Beispiel 4.1 (Spiel mit verdeckten Karten) - Helmut-Schmidt
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Beispiel 4.1 (Spiel mit verdeckten Karten) - Helmut-Schmidt
1 Beispiel 4 (Fehler der Demoskopie) Beispiel 4.1 (Spiel mit verdeckten Karten) Tobias Hürter, Spiel mit verdeckten Karten, WISSENSCHAFT, Dienstag, 30. April 2002, Bayern Seite V2/9 / Deutschland Seite V2/9 / München Seite V2/9 Die Methoden der Meinungsforscher sind undurchsichtig und die Wähler zunehmend unberechenbar Die Umfragen zeigten eine große Koalition. Am Wahlabend in Sachsen-Anhalt war dann die Verblüffung groß: bei Siegern, Verlierern – und Wahlforschern. Die Möglichkeit einer schwarz-gelben Koalition hatte niemand vorhergesehen. Noch in der letzten, am Freitag vor der Wahl veröffentlichten Umfrage hatte das Berliner Forsa- Institut eklatant neben dem Wahlergebnis gelegen (Grafik). Noch größer war der Schock in Frankreich: Zwei Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl hatte das Pariser Umfrageinstitut Ipsos Premierminister Lionel Jospin sichere vier Prozentpunkte vor dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gesehen. Doch in der Stichwahl am kommenden Wochenende wird Le Pen statt Jospin gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac antreten. Die Meinungsforscher sehen dennoch wenig Grund, ihre Methoden zu überdenken. „Das waren keine Prognosen, sondern nur momentane Stimmungsbilder“, erklärt Forsa-Chef Manfred Güllner zu Sachsen-Anhalt. „Unmittelbar vor der Wahl wusste ein Viertel der Wähler nicht einmal, dass überhaupt Wahlen stattfinden“, sagt Güllner. Für die Demoskopen wird die Unstetigkeit der Wähler zunehmend zum Problem, denn sie verkaufen ihre Zahlen durchaus mit dem Anspruch, das Verhalten der Wähler vorauszusagen: „Wenn am nächsten Sonntag Wahlen wären...“, heißt es in der „Sonntagsfrage“. Was als Ergebnis in den Medien präsentiert wird, ist jedoch nicht nur die statistische Zusammenfassung der Antworten. Die „Rohdaten“ werden vielmehr stark überarbeitet, geknetet und gebürstet, bevor sie veröffentlicht werden. Es beginnt mit der Zahl der Befragten: Meist sind es zwischen 1000 und 2000 zufällig aus dem Telefonbuchausgewählte Personen, die als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung gelten. „Zu wenig“, kritisiert der Statistiker Helmut Küchenhoff von der Universität München, „beim Ergebnis großer Parteien muss man dann mit Fehlermargen von bis zu drei Prozent punkten rechnen. Oft wird aber schon eine Schwankung von einem Prozentpunkt als politischer Trend ausgewiesen.“ Wenig Wunder, dass die Institute die Verlässlichkeit ihrer Zahlen allenfalls im Kleingedruckten nennen. Um Tendenzen im Prozentbereich zu erfassen, sind mindestens 10000 Interviews nötig. Diesen Aufwand betreiben die Demoskopen allenfalls bei so genannten Exit Polls, in denen Wähler direkt nach der Stimmabgabe befragt werden. Dies mündet in die Prognose, die nach Schließung der Wahllokale veröffentlicht und in Hochrechungen aktualisiert wird. Auf deren Basis haben die Wahlverlierer Jospin und Reinhard Höppner ihren Rückzug aus der Politik verkündet. Wesentlich ist auch die Befragungsmethode. Während die drei fürs Fernsehen tätigen Institute Infratest-dimap, Forsa und Forschungsgruppe Wahlen die Bürger per Telefon befragen, stützt sich das Institut für Demoskopie (IfD) in Allensbach auf ein Netz von Interviewern, die in ihrem weiteren Bekanntenkreis in stundenlangen Gesprächen die politische Stimmung erkunden. Dabei folgen sie festgelegten Quoten, welches Alter oder Einkommen ihre Interviewten haben müssen. „So erreichen wir auch Leute, die bei anderen Instituten den Hörer auflegen“, sagt Edgar Piel vom IfD. Und immerhin erkennt 2 auch die Konkurrenz an, dass vor der letzten Bundestagswahl die besten Zahlen aus Allensbach kamen. Für Sachsen-Anhalt allerdings wagte das IfD keine Prognose. Ist die Vorauswahl getroffen, beginnt die eigentliche Kunst. Die Demoskopen brauchen Tricks, um den Befragten eine Wahlentscheidung zu entlocken, die diese oft noch gar nicht getroffen haben: Hierzu müssen die Interviewten Politiker erkennen, Sympathie-, Kompetenz- und Vertrauensnoten geben, Parteien und politische Themen auf Skalen ordnen. Sie müssen auch angeben, welche Koalition sie am liebsten hätten und was sie bei der letzten Wahl gewählt haben – die so genannte Recall-Frage. Daraus destillieren die Demoskopen eine „längerfristige Grundüberzeugung“, auf deren Basis sie das Rohergebnis der Sonntagsfrage nach streng gehüteten Geheimrezepten „gewichten“. Auf direktem Weg sind politische Präferenzen kaum zu erfahren. In Kontrolluntersuchungen stellten Demoskopen fest, dass Reihenfolge und Formulierung der Fragen das Ergebnis verzerren können. Und ein beträchtlicher Anteil der Befragten lügt – besonders Anhänger extremistischer Parteien. Auf die vom Berliner Infratestdimap-Institut in Sachsen-Anhalt geradeheraus gestellte Recall-Frage wollte sich anfangs nur ein Prozent der Befragten dazu bekennen, bei den Landtagswahlen 1998 DVU gewählt zu haben; tatsächlich war die rechtsradikale Partei damals auf 12,9 Prozent gekommen. „Dann formulierten wir die Frage diplomatischer, und aus einem Prozent wurden schließlich acht“, sagt Richard Hilmer, der Geschäftsführer von Infratest-dimap. Die französischen Wahlforscher erklären ihren jüngsten Fehlgriff ähnlich: „Ein bisschen zu hoch“ habe man die „Bekenntnisbereitschaft“ der Le-Pen-Wähler eingeschätzt, bekannte Ipsos gegenüber der Zeitung Le Monde. Auf welchem Weg die Demoskopen von den Rohdaten einer Erhebung zur veröffentlichten Prognose kommen, bleibt Betriebsgeheimnis der Institute – fast so streng gehütet wie das Coca-Cola-Rezept. Der Statistiker Friedrich Ulmer von der Universität Wuppertal zweifelt, dass es dabei nur streng wissenschaftlich zugeht: „Die Wahlforscher nehmen meist das alte Wahlergebnis und schreiben es behutsam fort. So lange die politischen Lager stabil sind, funktioniert das.“ Umschwünge wie in Sachsen-Anhalt sind so kaum zu prognostizieren. Dennoch befürchten die Demoskopen bei der Bundestagswahl im Herbst kein Debakel wie in Sachsen-Anhalt. „Die höhere Wahlbeteiligung erlaubt bessere Prognosen“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. Manche seiner Konkurrenten sehen das anders: „Die Instrumente bleiben zwar gleich, doch wir justieren sie neu“, erklärt Richard Hilmer von Infratest-dimap. „So wissen wir jetzt besser, welche Themen wichtig sind.“ Hilmer räumt aber ein, dass sein Geschäft immer schwieriger wird: „Die Wähler reagieren immer schneller und sensibler“, sagt er. Bei der Bundestagswahl 1998 haben sich – laut Umfragen – 16 Prozent der Wähler erst am Wahltag für eine Partei entschieden. „Das werden wir im September wieder sehen“, glaubt Christina Holtz-Bacha vom Institut für Publizistik der Universität Mainz. „Da kann ein Fernsehduell ein paar Tage vorher den Ausschlag geben.“ Mit diesem Wissen hat Edmund Stoibers Wahlkampfmanager ein kurz vor der Wahl geplantes Fernsehduell vorverlegt. Je näher die Wahl rückt, umso enger binden sich Politiker an die Demoskopie: „Nie ist der Zusammenhang zwischen politischen Handeln und Meinungsumfragenso groß wie vor Wahlen“, hat der Augsburger Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider beobachtet: Vorschläge fraglicher Popularität werden oft von Politikern aus zweiter Reihe probeweise lanciert und im Wahlkampf benutzte Formulierungen werden in Kleingruppen potenzieller Wähler gezielt auf ihre Wirkung getestet. Doch sogar InfratestChef Hilmer warnt: „Wenn Politiker nur unseren Ergebnissen hinterherrennen, landen sie 3 im Irrgarten.“ 47 zu 42 steht es im Kanzlerduell sagen Meinungsforscher – Kritiker halten solche Prognosen für Wahrsagerei. 4 Beispiel 4.2 (Fehler bei der Wahlforschung?) Quelle: Evelyn Roll, Wer recht hat, liegt falsch, Süddeutsche Zeitung, 30. 9. 1998, Seite 3 Berlin, 29. September – Es ist ganz wunderbar, in diesen Tagen mit Elisabeth NoelleNeumann zu sprechen. 80 Jahre ist die große alte Dame der deutschen Demoskopie jetzt, und haucht doch wie eine 18jährige ganz atemlos vor Begeisterung über sich selbst ins Telephon: „Ich werde Ihnen ganz genau erklären, warum unsere Vorhersagen dieses Mal so sehr viel besser sind als die der anderen.“ Vor der Wahl hat es böse Artikel gegeben. Wieso hat ausgerechnet die „Kanzler-Glucke“ mit ihrem Allensbacher Institut für Demoskopie, das sie selbst „der Welt bestes Prognose-Institut“ nennt, so ganz andere, erstaunlich niedrige Umfragedaten für die CDU ermittelt? Das ist doch gewiß nur, um auch geringfügige Steigerungen in der Stimmung ganz kurz vor der Wahl noch als Trendwende und Last-minute-swing zu verkaufen und damit der CDU zu helfen, was Noelle-Neumann in der Tat mit einem FAZ-Aufsatz und dem viel beachteten Satz versuchte: „Was ist das für ein Blitz, der da in der Luft liegt?“ Das war vor der Wahl. Jetzt ist nach der Wahl. Und jetzt fragen sich alle, wieso eigentlich der Sieg der SPD in allen Kommentaren aller Medien immer so „unerwartet hoch“ ist und warum alle so wahnsinnig überrascht sind, daß es für Rot- Grün reicht, obwohl doch sogar die PDS im Bundestag ist. Weil es vorher auf der Basis der Meinungsumfragen immer geheißen hat: Kommt die PDS rein, reicht es nicht für Rot-Grün. So, wie es geheißen hat: Der Abstand schmilzt, es wird sehr knapp zwischen SPD und CDU. Das ist also alles Unfug gewesen. Eine Berufsgruppe hat diese Wahl wieder einmal haushoch verloren. Das sind die Demoskopen. Die Umfragen vor der Wahl lagen so weit daneben, daß man sich wirklich fragen muß, ob man auf der Basis solcher Daten überhaupt Zeitungskommentare verfassen oder einen Wahlkampf planen darf. Weil die Demoskopen die Zweifel sehr wohl spüren, gehen sie in diesen Tagen nach der Wahl nicht gerade zimperlich miteinander um. „Ja, mir werfen sie seit Jahr und Tag vor, ich würde manipulieren, weil ich mit Herrn Kohl befreundet bin. Aber wer schreibt mal, daß Forsa mit Herrn Schröder befreundet ist“, sagt zum Beispiel Elisabeth Noelle-Neumann. Und wenn man dann Manfred Güllner, den Leiter von Forsa fragt, ob die Demoskopen mit Ausnahme von Allensbach in diesem Wahlkampf nicht versagt hätten, wird der schon über die Berufsbezeichnung ärgerlich: „Lassen Sie mal den blöden Begriff Demoskopie, das heißt übersetzt doch völkisches Beobachten, so kann Frau Noelle-Neumann ihre Wissenschaft nennen.“ Und das ist natürlich ein bißchen gemein, weil Elisabeth NoelleNeumann einmal bei der Wochenzeitung Das Reich gearbeitet hat und sich neuerdings gegen dubiose Vorwürfe aus Amerika wehren muß, ihre angebliche Nazi-Vergangenheit habe die Arbeit als Meinungsforscherin beeinflußt. Jetzt hat aber sie die besten Zahlen gehabt. „Ja, sie hatte die besten Zahlen“, sagt Manfred Güllner, den wir von nun an Umfrageforscher nennen, „aber sie hat sie mit ihren Manipulationsversuchen, Kohl könne doch noch gewinnen, kaputt interpretiert.“ Und Matthias Jung, einer der Leiter von der Forschungsgruppe Wahlen sagt: „Allensbach, das war ein absoluter Zufallstreffer. Die hatten nur zufällig die richtigen niedrigen Werte für die CDU, weil sie eine Woche nach der Bayernwahl noch ein Umfrageergebnis gedruckt haben, das vor der Bayernwahl ermittelt worden ist.“ Klaus-Peter Schöppner von Emnid, den es mit Umfragewerten von 39 Prozent für die CDU besonders hart getroffen hat, erklärt das Desaster der Demoskopen mit der hohen Zahl der Unentschlossenen, deren Verhalten man einfach nicht vorausberechnen könne. Manfred Güllner sagt dazu: „So einen Unfug habe ich in meinem Leben noch nicht gehört. Die Unentschlossenen sind doch alles Nichtwähler.“ Das hält Schöppner wiederum für 5 „völligen Quatsch“. Unter den 25 Prozent Unentschlossenen seien lediglich 5,67 Prozent Nichtwähler gewesen. So geht es zu unter Demoskopen, zwei Tage nach der Wahl. Daß in ihren Umfragen Fehlerquoten bis zu fünf Prozent normal sind, wissen und sagen alle. Daß die Umfragen damit eigentlich untauglich sind für die Diskussion von Wahlchancen, teilen die besseren Zeitungen ihren Lesern auch immer wieder mit. Und so sagt Schöppner nach einem langen Gespräch den tapferen Satz: „Sie sehen, der Wähler ist eben nicht so einfach erforschbar.“ Und das ist es wohl. „DER WELT bestes Prognose-Institut“: Die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann hat den Abstieg der Union bei der Wahl vorhergesagt. Beispiel 4.3 (Fehler bei der Wahlforschung?) Quelle: Christiane Wirtz, Ausreißer unwahrscheinlich, Süddeutsche Zeitung Nr. 194 Freitag, 23. August 2002, Seite 2 Lob vom Umfrage-Experten Professor Peter Mohler ist Direktor des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim. Er befasst sich täglich mit Umfragen und damit, was sie wirklich aussagen können. SZ: Es gibt Wissenschaftler, die Wahlprognosen für Zahlenprostitution halten. Wie seriös sind die Umfragen? Mohler: In der Statistik gibt es zum einen die theoretischen Statistiker, die sagen, was man wissenschaftlich fundiert sagen kann. In der angewandten Statistik, also auch in der Meinungsforschung, werden dagegen oft Dinge gesagt, die man nicht streng wissenschaftlich begründen kann. Das ist wie früher bei den Brückenbauern, die in der Forschung noch nicht so weit waren. Damals dachten manche, die Brücke müsse eigentlich zusammenbrechen – rein wissenschaftlich betrachtet. Und dann hat sie doch gehalten. Wahlprognosen sind seriös, wenn man zeigt, wo ihre Grenzen sind. Streng genommen können die Institute auch nur ungefähre Werte angeben, denn die Fehlerquote liegt bei plus/minus drei Prozent. SZ: Wissenschaftlich korrekt hieße es also, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, käme Partei X nicht auf 38, sondern auf 35 bis 41 Prozent ... Mohler: Richtig. Aber ein solches Ergebnis wäre uninteressant. Schließlich entscheiden häufig wenige Prozentpunkte über Sieg oder Niederlage. Um genauere Werte zu ermitteln, greifen Demoskopen auf ihre Erfahrung zurück. Tun sie das nicht oder vergessen sie etwas Wichtiges, müssen sie sich auf Überraschungen gefasst machen, so wie in England 1992. Damals sagten die Meinungsforscher den Konservativen eine Niederlage voraus. Sie hatten die Leute auf der Straße nach ihrer politischen Überzeugung gefragt. Am Ende gewannen die Konservativen dann doch. Man hatte einfach nicht bedacht, dass die konservativen Wähler älter sind, nicht so oft aus dem Haus gehen und deshalb nicht so häufig befragt werden. SZ: Haben deutsche Demoskopen ähnliche Pannen erlebt? Mohler: So große Fehler wie in Amerika und England kommen bei uns seltener vor. Unsere Leute sind einfach gut. Und jedes Institut hat seine eigenen Methoden, da sind Ausreißer eher unwahrscheinlich. SZ: Wie gehen die Forscher vor? 6 Mohler: Sie befragen 1000 bis 2000 Wähler. Die suchen sie sich entweder nach einem Zufallsprinzip übers Telefon, oder sie nehmen Stichproben in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Diese Ergebnisse werden gewichtet. Nach welchem Schlüssel, gehört zu den Geheimnissen der Institute. Da kommt die Erfahrung ins Spiel. Einige Menschen etwa sind anfällig für soziale Erwünschtheit, das heißt, sie würden niemals zugeben, eine rechtsradikale Partei zu wählen. Diese Erfahrungswerte verrechnet man mit den Rohdaten. Würden die Deutschen auf einmal ihr Wahlverhalten komplett ändern, gäbe es wahrscheinlich einen großen Crash. Aber wie man die Deutschen kennt, ist eine solche Revolution ja unwahrscheinlich. Interview: Christiane Wirtz Beispiel 4.4 (Statistik und Wahrheit) Quelle: Kommentar jv, Süddeutsche Zeitung 29. August 2002, Seite 4 Der Streit um die Meinungsumfragen ist dümmer, als sogar im Wahlkampf zu erwarten war. Die Demoskopen hätten manipuliert, erregt sich die Union über die erste ForsaUmfrage nach dem Fernsehduell, weil in dieser ihr Kandidat zu schlecht weggekommen sei. Generell zitieren Politiker gerne Winston Churchill, wenn Umfragen nicht in ihrem Sinne ausfallen: „Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.“ Doch zu behaupten, Umfragen seien bloße Willkür, zeugt von Ignoranz. Das Kapital der Demoskopen ist die Realitätsnähe ihrer Aussagen; auf dieser Grundlage erhalten sie neue Aufträge. Die verschiedenen Institute haben verschiedene UmfrageMethoden entwickelt: Die einen wandern von Tür zu Tür, die anderen telefonieren. Dabei kommt es weniger auf die Zahl der Befragten an, die gerne als viel zu niedrig belächelt wird, sondern vielmehr auf die Zusammensetzung der Antwortenden. Die ist selten repräsentativ. Zudem reagieren die Befragten häufig auf vermeintliche Erwartungen der Interviewer – bei Tests wurden auch schon Politiker als „gut“ bewertet, deren Namen frei erfunden waren. Deshalb ist die Gewichtung der Rohdaten entscheidend. Hier differieren die Institute – mal sind sie näher an der Wirklichkeit, mal weiter entfernt, doch Fälschungen verbreiten sie nicht. Wer sich von Demoskopen ewige Wahrheiten statt nur Momentaufnahmen erwartet, der wird enttäuscht. Sozialforschung ist keine exakte Wissenschaft. Das liegt aber an ihrem Gegenstand, der so faszinierend wandelbaren Gesellschaft. Wähler werden immer flatterhafter. Doch damit werden die Politiker am Wahltag noch viel größere Probleme haben als heute die Umfrage- Institute. (jv). 7 Beispiel 4.5 (Spitzbuben und Zahlendeuter) Quelle: Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, MEINUNGSSEITE, Donnerstag, 19. September 2002, Deutschland Seite 4 Nicht die Wahlumfragen sind überflüssig, sondern wichtigtuerische Reden darüber Bei der Interpretation ihrer Umfragezahlen benehmen sich Meinungsforscher bisweilen wie die Weinexperten bei der großen Verkostung: Sie machen allerlei Brimborium, schnuppern, verdrehen bedeutsam die Augen und geben Bewertungen über Trends und Entwicklungen ab, von denen man nicht genau weiß, worauf sie sich eigentlich stützen. Beim Wein ist das eine Geschmacksfrage, bei Wahlumfragen grenzt das an Volksverdummung. Wer auf kleinsten Zahlenunterschieden gewaltige Interpretationsgebäude errichtet, ist unseriös. Alle Wahlumfragen beruhen auf Stichproben, sie haben eine breite Fehlermarge. Wer ungeachtet dessen auf der Basis von angeblich 0,3 Prozent Unterschied zwischen den Parteien große Folgerungen zieht, treibt mit seinen Zahlen Schindluder. Er ist Parteipropagandist, nicht Meinungsforscher – weil er zwar um die begrenzte Aussagekraft seiner Zahlen weiß, aber alles tut, um dies zu leugnen. Natürlich haben die Parteileute Interesse daran, Trends aufzublasen: Sie rechnen mit dem so genannten BandWaggon-Effekt, damit also, dass es die meisten Wähler dahin zieht, wo die Musik am lautesten spielt. Ein Meinungsforscher, der mit solchen Überlegungen seine Zahlen bewertet, ist nicht Forscher, sondern Partei-Animateur. Im Wahlkampf 2002 darf man sich über solche wissenschaftlich verbrämte Animation mit Fug und Recht ärgern: Der Eindruck ist manifest, dass Institute, bevor sie die von ihnen ermittelten Zahlen in die Hand nehmen, Handschuhe in bestimmten Parteifarben anziehen. Allensbach zum Beispiel trägt ganz offensichtlich die schwarzen. Friedrich der Große hat einst in ähnlicher Situation drastisch reagiert. Weil die preußischen Advokaten mit den Gesetzen voreingenommen, spektakelhaft und gebührentreiberisch umgingen, befahl der König ihnen am 15. Dezember 1762 per Kabinettsordre „das Tragen eines wollenen schwarzen Mantels“, damit man, wie es hieß, „die Spitzbuben von weitem erkenne und sich vor ihnen hüten“ könne. Wohlgemerkt: Der königliche Zorn richtete sich nicht gegen das Arbeitsmaterial der Rechtsanwälte, die Gesetze und Paragrafen. Er richtete sich gegen den schindluderischen Umgang damit. Und so richtet sich der Unmut in Vorwahlzeiten auch nicht gegen die bei Umfragen ermittelten Zahlen, sondern gegen den wichtigtuerischen und verfälschenden Umgang damit. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat vorgeschlagen, die Veröffentlichung von Umfragezahlen eine Woche vor der Wahl zu verbieten. Ein solches Verbot gibt es beispielsweise in Frankreich. Umfragen werden dort gleichwohl gemacht – und dann eben nicht in französischen, sondern in belgischen Zeitungen veröffentlicht. Verbote mögen also gut gemeint sein, sind aber wirkungslos. Sie lassen sich im übrigen mit dem Reden vom mündigen Bürger nicht vereinbaren: Dieser will möglicherweise die allerletzten Umfragedaten kennen, um dann taktisch zu wählen. Der mündige Bürger muss eben unterscheiden lernen: zwischen den Umfragezahlen und dem Gerede über diese Zahlen. 8 Beispiel 4.6 (Nur keine Fehler) Was macht eigentlich ein Meinungsforscher? Achim Neuhäuser hat sich bei Emnid angesehen, wie 1200 Interviewer das Volk befragen. Das schwarze Brett im Flur ist über und über mit orangen, gelben, blauen und weißen Zetteln behängt. Wohnungen werden angeboten, Nachhilfeunterricht wird gesucht. An dem Brett vorbei führt eine Schlange von etwa 50 jungen Männern und Frauen, die am Ende des Ganges im nächsten Raum verschwindet. Es geht zu wie in einem Bafög-Amt. Aber der junge Mann mit dem kahlen Kopf, der am Ende der Schlange hinter dem Schreibtisch sitzt, genehmigt keine Anträge. Er vergibt die Arbeit des Tages. Die jungen Menschen sind freie Mitarbeiter beim Berliner Büro des Umfrage-Instituts Emnid. Auswahl per Zufallsgenerator Etwa 80 Prozent der Mitarbeiter bei Emnid sind zwischen 18 und 22 Jahren alt. Der Rest sind Rentner, Hausfrauen und Arbeitslose.Das Institut hat 1200 freie Mitarbeiter in seiner Personal-Kartei. Soviel sind nötig, um Tag für Tag die 180 Arbeitsplätze in der Berliner Emnid-Dependance zu besetzen. Vassilios Saroglou, 27, ist einer von ihnen. Seit über einem Jahr sitzt der gebürtige Grieche drei Mal in der Woche mit einem Kopfhörer ausgestattet vor einem der Computer im Emnid-Callcenter. Per Zufallsgenerator wählt der Rechner Telefonnummern. Wer dann rangeht, darauf hat Vassilios Saroglou keinen Einfluss. Einmal hat ihn am anderen Ende der Leitung der Anrufbeantworter einer professionellen Domina begrüßt. Beschimpft „Mit der Zeit lernt man, ein Telefoninterview zu moderieren“, sagt Saroglou. Dennoch passiert es, dass er derbe beschimpft wird oder ein Interviewpartner nicht versteht, worum es geht. „Dann breche ich das Interview möglichst höflich ab“, sagt er. Im Durchschnitt dauert ein Interview 20 bis 25 Minuten. Zwischen 500 und 36.000 Personen müssen abtelefoniert werden - je nachdem, wieviel der Kunde bezahlen will. Die Preisspanne erstreckt sich von 400 bis 1,8 Millionen Euro. Die Studienleiter von Emnid berechnen neben Länge und Anzahl der Interviews noch einen dritten Faktor in den Preis mit ein. Damit aus der Masse an gesammelten Daten brauchbare Ergebnisse werden, müssen die Bielefelder Demoskopen die Antworten gründlich auswerten. Die Fragen der Interviewer drehen sich nicht nur um die klassische Sonntagsfrage. Die Auftraggeber aus Politik und Wirtschaft wollen wissen, ob Lieschen Müller mit der Postzustellung zufrieden ist oder ob sie das Internet nutzt. Bis zu 30 Studien laufen gleichzeitig pro Tag. Ab 17 Uhr starten die großen Bevölkerungsstudien. Damit man die Menschen auch zu Hause erreicht, wird bis zum gängigen Feierabend gewartet, bevor die Umfragen beginnen. Tagsüber werden die Befragten gezielt bei der Arbeit angerufen. An einem Tag etwa nur Ärzte, von denen ein Phamaunternehmen wissen will, welche Medikamente sie verschreiben. 9 Jeden Abend werden die gesammelten Daten per Standleitung in die Bielefelder EmnidZentrale gesendet und ausgewertet. Qualitätskontrolle Was wenn ein Interviewer schlampt, die Fragen womöglich selbst am Computer ausfüllt? „Wir hören stichprobenartig in die Interviews rein“, sagt Nadine Biermann, 27, Leiterin des Berliner Emnid-Büros. Sie hebt ihre Stimme, um gegen das Stimmengewirr im Großraumbüro anzukommen und erklärt die goldenen Regeln eines guten Interviews: Ein Interviewer muss die Fragen exakt vorlesen, darf nichts erklären und muss die Antworten der Befragten detailgetreu eintippen. Die Befragten sollen völlig unbeeinflusst auf die Fragen antworten können. Die Ergebnisse dürfen nicht verfälscht werden. Acht Supervisoren weisen die Mitarbeiter auf gute oder schlechte Interviews hin. Fehler werden akribisch in einer Datenbank dokumentiert. „Nur so können wir die Qualität der Umfragen gewährleisten“, sagt Biermann. Plötzlich steht eine junge Frau mit blauem Kopftuch vor Nadine Biermann. „Ich soll mich bei Ihnen melden“, sagt sie. „Du hast wahrscheinlich Scheiße gebaut“, sagt Biermann, als wenn ein Interviewer nur dann zu ihr geschickt wird. Die beiden gehen in Biermanns Büro. Fehler dürfen nicht passieren. (sueddeutsche.de) 10 Beispiel 4.7 (Forscher möchten mehr über Wähler wissen) Frage nach Geschlecht und Alter / Umfrageergebnisse sind den Statistikern zu ungenau csp Bonn (Eigener Bericht) – Wahlforscher fordern die Wiedereinführung der Repräsentativen Wahlstatistik. Mitarbeiter von privaten Meinungsforschungsinstituten, Statistikämtern und Universitäten haben an den neuen Bundestag appelliert, mit einem Gesetz noch vor der Wahl des Europaparlaments im kommenden Juni dafür zu sorgen, daß wieder „präzise Kenntnisses über das Wahlverhalten der Bundesbürger nach Geschlecht und Alter“ vorliegen. Joachim Hofmann-Göttig, Wahlforscher und Staatssekretär der rheinland-pfälzischen Regierung, sagte am Donnerstag in Bonn: „Wir brauchen die offizielle Wahlstatistik, denn nur so erhalten wir Informationen über das tätsachliche Verhalten bei Wahlen.“ Umfragen könnten dies nicht leisten. Die Repräsentative Wahlstatistik ist in der Weimarer Republik eingeführt worden. In der Bundesrepublik wurden seit 1953 bei jeder Wahl in ausgesuchten Wahlbezirken nach Geschlecht und Alter markierte Stimmzettel ausgegeben. 1994 wurde das Gesetz jedoch ausgesetzt. FDP-Politiker hatten datenschutzrechtliche Bedenken geltend gemacht und sich im Bundestag durchgesetzt. Bei Landtags- und Kommunalwahlen wurden die Daten weiter erhoben. Mit Hilfe der Auszählungsergebnisse der markierten Stimmzettel erhalten Forscher und Politiker ein sehr genaues Bild, wie Männer und Frauen in den jeweiligen Altersklassen in bestimmten Wohngegenden gewählt haben. Aufgrund dieser Daten konnte zum Beispiel festgestellt werden, daß die rechtsextremen Parteien hauptsächlich von jungen Männern gewählt werden. Die Parteien können diese Informationen zur nächsten Wahl für ihre zielgruppengenaue Werbung nutzen. Umfragen könnten dies nicht leisten, weil vor allem Wähler kleiner und extremer Parteien und Nichtwähler ihr tatsächliches Verhalten oft nicht angeben würden, erläuterte Hans-Dieter Klingmann vom Wissenschaftszentrum in Berlin. Die Wahlforscher wollen durch einen parteiübergreifenden Konsens eine klare gesetzliche Grundlage für diese Erhebungen erhalten. Zukünftig möchten sie die Briefwähler der ausgesuchten Wahlbezirke in die Erhebung mit einbeziehen. Die Ergebnisse sollen zudem schneller als früher kurz nach dem Wahltag vorliegen. Vor gut vierzig Jahren hat Hans Magnus Enzensberger ein Gedicht geschrieben, das Merkel und Geißler dem Vorsitzenden Schäuble gemeinsam überreichen könnten. Es heißt Anweisung an Sisyphos: „Was du tust, ist aussichtslos. Gut: du hast es begriffen, gib es zu, aber finde dich nicht damit ab, Mann mit dem Stein. Niemand dankt es dir.“