Thuku, one of
the important early leaders of Kenyan nationalism, stressed that educated
Africans like himself initially had not opposed the introduction of registration,
including fingerprints and the Kipande, “for we knew that many countries
asked their citizens to register.” Objections arose, however, once it had become
clear that, compared to Western countries, such registration was “a very
different business in Kenya.” While in Europe only criminals were subjected to
34 P. Amaury Talbot, Notes on the Anthropometry of Some Central Sudan Tribes, in: The
Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 46. 1916,
pp. 173 – 183, here p. 173.
35 On how fingerprinting brings together the principles of similarity and contact that
James George Frazer has identified as constitutive of traditional systems of magic, see
Michael Taussig, Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, New York
1993, pp. 44 – 58 and pp. 220 – 223.
36 Quoted in Elkins, Imperial Reckoning, p. 16.
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Identifying Colonial Subjects
69
the practice, in Kenya, all male Africans always had to carry around their necks
the Kipande box, an object that was “quite heavy” and weighed down Africans
both literally and symbolically. The fingerprinted documents prevented
Africans from leaving employment without permission; therefore, while the
Kipande had to move with its carrier wherever he went, it simultaneously
rooted in one place the African to whom it belonged.37
What was more, white employers also had the power to add written
descriptions to the abstract symbol of the fingerprint, which then became
an unquestioned part of the official identity of the Kipande bearers. According
to Thuku, if an employer added remarks such as “lazy” or “disobedient” to
someone’s Kipande document, this not only could prevent an African from
future employment, but could also “spoil your name completely” by undermining the African’s personal integrity and honor.38
This language of honor and dignity was also used by Mugo Gatheru, another
member of the educated Kenyan elite who worked for some time as the editor
of a Kenyan newspaper. Gatheru did not reject social hierarchies or selective
identification as such, but he was opposed to choosing those who were to be
registered according to racial categories, rather than according to personal
merit. He was appalled by the indiscriminate way in which the Kipande system
was applied to all Africans independent of their intellectual, moral and
criminal status – “regardless of whether the African concerned was as wise as
Socrates, as holy as St. Francis, or as piratical as Sir Francis Drake.”39 In
contrast, all white people, no matter how uneducated or morally depraved,
were excluded from the practice. This feeling of injustice damaged Gatheru’s
self-worth and made him feel a considerable personal “humiliation”.40 He
likened the experience of being fingerprinted to other ways of being socially
diminished: “The psychological effect of the Kipande system was equal to that
of an African calling a European ‘Bwana’ instead of ‘Mr.’, or of a European
calling a seventy-year-old African ‘boy…’”41
Moreover, Gatheru also showed how for a male member of the Kenyan elite, the
system built around the control of Kipande passes could be an insult to his sexual
and gender-based dignity. In his autobiography, Gatheru told the story of how in
the middle of the night, his uncle was humiliated by policemen who, in order to
check his Kipande, entered the bedroom where he and his wife were sleeping. In
addition to the embarrassment this intrusion caused the couple, the policeman
accused the uncle’s wife of being a prostitute. According to Gatheru, this led to his
uncle’s “pride and dignity” being “badly shaken”.42
37
38
39
40
41
42
See Harry Thuku, An Autobiography, Lusaka 1970, p. 19.
Ibid.
Gatheru, Child of Two Worlds, p. 88.
Ibid., p. 89.
Ibid., p. 90.
Ibid., p. 94.
70
Daniel Brückenhaus
As John Iliffe has demonstrated, strong codes of honor and dignity were
widespread among members of sub-Saharan African societies, and were of vital
importance in shaping social and political attitudes from the pre-colonial period
to the present. According to Iliffe, the colonial conquest challenged traditional
notions of “heroic” honor, which then fragmented and were partially integrated
into new codes of behavior, for instance among colonial soldiers or as elements of
new ideals of respectability and professionalism, while claims to honor,
simultaneously, influenced resistance to colonial rule.43
Kenya was one of the regions where vibrant traditions of honorable and
dignified behavior existed since pre-colonial times. Among members of
stateless Kenyan societies such as the Samburu and the Kikuyu, a group from
which many Kenyan nationalist leaders were to emerge, heroic honor was
especially important among young men, while a focus on civic honor was
prevalent among older male householders.44 In these societies, male adults
were required to personally defend their honor. Analyzing his own home
society, Jomo Kenyatta wrote that among the Kikuyu, “a man was considered
responsible and capable of taking care of his dignity and seeing that it was not
abused.”45 Samburu men challenged to a whipping contest other men who had
taunted them or had seduced their mistresses, and the Kikuyus’ focus on
retaining their personal honor expressed itself in frequent duels following
insults.46 When the British first arrived after the establishment of the East
Africa Protectorate in 1895, Kenyans’ reactions were often influenced by
norms of honorable behavior. As the British invaded the Mount Kenya region,
local girls successfully pressured young warriors to fight the intruders by
teasing them about their cowardice, thus threatening them with a potential loss
of male honor.47 Such traditions survived throughout the colonial period. As
we will see below, the sense of dishonor experienced through fingerprinting
was to form an important motivating factor behind the emergence of
organized opposition movements among Africans throughout the first half of
the twentieth century.
43 John Iliffe, Honour in African History, New York 2005, pp. 6 f. In his book, Iliffe follows
Frank Henderson Stewart’s influential definition of honor as a “right to respect”. See
ibid, p. 4; Frank Henderson Stewart, Honor, Chicago 1994, p. 21. The passionate style in
which Africans expressed their feeling of being dishonored by selective fingerprinting
equally illustrates Ute Frevert’s description of honor as “an emotional disposition
focusing on a person’s moral and physical integrity”, see Ute Frevert, Emotions in
History. Lost and Found, Budapest 2011, p. 45.
44 Iliffe, Honour in African History, p. 100 and pp. 110 f.
45 Jomo Kenyatta, Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu, London 1938, p. 226.
46 The honor of young Samburu men was bound closely to their courage, which they were
required to prove by displaying a calm, motionless demeanor during their circumcision
ritual. See Paul Spencer, The Samburu. A Study of Gerontocracy in a Nomadic Tribe,
Berkeley 1965, pp. 103 – 111; Kenyatta, Facing Mount Kenya, p. 226, p. 229 and pp. 281 f.
47 Iliffe, Honour in African History, p. 187.
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Identifying Colonial Subjects
71
The first group in Africa to speak up publicly against the government’s goal of
identification and control, however, were Asian immigrants: Between 1906 and
1909 Mohandas Karamchand Gandhi organized several large protest campaigns against the enforced fingerprinting of all Indians in the Transvaal,
which he described as dishonorable and demeaning.48 While in the end the
government could not be forced to take back its involuntary registration laws
for Indians, the memory of how much resistance fingerprinting could evoke
helped delay the extension of this practice to all male African adults in South
Africa until the 1950s and likely contributed to increased resistance to its
extension in Britain.49 The strategies first used by Indians in South Africa
influenced African activists in Kenya who were in close contact with the local
Indian immigrant population, and who saw Gandhi as an important role
model.50
The experience of the First World War also played a crucial role in the
emergence of organized resistance to fingerprinting in Kenya. The introduction of the Kipande right after the end of the war, when countless Kenyans had
just died as soldiers and military porters, was widely interpreted as a betrayal
of Africans and as diminishing their status as honorable participants in the
British war effort.51 Oginga Odinga, an important member of the independence
movement and postcolonial Kenya’s first Vice President, recalled how, shortly
after the introduction of the Kipande system, the elders of the Kenyan Kikuyu
people, led by Harry Thuku, began an “agitation for their people’s rights”,
asking whether the reward for their services during the war “was to be the loss
of their land, the imposition of the kipande and the increase of taxes?”52
In those early years, the goal of Thuku and other African leaders was not yet to
achieve full independence from British rule.53 However, along with the other,
material grievances that Thuku listed, the introduction of fingerprinting was
48 Gandhi changed his stance on fingerprinting several times over the course of his time in
South Africa. In his campaign, it was primarily the involuntary taking of fingerprints,
rather than fingerprinting as such, that Gandhi attacked. See Mohandas Karamchand
Gandhi, A Dialogue on the Compromise. Indian Opinion, 15. 2. 1908, in: Mohandas
Karamchand Gandhi, The Collected Works of Mahatma Gandhi, vol. 8, New Delhi 1999,
pp. 137 f.; Breckenridge, Biometric State, pp. 95 – 97, p. 100 and pp. 103 – 108.
49 Even then, however, the project of introducing fingerprinting for all Africans was
plagued by massive bureaucratic inefficiencies, as administrators were quickly
overwhelmed by the flood of prints they now had to process. See Breckenridge,
Biometric State, pp. 23 f., pp. 108 f., pp. 113 f., p. 117 and pp. 138 – 163; Higgs, Finger
Prints and Citizenship, pp. 63 f.
50 Thuku, Autobiography, p. 17 and pp. 22 – 24; Sana Aiyar, Empire, Race and the Indians
in Colonial Kenya’s Contested Public Political Sphere, 1919 – 1923, in: Africa 81. 2011,
pp. 132 – 154.
51 Wunyabari O. Maloba, Mau Mau and Kenya. An Analysis of a Peasant Revolt,
Bloomington 1998, p. 45.
52 Odinga, Not Yet Uhuru, p. 24; Thuku, Autobiography, pp. 18 – 21. See also Kenyatta,
Facing Mount Kenya, p. 212.
53 Thuku, Autobiography, p. 18.
72
Daniel Brückenhaus
an important cause of the creation of the first large Kenyan political
organization seeking a more equal treatment for Africans.54 In 1921, Thuku
and others founded the Young Kikuyu Association which soon developed into
the East African Association.55
In making their demands known, Thuku and his followers profited from their
connections to local Indian activists. In the early 1920s, Thuku developed a
close friendship with the Indian Manilal Ambalal Desai, the editor of an
English-language Kenyan newspaper called the East African Chronicle. Desai
allowed Thuku to establish the headquarters of his organization in the offices
of his journal, and Thuku used the Indian’s press to print his pamphlets.
Moreover, the editors of the East African Chronicle also increasingly began to
lend the Africans their written support.56
While before the founding of Thuku’s organization, certain articles published
in Desai’s journal had in fact voiced agreement with the government project of
fingerprinting Africans,57 in 1921, once the Young Kikuyu association was in
existence, the newspaper quickly began to support African demands to end the
Kipande system. In June of that year, the editors of the newspaper agreed to
publish a resolution that the members of the African organization had passed
“unanimously”, and in which they expressed their protest against the Registration
of Natives Ordinance “on the ground that its introduction tantamounts to establish
slavery once again among the natives of this country.”58 In using the language of
slavery, the Africans invoked an institution that not only deprived its victims of
their freedom of action, but also of the right to respect and recognition that was a
central element of personal honor.
Beyond publishing the statements of African activists, the Indian writers of the
journal also contributed their own texts in favor of African demands.59 In that
context, Indian writers quickly picked up on the great importance of African
notions of honor and dignity. One such Indian author, using the pseudonym of
“Cynicus”, described how selective fingerprinting was experienced as very
demeaning among those East African groups whom the author saw as
especially “high-spirited” and intelligent, such as the Somalis. As he argued,
54
55
56
57
See Jeremy Murray-Brown, Kenyatta, New York 1973, p. 99.
Kershaw, Mau Mau from Below, p. 181; Thuku, Autobiography, p. 20 and p. 22.
See Aiyar, Empire, Race and the Indians, p. 144.
Editorial, in: East African Chronicle, 4. 9. 1920, pp. 5 f. In November of 1920, a letter
written by an Indian to the editor stressed the advantages of fingerprint-based
registration in ensuring the arrest and return of Africans who had “deserted” from his
work camp. See Deserters and Registration, in: East African Chronicle, 27. 11. 1920, p. 8.
58 Kikuyu Association and Native Wage Reduction, in: East African Chronicle, 3. 6. 1921,
p. 9. In December of 1921, the newspaper provided the full text of a letter that Thuku had
sent to the Colonial Secretary in Nairobi about a mass meeting of Africans at which a
resolution was passed that requested the colonial government to repeal or at least
suspend the Native Registration Ordinance. See East African Association. Far-Reaching
Resolutions, in: East African Chronicle, 17. 12. 1921, p. 14.
59 See, for instance, Native Resolutions, in: East African Chronicle, 16. 7. 1921, p. 7.
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Identifying Colonial Subjects
73
the “stern autocrats” among the British colonial rulers seemed to think that
“any law however drastic and humiliating is good enough for the natives of this
country”, and did not “consider the degradation which it imposes on
thousands of natives to be compelled to carry a kipandi wherever they go.”
Mirroring the statements of rural Africans, the author argued that “when you
come to think of it, the system is not so very far removed from branding, in the
same way as cattle are branded for the purpose of identification.”60
Their cooperation with Indian journalists helped Africans considerably in
making their grievances heard in Kenya. However, as soon became clear, this
project faced severe challenges because of the limitations to freedom of speech
in the colony. The local British government reacted harshly to the Africans’
activism, arresting Thuku in March of 1922 and exiling him for several years.
Simultaneously, the government put under surveillance Desai and other
Indian leaders, and had the East African Chronicle’s offices searched. The
newspaper had to close down soon after, following a libel suit.61
However, while the autocratic power of the colonial government became
visible in these harsh measures, Kenyan activists had another strategy in their
toolbox. As the most important decisions regarding imperial policies were
made in Britain, and as the legal framework of the metropole made the voicing
of dissent much safer there than in Kenya, the African protesters began to carry
the debate over fingerprinting into the very heart of the British empire.
III. Debates Over Fingerprinting in Interwar Britain
This leads us to another important point about the history of biometric
methods in Africa: Just as these methods themselves were developed through
frequent communication between metropole and colony, resistance to fingerprinting equally crossed the dividing line between imperial center and
periphery. One strategy that the Kenyan activists employed in this context was
to circumvent the colonial administration in Kenya, and to send petitions to
the Colonial Office in London directly. Thuku himself had experimented with
this method.62 After his arrest, the Kikuyu activists followed his example, now
organized in the Kikuyu Central Association, which was founded in 1924 / 1925
60 Cynicus, Town Topics, in: East African Chronicle, 19. 11. 1921, p. 11.
61 Robert G. Gregory, Quest for Equality. Asian Politics in East Africa, 1900 – 1967, New
Delhi 1993, p. 169; Aiyar, Empire, Race and the Indians, pp. 147 – 149. The end of the
East African Chronicle did not mean, however, that the project of African-Indian
cooperation in the colony was over. Sitaram Achariar, Desai’s chief assistant at the
Chronicle, soon founded a new paper, the Democrat, that defended both African and
Indian interests. Achariar also helped with the printing of the African journal
Muigwithania, edited by Kenyatta. See Gregory, Quest for Equality, pp. 40 f. and
pp. 169 f.
62 Thuku, Autobiography, p. 23.
74
Daniel Brückenhaus
and which was led, after 1928, by Jomo Kenyatta.63 Conveying their messages to
the London government was facilitated by Kenyatta’s frequent stays in Europe,
first in 1929 / 1930 and then again between 1931 and 1946.
In 1929, Kenyatta posted a petition from his temporary London home to the
office of the Secretary of State for the Colonies in the same city. In the name of
“thousands of members of the A’kikuyu tribe” who had “deputed” Kenyatta to
visit England, the petition’s many demands included “the abolition of the
Kipandi and registration on certificates which restrict the freedom of
movement of the African Native subjects.”64 Employing an argument that
was by then well-established, the petition stated that these institutions
facilitated efforts to keep the Africans in an unjust and demeaning “state of
slavery.”65
From then on, a debate over fingerprinting developed that moved back and
forth between Britain and Kenya. The Secretary of State for the Colonies
forwarded Kenyatta’s petition to the Governor of Kenya. In his reply, which was
sent back to Britain, and which formed the basis for the official Colonial Office
response to Kenyatta, the governor tried to defend himself against the charges
laid out in the petition. While the Kenyan activists argued that fingerprinting
dishonored all male Africans by treating them like criminals, the governor
claimed that the Registration Ordinance only really had averse effects on those
Africans who had already shown, through their own behavior, that they lacked
personal honor and integrity. As the governor wrote, it was only true criminals
who, “admittedly and designedly”, experienced the registration certificates as
a “handicap”. In contrast, for “honest natives”, these same certificates were in
fact of considerable value.66
Soon after, in April of 1930, the next letter by Kenyatta arrived at the London
Colonial Office. Now using more aggressive rhetorics, Kenyatta stated that his
people “could not be persuaded that the registration system has been applied
for any other reason than to oppress them.” Kenyatta focused on the damage
that could be done if “vindictive employers” added negative comments on a
worker’s registration certificate, sometimes through the use of “secret signs”
that only certain other employers could interpret. Thereby they were able to
“ruin a worker’s reputation and brand him as a bad and worthless fellow”,
hindering the worker’s future employment chances by calling into question his
professional honor. For Kenyatta, the police-enforced practice of requiring all
male Africans to carry fingerprinted identification documents, and of limiting
Africans’ mobility, stood in contrast to the government’s recent statement,
63 Gregory, Quest for Equality, p. 40.
64 National Archives [hereafter NA], CO 533 384 9, Kikuyu Central Association to the Right
Honourable His Majesty’s Principal Secretary of State for the Colonies, 14. 2. 1929.
65 Ibid.
66 NA, CO 533 384 9, Edward Grigg to the Right Honourable Lord Passfield, P. C., Secretary
of State for the Colonies, 14. 11. 1929; Draft: Parkinson to Johnstone Kenyatta, 2. 1. 1930.
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Identifying Colonial Subjects
75
made in the Devonshire White Paper of 1923, according to which Kenya was
primarily an African territory and the interests of Africans must be paramount
in the colony. “May I respectfully submit”, asked Kenyatta, “that if such police
methods were applied to Englishmen in England they would [equally] protest
against them as imposing a ‘state of slavery’?”67 In yet another petition, dated
February 1932 and sent from Birmingham, England, Kenyatta further stressed
the double standard that British politicians were employing when they
deprived the native inhabitants of the colonies of freedoms that had long been
taken for granted in Britain. Likely building on his own experiences in the
metropole, Kenyatta argued that the Kipande regulations made African
Kenyans into “strangers in their own land: they have greater liberty outside
their own country than in it.”68
These communications between Kenyatta and the government show the
Africans’ ability to engage the imperial administration in a direct conversation
over the fingerprinting laws. However, on the other hand, these exchanges were
restricted to a small number of high-ranking officials in the Colonial Office and
in Kenya only, a group that ultimately rejected the Africans’ demands. Aware of
these limitations, Africans, throughout the 1920s, tried to expand their
audience by also reaching out to British politicians who might be more
sympathetic to their grievances. In that context, Kenyans made use of the
democratic procedures that were in place in Britain, but that were denied them
at home, attempting to introduce their demands into British Parliamentary
debates through white intermediaries.
Soon after founding his political association, Thuku decided to address
politicians in England such as Captain Wedgwood and Lord Islington who, as
he thought, were “pro-African.”69 Wedgwood and Islington were members of a
group of Liberal and Labour delegates in both houses of parliament who
sometimes took up the Africans’ cause, seeing themselves as advocates of
native interests, even though they seldomly challenged the legitimacy of
empire as such, taking a reformist stance instead. In 1929, Wedgwood, a
Labour MP, criticized in a House of Commons debate “the infernal colour bar
which has caused the system which regulates the relations between white and
coloured men” in Kenya.70 While Wedgwood did not speak out for Kenyan
independence, he unsuccessfully advocated a new system that included legal, if
not political, equality. The practice of selective fingerprinting stood in stark
67 NA, CO 533 395 6, The Kikuyu Central Association to the Right Honourable Lord
Passfield, His Majesty’s Principal Secretary of State for the Dominions and Colonies,
15. 4. 1930; Robert G. Gregory, India and East Africa. A History of Race Relations within
the British Empire, 1890 – 1939, Oxford 1971, pp. 223 – 247.
68 NA, CO 533 422 1, Memorandum of the Kikuyu Central Association to the Secretary of
State for the Colonies, February 1932.
69 Thuku, Autobiography, p. 23.
70 Colonial Policy in Relation to Coloured Races, in: Hansard, House of Commons,
11. 12. 1929, vol. 233, col. 609.
76
Daniel Brückenhaus
opposition to his wish to “treat both black and white before the law in every
respect as equals.”71
In order to convince a sceptical colonial government of their cause, other
British opponents of fingerprinting tried a more pragmatic rhetorical strategy
and appealed to imperial self-interest, arguing that the widespread introduction of this method of identification was simply not worth the cost. In a House
of Commons debate in May of 1922, for instance, the liberal MP James Myles
Hogge reminded Winston Churchill, then Secretary of State for the Colonies, of
the great sums of money spent according to the Native Pass Laws in Kenya –
amounting to some 250,000 pounds per year – and expressed scepticism about
“this unproductive expenditure”.72
In their replies to such challenges, members of the colonial administration
frequently used paternalistic arguments, while also trying to cast fingerprinting as a simple administrative necessity. In response to Hogge, Churchill
replied that the expenditures for registration and fingerprinting were “held by
many competent authorities to be of considerable value to the natives
themselves”, and argued that “some means of identifying individual natives”
was “part of the necessary process for developing and organizing the
country.”73 Another argument that was brought forward by proponents of
fingerprinting was that this practice was necessary to protect the natives from
fraud and from being impersonated by criminals who “pose as domestic
servants with forged and misappropriated testimonials, thereby affecting
honest servants.”74 And finally, in a line of argument that mixed pragmatism
and racism, conservative government members argued that fingerprinting was
necessary because Europeans were simply not able to tell Africans apart. As
Conservative Secretary of State Leo Amery put it in 1928, “the real difficulty, as
some of us would realise if we were on the spot, is always to recognise these
people.”75
For the critics of fingerprinting, however, such arguments were nothing but
hypocritical. In 1927 Sydney Olivier, a Labour Party MP in the House of Lords,
rejected the idea that the purpose of fingerprinting was the uplifting of natives;
instead, he argued, purely self-interested reasons stood behind it. He thought
that while the native hut and poll tax formed one of two “cardinal institutions of
Kenyan economic policy”, the fingerprint law formed the other. Olivier was
critical of what he saw as the purpose of these institutions: They were meant to
71 Ibid.
72 Kenya (Natives, Registration), in: Hansard, House of Commons, 23. 5. 1922, vol. 154,
col. 992.
73 Ibid.
74 Kenya (Native Domestic Servants), in: Hansard, House of Commons, 23. 11. 1927,
vol. 210, col. 1799.
75 Domestic Servants (Finger Prints), in: Hansard, House of Commons, 5. 3. 1928, vol. 214,
col. 797.
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Identifying Colonial Subjects
77
“force natives into a state of employment and to fix them in that position.”76
Appealing to Britain’s history as the first European colonial empire to outlaw
slavery, he agreed with Thuku’s and Kenyatta’s arguments that fingerprinting,
and selective registration more generally, were part of “a process of enslaving the
native worker”, creating a system “which practically indentures labour.”77
While these arguments referred to the institutional framework causing
material hardships to Africans, critics of the government also pointed out the
more personal feelings of Africans who found selective fingerprinting
demeaning. In 1927, an MP accused the government of considering “all
natives either prisoners or slaves” and asked if there were not at least “means of
protecting these people against … fraud other than a system of fingerprints,
which is always associated with criminal activity?”78 However, quite in contrast
to the actual sentiments among many Africans, the Under-Secretary of State
for the Colonies argued that the association in Europeans’ minds between
fingerprinting and criminal status could be prevented from being transferred
from Britain to Africa: “[in Africa] this system has never been associated with
criminal proceedings as it is in this country, never.”79
IV. Kenyan Resistance to Fingerprinting During and After the
Second World War
Not surprisingly, the leaders of African anti-colonialist movements disagreed
and continued to see selective fingerprinting as an important symbol of their
second-class status in their home countries. The Second World War provided
them with new, powerful arguments. How was it possible, they inquired, that
Britain asked its colonial subjects to fight Nazi racism while at the same time
maintaining selective identification in the colonies? In a 1941 article, the black
Trinidadian and prominent pan-Africanist George Padmore criticized the
“tightening of control over the movements of Africans”, including the recently
introduced fingerprint requirement in Rhodesia. Using provocative language,
he argued that these regulations “correspond to curfew and martial law
established in the Nazi-occupied countries in Europe.”80 As Padmore wrote, in
Africa, skin color alone was the basis for this discrimination. While colonial
administrators might not make the effort to learn how to tell one African apart
from the other, they had no trouble determining who would be fingerprinted
and who would not: “Unlike the Poles and Jews in Poland, the Africans are not
76 East African Policy, in: Hansard, House of Lords, 7. 12. 1927, vol. 69, col. 561.
77 Kenya (Natives, Registration), in: Hansard, House of Commons, 23. 5. 1922, vol. 154,
col. 992; Domestic Servants (Finger Prints), in: ibid., 5. 3. 1928, vol. 214, col. 797.
78 Kenya (Native Domestic Servants), House of Commons Debates, 23. 11. 1927, vol. 210,
col. 1800.
79 Ibid.
80 George Padmore, Britain’s Black Record, in: Labor Action, 27. 10. 1943, p. 3.
78
Daniel Brückenhaus
forced to wear any distinguishing letters on their arms. The color of their skin
is a sufficient badge of servitude!”81
During the war, 75,000 Kenyans served in the British army and helped defeat
Nazi Germany. After the end of the war, however, Kenyans who had hoped to be
rewarded for their service were just as disappointed as after the First World
War. The “second colonial occupation” of Kenya in the immediate post-war era
led to an even more systematic economic exploitation, and the Kipande system
remained in place. In fact, the police even seem to have increased their
harassment of people without Kipande passes after the war, in order to deal
with the movement of unemployed Africans to the cities.82
The feeling of injustice after the war quickly led to a new wave of African
political activism, once more led by Jomo Kenyatta, that was considerably
more radical than earlier protest movements and made frequent references to
the Kipande law. In an influential speech at Njoro in 1946, for example,
Kenyatta criticized the differential treatment of white officers and African
soldiers. While after the end of the war, white officers had received loans and
land, Africans were rewarded with the color bar, unemployment and the
continued use of the Kipande. As Kenyatta argued pointedly, “there had been
no colour bar to prevent us dying for Britain in the war.”83
Resistance to enforced fingerprinting was a central element of Kenyatta’s
campaign. His biography “Suffering Without Bitterness” describes the fight
against the Kipande system as a very emotional topic for Kenyans, and as
especially suitable to “bind[ing] all the people together” in nationalist
sentiment.84 The movement spread quickly, helped by the emergence of the “40
Age Group” that counted opposition to the Kipande laws among its principal
goals.85
As Mugo Gatheru remembered later, Kenyatta announced that Africans had
carried the Vipande (plural of Kipande) long enough. If the Government of
Kenya did not agree to abolish them, Africans should burn them. The only
other alternative, according to Kenyatta, was to end racist discrimination and
“issue Vipande to all the races of Kenya – the Europeans, the Asians, and the
Africans”, an offer forcing the white government to confront its own double
standard.86
81 Ibid.
82 Marshall S. Clough, Mau Mau Memoirs. History, Memory, and Politics, Boulder 1998,
pp. 88 f.
83 Josiah Mwangi Kariuki, “Mau Mau” Detainee. The Account by a Kenyan African of His
Experiences in Detention Camps, 1953 – 1960, London 1963, pp. 11 f.
84 Jomo Kenyatta, Suffering Without Bitterness. The Founding of the Kenya Nation,
Nairobi 1968, pp. 45 f.
85 H. K. Wachanga, The Swords of Kirinyaga. The Fight for Land and Freedom, Nairobi
1975, p. xxv ; Clough, Mau Mau Memoirs, pp. 93 f.
86 Gatheru, Child of Two Worlds, p. 89.
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Identifying Colonial Subjects
79
In order to pressure the government, Africans held “mass meetings … all over
Kenya at which a lot of money was collected to buy wood for a big fire at the
centre of Nairobi city on which all the Africans would burn their Vipande.” The
burning of the passes would mean not only practical freedom from restrictions
on movement, but would also cleanse Africans of the dishonor of selective
fingerprinting. As Gatheru put it: “This was to be an historic fire!”87
Faced with the strength of African sentiment, the government decided to give
in and promised to accept Kenyatta’s other proposal. The Kipande system
would be repealed and “a system of [fingerprint based] identity cards for all the
races in Kenya would replace it.”88 This principle was put into law in the
Registration of Persons Bill of 1947.89 However, this decision would soon lead
to new debates in Kenya that not only set African nationalists against
Europeans, but also created conflicts between the British-dominated Kenyan
government and the European settler community.
When it was first introduced, the European members of the Legislative Council
supported the new bill over what then seemed the only alternative, namely
giving up the existing system of fingerprinting altogether. According to the
British Chief Native Commissioner Wyn Harris, it was of principal importance
to preserve a system that by then covered two million Africans and was “almost
magical in its working.”90
However, as Michael Blundell, a British member of the Legislative Council and
later Kenyan Minister of Agriculture, remembered, “an explosion was to take
place when the [universal] fingerprinting requirements became really understood” throughout the broader European population. Among the more radical
parts of the settler community, a “violent agitation” arose.91 Now it was the
settlers who used the language of dishonor and disrespect when describing the
new measure, arguing that they were to be treated like “criminals” and to be
“degraded to the level […] of the Africans”, two equally demeaning prospects
in their view. During a vote in Blundell’s home district on the matter, one of the
“fiery opponents” of the government’s measure openly displayed his gun and
tried to intimidate government supporters with “a threatening eye”.92
Ironically, some of these settlers went as far as creating a “Society for Civil
Liberties” against what they saw as an infringement upon their (white)
87 Ibid.
88 Ibid.
89 Motion Deploring Action of Government, in: Colony and Protectorate of Kenya –
Legislative Council Debates. Official Report, Third Session, Second Sitting,
13. 2. 1951 – 9. 3. 1951, Nairobi 1951, p. 106.
90 Ibid., p. 107.
91 Michael Blundell, So Rough a Wind, London 1964, p. 79.
92 Ibid., p. 80.
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Daniel Brückenhaus
freedoms.93 As Blundell wrote, this controversy was “of great political
significance” as “it set alight the beginning of a reactionary and strongly
racialist movement amongst the settlers.”94 Later, it was precisely the
opponents of mandatory fingerprinting for Europeans who were to form the
core of new local “right wing parties … which attempted to maintain European
influence as a dominant factor in the political scene of the future.”95
In the context of this debate, fingerprinting became controversial once more
not only in Africa but also in Britain. However, while previously some Liberal
and Labour politicians had criticized the way in which fingerprinting
demeaned Africans, now Conservatives criticized the way in which its
extension would threaten the superior status of white people in the colony. In
London in May of 1949, Conservative MP Christopher Peto argued that “this
system [of fingerprinting everyone in Kenya], which is about to be put into
effect, is bound to have the adverse result of lowering the prestige of the white
population in the eyes of the native population, and is much resented.”96
Many African nationalist leaders commented with disbelief on the change of
mind among the settler community and their supporters in Europe. Until
recently, the colonizers had described fingerprinting as a simple administrative measure, and had dismissed as irrational Africans’ feelings about the
dishonorable and criminal associations the practice held. The African activist
H. K. Wachanga pointed out the irony inherent in how suddenly among
Europeans “the reaction to being fingerprinted ‘like common criminals’ was
vehement.”97
The government tried to maneuver between the demands of the Kenyan
nationalist movement and the community of about 35,000 – 40,000 European
settlers who insisted on the withdrawal of the new stipulations, or at least
wished to create loopholes in the recent legislation. Faced with the lobbying of
the settlers, the government agreed in 1949 to set up a commission, led by Sir
Bertrand Glancy, former Governor of the Punjab in India, that was to examine
possible changes to the new law.98 In addition to recommending “a voluntary
record of employment for [African] employees who wished to have it”, the
commission and its supporters proposed a photograph-based alternative to
fingerprinting for certain people in Kenya.99 Aware of the strong feelings
among the African population against any racist discrimination in the process
93 Kenya’s Strong Opposition to Registration Ordinance, in: The Crown Colonist 19. 1949,
p. 375; Michael Blundell, A Love Affair with the Sun. A Memoir of Seventy Years in
Kenya, Nairobi 1994, p. 86.
94 Blundell, So Rough a Wind, p. 81.
95 Blundell, A Love Affair, p. 87.
96 Registration (Fingerprints), in: Hansard, House of Commons, 11. 5. 1949, vol. 464,
col. 1839.
97 Wachanga, Swords of Kirinyaga, p. xxvi.
98 Motion Deploring Action of Government, p. 63.
99 Ibid., pp. 76 f.
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Identifying Colonial Subjects
81
of registration, the commission chose a principle that, on paper, was not based
on race, but on what one supporter called the level of “achievement of a
standard of civilization.”100 In practice, however, the recommendation was
certain to lead to all Europeans being eligible for, and the majority of Africans
being excluded from, the new alternative to fingerprinting: Applicants were
only allowed to apply if they were able to fill out the necessary forms in writing,
and “in English”.101
The African delegates in the Legislative Council strongly resisted the
recommendation of the commission. It was now they who brought forward
arguments about the unrivalled precision of fingerprinting. The African
member Wambu Mathu stressed that fingerprinting was “the only infallible
way of identification”. Simultaneously Mathu also opposed the re-introduction
of records of employment, even on a voluntary basis, as he feared that this
measure might lead to a gradual re-introduction of the Kipande.102 Giving a
semi-veiled warning about the potential of renewed African resistance, he
argued that “if this motion goes through, … then that will not help to convince
the led [Africans]” that the European leadership of the colony was “a wise
one.”103
Ultimately, in 1951, the government rejected the proposed photograph-based
alternative to fingerprinting for certain segments of the population, and
upheld the goal of universal fingerprint identification. This decision was
indicative of a political situation that had changed considerably since the interwar period. The government maintained its goal to protect white power in the
colony ; but faced with the new level of political activism among Africans, it
now wished to appear as a neutral arbiter of interests, and as a proponent of
“development” for all inhabitants of the colony.104
We also see the influence of the newly heightened level of international
tensions in the government’s decision. After the Korean War broke out in June
of 1950, a “hot” war between the Soviet Union and the Western countries,
including their colonial empires, suddenly seemed a much more real
possibility, and Western governments became increasingly worried about
communist infiltrators. Across the Western world, this led to a renewed wave of
government surveillance. In Kenya the double threat of international war and
undercover Soviet agents became an important justification for the government’s choice to maintain an “infallible” national registration system.105 As a
100 Bills, Second Reading. The Registration of Persons (Amendment) Bill, in: Colony and
Protectorate of Kenya – Legislative Council Debates. Official Report, Third Session,
Second Sitting, 13. 2. 1951 – 9. 3. 1951, Nairobi 1951, p. 434.
101 Council in Committee, in: ibid., p. 479.
102 Motion Deploring Action of Government, pp. 89 – 91.
103 Ibid., pp. 91 f.
104 Ibid., p. 62.
105 As early as 1949, a Singaporean newspaper had justified the new, universal Kenyan
registration law in reference to the Cold War. As the author wrote, Soviet agents were
82
Daniel Brückenhaus
(white) government representative argued in March of 1951, the educated
people to whom the proposed alternative to fingerprinting would be accessible
were precisely of “the type that we are most interested in from a security point
of view” – i. e. they were the most likely to be Soviet spies. Introducing an
alternative to fingerprinting would make it easier for a deported person
“suspected of subversive activities” to re-enter the country undiscovered.106
Finally, if international war was to break out, a fingerprint system would be
necessary for registering “the vast majority of African conscripts”, and, after
the anger and disappointment over their treatment in the two previous wars, it
was essential that African soldiers were given the feeling “that they are not in
any sense being discriminated against.”107
In the end, the government’s recommendation to keep fingerprinting
compulsory for everyone prevailed in the Kenyan Legislative Council.108
However, it soon became clear that this was more of a symbolic, rather than
a practical, victory for African leaders. It appears that, with a few exceptions,
the government eventually proved unwilling to force Europeans to undergo the
procedure, thus undermining its own legislation.109 In the end, therefore, as
Gatheru wrote, “the scars of Kipande remained.”110 According to H. K.
Wachanga, the “hypocrisy” Europeans had shown in their reaction to the
proposed extension of the Kipande system “did nothing to ameliorate the
already explosive situation.”111
V. Fingerprinting Mau Mau Rebels
These tensions escalated in 1952 during the Mau Mau uprising against British
rule, led, once again, by Kikuyus who protested against a wide range of
injustices, including limited political participation for Kenyans, high taxation
of the African population, and European expropriation of Kenyan land. Faced
with determined opponents, the British government quickly introduced a new
form of selective fingerprinting on a large-scale basis. This soon became an
important element of repressive British counter-insurgency strategies as
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“already at work” in Africa, where they were “spreading the Kremlin gospel”. In this
situation, the author thought, “the temporary indignity of inky fingers seems a small
price to pay for as a means towards the safety of the Commonwealth.” See Identity Cards
in Kenya Now, in: The Singapore Free Press, 12. 9. 1949, p. 4.
Council in Committee, pp. 513 f.
Ibid., p. 517.
Bills, Third Reading. The Registration of Persons (Amendment) Bill, in: Colony and
Protectorate of Kenya – Legislative Council Debates. Official Report, Third Session,
Second Sitting, 13. 2. 1951 – 9. 3. 1951, Nairobi 1951, p. 532; Bills, Third Readings
(Continued). The Employment (Amendment) Bill, in: ibid., p. 541.
Clayton and Savage, Government and Labour in Kenya, p. 296.
Gatheru, Child of Two Worlds, p. 89.
Wachanga, Swords of Kirinyaga, p. xxvi.
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Identifying Colonial Subjects
83
fingerprints were used to find Mau Mau rebels among the wider population.
Soon, widespread killing led to a situation in which the focus of fingerprint
identification shifted from the living to the dead; and being forced to carry out
this kind of identification could become yet another form of punishment in the
prison camps.112 Karigu Muchai, a participant in the rebellion, recalled how in
1954 he and three other prisoners at the CID headquarters in Kiambu were
ordered to wash the hands of blood-soaked African corpses and then
fingerprint them.113
British soldiers in the field, meanwhile, frequently resorted to mutilation of
African bodies in order to ensure that each victim was accounted for. Tim
Symonds, former tracker team leader for the military wing of the Kenya Police
Reserve, recalled how after his men killed some rebels, his team “was too small
to haul [the] bodies out of the forest but we had to identify the dead. We took
turns to chop off the right hands of the five dead Mau Mau, putting them in a
sack to take to the authorities for finger-printing.”114 Worried about bad press
in the Western world, which might bring up uncomfortable parallels to the
severing of Africans’ hands in the Belgian Congo under King Leopold’s regime
during the late nineteenth and early twentieth centuries, beginning in 1953 the
head of the British military forces tried to outlaw the practice. The
administration eventually introduced fingerprinting kits that could be used
in the field. However, when units ran out of these kits they frequently returned
to cutting off the hands of African victims so as to identify them later.115
In African eyes, these occurrences continued a long history of European
abduction of African body parts. In the early twentieth century, Western
scientific interest in proving European racial superiority over Africans had led
to a widespread trade in African skulls, some of which came from victims of the
violent repression of the Nama and Herero uprisings in German South West
Africa.116 During the Mau Mau rebellion, it was the administrative, not the
112 Huw Bennett, Fighting the Mau Mau. The British Army and Counter-Insurgency in the
Kenya Emergency, New York 2013, p. 122.
113 Karigo Muchai and Don Barnett, The Hardcore. The Story of Karigo Muchai, Richmond
1973, p. 40.
114 Tim Symonds, Why Mau Mau Claims of Brutality are the Reverse of the Truth, by a Man
Who Fought Them, in: Daily Mail, 6. 2. 2010, http://www.dailymail.co.uk/news/article-1
248980/.
115 Bennett, Fighting the Mau Mau, pp. 114 f. and p. 122; David Larder, Pilloried as a
‘Conchie’ After Serving in Kenya, I Now Feel Vindicated, in: The Guardian, 10. 6. 2013,
http://www.theguardian.com/world/2013/jun/10/pilloried-conchie-kenya-now-vindica
ted.
116 Luise White, The Traffic in Heads. Bodies, Borders, and the Articulation of Regional
Histories, in: Journal of Southern African Studies 23. 1997, pp. 325 – 338, here
pp. 334 – 338; Andrew Zimmerman, Anthropology and Anti-Humanism in Imperial
Germany, Chicago 2001, pp. 149 – 200 and pp. 244 f.; Martin Legassick and Ciraj
Rassool, South African Museums and Human Remains, in: Hoffmann, What We See,
pp. 183 – 203; Fiona Clayton, Bones of Conflict, in: ibid., pp. 205 – 216.
84
Daniel Brückenhaus
scientific side of biometric data collection that inspired the use of African body
parts by European experts. However these colonial efforts were united in
supporting the goal of continued white rule over the African continent.
VI. Conclusion
As this article argues, Africa formed one of the principal areas in which European
biometric methods were first employed and developed. Scientists travelled the
African colonies to collect the data for confirming their theories about the
characteristics of racially defined groups. Individual fingerprinting, in turn, was
used frequently to separate Africans from the ruling European population.
Between 1900 and 1945, fingerprinting as an administrative technique gradually
spread throughout most of sub-Saharan British Africa.
In addition to demonstrating how biometric methods reinforced the racist
hierarchies that Europeans created, the article has also pointed to the
importance of studying the experience of, and the reactions to, the
introduction of these methods among Africans. Beginning in the interwar
period, and often supported by Indian activists, Africans in Kenya frequently
voiced their opposition to compulsive fingerprinting. Many members of
African elites employed the language of honor and dignity to protest their loss
of status through a process that they saw as an attack on their personal
integrity, especially after recently having fought for the continued existence of
the British Empire in the two World Wars.
The injustices of selective fingerprinting were debated widely. As the article
has shown, just as the proponents of biometric methods travelled back and
forth between the colonies and Europe, critical arguments against selective
fingerprinting also made it to Britain, even though they only convinced a
minority of those living in the metropole. In Kenya, in turn, resistance to
fingerprinting became one of the most central and emotional driving forces
behind the emergence of the anti-British nationalist movement.
After the end of the Second World War the Kenyan government, threatened by
the rise of African nationalism and simultaneously inspired by fears of global
communism, accepted, at least on paper, the African suggestion to introduce
fingerprinting for everyone. This model represented a new alternative to both
the metropolitan use of fingerprinting for suspected criminals only, and the
colonial style of race-based fingerprinting. However, the resulting debates and
resistance campaigns among the European settler community demonstrated
what in the eyes of Africans was an inherently hypocritical attitude. The
settlers’ opposition, which began as soon as fingerprinting had lost its function
as a marker of racial identity, showed clearly that a non-racist application of
this form of identification was nearly impossible to maintain under the
structural conditions of colonial rule.
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Identifying Colonial Subjects
85
Kenya gained its independence in 1963 during the Africa-wide wave of
decolonization that lasted from the mid-1950s to the mid-1970s, while the
South African Apartheid regime survived until the early 1990s. Today in South
Africa, ironically, systems of identification that were first developed for the
purposes of racial segregation are used for the efficient distribution of child
support and pension payments, making the former Apartheid state a global
leader in this area of human welfare.117 However, the fact remains that during
the period of colonialism, biometric methods, including fingerprint registration, were one of the most central and hotly debated tools of keeping the white
rulers in power.
In many ways, the British attempt to use fingerprinting to control population
movements and re-distribute labor represents an even wider-reaching use of
biometric methods in Africa, as compared to the “model colony” of India. The
use of fingerprinting to separate large, racially defined groups is indicative of
the contradictions inherent in a Western colonial model of rule that, in the
colonies, allowed radical approaches to re-shaping the population that would
have been impossible to maintain in the more liberal metropole. Many
Western-educated members of African elites, however, were very aware of the
contradictions built into the imperial model, and it did not take them long to
realize that these tensions of empire could only be resolved through ending
colonial rule itself.
Dr. Daniel Brückenhaus, Beloit College, Department of History, 700 College St.,
53511 Beloit, WI, USA
E-Mail: [email protected]
117 See Breckenridge, Biometric State, pp. 164 – 167 and pp. 180 – 195; Andreas Eckert,
Überwachen und Versorgen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 1. 2015, p. 3.
Das Eigenleben der Methoden
Eine Wissensgeschichte britischer Konsumentenklassifikationen im 20. Jahrhundert
von Kerstin Brückweh*
Abstract: By focusing on consumer classifications, this article argues that surveillance
can only be adequately understood by including the history of its methods in the
analysis. It demonstrates that these methods – through their own logic and history –
formed the basis and set the tone for observing consumer-citizens. In Britain, the
history of consumer classifications is closely related to the national Census, with class
having served as the primary discriminating factor for most of the twentieth century.
However, from 1979 to 1981, classifications underwent a key shift away from class
towards neighborhood, which also had a long history in British social research. This
(renewed) spatial turn took place when changes in information technology coincided
with neoliberal politics, leading to private company-based research and the focus on
small units instead of society as a whole.
Leconfield House im Londoner Stadtteil Mayfair diente von 1945 bis 1976 als
Hauptsitz des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5. Am Anfang des 21. Jahrhunderts beherbergt das Gebäude einen Teil des Unternehmens Experian, dem
weltweit größten Dienstleister im Bereich Daten- und Informationsmanagement.1 Dies ist eine unerhebliche Anekdote der Überwachungsgeschichte, aber
das Sammeln von Konsumentendaten und deren Anordnung in Konsumentenklassifikationen bietet vor allem seit den späten 1970er Jahren Potentiale
zur Überwachung der Bevölkerung. Auf ihrer Basis wird heute zum Beispiel
entschieden, ob ein Kredit vergeben wird, wo Parteien gezielt Wechselwählerinnen und -wähler erreichen können, wer welche Werbung erhält oder wo
ein Supermarkt gebaut und welches Sortiment er enthalten wird. Potentiale der
Überwachung haben sich unter anderem durch technologisch bedingte
Entwicklungen, Erweiterungen der Anwendungsbereiche von Konsumentendaten zum Beispiel im Gesundheitssektor und durch den kreativen Umgang
mit Datenschutzbestimmungen und vorhandenen Datenbanken wie dem
* Ich danke Christoph Conrad, Sven Reichardt und den anonymen Gutachterinnen oder
Gutachtern für die konstruktive Kritik.
1 Vgl. Jon Ronsons kritische Analyse der Praktiken sog. Informationsdienstleister : Jon
Ronson, Who Killed Richard Cullen?, in: The Guardian Sunday, 16. 7. 2005. Der britische
durch hohe Sicherheitsvorkehrungen geschützte Hauptfirmensitz befindet sich in
Nottingham. Siehe dazu den 2014 veröffentlichten Werbefilm der Firma auf Youtube,
Experian plc, Inside Experian, https://www.youtube.com/watch?v=YSxeXPD-p8g&fea
ture=youtu.be.
Geschichte und Gesellschaft 42. 2016, S. 86 – 112
" Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2016
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Das Eigenleben der Methoden
87
Wahlregister oder Volkszählungsergebnissen ergeben. Nach einer Phase, in
der viele Innovationen aus der U. S.-amerikanischen Marktforschung kamen,
zum Beispiel verbunden mit dem Namen George Gallup in der Zwischen- und
Nachkriegszeit, waren es in den letzten Dekaden des 20. und zu Beginn des
21. Jahrhunderts nicht zuletzt britische Unternehmen wie Experian, die sich zu
Global Players entwickelten.2 In den Surveillance Studies wird das Klassifizieren als einer der zentralen Untersuchungsgegenstände angesehen. Am
Beispiel Großbritanniens geht es in diesem Aufsatz deshalb um eine Wissensgeschichte der Konsumentenklassifikationen.
Im Folgenden wird diese Geschichte zuerst in allgemeine Überlegungen zur
Wissensgeschichte der Methoden in der beobachteten Gesellschaft eingeordnet (I). Danach steht die konkrete Entwicklung der Gesellschaftsklassifikationen im Zentrum und zwar zunächst die grundlegende Einteilung, die aus der
britischen Volkszählung hervorgegangen ist (II) und an der sich die darauf
folgenden Klassifikationen der Markt- und Meinungsforschung orientierten.
Die Geschichte dieser Klassifikationen wird dabei unterteilt in die Zeit ihrer
Entstehung seit den 1930er Jahren und vor allem ihrer Standardisierung nach
1945 (III) und in die Zeit ab den späten 1970er Jahren, in der sich grundsätzlich
neue Methoden etablierten (IV), deren Geschichte – das wird sich im letzten
Teil zeigen – bis heute nicht abgeschlossen ist (V).
I. Eine Wissensgeschichte der Methoden in der beobachteten
Gesellschaft
Visibility, mobility und classification bezeichnete der Soziologe David Lyon
2002 im ersten Heft der Zeitschrift Surveillance & Society als die drei
Kernbereiche der Surveillance Studies: „If the modern world displayed an urge
to classify, today this urge is endemic in surveillance systems. […] Categorizing persons and populations – or ,social sorting‘ […] – is now a key to
understanding surveillance.“3 Als zentrales Merkmal heutiger Gesellschaften
definierte Lyon die Beobachtung und sieht die Analyse ihres Ursprungs, ihrer
2 Vgl. Colin McDonald u. Stephen King, Sampling the Universe. The Growth, Development and Influence of Market Research in Britain Since 1945, London 1996, S. 55.
Demnach finden es die meist über die englische Sprache global operierenden
Auftraggeber am einfachsten englischsprachige Firmen zu beschäftigen. Dieser Nachfrage sei vor allem durch britische Firmen entsprochen worden, wohingegen U. S.amerikanische Firmen sich auf den inneramerikanischen Markt konzentriert hätten.
Zur Firmengeschichte des heutigen Experian, das mit britischem Ursprung im Bereich
Direktmarketing und Kreditauskünfte zum international tätigen Unternehmen wurde,
vgl. z. B. die Selbstdarstellung auf Experian, Experians Historie, http://www.experian.
de/about-experian/geschichte.html.
3 David Lyon, Surveillance Studies. Understanding Visibilty, Mobility and the Phenetic
Fix, in: Surveillance & Society 1. 2002, S. 1 – 7, hier S. 3. Siehe auch ders. (Hg.),
Surveillance as Social Sorting. Privacy, Risk, and Digital Discrimination, London 2002.
88
Kerstin Brückweh
Funktion und ihrer Konsequenzen als Teil des Programms der Surveillance
Studies. Ihre Geschichte müsse als Kooperation zwischen verschiedenen
Disziplinen in historischer und vergleichender Perspektive erforscht werden.
Seit einiger Zeit steht die Überwachungsgeschichte nun im Fokus geschichtswissenschaftlicher Betrachtung, allerdings zumeist in ihren Anwendungsgebieten und ihren gesellschaftlichen Konsequenzen und weniger als die Geschichte
der Methoden der Überwachung.4 Die Geschichte der Methoden, die die
Überwachung erst ermöglichen, hat weniger Skandalpotential und ist deshalb
auf den ersten Blick vielleicht weniger attraktiv, aber sie hat maßgeblichen
Einfluss auf die Form und die Möglichkeiten der Überwachung.5 Die in diesem
Themenheft im Zentrum stehende gesellschaftsgeschichtlich eingebettete
Überwachungsgeschichte sollte deshalb, so die Annahme dieses Aufsatzes,
eine Wissensgeschichte der Methoden beinhalten.6
Die Einbeziehung der Geschichte der Methoden ist auch deshalb wichtig, weil
die deutsche Übersetzung von Surveillance als Überwachung die Betrachtung
der Phänomene verkürzt. Denn Surveillance lässt im englischen Sprachgebrauch zwei Gesichter erkennen: die negativ konnotierte Überwachung von
Individuen und die positiv konnotierte Anwendung der Methoden in verschiedensten Bereichen, so zum Beispiel im Monitoring für Chancengleichheit.7 Mit Gary T. Marx hat im Jahr 2015 noch einmal ein Protagonist der
Surveillance Studies darauf hingewiesen, dass die häufig auf Foucault
rekurrierende negative Verwendung des Begriffs Surveillance Nachteile für
die Analyse mit sich bringe: „Surveillance as such is neither good nor bad, but
4 In der Geschichte der Umfrageforschung schließen die Methodengeschichte z. B. ein:
Felix Keller, Archäologie der Meinungsforschung. Mathematik und die Erzählbarkeit
des Politischen, Konstanz 2001; Rainer Gries u. Stefan Schwarzkopf (Hg.), Ernest
Dichter – Doyen der Verführer. Zum 100. Geburtstag des Vaters der Motivforschung,
Wien 2007; Loic Blondiaux, La fabrique de l’opinion. Une histoire sociale des sondages,
Paris 1998. Mit verschiedenem Zuschnitt, eher auf die Anwendungsbereiche bezogen
siehe z. B. Laura D. Beers, Whose Opinion? Changing Attitudes Towards Opinion Polling
in British Politics 1937 – 1964, in: Twentieth Century British History 17. 2006,
S. 177 – 205; Christoph Conrad, Observer les consommateurs. #tudes de march- et
histoire de la consommation en allemagne, des ann-es 1930 aux ann-es 1960, in: Le
Mouvement Social 206. 2004, S. 17 – 39; Bernhard Fulda, The Market Place of Political
Opinions. Public Opinion Polling and its Publics in Transnational Perspective
1930 – 1950, in: Comparativ 21. 2011, S. 13 – 28; Sarah E. Igo, The Averaged American.
Surveys, Citizens, and the Making of a Mass Public, Cambridge, MA 2007; Anja Kruke,
Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und
Medien 1949 – 1990, Düsseldorf 2007.
5 Auch Edward Higgs benennt als Forschungsdefizit das mangelnde Interesse an den
verschiedenen Methoden der „Daten“-Erhebung. Vgl. Edward Higgs, The Information
State in England. The Central Collection of Information on Citizens since 1500,
Basingstoke 2004, S. 164 f. Mit anderem Zuschnitt an der Methodengeschichte interessiert: Mike Savage, Identities and Social Change in Britain since 1940. The Politics of
Method, Oxford 2010.
6 Vgl. Sven Reichardts Einführung in diesem Heft, S. 6 – 35.
7 Vgl. Lyon, Surveillance Studies, S. 4; Higgs, Information State, S. 7 f.
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Das Eigenleben der Methoden
89
context and comportment do make it so.“8 Eine die hierarchische Kontrolle ins
Zentrum rückende Definition fand Marx deshalb inadäquat und schlug eine
weite Definition vor, „based on the generic activity of surveilling (the taking of
data).“9 Das habe den Vorteil, dass das Ziel der Kontrolle und damit eine
spezifische Richtung nicht von Anfang an in die Analyse eingebaut werde.
Dieses weite Verständnis scheint insbesondere für die Untersuchung von
Phänomenen wichtig, deren Auswirkungen noch gar nicht im vollen Umfang
absehbar sind, wie eben die Vermischung von Gesellschaftsklassifikationen für
staatliche und kommerzielle Zwecke, deren Geschichte in diesem Aufsatz
erzählt wird. Es scheint daher angemessen, zunächst darauf zu schauen, was
mit den Methoden überhaupt möglich ist beziehungsweise welche Potentiale
sie eröffnen.10
Zu Beginn der Analyse der britischen Gesellschafts- und Konsumentenklassifikationen kann zunächst festgestellt werden, dass die vielfältigen Daten der
empirischen Umfrageforschung zwar in zahlreichen Bereichen verwendet,
deren Vorannahmen, Methoden und Arbeitsprozesse aber selten hinterfragt
werden. Gerade durch diese Unkenntnis der Arbeitsprozesse hinter den
Kulissen entstanden neue Möglichkeiten der Beobachtung und der Überwachung. Nicht die Ergebnisse der Umfragen interessieren hier, sondern die
Wissensproduktion und damit die Mechanismen und Genese des Wissens
über die britische Gesellschaft.11 „Census numbers are routinely treated as
made science by historians and social scientists,“ so die Beobachtung des
kanadischen Soziologen Bruce Curtis, der daraus die Konsequenz zieht, den
Zensus in Anlehnung an Bruno Latour als „science in the making“ zu
8 Gary T. Marx, Art. Surveillance Studies, in: International Encyclopedia of the Social &
Behavioral Sciences, Bd. 23, 20152, S. 733 – 741, hier S. 733.
9 Ebd., S. 735.
10 Vgl. auch die Beobachtung von Klaus Mainzer, dass die wenigsten wissen, woher die
Datenströme kommen, wie sie entstehen und welche Gesetzmäßigkeiten ihnen
zugrunde liegen. Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big
Data, München 2014, S. 13.
11 Grundlegend für diesen Aufsatz: Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen
als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des
20. Jahrhunderts, in: GG 22. 1996, S. 165 – 193; siehe zudem die weitergeführte
Betrachtung: ders., Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies,
1880 – 1980. Reflections on Trends and Methods of Current Research, in: Kerstin
Brückweh, Dirk Schumann, Richard F. Wetzell u. Benjamin Ziemann (Hg.), Engineering
Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies 1880 – 1980,
Basingstoke 2012, S. 41 – 56. Zentral zudem: Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36. 2011,
S. 159 – 172. Weiterhin die Beiträge im Themenheft „Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“, GG 34. 2008, H. 4, hg. v. Wolfgang Kaschuba; sowie Achim Landwehr
(Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des
Wissens, Augsburg 2002. Thomas Osborne u. Nikolas Rose, Do the Social Sciences
Create Phenomena? The Example of Public Opinion Research, in: The British Journal of
Sociology 50. 1999, S. 367 – 396.
90
Kerstin Brückweh
betrachten.12 Genau dies geschieht auch in diesem Aufsatz. Gesellschaftsklassifikationen bilden nicht Wirklichkeit ab, sondern schaffen sie selbst, das
heißt, sie werden als Konstruktionen von Gesellschaft oder beispielsweise von
Konsumenten verstanden.13 Dabei können die für die Klassifikation verwendeten Methoden eine eigene Dynamik entwickeln – sie verselbstständigen sich
und werden in gewisser Weise zu Akteuren mit Eigenleben.14
Vor diesem Hintergrund des Interesses an der Methodengeschichte ist die
Bezeichnung Umfrageforscher oder -forscherin umfassend zu verstehen: Sie
wird für Personen verwendet, die in der privatwirtschaftlichen Markt- und
Meinungsforschung, in der staatlichen sowie in der universitären Umfrageforschung tätig sind und sich über ähnliche Arbeitsmethoden definieren. Das
mag aus der Sicht der Anwender der Daten befremdlich wirken, ist aber aus der
Perspektive der Methodengeschichte plausibel und sinnvoll: So führte das
Interesse an der gemeinsamen Methode am 5. November 1946 zu einem ersten
Treffen von 19 Männern und vier Frauen in den Büroräumen der Werbeagentur London Press Exchange. Damit war der Grundstein für die Gründung der
Market Research Society (MRS) als künftiger Interessenvertretung der
Umfrageforscher gelegt. Ihr Hauptanliegen war „the furtherance of the
profession of marketing and social research“.15 Vierzig Jahre später betonte die
MRS noch immer die gemeinsamen Methoden, die der Arbeit ihrer Mitglieder
in den verschiedensten Anwendungsbereichen zugrunde lag: „The Market
Research Society is the incorporated professional body for those using survey
techniques for market, social and economic research.“16 Dieser Fokus auf die
gemeinsamen Methoden ließ Umfrageforscherinnen und -forscher aus den
verschiedensten Bereichen zusammenkommen. Das resultierte unter anderem
aus der Überlegung, dass, anders als aus der Perspektive der Datenanwender,
aus der Sicht der Datenerzeuger zum Beispiel die Markt- und die Meinungsforschung gemeinsam betrachtet werden können, da die politische Meinungs12 Bruce Curtis, The Politics of Population. State Formation, Statistics and the Census of
Canada 1840 – 1875, Toronto 2001, S. 30. Grundlegend: Bruno Latour, Science in Action.
How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge, MA 1987; ders. u.
Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986.
13 Vgl. Christiane Reinecke u. Thomas Mergel, Das Soziale vorstellen, darstellen,
herstellen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert,
in: dies. (Hg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2012, S. 7 – 30. „Daten“ wird im Folgenden der
Lesbarkeit halber nicht durchgehend in Anführungszeichen gesetzt, grundsätzlich wird
aber von ihrer sozialen Konstruiertheit ausgegangen (ebenso „Fakten“).
14 Dieser Aufsatz setzt inhaltlich dort an, wo sich Edward Higgs in seiner Geschichte des
englischen information state zurückhält, nämlich an der Verbindung von staatlichen
und kommerziellen Datensammlungen, vgl. Higgs, Information State, S. ix.
15 Ian Blythe, The Making of an Industry. The Market Research Society 1946 – 1986. A
History of Growing Achievement, London 1988, S. 21; McDonald u. King, Sampling the
Universe, S. 19 – 24.
16 Blythe, Making of an Industry, S. 19.
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Das Eigenleben der Methoden
91
forschung aus methodischer Sicht nur eine Spielart der Marktforschung ist. So
werden beispielsweise in sogenannten omnibus surveys Meinungsfragen und
Marktfragen in direkter Abfolge erhoben, je nachdem, welcher Auftraggeber
dafür bezahlt hat. In der britischen Umfrageforschung hielt dieses gemeinsame Interesse an der Entwicklung der Methode, das vor allem durch die
Erfindung der Stichprobe und die Anfänge der Markt- und Meinungsforschung in den 1920er Jahren entstanden und 1946 durch die Gründung der
MRS institutionalisiert worden war, bis ungefähr in die 1970er Jahre an.17
Bereits seit den 1960er Jahren differenzierten sich die Anwendungsbereiche
der Umfrageforschung zunehmend und heute ist die MRS vornehmlich eine
Vertretung der kommerziellen Markt- und Meinungsforscher und -forscherinnen. Trotz dieser Differenzierung wurden weiterhin grundsätzlich dieselben Methoden in den verschiedenen Bereichen angewandt beziehungsweise
zirkulierten erfolgreiche Modelle und Methoden zwischen den Datenerzeugern in verschiedensten Anwendungsbereichen. Ein Beispiel bilden die
Gesellschafts- und Konsumentenklassifikationen in der britischen Umfrageforschung.
Diese Klassifikationen waren in mindestens drei Punkten von Bedeutung für
die Umfrageforschung: erstens für die Auswahl der kostengünstigen und
schnell zu Ergebnissen führenden Stichprobe18 sowie zweitens für die Analyse
der Ergebnisse und drittens für die Kommunikation und Präsentation dieser
Ergebnisse an die Kunden. Grundlegend war die Frage, wie von den
Informationen über Einzelne auf eine Gesamtheit geschlossen werden konnte.
Anders formuliert: Zur Debatte stand das, nach Alain Desrosi*res, allgemeine
Ziel statistischer Arbeit, „einen Zusammenhalt zwischen a priori singulären
Dingen herzustellen und dadurch den Objekten eine komplexere und
umfassendere Realität und Konsistenz zu verleihen.“19 Um dieses Ziel zu
erreichen, müssen die singulären Dinge „von der grenzenlosen Überfülle der
wahrnehmbaren Manifestationen der Einzelfälle bereinigt“ werden.20 In
Anlehnung an Überlegungen von James Scott geht es somit um Formen der
Abstrahierung, Standardisierung und Vereinfachung („simplification“). Als
wichtigen ersten Schritt sieht er die „creation of common units of measure17 Für weitere Ausführungen und zur Periodisierung siehe Kerstin Brückweh, Menschen
zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom
19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin 2015, S. 25 – 27 u. S. 327 – 330.
18 Zur Geschichte der Stichprobe siehe z. B. William Kruskal u. Frederick Mosteller,
Representative Sampling IV. The History of the Concept of Statistics, 1895 – 1939, in:
International Statistical Review 48. 1980, S. 169 – 195. Allgemein zur Statistik z. B.
Theodore Porter, Statistics and Statistical Methods, in: ders. u. Dorothy Ross (Hg.), The
Modern Social Sciences (= The Cambridge History of Science, Bd. 7), Cambridge 2003,
S. 238 – 250.
19 Alain Desrosi*res, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen
Denkweise, Berlin 2005, S. 263.
20 Ebd.
92
Kerstin Brückweh
ment or coding“.21 Eben dies wird in den Klassifikationen versucht. Für die
geschichtswissenschaftliche Analyse ergibt sich daraus die Frage, welche
Ordnungsprinzipien den Gesellschaftsklassifikationen zugrunde lagen, wie sie
sich im Verlauf der Geschichte der Umfrageforschung veränderten und warum
dieses methodische Vorgehen Potentiale nicht nur für die Beobachtung,
sondern auch für die Überwachung entwickeln konnte.
II. Basis: Volkszählungsdaten und staatliche
Gesellschaftsklassifikationen
Die Entwicklung der britischen Konsumentenklassifikationen steht im engen
Zusammenhang mit der Geschichte der Volkszählungen. Diese wurden ab dem
19. Jahrhundert im Rahmen der Verwissenschaftlichung der Gesellschaftsbeobachtung zu einem wichtigen Instrument für die Produktion von Wissen über
die Bevölkerung. Die Volkszählung als „Urform“ einer kontinuierlichen
Beobachtung von Gesellschaft reicht weit vor diesen Zeitraum zurück,22 geht
aber erst in der modernen sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsbeobachtung
seit dem 19. Jahrhundert beträchtlich über die reine Erhebung von Einwohnerzahlen hinaus.
Im Rahmen der Volkszählung von 1911 wurde erstmals eine Klassifikation
eingeführt, die die Gesellschaft in drei grundlegende social classes einteilte.
Dieses als Registrar General’s Social Classes (RGSC) oder einfach nur Social
Classes bekannte Modell war nicht nur das gesamte 20. Jahrhundert lang im
Einsatz, es war zudem zwischen 1921 und 1991 nur geringfügig verändert
worden und hatte auf alle, also auch die sich in der Konsumentenforschung
entwickelnden, britischen Gesellschaftsklassifikationen erheblichen Einfluss.23 Die Einteilung in die RGSC basierte auf der Zuordnung von Berufen
und ihrem sozialen Status zu bestimmten Klassen: Die upper class, zu der auch
die upper middle class gezählt wurde, bestand aus sogenannten professionals,
die lower middle class aus skilled occupations und die working class aus
unskilled occupations. Für die Zuordnung der einzelnen Berufe zu diesen
Klassen wurden im 20. Jahrhundert für jeden Zensus umfassende Berufslisten
zusammengestellt, die unabhängig vom Bearbeiter oder der Bearbeiterin im
21 James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human
Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 80 f.
22 Die Formulierung lehnt sich an Jürgen Osterhammels Bezeichnung der Volkszählung als
Urform „eines kontinuierlichen self-monitoring von Gesellschaften“ an. Siehe Jürgen
Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts,
München 2008, S. 57.
23 Siehe z. B. die Darstellung in: Office of Population Censuses and Surveys (Hg.),
Classification of Occupation 1970, London 1970. Vgl. auch Thomas H.C. Stevenson, The
Vital Statistics of Wealth and Poverty, in: Journal of the Royal Statistical Society 91. 1928,
S. 207 – 230.
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Das Eigenleben der Methoden
93
Zensusbüro die eindeutige Klassifizierung ermöglichen sollten. Entstanden
war dieses Modell vor dem Hintergrund der weit ins 19. Jahrhundert
zurückreichenden Verbindung des General Register Office als zuständiger
Zensusbehörde mit den Environmentalisten des Public Health Movement und
ihren Lösungsvorschlägen für die soziale Frage. Sie waren weniger an der
Einteilung in social classes im Sinne einer sozialen Schichteneinteilung der
gesamten britischen Nation interessiert, sondern vielmehr an geografischen
Räumen wie Fabriken und beengten städtischen Wohnsituationen, ihren
unterschiedlichen sanitären Bedingungen und deren Auswirkung auf die
Gesundheit beziehungsweise Sterblichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner.24 Damit unterschieden sich die Environmentalisten erheblich von ihren
Gegenspielern, den Eugenikern, die bekanntermaßen auf biologische und
erbliche Merkmale zur Erklärung der sozialen Frage setzten. Die Einführung
der auf social classes basierenden Klassifikation für den Zensus von 1911 war
aus dem wissenschaftlichen Streit dieser beiden Richtungen entstanden, so das
Ergebnis der Analyse von Simon Szreter.25 Die Einteilung der Gesellschaft auf
der Basis von Berufen verlief in der Praxis keinesfalls problemlos, mögliche
Alternativen, wie die Orientierung an der Größe der Wohnung oder der Anzahl
der Bediensteten, wurden aber ebenfalls als problematisch angesehen.26 Nun
kann man wie Szreter argumentieren, dass diese Vereinfachung übertrieben
war, denn andere Klassifikationen der Zeit ermöglichten eine differenziertere
Darstellung der Gesellschaft: etwa Charles Booths Einteilung der Londoner
Bevölkerung in acht beziehungsweise später in 16 Klassen oder Seebohm
Rowntrees Unterteilung in sechs verschiedene Gruppen innerhalb der working
class für die Stadt York.27 Die Abstrahierung, die James Scott als „simplification“ bezeichnet hat, kann also verschiedene Abstufungen erfahren, vermutlich liegt aber gerade in der fehlenden Differenziertheit des Zensus-Klassifikationsmodells seine lange Wirkmächtigkeit.
Bei den RGSC handelt es sich um das zentrale britische Klassifikationsmodell
des 20. Jahrhunderts. So stellt David Rose, Director des Essex Institute for the
Social Sciences, 1995 in seiner Evaluierung des Modells fest: „For both
government departments and academic users, the long time-series provided
24 Vgl. dazu Desrosi*res, Politik der großen Zahlen, S. 290.
25 Simon Szreter, The Genesis of the Registrar-General’s Social Classification of Occupations, in: British Journal of Sociology 35. 1984, S. 522 – 546, hier z. B. S. 526 f. Siehe auch
ders., The Official Representation of Social Classes in Britain, the United States, and
France. The Professional Model and ,Les Cadres‘, in: Comparative Studies in Society and
History 35. 1993, S. 285 – 317.
26 Vgl. z. B. die Diskussionen im Census Report von 1921: Census of England and Wales
1921, General Report with Appendices, London 1927, S. 86. Szreter, Registrar-General’s
Social Classification, S. 532. T. H. C. Stevenson, The Fertility of Various Social Classes in
England and Wales 1850 – 1911, in: Journal of the Royal Statistical Society 83. 1920,
S. 401 – 444, hier S. 408 – 410.
27 Siehe Szreter, Registrar-General’s Social Classification, S. 353.
94
Kerstin Brückweh
by RGSC in particular is of great value both in the interpretation of social
trends and in policy evaluation.“28 Und die Marktforscher Colin McDonald
und Stephen King bezeichneten den Zensus im Jahr 1996 als zentrale
Datenquelle: „It has been of major importance for the development of all
research in this country, not merely for government.“29 Im „Introductory
Guide to the 1991 Census“ wurde der Zensus sogar als „,bedrock‘ upon which
most other social and market research is founded“ charakterisiert.30 Mit der
Nutzung der Zensusdaten ging die Übernahme der Gesellschaftsklassifikationen einher.31 Damit wurden grundlegende Annahmen des Klassifikationsmodells und damit auch grundlegende Probleme übernommen, unter denen
insbesondere das unterschiedliche Verständnis von class und die mangelnde
Fähigkeit, sozialen Wandel darzustellen, hervorgehoben wurden. Als im
Verlauf des 20. Jahrhundert zunehmend Kritik am RGSC-Modell aufkam,
begannen Umfrageforscher nach den zugrunde liegenden Definitionen von
class zu suchen und mussten wie der britische Soziologe Ivan Reid feststellen:
„Crisp definitions of social class rarely appear.“32 Die fehlenden Definitionen
weisen darauf hin, dass anscheinend jeder zu wissen glaubte, was class
bedeutete, und dass dennoch jeder etwas anderes darunter verstand. Class
wurde in Wissenschaft und Alltag verwendet und war Begriff, Phänomen,
Abgrenzungsmöglichkeit, Kampfvokabel und vieles mehr. Auch wenn diese
Allgegenwart des Begriffs nicht mit einer einheitlichen Definition einherging,
so war class trotzdem in verschiedensten Bereichen wirkmächtig und wurde
auch in der Umfrageforschung als grundlegende Kategorie verwendet. Die
oben beschriebene Lösung der Messung von class über das Berufsfeld konnte
das Problem nur teilweise beheben. Zunehmend empfanden britische Umfrageforscherinnen und -forscher insbesondere nach 1945 die starre Volkszählungsklassifikation unzureichend, weil sie kaum an die sich verändernde
Gesellschaft angepasst werden konnte. Sie entwickelten sowohl in der
staatlichen als auch in der akademischen und der kommerziellen Umfrageforschung, häufig in Anlehnung an die RGSC, eigene Modelle.33
28 David Rose, Official Social Classification in the UK, in: Social Research Update,
University of Surrey 9. 1995, http://sru.soc.surrey.ac.uk/SRU9.html.
29 McDonald u. King, Sampling the Universe, S. 92 f.
30 Barry Leventhal (Hg.), The Introductory Guide to the 1991 Census, Henley-on-Thames
1993.
31 Zwar konnten auch sog. Rohdaten erworben werden, aber nach David Rose fragten die
Nutzer von Zensusdaten die Darstellung der Zahlen vielfach in den RGSC nach. Rose,
Official Social Classification in the UK.
32 Ivan Reid, Social Class Differences in Britain. A Sourcebook, London 1977, S. 15.
33 Am wichtigsten für die staatliche Sozialforschung wurden die 1951 bzw. 2001 eingeführten Socio-Economic Groups und die National Statistics Socio-Economic Classifications. Zur Geschichte der Klassifikationen in der staatlichen und universitären
Umfrageforschung siehe Brückweh, Menschen zählen, S. 149 – 205.
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Das Eigenleben der Methoden
95
III. Übertragung und Erweiterung:
Konsumentenklassifikationen seit den 1930er Jahren und ihre
Standardisierung nach 1945
Seit den 1930er Jahren und insbesondere nach 1945 suchten die Umfrageforscherinnen und -forscher im Bereich der Markt- und Meinungs- und vor allem
der Hörerforschung nach geeigneten Gesellschaftsklassifikationen. Ebenso
wie ihre Kolleginnen und Kollegen in der staatlichen und universitären
Umfrageforschung setzten die privatwirtschaftlichen Akteure auf soziale
Klasse als zentrales Konzept und verorteten die verschiedenen Klassen
zunehmend im Raum. Der Herausbildung einer spezifischen Konsumenteneinteilung ging eine Phase der Evaluierung bestehender Gesellschaftsklassifikationen voraus. Die Bewertung der vorhandenen Klassifikationen und die
Entwicklung eines neuen Modells hingen dabei insbesondere von der
Differenzierungsfähigkeit dieser Modelle im Hinblick auf Einkommen und
Kaufverhalten ab.34 Da sich für die Produzenten die Märkte der Vor- und
Nachkriegszeit durch neue Einkommensstrukturen und damit einhergehendem Konsumverhalten sowie durch neue Einkaufsmöglichkeiten und veränderte Produktionsbedingungen gravierend geändert hatten, wandten sie sich
zunehmend an die Marktforschung. Diese bot sich als Möglichkeit an, durch
spezifische Methoden wie Kundenbefragungen die verlorene Verbindung zum
Endverbraucher beziehungsweise der Endverbraucherin zu ersetzen.
Die MRS sah es Ende der 1940er Jahre als eine ihrer ersten Aufgaben an, die
verschiedenen, vor allem auf social class aufbauenden, Gesellschaftsklassifikationen der Umfrageforschung zu evaluieren. Das eingesetzte Subkomitee
untersuchte die bestehenden Modelle auf ihre Funktionstüchtigkeit und
Vergleichbarkeit und teilte zunächst alle Klassifikationen in zwei Gruppen:35
1) The objective, in which respondents are grouped according to some orientation from
information obtained at the interview. Examples of this are definitions dependent on the
occupation, or the basic wage rate of the head of household.
2) The subjective, in which respondents are grouped according to the investigator’s
impression of their socio-economic standing, using such indications as type of house,
possession of car or telephone.36
34 British Library, Unpublished Conference Proceedings, Market Research Society [im
Folgenden BL, MRS], Erhard Meier u. Corrine Moy, Social Classifications. A New
Beginning or Less of the Same?, MRS Annual Conference, 17. – 19. 3. 1999, Metropole
Hotel, Brighton 1999, S. 357 – 367, hier S. 363.
35 The Market Research Society Library [im Folgenden MRS Library], MRS SubCommittee (Henry Durant (Chairman), Mark Abrams, William F. F. Kemsley, Harry
Munt, Frederick Edwards), 1949 Report On Socio-Economic Group Usage, in: Blythe,
Making of an Industry, Appendix B.
36 Ebd., Hervorhebungen im Original.
96
Kerstin Brückweh
Ein Beispiel für die subjektive Methode war die Klassifikation der International Broadcasting Corporation von 1937. Demnach bestand die britische
Gesellschaft aus vier Klassen, an deren Spitze Class A stand (dazu gehörten
unter anderem Ärzte, Fabrikbesitzer, höhere Beamte) und an deren unteren
Ende sich Class D (zum Beispiel ungelernte Arbeiter im Kohlebergbau)
befand.37 Die Klassen waren durch Charakteristika wie die Beschäftigung von
Dienstpersonal, Wohnsituation, Eigentum, Ausbildungsort der Kinder, Beruf
beziehungsweise berufliche Stellung und spezifische Konsumgüter, wie das
Vorhandensein eines Autos oder eines Telefons bestimmt. Die Klassifizierung
war in hohem Maße abhängig von der Einschätzung in der Interviewsituation.
Das blieb auch im Modell für den Attwood Readership Survey von 1947 – dem
Nachkriegsbeispiel für die subjektive Methode – so, wenn die Interviewerinnen und Interviewer die Befragten unter anderem mit Blick auf Sauberkeit,
Aussprache und Persönlichkeit klassifizieren sollten.38
Das zentrale Nachkriegsbeispiel für die zweite, sogenannte objektive Methode
ist die Klassifikation der Berufsorganisation der britischen Werbeindustrie,
dem Institute of Practitioners in Advertising (IPA), das diese für den
Readership Survey entwickelt hatte. Im Fragebogen für diese Umfrage wurden
direkte Angaben zum Einkommen verlangt und auf dieser Basis die Gesellschaft in vier classes eingeteilt.39 Sowohl für den Readership Survey des IPA als
auch für den Attwood Readership Survey wurde betont, dass soziale Klasse
keine eindeutige Kategorie, sondern ein Amalgam sei: „They merge into one
another and overlap“,40 stellte das IPA fest und die Vertreter von Attwood
wiesen darauf hin, dass verlässliche Einkommensangaben in einem Interview
nur selten gemacht werden. Ganz unabhängig davon sei nicht klar, ob es um
persönliches Einkommen, das der Familie oder das des Haushaltsvorstandes
gehe.41
Da diese Modelle, und sie waren nicht die einzigen, keinen Vergleich ihrer
Ergebnisse zuließen, obwohl sie sich alle auf social class bezogen, forderte das
Subkomitee der MRS in seinem Report von 1949 die Standardisierung der
verschiedenen Klassifikationen.42 Zunächst passierte aber nicht viel, so kam
14 Jahre später, 1963, eine neue MRS Working Party zu nahezu derselben
37 1937 Social Classification Used by the International Broadcasting Corporation, in:
Blythe, Making of an Industry, Appendix C.
38 The History of Advertising Trust Library [im Folgenden HAT Library], The Attwood
National Publications. Readership Survey, Part I, S. 80, March 1947.
39 HAT Library, Institute of Incorporated Practitioners in Advertising [im Folgenden IPA],
Survey of Press Readership 1947, Readership Tables, S. 17 f. Das Institut wurde 1927 als
Institute of Incorporated Practicioners in Advertising gegründet, 1954 wurde das
Incorporated fallen gelassen.
40 Ebd.
41 HAT Library, Attwood National Publications, S. 80.
42 MRS Library, MRS Sub-Committee, 1949 Report on Socio-Economic Group Usage.
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Das Eigenleben der Methoden
97
Bewertung der Klassifikationspraxis in der Markt- und Meinungsforschung.43
Aus dieser erneuten Bestandsaufnahme resultierte die Forderung der MRS, ein
Standardmodell für die Umfrageforschung zu entwickeln. Allerdings hielt sie
sich mit eigenen Modellversuchen zurück, da bekannt war, dass das Institute of
Practitioners in Advertising (IPA) an einem Standardmodell für den National
Readership Survey arbeitete. Das 1927 gegründete IPA war als Berufsorganisation unter anderem an Standards im Bereich der Klassifikationen für die
Branche interessiert, um dadurch die Qualität der Werbeindustrie zu sichern.
Das IPA fungierte in den 1960er Jahren als „style setter and leader of media
studies“,44 da es alle anderen Institute in diesem Bereich überlebt hatte. Es
hatte seine Arbeit für ein Klassifikationsmodell im Jahr 1954 aufgenommen,
also genau zu dem Zeitpunkt, als sich durch das Ende der Rationierung neue
Märkte zu öffnen begannen.45 Versuche zur Standardisierung boten sich in der
Publikumsforschung zum einen aufgrund der relativen Übersichtlichkeit des
Bereiches an.46 Zum anderen hatten die verschiedensten Publikationsformen
besondere Relevanz für die Werbebranche, denn Readership Surveys ergänzten
Informationen wie Auflagehöhen, indem sie Auskunft darüber gaben, wo eine
Werbemaßnahme, zum Beispiel für ein bestimmtes Auto, potentielle Kunden
erreichen würde.47
Im Jahr 1964 stellte das IPA gemeinsam mit dem British Market Research
Bureau (BMRB), das die praktische Erprobung im Feld durchgeführt hatte,
seine neue Klassifikation vor.48 Um die höchste Vergleichbarkeit zwischen den
Ergebnissen verschiedener Umfrageinstitute, aber auch innerhalb eines
Instituts zu gewährleisten, wurde ein Zwei-Phasen-Modell propagiert. Anders
als bei der subjektiven Methode wurde die Rolle des Interviewers und der
43 MRS Library, MRS Working Party, Social Class Definition in Market Research Objectives
and Practice. First Report, London 1963, S. ii.
44 The History of Advertising Trust Archive [im Folgenden HAT Archive], IPA 17 / 2,
Doc. 8003, Graeme Cranch, Socio-Economic Grading. A Paper Prepared for the
Consideration of the Research Committee, 4. 1. 1960.
45 Schon zuvor hatte sich der Bereich der Publikumsforschung als wichtiger Teil der
Umfrageforschung etabliert. So war das Listener Research Department der BBC 1936
gegründet worden. Zur Geschichte der Hörerforschung der BBC siehe Robert Silvey,
Who’s Listening? The Story of BBC Audience Research, London 1974. Für einen
geschichtlichen Überblick bis 1954 siehe auch: MRS Library, Readership Surveys. A
Comparative Study (A Publication of the MRS 1), London 1954, S. 8 – 11.
46 1954 existierten mehrere große Studien zur Publikumsforschung: The Hulton Readership Survey, The Brand Barometer Readership Sections und The Attwood Consumer
Panel Readership Analysis. Hinzu kam der vom Institute of Practitioners in Advertising
geplante National Readership Survey.
47 „A ,reader‘ is a person who has been afforded a chance of seeing an advertisement in a
publication by virtue of having read or looked through that publication.“ MRS Library,
Readership Surveys. A Comparative Study, S. 5.
48 HAT Archive, IPA 17 / 3, Doc. 7124, Classification by Family Occupational Status.
Proposals for the Standardisation of the System of Social Grade Classification, Prepared
for the IPA by the British Market Research Bureau Limited, London, 5. 5. 1964.
98
Kerstin Brückweh
Interviewerin auf die Dokumentation der beantworteten Fragen beschränkt.
Nicht zuletzt bedingt durch das vielfach zu beobachtende geringe Vertrauen
der Umfrageforscher in die häufig von Frauen ausgeübte Interviewtätigkeit
sollten deren Arbeit und Einfluss gering gehalten werden.49 Zu diesem Zweck
wurde ein Fragebogen entworfen, der möglichst wenige „Fehlerquellen“ bot.
Zwar sollten auch die Interviewerinnen und Interviewer ihre Einschätzung zu
den sogenannten Social Grades geben, die eigentliche Klassifizierung erfolgte
aber in einem abgetrennten zweiten Schritt. Hier oblag es dem Personal im
Büro auf der Grundlage der Fragebögen die Einteilung in Social Grades zu
übernehmen.50 Auf der Basis der beruflichen Situation und des Nettoeinkommens des Haushaltsvorstandes ordnete das Büropersonal die verschiedenen
Haushalte den Klassen A Upper Middle Class, B Middle Class, C1 Lower Middle
Class, C2 Skilled Working Class, D Semi-Skilled and Unskilled Working Class
oder E Those at the Lowest Levels of Subsistence zu. Das unter dem Namen
Social Grade oder Social Grade Classification bekannt werdende Modell
entwickelte sich zum grundlegenden Klassifikationsmodell in der privatwirtschaftlichen Umfrageforschung.51 Ebenso wie die zur Orientierung dienenden
RGSC ging es von einer Klassifizierung der Bevölkerung auf der Grundlage des
Berufsfeldes aus. Zusätzlich wurden diese Angaben mit denen zum Einkommen ergänzt, allerdings wurde occupation als wichtiger angesehen. Die
Unterteilung in Grade C1 Lower Middle Class und Grade C2 Skilled Working
Class war genau in diesen Kontext einzuordnen, denn beide Gruppen
verfügten zwar über ähnlich hohe Einkommen, ihr Konsumverhalten unterschied sich aber angeblich aufgrund des anderen Arbeitskontextes signifikant.52 Auffälliger Weise existierte keine upper class, vermutlich schien sie
nicht für breite Werbemaßnahmen interessant zu sein.
Ab 1970 wurden regelmäßig Einführungshefte veröffentlicht, die den verschiedenen Nutzern die Funktionsweise des Social Grading erklärten, die die
einzelnen Social Grades definierten und, ähnlich wie für die staatlichen
Modelle, auch für die Social Grades Berufslisten zur Verfügung stellten. Die
grundlegenden Beschreibungen der einzelnen Social Grades änderten sich in
den Ausgaben von 1970 bis 1985 kaum. 1978 wurden zum Beispiel die zu Grade
B Middle Class gehörenden Haushalte folgendermaßen charakterisiert:
49 Zur schwierigen Position des Interviewers bzw. der Interviewerin siehe Brückweh,
Menschen zählen, S. 117 – 146.
50 Für einen Beispielbogen siehe z. B. Donald Monk, Social Grading on the National
Readership Survey, London 19784, Appendix C.
51 In der Einführungsbroschüre aus dem Jahr 1978 wurde es z. B. als „standard system for
commercial survey work in Britain“ bezeichnet. Ebd., S. 3.
52 Siehe z. B. BL, MRS, Erhard Meier, The New NRS Classification Measurement. The
Difference Between Chief Income Earner, Head of Household, Housewife and Shopper,
MRS 37th Annual Conference, 16. – 18. 3. 1994, International Convention Centre,
Birmingham 1994, S. 139 – 145, hier S. 139.
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Das Eigenleben der Methoden
99
Grade ,B‘ informants account for about 12 % of the total. In general, the heads of ,B‘ Grade
households will be quite senior people but not at the very top of their profession or business.
They are quite well-off, but their style of life is generally respectable rather than rich or
luxurious. Non-earners will be living on private pensions or on fairly modest private
means.53
Den Beschreibungen für alle fünf Grades folgten Beispiele für Berufe und
Positionen der in den einzelnen Social Grades vertretenen Haushaltsvorstände, die bis in die 1990er Jahre trotz angeblicher Gleichberechtigung nur im
Ausnahmefall Frauen sein durften.54 Interessant für die Anwender der
kommerziellen Umfrageforschung waren die Social Grades, weil ihnen
einzelne Produkte und Konsumverhalten zugeordnet wurden. Demnach
hatten zum Beispiel 1978 nahezu alle in Grade A-Klassifizierten ein Telefon,
während bei Personen in Grade E nur ungefähr jeder vierte ein Telefon besaß,
über ein Farbfernsehen verfügten über 80 Prozent aus Grade A und etwa 22
Prozent aus Grade E. In Grade A und B Klassifizierte lasen vor allem Times,
Daily Telegraph, Guardian und Financial Times, während Grade C2 bis E vor
allem Daily Mirror und Sun konsumierten.55
Bis in die 1980er Jahre gab es keine signifikanten Neuerungen, die sich in der
gesamten Branche in vergleichbarer Weise wie die Social Grades durchgesetzt
hatten. Trotzdem war in der kommerziellen Umfrageforschung ein Unbehagen
darüber zu beobachten, dass das Modell seit Mitte der 1950er Jahre entwickelt
und dennoch in den nächsten gut zwanzig Jahren nicht an eine sich
verändernde Gesellschaft angepasst worden war. Diese fehlende Flexibilität
war für die kommerzielle Umfrageforschung umso gravierender, da sie anders
als zum Beispiel die Volkszählung weniger an langen Vergleichsdaten, sondern
vielmehr an aktuellen Informationen über die Gesellschaft und insbesondere
über die Konsumbürgerinnen und -bürger interessiert war.56 Veränderungen
begannen sich im Anschluss an den Zwischenzensus von 1966 anzukündigen.
Mit dem Einsatz von Computern ab den 1960er Jahren schienen die
Nachfragen nach der Bereitstellung von konkreten Volkszählungsdaten für
verschiedene Nutzergruppen zuzunehmen.57 Nun wurde aufgrund der viel53 Monk, Social Grading, Appendix A.
54 Vgl. zur langen Geschichte des männlichen Haushaltsvorstandes in der britischen
Umfrageforschung: Brückweh, Menschen zählen, S. 190 – 196.
55 Für weitere Beispiele siehe Monk, Social Grading, Appendix B.
56 Vgl. grundlegend zum Konzept des citizen consumers z. B. Liz Cohen, A Consumers’
Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2003. Zum
Zusammenhang von citizenship und Konsum siehe Frank Trentmann, Introduction.
Citizenship and Consumption, in: Journal of Consumer Culture 7. 2007, S. 147 – 158. Für
eine Verbindung zur Marktforschung siehe Kerstin Brückweh (Hg.), The Voice of the
Citizen Consumer. A History of Market Research, Consumer Movements, and the
Political Public Sphere, Oxford 2011.
57 Wichtig waren die Zensusdaten bereits im 19. Jahrhundert für die Friendly Societies
bzw. später für Versicherungen, die eigens für sie aufbereitete Tabellen erhielten. Vgl.
100
Kerstin Brückweh
fältigen Kombinierbarkeit der elektronisch archivierten und verknüpfbaren
Daten die anwenderorientierte Vermarktung von Zensusdaten möglich. Im
General Register Office dachte man, so Jon Agar, über die Herausgabe von
Daten nach: „albeit for ,approved purposes, subject to fairly strict controls.‘ A
market for government information began to stir.“58 Die Kosten für die
Anwender schienen signifikant zu sein, denn der Marktforscher Peter Sleight
betonte in seiner Darstellung aus dem Jahr 2004 die Bedeutung der Entscheidung, die Zensusdaten ab 2001 kostenlos zur Verfügung zu stellen:
This has had the effect of swinging the balance of power back towards the census – and
stimulated much activity in the supplier community, and much renewed interest in the user
community. There is no doubt, with hindsight, that the royalty policies that made detailed
census data relatively ,expensive‘ have contributed to the relative appeal of alternative data
sources.59
An diesem Zitat zeigt sich ebenso wie in der folgenden Geschichte der
geodemographics einmal mehr die große Bedeutung, die die staatlichen Daten
für die kommerziellen Institute hatten.
IV. Diversifikation: Durch Privatisierungen und
Informationstechnologien bedingte Methoden seit den
späten 1970er Jahren
Die späten 1970er Jahre und vor allem die 1980er Jahre standen im Zeichen der
erneuten Evaluierung sozialer Klassifikationsmodelle, wobei sich die Jahre
1979 bis 1981 als Scharnierjahre erwiesen. Sie charakterisieren die Einführung
der sogenannten geodemographics als neue Basis der Konsumentenklassifikation, die die folgenden Dekaden entschieden prägen sollten. Im Zeitraffer heißt
das: Der Ursprung der geodemographics für die Konsumentenklassifikationen
lag im öffentlichen Sektor und schloss an frühere Armutsforschungen an, die
zugrunde liegende Technik wurde ab 1979 im privaten Sektor entwickelt,
verlief parallel zu Thatchers neoliberaler Politik, und hat aus dem privaten
Sektor seit Mitte der 1980er Jahre, aufbauend auf der Konsumforschung,
wieder den Weg in den öffentlichen Sektor gefunden. Zuletzt haben sich in den
1990er Jahren die politischen Parteien diese Klassifikationsmodelle unter
anderem für ihren Wahlkampf erschlossen.
Ausführlicher lässt sich diese Geschichte wie folgt erzählen: Das neue
methodische Verfahren der geodemographics, das im Jahr 1979 auf der
Edward Higgs, Life, Death and Statistics. Civil Registration, Censuses and the Work of
the General Register Office 1837 – 1952, Hatfield 2004, S. 22 – 34.
58 Jon Agar, The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer,
Cambridge, MA 2003, S. 324.
59 Ders. u. Peter Sleight, Targeting Customers. How to Use Geodemographic and Lifestyle
Data in Your Business, Henley-on-Thames 20043, S. 165.
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Das Eigenleben der Methoden
101
Konferenz der MRS vorgestellt worden war,60 trat den Registrar General’s
Social Classes beziehungsweise den Social Grades durch räumliche Gesellschaftsklassifizierungen gegenüber und machte die Nachbarschaft zu ihrer
grundlegenden Analyseeinheit. Nicht mehr die soziale Klasse war das
maßgebliche Zuordnungskriterium, sondern die Nachbarschaft, in der ein
Individuum lebte. Dabei wurde davon ausgegangen, dass Menschen in einer
Nachbarschaft ähnliche soziodemografische Charakteristika, einen ähnlichen
Lebensstil sowie vergleichbare Wertvorstellungen und Konsumgewohnheiten
hatten.61 Das korrespondierte mit neuen Entwicklungen in der Konsumentenforschung, wonach nicht mehr die gesamte Gesellschaft interessierte,
sondern nur noch einzelne, räumlich zu fixierende Einheiten. Dieses Vorgehen
eröffnete die Möglichkeit, Individuen ohne direkte Befragung in gesellschaftliche Gruppen einzuordnen, das heißt, es handelte sich weitgehend um ein
Klassifizieren ohne Fragebogen, das auf verschiedensten Datenquellen basierte. Die neue Methode orientierte sich an der Kartografierung sozialer
Unterschiede und ist dem Bereich der Geografischen Informationssysteme
(GIS) zuzuordnen. Ihr Grundprinzip bestand darin, soziale oder sonstige
Phänomene durch Clusteranalysen auf Landkarten räumlich sichtbar zu
machen. Die in vielen Bereichen anwendbaren Systeme haben ab den späten
1970er Jahren unter dem Namen geodemographics die britische Umfrageforschung entschieden verändert. Ihr Ursprung kann in Großbritannien bis in die
Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden.62 Während thematische
Karten in dieser Zeit zunehmend Anwendung und Verbreitung fanden,63
60 BL, MRS, John Bermingham u. a., The Utility to Market Research of the Classification of
Residential Neighbourhoods, MRS 21th Annual Conference, 21. – 23. 3. 1979, Metropole
Hotel, Brighton 1979, S. 253 – 272.
61 Vgl. BL, MRS, Barry Leventhal, Birds of a Feather? Or, Geodemographics – an
Endangered Species?, MRS 36th Annual Conference, 24. – 26. 2. 1993, International
Convention Centre, Birmingham 1993, S. 223 – 239, insb. S. 223.
62 Die Verwendung von Landkarten zur Analyse von Phänomenen zeigte sich zuerst in
einer Karte des Pioniers der epidemiologischen Cholera-Erforschung John Snow aus
dem Jahr 1855. John Snow, On the Mode of Communication of Cholera [1855], in: Simon
Foxell, Mapping London. Making Sense of the City, London 2007, S. 146 f. Für einen
frühen Hinweis auf die systematische Verzeichnung von Volkszählungsbezirken in
Landkarten siehe: The National Archives of the UK, Kew [im Folgenden TNA], RG 29 / 1,
General Register Office, Copies of Outward Treasury Letters I, 1836 – 1863, Letter,
9. 3. 1844. Zum Wandel der Volkszählungsbezirke vgl. z. B. Edward Higgs, Making Sense
of the Census Revisited. Census Records for England and Wales, 1801 – 1901. A
Handbook for Historical Researchers, London 2005, S. 37 – 42 u. S. 189 – 198; ders., Life,
Death and Statistics, S. 109 – 113; Office for Population Censuses and Surveys and
General Register Office Edinburgh, Guide to Census Reports, Great Britain 1801 – 1966,
London 1977, S. 261 – 273.
63 Siehe dazu z. B. den Abschnitt „Social Mapping“ in Martin Bulmer u. a., The Social
Survey in Historical Perspective, in: dies. (Hg.), The Social Survey in Historical
Perspective 1880 – 1940, Cambridge 1991, S. 1 – 48, hier S. 31 – 35. Siehe auch: Kathryn
Kish Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s,
in: Bulmer u. a. (Hg.), Social Survey in Historical Perspective, S. 111 – 147. Allgemein
102
Kerstin Brückweh
waren es insbesondere die Karten des Sozialforschers Charles Booth, die die
Methode der Kartografierung sozialer Unterschiede zum Ende des 19. Jahrhunderts besonders prägten. Sie wurden für die Umfrageforschung wichtig, da
sie ebenso wie die in den 1970er und 1980er Jahren entwickelten geodemographics den Nachbarschaften eine besondere Bedeutung einräumten.64
Wichtig für die Entwicklung der geodemographics in den 1970er Jahren waren
in Großbritannien die Arbeiten am Centre for Environmental Studies in
London, das 1967 von der Wilson-Regierung als unabhängiges gemeinnütziges
Institut gegründet worden war und den Auftrag „of advancing education and
research in the planning and design of the physical environment“ hatte.65 Es
wurde zunächst von der Ford Foundation und der britischen Regierung
gefördert. Ein vom Office of Population Censuses and Surveys unterstütztes
Projekt der dort ansässigen Planning Research Application Group (PRAG)
beschäftigte sich mit der Identifizierung innerstädtischer Problembezirke in
London, Birmingham und Liverpool, um daraus gezielt staatliche Programme
für diese Bezirke zu entwickeln. Dafür wurden auf Basis der Volkszählungsbezirke und -daten soziale Typologien erstellt und diese sogenannten National
Classification of Residential Neighbourhoods wurden wiederum in Karten
verzeichnet.66
In Großbritannien hat es insbesondere Richard Webber geschafft, seinen
Namen mit der Entwicklung dieser Modelle zu verbinden.67 Den wichtigen
Vortrag über die Bedeutung dieser Methode für die Marktforschung hielt im
Jahr 1979 auf einer Konferenz der MRS allerdings ein Team vom British Market
Research Bureau, das sich grundlegend auf die Forschungen von Webbers
Arbeitsgruppe am Centre for Environmental Studies bezog.68 Angeblich
machte der Konferenzbeitrag Webber selbst erst auf die weite Anwendbarkeit
64
65
66
67
68
z. B. Arthur H. Robinson, Early Thematic Mapping in the History of Cartography,
Chicago 1982; David J. Cuff u. Mark J. Matson, Thematic Maps. Their Design and
Production, London 1982.
Siehe dazu u. a. Simon Garfield, On the Map. Why the World Looks the Way it Does,
London 2012, S. 277. Die Karten von Booth sind auch online einsehbar : London School
of Economics and Political Science, Library and Archive [im Folgenden LSE Archive],
Charles Booth Online Archive, https://www.booth.lse.ac.uk.
Centre for Enviromental Studies, in: Hansard British Parliamentary Debates [im
Folgenden Hansard], House of Commons, 21. 2. 1967, vol. 741, cc244 – 6W.
Für eine Darstellung der Methode und Ausführungen zur Klassifikation der National
Classification of Residential Neighbourhoods siehe LSE Archive, Folio FHN / F54, PRAG,
Centre for Environmental Studies, Richard J. Webber, The National Classification of
Residential Neighbourhoods. An Introduction, PRAG Technical Paper TP 23, November
1977. Für eine ausführliche Analyse siehe Brückweh, Menschen zählen, S. 149 – 205.
In den USAwird Jonathan Robbin, Gründer der amerikanischen Firma Claritas Inc., mit
der Erfindung der geodemographics assoziiert. Siehe dazu Jon Goss,We Know Who You
Are and We Know Where You Live. The Instrumental Rationality of Geodemographic
Systems, in: Economic Geography 71. 1995, S. 171 – 198, hier S. 173.
BL, MRS, Bermingham u. a., The Utility to Market Research.
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Das Eigenleben der Methoden
103
der eigenen Arbeit aufmerksam.69 In einer späteren Selbstdarstellung führte
Webber seinen Wechsel von der Armutsforschung zur kommerziellen Marktforschung im Jahr 1979 auf die neoliberale Sparpolitik von Margaret Thatcher
zurück. Demnach sei er durch die Schließung des Centre for Environmental
Studies quasi zu einem Wechsel in die Privatwirtschaft gezwungen worden.70
Webber gab ab 1979 wichtige Impulse für die Entwicklung der Nachbarschaftsklassifizierungen der Firma CACI und trug dort zur Entwicklung des
Schemas ACORN (A Classification of Residential Neighbourhoods) maßgeblich bei. Mit seinem Wechsel fand auch ein Transfer des an den Experten
Webber gebundenen Wissens vom öffentlichen in den privaten Sektor statt.
Kurze Zeit darauf wechselte er erneut den Arbeitgeber und war an der
Entwicklung eines Konkurrenzmodells beteiligt, das den Namen MOSAIC trug
und von Experian verbreitet wurde.71 Zwar wurden geografische Informationssysteme auch weiterhin an Universitäten erforscht und entwickelt, die
spezifische Verbindung zur Privatwirtschaft, vor allem im Konsumbereich,
wurde allerdings durch einzelne Firmen vorangetrieben.72
Im Jahr 1981 wurde die gängige Praxis der Klassifikationssysteme auf einer
Londoner Konferenz mit dem Thema „Re-Classifying People“ diskutiert. Zu ihr
hatte Admap, eine der führenden Zeitschriften der Werbe- und Marktforschungsbranche, eingeladen. In seiner Bestandsaufnahme stellte der Leiter eines großen
britischen Umfrageunternehmens fest, dass viele Marktforscherinnen und
-forscher nicht mehr länger daran interessiert seien, die Gesamtheit („the
universe“) zu klassifizieren, sondern Gruppen zu beschreiben und sie für die
Anwender zugänglich zu machen.73 Neben Angaben zu Demografie, Einkommen
und Beruf rückten nun soziale Einstellungen, Lebensstile, marktspezifisches
69 So die Darstellung in einem späteren Vortrag vor der MRS Conference. BL, MRS, Peter
Sleight, Geodemographics – What Might the 90’s Hold in Store?, MRS 36th Annual
Conference, 24. – 26. 2. 1993, International Convention Centre, Birmingham 1993,
S. 247 – 254, hier S. 247.
70 Die Finanzierung wurde im Oktober 1979 gestrichen. Siehe Centre for Enviromental
Studies, in: Hansard, House of Commons, 25. 10. 1979, vol. 972, cc287 – 8W. Das Institut
bestand danach noch für einige Jahre als unabhängige Institution und wurde in den
1980er Jahren schließlich ganz aufgelöst. Richard Webber, The Use of Census-Derived
Classifications in the Marketing of Consumer Products in the United Kingdom, in:
Journal of Economic and Social Measurement 13. 1985, S. 113 – 124.
71 Weitere Modelle (Anbieter) sind z. B. PiN und FiNPiN (Pinpoint Analysis), Superprofiles
(CDMS), DEFINE (Infolink). Vgl. Sleight, Targeting Customers, S. 27 – 31.
72 Super Profiles Geodemographic Typology wurde z. B. von Wissenschaftlern des Urban
Research and Policy Evaluation Regional Research Laboratory, Department of Civic
Design, University of Liverpool entwickelt, allerdings im Auftrag von CDMS Ltd, das zu
Littlewood Organisations und damit zu einer der größten Firmen in Großbritannien
gehört. Peter Brown u. a., Adding Value to Census Data. Public Sector Applications of the
Super Profiles Geodemographic Typology, in: Journal of Cities and Regions 2000, H. 1,
S. 19 – 31, hier S. 21.
73 Tony Twyman, Re-Classifying People. The Admap Seminar, in: Admap, November 1981,
S. 568 – 571, hier S. 568.
104
Kerstin Brückweh
Verhalten sowie Meinungen in den Fokus. Daneben wurden aber immer noch die
Social Grades angewandt und evaluiert.74 Es existierten somit zwei parallele
beziehungsweise sich ergänzende Klassifikationssysteme.
Die altbekannte Kritik an den Social Grades, das heißt die mangelnde
theoretische Grundlage, die fehlende eindeutige Differenzierung und die
eingeschränkte Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Umfrageinstituten,
die die Einteilungen verwendeten, konnte nun auch durch empirische Studien
belegt werden.75 Trotzdem wurden die Social Grades weiter eingesetzt, wofür
sich mehrere Gründe anführen lassen. Erstens wurde immer wieder auf die
anhaltende Selbstbeschreibung der britischen Bevölkerung in upper, middle
und working class verwiesen. Insbesondere in der kommerziellen Umfrageforschung wurde die Einteilung in soziale Klassen von Anfang an auch damit
begründet, dass sie eine für alle, auch die Abnehmer, verständliche Kommunikationsfigur darstelle. 1988 fasste zum Beispiel John Samuels, Managing
Director des British Market Research Bureau und früherer MRS-Chairmann,
diese Grundüberzeugung wie folgt zusammen: „We all genuinely believe that
social classes exist and that they do have different attitudes and behave
differently in relation to media and products.“76 Zweitens hatten die Marktund Meinungsforscher, insbesondere das IPA, viel Zeit mit der Entwicklung
der Social Grades verbracht, sodass sie nun zögerten, das Klassifikationsmodell aufzugeben. John Samuels formulierte dies 1988 so: „The present system
has been around so long (since 1956 on the NRS) that it has achieved ,currency‘
status.“77 Ein dritter Grund lag in der Verbindung zum Zensus und seinem
ebenfalls langlebigen Modell der RGSC. Die Verfügbarkeit von Zensusdaten
war von elementarer Wichtigkeit für privatwirtschaftliche Klassifikationsmodelle, die auf dem Markt bestehen mussten. Eine vierte Ursache ist in der
zunehmenden Abschottung der in den verschiedenen Bereichen tätigen
Umfrageforscher und -forscherinnen zu sehen: Gab es in der direkten
Nachkriegszeit noch einen Austausch zwischen den Akteuren im staatlichen,
akademischen und kommerziellen Bereich, so trennten sich aufgrund der
unterschiedlichen Professionalisierungen deren Wege im Verlauf der zweiten
74 MRS, An Evaluation of Social Grade Validity, 1981, zit. n. John Bermingham, Have You
Been ,DE‘-Classified, Recently?, in: Admap, November 1981, S. 584 – 588, hier S. 584.
75 Monk, Social Grading, S. 1 – 3. Außerdem stellten Sara O’Brien und Rosemary Ford in
einem Vortrag auf der jährlichen Konferenz der MRS 1988 zwar fest, dass in einer
Stichprobe von 400 Interviewten, die nach 10 Monaten noch einmal befragt wurden,
41 % anderen Social Grades zugeordnet worden waren, trotzdem hielten sie am
bestehenden System fest. BL, MRS, Sarah O’Brien u. Rosemary Ford, Can We at Last Say
Goodbye to Social Class? An Examination of the Usefulness and Stability of Some
Alternative Methods of Measurement, MRS 31st Annual Conference, Metropole Hotel,
Brighton 1988, S. 249 – 288.
76 John Samuels, Social Class in the Future, in: Admap, July 1988, https://www. warc.com.
77 Ebd.; „No better methods have been found“ hieß es in der Broschüre zum Social Grading
von 1985, siehe Monk, Social Grading, S. 4.
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Das Eigenleben der Methoden
105
Hälfte des 20. Jahrhunderts.78 Zwar hatten die kommerziellen Marktforscher
und -forscherinnen nicht zuletzt aus finanziellen Gründen auch weiterhin ein
Interesse daran, möglichst auf vorhandenen Daten aufzubauen, sie konzentrierten sich aber in erster Linie auf das Funktionieren ihrer Methoden in der
Praxis. Theoretisch fundierte Modelle wie die in der universitären Forschung
in den 1970er Jahren eingeführten Gesellschaftsklassifikationen, zum Beispiel
das am Nuffield College in Oxford entwickelte Goldthorpe Scheme oder die
Cambridge Stratification Scale, wurden nicht rezipiert. Dafür erhielten die
kommerziellen Umfrageforscher und -forscherinnen im Zuge der Evaluierungen der 1980er Jahre auch Kritik aus den eigenen Reihen:
Whilst our social grading system has no real theoretical base, there are now in existence
systems which are based in theory, and where the allocation of individual occupations to
groupings is both explicit and replicable. But virtually all market and media researchers are
as ignorant of them as I was a few weeks ago. For reference, you might care to investigate the
Goldthorpe / Casim scale and the Cambridge Stratification Scale. I say you might care, but
you won’t.79
Die schnelllebige und lukrative Arbeitswelt der kommerziellen Markt- und
Meinungsforschung führte dazu, dass nach einer Phase der Standardisierung
und gemeinsamen Arbeit in verschiedensten Anwendungsbereichen der
Umfrageforschung nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1979 zunehmend insulare
und kostengünstige Modelle entwickelt und präferiert wurden, die sich in der
Praxis beweisen konnten und zum exklusiven Wissen der jeweiligen Firmen
wurden. Das zentrale Beispiel bilden hier die geodemographics und somit das
zweite weit verbreitete Konsumentenklassifikationsmodell. Anders als für die
in den Volkszählungen verwandten Einteilungen (vor allem die RGCS) und die
aus der Publikumsforschung stammenden Social Grades funktionierten die
geodemographics nach Marktmechanismen. Während die Social Grades von
den Berufsorganisationen der Werbe- und Verlagsindustrie im geschützten
Raum entwickelt und finanziert worden waren,80 handelte es sich bei den
Anbietern von geodemographics um reine Wirtschaftsunternehmen. Klassifikationen wie ACORN waren ohne den Zensus nicht möglich, denn sie
basierten auf den verschiedenen Variablen, die in der Volkszählung abgefragt
wurden. Je weiter ein Zensus zurücklag, desto unzuverlässiger wurden die
Daten, sodass andere Quellen, wie Angaben zu Kredit- und Ausgabeverhalten,
Steuern, Eigentum, Konsumverhalten, Gesundheit und demografische Variablen, verstärkt Beachtung fanden. Zusätzlich wurden als Quellen zum Beispiel
das Wahlregister genutzt. Für private Anbieter von geodemographics gab es
78 Vgl. dazu Brückweh, Menschen zählen, S. 33 – 79.
79 Samuels, Social Class in the Future, Hervorhebung im Original. In ähnlicher Weise
argumentierte Ian Blythe für die 1920er Jahre, siehe Blythe, Making of an Industry, S. 12.
80 Der National Readership Survey wurde zeitweise von drei Berufsorganisationen
verantwortet: dem Institute of Practitioners in Advertising (IPA), der Newspaper
Publishers Association (NPA) und der Periodical Publishers Association (PPA).
106
Kerstin Brückweh
zunächst eine erhebliche Hürde, denn die Volkszählungsdaten waren anonymisiert und unterlagen dem Datenschutz. Allerdings kam den Firmen das britische
Postleitzahlensystem zur Hilfe, denn es umfasst, anders als in Deutschland, nur
sehr kleine Einheiten, das heißt ein größeres Haus oder eine kleine Straße. Das
System wurde seit den 1960er Jahren erprobt und 1974 landesweit eingeführt, es
schuf eine wichtige Voraussetzung für die Verknüpfung von Adressen und
anonymisierten Volkszählungsdaten, sodass die Methoden aus der Armutsforschung zu diesem Zeitpunkt auf die kommerzielle Marktforschung übertragen
werden konnten. Damit war die Basis für die geodemographics geschaffen. Durch
sie wurden zum Ende der 1970er Jahre und vor allem in den 1980er Jahren das
bestehende System der Social Grades erheblich herausgefordert. Möglich war dies
nur aufgrund der flächendeckenden Computererfassung von Daten und deren
elektronischer Verarbeitung.81 Die geodemographics mussten im Wettbewerb mit
anderen Anbietern bestehen.
Diese Marktorientiertheit hatte mehrere Folgen: Erstens brachten die wettbewerbskonformen Präsentationsformen andere Bezeichnungen und andere Darstellungsformen mit sich, wie sie in Verkaufsbroschüren sichtbar wurden.
Vergleicht man diese mit den noch immer weit verbreiteten Social Grades, so fällt
deren schmucklose Sprache und Darstellungsform auf. Die geodemographics
dagegen operieren mit einprägsamen Bezeichnungen und fiktiven Personendarstellungen, zum Beispiel MOSAICs Darren und Joanne aus der Gruppe der
„Happy Families“, zu denen im Jahr 2003 laut MOSAIC 10,76 Prozent aller
britischen Haushalte gehörten.82 Die Konkurrenzklassifikation ACORN unterschied für das Jahr 2006 fünf Kategorien: „Wealthy Achievers“, „Urban Prosperity“, „Comfortably Off“, „Moderate Means“ und „Hard-Pressed“. Für jede
Kategorie wurde ihr Anteil an der Bevölkerung angegeben und jede der fünf
Kategorien wurde dann noch einmal in 18 Gruppen, so zum Beispiel „Aspiring
Singles“ und „Asian Communities“, eingeteilt, die wiederum in 57 Typen
unterschieden wurden: von „Wealthy mature professionals in large houses“ zu
„Multi ethnic in crowded flats“.83 Die Social Grades bekamen durch die
geodemographics ernsthafte Konkurrenz, weil diese neuen Systeme ausreichend
bildliches Potential und Anschlussfähigkeit für die Kommunikation mit den
Kunden entwickelt hatten. Genau darauf zielte Richard Webber ab, als er 1985 die
Vorteile der geodemographics darstellte:
It provided the advertising and marketing professions with a more vivid and contemporary
method of defining audiences than the traditional A, B, C1, C2, D, E social class
categorization. The pictorial quality of ACORN was particularly helpful in enabling
81 Zur Geschichte des Computereinsatzes in den Regierungsabteilungen siehe Agar,
Government Machine. Allgemeiner siehe Martin Campbell-Kelly u. William Aspray,
Computer. A History of the Information Machine, Boulder 20042.
82 Mosaic United Kingdom. The Consumer Classification for the UK, 2006, http://www.
business-strategies.co.uk/upload/downloads/mosaic/uk/brochure.pdf.
83 The ACORN User Guide, 2006, S. 8 f., http://www.caci.co.uk/brochures.aspx.
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Das Eigenleben der Methoden
107
copywriters to pick out attributes of their target groups. The epithets ,cane furniture belt‘ and
,muesli man‘ crystallized the aspirations of Muswell Hill and Putney better than ,high
concentrations of ABC1 25 / 44 living alone‘.84
Die Aufnahme der Bezeichnungen aus der kommerziellen Umfrageforschung
im öffentlichen Diskurs und die Verwendung durch andere Akteure, zum
Beispiel im British Crime Survey, der vom Home Office in Auftrag gegeben, von
einem privatwirtschaftlichen Umfrageinstitut ausgeführt wurde und im Jahr
2009 auf ACORN-Klassifikationen und nicht auf den offiziellen ZensusKlassifikationen basierte,85 zeigen das große Potential der geodemographics.
Ob sie auf lange Sicht als Möglichkeit der Selbstbeschreibung der Gesellschaft
ebenso wie social class angenommen werden, ist zu bezweifeln. Gegen eine
Ablösung von class als Kommunikationsmöglichkeit innerhalb der britischen
Gesellschaft spricht zudem, dass die Methode aus der Marktforschung nicht
auf lange Vergleichbarkeit angelegt ist, sondern extrem flexibel sein soll, was
sich zum Beispiel in der immer neuen Benennung von Gruppen äußert. Die
Klassifikationen sind so flexibel, dass sich die Bezeichnungen von MOSAIC
2003 und MOSAIC 2009 komplett unterscheiden. Auch das ist mit Blick auf die
Geschichte der Methoden einfach zu erklären und wurde prägnant von
Richard Webber formuliert: „These types of tags are thought up by people paid
to consult on style, not substance.“86
Eine zweite Folge ergab sich aus der parallel zur Verbreitung der geodemographics verlaufenden neoliberalen Politik von Margaret Thatcher, die
die Entwicklung durch Outsourcing von staatlichen Umfragen und, wie am
Beispiel des Centre for Environmental Studies und der Person von Richard
Webber demonstriert, durch Schließungen von Forschungseinrichtungen
beeinflusste. Für die nun privatwirtschaftlich tätigen Akteure galten andere
Bewertungsmaßstäbe als in der Wissenschaft. Im Fall der geodemographics
bestätigte der enorme wirtschaftliche Erfolg die Anbieter in ihrer Arbeit.
Angesichts der Tatsache, dass die geodemographics von Anwendern in
verschiedensten Bereichen gekauft wurden, wurden auch die zugrunde
liegenden Konzepte von Gesellschaft und Individuum übernommen. Die
Basis der Vorstellung vom Individuum bei den geodemographics war die des
konsumierenden Individuums, kurz gefasst: „you are what you buy.“87 Alle
anderen Aspekte wie zivilgesellschaftliches Engagement interessierten nur,
wenn sie Folgen auf dem Markt nach sich zogen, denn die Anbieter von
geodemographics waren vor allem auf wirtschaftlichen Gewinn ausgerichtet.
84 Webber, Use of Census-Derived Classifications, S. 117.
85 Jacqueline Hoare, Drug Misuse Declared. Findings from the 2008 / 9 British Crimes
Survey, in: Home Office Statistical Bulletin 12. 2009, S. 44.
86 Webber zit. n. Denise Winterman, If the Label Fits, in: BBC News, 8. 11. 2005, http://
news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/magazine/4413808.stm.
87 Goss, We Know Who You Are, S. 189. Goss zitiert Rebecca Piirto, Beyond Mind Games.
The Marketing Power of Psychographics, Ithaca 1991, S. 233.
108
Kerstin Brückweh
Sie interessierten sich nicht mehr für das große Ganze. Das fehlende
Gesellschaftsbild, das in den geodemographics zum Ausdruck kommt, schien
bestens mit Margaret Thatchers Weltbild vereinbar, wie sie es in ihrem
berühmt-berüchtigten Zitat prägnant formulierte: „There is no such thing as
society.“88 Bevor Thatcher zu dieser Aussage kam, entwickelte sie im Interview
mit der Zeitschrift Woman’s Own unter anderem ein Bild des Nachbarn:
[W]ho is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are
families and no government can do anything except through people and people look to
themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our
neighbour and life is a reciprocal business and people have got the entitlements too much in
mind without the obligations, because there is no such thing as an entitlement unless
someone has first met an obligation […] but when people come and say : ,But what is the
point of working? I can get as much on the dole!‘ You say : ,Look‘ It is not from the dole. It is
your neighbour who is supplying it.89
Thatchers Darstellung der nichtexistenten Gesellschaft enthielt die wichtigsten
Variablen der Geodemografen: Familien, in Form von Haushalten, und
Nachbarn, von den Geodemografen wörtlich genommen als Nachbarschaften.
Ein anderer Grund für die Abwendung von der Gesellschaft lag vermutlich in
der Komplexität der Aufgabe, denn der Prozess der „simplification“, wie ihn
James Scott beschreibt, gestaltete sich bei zunehmender Berücksichtigung der
Individualitätsansprüche und Selbstbilder, die durch die Werbemaßnahmen
befriedigt werden sollten, als schwierig. Schon im Bericht der MRS Working
Group von 1963 hieß es: „This report has been a long time in preparation
largely because of the complexity shown by the subject once the surface is
scratched.“90 Fraglich ist dabei auch, ob die Nachbarschaft wirklich ein
tragfähiges Konzept war, denn Joanna Bourke hatte zum Beispiel für die
Arbeiterklasse im Zeitraum von 1890 bis 1960 herausgefunden, dass die
Nachbarschaft ein nachträgliches Konstrukt und keine, aus der Nachbarschaft
selbst entstandene, geteilte Identität war.91
Damit sind bereits Aspekte der dritten Folge genannt: Wie Geodemografen zu
ihrem Wissen und zu ihren Klassifikationen kommen, bleibt bis heute ihr
Geheimnis. Ein prominenter britischer Marktforscher schrieb 1989: „It is
probable that most users of the technology do not fully understand it, and
(what is worse) probably no-one anywhere in the world knows how and why
88 Margaret Thatcher, Interview for Woman’s Own, 23. 9. 1987, http://www.margaretthat
cher.org/speeches/displaydocument.asp?docid=106689.
89 Ebd.
90 MRS Library, MRS Working Party, Social Class Definition in Market Research Objectives
and Practice, London 1963.
91 Joanna Bourke, Working Class Cultures in Britain 1890 – 1960. Gender, Class and
Ethnicity, London 1994, S. 169.
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Das Eigenleben der Methoden
109
geodemographics work in any great detail.“92 Das ist nicht nur das Ergebnis
komplexer Methoden und Techniken, vielmehr verstellen Patentrechte und
Copyrights den Weg für die Offenlegung der Arbeit und damit der Überprüfbarkeit der Methoden und Arbeitsweisen.93 Peer review-Verfahren sind ebenso
unbekannt wie die Diskussion der zugrunde liegenden Techniken auf
wissenschaftlichen Konferenzen. Dort werden nur die Ergebnisse und die
Anwendbarkeit diskutiert. Im Prinzip handelt es sich um eine black box.94 Ein
Einblick in die tägliche Arbeit von Experians MOSAIC und CACIs ACORN
blieb der Historikerin für diesen Aufsatz verwehrt. Nicht einmal die alten
Broschüren wurden zur Verfügung gestellt.
Die Bedeutung der geodemographics für die Surveillance-Geschichte liegt darin,
dass sie auf einer Vielzahl von unterschiedlichen Datenquellen beruhten und
vielfach nicht mehr über einen Fragebogen erhoben wurden. Die Datenerfassung
über Konsumentinnen und Konsumenten verlief somit häufig ohne deren Wissen
oder nach einmaliger Zustimmung zur Erfassung der Daten in einem Bereich,
zum Beispiel bei einer Firma, deren Konsequenzen und Weiternutzung für die
Datengeber nicht absehbar waren. Parallel dazu verlief ab den 1970er Jahren die
Etablierung und Modifizierung von Datenschutzvorschriften,95 die die Anbieter
von Konsumentenklassifikationen zu immer neuen Ausweichmöglichkeiten
anspornten, um vorhandene Datenbanken wie Volkszählungsdaten trotzdem
effektiv nutzen zu können. Hinzu kamen ab den 1990er Jahren Entwicklungen wie
die Einführung von sogenannten Loyalty Cards.96 Das Potential der Loyalty Cards
wird in einem Zitat des damaligen Chairman der Supermarktkette Tesco
besonders deutlich: „What scares me about this, is that you know more about
my customers in three months than I know in 30 years.“97 Die Vielzahl der
möglichen Datenbanken, die für die geodemographics genutzt werden konnten,
nahm vor allem seit den 1990er Jahren mit der weiteren Verbreitung des Internets
noch erheblich zu.
92 Stan Openshaw, Making Geodemographics More Sophisticated, in: Journal of the
Market Research Society 31. 1989, S. 111 – 131, hier S. 111.
93 Vgl. auch Joe Moran, Mass-Observation, Market Research, and the Birth of the Focus
Group 1937 – 1997, in: Journal of British Studies 47. 2008, S. 827 – 851, hier S. 848.
94 So auch die Einschätzung von Openshaw, Making Geodemographics, S. 114.
95 Zum Beispiel durch das Younger Committee on Privacy und das Lindop Committee on
Data Protection. Als Überblick siehe Higgs, Information State, S. 188 – 193.
96 Beispiele sind die Tesco Clubcard (1995) und die Sainsbury’s Reward Card (1996).
97 Das soll der Chairman zu den externen „Erfindern“ der Tesco Clubcard nach
erfolgreichen ersten Versuchen gesagt haben. Zit. n. Susie Mesure, Loyalty Card Costs
Tesco a £1bn of Profits – But Is Worth Every Penny, in: The Independent, 10. 10. 2003.
Siehe auch die selbstgeschriebene Erfolgsgeschichte: Clive Humby u. a., Scoring Points.
How Tesco Is Winning Customer Loyalty, London 2003.
110
Kerstin Brückweh
V. Eine Geschichte ohne Ende
„If you tell me someone’s zip code […] I can predict what they eat, drink, drive –
even think.“98 Dieser Satz eines U. S.-amerikanischen Pioniers der geodemographics verweist zum einen auf die eingangs angedeutete, unter anderem
durch global agierende Firmen bedingte, internationale Verwendung der
Methode und beschreibt zum anderen ihr Überwachungspotential. Die gesellschaftsgeschichtlich eingebettete Überwachungsgeschichte – so das Plädoyer
dieses Aufsatzes – muss eine Wissensgeschichte der Methoden integrieren. Erst
wenn die Methoden ernst genommen werden, ergibt sich ein komplexes Bild der
Überwachungsgeschichte. Wird von der eingangs genannten weiten Definition
von Surveillance ausgegangen, so stellt die Überwachung nur einen Aspekt der
Surveillance Studies dar. Surveillance kann ebenso für die Belange von Bürgern
und Bürgerinnen verwendet werden und zum Beispiel Daten für Verteilung
staatlicher Ressourcen auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen bereitstellen. Auch die Firma Experian verkauft nicht nur geodemographics an kommerzielle oder staatliche Anwender, sondern bietet Konsumenten und Konsumentinnen Werkzeuge für die Verwaltung ihrer persönlichen Daten an, um sie zum
Beispiel vor Identitätsdiebstahl zu bewahren oder ihnen bessere Kreditmöglichkeiten zu eröffnen. Dass dies zu Interessenkonflikten innerhalb des
Unternehmens beziehungsweise zur Vermischung von Datensätzen führen
kann, ist bekannt und wird zum Beispiel in den USA durch den Fair Credit
Reporting Act überwacht: quasi eine Form der Überwachung der Überwacher.
Das zeigt einmal mehr, dass die Methoden an sich beide Aspekte der
Surveillance zulassen und erst Kontext und Verhalten bestimmen, wofür die
Methoden eingesetzt werden. Was lässt sich also zusammenfassend für die
Methode der Gesellschafts- und Konsumentenklassifikationen festhalten? Welche Vorannahmen, welche Gesetzmäßigkeiten, Ordnungsmuster, kurz welche
Geschichte wurde erkennbar?
Im Verständnis der Surveillance Studies stellt die Klassifikation einen der
Kernbereiche der Untersuchung dar. Theoretisch gibt es beliebig viele Ordnungsund Klassifizierungsmöglichkeiten, de facto sind diese allerdings historisch
spezifisch und an intellektuelle und theoretische Traditionen gebunden. In
Großbritannien haben sich zwei Ordnungsprinzipien durchgesetzt: class und
Raum. Das langlebige Modell der RGSC entwickelte sich an der Wende vom 19.
zum 20. Jahrhundert aus den wissenschaftlichen und medizinischen Diskussionen zwischen Eugenikern und Environmentalisten. Zur Beweisführung für die
jeweiligen Theorien wurde der Blick auf gesellschaftliche Problemgruppen
gelenkt, die Gesamtgesellschaft aber immer einbezogen. Die in den 1950er Jahren
in der privatwirtschaftlichen Umfrageforschung entwickelten Social Grades
bemühten sich in ähnlicher Weise darum, Individuen sozialen Klassen zuzuord98 Jonathan Robbin, zit. n. Goss, We Know Who You Are, S. 172.
ipabo_66.249.64.190
Das Eigenleben der Methoden
111
nen und diese innerhalb einer Gesamtgesellschaft zu verorten. Die in den späten
1970er und vor allem den 1980er Jahren in der kommerziellen Umfrageforschung
aufkommenden geodemographics hingegen orientierten sich an Marktsegmenten
und entwarfen deshalb Konsumentenklassifikationen, die nicht an einer Beziehung sozialer Gruppen untereinander interessiert waren, sondern nur an der
zielorientierten Festlegung von lokal eingegrenzten Einheiten, die von den
jeweiligen Auftraggebern aus Wirtschaft, Parteien, Politik oder öffentlicher
Verwaltung nachgefragt wurden. Dafür boten sich räumliche Zuordnungen und
kartografische Darstellungen an, die nicht in den 1980er Jahren erfunden wurden,
sondern ebenfalls auf eine lange Tradition in Großbritannien – Charles Booth war
ein Beispiel – zurückgreifen konnten. Class und Raum waren in Großbritannien
somit Ordnungsprinzipien mit einer langen Geschichte, die in verschiedenen
Bereichen Anwendung fanden. Class hatte den Vorteil, dass sie als besonders
bedeutend für alle gesellschaftlichen Bereiche angesehen und auch in der
Selbstdarstellung der Briten verwendet wurde. Damit ging die Annahme einher,
dass jeder wisse, was mit class gemeint sei, und deshalb keine expliziten
Definitionen benötigt würden. Bei näherer Betrachtung stellte sich class als ein
undefiniertes, untertheoretisiertes Konzept heraus, das nur durch die Gleichsetzung von class und beruflichem Status, wenn auch ungenügend, operationalisiert
werden konnte. In einer zunehmend komplexen, global vernetzten Welt wurde es
schwieriger eine Gesellschaft als Ganzes zu konzipieren, deshalb gewann der
Raum als Ordnungsprinzip an Bedeutung. Durch die Beschränkung auf die
Nachbarschaft und somit auf kleine Räume wurden die Individuen mit ihren sich
wandelnden Ansprüchen und Selbstdarstellungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts klassifizier- und darstellbar. Unter dem Rückgriff auf vielfältige
Datenbanken aus dem Konsumbereich, beispielsweise Lifestyle-Daten und
Psychogramme, wurden Gesellschaftsgruppen in Nachbarschaften entworfen,
die mit prägnanten Namen versehen in den öffentlichen Diskurs Einzug fanden.
Durch diese kleinteilige Fokussierung auf die Lösung von Problemen durch die
Verbesserung der Methoden in der täglichen Praxis traten Verständigungen über
etwas größeres Ganzes, etwa ein Gesellschaftsbild, in den Hintergrund. Da die
geodemographics am kompetitiven Markt sehr gut funktionierten, mussten sie
nicht weiter begründet werden. Wahrgenommene Probleme wurden durch eine
Verfeinerung und Ausdifferenzierung der Methoden gelöst, nicht durch eine
grundsätzliche Reflektion über die eigene Tätigkeit und ihre möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen. Im Vordergrund standen kleinteilige Veränderungen
der Methoden, die dadurch eine gewisse Form von Eigenleben entwickelt haben,
sodass es zu dem oben erwähnten Eindruck unter Umfrageforschern und
-forscherinnen kam, dass kaum jemand das Funktionieren der Methoden heute
noch vollständig verstehe. Der grundlegende Wandel seit den späten 1970er
Jahren, der durch die Einführung der geodemographics in die Umfrageforschung
charakterisiert war, war zum einen verortet in einem zunehmend neoliberalen
Klima, in dem man sich weniger für die Gesellschaft als vielmehr für das
Individuum interessierte und in gewisser Weise vor der komplexen Gesellschaft
112
Kerstin Brückweh
kapitulierte und sich auf Teilbereiche und -märkte zurückzog. Zum anderen
basierte dieser Wandel auf den neuen Möglichkeiten der computergestützten
Datenverarbeitung. Im eigentlichen Sinne des Wortes ging es damit gar nicht mehr
um Umfragen, denn der Fragebogen als zentrales methodisches Werkzeug der
Umfrageforschung seit dem 19. Jahrhundert verlor durch diesen Wandel an
Bedeutung. Damit kam auch die Zirkulation des Wissens, wie ihn die Wissensgeschichte als Teil der Wissensproduktion annimmt, ins Stocken. Das Wissen
zirkulierte nicht mehr zwischen verschiedenen Gruppen und Menschen und
konnte somit auch nicht aus verschiedenen Feldern und sozialen Räumen Impulse
aufnehmen, vielmehr wurden einseitig Daten über Menschen erhoben.
Das bringt den Aspekt der Macht ins Spiel und geht über das Eigenleben der
Methoden hinaus. In seiner langen Geschichte des „Information State in
England“ stellte Edward Higgs für das 20. Jahrhundert fest: „Given the amount
of form filling that now became a part of everyday life, it was impossible for
citizens to be unaware of the amount of material held by government
officials.“99 Eben diese Sichtbarkeit der Methoden im Alltag veränderte sich
mit dem Aufkommen der computerbasierten Datenerfassung wie den geodemographics. Durch die Möglichkeit, Fragebogen und Interviews durch an
verschiedenen Stellen erhobene Daten zu ersetzen und damit auch eine ab den
1990er Jahren beobachtete Antwortmüdigkeit bei Befragten zu umgehen,
zeichnet sich das Ende der zirkulären Wissensproduktion ab, die die
Umfrageforschung des 20. Jahrhunderts kennzeichnete. Durch die Datenerhebung ohne Fragebogen und Interview entsteht zudem ein Vakuum, denn es
ist nicht mehr klar, welche Daten wann mit welchem Ziel erfasst werden. Die
Unklarheit schafft eine diffuse Angst vor der Totalerfassung. Denkbar ist
dabei, dass die Stichprobe als wichtige methodische Erfindung des 20. Jahrhunderts zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihre Relevanz wieder verliert. Ebenso
möglich wäre aber auch, dass die Methoden eine emanzipatorische Funktion
haben, denn die Klassifikation der RGSC und die Social Grades verliefen bis
zum Ende des 20. Jahrhunderts in der Regel über den als männlich definierten
Haushaltsvorstand, die totale Datenerhebung braucht diese von den Umfrageforschern selbst als chauvinistisch identifizierte methodische Krücke nicht
mehr.100 Inwieweit zudem gesellschaftliche Debatten zu Big Data oder
Praktiken wie das Operieren mit fiktiven Identitäten im Internet zur
Veränderung der Methoden beitragen werden, wird die Zukunft zeigen.
Dr. Kerstin Brückweh, Eberhard Karls Universität Tübingen, Seminar für
Zeitgeschichte, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen
E-Mail: [email protected]
99 Higgs, Information State, S. 168.
100 Gerald Hoinville u. Roger Jowell, Survey Research Practice, London 1982, S. 171.
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Discipline and Reward
The Surveillance of Consumers through Loyalty Cards
von Sami Coll*
Abstract: This article focuses on the most predominant modality of contemporary
surveillance – the surveillance of consumers, which tends to be hidden behind state
surveillance. It presents empirical research done on the four major retail stores in
Switzerland and their loyalty systems. After a theoretical discussion on surveillance
and an introduction to the practices of relationship marketing and data mining, the
article provides a short history of the companies and their loyalty programs. Then, the
results of the study are discussed as well as the relevance of the theories on surveillance
in order to shed light on a change in surveillance practices that increasingly rely on the
monitoring of consumption.
This article’s aim is to shed light on one of the most predominant modalities of
contemporary surveillance: the surveillance of consumers, a form of surveillance often forgotten in favor of state surveillance. It builds on data I collected
from 2007 to 2009 in the context of my doctoral research on the four major
retail companies in Switzerland and their loyalty systems.1 Over 160 hours of
field observations were made in the retail stores, in various settings. I observed
from behind the cashiers how employees ask customers to show their loyalty
cards and how they try to convince them to sign up for one. At customer
service desks and points of purchase, I also investigated the type of access
employees have to the customer database and the ways in which they make use
of it to provide personalized services. Semi-directive interviews were further
conducted with managers in charge of a loyalty program, a store, marketing or
in charge of employee training (14 interviews); with employees (nine in-depth
interviews and 57 short interviews collected during the field observations) and
with customers (108 interviews) of the four studied stores, including card
owners and non-owners.
For almost two decades, these companies have been providing consumers with
cards equipped with personalized barcodes which are scanned at every
purchase. This enables companies to create individualized consumption
profiles and to send out specific offers. Of Switzerland’s two biggest stores both
have more than 2.5 million cards in use on a daily basis, which represents more
than 70 percent of households. Consequently, given these companies factually
* I would like to acknowledge Christoph Conrad and Sven Reichardt who kindly invited
my work to be part of this issue.
1 Sami Coll, Surveiller et r-compenser. Les cartes de fid-lit- qui nous gouvernent, Zürich
2015. All French references in this text were translated by Sami Coll.
Geschichte und Gesellschaft 42. 2016, S. 113 – 143
" Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2016
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
114
Sami Coll
have more detailed knowledge about Swiss citizens than the government does,2
their surveillance practice should be of prime interest for those seeking to
understand the key surveillance issues that have been emerging for a couple of
decades.
The first section of this article has the theoretical aim to discuss the relevance
of the panopticon as a concept, which remains widely used in the field of
surveillance studies. Rather than getting rid of it, as most specialized scholars
suggest doing, I argue that although it has some shortcomings, it nonetheless
deserves some attention. This discussion will lead to another on what has
perhaps become the most cited concept in surveillance studies: the surveillance assemblage. This notion, although it might provide a broader view than
the panopticon, turns out to be less precise and less fruitful when it comes to
analyzing the specifics of consumer surveillance. I will then suggest an
approach that takes into account the consumers themselves through the
concept of biopower which allows for a theorization of their transparency.
In the second section, the article provides a short history of marketing that will
be helpful for understanding why loyalty cards became personalized and
identifiable in the late 1990s. It includes a short introduction to current
relationship marketing techniques and to the most common technologies of
data mining used by retail companies.
Then, the third section develops a succinct history of the four biggest retail
companies in Switzerland as well as a history of their loyalty programs, from
their origins as “discount stamps” in the 1930s or as “purchase diaries” in the
1950s, to the millions of digitally monitored cards that are scanned every day
today.
In the fourth section, I argue that even though this large monitoring system of
consumers deserves proper analysis, no company can simply be considered as
a central “surveillant” at the centre of millions of consumers. The enterprises
are, in fact, overwhelmed by the sum of data they collect. They are also having a
hard time trying to make sense of these data and convincing their managers
that it is worthwhile making use of them.
Finally, in the conclusion I will apply the concepts developed in the first section
to the case of loyalty cards: I argue that loyalty programs deserve to be studied
closely, with a careful choice of concepts, so as to allow for a better
understanding of the major issues surrounding contemporary surveillance.
This is especially crucial at the present time, when big corporations, including
retail companies, show sustained interest in the promises of big data
technologies.
2 Assuming such data are not captured by governmental agencies, as Edward Snowden’s
revelations established regarding the USA.
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Discipline and Reward
115
I. The Panopticon and Beyond
The model of the panopticon, as Michel Foucault established, has dominated
the field of surveillance studies. Many authors have attempted to refresh the
concept in order to make it fit with contemporary forms of surveillance.
Concepts such as superpanopticon or panoptic sort have been suggested.3
Kevin Haggerty mentions a long although non-exhaustive recombination list:4
omnicon, ban-opticon, global panopticon, panspectron, myoptic panopticon,
fractal panopticon, industrial panopticon, urban panopticon, pedagopticon,
polyopticon, synopticon, panoptic discourse, social panopticism, cybernetic
panopticon or neo-panopticon. Following the steps of Gilles Deleuze, other
authors have pleaded for a radical break with the panopticon concept, arguing
that the information society is a post-disciplinary society.5
1. The Limits of the Panopticon
The model of the panopticon suffers from a major limitation when it comes to
understanding surveillance in its contemporary forms: it supposes the
centrality of power. Surveillance does not have a unique centre and even less
does it have a unique supervisor who can access all systems. However, this
centrality hardly seems removable from the model, arguably because the
panopticon’s purpose was to point out the repressive power of the state.6
Despite Foucault’s attempt to respond to this problem in his later work,
arguing that the panopticon has to be understood as a circular configuration
with a multitude of centres where anybody is both supervisor and supervised,
its centrality remains a burden.7
Deleuze repeatedly emphasizes a second issue related to the problem of
centrality.8 He says the transition from a “disciplinary society” to a “society of
control” is accompanied by a breakdown of barriers between different
disciplinary subsystems. He argues that the individual, rather than moving
through a succession of confinements, is subjected to an endless probation.
This involves continuously tracking individuals by attributing them a personal
3 For “superpanopticon” see Mark Poster, The Mode of Information. Poststructuralism
and Social Context, Chicago 1990. For “panoptic sort” see Oscar Gandy, The
Surveillance Society. Information Technology and Bureaucratic Social Control, in:
Journal of Communication 39. 1989, pp. 61 – 76.
4 Kevin Haggerty, Tear Down the Walls. On Demolishing the Panopticon, in: David Lyon
(ed.), Theorizing Surveillance. The Panopticon and Beyond, Devon 2006, p. 26.
5 William Bogard, The Simulation of Surveillance. Hypercontrol in Telematic Societies,
Cambridge, MA 1996; Nikolas Rose, Government and Control, in: British Journal of
Criminology 40. 2000, pp. 321 – 339.
6 David Lyon, An Electronical Panopticon? A Sociological Critique of Surveillance
Theory, in: The Sociological Review 41. 1993, p. 667.
7 Michel Foucault, The Eye of Power, in: Colin Gordon (ed.), Power / Knowledge. Selected
Interviews and Other Writings, 1972 – 1977, New York 1980, pp. 146 – 165.
8 Gilles Deleuze, Postscript on the Societies of Control, in: October 59. 1992, pp. 3 – 7.
116
Sami Coll
number. This last point is particularly relevant in the case of loyalty cards,
where consumers are, in fact, assigned a number, which is pivotal to the
functioning of the loyalty system. This number, constitutive of identity, is the
tool that allows for the monitoring of individuals without locking them into
successive disciplinary systems.9 Consumers play along, claiming the ownership of this number in order to prevent others from having access to their
rewards, while not feeling like they are constantly under surveillance. Stripped
of its limitations regarding the centrality of power, the model of Deleuze better
fits the reality of the information society and current forms of surveillance
than does the Foucauldian panopticon. The concept of discipline, however,
retains some relevance, at least in the case of loyalty cards, as the consumer
somehow needs to be disciplined into presenting their card at every
purchase.10
Third, the essential principle of uncertainty inducing “a state of conscious and
permanent visibility” which encourages subjects to act as if they were
continuously monitored poses a major problem.11 Although explicit forms of
surveillance, that is Closed Circuit Television (CCTV) networks, remain a
legitimate cause for concern, they are relatively absent in contemporary and
implicit forms of surveillance. Most of the time, in the context of information
networks such as those of loyalty cards, users do not feel watched. This is not
because of their gullibility but because information technologies were not
designed to do that in the first place: If the supervisor is invisible, the
internalization of discipline will not happen. In fact, a number of surveillance
systems do not rely on this principle.12 Indeed, in most cases, the visibility of
surveillance, far from being necessary, would rather ruin the performance of
the surveillance. This is particularly relevant for the surveillance of consumers. The less they know that they are the subjects of deep surveillance, the
better.
In the panopticon, the finality of the surveillance is essential, and this entails a
fourth theoretical problem. For Jeremy Bentham, the panopticon’s aim was to
straighten the souls of criminals. For Foucault, although he makes use of the
panopticon to analyze various institutions of confinement, the goal of
discipline is always to discipline individuals. Traditionally, a monitoring
system is designed to fulfil a precise purpose, whereas contemporary forms of
surveillance are very inventive in the way they make use of data that were
initially gathered for another purpose. For example, a political police force
might be keen to know the reading habits of readers in a public library ; health
9 Maria Los, Looking Into the Future. Surveillance, Globalization and the Totalitarian
Potential, in: David Lyon (ed.), Theorizing Surveillance. The Panopticon and Beyond,
Devon 2006, pp. 69 – 94, here p. 73.
10 Coll, Surveiller et r-compenser.
11 Michel Foucault, Discipline and Punish. The Birth of the Prison, London 1977, p. 234.
12 Haggerty, Tear Down the Walls, pp. 34 f.
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Discipline and Reward
117
insurance companies might be delighted to have access to the consumption
profiles of their customers in order to estimate risk factors with more
accuracy ; and a supermarket chain, if it had access to the medical records of its
clients, might provide dietary products for diabetics or obese people. This
makes it increasingly difficult to identify a single consistent and clearly
recognizable goal when analyzing a surveillance system. Big data precisely
promises to enable whoever possesses the data to invent new applications after
data collection. The proliferation of objectives is to be linked with the collapse
of the barriers discussed above.
Fifth, the subjects of surveillance no longer consist solely of the poor, of
prisoners, or the mentally ill. Today, everyone is the subject of various forms of
monitoring, regardless of gender, age, health or social status,13 and for an
increasing list of different reasons. Surveillance has become a general practice.
However, although it now affects everyone, it does not carry the same
consequences for everyone. We are not all equal when facing monitoring
systems, as they classify individuals according to categories. This leads to
more or less serious discrimination depending on the context. For example,
being denied access to health insurance does not have the same consequences
as not receiving a voucher for a distinctive product of high value does.
Finally, the depersonalization of surveillance enabled by the panopticon is also
questionable. While it is true that the person in charge of monitoring can be
relatively interchangeable, the trustworthiness and legitimacy of surveillance
remains an important issue. The identity of the watcher, either a group or a
person, has a crucial impact on the understanding and acceptance of the
system. The acceptance of surveillance is bound to vary accordingly if the
monitoring subject is a private person, a secret service or an organized
criminal group.14 Consequently, Foucault’s suggestion that “any individual,
taken almost on random, can operate the machine” has to be understood with
caution.15
2. Should We Burn the Panopticon?
Now that we have subjected the panopticon to the criticism above, should we
“cut the head of the king”, as Haggerty suggests?16 In fact, the concept still
retains some heuristic strength, especially when it comes to elaborating a
historical perspective on surveillance – from the monitoring of subjects by a
monarch or a sovereign state to the monitoring of consumption by companies,
for example. Although centrality and the internalization of surveillance are
indeed a heavy and uncomfortable burden for the panopticon concept to carry,
its other principles, underlined by Foucault, remain particularly relevant.
13
14
15
16
Ibid., p. 29.
Ibid., pp. 33 f.
Foucault, Discipline and Punish, p. 202.
Haggerty, Tear Down the Walls, p. 27.
118
Sami Coll
When Foucault writes that thanks to the panopticon, “the external power may
throw off its physical weight”, he suggests a disappearance of the force, a
feature that remains an extremely perceptive element.17 This feature of
surveillance has been growing since the early nineteenth century. In contemporary societies focused on consumption and information, when it comes to
controlling population, principles of seduction and attractiveness – some
speak of “enchantment”18 – work better than repression does. In other words,
“all the material and symbolic resources used by a society to ensure
compliance of the behaviour of its members to a set of prescribed and
sanctioned rules and principles”,19 have been gradually building much more
on a principle of the distribution of rewards than on the threat of punishment.
In parallel, punishment methods were becoming increasingly softer – the most
notable of this transition being the phasing out of corporal punishment. On a
metaphorical level, the terrifying figure (which is also reassuring, if one
remembers Orwell’s novel in detail) of Big Brother gives way, one might say, to
a more friendly face: a figure that makes people want to consume in order to
reach some form of enchantment and rewards.20 Instead of being punished, the
consumer will be afraid of being excluded from the wonders of the enchanting
world of consumption, Jean Baudrillard calls it the “Fun System”, or the
“Enforced Enjoyment”, which then seems to be enough, according to the
authors, to make people fit in the ranks.21 In that context, the depersonalization
of power also remains a main feature of the development of surveillance.
Explicit surveillance no longer relies on the social status of the supervisor.
Anyone can follow ad hoc training, as only competence matters. In the case of
implicit surveillance, this principle is even truer, as the targets are most of the
time unaware of being monitored. Technological progress, because it enables
surveillance to bypass human labour, also goes along with this deindividuation. Last but not least, the principle of separation of the individuals remains
more relevant than ever insofar as it is considered to have become virtual, or
rather informational. Contemporary surveillance has become so successful,
thanks to technological advances, that it is possible to individually monitor
with great accuracy a considerable number of individuals rather than a mass or
group, as it is the case for consumers since they own cards with individualized
bar codes. The surveillance of consumption underlines this recent feature with
great accuracy. Marketing used to produce knowledge of consumers only via
17 Foucault, Discipline and Punish, p. 203.
18 George Ritzer, Enchanting a Disenchanted World. Revolutionizing the Means of
Consumption, Thousand Oaks 1999.
19 Raymond Boudon and FranÅois Bourricaud, Dictionnaire critique de la sociologie, Paris
1982, p. 120.
20 Ritzer, Enchanting a Disenchanted World; Clifford Shearing and Phillip Stenning, From
the Panopticon to Disneyworld. The Development of Discipline, in: Anthony Doob and
Edward Greenspan (eds.), Perspectives in Criminal Laws, Toronto 1984, pp. 335 – 349.
21 Jean Baudrillard, The Consumer Society. Myths and Structures, London 1998.
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Discipline and Reward
119
the observation of general sales numbers, without knowing exactly who was
buying what. Today, relying on loyalty cards, companies are able to know in
detail each customer’s purchasing habits. In fact, technological progress has
enabled surveillance to scrutinize each individual. In a sense, the panopticon
has been reinforced. While surveillance previously relied on virtually
continuous observation, the individual surveillance has become actual.
Precisely this aspect, rather than making the panopticon obsolete, makes
the concept more relevant than ever.
3. The “Surveillant Assemblage”: a Rhizomatic Panopticon
Among the numerous candidates trying to replace the panopticon or to
modernize it, such as the “diagram”,22 borrowed from the thought of Deleuze;
the “simulation”,23 inspired by the work of Baudrillard; and, of course, all of
the possible versions of the panopticon ending with -icon, the concept of
“surveillant assemblage”, developed by Haggerty and Ericson,24 remains a
strong inspiration for theoreticians of surveillance. It draws primarily on the
concepts of “dispositive” and “agency” of Deleuze and F-lix Guattari, the
authors of “A Thousand Plateaus”.25 The idea of centrality entailed by the
panopticon is replaced by the idea that the individual systematically becomes a
source of various data streams. These streams, when assembled, make up the
“digital doubles”, the “dividuals”, as Deleuze suggested in “Societies of
Control”,26 that can become targets of different types of monitoring.27
Haggerty and Ericson also borrow from Deleuze and Guattari an interesting
botanic metaphor to describe the growing complexity of contemporary
surveillance networks: the rhizome. This notion radically departs from the
idea of any centrality. Unlike the panopticon, the rhizome is constantly
changing, without following a set pattern and without following a stratified
hierarchical or concentric formula. The main heuristic interest of the rhizome
model lies in the principle of connection, increasingly ubiquitous in information systems, more than ever with the development of big data. These
connections are continuously made and unmade, based on the principle upon
which “a rhizome may be broken, shattered at a given spot, but it will start up
again on one of its old lines, or on new lines”.28 In other words, the surveillant
assemblage is rhizomorphic and grows without adhering to a clear and unique
22 Greg Elmer, Profiling Machines. Mapping the Personal Information Economy, Cambridge, MA 2004.
23 Bogard, The Simulation of Surveillance.
24 Kevin Haggerty and Richard Ericson, The Surveillant Assemblage, in: British Journal of
Sociology 51. 2000, pp. 605 – 622.
25 Gilles Deleuze and F-lix Guattari, A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia,
Minneapolis 1987.
26 Deleuze, Postscript on the Societes of Control.
27 Haggerty and Ericson, The Surveillant Assemblage, p. 606.
28 Deleuze and Guattari, A Thousand Plateaus, p. 9.
120
Sami Coll
goal, without centrality or any command centre, and without a pre-established
structure. It also develops unexpected features, which do not result from any
kind of prior specifications. This calls for comment. While new uses are often
unpredictable, as they often emerge from new connections, they are nevertheless the complex result of specific expectations of actors who have decided
to implement a system and who benefit from them in one way or another. For
example, computerized loyalty cards provided by retail companies were made
to collect precise data on the behavior of consumers, who use them to collect
points. Still, because the rhizome transcends traditional boundaries between
institutions, new uses of data and new goals may and do emerge. With big data
technology, a system originally engineered to complete a specific task almost
always ends up being used to operate other functions. While the creation of
new uses most often involves connections between different kinds of systems,
they actually rarely connect with systems with the same uses and objectives.
For example, if a company’s customer database is interconnected with the
population register of civil status, in order to send gifts to the mothers of
newborn babies, the two databases have not been created for the same purpose
in the same legal framework and with the same type of relationship with its
target audience. Yet, at some point, even if only for a very fleeting time, they
connect.
4. Ideology of Transparency
To allow such a large-scale surveillance system to work without renouncing the
depersonalization of power and the disappearance of force, both strong
constitutive principles of the panopticon, it is essential for it to rely the
voluntary participation of individuals, that is to say, in this case study, the
consumers. However, in the models of both the panopticon and the surveillant
assemblage, the question of the will of the individual is rather absent. Why and
how do individuals conform to this form of surveillance? How, for example,
could the “will to know” of marketing projects integrate with the transparency
of individuals, thus enabling a massive control device, such as loyalty cards, to
operate so well?
Transparency is understood here as the “quality of what allows an exposure of
the whole reality, a truth without alteration”.29 This transparency can be
compared to the one Foucault studies in the first volume of the “History of
Sexuality”.30 The way to achieve transparency with regard to sexuality,
according to Foucault, is precisely to liberate sexuality, to make it visible and
talkative. A power relying on visibility is doomed to fail in a regime where
sexuality remains silent. This power needs people to talk about their sexuality.
This is the condition that allowed sexuality to become an object of knowledge
29 Paul Robert, Le grand Robert de la langue franÅaise. Dictionnaire alphab-tique et
analogique de la langue franÅaise, Paris 1985.
30 Michel Foucault, The History of Sexuality, vol. 1: An Introduction, New York 1978.
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Discipline and Reward
121
and therefore power. Sexual liberation, according to Foucault, is not only the
response of a liberating movement against a bourgeois sexual repression but
also an act of submission to a new kind of power, the so-called “biopower”.
Thus, Foucault defines power not as a power of censorship and repression, a
power that silences and a power that gags, but as a power that does everything
to incite speech, a discourse on oneself, which leads to the transparency of the
subjects of sexuality.31
The study of this mechanism of power is very useful for decoding what may
reasonably be called the ideology of transparency that accompanies projects
led by information technology, especially that of big data. In a panopticon
freed from the constraint mechanism, power must rely on transparent
individuals who deliver their personal data without being forced to do so. In
this sense, the intrinsic dynamics of information technology is comparable to
that of the discourse of sexual liberation as theorized by Foucault. Both of them
convey a message of freedom, free expression that is supposed to increase
wellbeing and stick to progressive values. Both allow information to flow at an
unprecedented speed and scale in history. It became possible for those who did
not necessarily have access to this privilege, to speak freely in expressing their
opinions, to take a stand, in an apparently limitless way. While recognizing the
true quality of information technologies, it must be stressed, however, that
they allow for the development of highly invasive monitoring networks, with
the consent of interested parties. With the help of information technologies,
the surveillant assemblage and transparency constitute the two faces of a same
medal: a large system of surveillance that meets little resistance.
II. Relationship Marketing
1. A Short History of Marketing: From Segmentation to Personalization
Since the late nineteenth century, companies have been gathering and
interpreting customer information in order to generate meaning. These
practices are related to the establishment of a market of advertising that is
looking to target specific audiences.32 Since then, marketing has experienced
significant developments that have followed most often those of the social
sciences, those of technology and, of course, those of the industrialization of
society and the growing of a consumption society.
After the First World War, in response to what was perceived as the mutability
and the increasing irrationality of consumer behavior, marketing research
began to adopt a scientific methodology whose aim was to achieve a kind of
“Taylorisation” of demand. Marketing research followed the structuration of
31 Ibid., p. 60.
32 Adam Arvidsson, On the “Pre-History of the Panoptic Sort”. Mobility in Market
Research, in: Surveillance & Society 1. 2004, pp. 456 – 474.
122
Sami Coll
industrial production, which required the development of specific knowledge,
aiming to structure consumption.33 This development was closely linked to the
growing capacity to communicate with consumers, mainly through magazines. It went along with the premises of research on consumer behavior,
attitudes and motivations.34 Each magazine sought to address a particular
segment, responding to the imperative to regulate production according to the
incomes of the target customers. To ensure the adequacy between the target
audience and the actual readers, the publishing companies would regularly
update small databases by conducting surveys. These databases were used as a
central reference for the selling of advertising space.
During the years following the Second World War, the culture of consumption
changed: with an increase in living standards; a generalization of the suburbs;
the arrival of new materials, such as plastic; a new type of design; new types of
objects, including home appliances; and new institutions, such as malls. The
consumer is then seen as more mobile and less dependent on social
determinants.35 In the early 1960s, due to the close ties between modes of
communication and the evolution of marketing techniques, the introduction
of television surpassed the press in terms of advertising investment.36 This
called attention to the need to segment the audience with more finesse.
Therefore, market research grew rapidly, borrowing knowledge from social
sciences and psychology.
Today, the figure of an individualistic, hedonistic, reflexive and versatile
consumer dominates marketing research.37 The marketing objective is then to
create niches of consumers who have specific ways of thinking, opinions and
interests, in order to offer specific products. This segmentation allows for the
targeting of consumers with greater accuracy. Because it is perceived as less
loyal to a brand or specific products, many marketers believe it is necessary to
develop new techniques to retain the customer and to ensure that he or she
does not go to the competition.38 This aim is more difficult to achieve as
consumers have become more demanding and better informed, including
through online services. According to marketing researchers, a new culture of
business has been developing. The concepts of mass production and mass
33 Franck Cochoy, Another Discipline for the Market Economy. Marketing as a Performative Knowledge and Know-How for Capitalism, in: Michel Callon (ed.), The Laws of
the Markets, Oxford 1998, pp. 194 – 221.
34 Arvidsson, On the “Pre-History of the Panoptic Sort”, p. 460.
35 Ibid., pp. 462 f.
36 Joseph Turow, Breaking Up America. Advertisers and the New Media World, Chicago
1997.
37 Bernard Cova and V-ronique Cova, Les figures du nouveau consommateur. Une gen*se
de la gouvernementalit- du consommateur, in: Recherche et applications en marketing
24. 2009, pp. 81 – 100.
38 Chris Rygielski et al., Data Mining Techniques for Customer Relationship Management,
in: Technology in Society 24. 2002, p. 484.
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123
marketing, created during the industrial revolution, are now supplanted by the
desire to establish a direct relationship with the consumer.
2. Relationship Marketing: Increasing the “Value” of Customers
Since it is supposed that not all customers are of the same value to a company,
the marketing literature suggests that it is more fruitful to strengthen the
relationship with existing customers rather than to seek new ones.39 On
average, almost half of a company’s customers are lost after five years.40
Following this move, the accuracy of consumer behavior analysis methods
have also gradually been enriched by the increasing ease of obtaining data
through different techniques, such as bar codes, more recently through
tracking internet behavior and, of course, loyalty cards. The consequence is
that the consumer is even more volatile and difficult to pin down, making
marketing professionals want to collect even more information.41 The
estimation of the “value” of customers, commonly known in marketing
literature as customer lifetime value (CLTV), lifetime value (LTV) or more
simply customer value, is a central parameter for relationship marketing
systems. This finding implies the need to integrate the methods of direct
marketing rather than doing mass advertising, which has become, according
to various authors, outdated and obsolete.42
To increase the “lifetime” of each customer, marketers retain three main
strategies:43 First, the cross-selling or cross-marketing aims to provide given
customers with a product that could be of interest because it is associated with
a type of product they have already been buying.44 A classic example is the
customer who regularly buys cat litter but no cat food. The company might
send them a targeted letter to encourage her or him to buy cat food, or it may
consider a reorganization of the arrangement of its shelves. The online selling
mail-order Amazon.com, Inc. is probably the most emblematic example,
having this marketing strategy fully integrated and automated.
The second strategy is up-selling or up-grading, to push a customer with
certain buying patterns to purchase a similar product that provides a greater
39 Sudhir Kale, CRM Failure and the Seven Deadly Sins, in: Marketing Management 13.
2004, p. 45; Werner Reinartz and V. Kumar, The Mismanagement of Customer Loyalty,
in: Harvard Business Review 80. 2002, pp. 86 – 94.
40 David Ross, E-CRM From a Supply Chain Management Perspective, in: ISM Journal
2005, p. 42.
41 Arvidsson, On the “Pre-History of the Panoptic Sort”, p. 466.
42 Jason Pridmore, Loyal Subjects? Consumer Surveillance in the Personal Information
Economy, Ph. D. Diss., Queen’s University, Kingston, ON 2008, pp. 58 f.
43 Hyunseok Hwang et al., An LTV Model and Customer Segmentation Based on Customer
Value. A Case Study on the Wireless Telecommunication Industry, in: Expert Systems
with Applications 26. 2004, p. 181.
44 For a detailed example of this method, see Wagner Kamakura et al., Cross-Selling
Through Database Marketing. A Mixed Data Factor Analyzer for Data Augmentation
and Prediction, in: International Journal of Research in Marketing 20. 2003, pp. 45 – 65.
124
Sami Coll
profit margin for the company.45 For example, a voucher can be sent to a
customer who often buys an average quality cheese to make her or him
discover a better and more expensive assortment.
Finally, “customer retention”, as the name suggests, is a strategy to keep
customers buying products for as long as possible.46 For example, a customer
might receive a voucher to buy something they have stopped buying. This is
often used to consolidate the effects of a campaign of “up-selling” or “crossselling” over the long term. Once the purchases are accompanied by the
presentation of a loyalty card, it becomes possible to measure the success of
such strategies by tracking customer behavior and then decide to persist or
give them up if they are not profitable enough. At this stage, data mining does
not necessarily accompany these strategies, but it can enhance their effectiveness.
3. The Main Analysis Models and Data Mining
The data mining technology is not a magic bullet, despite the often too high
expectations of companies.47 The various steps of any data analysis require
extensive intellectual and human intervention. Data analysis strategies,
although facilitated by algorithmic tools, must be implemented by experienced
specialists who are able to ask the right questions and correctly interpret the
results.48 Apart from classic descriptive or predictive statistical methods such
as linear regression, probabilities, or various formats of synthetic data
presentation, which cannot strictly be described as data mining techniques
although they continue to be widely used, I expound below the three most
common methods.
First, clustering is an unsupervised classification method that aims to create
groups of data or profiles with similarities as so-called “clusters”. It is
unsupervised because no parameters are given before the analysis.49 This
method allows for building a general typology of customers in an exploratory
way. The company can then narrow down the results based on the variables that
differentiate the profiles and that seem relevant and consistent.
45 Ross, E-CRM From a Supply Chain Management Perspective; Pierre Volle, Du marketing
des points de vente & celui des sites marchands. Sp-cificit-s, opportunit-s et questions
de recherche, in: Revue franÅaise du marketing 177 / 178. 2000, pp. 83 – 100.
46 Hyunseok Hwang et al., An LTV Model and Customer Segmentation Based on Customer
Value. A Case Study on the Wireless Telecommunication Industry, in: Expert Systems
with Applications 26. 2004, pp. 181 – 188.
47 Kale, CRM Failure and the Seven Deadly Sins, p. 44.
48 Usama Fayyad et al., The KDD Process for Extracting Useful Knowledge from Volumes
of Data, in: Communications of the ACM 39. 1996, pp. 27 – 34; Andi Baritchi, Data
Mining and Knowledge Discovery, in: Mahesh Raisinghani (ed.), Business Intelligence
in the Digital Economy, Hershey 2004, pp. 35 – 47.
49 Baritchi, Data Mining and Knowledge Discovery, p. 40; Jiawei Han and Micheline
Kamber, Data Mining. Concepts and Techniques, San Francisco 2006, p. 383.
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125
Second, decision tree induction is a method of classification that seeks to
discover the parameters and variables that explain an outcome determined in
advance.50 For example, a company will look for the characteristics of a
customer who is most likely to buy a pricey computer : a middle-aged person; a
young person, but only if he or she is a student; or an elderly person, if its
creditworthiness is assessed positively.
Finally, the association rules discovery methods are the most common in
basket analysis. They can discover which articles are most related in
customers’ buying habits.51 The results obtained through this type of analysis
increase opportunities to adopt relevant cross-selling strategies. Once it
appears that product A is often associated with product B, it becomes
interesting to send to all customers who buy product A some advertising or a
voucher for product B.52
Depending on the case, the rules of association uncovered may seem perfectly
logical, such as the relation between beer and peanuts, lipstick and mascara, or
paper plates and plastic cutlery. Other rules however are less self-explanatory,
such as the association between a doll and a candy bar.53 Moreover some rules
are difficult if not impossible to explain, such as between a goldfish and
walking shoes, or between bananas and nails, the last example given by one
executive of LeShop.ch, the Internet ordering site of Migros:
We see that the products have affinities with others, but without any logic, not like the
walkman and batteries for example. For example, a banana and a nail. Just before the
validation of the order, the site offers these products, three products, and it works!54
As he points out, associations, even if they are not obvious, can nonetheless be
applicable. It is therefore neither necessary for a company to understand the
nature of an association nor to be able to explain it. What matters is to make a
marketing decision based on it and to make a direct profit.55
Finally, in order to be truly effective, according to its advocates, the adoption of
relationship marketing by a company should not be based solely on an analysis
of data. It should also provide opportunities for different stakeholders of the
organization, especially those who are in direct contact with customers,
through ‘data integration’.56 With constant access to customer data, the
ultimate goal is to offer a 360-degree view of the consumer in real time in order
to provide the best possible service.
50 Michael Berry and Gordon Linoff, Data Mining Techniques. For Marketing, Sales, and
Customer Relationship Management, Indianapolis 2004, pp. 165 – 210.
51 Ibid., p. 287; Baritchi, Data Mining and Knowledge Discovery, p. 44.
52 Han and Kamber, Data Mining, p. 652.
53 See the details of the example in: Berry and Linoff, Data Mining Techniques, p. 296.
54 Interviewed by Sami Coll, Bussigny-pr*s-Lausanne 26. 08. 2008.
55 Pridmore, Loyal Subjects?, p. 60.
56 Kale, CRM Failure and the Seven Deadly Sins, p. 46.
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III. The Retail Industry in Switzerland
The Swiss retail market is uncommon and is usually qualified as a duopoly.
Two major retail companies, Migros and Coop, which are two cooperatives,
dominate the market. By their specific status as cooperatives, they have no
shareholders to satisfy. Instead, they are required to reinvest their profits. All
companies that have tried to compete with them have either been bought by
one of them or have gone bankrupt, with the exception of Europeans Lidl and
Aldi, which have succeeded in developing in Switzerland over the last four
years. Thus, the apparent diversity of supply is deceptive: almost all other
brands actually belong to one of the two giants. However, two independent
smaller competitors were also studied in this research: Manor, a department
store chain whose shareholders are members of a large family and Fnac, a
department store of French origin specialized in electronics and cultural
products.
1. Migros, a Society of Cooperatives
Migros is currently the largest retail company in Switzerland. Because of the
duopoly it shares with its main competitor, Coop, Migros has become the
major shareholder of several stores, for example Globus and Denner, that were
previously competitors. However, they kept their original names and neither
joined the cooperative system nor integrated the loyalty system.
When founded in 1925 by Gottlieb Duttweiler, the will of Migros was to
revolutionize the sale of food products in Switzerland by eliminating
unnecessary intermediaries and offering prices close to the wholesale market.
This caused shop owners to react very strongly, notably forcing them to
dramatically lower their prices.57 Public opinion accused Migros of threatening
the Swiss industry and middle classes.58 In the 1930s, campaigns called
Duttweiler a criminal and reported the misery of small businesses, even the
suicides of retailers. Many trade corporations demanded the Swiss Federal
government take action to protect them from Migros. In 1933, this demand was
satisfied with an emergency clause that forbade the opening of new stores.
Migros suffered from this over the next twelve years of its application.
Moreover, the suppliers of Migros were also threatened by producers’ boycott.
That is why, since 1928, Migros has been manufacturing its own products by
founding or buying various companies.59
In the beginning, products were sold in five trucks covering only one canton, a
mode of sale that was still waiting to be legally granted. This network expanded
throughout Switzerland, until 1983, where it started to gradually decrease with
57 Hans Munz, Le ph-nom*ne Migros, Zurich 1974, p. 46.
58 Ibid., p. 69.
59 Alfred Häsler, L’aventure Migros. 60 ans d’une id-e jeune, Lausanne 1985, p. 294; Munz,
Le ph-nom*ne Migros, p. 74.
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127
the opening of actual stores. The trucks then limited their service to the
countryside and mountainous regions and, finally in 2002, solely to the canton
of Wallis until the end of 2007. Now, the remaining trucks can only be seen at
the Swiss Transport Museum.
Migros opened its first stores in Zürich in 1926 and in St. Gallen in 1929. They
coexisted with the network of sales trucks. The opening of the first self-service
store in 1948, following the example of stores in the USA, was a great popular
success.60 However, it faced new criticism from competitors who demanded its
closure by the police, denounced the household waste that it entailed and
declared the new distribution methods “perfectly un-Swiss”.61 In response,
Duttweiler launched accusations of fraud and corruption against Swiss
companies. He would win most of the cases but was once convicted for
defamation.62 In 1952, Migros opened its first department store, which
resembles the supermarkets of today, especially with its wider choice of
products and the arrival of non-food products.63 This new kind of store then
multiplied in Switzerland to represent more than half of the total turnover of
the company in 1971.64 In 1970, Migros opened its first large shopping centre,
followed by others over the period between 1970 and 1980. Migros enjoyed
tremendous growth, which would lead some to deplore the fact that Migros
deviated from its social ideals of the beginnings. Migros started to sell products
online in 1998 through the LeShop website, for which it became the majority
shareholder in 2006.
At its very beginning, Migros was a group of limited companies, but between
1933 and 1942, it progressively became a federation of cooperatives.65 These
partially independent cooperatives were headed by a central organization
founded in 1941. In 1946, Duttweiler submitted an application to join the Swiss
union of consumer cooperatives, which in 1996 became Coop, its main
competitor. The submission was refused because of the alleged “undemocratic
management” and an accusation of being a “pseudo-cooperative”.66 This
decision surprised Duttweiler, although it remained in line with the previous
harsh criticism made by the union.
This criticism still exists today. Considering the current size and power of
Migros, its cooperative status may be surprising. Has it not been just like any
other capitalist business for a long time? The question of power is further
complicated since Migros also became the majority shareholder of Swiss
companies that still have the form of limited companies, such as Globus, a
60 Ibid., p. 165; Martin Witz, Dutti – Monsieur Migros, Fr-n-tic Films, France 2007.
61 Munz, Le ph-nom*ne Migros, p. 166; Sibylle Brändli, Der Supermarkt im Kopf.
Konsumkultur und Wohlstand in der Schweiz nach 1945, Wien 2000, pp. 60 – 70.
62 Munz, Le ph-nom*ne Migros, p. 199.
63 Ibid., p. 207.
64 Ibid., p. 208.
65 Ibid., p. 82.
66 For both quotes see Ibid., p. 160.
128
Sami Coll
department store chain acquired in 1997, and a major Swiss chain of
supermarkets, Denner, acquired in 2007. Something might have indeed
changed around the late 1990s and early 2000s when Migros created a new line
of economic products called M-Budget in 1996, and a high-end line called
Migros Selection nine years later.67 Before that, Migros offered a single level of
quality for all its range of products. Because they yield larger profits, the highend line products are particularly interesting for up-selling marketing
strategies which rely on data collected through loyalty cards. Despite these
massive buy-outs and the rise of new marketing practices, Migros is still taking
great care of its image: a company close to the people and with strong ethical
principles.
Parallel to the growth period in the late 1960s and early 1970s Migros
experimented with innovative electronic cash register systems to reduce
waiting time, control the flow of commodities and improve storage management. The implementation of an “Automatic Point of Sale System” (APOSS)
was however stopped by central management because of internal resistance
and alternative technical developments in the USA.68 The later networked cash
registers were increasingly equipped with barcode scanners and credit card
readers and were connected to accounting systems, inventory control and
electronic payment systems. This constituted the infrastructure for the
grafting of loyalty cards, and thus individual consumer data, on this already
sophisticated control system.
Actually, even before the beginning of Migros, grocers already offered rebates
to loyal customers, usually with a system of discount stamps.69 But in his desire
to revolutionize the distribution market in Switzerland, Duttweiler preferred
to work with net prices rather than set up a system of rewards and loyalty.
However, he began to think that “this system was not attracting enough of the
buyer’s fantasies, as the discount stamps were doing”.70 He discovered that
discount stamps and coupons were growing in the USA and decided in 1956 to
launch his own system, the “penny in action”, which was meant to pay back a
few cents per Swiss Franc spent. It encountered significant internal resistance
from store managers and was then suspended to make way for new project
where, according to the founder, “the loyalty of the customer of Migros was to
be rewarded based not by any boring amount of money, but by ‘dream
items’”.71 That is the strategy later adopted by Coop when it launched its own
loyalty card system in 2000. For Migros, this project was refused by the
assembly of delegates of the cooperative and by the majority of the
67 Migros, Diaporama historique, http://www.migros.ch/fr/a-propos-de-migros/histoire/
slider-histoire.html.
68 Katja Girschik, Als die Kassen lesen lernten, Eine Technik- und Unternehmensgeschichte des Schweizer Einzelhandels, 1950 – 1975, München 2010.
69 Munz, Le Ph-nom*ne Migros, p. 49.
70 Ibid., p. 213.
71 Ibid., p. 214.
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129
administration, then by the customers themselves through a vote.72 And only
more than forty years later, on 1 November 1997, Migros established the
current computerized loyalty system, adopting the principle of paying back
one cent per Swiss Franc spent through coupons. This loyalty program relies
on more than 2.5 million active cards in circulation in Switzerland, and it was
the program that generated the most data in Switzerland until 2012 when Coop
also started recording the details of the products consumers bought. So, more
than 70 percent of Swiss households’ consumers habits (the same for the Coop
“Supercard”) are covered by this information network. 75 percent of turnover
of the company is made when the “Cumulus Card” is presented, which
represents 50 percent of transactions.73
2. Coop, a Society of Cooperatives
Coop is the second-largest distributor in Switzerland after its main competitor,
Migros. The diversity of products is comparable, and when either one makes
an innovation, the other usually follows quickly. However, Migros has not
followed the significant growth of Coop labels: a label for youth called Plan B, a
label of a great Swiss chef, a label from a recipe magazine acquired in 2001
called Betty Bossy, an organic label, a fair trade label, and so on.
Coop is mainly made up of supermarkets selling food and everyday domestic
products. But it also runs department stores offering textiles, household,
recreational and cosmetics; DIY stores; service stations generally accompanied by a small retail space; restaurants; pharmacies; two major chains of
electronics and appliance stores, Interdiscount and Fust; a furniture store; a
chain of watches and jewellery stores; and, finally, Microspot, an online store
selling electronic items and appliances.74
The origin of Coop is older than that of Migros. It is situated around 1840 when
fruit cooperatives were created with the objective to address famines and the
uncontrolled rise in grain prices.75 These cooperatives are considered the
ancestors of consumer societies that emerged between 1847 and 1890 in major
cities, originally selling bread, flour, corn, lard, butter, oil and spices. A first
conference where 34 companies met in Zurich with the objective to create a
federation of consumer societies failed. A second conference set up in 1869,
this time including companies from Zurich, Basel, Bern, Gretchen, Biel and
Olten, also failed. In 1886, a Geneva cooperative society tried to plead for unity
but failed as well. In 1890, a union of societies of consumption was finally set
up, enabling the creation of a wholesale merchandise distribution centre in
72 Ibid.
73 According to the head manager of the Cumulus loyalty program, interviewed in 2007 by
Sami Coll.
74 Coop, Une entreprise on mouvement, http://www.coop.ch/pb/site/uebercoop/get/docu
ments/coop_main/elements/ueber_coop/pdf/coop-geschichte/coop_geschichte_ges_
fr.pdf.
75 Ibid.
130
Sami Coll
1892. Although the union factually became a cooperative society in 1893, it
would not introduce the term cooperative in its name before 1935.
In 1948, following over a century of development and a complex historical
evolution, the cooperative opened its first self-service store. In 1969, the
cooperative took its current name, Coop, and started a long restructuration
process with the main objective to reduce the number of cooperatives, from a
maximum of 572 in 1950. This was probably called for by the announcement in
1967 by its direct competitor, Migros, of a turnover exceeding its own for the
first time. The restructuration that finally ended in 2001 led to a single
cooperative that had one branch and one president, thus replacing the old
collective leadership.
The period from 1995 to 2008 was marked by significant acquisitions:
Interdiscount, the second-largest retailer of electronic products in Switzerland
in 1995; Uniprix, a chain of department stores in 2002; Waro, a chain of food
stores in 2003; Christ, the number one source of watches and jewellery in
Switzerland in 2006; Fust, a chain of electronics stores and household
appliances in 2007; and, finally, in 2008, twelve hypermarkets of the French
rival Carrefour, which unsuccessfully attempted to settle down in Switzerland.76 Unlike Migros, Coop integrated its loyalty card system in almost all its
acquisitions. Coop can be considered as a growing panopticon, at the centre of
which lies its loyalty program.
More than 120 years after its origin and long development as well as a series of
complex reorganizations and an amendment of its status, Coop now has a
structure that seems to differ little from any usual large distribution company.
However, the participatory and cooperative system remains. Notably, like with
Migros, the members are not shareholders, and benefits must either cover
losses or be reinvested in the fund.
Today, Coop primarily sells branded items, while also offering its own brands.
It has been offering an alternative to high-quality brands for a long time,
consequently providing the customer a choice between two levels of quality,
unlike Migros, which only sold products of one category of quality until 1996.
Following Migros, Coop’s variety of quality levels was widened nine years later
in 2005 after it launched its line of economic products called Prix Garantie.
However, it would launch its range of luxury goods, Fine Food, a year before
Migros in 2004.
Coop, like Migros, took great care of its image of a cooperative, which is
concerned about being “close to the people”,77 a statement that can be
frequently found in its status and presentation documents.78 These documents
76 Ibid.
77 Vision, Lignes directrices et missions, http://www.coop.ch/pb/site/uebercoop/get/docu
ments/coop_main/elements/ueber/zahlen_fakten/leitbild/documents/leitbild_pyrami
de-fr.pdf.
78 Ibid.
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Discipline and Reward
131
also frequently suggest the cooperative members and customers travelling
“together to the peak”. However, despite its strong heritage and history as a
cooperative, it is possible that its recent expansion and mergers caused this
positive image to suffer a little as well as force the company to appear as any
other capitalist company wishing to increase profits. In addition, while Migros
takes advantage of the image of its charismatic founder, Gottlieb Duttweiler,
Coop has to deal with a more anonymous image. However, it is the only
company to have decided not to collect details from customer purchases when
implementing its loyalty system. Since 2012, after realizing the lack of criticism
or resistance faced by the competitors, it has started to do the same. In fact, as I
observed in Coop’s call centre and in the interviews I conducted, consumers’
complaints are mostly expressed towards the poorness of data-driven services,
rather than the fact these services involve a closer surveillance. This enabled
Coop to run up-selling and cross-selling marketing strategies, as Migros
started doing previously. In general, Coop is currently dealing with the same
contradiction as Migros: to remain loyal to its history and image of a
cooperative enterprise with positive values and to adapt to a relatively
aggressive economic market by ensuring its domination over its competitors,
especially Migros.
Far before the loyalty card Supercard as we know it today, the local cooperative
of Geneva adopted in 1930 a loyalty system based on discount stamps, before
the one adopted nationally in 1955 by the union of cooperatives and a year
before the penny in action of Migros.79 It disappeared in 1974 in favor of net
prices.80 In 1996, explicitly wanting to anticipate the launch of the Cumulus
Card by Migros, Coop distributed non-computerized cards which granted
owners the access to discounts without collecting points.81 This card was
transitional until the integration of the Supercard launched in the summer of
2000. It was computerized and allowed the collection of points.
Nowadays, there are more than 2.7 million cards in use in Switzerland. 76
percent of the total turnover of Coop is made upon presentation of the
Supercard by the customers. One Swiss Franc spent equals one point, and one
hundred points are worth one Swiss Franc, as with the Cumulus Card of
Migros. However, unlike the Cumulus Card, customers do not receive coupons
that can be used for payment. They must use their points to purchase specific
items found in a catalog, on a dedicated website or on terminals in stores. The
management of premiums is outsourced to a Dutch external company, Nebus
Loyalty, which settled in Switzerland in 1999. This system has not been very
79 Soci-t- Suisse de Cooperation, 75 ans de cooperation. 1868 – 1943, Gen*ve 1943, p. 15.
80 Coop, Une histoire en movement, http://www.coop.ch/pb/site/uebercoop/get/docu
ments/coop_main/elements/ueber_coop/pdf/coop-geschichte/coop_geschichte_ges_
fr.pdf.
81 As related by the head manager of the Supercard program, Interviewed by Sami Coll,
Basel 1. 6. 2007.
132
Sami Coll
successful, as consumers showed a clear preference for direct rewards, as often
expressed in my interviews, for example with a 34 year-old bank employee:
The Supercard is fine. However, I prefer Cumulus because it gives you some cash back. With
Coop, you must buy something you don’t need. Why should I buy a hair trimmer? I prefer to
get a voucher of five Swiss Francs I can use for small things, for example for a quick lunch.82
Consequently, Coop decided in 2007 to enable owners of the Supercard to pay
for non-food products, but only in its Coop City department stores, a decision
met with great success.
3. Manor, a Capitalist Dynasty
The history of Manor begins at the end of the nineteenth century in Biel,
Switzerland, with the meeting of two brothers, the so-called Maus brothers,
who were wholesalers, and one of their customers, L-on Nordmann, who was
working as a retailer.83 After the two brothers finally settled down in Geneva,
the partners opened their first shop in Lucerne in 1902. The owners claimed
principles that presented them as revolutionary for that time: the ability to
enter the shop without any obligation of purchase, labelled and fixed prices
and the right to return products without explanation.84 Given the success of the
first shop, they gradually opened new ones throughout Switzerland.
In 1929, the ties between the two families were tightening: the daughter of one
of the Maus brothers married the son of L-on Nordmann. They would both
take the head of a large network of department stores situated in Basel,
Lausanne and Geneva. The latter opened in 1967 as a result of a project
initiated in 1945.85 They started building it in 1959 while facing the fear of local
small businesses. They did not suffer from the appearance of this potential
competitor as they adapted their offer by providing specialized products and
giving up the selling of general ones.
The name Manor was created in 1965 while the chain of department stores
became a public limited company managed by the Maus brothers. The latter
were still the shareholders of the company, following a value they claimed in
their public relations: “Maintaining a family spirit”.86 In 1992, the manager of
the Geneva department store recalled that at the time of the opening, products
like bananas and chicken were considered luxury goods.87 In a way, Manor was
also involved, as Coop and Migros, in a project of making products initially
reserved for the wealthy accessible to anyone, as shown in the advertisement
82 Interviewed by Sami Coll, Coop retail store 12. 9. 2008.
83 Maus Fr*res, http://www.maus.ch/fr/#p2; Manos, Une entreprise familiale suisse, http://
www.manor.ch/fr/u/facts-geschichte.
84 Maus Fr*res, http://www.maus.ch/fr/#p2.
85 Fr-d-ric Montanya, Sous la placette, l’histoire, in: La Suisse, 12. 9. 1992, p. 13.
86 Une entreprise familiale suisse, http://www.maus.ch/fr/#p2.
87 Ibid.
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Discipline and Reward
133
announcing the opening: “Manor, the store where everything becomes
affordable”.88
Today, although Manor is around eight times smaller than Migros or Coop in
terms of turnover, it claims to occupy 58 percent of the market share of
department stores in Switzerland. It developed its own homemade brands for
non-food goods that were sometimes produced outside Switzerland, notably
clothes in Asia. It then often communicated the ethical working conditions it
offered its workers.89 As it is not a cooperative, Manor has not gotten tangled up
in the same contradiction as Migros and Coop. It took full responsibility for its
status as a profitable company, which was actually a kind of “capitalistic
dynasty”, something Manor actually presents as a positive value.90 However,
the shares are not public and were strictly reserved to the members of the Maus
family.
The “Manor Card” has been available for customers since 1970, first as a
payment card for product purchases in the store. Its management was
outsourced to a company whose majority shareholder was, until 2007,
Swisscom, the national telecommunications company. Since then, the Maus
brothers regained the management. Unlike Migros and Coop, the card is not
accessible to everyone, as it is also a payment card. Because the creditworthiness of customers is checked, its access is more limited. However, the company
now considers it a loyalty card, even though it is not possible to collect points,
which is a principle strongly rejected by the Maus brothers.
Along with a monthly bill, guests are offered discount vouchers, nonpersonalized but traceable, sometimes up to 20 percent on selected items. If
nothing has been bought with the card during the month, no vouchers are sent,
thus excluding inactive customers. However, all the owners of the card can
benefit from a 10 percent discount on all items in the stores, except food, for
two periods of one week during the year, usually in November and May.
Around 850,000 cards are in circulation, permeating 20 percent of households
in Switzerland. 33 percent of Manor’s turnover is paid with the Manor Card.
The card can also be used for payment outside Manor stores. Until now, over
sixty companies have joined the network of partners with a total of over 10,000
points of sale. Unlike Coop and Migros, the card enables customers to receive
benefits from stores other than the ones owned by Manor. Although the details
of the articles which have been bought outside Manor department stores are
not collected, this provides more information about consumers’ habits.
Furthermore, because the Manor card is a payment card, the form that must be
completed to receive it is much more extensive. Compared to Migros’ and
Coop’s forms, it contains additional mandatory data such as occupation, date
88 Manor Advertisement, in: La Suisse, 12. 9. 1992.
89 Code de conduite pour les fournisseurs, http://www.manor.ch/fr/u/engagementverhaltenskodex.
90 Une entreprise familiale suisse, http://www.maus.ch/fr/#p2.
134
Sami Coll
of birth, marital status, nationality, date of establishment in Switzerland and
gross annual income. The customer is also asked to provide optional personal
information on her or his partner, like name and date of birth, telephone
numbers, email, former address and the store where she or he will make his or
her purchases most often. Unlike applying for a Cumulus Card or a Supercard,
the customer is required to prove their identity by presenting an official
document. While Manor can rely on the information provided, at least for the
identity, Coop or Migros cannot be fully sure of its accuracy.
4. Fnac, a So-Called “Trotskyist” Company
Founded in France in 1954 by two Trotskyist activist friends, Fnac was
originally a buyer’s club selling cameras to executives.91 One of them was
already active in the distribution of photographic equipment alongside a
company that would later merge with Fnac. Initially, it was personally financed
by one of the founders and a common friend.92 But they eventually cut the
shares in half for each of them. The very first point of sale was very modest and
located in an apartment. The company’s policy was to emphasize the role of
sellers in terms of quality of counselling for customers.93 Quickly, Fnac opened
its stock to all consumers and progressively expanded its product range.94 The
same year, Fnac founded a newspaper, denouncing the high prices and poor
quality of certain products.95 The flow of customers became so significant in
the apartment that they had to open their first store three years later in 1957.
Fnac’s success was overwhelming: In 1970, with the necessity to open new
stores, an increase in capital was needed.96 Consequently, 20 percent of the
shares were first sold to an insurance company. Then, in 1977, the balance was
sold to a consumer cooperative society. What followed was a sequence of
buyouts, seen by the founders as a betrayal, as they previously had sold their
business to a cooperative to purposely prevent it from becoming a capitalist
business like any other. Owned by an insurance company and then a bank, the
buyout of Fnac ended up with the total acquisition of shares by a large French
group, PPR, which was a leader in large consumer and luxury brands founded
in 1963 before it changed its name to Kering.
Fnac sells music, DVDs, personal computers and software, audio, video and
photographic equipment and accessories, mobile phones, tickets for cultural
events, and books. Books were introduced in 1974 before the buyout of PPR.
This led to the “book war”,97 as the founders of Fnac aimed to sell books 20
91 Didier Toussaint, L’inconscient de la Fnac. L’addiction & la culture, Paris 2006, p. 26.
92 Ibid.
93 Vincent Chabault, La Fnac. Du militantisme politique & la grande distribution culturelle,
in: Histoire d’entreprises 6. 2008, pp. 66 – 71.
94 Ibid.
95 Ibid.
96 Toussaint, L’inconscient de la Fnac, p. 79.
97 Ibid., p. 108.
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Discipline and Reward
135
percent cheaper than the price suggested by publishers. They were labelled as
criminals by editors and bookstores. However, the fight ended in 1982 with the
adoption of the unique price policy by the French government.
After several experiences in other countries, Fnac opened its first store in
Geneva, Switzerland in 2000. It was met with huge success, followed by the
opening of three other stores in Geneva, Lausanne and Fribourg. Encouraged
by this success, Fnac decided to ambitiously open a seven-floor store in Basel
in 2008.98 Perhaps because of a lack of knowledge of the demand in this part of
the country and a bad location, it was unsuccessful this time. In Switzerland,
Fnac is a limited company independent from the French branch with
administrative offices in Geneva. However, it is also wholly owned by the large
French group Kering. It runs with a yearly turnover of around 200 million
Swiss Francs, which is comparatively less than one percent of the turnover of
Coop or Migros.99
The image of the company still sticks somewhat to the political past of the
founders, both of them self-proclaimed “engaged Trotskyite militants”.100
Despite the fact that their political activities ceased several years before the
founding of Fnac, the press and French media like to recall this unusual history
for what became a main capitalist actor in the French market.101 While some of
the past commitments can still be felt, such as the proximity to customers,
aggressive price promotions and the choice of quality products, the “militant”
spirit of the beginning was most likely lost along the way, especially because of
the various takeovers by large groups.
Employees are mostly young people and relationships are rather informal and
seem to be attached to some kind of corporate culture. They adopt a friendly
tone and show a personal involvement and sense of belonging that are stronger
than at Coop and Migros. However, a lot of pressure is put on the employees
who tend to run in all directions, much more than in other companies I
studied. I witnessed tensions and saturation reactions such as crying, insults or
absenteeism. In fact, Fnac seems to be caught in an ambivalence similar to that
of Coop and Migros. On the one hand, it seems to retain some of the spirit of
the company’s beginnings, probably also due to the type of products sold. On
the other hand, because it has belonged to a great capitalist group for over ten
years, the apparent young, relaxed and horizontal atmosphere might have
progressively become a strategy of management of human resources.
As the precursor of the loyalty card as we know it today, loyal customers of Fnac
were provided a “purchase diary” which gave them a 20 percent discount on
98 B%le accueille la 1-re Fnac germanophone, http://www.swissinfo.ch/fre/b%C3%A2leaccueille-la-1%C3%A8re-fnac-germanophone/6592410.
99 Publications, http://www.kering.com/fr/finance/publications.
100 Toussaint, L’inconscient de la Fnac, p. 36.
101 Ibid., p. 30.
136
Sami Coll
affiliated traders.102 It lasted only a short time and experienced setbacks,
particularly among camera vendors who did not want their material to be sold
off. The loyalty card provided by Fnac, the “Fnac Card”, has been available
since the establishment of the store in Switzerland in 2000. Although loyalty
systems are separated, the one in Switzerland could benefit from a large
experience abroad. More than 120,000 cards are in circulation, with a renewal
rate of 55 percent.103 It is a significant figure, considering the fact that it is the
only loyalty card in Switzerland that is not free: it costs forty Swiss Francs every
three years and ten Swiss Francs every two years for students. 65 percent of the
company turnover is made by clients owning a card.104
IV. Are Swiss Loyalty Cards a Big Brother?
This very short historical review of the four main retail companies in
Switzerland is helpful in showing how complex and how long their development has been until they became what they are now. They faced crises, political
resistances and they have been strongly dependant on historical, economic and
sociological contingency. Consequently, it is difficult to compare any of these
companies to a Big Brother, even after they recently adopted their respective
computerized loyalty card systems that collect personal data on a large scale. It
became apparent that before they were computerized, loyalty cards were solely
a more or less successful way to promote customer loyalty. Only decades
afterwards did they become computerized tools of aggregation of personal
data, which the companies are still struggling to actually make advantage of.
There was obviously no such thing as a long term plan to build any sort of
panopticon. Indeed, the network of loyalty systems provided by many
competitors is hardly comparable to the centralized and consistent state
monitoring machine described in the Bentham’s panopticon, although some
configurations might remind a couple of its features, mainly the disappearance
of the force and the fact that the monitoring became ubiquitous, this time for
real. To embrace the complexity of the forms of surveillance these multiple
systems nevertheless produce, the concept of surveillance assemblage is more
accurate.
More concretely, in the specialized literature, the paradigm of relationship
marketing, as well as the techniques and technologies that it relies on, are not
perfect. They are the subject of many debates, not to mention the ethical issues
pertaining to the private sphere which further complicates the matter. In the
102 Ibid., p. 100.
103 According to the head manager of the loyalty program, interviewed by Sami Coll,
Geneva 25. 1. 2008.
104 According to one of the executive of the Geneva store, interviewed by Sami Coll, Geneva
23. 9. 2008.
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Discipline and Reward
137
observed practices of the main retail companies of Switzerland, my fieldwork
underlines even more difficulties related to problems of cost, internal
resistances within organizations, fear of providing a negative image of the
company, and issues in the management of human resources.105 In fact,
marketing relationship strategies and data mining techniques are still far from
being implemented to their full potential. However, this is not to say that
nothing is being done. Depending on their status, their history, their
objectives, the type of covered market et cetera, companies adopt varying
degrees of relationship marketing techniques and methods. The reality of
surveillance through consumer loyalty cards in Switzerland is therefore
neither an Orwellian nightmare nor a naive marketing ideal where consumers
and businesses collaborate for a common good.
At this stage, it seems that a lot is still to be done in Switzerland and that the
systematic collection of data, which currently only leads to rudimentary forms
of exploitation, is primarily a question of anticipation. Also, the heads of the
loyalty programs I interviewed did not consider that relationship marketing
would ever totally replace the intuitions of the traders. The premise that
relationship marketing relies on, which is that consumers tend to reproduce
the behavior of previous consumers described by equivalent variables, is
indeed questionable. Should managers think that any unexpected customer
behavior is a matter of data deficiency? Such a belief would multiply the need
for personal information. While big data enthusiasts tend to think that human
behavior can almost be completely predicted, the marketers that I interviewed
seem to be rather aware of the unfathomable nature of human beings and view
data mining techniques to be a very convenient and perhaps mandatory tool
nowadays, as one of the executives of Manor:
Today we could not abandon the CRM [Customer Relationship Management]. It is also a
question of technology. Computers are cheaper and it has become much easier to work on all
these data […] But it is not easy to understand consumer behaviour. We’ve known how to use
CRM for only a few years, otherwise it’s mostly intuition.106
Within organizations, the implementation of relationship marketing is a topdown initiative stemming from the top of the hierarchy. Usually, top
management sets up a unit in charge of implementing relationship marketing
applications and derive maximum potential. In order to do this, the systematic
production of customer personal information must be ensured by installing
card readers and related software at the purchase points. This step had been
taken by the four companies I studied. The following step is to decide what to
do with these massive data: how to make use of them by implementing
complex and expensive technologies whose mastery requires a particularly
high level of qualification. Third, in order to make relationship marketing
105 Coll, Surveiller et r-compenser.
106 Interviewed by Sami Coll, Basel 15. 11. 2007.
138
Sami Coll
successful, that is, to take advantage of the large investments that it requires,
both the paradigm and a direct access to data should be distributed at all levels
of the organization, according to the specialized literature, especially in
purchase points.107 None of the companies I studied had reached this stage in
completing the paradigm of relationship marketing. Migros and Coop are
somewhere between the first and second stage, and Manor seems to be more
advanced in the second stage. Fnac, although they have somehow started the
third by making access to data available at some purchase points in its stores,
has not started the second, as suggested by the head manager of the loyalty
program in Switzerland:
Q: What is the CRM software you use? Are you using any?
A: Our CRM, it’s Bill Gates’, it’s Excel!108
Progressing through these steps repeatedly requires a common interest and a
good understanding of what relationship marketing is about, and how
everyone in the company can benefit from it. It allows the vendor to better
inform clients and avoid devoting too much time to those categorized as not
worth the time investment, and it allows the store management to fine-tune its
offer closer to the preferences of its clients as well as announce the arrival of
new products.
Nevertheless, these projects face many resistances, those of executives, those of
store employees and, also, those of customers, despite the desire, at the top of
hierarchy, to push their marketing philosophy into the information age. The
transformation of marketing philosophy from a model where consumers are
targeted as a large mass or, in the better cases, as segments, to a model where
the company communicates individually, involves a change of mentality, as
suggested by the head of the loyalty program of Manor :
Currently, Manor is just awakening to data mining.
Q: And why so late?
A: Because it’s too expensive! If you don’t have the [organizational] structure to take
advantage of it, information is received for nothing. Until now, reporting has been sufficient.
But the possibilities are far more important with data mining. […] In fact, it is really
important to change the mentality of the c