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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 15. April 2006 Betr.: Titel, Imame, U-Boot N INDEX STOCK / AVENUE achrichten, die in dieser Zeit aus der Region zwischen Euphrat, Tigris und Nil kommen, handeln meist vom Krieg und von Selbstmordattentaten. „Sie lassen vergessen“, sagt Titelautor Mathias Schreiber, 63, „dass in dieser Gegend einst eine beeindruckende Kultur blühte, welche die wichtigsten westlichen Werte hervorbrachte: das Ideal einer auf gleichen Rechten ruhenden Gemeinschaft freier Individuen etwa.“ Der Held dieser Geschichte, so Schreiber, sei der Hebräer Mose, der den Menschen der Überlieferung nach die Zehn Gebote übergab. In Archiven und in der Fachliteratur recherchierte Schreiber, um die zuweilen verwirrende Figur des ungewöhnlichen Propheten zu fassen. Dabei stieß er auch auf Kuriositäten: So wird Mose häufig, nicht nur durch die Skulptur des Michelangelo in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli, mit zwei seltsam anmutenden Stummelhörnern über der Stirn dargestellt. Der Grund dafür ist ein Übersetzungsfehler: In der Vulgata, der lateinischen Bibel, wurde aus dem „strahlenden Antlitz“ des Mose ein „gehörntes“ (cornuta) – deren Übersetzer, der Kirchenvater Hieronymus, hatte das Michelangelos Mose doppeldeutige hebräische Wort missverstanden (Seite 152). A bermillionen Muslime versammeln sich, wie es ihnen der Prophet aufgetragen hat, freitags zu Gebet und Predigt in der Moschee. Hetzreden einiger Imame mit unverblümten Aufrufen zur Gewalt haben auch in der islamischen Welt zu einer Debatte darüber geführt, wann die Grenzen der Toleranz überschritten sind. Aber was wird in den Moscheen tatsächlich gepredigt? SPIEGEL-Mitarbeiter und -Korrespondenten notierten am vorvergangenen Freitag in Moscheen in Ägypten, Indonesien, Iran, Nigeria, Pakistan, Palästina und in der Türkei, worüber die Imame sprachen: In GazaStadt war von „Angst und Furcht“ die Rede, die „in den Herzen“ der Israelis gesät werden sollten – am Vorabend hatte die israelische Armee Ziele im Gaza-Streifen angegriffen. In Teheran hörten die Gläubigen den Appell, „mit unserem Blut“ für das Recht Irans einzustehen, die „Technik der Gewinnung von Kernenergie zu beherrschen“, in Jakarta ging es um die Bekämpfung der Korruption. „Häufig geben Imame Lebenshilfe für den Alltag, manchmal wiegeln sie ihre Zuhörer aber auch auf“, sagt Bernhard Zand, 38, SPIEGEL-Korrespondent in Kairo (Seite 112). ieben Bootsstunden vor der Küste Panamas, am Strand der kleinen Pazifikinsel San Telmo, liegt ein Schiffswrack, das Seefahrtsgeschichte schrieb, aber über 130 Jahre als verschollen galt. SPIEGELRedakteur Sven Röbel, 33, und ein Team von SPIEGEL TV waren dabei, als Unterwasserarchäologen um den Amerikaner Jim Delgado, 48, die „Sub Marine Explo- Röbel (auf San Telmo) rer“ erforschten, ein Tauchboot des Baujahrs 1865. Julius H. Kroehl, ein um 1838 in die USA emigrierter Deutscher aus dem damals ostpreußischen Memel, hatte es als Kampfboot für den amerikanischen Bürgerkrieg konstruiert, letztlich wurde es im Pazifik für Tauchgänge nach Austern und deren Perlen eingesetzt. Die Forscher enträtselten die Technik des Schiffs, aber auch den Tod seines Erfinders: Kroehl wusste nicht, dass zu schnelles Auftauchen lebensgefährlich ist. „Die maritime Ingenieurskunst war der Medizin damals leider ein Stück voraus“, sagt Röbel (Seite 143). Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 5 SPIEGEL TV S In diesem Heft Titel Panorama: Elterngeld stößt auf Widerstand / Kritik an Kronzeugenregelung / Entführter Zammar will Deutschland verklagen ................ 19 SPD: Das Gerangel um die nächste Kanzlerkandidatur beginnt ............................... 24 Wie die Sozialdemokraten ihre Vorsitzenden verschleißen ..................................................... 28 SPIEGEL-Gespräch mit dem neuen Parteichef Kurt Beck über nötige Reformen, mögliche Partner in der Zukunft und die Vorzüge der Provinz ........................................ 37 Der designierte Beck-Vize Jens Bullerjahn gilt als harter Sanierer ...................................... 40 Außenpolitik: Angela Merkels diskreter Widerstand gegen Washington ......................... 42 Reformen: Der milliardenschwere Gesundheitssoli stößt in der Regierung auf Kritik ......................................................... 44 Verbrechen: Mysteriöse Mordserie macht Fahnder ratlos .................................................. 46 Justiz: Verbitterung über die mild bestrafte Todesfahrt eines Polizisten ................. 52 Strafvollzug: Hungertod eines Häftlings ......... 56 Europa: Berliner Parteiquerelen mindern deutschen Einfluss auf die Rechtsordnung ....... 60 Gesellschaft Szene: Ausstellung über Sport und Geist / Schokolade als Therapeutikum ........................ 62 Eine Meldung und ihre Geschichte .................. 63 Kernkraft: Das wahre Ausmaß der Tschernobyl-Katastrophe ................................. 64 Ortstermin: Wie in Berlin-Moabit die Hedwig-Dohm-Oberschule versucht, türkische Eltern zu integrieren .......... 73 Das rote Personalkarussell Seiten 24 bis 40 JOCHEN ZICK / KEYSTONE Deutschland Nach dem überraschenden Rücktritt Matthias Platzecks vom SPD-Vorsitz beginnt bereits der Stellungskampf um die nächste Kanzlerkandidatur. Neben dem designierten Parteichef Kurt Beck wollen sich auch die Minister Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel in Position bringen. Im SPI EGEL -Gespräch fasst Beck eine künftige „Renaissance des sozial-liberalen Modells“ ins Auge. Beck Vom Acker in den Tank Schneller als gedacht entwickeln Mineralölkonzerne und Autofirmen Alternativen zu den knapper werdenden fossilen Brennstoffen. Am einfachsten lässt sich Ersatz für Benzin, Diesel und Erdgas aus Biomasse gewinnen. Einige Kraftstoffe vom Acker werden bereits in großer Menge angeboten. Der ökosaubere Wasserstoff hingegen hat kaum noch eine Zukunft. Seite 124 VOLKER LISTL / ARGUM Der Prophet Mose und die Zehn Gebote ........ 152 Biogas-Anlage (in Bayern) Wirtschaft Trends: RAG streicht 1500 Stellen / Regierung erwartet stärkeres Wachstum / Handel attackiert Kündigungsschutzpläne ....... 75 Autoindustrie: Jahrelang wurden die Probleme bei VW verschwiegen und verdrängt... 78 Standorte: Polnische Sonderwirtschaftszonen locken deutsche Unternehmen mit üppigen Steuerrabatten .............................. 86 Globalisierung: Interview mit dem HarvardÖkonomen Kenneth Rogoff über den ungezügelten Kapitalismus und dessen Folgen ... 90 Tourismus: Die merkwürdigen Marketingmethoden von Billigweg.de .............................. 95 Der tödliche Fehler eines Kommissars Weil er sich auf der Wache mit Whisky betrank, fuhr ein niedersächsischer Polizeikommissar einen Jugendlichen tot. Die milde Bestrafung und die Frühpensionierung des Beamten schüren Wut und Hass im Ort des Dramas. Mehr Kinder ins Fernsehen? Seite 102 Medien HARDY SPITZ / ARD Trends: Sat.1 schickt Familien in den Busch / Kardinal Lehmann attackiert MTV .................. 99 Fernsehen: Vorschau / Rückblick ................... 100 TV-Programm: Im Fernsehen gibt es noch weniger Kinder als in der Realität ................... 102 Sport-Marketing: Interview mit dem Fifa-Manager Gregor Lentze über das rigide Sponsorenschutzprogramm des Fußball-Verbands ...................................... 104 8 Seite 52 Die Geburtenrate im Fernsehen liegt mit 0,48 Kind pro TV-Frau noch weit unter der Realität, der Fernsehheld von heute ist meist kinderlos. Zu den wenigen Ausnahmen zählt die ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“. Sie steht für eine Fernsehwelt, in der auch Familien einen Platz haben. „Türkisch für Anfänger“ d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Ausland Panorama: Washington überschätzt die Rolle des irakischen Terror-Paten Sarkawi / Frankreichs Premier Villepin steht weitere Protestwelle ins Haus / Weltfinanz-Zentrum im chinesischen Pudong ................................. 107 Italien: Prodis magerer Sieg ........................... 110 Islam: Was Imame predigen – SPIEGEL-Dokumentation der Freitagsgebete 112 Vatikan: Der Papst, der seine Kritiker überrascht ....................................................... 116 Afghanistan: Rückfall in unsichere Zeiten .... 119 Global Village: Die ersten Supermärkte erreichen Hanoi .............................................. 122 ANDREW MEDICHINI / AP Prodi Serie Italien: Glanzloser Sieger Seite 110 Eine Zeitenwende sollte es sein, doch Romano Prodi brachte es nur zu einem matten Erfolg. Italien ist in zwei gleich große politische Lager gespalten – und Prodi muss mit seinem Bündnis aus neun Parteien einen Weg aus der Krise des Landes finden. GAMMA / STUDIO X Tod in Tschernobyl Seite 64 Um 1.24 Uhr am frühen Morgen des 26. April 1986 barsten die Brennstäbe, radioaktiver Staub wurde in die Atmosphäre geschleudert – die Welt erlebte in Tschernobyl ihre größte technische Katastrophe. 20 Jahre danach streiten Wissenschaftler über das Ausmaß des Atomunfalls. Seite 136 KARSTEN SCHÖNE Schulausflug ins Forschungslabor Schüler beim Experiment Szene: Regisseur Jürgen Flimm über die Ruhrgebietsmetropole Essen als europäische Kulturhauptstadt / Tanzkongress in Berlin: „Wissen in Bewegung“ ................................... 149 Theater: Amerikas Weg in den Irak-Krieg auf der Bühne ................................................. 166 Film: François Ozons Sterbedrama „Die Zeit die bleibt“ ....................................... 170 Karikaturen: Israelische Künstler wetteifern um die witzigsten antisemitischen Zeichnungen 172 Bestseller ...................................................... 175 Kunst: Der Maler Jonathan Meese über seine Großausstellung in Hamburg und den bösen Radikalismus seiner Werke ............ 176 Spektakel: André Hellers Wut über das verpatzte WM-Kulturprogramm ...................... 178 Sport Mit dem Druck umgehen TEAM 2 / ULLSTEIN Wissenschaft · Technik Prisma: Betrunkene Blumen blühen schöner / Entlassungen aus der Klinik sind freitags riskanter ........................... 133 Bildung: Schulunterricht im Forschungslabor .. 136 Medizin: Neue Regeln für die Erste Hilfe beim Herzstillstand ......................................... 138 Fortpflanzungsmedizin: Eizellen auf Eis – wie Ärzte die biologische Uhr austricksen wollen ........................................... 140 Seefahrt: Der Fund eines rätselhaften U-Boot-Wracks bringt Forscher auf die Spur eines genialen Konstrukteurs aus Deutschland ............................................. 143 Kultur Zerstörter Reaktor Bereits über 200 Schülerlabors an Universitäten und Instituten bieten praxisnahe Forschung für Kinder und Jugendliche. Die Mitmach-Experimente wecken Begeisterung für oft unbeliebte Fächer wie Physik und Chemie. Die Ausflüge in die reale Wissenschaft sollen auch dazu beitragen, Nachwuchs zu gewinnen. Der Kampf um die Rohstoffe (4): Wachsen die Kraftstoffe der Zukunft auf dem Acker? .............................................. 124 Seite 182 Kaum wurde Jens Lehmann zum Nationaltorwart Nummer eins bestimmt, da kündigte auch dessen Rivale Oliver Kahn seine WM-Teilnahme an. Bei Arsenal London habe er gelernt, sagt Lehmann im Interview, mit Druck umzugehen: „Ich habe erlebt, wie es ist, um meine Existenz zu spielen.“ Lehmann Segeln: Internet-Milliardär Ralph Dommermuth – der Mann hinter der ersten deutschen America’s-Cup-Teilnahme .... 180 Fußball: Interview mit Jens Lehmann über seine neue Rolle als Nummer eins der deutschen Elf, seine Fitness und Oliver Kahn ... 182 Briefe ............................................................... 10 Impressum, Leserservice ........................... 184 Chronik .......................................................... 185 Register ......................................................... 186 Personalien ................................................... 188 Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 190 Titelbild: Fotos Scala, AKG (2), dpa, AP (3), Reuters d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 9 Briefe Autor wie schreibt. Wenn er seinen eigenen Ansatz Revue passieren lässt, muss er konstatieren: „Ich hab es durch Intuition.“ Nichts bleibt von haarspalterischen Debatten um das, was Realismus letztlich ausmachen soll, reduziert er sein Schreiben doch selbst auf „Dunkelschöpfung, ins Licht gerückt“, wie es an anderer Stelle heißt. „Beim Lesen des Titel-Artikels fiel mir spontan ein Spruch aus meiner Schulzeit ein: „Denke nie, gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.“ Volkmar Lohse aus Filderstadt zum Titel „Gefühltes Wissen – Die Erforschung der Intuition“ In jedem Moment, immer wieder Nr. 15/2006, Titel: Gefühltes Wissen – Die Erforschung der Intuition Es ist immer wieder bemerkenswert, wie in der Psychologie und Neurobiologie mit großem finanziellem und personellem Aufwand Banalitäten wissenschaftlich bewiesen werden. Es ist doch Allgemeinwissen und völlig banal, dass Intuition einen Einfluss auf Entscheidungen hat und dass dies im Hirn physiologische Spuren hinterlässt. Wo denn wohl sonst? Die Forschungsgilde könnte sich großen Aufwand sparen, wenn sie ihre eigenen Ergebnisse zuerst mal intuitiv vorhersagt, bevor sie solch einen Aufwand macht. Engelberg (Schweiz) wollen und trotzdem aktiv zu bleiben, mutet dem westlichen Denken unheimlich an, ist aber zum Beispiel dem japanischen Zen-Buddhismus selbstverständlich: Wer Eindrücke nicht krampfhaft analysiert, sondern vertrauensvoll ausagieren kann, wird spontan und sicher und schafft sich seine eigene authentische Welt. Was bleibt uns auch anderes übrig? Als neurologisches Phänomen passiert Intuition sowieso in je- Psychologin, Testperson Hofheim (Hessen) Quelle der Erkenntnis Sie tun Hegel unrecht, wenn Sie ihn, quasi gegen die Intuition, als Gefühlsskeptiker ins Feld führen. Wie Ihr Titel „Gefühltes Wissen“ richtig ausdrückt, geht es um Wissensinhalte, die über Gefühl vermittelt werden, und nicht um subjektive Gefühlsinhalte. Letztere sind es aber, die Hegel als „Hausmittel“ anspricht, die in der Rechtsprechung nichts zu suchen haben. In Ihrem Artikel werden solche Unterscheidungen nicht getroffen. Zudem werfen Sie Begriffe wie Verstand, Geist und Vernunft in einen Topf mit der Aufschrift „Nicht-Gefühle“. Bei Hegel aber drückt der Begriff Vernunft die Fähigkeit aus, feste Verstandes-Bestimmungen und zufällige Gefühlsinhalte zu vermitteln, um so der Wirklichkeit als Ganzem gerecht zu werden. Helga Klöpping Plötzliche Eingebungen werden von „kritischen Zeitgenossen“ gern geleugnet, doch ermöglicht Intuition das Erleben einer Welt, die im ständigen Fluss ist. Diese Fähigkeit, nichts willentlich erzwingen zu 10 Reinhard Fink Heimlicher Gegenentwurf Alexander Koerdt Dr. Elmar Ernst Lüdenscheid (Nrdrh.-Westf.) Nr. 14/2006, Alte Sprachen: Wachsendes Interesse für Latein und Griechisch an deutschen Gymnasien Gehirnforschung, Kasperletheater, der hinkende Bote von oben zum Bauch. Vergessen der Mensch, im Urstromtal geprägt, mit einem Rest von Unverstand. Dortmund Intuition als unmittelbares Erfassen des Wesenskerns einer Sache hat Kant nicht infrage gestellt, wohl aber, dass es keine Ausnahmen von den selbst wahrgenommenen Regeln gibt. Diese Ausnahmen wahrzunehmen, bedarf es, wie er hinlänglich bewiesen hat, der Vernunft. Damit will sich die Feeling Philosophy bis heute nicht abfinden und sucht Trost im Unterbewusstsein. Im Übrigen hat Henri Bergson schon vor 100 Jahren die Intuition als sicherste Quelle der Erkenntnis beschrieben und damit den Irrationalisten aufs Fahrrad geholfen. Die Phänomenologen scheinen auf einem guten Weg dorthin. MARTIN JEHNICHEN SPIEGEL-Titel 15/2006 Dinslaken (Nrdrh.-Westf.) Hans-Peter Fischer dem Moment immer wieder mit allen. Intuition darf aber nicht mit bloßer subjektiver Meinung verwechselt werden, melden sich doch beim Erwachsenen, wie der Autor schön beschreibt, zu viele im Bewusstsein abgespeicherte automatisierte Vorurteile scheinbar spontan als pseudointuitive Erkenntnis. Berlin Timur Diehn Kein Geringerer als Fontane stellt alle Realismusdebatten auf den Kopf, also alle Versuche, per Verstand zu erklären, was der Selbst Absolvent eines humanistischen Gymnasiums (Abitur 1958) habe ich den Beitrag mit großer Freude und Genugtuung gelesen. Vermisst habe ich lediglich einen Hinweis darauf, dass Latein Basis aller sogenannten romanischen Sprachen ist (Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch) und dadurch einen exzellenten Zugang zu diesen lebenden Sprachen vermittelt – zugegebenermaßen in erster Linie zu deren Schriftform. Backnang (Bad.-Württ.) Dr. Reinhard Till Habe nun, ach, Latein und Griechisch durchaus studiert und muss schmerzlich erkennen, wie sehr mir Französisch und Spanisch fehlen! Alte Sprachen als Einstieg in moderne Sprachen zu bezeichnen ist ungefähr so, als würde man fordern, erst Reiten zu lernen, bevor man den Führerschein macht. Und wer sein analytisches und logisches Denkvermögen schulen will, der schreibe ein Computerprogramm. Denn Vor 50 Jahren der spiegel vom 18. April 1956 Das erste gezeichnete SPIEGEL-Titelbild Rudolf Augstein an die Leser. Erregte Debatte im Bundestag Die Zwiebeltürme des Kreml. Musterprozess um Vaterschaftserklärung für „Besatzungskinder“ Über alle Berge und Meere. Erinnerungsfeier zur SPD-Urabstimmung gegen Zusammenschluss mit der KPD Der neue Stil. Nachwuchsmangel im Handwerk Lehrlinge können wählerisch sein. Moskauer Anti-Stalin-Kurs Frohlocken und Trauer. Verbot von „Felix Krull“ in Irland Sonderbares Zensursystem. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Titel: Giorgio La Pira, Bürgermeister von Florenz d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Briefe Lehrern et cetera geprägt ist, weil eine bestimmte Klientel von Schülern/Eltern außen vor ist. Das ist sozusagen der heimliche Gegenentwurf zur Gesamtschule. Antike Statuen im Kolosseum (Rom) Kohorte statt Songtext der Computer ist erbarmungslos konsequent und kennt keine unregelmäßigen Verben. Bergisch Gladbach Dieter Hahne Alle tiefschürfenden Begründungen für die Hinwendung zu toten Sprachen sind nach meiner Erfahrung Hilfskonstruktionen. Der wahre Hintergrund für die Renaissance dieser Sprachen ist unausgesprochen ein anderer: Wer sich der Mühe unterwirft, diesen Bildungsweg freiwillig zu gehen, der findet mit Sicherheit ein schulisches Umfeld vor, das von Leistungsbereitschaft, Abwesenheit von Gewalt und Terror, psychisch intakten Krass spiegelverkehrter Sinn Nr. 11/2006, Zeitgeschichte: Wie die Links-Postille „Konkret“ von Kommunisten aus Ost-Berlin gesteuert wurde Meinen empirischen Erkenntnissen nach ist das wachsende Interesse an den „toten Sprachen“ eine Reaktion auf die zunehmende Verdummung der Gesellschaft und dem damit verbundenen Verlust unserer Werte und Traditionen. Die LateinschülerInnen erkennen, dass wir uns zu diesen Wurzeln rückbesinnen müssen, um nicht unser Gesicht zu verlieren. Umfragen unter Schülern und Studenten bestätigen das wachsende Interesse an Latein. Dabei streben unter 4200 Befragten 93,7 Prozent den Erwerb des Latinums an. Viele schreiben mir, dass ihnen Latein einfach Spaß macht. Bexbach (Saarland) Marc Keller Webmaster der Lateinseite www.latein24.de Es ist doch inzwischen bewiesen, dass diejenigen Eltern, die in ihrer Kindheit geschlagen worden sind, ihre Kinder ebenfalls schlagen. Genauso verhält es sich mit dem Lateinlernen. Wer sich in seiner Schulzeit damit rumquälen musste, tut das gleiche gern heute seinen Kindern an. Meidervätern gehört und bin im Zusammenhang mit Klaus Röhl auch nie unter der Doppelchiffre „R. und R.“ intim gewesen, aber wo dem sogenannten investigativen Journalismus die Puste ausgeht, ist der altgermanische Stabreim natürlich ein treffliches Mittel, um Lesern eine glatte Unterstellung als vermeintliche Tatsache einzubleuen. Es ist noch um einiges ärger. So findet sich im Tempelfries Ihres Phantasiegebäudes beispielsweise ein Doppelporträt von Röhl und mir aus dem Jahre Leider lässt der Artikel „Rosen aus OstBerlin“, der sich eingehend mit dem Buch „So macht Kommunismus Spaß!“ von Bettina Röhl befasst, jenen Erkenntnisgewinn vermissen, den das Buch selbst seinen Lesern keineswegs vorenthält. Während sich dort die unterschiedlichsten Rosenkavaliere wegen ihrer Verdienste bei der Gründung der Zeitschrift „Studentenkurier“ (später „Konkret“) aus dem Fenster hängen (beispielsweise die KP-Funktionäre Klaus Hübotter und Manfred Kapluk), und die Person P. R. allenfalls als Zielobjekt figuriert, lesen sich die Vorgänge bei Ihnen in einem krass spiegelverkehrten Sinn. So heißt es bei Ihnen: „Bereits der von Röhl und seinem Intimus, dem Lyriker Peter Rühmkorf, 1955 gegründete ,Studentenkurier‘ schöpft Autor Rühmkorf aus trüben Quellen. ,R. und R.‘, wie sich Ein treffliches Mittel die Freunde in der bewegten Hamburger Szene nennen, können das Blatt nur 1969, das zwar die Jahreszahl nicht ausauf den Markt bringen, weil sich ihnen spart, nur dass die Bildunterschrift ein dritter Mann hinzugesellt. Der heu- „,Konkret‘-Gründer Rühmkorf, Röhl: te in Bremen lebende Bauunternehmer Im Propaganda-Krieg des geteilten Klaus Hübotter – ehedem Mitglied der Landes der wichtigste Außenposten“ verbotenen Freien Deutschen Jugend – zwei ungleich mit der Zeitschrift bebietet sich ihnen als Geldbeschaffer an.“ fasste Personen zu einem kooperierenNun habe ich zwar nie zu den Grün- den Agentenduo zusammenblendet. 14 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 MICHAEL ZAPF / AKG SÄMMER / IMAGO Ostermünchen (Bayern) Dr. Friedrich Wörndle ne Freunde kannten die Songtexte der Beatles, ich kannte den Aufbau einer Kohorte. Aber Hauptsache elitär! Und wozu das alles? Meine Kollegen sind mit Fremdwörtern, klugen Sprüchen (si tacuisses) und Grammatik genauso fit wie ich, nur haben sie den Vorteil, dass sie neben fließend Englisch und Französisch eben noch Spanisch oder Russisch sprechen und sich nicht jahrelang mit einer toten Sprache rumquälen mussten, in der man sich nicht einmal unterhalten kann. Carpe diem! Offenbach Herbert Pfaff-Schley Aussagen wie Ohrfeigen Nr. 14/2006, Psychologie: SPIEGEL-Gespräch mit der Oberstaatsanwältin Gabriele Gordon über sexuellen Missbrauch und ihren neuen Kriminalroman Selten eine so luzide Aussage gehört wie die von Gabriele Gordon-Wolff, die ich aus einer gemeinsamen Krimi-Lesenacht noch gut in Erinnerung habe. Endlich kann ich belegen, was zu sagen ich mich in den frühen Frauengesprächskreisen nicht getraute: Ach, die Erinnerung an diesen grässlichen Missbrauch kommt dir erst jetzt nach zehn Jahren nach den Fragen einer Therapeutin?! Dortmund Gisa M. Zigan Während das Röhl-Buch von zahlreichen konspirativen Treffen etlicher Redaktionsmitglieder und KP-Instrukteure berichtet und mich an keiner Stelle als Teilnehmer aufführt, was Sie eigentlich hätte stutzig machen müssen, manipuliert Ihr Bericht mich unübersehbar in die Rolle eines heimlichen Strippenziehers oder „willigen Vollstreckers“. Dass ich selbst bei der Lektüre des Röhl-Buches von einem Rücken auf den anderen gefallen bin, will ich Ihnen nicht vorenthalten. Auch nicht, dass meine unhonorierte Mitarbeit unter sechs Pseudonymen der Zeitschrift gewaltig an intellektueller Reputation beigetragen hat – es erschiene mir scheinbescheiden, Leslie Meiers oder Johannes Pontares Beiträge schamvoll unter den Scheffel zu stellen. Abgesehen von den wirklichen literarischen Exzellenzen, die ich für das Blatt eingeworben und zur Mitarbeit ermuntert habe: Hans Henny Jahnn und Kurt Hiller, Alfred Döblin und Robert Neumann, Arno Schmidt oder Karlheinz Deschner oder Jürgen Manthey – alles nützliche Idioten selbstverständlich oder – wie Sie sie fatalerweise zu nennen belieben – „willige Vollstrecker“, was Ihrem Artikel dann doch wohl einen recht speziellen Hautgout verleiht. Hamburg Peter Rühmkorf Briefe Die Aussagen von Frau Gordon stellen wohl für jedes tatsächliche Missbrauchsopfer eine Ohrfeige dar. Des Weiteren halte ich es für gewagt, die Zahl von jährlich 200 Anzeigen aus der Provinz Brandenburgs als repräsentativ anzusehen und gleichzeitig die Dunkelziffer als „übertrieben“ zu bezeichnen. Was sie unerwähnt lässt, ist, dass die Manipulierbarkeit von kindlichen Erinnerungen ebenfalls von Tätern ausgenutzt wird. Was nach dem Lesen des Interviews bleibt, ist das ungute Gefühl, dass es tatsächliche Missbrauchsopfer geben könnte, die durch das Raster gefallen sind. Denn dass sich Gutachter irren können, ist ebenso bekannt wie auch menschlich. Leipzig Christopher Lüdtke Atemberaubend einfältig Nr. 14/2006, Katastrophen: Nach dem Einsturz der Eishalle will Bad Reichenhall schnell Ruhe haben Bei der Lektüre Ihres Berichts zum Unglück von Bad Reichenhall ballt sich mir die Faust in der Tasche. Totschweigen und Wegsehen scheinen immer noch viel zu weit verbreitete Untugenden in Deutschland zu sein. Der Zusammenhalt, der sich hier beim kollektiven Verdrängen offenbart, sollte sich sinnvollerweise in der vorbehaltlosen Aufarbeitung der Tragödie widerspiegeln. Ein beschämendes Armutszeugnis kleinbürgerlichen Realitätsverlustes. Köln Ein friedliches Miteinander Nr. 12/2006, Islamisten: Geheimdienstler suchen nach Radikalen in Deutschlands Moscheen Wir haben den Beitrag im SPIEGEL gelesen, in dem die hiesige Moschee zu unserem großen Erstaunen unter 39 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als radikal eingestuften Moscheen genannt worden ist. Dass unsere Moschee irgendwie eine Rekrutierungsstätte für Radikale sei, ist grotesk. Die Interkulturellen Wochen oder die Tage der Offenen Moschee dokumentieren unser gemeinsames Anliegen eines friedlichen Miteinanders der Schweriner, gleich welcher Weltanschauung. Dass der Artikel unsere jahrelange Kleinarbeit gefährdet, ist sehr bedauerlich, zumal damit auch zugleich das Image unserer Stadt selbst geschädigt wird, indem Schwerin nun als eine Art Terror-Rekrutierungsstelle gilt. Mein doppeltes Beileid an Herrn Zauner! Als Familienvater kann ich den Verlust von Ehefrau und Mutter des Sohnes nachempfinden. Mein zweites Beileid aber dafür, dass sich die „Verantwortlichen“ der Stadt Bad Reichenhall so schändlich aus der Affäre ziehen. Hamburg Klaus Reese Die Ereignisse um die eingestürzte Eissporthalle als schicksalhaft zu betrachten ist atemberaubend unschuldig und einfältig. Hätten wir nicht Präzedenzfälle für derartige Vorgänge, würde ich das als Rei- Haiko Hoffmann Islamischer Bund in Schwerin e. V. Moschee „As-Salam“ DIETHER ENDLICHER / AP Schwerin Axel Zurhausen Rückzug ins Private Nr. 14/2006, Debatte: Schriftstellerin Nahed Selim plädiert für ein neues Koranverständnis Eingestürzte Eishalle in Bad Reichenhall Totschweigen und Wegsehen Wann hören wir endlich auf, Religionen zu behandeln, als ob sie Trägerinnen ewiger Wahrheiten seien; wann sehen wir sie als kulturelle Systeme, welche die Umstände ihrer Entstehungszeit widerspiegeln? Wann sind wir so ehrlich, zuzugeben, dass wir die Etablierung der „humanistischen Prinzipien“ niemals der Religion, sondern jenen Aufklärern zu verdanken haben, welche sich aktiv gegen die Religion gewandt haben und wenden? Tübingen (Bad.-Württ.) 16 Koblenz Gerhard Birkhahn Matthias Rude So viel Aufklärung war selten. Dieser Artikel wäre als Pflichtlektüre für Koranschulen und Religions- beziehungsweise Ethikunterricht ein guter Anfang. Religionen sollten sich mehr in die Privatsphäre zurückziehen. Berlin chenhaller Regional-Kungelei abtun. Die Ereignisse rund um den Dacheinsturz geben dagegen eine unmissverständliche Antwort auf die Schuldfrage: Eine Holzdachkonstruktion wird durch eine undichte Dachhaut in ihrer Tragfähigkeit insgesamt herabgesetzt. Für den Zustand der teilweisen Durchfeuchtung wurde sie statisch nicht berechnet. Harry Rehm d e r Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden sich Beilagen der Firmen Weltbild Verlag, Augsburg, sowie SPIEGEL-Verlag/Kooperation (G+J), Hamburg. s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Deutschland Panorama ARBEITSMARKT FA M I L I E N Union bei Kombilöhnen einig Elterngeld auf der Kippe D ie Union hat sich auf die Eckpunkte für das geplante bundesweite Kombilohnmodell geeinigt. Nach dem Konzept ihrer Generalsekretäre Ronald Pofalla (CDU) und Markus Söder (CSU) sollen die Lohnzuschüsse ausschließlich an bestimmte Problemgruppen des Arbeitsmarktes fließen. Nach dem Konzept soll der Staat künftig die kompletten Sozialbeiträge für gering qualifizierte Langzeitarbeitslose unter 25 und über 50 Jahre übernehmen, die einen Job im Niedriglohnbereich antreten. Mit einem so ausgestalteten Kombiverdienst könnten bundesweit bis zu 600 000 Erwerbslose gefördert werden. Die Kosten des Programms betragen nach Schätzung der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit zwischen einer Milliarde und 1,5 Milliar- I den Euro. Sie sollen durch Einsparungen im übrigen Etat der Behörde finanziert werden. Bereits in der vergangenen Woche hatte die nordrhein-westfälische Landesregierung ein ähnliches Kombilohnmodell vorgelegt. Das politische Ziel der Bundesregierung ist es, die Zahl der Arbeitslosen unter die Vier-MillionenMarke zu drücken. GASPROM-BÜRGSCHAFT Kanzleramt informiert Ü DMITRY ASTAKHOV / DPA ber die umstrittene Bürgschaft für einen Milliardenkredit an Gasprom hat das Bundeswirtschaftsministerium das Kanzleramt doch informiert. Am 15. Dezember vergangenen Jahres, gut drei Wochen nach der Regierungsübernahme durch Angela Merkel (CDU), sei das Kanzleramt auf Arbeitsebene von Beamten des Schröder d e r Wirtschaftsministeriums über den Vorgang unterrichtet worden, erklärte Wirtschaftsstaatssekretär Bernd Pfaffenbach am vergangenen Dienstag vor Abgeordneten des Haushaltsausschusses. Die Information habe „routinemäßig“ im Rahmen einer Gesamtdarstellung der energiewirtschaftlichen Beziehungen zu Russland stattgefunden. s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 HAEBERLE / STERN / LAIF UTA RADEMACHER BERND ARNOLD / VISUM Niedriglöhner (in Köln) n Union und SPD formiert sich massiver Widerstand gegen das von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) geplante Elterngeld. Inzwischen wenden sich mehrere CDU-MiVon der Leyen nisterpräsidenten, die CSU-Landesgruppe sowie führende CSU-Repräsentanten gegen zentrale Punkte des ambitionierten Milliardenprojekts der Ministerin, mit dem eine grundlegende Korrektur in der Familienpolitik eingeleitet werden soll. Das Elterngeld bemisst sich am Einkommen der Familie – und es soll nur dann volle zwölf Monate gewährt werden, wenn auch Männer nach der Geburt des Kindes mindestens zwei Monate zu Hause bleiben. Vor allem an diesen sogenannten Vätermonaten entzündet sich Kritik. „Es ist nicht Aufgabe des Staates, in die Erziehungsverantwortung der Familien einzugreifen“, sagt Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus. Sein sächsischer Kollege Georg Milbradt warnte vor einer Bevormundung der Eltern: „Es geht darum, dass mehr Kinder geboren werden, und nicht, wer spült.“ Der bayerische Landtagspräsident Alois Glück sprach von einer unzulässigen „Einmischung der Politik in private Lebensverhältnisse“. Linke in der SPD wiederum bekämpfen das Elterngeld als sozial ungerecht. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach sagte, ein Elterngeld, das sich am Einkommen der Familie ausrichte, widerspreche den Grundsätzen seiner Partei. Um ihr wichtigstes Vorhaben zu retten, ist von der Leyen inzwischen zu Zugeständnissen an ihre Kritiker bereit. So plant das Familienministerium ein Mindestelterngeld von 300 Euro pro Monat, das unabhängig vom Engagement des Vaters und vom vorherigen Einkommen gewährt wird. Um der SPD-Linken entgegenzukommen, soll dieser Sockelbetrag zusätzlich zu ande- ren Sozialleistungen wie Hartz IV bezahlt und nicht verrechnet werden. Den konservativen Flügel der Union will von der Leyen mit einer Regelung für mehrfache Mütter ködern. Diese sollen auch dann Elterngeld bekommen, wenn sie längere Zeit nicht mehr gearbeitet haben. Von der Leyen will den Referentenentwurf für das Elterngeld nach Ostern vorlegen. Ein Mann aus der Führungsspitze der Union ahnt: „Wenn es ihr nicht gelingt, bald einen Kompromiss zu erzielen, ist das Elterngeld tot.“ Vergangene Woche hatte Pfaffenbach erklärt, er habe Merkels Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) absichtlich nicht in die Angelegenheit eingeweiht, um politische Einmischung zu vermeiden. Diese Gefahr bestand nach dem Kanzlerwechsel offenbar nicht mehr. Auch Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sind schon seit langem über die Bürgschaft informiert. Glos wurde von seinen Beamten Anfang Dezember 2005 kurz vor seinem Antrittsbesuch in Russland über den Deal aufgeklärt, Steinbrück von seinen Mitarbeitern in der ersten Januarwoche. 19 Panorama H O C H WA S S E R Wut über die Flut D ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES ie neuerliche Jahrhundertflut an der Elbe hat für eine handfeste Verstimmung zwischen ost- und westdeutschen Politikern gesorgt. Am vorigen Mittwoch schickte Brandenburgs Umweltminister Dietmar Woidke (SPD) einen ernsten Brief an seinen niedersächsischen Amtskollegen Hans-Heinrich Sander (FDP), in dem er Schuldzuweisungen für die dramatische Lage in den niedersächsischen Hochwassergebieten zurückweist. „Mit großer Verwunderung“, so Woidke, habe er „zur Kenntnis genommen, dass als mögliche Ursache für die Überschwemmung der Stadt Hitzacker die nicht erfolgte Flutung der Ha- Überschwemmung in Hitzacker velpolder ins Gespräch gebracht wurde. Ich möchte Sie hiermit bitten, solchen Mutmaßungen entschieden Sander hatte gewettert, dass die Bereitstellung der Polder Sache entgegenzutreten“. Auch ein Fluten der Rückhalteflächen in der Länder am Oberlauf des Flusses sei; sein Ministerpräsident Brandenburg und Sachsen-Anhalt, so Woidke, hätte das Hoch- Christian Wulff (CDU) hatte einen Länderstaatsvertrag über die wasser nicht verhindern können. Mit seinem Brief reagierte Flutung der Entlastungsflächen gefordert, „damit nicht mehr der Umweltminister auf zuvor geäußerte Kritik aus Hannover: so viel Wasser die Elbe abwärts fließt“. PA R T E I E N F I N A N Z I E R U N G LANDWIRTSCHAFT Undurchsichtige Darlehen Gefahr für Biohöfe STEFAN BONESS / IPON ngesichts des Skandals um geheime Kredite für die Labour Party in Großbritannien fordern Experten auch von den deutschen Parteien Auskunft über deren Darlehensgeber. „Nicht nur Spenden, gerade Darlehen an eine Partei können Chancen der Einflussnahme eröffnen“, kritisiert der Direktor des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht in Düsseldorf, Martin Morlok. In ihren aktuellen Rechenschaftsberichten weisen CDU wie SPD zweistellige Millionenbeträge als „sonstige“ Verbindlichkeiten und Darlehen aus. Diese Buchungsposten sind eigentlich für Bagatellbeträge gedacht; Darlehensgeber, Parteiplakate Höhe, Laufzeit oder Zinsen müssen nicht offengelegt werden. Die CDU verbuchte dort 2003 gut 15 Millionen Euro, ein Viertel ihrer Gesamtverbindlichkeiten, die SPD fast 18 Millionen Euro, knapp 20 Prozent. Aufgeschlüsselt werden müssen laut Parteiengesetz nur „sonstige Einnahmen“ (beispielsweise Erbschaften), falls sie die hauptsächlichen Eigeneinnahmen um mehr als zwei Prozent übersteigen. „Diese Zwei-Prozent-Regel sollte auch für Verbindlichkeiten gelten“, fordert Morlok: „Es ist im Interesse der Parteien, dass Transparenz herrscht.“ SPDVizeschatzmeister Ingo Moll nimmt den Vorstoß gelassen: Die sonstigen Verbindlichkeiten der SPD seien „höchst unspektakulär“. Ähnlich äußert sich ein CDU-Sprecher. 20 d e r B undeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) will sich im Streit über den Biolandbau mit den unionsregierten Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Schleswig Holstein anlegen. Die beiden Länder planen, die Landesmittel für die Agrarförderung, die rund ein Fünftel der Bundes- und EUMittel ausmachen, ab 2007 wieder verstärkt an die konventionelle Landwirtschaft auszuschütten. Neuanträge für Umstellungshilfen für Biohöfe sind bereits jetzt in Nordrhein-Westfalen chancenlos. Gekürzt werden die sogenannten Agrarumweltmaßnahmen, von denen vor allem die Biohöfe profitierten. Bei einem Spitzengespräch mit Vertretern der ökologischen Agrarverbände vergangene Woche in Berlin versicherte Seehofer, er werde solche „Strafaktionen gegen Biolandwirte“ verhindern. Nach einer neuen Studie der Braunschweiger Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft schneidet Deutschland bei der Förderung des Bioanbaus inzwischen schlechter ab als osteuropäische Reformstaaten wie Litauen oder Slowenien. Biogemüse s p i e g e l FOTO POLLEX / ACTION PRESS A 1 6 / 2 0 0 6 Deutschland JUSTIZ L I N K S PA R T E I Anreiz für Lügner Richtung Rot-Rot E U nter Experten löst die von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) am vergangenen Dienstag vorgestellte Ausweitung der „Kronzeugenregelungen“ Entsetzen aus. „Das sprengt alle bisher diskutierten Maßstäbe“, sagt Gunter Widmaier, Vorsitzender des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer: Wenn jeder Angeklagte, sogar bei Mord, durch Verrat anderer auf deutliche Strafmilderung hoffen könne, würden viele doch „das Blaue vom Himmel lügen“. Lutz Hansen vom Bund Deutscher Kriminalbeamter befürchtet, dass so eine „unendliche, schwer überprüfbare Kette von Beschuldigungen“ entsteht. Selbst in den Reihen der Union, die seit Jahren für weitere Kronzeugenregelungen ficht, hält man diesen Vorschlag für übertrieben. Die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) fordert, das Gesetz auf Bereiche zu begrenzen, „wo es hilft, mafiaähnliche Strukturen aufzubrechen, etwa in der Organisierten Kriminalität“. Zypries will Gerichten erlauben, jeden Täter mit Strafmilderung, viele sogar mit -erlass zu belohnen, wenn deren Geständnisse dazu beitragen könnten, „eine nicht nur der leichten Kriminalität zuzurechnende Straftat“ zu verhindern oder aufzuklären. Die Gefahr einer „Anzeigenwelle“ sieht sie nicht. d e r D ie Vorstandswahlen in der Linkspartei werden zum Machtkampf um die künftige Ausrichtung der Linken. Parteichef Lothar Bisky und Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch wollen auf dem Parteitag Ende April verstärkt reformorientierte ostdeutsche Landespolitiker im Vorstand platzieren. So soll neben der sächsischen Bundestagsabgeordneten Katja Kipping und dem Umweltminister von MecklenburgVorpommern, Wolfgang Methling, auch Katina Schubert Bisky neue stellvertretende Vorsitzende werden. Schubert ist persönliche Referentin des Berliner Wirtschaftssenators Harald Wolf, der in der Hauptstadt mit der SPD koaliert. Aus dem ebenfalls rot-rot regierten Mecklenburg-Vorpommern kandidiert die Fraktionsvorsitzende Angelika Gramkow für den erweiterten Vorstand. Vertreter des linken Flügels der Partei kritisierten die Vorschläge in einer Vorstandssitzung als „scharfen Rechtsruck“. Bartsch und Bisky verteidigen ihre Personalpläne vor der für 2007 geplanten Fusion mit der WASG als „Hinwendung zur Realität“. s p i e g e l JENS MEYER / AP Ärger um Henry GÖTZ SCHLESER / IMAGO in geplanter Festvortrag Henry Kissingers bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung sorgt für Unmut. Der ehemalige USAußenminister soll am 15. Mai im Reichstagsgebäude bei der Verabschiedung des Stiftungsvorsitzenden Otto Graf Lambsdorff über „Menschenrechte als Leitprinzip der Weltpolitik“ sprechen. Das erbost liberale Altvordern – schließlich war Kissinger mitverantwortlich für Kissinger zivile Bombenopfer in Vietnam, unterstützte den Staatsstreich des chilenischen Generals Augusto Pinochet und begrüßte den Militärputsch in Argentinien. Burkhard Hirsch, ehemaliger Vizepräsident des Bundestags, sagte seine Teilnahme an der Feier ab. „Völliges Unverständnis“ für die Einladung bekundet der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum. Kissinger sei auch „in den letzten Jahren nicht durch Engagement für Menschenrechte, etwa im Kongo oder im Sudan, aufgefallen“. In einem Brandbrief an die Stiftung fragt er, wer „auf die peinliche Idee gekommen“ sei, Kissinger zu diesem Thema sprechen zu lassen. Der sei „zweifellos ein interessanter Mann“ gewesen, „aber zum Thema Menschenrechte kann ich es gut entbehren, ihm zuhören zu müssen“. Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch moniert, man habe „Kissinger nicht als einen Verfechter der Menschenrechte kennengelernt“. Die Naumann-Stiftung verteidigt die Wahl: Kissinger sei „nun mal der amerikanische Außenpolitiker schlechthin“ und habe schon beim FDP-Parteitag in Köln 2005 „unter großem Beifall gesprochen“. Zudem sei der ehemalige Außenminister „ein persönlicher Freund von Graf Lambsdorff“. LIBERALE 1 6 / 2 0 0 6 21 Deutschland Panorama KIRCHEN Späte Reue is in die siebziger Jahre waren Kinder in kirchlichen Erziehungsheimen fragwürdigen Methoden ausgesetzt – jetzt stellen sich die Kirchen diesem Thema. „Wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, dann wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals“, sagt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber. Er hat das Diakonische Werk aufgefordert, Archive zu öffnen und die Aufarbeitung voranzutreiben. Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, spricht inzwischen von „falsch verstandener Pädagogik“. Er befürwortet „die Aufarbeitung Arbeitende Heimkinder (in Münster) der Geschehnisse“, obwohl nicht alle Heime unter Generalverdacht stünden. Unter Erklärungsdruck gerie- Schlägen, Demütigung“. In Hessen sollen eine Forschungsten die Kirchen durch den Vorstoß des hessischen Landes- und Beratungsstelle und ein Museum zur „Geschichte der wohlfahrtsverbands, der sich bei jenen, die alltäglich „physi- Heimerziehung“ eingerichtet werden. Der Bundestag plant mit scher und psychischer Gewalt ausgesetzt waren“, entschuldigt Unterstützung der SPD-Abgeordneten Marlene Rupprecht und hat. Ihr Leid bleibe verbunden mit „Holzpritschen ohne Ma- Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse eine Anhörung ehetratzen, mit Strafbunkern, Besinnungsräumen, Arbeitszwang, maliger Heimkinder. R E C H T S S TA AT MARCO-URBAN.DE Zammar gegen Deutschland F ür die Bundesregierung könnte die Entführung des Hamburger Deutsch-Syrers Mohammed Haydar Zammar durch US-Geheimdienstler ein juristisches Nachspiel haben. Im Auftrag von Zammars Ehefrau plant die Rechtsanwältin Gül Pinar, Deutschland vor dem Landgericht Berlin auf Schmerzensgeld zu verklagen. Zammar war Ende 2001 während einer Marokko-Reise von der CIA nach Syrien verschleppt worden, wo er seither inhaftiert ist. Die Amerikaner hatten seinerzeit durch einen Hinweis des Bundeskriminalamts von Zammars Trip erfahren. Juristin Pinar argumentiert, die deutschen Behörden hätten wissen müssen, dass die US-Kollegen diesen Hinweis für rechtswidrige Aktionen verwenden würden. Die Bundesregierung sei somit mitverantwortlich für Zammars Entführung. Für Berlin bekäme der Fall mit dieser Klage zusätzliche Brisanz – ohnehin wird er, neben weiteren umstrittenen Auslandsaktionen deutscher Sicherheitsbehörden, den gerade eingesetzten Untersuchungssauschuss des Bundestags beschäftigen. 22 Jungstör ARTENSCHUTZ Stör-Manöver an der Oder aus dem Bundesumweltministerium heißt. Tatsächlicher Hintergrund sind aber offenbar politische Querelen über den Ausbau der Oder als Schifffahrtsstraße. Während Polen gern die OstOder ausbaggern würde, setzt Deutschland auf die Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße bei Schwedt. Für das Stör-Projekt bedeutet die Absage einen herben Rückschlag. „Wir müssen nun nach neuen Aussetzungsstandorten im Ostseeraum suchen“, sagt Henning von Nordheim vom Bundesamt für Naturschutz, das seit 1996 rund zwei Millionen Euro in die Rückkehr des Störs investiert hat. D er deutsch-polnische Streit um den Ausbau der Oder hat ein Artenschutzprojekt zur Wiedereinbürgerung des Ostsee-Störs vorerst gestoppt. Biologen aus Deutschland und Polen hatten geplant, 500 Exemplare des seit mehreren Jahrzehnten aus der Region verschwundenen Fischs in der Oder auszusetzen. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) und sein polnischer Kollege Jan Szyszko wollten im Anschluss an die Sitzung des Deutsch-Polnischen Umweltrats am vergangenen Dienstag die ersten Exemplare der urwüchsigen Tiere in den Grenzfluss entlassen. Doch die Artenschutzaktion wurde von polnischer Seite kurzfristig abgesagt, „aus organisatorischen Gründen“, wie es d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Nachgefragt Keine Panik Werden Sie Ihren Eierkonsum zu Ostern aufgrund der Vogelgrippe einschränken? JA 6% NEIN 91 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ JOCHEN GÜNTHER B Deutschland SPD Roter Machtpoker Nach dem überraschenden Wechsel an der Parteispitze beginnt unter den Sozialdemokraten das Rennen um die Kanzlerkandidatur. Während der designierte Vorsitzende Beck formal seinen Anspruch bekundet, lauern die Minister Gabriel und Steinbrück auf ihre Chance. D was er für die SPD getan habe. Bald darauf wechselte er abrupt den Gesprächsgegenstand: „Das Thema Kanzlerkandidatur wird jetzt natürlich kommen“, sagte er. Seine Stimme klang ernst, seine Worte waren eine Warnung. „Ich sage dazu: Der Vorsitzende hat das erste Zugriffsrecht, und außerdem haben wir noch gut drei Jahre Zeit. Die Frage stellt sich also nicht.“ Beim spannenden Kandidatenthema fanden auch die anderen rasch die Worte wieder. „Da dürfen wir uns nicht hinter die Fichte führen lassen“, kommentierte Stiegler aus der Raucherecke. „Das bringt nur Unruhe in die Partei. Alle Fragen müssen wir abperlen lassen.“ Finanzminister Peer Steinbrück gab zu bedenken, dass das so leicht nicht zu bewerkstelligen sei. Sein sachdienlicher Hinweis: „Da steht ein Wald von Mikrofonen vor der Tür.“ Doch die obligatorische Warnung vor den Medien war nur ein schlechtgetarntes Ablenkungsmanöver. In Wahrheit interessiert die Kandidatenfrage niemanden mehr als die Genossen selbst. Denn mit dem Rückzug Platzecks hat die SPD nicht nur ihren Vorsitzenden verloren, sondern vorerst auch ihre Machtoption. Nur kurz konnte sie sich an der Illusion berauschen, einen Sympathieträger an ihrer Spitze zu haben, einen Mann, der klug und stark genug ist für den Kampf ums Kanzleramt. Nun aber geht das Casting um einen Herausforderer für Angela MARKUS SCHREIBER / AP ie Atmosphäre war beklemmend, Matthias Platzeck hatte seinen Kollegen im SPD-Präsidium gerade tiefe Einblicke in seine Krankheitsgeschichte gewährt. Danach dauerte es ein wenig, ehe die Genossen am vorigen Montag wirklich begriffen, dass sie soeben ihren Vorsitzenden verloren hatten. An einer Seite des Tisches, intern Raucherecke genannt, zogen Peter Struck und Ludwig Stiegler etwas verschämt an Pfeife und Zigarre. „O je, nicht schon wieder“, stöhnte Stiegler vor sich hin. Andrea Nahles kämpfte mit den Tränen. Als Erster räusperte sich der neue Häuptling. Kurt Beck dankte Matthias Platzeck für dessen Offenheit und natürlich für alles, Genossen Beck, Platzeck (am vorigen Montag): Nur kurz berauschte sich die SPD an ihrem Sympathieträger 24 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 UMFRAGE: KANZLERKANDIDAT „Welcher der folgenden Politiker wäre am besten geeignet, als Kanzlerkandidat der SPD anzutreten?“ SPDAnhänger Kurt Beck 38 % 46 Peer Steinbrück 18 % 20 JAN WOITAS / DPA 10 % 16 TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe, spontan: „keiner der Genannten“ RALPH SONDERMANN Sigmar Gabriel Konkurrenten Gabriel, Steinbrück: Ein erbarmungsloser Prozess der Auslese beginnt Merkel von vorn los, ein erbarmungsloser Prozess der Auslese beginnt. Neben dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck ist in der SPD genügend Raum für jene, die sich schon immer alles zugetraut haben, etwa für Peer Steinbrück, den Verlierer der Wahl in Nordrhein-Westfalen, und für Sigmar Gabriel, der bisher gleichermaßen durch Ideenreichtum, Wortwitz und Sprunghaftigkeit auffiel. Beide spekulieren darauf, in ihrem neuen Amt als Finanzminister und Umweltminister so viel Kompetenz und Wählerzustimmung tanken zu können, dass im entscheidenden Moment niemand an ihnen vorbeikommt. Wenn es um die Kandidatur für das wichtigste Regierungsamt geht, zeigt sich die Politik von ihrer archaischen Seite. Der Kampf nimmt die perfideste Form an, weil der Gegner jemand ist, den man offiziell einen Freund nennen muss. „Solche Machtfragen müssen wie im Wolfsrudel untereinander ausgebissen werden“, beschrieb einmal der Grüne Joschka Fischer diesen Prozess. Was martialisch klingt, gehört zu den Grundlagen des Parteienstaats, in dem SPD und Union Menschen hervorbringen müssen, die sich zutrauen, die Republik zu führen. Ein Land mit fünf Millionen Arbeitslosen und kränkelndem Sozialsystem braucht einen Wettstreit der Ideen, es braucht politische Entwürfe und Gegenentwürfe, es braucht Politiker, die miteinander konkurrieren, um Konzepte und um die Macht. Gefragt ist eine Persönlichkeit, die sensibel genug ist, den Zeitenwandel zu begreifen, und energisch genug, ihn zu gestalten. Die Union hat Angela Merkel. Die SPD braucht eine Machtperspektive mit Gesicht, um sich selbst zu motivieren, um kreativ und vital zu bleiben. Sie wird erst dann in der Großen Koalition wieder richtig wahrgenommen werden, wenn sie der Kanzlerin einen echten Konkurrenten gegenüberstellen kann. Vorsitzende sind wichtig, damit Parteien sich behütet fühlen. Ein Kanzlerkandidat aber ist die Aussicht auf mehr. Er ist die Verheißung auf Richtlinienkompetenz und die wahren Insignien der Macht. Deshalb fällt die Entscheidung für einen Kandidaten den Parteien so schwer, obwohl intern über nichts anderes so heftig diskutiert wird. Der Startschuss zur neuen Kandidatendebatte fiel in Potsdam. Es war Mittwoch, der 29. März, als Matthias Platzeck begriff, dass sein Körper kapituliert hatte. Er saß nach der Aufsichtsratssitzung des Flughafens Schönefeld auf der Rückbank seines dunklen Audi A8, als er plötzlich heftige Stiche im rechten Ohr spürte. Der Chauffeur änderte den Kurs in Richtung Klinikum Ernst von Bergmann. Die Ärzte diagnostizierten einen schweren Hörsturz, den zweiten binnen drei Monaten, sie behielten Platzeck im Krankenhaus. Bis dahin hatten sich seine Mitarbeiter bemüht, ernste Vorfälle als Zipperlein zu verkaufen. Erst am 11. Februar, einem Samstag, hatte er im Hausflur seiner Privatwohnung das Bewusstsein verloren. Am Morgen hatte er in Magdeburg die heiße Phase des Landtagswahlkampfs eröffnet, hatte gerufen: „Die CDU ist deutlich wahrnehmbar erschöpft.“ Am Nachmittag fiel er dann selbst in Ohnmacht. In aller Heimlichkeit eskortierten ihn Personenschützer ins Krankenhaus, schnell verbreitete sich das Gerücht, der Ministerpräsident habe einen leichten Schlaganfall erlitten. Platzecks Regierungssprecher Thomas Braune versuchte zu beschwichtigen. Um 17.40 Uhr sendete dpa eine harmlose Agenturmeldung: Platzeck sei an Grippe erkrankt und könne deshalb nicht wie geplant an der Karnevalsgala „Heut’ steppt der Adler“ in Cottbus teilnehmen. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Platzecks jüngste Zusammenbrüche und die beiden Hörstürze gehören zu einer Kette von Erschöpfungen, mit denen der 52-Jährige seit langem ringt. Nach einem ersten Hörsturz zum Jahreswechsel hatten seine Leute noch erklärt, Platzeck verbringe mit seiner Lebensgefährtin gerade einen „Kurzurlaub auf den Kanaren“. Jetzt aber war klar, dass der Schein nicht länger aufrechtzuerhalten war. Am Dienstagnachmittag vergangener Woche besuchten ihn seine drei engsten Getreuen in seiner Babelsberger Wohnung. Man trank Tee, es ging um seine Zukunft. Platzeck suchte nach einer Möglichkeit, sich Luft zu verschaffen. Ließe sich mehr Arbeit auf die Minister im Potsdamer Kabinett verlagern? Wie könnten die Stellvertreter im Willy-Brandt-Haus besser eingespannt werden? Es blieb ein Gespräch ohne Beschluss. Platzeck hatte Mühe, seine Mitstreiter zu verstehen. „Sprich lauter, ich höre dich nicht“, sagte er. Am Donnerstag traf er sich mit Beck und Vizekanzler Franz Müntefering in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung. An diesem Abend ahnte Beck, dass es auf ihn zulaufen könnte. Platzeck war noch immer unentschlossen. Abends gab er einen Essay zum Parteiprogramm frei, den er für den SPIEGEL verfasst hatte: „Ein besserer Sozialstaat“ (15/2006). Die letzte Entscheidung für den Rücktritt fiel am Samstag. Am Sonntag informierte Platzeck die Kanzlerin, den SPDGeneralsekretär, aber auch den von ihm sehr geschätzten DGB-Chef Michael Sommer. Er wird nun aus der Provinz beobachten, wer an seiner Stelle das Kanzleramt ins Visier nimmt. Es treten an drei Herren, deren Inhalte kaum unterscheidbar sind, ihr Stil dagegen schon. Alle drei sind überzeugt, dass ihr bester Verbündeter die Zeit ist. Sie wissen, dass sie entweder als zu unerfahren 25 Deutschland * Mit dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle. 26 teressengruppen, von Fraktion und eigenen Ministern als Parteichef standhält? Es sind die Fragen, die sich derzeit vor allem seine Konkurrenten stellen. Sie werden darauf achten, dass nicht verborgen bleibt, wenn Beck den Erwartungen nicht genügt. Und sie werden versuchen, ihr eigenes Image aufzupolieren. In besinnlichen Momenten erzählt Peer Steinbrück gern von seinem Idol Helmut Schmidt. Er schwärmt dann von den Nachmittagen in Schmidts Garten in HamburgLangenhorn, während deren sich Steinbrück zu vergewissern suchte, dass beide quasi aus demselben Holz geschnitzt seien. Es ist dann von einem zeitgemäßen Politikertypus die Rede, der Visionen für eine Krankheit hält, die schleunigst vom Arzt behandelt werden sollte. Von einem Typus, der Probleme und Lösungen kennt, nichts anderes, keine Show, der Nüchternheit zum Standortvorteil erhebt. Im Bauch der SPD hat man freilich eine andere Sicht auf Steinbrück. „Steinbrück ist kein Menschenfischer“, sagt ein wichtiges Vorstandsmitglied. „Er ist zu überheblich, er wirkt wie ein Schulmeister, so was will man nicht in der SPD.“ Steinbrück hat diese Ressentiments bislang erfolgreich ignoriert. Sein Ego war sein größter Helfer. In der Riege der Kandidatenkandidaten spielt er die Rolle des eitlen Pfaus, der seinen Glauben an sich selbst ohne größere Scham zur Schau trägt. Wenn die SPD neben einem Herz auch noch Vernunft hätte, dann würde sie ihn zum Kanzlerkandidaten berufen, heißt es in seinem Umfeld. Steinbrück setzt auf die Kraft der Kompetenz. Er möchte weitere Beweise für seine Qualifikation vorlegen, Koalitionäre Müntefering, Merkel, Struck: Eine JOCKEL FINCK / AP oder als zu leichtgewichtig befunden würden, wenn sie heute auf die Kanzlerwaage klettern müssten. Die Zeit aber, so die Hoffnung, werde ihnen das nötige Gewicht schon noch verschaffen. Kurt Beck sitzt im Konferenzraum eines Hotels in der pfälzischen Provinz, in Bad Sobernheim. Sein Landeskabinett ist zu einer Klausur zusammengekommen. Vor 30 Stunden wurde er zum künftigen Vorsitzenden der SPD ausgerufen. Beck wirkt sehr zufrieden mit sich, er lässt die Brille durch die Finger gleiten und räsoniert über seine Ziele, die Partei und die Kandidatenfrage. Er sagt, dass er keine Übergangslösung sein wolle, dass er die Programmdebatte weiterführen werde und dass der Parteichef „der Erste ist, der gefragt wird“, wenn es um die Kanzlerkandidatur gehe (siehe Gespräch Seite 37). Er redet gelöst, er wirkt wie einer, der tief in sich ruht, der keine Angst hat vor der Aufgabe und dem, was noch auf ihn zukommen könnte. Er hat es weit gebracht für einen Elektromechaniker aus der Südpfalz. Beck hat es stets genossen, wenn man ihn im vergangenen Sommer als möglichen Parteichef ins Spiel brachte. Am vergangenen Sonntag ergab sich endlich die Chance. Diesmal packte er zu, und diesmal will er nicht wieder loslassen. Der rechte Seeheimer Kreis steht hinter Beck, das „Netzwerk“ ebenso, und selbst die Partei-Linken sind voller Erwartungen. „Der Kurt kann Schätze heben“, sagt die Linken-Sprecherin Andrea Nahles. Beck hat sehr konkrete Vorstellungen von erfolgreicher Politik. Die ist nicht links und nicht rechts, die vertritt er nicht immer laut, aber in der Sache beharrlich. Er hat sich auch mit dem stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Rainer Brüderle gut verstanden, mit dem er jahrelang in Mainz regierte. Er ist für den Mindestlohn und gegen die Ausbildungsplatzabgabe. Er war es, der maßgeblich darauf drängte, milliardenschwere Investitionen im SPD-Wahlprogramm festzuschreiben. Beck sagte als einer der ersten Genossen nach der letzten Bundestagswahl, dass Kanzler Schröder nicht zu halten sei. Er vereint eine Mischung aus Energie und Volkstümlichkeit, die manche Genossen an Helmut Kohl denken lässt. Sie haben auch die Wahlsiege im Sinn. Die Frage ist nur, ob Becks Mainzer Modell auch in Berlin funktioniert. Moderieren als politisches Stilmittel, das Kumpelhafte und Rustikale? Ob er dem Dauerfeuer von Medien und In- Liberaler Brüderle (r.)*: Mit Beck in Mainz regiert d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 schöne Zahlen, gute Gesetze. Deshalb will er, dass die Kandidatenfrage hinausgezögert wird, bis es viele Beweisstücke gibt. Steinbrück wollte vom ersten Amtstag an mehr sein als nur Finanzminister, ein Hans-Eichel-Nachfolger. Er möchte zu allen wichtigen Vorhaben der Regierung gehört werden. Sein Ministerium, in dem alle Reformen bewilligt werden müssen, gibt ihm die Gelegenheit dazu, seine Chuzpe verleiht ihm Kraft. Steinbrück sagt, er wolle gestalten, nicht verwalten. Gerade ist er dabei, seine Grundsatzabteilung aufzurüsten. Er ergänzte sie um eine dritte Unterabteilung, eine Truppe für Feindbeobachtung. Sie nimmt die anderen Ressorts unter die Lupe und formuliert Einschätzungen und Positionen für den Minister. Egal ob Gesundheits-, Arbeitsmarktoder Familienpolitik. Damit seine Botschaften auch das Volk erreichen und die Öffentlichkeit eine Vorstellung von der „Marke Steinbrück“ bekommt, gibt er 160 000 Euro jährlich für persönliche strategische Imageberatung aus. Noch nie hat sich ein Minister seine Selbstdarstellung so viel kosten lassen. Wenn Peer Steinbrück der Pfau unter den möglichen Kandidaten ist, dann ist Sigmar Gabriel das Chamäleon, das vorerst alles dafür tut, seine Ambitionen zu verheimlichen. Zutrauen würde der Umweltminister sich den Job zwar schon, aber 2009 könnte für ihn zu früh sein. Er ist gerade dabei, sich neu zu erfinden. Seine Chancen auf eine Kandidatur hängen auch davon ab, ob sein Selbstversuch gelingt. „Der macht seine Sache richtig gut“, befand unlängst Vizekanzler Müntefering, der mit Lob eher sparsam umgeht. Als jüngster der drei Aspiranten könnte er zwar auf seine Chance im Jahr 2013 warten, aber die Option 2009 will er nicht aufgeben. Sollte das Führungskräftesterben in der SPD weitergehen, könnte seine Stunde kommen. Gabriel hätte sogar schon ein Verfahren für die Kandidatenfindung parat: Primaries nach amerikanischem Vorbild, bei denen alle Bürger die Chance bekommen, über die Kandidaten einer Partei abzustimmen. Vor kurzem hat er das Vorwahlmodell in seinem Landkreis Goslar getestet, es ging um die Kandidaten für die Landratswahl. Einwände von Skeptikern, wonach sich vor allem Mitglieder anderer Parteien in die Versammlungen schleichen könnten, wehr- TOBIAS SCHWARZ / REUTERS UMFRAGE: BECK vorgezogene Neuwahl haben die Unionsspitzen im Kalkül Wer es gut mit ihm meint in der SPD, der verweist darauf, dass Gabriel ihr größtes politisches Talent aus der Generation der 40- bis 50-Jährigen sei, der preist vor allem seine Fähigkeit zur Leidenschaft, die im politischen Betrieb langsam verkümmernde Gabe, begeisternde Volksreden zu halten. Wer es weniger gut mit Gabriel meint, der erinnert an seinen hart erarbeiteten Ruf als politischer Hallodri. Es ist ein Image, das man nicht einfach abklopfen kann wie eine Fluse vom Pullunder. Früher galt er mal als Linker, er wurde groß bei den Falken, einer Splittergruppe der sozialdemokratischen Nachwuchsbewegung. Dann spannte er sich als Zugpferd vor das reformfreudige „Netzwerk“. Inzwischen ist er auch dem konservativen Seeheimer Kreis der Fraktion beigetreten. Er erinnert an einen Geschäftsmann mit einem ganzen Bündel von Kreditkarten. Gelitten hat Gabriels Image vor allem nach seiner Abwahl als Ministerpräsident in Niedersachsen 2003. Damals verwandelte er sich vom potentiellen Nachfolger Gerhard Schröders im Kanzleramt zur tragischen Figur. Mal forderte er die Einführung der Vermögensteuer, mal trat er für die Beschneidung der Gewerkschaftsmacht ein. „Der Sigmar läuft Gefahr, beliebig zu werden“, lästerte sogar sein einstiger Förderer Schröder. Es wäre fast in Vergessenheit geraten, dass Gabriel sich sehr kluge Gedanken über die Defizite der SPD machen kann, zum Beispiel, dass sie Gefahr laufe, ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren, weil „Wird der überraschende Rücktritt von Matthias Platzeck der SPD schaden?“ 20 % 65 % NEIN TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe sie ihre Funktionäre nicht mehr aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutiert. Nun ist er doch noch Minister geworden, Umweltminister zwar nur, aber das macht vorerst nichts. Auf die Stelle des beamteten Staatssekretärs hat er den erfahrenen SPDStrategen Matthias Machnig gesetzt. Die Präsidiumssitzung am vorigen Montag verließ Gabriel vorzeitig wegen dringender Amtsgeschäfte. „Sorry, ich treffe den polnischen Umweltminister“, erklärte er den Genossen. Diszipliniert wie nie zuvor verkneift sich Gabriel jeglichen Kommentar zur Lage seiner Partei. Er weiß, dass er vorerst keine Ambitionen erkennen lassen darf. Intern verkündet er, Beck solle Kandidat der SPD werden. Gabriel muss sich verstellen wie ein Chamäleon, das die Farbe wechselt, um von den Gegnern nicht erkannt zu werden. Bislang scheint die Strategie aufzugehen. Ganz allmählich bessert sich sein Ansehen. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 60 % JA NEIN UMFRAGE: PLATZECK JA „Wird sich Kurt Beck in der Großen Koalition als durchsetzungsstarker SPD-Chef neben Bundeskanzlerin Angela Merkel erweisen?“ 21 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe te er erfolgreich ab: „Unsere Schweine erkennen wir am Gang.“ Die Aktion war ein Riesenerfolg. Statt ein paar Genossen strömten plötzlich bis zu 700 Menschen in die Säle. Endlich habe man ein Mittel gefunden, um der „Wahlmüdigkeit zu begegnen“, schwärmte Gabriel. Es ist ein Verfahren, das wie gemacht ist für begeisternde Volksredner. Kanzlerin Angela Merkel beobachtet das Treiben der Sozialdemokraten unterdessen mit Gelassenheit. Sie kann – wie in den vergangenen fünf Monaten des Öfteren geschehen – die verschiedenen SPDGrößen gegeneinander ausspielen. Auch eine vorgezogene Neuwahl, zum Beispiel nach drei Jahren Großer Koalition, haben die Unionsspitzen im Kalkül. Mögen die persönlichen Beziehungen zwischen Merkel und Müntefering noch so belastbar sein, am Ende wird die Kanzlerin die Entscheidung zu einem für sie günstigen Zeitpunkt suchen. Sollte die SPD dann keinen Kanzlerkandidaten haben, könnte die Partei ins Schleudern kommen. „Wir alle in der Politik“, sagt Merkel häufig, „sind vor allem interessengeleitet.“ Und manchmal fügt sie hinzu: „Gott sei Dank.“ Markus Feldenkirchen; Horand Knaup, Roland Nelles, Christian Reiermann, Sven Röbel 27 ANDREAS ALTWEIN / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); ARND WIEGMANN / REUTERS (R.) Scheidende SPD-Vorsitzende Schröder (2004), Müntefering (2005): Sie haben die Kinder ohne Trost stehengelassen Die Sanften und die Alphatiere In 15 Jahren hat die SPD sechs Vorsitzende verschlissen. Die einen waren schwach und konnten der Partei kein Profil geben. Die anderen waren autoritär und haben der Partei ihren Willen aufgezwungen. Keiner war bereit oder in der Lage, alles zu geben. Von Dirk Kurbjuweit E s regnet, es regnet fürchterlich im pfälzischen Landau, als Kurt Beck und Matthias Platzeck Wähler für die SPD werben wollen. Beck sucht das Gespräch, Platzeck zieht mit zwei roten Rosen durch die Fußgängerzone. Hinter ihm geht ein Mann, der einen Kübel schleppt. Darin sind hundert weitere Rosen. Platzeck lächelt. Er hat so ein sanftes, schönes Lächeln. Es gilt einer Frau, die sich mit hochgezogenen Schultern nähert. Als ihr Platzeck eine rote Rose geben will, schreckt sie zurück, als würde ihr ein Tintenfisch überreicht. Sie geht schnell weiter. Jahrzehnte, Jahre, Monate Beck redet. Das heißt, er hört zu. Ein alter Mann erzählt ihm, wie es früher war in der SPD, wie schön, wie gut, wie nett. Der alte Mann redet und redet. Platzeck läuft durch den Regen, Tropfen sprenkeln seine Brille. Er verteilt überfallartig Rosen, aber der Kübel leert sich nur langsam. Es sind nicht genug Frauen unterwegs, und nicht jede Frau will eine Rose von Platzeck. Beck wird den Alten nicht los. Es geht immer noch um früher. Platzeck nimmt jetzt auch Männer. „Für die Liebste“, sagt er zu einem Geschäfts- Die Vorsitzenden der SPD seit 1946 Kurt Schumacher Erich Ollenhauer Willy Brandt Hans-Jochen Vogel Björn Engholm Rudolf Scharping 1946 – 1952 1952 – 1963 1964 – 1987 1987 – 1991 1991 – 1993 1993 – 1995 910 063 919 871 861 480 PARTEIMITGLIEDER im Jahr des Amtsantritts 711 448 28 mann, der seinen Laden renoviert. „Rechts von mir ist nur die Wand“, knurrt der Mann, aber er akzeptiert die Rose. Eine weniger. Platzeck gibt auf, noch ehe er die Hälfte der Rosen verteilt hat. Er geht zu Beck, der sofort die Chance sieht, sich von dem Alten loszueisen. Gemeinsam ziehen sie davon, durch den Regen. Das war am Freitag vor der Wahl in Rheinland-Pfalz. Man sah da schon, dass es nicht nur schön ist, an der Spitze der SPD zu stehen. Platzeck war Vorsitzender, Beck sein Stellvertreter. 627 817 678 484 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 SEAN GALLUP / GETTY IMAGES Sie ist 15 Jahre lang enttäuscht 17 Tage später sind sie wieder worden und hat sich täuschen lasbeisammen. Diesmal ist die Lage sen. Wie eine naive Braut hat sie zu wirklich schlimm. Sie stehen im viel erwartet und ist immer an den Foyer des Willy-Brandt-Hauses in Falschen geraten. Berlin, und Matthias Platzeck tritt Nie war die SPD so betrogen wie zurück, weil er zum dritten Mal am 12. Oktober 2005, gut drei Woin vier Monaten einen gesundheitchen nach der Bundestagswahl. lichen Rückschlag erleiden musste. Gerhard Schröder hielt eine Rede In der Woche nach der Landtagsauf dem Kongress der IG Bergbau, wahl hatte er einen Hörsturz. Beck Chemie, Energie in Hannover. Er wird sein Nachfolger. redete nicht mehr als Kanzler, sonBeck redet, Platzecks Wimpern dern als Sozialdemokrat zu Geflattern. Er setzt seine Brille auf, werkschaftern, die mehrheitlich Sodamit man seine Tränen nicht sieht. zialdemokraten sind. Auf den sechs Galerien des Foyers Er sagte: „Ich weiß, wo ich herstehen Mitarbeiter der SPD, nach komme, und deswegen weiß ich vorn gebeugt, auf das Geländer geauch, wo ich hingehöre.“ Dann lehnt, und viele haben ihren Kopf setzte er seine Brille auf und sagte, auf eine Hand gestützt. Solche Geer tue das, damit im Fernsehen stalten sieht man derzeit in großer nicht alles zu sehen sei. Er meinte Zahl in der Ausstellung „Melanseine Tränen. Er war gerührt von cholie“ in Berlin. Künstler aller sich selbst. „Ich hoffe, wir können Epochen haben so Traurigkeit und es so einrichten, dass wir zusamunbestimmtes Sehnen ausgedrückt. menbleiben“, sagte Schröder noch. Die SPD ist derzeit die melanKurz darauf verdingte er sich als cholischste Partei der Welt. Seit Berater bei der Arbeiterwohlfahrt, 1991, dem Abgang von Hansbei der IG Metall und beim ArbeiJochen Vogel, hat sie kein Glück ter-Samariter-Bund. mit ihren Vorsitzenden. Es gab die Falsch. Tatsächlich verdingte sich Sanften: Björn Engholm, Rudolf Schröder beim Verlag Ringier, bei Scharping und Matthias Platzeck. Es gab die Alphatiere: Oskar La- Scheidender Parteichef Platzeck (am vergangenen Montag) einer Tochter des russischen Energielieferanten Gasprom und bei der fontaine, Gerhard Schröder und Politik machen, ohne sich wie ein Politiker zu verhalten Investmentbank Rothschild. den Spätentwickler Franz MünteSchröders Sätze von Hannover waren fering. Keiner hat länger als fünf Jahre Das ist die traurige Bilanz von nur 15 durchgehalten, keiner hatte einen guten Jahren. Die SPD hat seit Vogel keinen Vor- Heuchelei. Es waren, muss man im NachAbgang. sitzenden mehr gefunden, der bereit oder hinein sagen, die verlogensten Sätze der jüngeren deutschen Politik. Schröder hatEngholm musste 1993 zurücktreten, weil in der Lage war, alles zu geben. er in der Barschel-Affäre die Unwahrheit Und das passiert einer Partei, die te als Kanzler gegen seine Partei regiert, er gesagt hatte. Scharping wurde 1995 von nicht nur Führung erwartet, sondern Ver- hat sich nach seiner Abwahl endgültig von Lafontaine gestürzt. Lafontaine warf 1999 körperung. Der Vorsitzende soll dem der SPD verabschiedet und der Wirtschaft hin, weil er Schröders Regierungskurs Urschlamm der Partei entschlüpft sein zugewendet. Gerhard Schröder hat eine verstörte nicht folgen wollte. Schröder gab den Stab und ihre Traditionen und Werte ver2004 an Müntefering weiter, weil er sich körpern. Er soll proletarisch sein, intel- Partei hinterlassen. Er tut fein mit den des Rückhalts seiner Partei nicht sicher lektuell, führungsstark und mehrheits- Leuten, die Sozialdemokraten im Wahlwar. Müntefering schmiss 2005 hin, weil er fähig. Es gibt diesen Menschen nicht, kampf als Heuschrecken geschmäht haseinen Kandidaten für das Amt des Gene- jedenfalls hat er nicht den Weg an die ben, und die SPD sucht nach einem neuralsekretärs nicht durchsetzen konnte. Spitze der SPD gefunden. Das ist das Dra- en Selbstbewusstsein nach sieben Jahren unter Schröders Knute. Platzecks Gesundheit spielt nicht mit. ma der Partei. Eine Folge der NachSchröder-Wirren war Matthias Platzeck. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit bekam er nicht die Chance zu beweisen, dass er ein guter Vorsitzender sein kann. Er wäre aber nie Vorsitzender geworden, wäre die SPD in einem anderen Zustand, als sie ist. Anfang März gab es Oskar Lafontaine Gerhard Schröder Franz Müntefering Matthias Platzeck Kurt Beck ein Abendessen mit ihm 1995 – 1999 1999 – 2004 2004 – 2005 15. Nov. 2005 – kommissarisch im Potsdamer Restaurant „Lehmofen“. Platzeck hatte 10. April 2006 ab 10. April 2006 es ausgesucht. Er kam pünkt817 650 lich, schwungvoll, seine 755 066 Hand flog heran, und, 591 076 580 491 605 000 klatsch, der Händedruck hat30. Nov. 2005 28. Feb. 2006 te die Wucht einer mittleren d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 29 SPD-Chef Engholm (1992) Sinnieren im Lübecker Elfenbeinturm die den Nationalsozialismus überwindet. Es ging darum, die Demokratie zu etablieren. Die zweite Generation der Alphatiere, Schröder und Lafontaine, sah die SPD als Garantin für eine Art Neugründung der Bundesrepublik mit Willy Brandt. „Mehr Demokratie wagen“ und die Ostpolitik waren die Attraktionen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Damals war die SPD cool. Sie war die Partei des Fortschritts und der kurzen Röcke. Es gab eine starke linke Elite, die FRIEDHELM SCHULZ Ohrfeige. Er plauderte gleich los, er sorgte sich um das Essen, den Wein, man fühlte sich bald wohl mit ihm. Eine wichtige Frage des Abends war: was ihn zur SPD gezogen hat? Es begann eine längere Erzählung, Platzeck referierte den ganzen langen Weg von einer Bürgerinitiative in Potsdam zum Bündnis 90, zum Umweltminister in Brandenburg, zum Austritt aus dem Bündnis 90 bis zum Eintritt in die SPD. Er redete über Handlungen, nicht über Inhalte. Es hatte sich halt so ergeben. Er gehörte als Parteiloser einer Regierung der SPD an. Da lag es nahe, in die SPD einzutreten. Je länger man mit ihm redete, desto mehr drängte sich der Eindruck auf, Platzeck müsste eigentlich Mitglied der Grünen sein. Bei den grünen Themen wurde er leidenschaftlich und zeigte Kompetenz. Aber er war Vorsitzender der SPD, einer Partei, die Arbeit, Arbeit, Arbeit ruft, einer Partei, die auf dem Betonfundament einer langen Tradition steht, die gern Stallgeruch atmet, die verliebt ist in Debatten. Platzeck wirkte da wie ein Irrtum. Die SPD wählte ihn mit 99,4 Prozent im Chaos nach Schröders Abgang. Es gab niemanden sonst, der gewollt hätte. Platzecks Wahl im Herbst 2005 ist Ausdruck einer Erschöpfung. Die lange Krise der SPD mit ihren Vorsitzenden ist Ausdruck der Erschöpfung einer Idee. Die sozialdemokratische Idee zieht nicht mehr genug starke Leute, die sie verkörpern wollen oder können. Die Alphatiere der SPD in der Nachkriegszeit wurden nicht allein durch die soziale Frage angezogen. Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Herbert Wehner wollten eine Bundesrepublik schaffen, WULF PFEIFFER / PICTURE-ALLIANCE / DPA Deutschland Genossen Scharping, Lafontaine*: Mit der Macht wächst das Ego 32 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 den intellektuellen Diskurs dominierte. Die bürgerliche Elite war in der Defensive. Das hat sich in den achtziger und neunziger Jahren gedreht, als die Demokratie auch für den Letzten erkennbar etabliert war, dafür aber die Zahl der Arbeitslosen stetig wuchs. Die dominierende Elite waren jetzt jene Leute, die erfolgreiches Wirtschaften vorlebten oder Lösungen für die ökonomischen Krisen zu kennen glaubten. Diese neue Elite ging nicht zur SPD, sie ging in keine Partei. Die Alphatiere, immer auf der Suche nach Anerkennung, sahen in der Politik keine Chance, befriedigt zu werden. Der Pool für den SPD-Führungsnachwuchs wurde auch deswegen kleiner, weil die Grünen einen Teil der linken Politikinteressierten abzogen. Heute gilt die SPD als uncool. Die Journalisten aus Schröders Generation waren von Brandt begeistert und sind es immer noch. Heute hört man in Berlin jüngere Journalisten maulen, wenn sie über die SPD berichten müssen. Die Partei und ihre Mitglieder gelten als bieder, als zopfig. Für Alphatiere ist die SPD auch deshalb wenig interessant, weil sie es ihren Mächtigen so schwer macht. Matthias Platzeck hat gern erwähnt, dass für die CDU die Probleme gelöst seien, wenn sie eine Wahl gewinnt. Dann wird regiert, endlich, hurra, und die Regierenden werden schon wissen, was sie tun. Für die SPD, sagte Platzeck, fingen die Probleme an, sobald eine Wahl gewonnen sei. Von da an werde misstraut. Sind Regierungs- und Parteiprogramm deckungsgleich? Denken die Regierenden auch Tag und Nacht an die Seele der lieben Partei? Muss wirklich modernisiert werden, wo doch die Traditionen so schön sind? Lädt nicht Macht zum Missbrauch ein? So macht die SPD ihren Vorsitzenden das Leben zu Hölle. Nicht einmal Willy Brandt war davor geschützt. Er trat 1987 zurück, weil die Partei motzte, als er eine Parteilose zur Pressesprecherin machen wollte. Es schien mal wieder die Seele bedroht. Die SPD ist immer nur knapp regierbar und knapp regierungsfähig. Es gibt nicht viele Machtmenschen, die sich das antun wollen. Auch deshalb hat der Sanfte eine recht gute Chance in der Partei. Auch deshalb hat es einen Matthias Platzeck als Parteivorsitzenden gegeben. Seine Grundhaltung zur Politik ist symptomatisch für diesen Typus des SPD-Politikers. Anfang Februar besuchte Platzeck in London Tony Blair. Gegen Mitternacht führten in der „Leader’s Bar“ im Hotel Marriott ein Dutzend Journalisten ein Hintergrundgespräch mit ihm. Gerade hatte sich Arbeitsminister Franz Müntefering auf die Rente mit 67 festgelegt, zum Verdruss der Partei, die sich auch fragte, warum der Vorsitzende das nicht verhindert hatte. Was * Bei Oskar Lafontaines Wahl zum Parteichef am 16. November 1995 in Mannheim. MATTHIAS JÜSCHKE Deutschland Scheidender SPD-Chef Brandt (r.), Nachfolger Vogel (1987): Starke linke Elite nun passierte in der „Leader’s Bar“, war für einen Journalisten, der vor allem die Rüpel-Generation Schröder/Fischer begleitet hat, eine Überraschung. Matthias Platzeck blieb, obwohl ihn einige Journalisten fast zur Härte drängten, zum Durchsetzen, zum Auf-den-Tisch-hauen, unerbittlich samtpfotig. Wollte er alles nicht. Er sinnierte darüber, ob Müntefering nicht teilweise recht habe, er webte mit sanfter Stimme ein Tuch aus Seide, das sich angenehm weich auf die Runde legte. Nach einer Stunde war man bereit, sich mit allen Gegnern zu versöhnen und wollte nie mehr ein böses Wort sagen oder schreiben. Zwei Wochen nach dem Auftritt in der „Leader’s Bar“ saßen Müntefering, Platzeck und Peter Struck, der Fraktionsvorsitzende der SPD, in der Bundespressekonferenz. Struck war liebenswürdig mit Platzeck, Platzeck war liebenswürdig mit Müntefering, und Müntefering zeigte eine Strenge und Starre, die an alte Fotos vom Politbüro der SED erinnerte. Es wurde nichts Bedeutendes gesagt, nur einmal musste man aufhorchen. Jetzt sollten „alle aufs Spielfeld laufen, die was im Kreuz haben“. Das hat wer gesagt? Genau. Franz Müntefering. Es ist der Sound eines Politikverständnisses, bei dem es um Kampf geht, um Männlichkeit, um Siegen auf Teufel komm raus. Das Spielfeld, das Müntefering meinte, ist kein Rasen, wo man schön kickt, und wer foult, sieht Rot und ist ganz böse. Es ist eher so, dass der, der schön und fair spielen will, als Schwächling gilt. Dieses Spiel müssen auch die Sanften spielen, es gibt kein anderes im Berliner Regierungsviertel. Hier findet sich immer einer, der auf Schwächen lauert, und da zählt nicht, dass die angebliche Schwäche menschlich gesehen vielleicht eine Stärke ist. Politiker müssen siegen, egal, wie. Zum Sieg führt oft tierhaftes Wollen. Die Sanften täuschen sich meist in dem Gedanken, sie könnten ein eigenes Spiel spielen. In London sagte Platzeck, „vom Berliner Tempo lasse ich mich nicht komplett aufsaugen“. Er dachte, er müsse nicht alles geben, könne sich ein inneres und äußeres Idyll erhalten. Was ihn so sympathisch macht, ist ja auch diese Genussfreudigkeit, diese Leckermäuligkeit. Sobald das Essen im „Lehmofen“ auf den Tisch kam, wurde er WERNER BAUM / AFP rund in den Schultern, da war er ganz und gar Vorfreude und beinahe schnurrendes Behagen. Er wurde nie müde zu betonen, dass er all diese Ämter nicht angestrebt, nicht erkämpft habe, dass er sich auch ein Leben als Kneipenwirt in der Uckermark vorstellen könne. So viel innere Unabhängigkeit klang prima. Aber was soll ein SPD-Mitglied, dessen Welt gerade zusammenfällt, darüber denken, dass sich der Vorsitzende danach sehnt, professionell Bier zu zapfen? Politik ist für Spitzenpolitiker eine Totalität. Politik fordert alles. Einer Angela Merkel, einem Franz Müntefering würde niemand bestreiten, dass sie alles geben für ihr Amt, und angesichts der Lage darf man das auch erwarten. Natürlich arbeitete Platzeck hart. Das Problem mit ihm oder einem Björn Engholm war eher diese innere Sperre, dieses Unbehagen an der Berliner Politik und die Sehnsucht nach einem anderen Leben, einem anderen Tempo. Vielleicht hat Platzeck auch seine Zerrissenheit krank gemacht. Er wollte gern Bundespolitik machen, ohne wie ein Politiker zu sein, ohne wie ein Politiker zu leben. Er musste merken, dass das unmöglich ist. Die SPD hatte keine gute Zeit mit ihren Sanften, weil sie die Interessen der Partei nicht sichtbar machen konnten, geschweige denn durchsetzen. Engholm sinnierte Privatier Lafontaine (1999) Nachgeholte Bürgerlichkeit gern im Lübecker Elfenbeinturm. Scharping radelte im magentafarbenen Trikot die Berge hinauf und herzte den Sprinter Erik Zabel nach dessen Zielankünften. Sie waren, und wenn in Gedanken, manchmal mehr in ihren Idyllen als bei der Sache. Es war deshalb leichtes Spiel für Oskar Lafontaine, Scharping von der Parteispitze zu verdrängen. Er musste nur das Vakuum füllen, das Scharping ließ. Er besetzte Positionen für die Partei und hielt die zünden- den Reden. Seine Schwäche war das, was ihn stark machte: sein Ego. Die Alphatiere der SPD, Lafontaine, Schröder und Müntefering, sind alle am Ego-Paradox gescheitert. Mit der Macht wächst das Ego, es wächst und wächst und wird dabei immer empfindlicher. Irgendwann ist es prall und dünnhäutig wie ein Luftballon, der bis an die Kapazitätsgrenze aufgeblasen wurde. Der Starke ist schließlich schwach, weil er vieles für unzumutbar hält. Nicht mit mir, ist ein Satz von Alphatieren. Es ist oft der letzte Satz vor dem Rücktritt, also dem Verlust der Stärke. Lafontaine wollte sich Schröders pragmatischen Regierungskurs nicht mehr zumuten. Schröder wollte sich die Arbeit mit einer widerspenstigen Partei nicht mehr zumuten – zweimal gleich, bei seinem Rücktritt als Parteivorsitzender und bei seiner Entscheidung für Neuwahlen. Müntefering wollte sich nicht zumuten, mit einer Parteispitze zusammenzuarbeiten, die ihm eine Personalie abgelehnt hatte. So machte die SPD die seltsame Erfahrung, dass die, die der Partei am meisten zugemutet haben, sich die Partei nicht mehr zumuten wollten. Schröder und Müntefering haben die SPD kujoniert wie die Eingangsklasse einer Kadettenanstalt. Sie haben der Partei den Reformwillen aufgezwungen, sie in der Regierungs- BONSS / MOMENTPHOTO / IMAGO Wahlparteitag der Sozialdemokraten (2005 in Berlin): Immer nur knapp regierbar maschinerie verwurstet. Das war in der Sache oft richtig, aber für den großen Debattierverein SPD war es wie eine Vergewaltigung. Es vergeht derzeit kaum ein Hintergrundgespräch mit einem Sozialdemokraten, in dem nicht irgendwann ein Seufzer der Erleichterung hörbar wird. Es geht dann um den Stil der vergangenen Jahre, der autoritär war und maulfaul. Das ist die Tragik dieser Partei. Die Vorsitzenden taten manchmal genau das Gegenteil von dem, was die SPD erwartet, zum Beispiel herrschaftsfreien Diskurs. Die Partei und ihre Alphatiere kann man sich vorstellen wie eine Familie. Am Abend, wenn die Eltern ausgehen wollen, stehen die Kinder an der Tür und flehen: Nehmt uns mit. Die Partei will immer mitgenommen werden, bei allen Entscheidungen, allen Projekten. Schröder und Müntefering haben die Kinder ohne Trost stehenlassen und sind davongebraust. Was Schröder zudem weit von seiner Partei entfernt hat, waren die Versuchungen der Macht. Schon in seiner Kleidung hat er sich bald dem Vorbild der Wirtschaftselite angepasst. Er fand es angenehmer, sich mit Autobossen zu treffen als zum Beispiel mit Familie Unterschicht. Jetzt führt er selbst ein Managerleben. Jetzt kann er sein Einkommen auf Managerniveau treiben. Lafontaine hat es, mit Büchern, längst geschafft und zeigt es allzu gern. Ins Saarland hat er sich eine protzige Villa gepflanzt, in der man gut und gern einige Abteilungen des Willy-BrandtHauses unterbringen könnte. Gerade diese nachgeholte Bürgerlichkeit hat etwas Hemmungsloses, Aufdringliches und Rück36 sichtsloses gegenüber der SPD und bei Lafontaine nun gegenüber der Linkspartei. Doch auch bei den Sanften war der Kontakt zu den unteren Schichten der Gesellschaft nicht gerade ausgeprägt. Auch sie ließen sich rasch in eine Politikroutine spannen, die das Herz der SPD wenig berücksichtigt. Auch hierfür lieferte Platzeck, trotz seiner kurzen Amtszeit, ein symptomatisches Beispiel. Zwei Tage vor der Wahl in RheinlandPfalz besuchte er das Jugendwerk St. Joseph in Landau. Hier lernen vor allem Jugendliche, die es schwer haben mit sich oder der Gesellschaft, Maler, Drucker oder Tischler. Es sind die klassischen Schützlinge der Sozialdemokraten. Für den Maler, der sich gerade mühte, eine Tapete streifenfrei anzumalen, hatte Platzeck zwei Minuten. Den Drucker fragte er eine Frage: „Macht Spaß?“ Der Junge nickte, Platzeck wünschte ihm alles Gute und ging. Über die Gärtner, die im Treibhaus zwischen Blumen hockten, sagte er aus der Ferne: „Was für ein schöner Anblick.“ Zu einem Gespräch kam es nicht. Platzeck musste rasch weiter, zum nächsten Termin im Wahlkampf. Er hatte insgesamt 45 Minuten für St. Joseph. In der SPD-Spitze gibt es seit langem eine Scheu vor der eigenen Klientel. Man wollte die Partei zur bürgerlichen Mitte verschieben, also dorthin, wo man selbst inzwischen angekommen war. Diese Strategie war nicht falsch, aber dabei wurden die unteren Schichten der Gesellschaft vernachlässigt, jene, die nun kaum noch für Politik erreichbar sind. Wie konnte es gerade Rot-Grün zulassen, dass der Bildungsgrad der Kinder d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 wieder stärker vom sozialökonomischen Status der Eltern abhängt? Und das in einem Land, das sein Wohlstandsniveau nur halten kann, wenn eine gebildete Arbeitnehmerschaft hochwertige Produkte herstellt. Und das in einem Land, in dem gerade die Gebildeten besonders wenig Kinder bekommen. Also wird es bald nicht genug gebildete Arbeitnehmer für hochwertige Produkte geben. Daraus wird ein Auftrag für die SPD-Führung. Matthias Platzeck hat das erkannt, immerhin. Er wollte erreichen, dass sich der Staat vor allem darum kümmert, allen Kindern die Chance auf eine gute Bildung zu verschaffen. Die SPD müsste sich komplett umorientieren. Traditionell versteht sie den Staat als Patriarchen, der sorgend eingreift, wenn es bei einem Bürger nicht gut läuft. Nach Platzecks Vorstellungen soll der Staat schon früh dafür sorgen, dass es gut läuft. So hat er es in seinen Ideen für ein neues Programm angedeutet. Wenn Kurt Beck klug ist, nimmt er das auf, aber peitscht es nicht durch, sondern nimmt die Partei mit. Denn es geht nicht nur um ein gesellschaftliches Problem, sondern auch um ein Problem für den Führungsnachwuchs der SPD. Es sind gerade die unteren Schichten, aus denen sich der Führungsnachwuchs der SPD rekrutiert hat. Die Kinder der Armen wollten nach oben und bildeten sich fleißig. Wenn das nicht mehr gemacht wird, geht die SPD unter, oder sie wird endgültig eine bürgerliche Partei und damit überflüssig. Denn die bürgerliche Volkspartei gibt’s ja schon. Deutschland SPI EGEL-GESPRÄCH „Es geht um das Signal“ Der neue SPD-Vorsitzende Kurt Beck über die Aufgabe, seine Partei aus der 30-Prozent-Niederung zu holen, sein Bekenntnis zur Provinz und seine Vorbehalte gegen Grüne und Linkspartei BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO SPIEGEL: Herr Beck, was sagt denn Ihr Beck: Das ist richtig. Aber wer nicht bereit wo ein scharfer Trab auch reicht. Bei den Hausarzt zu den Risiken und Nebenwir- ist, anderen einen Vertrauensvorschuss schwierigen Problemen, die anstehen, kungen Ihres neuen Amtes? einzuräumen, der wird bei der Führung ei- muss auch mal Zeit bleiben, nachdenken Beck: Ich hoffe, dass er mich für stabil nes so heterogenen Betriebs, wie es eine und reflektieren zu können, bevor man Partei nun mal ist, nicht weit kommen. genug hält. entscheidet. SPIEGEL: Und wie stabil muss man sein für SPIEGEL: Ihr Vorgänger Platzeck hat über SPIEGEL: Die Berliner Politikszene sieht sich den Job im Willy-Brandt-Haus? das hohe „Berliner Tempo“ geklagt. Wollen gern als Bundesliga und schaut ein bissBeck: Der Politikerjob ist auch ohne Willy- Sie sich diesem Tempo anpassen oder glau- chen abfällig auf die herab, die im Ruf stehen, nur in der vermeintlich gemächBrandt-Haus nicht gerade gesundheitsför- ben Sie, sich dem entziehen zu können? dernd. Aber ich kann damit ganz gut um- Beck: Weder noch. Ich halte den Reform- lichen zweiten Liga in der Provinz zu gehen. Wichtig ist, dass man eine saubere fahrplan der Bundesregierung in den ver- spielen. Arbeitsstruktur findet, sonst schlägt einem einbarten Fristen für umsetzbar. Das heißt Beck: Wenn auch die Leistungen in Berlin irgendwann alles über dem Kopf zusammen. nicht, dass ich glaube, da käme ein gemüt- immer erstligareif wären, hätte ich an dem SPIEGEL: Hat es daran bisher in Berlin ge- licher Job auf mich zu. Ich bin kein Illu- Bild nichts auszusetzen. Außerdem finde fehlt? sionist, dazu bin ich schon zu lange im Ge- ich an dem Begriff Provinz überhaupt Beck: Das kann ich nicht beurteilen. Aber schäft. Aber ich werde schon darauf ach- nichts Negatives. Ich bin und bleibe Rheinich habe bei Matthias Platzeck nie den Ein- ten, dass ich nicht anfange zu galoppieren, land-Pfälzer, und ich bin stolz darauf. Auch wir hier können uns auf druck gehabt, dass er Hektik einer Rolltreppe bewegen, ohne verbreitet. Es wäre auch leichthinzufallen. fertig, für seine ernste Erkrankung nur den Stress verantSPIEGEL: Was ist Ihr Konzept, um wortlich zu machen. Wenn ich die SPD erstligareif zu halten? ihn richtig verstanden habe, Beck: Ganz einfach: Wir müsgab es eine Grunderkrankung, sen ein paar Tore mehr die sich jetzt verschärft hat und schießen und die Abwehr besdie keine Chance zur Heilung ser aufstellen. hatte unter diesem Druck. SPIEGEL: Das heißt konkret? SPIEGEL: Sie sind jetzt der vierBeck: Wir würden gut daran te SPD-Vorsitzende innerhalb tun, für die Reformdiskussiovon gut zwei Jahren. Wie wolnen, die jetzt auf uns zukomlen Sie Ihrer Partei etwas mehr men, erst mal in den ParteiKontinuität verschaffen? gremien Eckpunkte und Spielregeln zu formulieren, damit Beck: Zu meinem ArbeitsprinFraktion und Regierungsebene zip gehört, dass man nicht alles wissen, wie die Partei tickt. selbst machen muss. Ich habe Und ich erwarte, dass diese fest vor, meine Stellvertreter Spielregeln dann auch in der und den Generalsekretär stark Fraktions- und Regierungsarin die Arbeit und die öffentbeit berücksichtigt werden. liche Präsenz einzubinden. Ich bilde mir ein, dass ich genug SPIEGEL: Das klingt sehr nach innere Abgeklärtheit habe, um Kritik am Arbeitsstil von Vizemich nicht sofort von äußeren kanzler Franz Müntefering und Einflüssen und weniger freundEx-Kanzler Gerhard Schröder. lichen Kommentaren aus der Beck: Es ist doch nicht alles Ruhe bringen zu lassen. Aber gleich Kritik, was man an eigeich rechne auch damit, dass die nen Vorstellungen über einen Partei selbst daran interessiert neuen Arbeitsstil hat. Ich habe ist, dass diese personelle Lödamit in Rheinland-Pfalz gute sung einige Jahre trägt. Erfahrungen gemacht und will versuchen, das jetzt auf der SPIEGEL: Ihr Arbeitsprinzip Bundesebene zu praktizieren. funktioniert in Rheinland-Pfalz, Das ist eher meine politische wo Sie als Ministerpräsident Handschrift als Kritik. eine geschlossene Partei hinter sich haben. Da sieht es in SPIEGEL: Und damit soll die SPD der Bundes-SPD etwas anwieder aus der 30-Prozent-Nieders aus. Parteichef Beck: „Tore schießen und die Abwehr besser aufstellen“ derung kommen? d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 37 Deutschland Beck: Nicht allein damit. Die notwendigen Veränderungen der vergangenen Jahre mussten natürlich eine Partei wie die SPD besonders treffen. Darauf kann man nur reagieren, indem man immer wieder das Gespräch mit unseren Mitgliedern und Wählern sucht. Wir müssen bei den Reformen der Sozialpolitik klar machen, dass wir die Situation der Betroffenen im Blick haben. SPIEGEL: Sie wollen wieder mehr auf die klassische SPD-Wählerschaft zugehen, dann aber auch die Partei für Selbständige, Ärzte und Rechtsanwälte interessant machen. Wie soll denn so ein Spagat funktionieren? Beck: Der muss einfach funktionieren. Für Mittelständler, Handwerker und Freiberufler können wir mit Leitbildern von einer aufgeklärten sozialen Marktwirtschaft und einer kulturell reichen Bürgergesellschaft attraktiv sein. Wir brauchen diese ganze Bandbreite, zumal die klassische Arbeitnehmerschaft kleiner wird statt größer. SPIEGEL: Bei den letzten Wahlen hatte die SPD vor allem das Problem, dass ihre klassische Klientel einfach zu Hause geblieben „Wir müssen wieder dort hingehen, wo unsere früheren Stammwähler sind.“ ist. Wie wollen Sie diese Leute wieder erreichen? Beck: Wir müssen wieder dort hingehen, wo unsere früheren Stammwähler sind: in die Betriebsversammlungen, zu den Gewerkschaften. Das funktioniert. In Rheinland-Pfalz hatten wir bei der Landtagswahl im März einen leichten Stimmenzuwachs bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern zu verzeichnen – trotz WASG-Kandidatur. SPIEGEL: In Rheinland-Pfalz setzen Sie auf persönliche Kontakte und Volksnähe. So etwas lässt sich aber nicht einfach auf den Bund übertragen. Beck: Sicher nicht eins zu eins. Aber es geht darum, das Signal auszusenden: Wir gucken nicht weg und schwimmen einfach im Strom des rein ökonomischen Denkens mit, sondern wir nehmen unsere Gesamtverantwortung ernst. SPIEGEL: Was ist das Besondere am Mainzer Modell, das gegen den Bundestrend absolute SPD-Mehrheiten ermöglicht? Beck: Der entscheidende Punkt ist, dass wir mit allen Interessengruppen reden können. Dadurch konnten wir uns zum Beispiel von den Streitereien auf Bundesebene um die Ausbildungsabgabe abkoppeln und einfach handeln. Bei unserem Ausbildungspakt in Rheinland-Pfalz sind die Gewerkschaften mit am Tisch geblieben, ebenso der Mittelstand. SPIEGEL: In Mainz haben Sie es mit einer übersichtlichen Zahl von Interessengruppen zu tun, die konnten Sie noch an einen 38 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Tisch bringen und sich deshalb mit dazusetzen. Das ist doch mit dem unüberschaubaren Chor der Interessenvertreter auf Bundesebene nicht vergleichbar. Beck: Auch im Bund haben Sie die Handwerksverbände, den Industrieverband, den Arbeitgeberverband. Ich sage ja nicht, dass da immer Friede, Freude, Eierkuchen herrschen muss, aber es hilft nichts, wenn man Türen zuschlägt, statt den Dialog zu suchen. SPIEGEL: Das erste große Reformprojekt Ihrer Amtszeit wird die Gesundheitsreform sein. Wo liegen da Grenzen der SPD, die nicht überschritten werden dürfen? Beck: Eine Kopfprämie wird es mit der SPD nicht geben. Wir wollen eine faire Balance bei der Kostenverteilung und einen diskriminierungsfreien Weg zu allen medizinischen Errungenschaften. SPIEGEL: Die teilweise Finanzierung des Systems durch Steuern und ein Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge sind nicht tabu? Beck: Das kommt auf das Gesamtpaket an. Wenn etwa Einkünfte aus Mieten und Zinsen ins System einbezogen werden, lässt sich darüber reden. SPIEGEL: Außerdem wartet auf Sie die Arbeit an dem Grundsatzprogramm. Da wollen Sie an die Vorarbeiten von Matthias Platzeck anknüpfen. unter 20 Prozent können wir die Republik nicht mehr zukunftsfähig gestalten, gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der enormen Herausforderungen im Bildungssektor. SPIEGEL: Sie wollen also Steuern erhöhen? Beck: Wir haben in der Koalitionsvereinbarung ja schon eine dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung beschlossen. SPIEGEL: Diese Mehreinnahmen sind doch schon längst verfrühstückt. Beck: Langsam, langsam – noch haben wir das Geld ja gar nicht. Aber wir brauchen einfach mehr Mittel für Investitionen, sonst droht auch die bestehende Infrastruktur zu verfallen. BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO Beck: Ich war an diesen Arbeiten beteiligt, das ist also leicht. SPIEGEL: In dem Entwurf steht, die SPD will die Finanz- und Kapitalmärkte regulieren. Wie wollen Sie das anstellen? Beck: Da geht es darum, etwa Hedgefonds mit Hilfe nationaler oder besser europäischer Gesetzgebung so zu bändigen, dass nicht mehr jeder zerstörerische Eingriff in intakte Unternehmen als gottgegeben hingenommen werden muss. SPIEGEL: Im Entwurf werden stetig steigende öffentliche Investitionen gefordert. Wer soll das bezahlen? Beck: Zunächst natürlich die Steuerzahler. Mit der aktuellen Steuerlastquote von Beck beim SPIEGEL-Gespräch* „Der Spagat muss funktionieren“ SPIEGEL: Beim Thema Sozialstaat ist in dem Entwurf die Rede von Sicherheit, Teilhabe und Orientierung, aber nicht mehr davon, dass die SPD den sozialen Aufstieg auch für Schwächere organisieren will. Beck: Zunächst einmal: Das ist ein Eröffnungspapier, das ich noch überarbeiten werde. Da wird sicher nicht jede Formulierung so bleiben, wie sie jetzt ist. Gerade an dieser Stelle sehe ich noch einigen Klarstellungsbedarf. Was Matthias Platzeck als „vorsorgenden Sozialstaat“ bezeichnet hat, darf nicht so verstanden werden, als wäre Verteilungsgerechtigkeit das einzige Merkmal. Fairer Zugang zu Bildungseinrichtungen und damit Aufstiegschancen sind genauso wichtig. SPIEGEL: Ein neues Programm ist ganz nett, der Erfolg eines SPD-Chefs bemisst sich aber an Wahlergebnissen. Wie hoch liegt da Ihre Messlatte? Beck: Das lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Das Ziel muss sein, zu regieren – am liebsten allein, ansonsten als Stärkster in einer Koalition. SPIEGEL: In Rheinland-Pfalz hatte die SPD dieses Ziel 15 Jahre lang durch eine Koa- „Eine Renaissance des sozial-liberalen Modells schließe ich ausdrücklich nicht aus.“ lition mit der FDP erreicht. Ist das ein Modell, das Sie auf den Bund übertragen wollen? Beck: So wie die FDP auf Bundesebene derzeit aufgestellt ist, sehe ich das noch nicht. Für die Zukunft schließe ich eine Renaissance des einst ja sehr erfolgreichen sozial-liberalen Modells im Bund ausdrücklich nicht aus. Allerdings muss sich die FDP dafür von einigen Positionen verabschieden. Ein Verneinen jeglicher Mitbestimmungsansprüche der Arbeiter in Unternehmen etwa kommt mit der SPD einfach nicht in Frage. SPIEGEL: Gegenüber den Grünen scheinen Ihre Berührungsängste größer zu sein. Beck: Das wird mir gern nachgesagt. Das galt auch viele Jahre gegenüber den rheinland-pfälzischen Grünen, hat aber nichts * Mit den Redakteuren Dirk Kurbjuweit, Matthias Bartsch und Horand Knaup. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 39 Deutschland 40 Harter Strich Jens Bullerjahn soll Stellvertreter von Kurt Beck als SPDChef werden. Der Ingenieur gilt in seiner Heimat SachsenAnhalt als unbequemer Sanierer. W enn über die Flure der SPD-Fraktion im ersten Stock des Magdeburger Landtags Led Zeppelin schallt, dann ahnen die Angestellten: Der Chef lernt mal wieder. In solchen Momenten sitzt Jens Bullerjahn, 43, in seinem Büro über langen Zahlenreihen und liest sich ein in die Feinheiten des Finanzressorts. Dabei mag er es hart und laut. Seit der Landtagswahl im März, bei der die SPD 21,4 Prozent der Stimmen holte, arbeiten die Magdeburger Genossen auf ROLF H. SEYBOLDT / SEYBOLDT-PRESS mit Grundabneigungen zu tun. Ich erwarte allerdings von einem Partner, dass er sich der Gesamtverantwortung stellt. Wenn in einem Land wie RheinlandPfalz 616 Militäreinrichtungen aufgegeben werden, muss ich handeln und ganz schnell Arbeitsplätze schaffen. Da kann ich nicht über Monate darüber reden, ob die Schafzucht mit linksbeinigen australischen Bergschafen auch eine Alternative wäre. SPIEGEL: Die Bundes-Grünen sind verlässlicher? Beck: Zum Teil. Da gibt es eine Reihe von Leuten wie Reinhard Bütikofer, mit denen ich gern rede. Mir sind allerdings auch schon andere begegnet. Mit dem früheren Umweltminister Jürgen Trittin hätte ich große Probleme. SPIEGEL: Es könnte sein, dass die SPD für die nächste Kanzlerschaft auf die Stimmen der Linkspartei angewiesen ist. Beck: Solange ich Vorsitzender der SPD bin, schließe ich eine Koalition mit der Linkspartei aus. Zumindest bei uns im Westen der Republik ist das eine Zusammenkunft von ehemaligen Sektierern und Leuten, mit denen ich nichts am Hut habe. SPIEGEL: Was muss ein guter SPD-Kanzlerkandidat mitbringen? Beck: Politische Erfahrung, Unterstützung durch die Partei, eine politische Persönlichkeit. Und schon mal eine Wahl gewonnen zu haben ist sicher kein Nachteil. SPIEGEL: Trifft ja alles auf Sie zu. Beck: Das trifft auf viele Leute zu. Ich habe aber immer gesagt, dass der oder die Parteivorsitzende der oder die Erste ist, der gefragt wird. Aber die Entscheidung fällt erst in zwei, drei Jahren. SPIEGEL: Der letzte SPD-Kanzler sorgt gerade für Unruhe, weil er in den Aufsichtsrat eines Unternehmens wechselt, dem er in seiner Amtszeit zu einem Geschäft verholfen hat. Halten Sie das für sauber? Beck: Wenn ich die gleiche Entrüstung erlebt hätte, als Helmut Kohl seine Deals mit Leo Kirch gemacht hat, würde ich Ihre Empörung über Gerhard Schröders Übereinkunft mit Gasprom herzlich gern teilen. So aber halte ich das für eine etwas künstliche Aufregung. SPIEGEL: Hätten Sie’s gemacht? Beck: Als ich Bürgermeister war, habe ich in meiner Gemeinde kein Grundstück gekauft. Und solange ich Ministerpräsident eines Landes bin, kaufe ich keine Aktie, weil nie ganz auszuschließen ist, dass man über eine Bürgschaft entscheiden muss, von der diese Firma dann in irgendeiner Form betroffen ist. Meine Steuererklärung liegt jedes Jahr für Journalisten in der Staatskanzlei zur Einsicht aus. Aber das sind meine persönlichen Maßstäbe, und das ist mein Stil. Über andere will ich nicht richten. SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Designierter SPD-Vize Bullerjahn Links und rechts sind nicht mehr wichtig eine Große Koalition an der Elbe hin. Und Spitzenkandidat Bullerjahn soll in dieser als stellvertretender Ministerpräsident und Finanzminister mit deutlichen Schnitten die klamme Kasse des Landes sanieren. Es wird nicht die einzige Baustelle des Ingenieurs bleiben – als einer von fünf stellvertretenden SPD-Vorsitzenden soll Bullerjahn künftig Sprachrohr des Ostens sein und die Partei an der Seite von Kurt Beck in die überfällige Programmdiskussion führen. Den auf Bundesebene weithin unbekannten Sachsen-Anhalter – bis dato war er nur einer von 37 Beisitzern im Bundesvorstand – hatte Beck selbst ins Gespräch gebracht. Bullerjahn ist ein Quereinsteiger d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 in die Politik, wie es sie im Osten häufig gibt. Er war 27 und parteilos, als die DDR zu wanken begann. In Eisleben ging der Atheist Bullerjahn zu den Friedensgebeten – der Pfarrer dort war Kontaktmann zur neugegründeten Sozialdemokratischen Partei. Noch im Oktober 1989 wurde Bullerjahn Mitglied, kurz darauf fand er sich am Runden Tisch wieder, er wurde Gemeinderat, saß im Kreistag und zog sofort in den neu konstituierten Landtag ein. Bereits nach drei Jahren wählte die Fraktion den Youngster zum Parlamentarischen Geschäftsführer – von 1994 an brachte es Bullerjahn in diesem Amt gar bundesweit zu etwas Bekanntheit: Der Genosse gilt als einer der Architekten des umstrittenen „Magdeburger Modells“, bei dem sich die SPD-geführte Minderheitsregierung von der PDS tolerieren ließ. Bullerjahn kungelte mit dem PDS-Geschäftsführer Wulf Gallert die Strategie aus; als „Plisch und Plum“ zogen die beiden die Strippen. Die schwere Wahlschlappe 2002, bei der die SPD nur noch auf 20 Prozent kam, besiegelte des Ende des Modells – und eigentlich auch das Ende von Bullerjahns Karriere. In den eigenen Reihen wegen der Niederlage umstritten, behielt er zwar sein Amt als Geschäftsführer, zog sich aber immer weiter aus der Tagespolitik zurück. Zwei Jahre beriet er sich im Hintergrund mit Wissenschaftlern und Wirtschaftsleuten. 2004 gab er dann die Studie „SachsenAnhalt 2020. Einsichten und Perspektiven“ heraus. Bullerjahn sagte einen drastischen Schwund der Bevölkerung voraus – wozu nicht viel gehörte. Seine Therapievorschläge allerdings waren mit hartem Strich gezeichnet: Er verlangte einen rabiaten Sparkurs, Stellenabbau im Öffentlichen Dienst, auch die Fusion mit Thüringen und Sachsen hielt er für nötig. Bullerjahn war plötzlich wieder da, und ein Zufall brachte ihn nach oben. SPDLandes- und Fraktionschef Manfred Püchel legte im Sommer 2004 alle Ämter nieder – Bullerjahn wurde Fraktionschef und Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2006. Ende letzten Jahres beerbte er Matthias Platzeck als Chef des SPD-Forums „Ostdeutschland“. Mit der Linkspartei hat der Genosse inzwischen gebrochen. „Diese Partei gibt sehr einfache Antworten“, ist Bullerjahn aufgegangen. SPD und Linkspartei hätten sich immer weiter auseinanderentwickelt. Die Sozialdemokraten, so seine Erkenntnis, müssten jetzt zunächst ihren Standort bestimmen, bevor sie sich mit Lafontaines Truppen beschäftigen. Er wünsche sich dabei eine möglichst ideologiefreie Diskussion in der Partei; das Land habe Probleme, die seien zu lösen. Die Begriffe „links“ und „rechts“ seien da nicht mehr wichtig – einem Politiker, der schon aus schierem Pragmatismus sein eigenes Bundesland quasi auflösen wollte, kann man so etwas vielleicht sogar glauben. Steffen Winter Deutschland Riskante Doppelstrategie: Offiziell umschmeichelt die Kanzlerin die USA mit Freundschaftsbekundungen, intern übt sie harsche Kritik an der amerikanischen Regierung. G eorge W. Bush könnte glauben, in Deutschland lebten zwei verschiedene Angela Merkels. Die eine tritt im Fernsehen auf und spricht würde- und weihevoll von den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Das unter ihrem Vorgänger Gerhard Schröder arg ramponierte Verhältnis wolle sie rasch wieder aufpolieren. Die andere Angela Merkel klingt forscher und fordernder. So erlebt sie der US-Präsident fast wöchentlich am Telefon. Und demnächst wird die Kanzlerin ihn bereits zum zweiten Mal innerhalb ihrer noch kurzen Amtszeit im Weißen Haus besuchen. Die Wunschliste der deutschen Regierungschefin ist lang und wird mit jedem Tag länger. Sie verlangt Akzentverschiebungen in der Iran- und Russland-Politik, und auch der laxe Umgang des Präsidenten mit der indischen Nuklearmacht missfällt ihr. Am Montag voriger Woche diskutierten Bush und Merkel 35 Minuten lang die komplizierte Weltlage. Die Dame aus Berlin sparte nicht mit guten Ratschlägen, hinter denen sie ihre Kritik an der Außenpolitik der USA versteckt. Washington möge sich doch bitte direkt in den Streit um das iranische Atomprogramm einschalten, warb die Kanzlerin, die den Präsidenten auf seiner Ranch erreicht hatte. Ohne dessen Zutun werde sich der Atomkonflikt wohl kaum entspannen. Wiederholt hatte Bush das Ansinnen, in eine direkte Kommunikation mit dem Regime in Teheran zu treten, abgelehnt. Auch seine Außenministerin Condoleezza Rice erläuterte kürzlich in Berlin die zögerliche Position der Amerikaner. Schon da hielt Merkel freundlich, aber bestimmt dagegen. Noch ein anderer Punkt war der Kanzlerin in dem Telefonat mit Bush wichtig. Die Vereinigten Staaten seien gut beraten, sagte sie, eine Konfrontation mit Moskau zu vermeiden. Man brauche die russische Großmacht, um die Führung in Teheran zum Einlenken zu bringen. Der G8-Gipfel, der im Juli unter russischer Regie in St. Petersburg stattfinde, und besser noch die gesamte G8-Präsidentschaft der Russen müssten ein Erfolg werden. Amerika sollte alles tun, so Merkel, den Russen dabei zu helfen. Bushs Sicherheitsberater, der zu dem Gespräch dazugeschaltet war, weiß mitt42 JOSÉ GIRIBAS Merkels Wunschliste Washington allerdings leidet immer noch an seinem Trauma von 1979, als iranische Studenten nach dem Sturz des US-freundlichen Schahs 444 Tage lang die amerikanische Botschaft besetzt hielten. In der neuen „National Security Strategy“ rangiert Iran als „größte Bedrohung für die USA“. Die Bush-Administration setze auf einen Regierungswechsel in Iran, fürchtet man in Berlin und nimmt inzwischen kein Blatt mehr vor den Mund. „Je besser man sich versteht, desto offener kann man sein“, sagt Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und ein Vertrauter Merkels. Partner Merkel, Bush*: Forsch und fordernd Mittlerweile setzt sich die Kanzlerin auch halböffentlich von den Freunden in Übersee ab. Vor dem Auswärtigen Ausschuss in Berlin zeigte sie Verständnis für die von den USA gerade in den letzten Monaten gescholtenen Russen. Sie lobte Putins Verdienste um die „Wiederherstellung der Staatlichkeit“ im chaotischen Russland Ende der neunziger Jahre. Und dass die Privatisierungen nicht hätten übertrieben werden dürfen, fand sie auch. Das würde nur im „Ausverkauf“ an amerikanische ÖlinteresMinister Steinmeier, Präsident Putin*: Den Russen helfen sen münden. Den Atom-Deal der Amerikaner mit der lerweile um die Hartnäckigkeit der Berliner Regierungschefin. Er bekam we- „Weltmacht Indien“ (Bush) sehen die nige Stunden nach dem Telefonat die Deutschen ebenfalls kritisch. In einem Tegleiche Botschaft noch einmal persönlich lefonat vor einigen Wochen, das der Vorbereitung von Bushs Indien-Visite diente, serviert. Bei seinem Besuch im Weißen Haus drängte Merkel auf mehr Zurückhaltung drängte Außenminister Frank-Walter Stein- gegenüber Neu-Delhi. Was man diesem meier die Amerikaner zu direkten Ge- Land gestatte, lasse sich schwer den Irasprächen mit Teheran. Wenn eine US-De- nern verweigern, war ihr Argument. Teheran könne das amerikanische Techlegation – wie geplant – mit Iran über die Zukunft des Nachbarlands Irak rede, kön- telmechtel mit Indien als Beispiel anne man doch auch gleich über das bren- führen, dass Washington mit zweierlei nendste Thema der internationalen Poli- Maß messe, sagte auch Steinmeier bei seitik sprechen, den nuklearen Ehrgeiz Tehe- nen Gesprächen im US-Kongress. Bevor Deutschland und andere Lieferstaaten von rans, so seine Vorstellung. Merkel und Steinmeier fürchten, dass Nukleartechnologie entschieden, ob sie allein diplomatischer Druck nicht ausrei- den amerikanisch-indischen Pakt gutchen werde, um Teheran zum Einlenken hießen, solle sich zuerst der US-Kongress zu bringen. Iran wolle Sicherheitsgarantien die Sache gründlich anschauen. Die deutsche Kritik hatte Wirkung. Bei und die Anerkennung seines Status als Regionalmacht, doch diese Erwartungen kön- einer Anhörung las die demokratische Senatorin Barbara Boxer genussvoll Steinne nur die Supermacht USA erfüllen. meiers Aussagen vor. Außenministerin Rice starrte ausdruckslos ins Leere. * Oben: am 13. Januar im Weißen Haus in Washington; BPA / ULLSTEIN BILDERDIENST AU S S E N P OL I T I K unten: am 3. Dezember 2005 im Moskauer Kreml. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Ralf Beste, Georg Mascolo Deutschland Minister Steinbrück RALPH SONDERMANN „Die Gesundheitsreform braucht Reifezeit“ REFORMEN Soli mit Nebenwirkung Ein milliardenschwerer Steueraufschlag soll die Krankenkassen sanieren. Finanzminister Peer Steinbrück hält die Idee für verfassungswidrig. P eer Steinbrück hatte das Gefühl, sich guten Gewissens in den Osterurlaub verabschieden zu können. In zahlreichen Einzelgesprächen hatte der Finanzminister seinen Kabinettskollegen das Versprechen abgenommen, ihn bis auf weiteres nicht mit Ausgabenwünschen zu behelligen. Vor allem den Sozialpolitikern trichterte er ein, dass mit zusätzlicher Staatsknete nicht zu rechnen sei. Doch der Minister täuschte sich. Die österliche Vorfreude verdarben ihm ausgerechnet zwei hochkarätige Koalitionsfreunde in trautem Zusammenspiel, Unionsfraktionschef Volker Kauder und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Der eine präsentierte öffentlich seine Idee, frische Milliarden in das Krankenkassensystem zu pumpen. Die andere nahm die Steilvorlage dankbar auf: Sie begrüße den Vorschlag, ließ Ulla Schmidt postwendend mitteilen. Es geht um die Reform des maroden Gesundheitswesens – und wieder einmal soll der Weg des geringsten Widerstands gegangen werden: Eine Steuererhöhung soll es richten. Mindestens 14 Milliarden Euro will Kauder den Bürgern im kommenden Jahr zusätzlich abnehmen. Der Unionsfraktionschef, als Gesundheitsexperte bislang nicht groß in Erscheinung getreten, weiß auch schon wie. Er präferiert, wie etliche andere Vertreter der Großen Koalition, das Modell des sogenannten Gesundheitssoli. Hinter dem putzigen Begriff verbirgt sich eine neue Zwangsabgabe, die den Solidarzuschlag zur Finanzierung der deutschen Einheit weit übersteigt. Kauder möchte, dass jeder Bürger auf seine Steuerschuld einen 44 d e r zusätzlichen Aufschlag von acht Prozent entrichtet. Steinbrück ist strikt dagegen. Öffentlich hält er sich zurück. Doch intern steht sein Urteil fest. Der neue Soli wäre ein Anschlag auf die Konjunktur, fürchtet er, zumal die Koalition schon eine Mehrwertsteuererhöhung beschlossen hat. Außerdem würde er den Reformdruck aus dem maroden Krankenversicherungssystem nehmen. Erst einmal soll die Krankenversicherung saniert werden, bevor er frisches Geld geben will. Steinbrück ist zwar auch der Ansicht, die Sozialversicherungen sollten stärker durch Steuermittel finanziert werden, aber nicht jetzt – und erst recht nicht so. Er hält Kauders Idee für grundgesetzwidrig. Dabei stützt sich der Minister auf eine Expertise seiner Fachleute. Die Juristen im Finanzressort haben ihrem Minister klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ein zusätzlicher Soli sich „verfassungsrechtlich eindeutig im roten Bereich“ befände. Sie berufen sich dabei auf den „Bonner Kommentar“, die Juristenbibel zur Auslegung des Grundgesetzes. Demnach handelt es sich beim Soli, der allein dem Bund zusteht, um eine sogenannte Ergänzungsabgabe, und die dürfe nicht beliebig erhöht werden. Sie müsse „in einem angemessenen Verhältnis zur Einkommen- und Körperschaftsteuer“ stehen. Andernfalls verstoße sie gegen das „Aushöhlungsverbot“, das vor allem die Bundesländer vor einer allzu trickreichen Bundesregierung schützen soll. Nach Einschätzung des Finanzministeriums liegt die zulässige Obergrenze bei 10 Prozent. Die Zugabe für den Aufbau Ost und der Gesundheitssoli würden sich jedoch auf 13,5 Prozent summieren. Öffentlich steht der Unionsfraktionschef mit seinem Vorschlag ziemlich allein da. Von „Kauder-Welsch“ war die Rede. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, zum Urlaub auf der italienischen Ferieninsel Ischia, war alles andere als amüsiert. Gleich zweimal griff sie zum Telefon, um Kauder aus der Ferne zur Rechenschaft zu ziehen. Hörbar angesäuert wollte sie wissen, was ihn geritten habe, den Vorschlag öffentlich auszuplaudern. Nun sehen sich jene bestätigt, die von Anfang an nicht verstehen konnten, warum ausgerechnet Steinbrück nicht zu den Reformverhandlungen hinzugeladen war. Schließlich sei er es, der am Ende für die finanziellen Folgen geradestehen muss. Allzu hart mochte der Finanzminister den Kollegen von der Union allerdings nicht angehen. „Die Gesundheitsreform braucht Reifezeit“, gab er staatsmännisch zu Protokoll. Deshalb rate er allen Beteiligten zu mehr Selbstdisziplin – „auch in nachrichAlexander Neubacher, tenarmer Zeit“. s p i e g e l Christian Reiermann 1 6 / 2 0 0 6 ANDREAS FISCHER Tatort in Kassel: „Eure Polizei wird den Fall nicht lösen“ VERBRECHEN Die Spur der Ceska In einer beispiellosen Mordserie wurden neun eingewanderte Kleinunternehmer mit derselben Pistole getötet. Doch Landsleute und Familien schweigen – wohl aus Angst vor den Killern. A lles ist wie jeden Tag im Demokratischen Kulturverein im Kasseler Norden. Nichts deutet darauf hin, dass vor wenigen Tagen nur drei Häuser entfernt im türkischen Internet-Café ein Mann ermordet wurde. Ein älterer Türke blättert in einer Zeitung. Über die Schüsse von nebenan will er keinesfalls reden. Doch in einem ist sich der Gast sicher: „Eure Polizei wird den Fall nicht lösen.“ Der „Fall“ – das ist die unheimlichste Mordserie Europas. 5 3 Hamburg Rostock Dortmund 8 9 Und danach, dass deutsche Ermittler diesen Fall bald aufklären werden, sieht es tatsächlich nicht aus: Seit mehr als fünf Jahren ziehen mysteriöse Killer eine blutige Spur durch Deutschland. Neun Männer, meist Inhaber kleiner Läden, wurden regelrecht hingerichtet – nach gleichem Muster, in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund und Kassel: immer durch Schüsse in den Kopf, am helllichten Tag, an belebten Straßen. Acht Deutschtürken waren es und ein Grieche. Er- Tödliche Schüsse schossen mit einer Ceska, Typ 83, Kaliber 7,65 Millimeter. Monate oder Jahre lagen manchmal zwischen den Morden, doch vergangene Woche erhöhten die Täter plötzlich die Schlagzahl: Am Dienstag töteten sie einen Kioskbetreiber in Dortmund – und schon am Donnerstag darauf den jungen Inhaber des Internet-Cafés in Kassel. Die Nürnberger „Soko Bosporus“ ermittelt auf Hochtouren und kommt doch nicht voran. Dabei ging der Killer bei seinem letzten Attentat in Kassel ein hohes Risiko ein: Er betrat das Internet-Café an der Holländischen Straße, obwohl mindestens drei Gäste dort im Web surften und eine Polizeiwache nur rund hundert Meter entfernt liegt. Kurz nach 17 Uhr starb der 21-jährige Halit Y. durch zwei Schüsse aus der Ceska, beide trafen ihn in den Kopf. Einer der Gäste will nur einen dumpfen Knall gehört haben, doch habe er sich gar nichts dabei gedacht. Das Geld für das eigene Café hatte sich Halit vor kurzem von seinem Vater geliehen. Wie die anderen acht Männer vor ihm wurde er nicht ausgeraubt. „Was sollte man da auch holen“, sagt ein Freund, „der Halit hatte doch nicht viel.“ Fleißig, unauffällig, gut integriert – so waren fast alle Opfer der Mordserie, die im September 2000 in Nürnberg begann. Enver S., Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern, war der Erste. Er stand mit seinem Blumen-Mobil am Vormittag des 9. September 2000 an einer Ausfallstraße in Nürnberg-Langwasser. S., 38, vertrat einen Kollegen, der an dem Tag Urlaub wollte. Am Nachmittag fand man S. im Wagen, von Kugeln durchsiebt. Neun Monate vergingen, bis es Abdurrahim Ö. traf. Der 49-Jährige war geschieden, lebte in Nürnberg-Steinbühl in einer alten Ladenwohnung. Er war Schneider, Die Opfer der Mordserie 1 2 3 4 Enver S. (38) Abdurrahim Ö. (49) Süleyman T. (31) Habil K. (38) 9. September 2000 13. Juni 2001 28. Juni 2001 29. August 2001 7 8 9 Kassel 1 2 6 Nürnberg 46 5 6 Yunus T. (25) Ismail Y. (50) Theodorus B. (41) Mehmet K. (39) Halit Y. (21) 25. Februar 2004 9. Juni 2005 15. Juni 2005 4. April 2006 6. April 2006 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 H ÜRRI Y ET 4 7 BAY ERNP RE SS. D E München BAYERNPRESS.DE Deutschland Tatort in Nürnberg: „Wir haben Angst“ seit langem in Deutschland. Tagsüber stand er bei Siemens am Band, abends besserte er für ein paar Euro Kleider aus. Am Nachmittag des 13. Juni 2001 hörten Nachbarn einen Streit, angeblich waren zwei osteuropäisch wirkende Männer bei Ö. Wenig später lag der Schneider tot auf dem fleckigen PVC-Boden hinter dem Schaufenster, mit zwei Kugeln aus der Ceska im Kopf. Süleyman T., 31, wurde nur wenige Tage später, am 28. Juni, von seinem Vater gefunden. Der Obst- und Gemüsehändler arbeitete im eigenen Laden in HamburgBahrenfeld. Kurz hintereinander hatte man ihn mit zwei Waffen – eine war die Ceska – dreimal in den Kopf geschossen. Spätestens jetzt war den Ermittlern klar: Die Morde haben System, die Waffe ist das verbindende Element. Nur: Wo ist ein Motiv, das zum Killer führen könnte? Ende August waren die Mörder zurück in Bayern: Am 29. August starb Habil K. durch zwei Kopfschüsse in seinem Gemüsegeschäft in München-Ramersdorf. Passanten glauben, sie hätten einen ausländischen Mann mit Schnurrbart weglaufen und in ein dunkles Auto steigen sehen. Danach war erst mal Ruhe. Zweieinhalb Jahre gab es keine Spur mehr von der Ceska und auch keinen solchen Mord in Deutschland. Doch am Morgen des 25. Februar 2004 bekam der 25-jährige Yunus T. in einem Rostocker Dönerstand Besuch. Wieder war es ein Kopfschuss, wieder aus der Ceska. Bis heute ist unklar, ob T. verwechselt wurde. Denn er war erst seit ein paar Tagen in Rostock, der Besitzer des Dönerstandes soll ihn an diesem Morgen zum Aufsperren vorausgeschickt haben, er selbst habe noch Gemüse kaufen wollen. Es verging mehr als ein Jahr – doch dann gab es eine neue Spur: Am 7. Juni 2005 50 Tschechische Ceska 83 Bewusst gelegte Spur? rollte ein schwarzer Van langsam auf einen fast verlassenen Parkplatz in Nürnberg, zwischen dem Wöhrder See und einer Hochhaussiedlung. Zwei Tage stand das Auto dann dort, man sah es aus den Fenstern der Mietwohnungen. Aber niemand merkte sich Kennzeichen oder Marke. Erst Donnerstagvormittag erschienen zwei junge Männer auf Fahrrädern, sie luden die Räder und dunkle Rucksäcke in den Transporter, stiegen ein, das Auto verschwand. Alles ging ziemlich schnell und hinterließ bei den Nachbarn ein merkwürdiges Gefühl – denn es war noch keine Saison für Ausflügler und der See zum Schwimmen viel zu kalt. Doch die beiden Männer wollten nicht ins Grüne, sie hatten einen Job erledigt. Mit gezielten Schüssen hatten sie Ismail Y., 50, in seinem Dönerstand an der Scharrerstraße getötet, kurz bevor Kids aus der benachbarten Schule in der Pause bei „Onkel Y.“ Snacks kaufen konnten. Bauarbeiter hatten zur selben Zeit zwei Radfahrer beobachtet: Sie standen an einer Litfaßsäule, studierten einen Stadtplan. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Dann stellten sie ihre Räder direkt vor Y.s Stand ab, gingen hinein, kamen rasch zurück und steckten eilig einen Gegenstand in den Rucksack. Die Augenzeugen erinnerten sich so gut an die beiden Radfahrer, dass es von den mutmaßlichen Tätern nun endlich ein Phantombild gab – sie sehen sich ähnlich wie Zwillingsbrüder. Sechs Tage später töteten Unbekannte im Münchner Westend den Griechen Theodorus B., 41, der gerade einen Schlüsseldienst eröffnet hatte. Wieder die Ceska, wieder der Kopf. B. hatte viele türkische Freunde. Und er sollte nicht der Letzte sein: Mehmet K., 39, hörte am Dienstag vergangener Woche wohl noch die Türglocke seiner kleinen Trinkhalle an der belebten Dortmunder Mallinckrodtstraße bimmeln, dann fielen Schüsse. Es scheint, als legten die Täter bewusst eine Spur in diesem grausamen Spiel: die Ceska. Die Waffe und das brutale Vorgehen sind es, die die Soko sicher sein lassen: Die Schützen sind Profis. Vermutlich handeln sie im Auftrag einer internationalen Organisation. Doch was der Polizei fehlt, ist das Motiv. Denn zwischen den Opfern gibt es offenbar keinerlei Berührungspunkte. Keiner der Männer war politisch oder religiös aktiv, es gibt keine Hinweise auf Drogen, Schmuggel oder Geldwäsche. Es gibt keine Kontakte zur Unterwelt, keine Spiel- oder Wettsucht, keine verdächtigen Verbindungen ins Ausland. Für Schutzgelderpresser waren ihre Umsätze viel zu gering. Mehr als tausend Spuren, die die Polizei verfolgte, führten ins Leere. Wem waren die Händler so gefährlich geworden, dass sie sterben mussten? Wer wollte sich an ihnen rächen und wofür? Einige Ermittler glauben, dass Familien oder Freunde teilweise Antworten auf diese Fragen geben könnten. Aber die sagen nur das Nötigste: Ehefrauen wollen sich um Geschäfte nie gekümmert haben, Freunde schildern die Bekanntschaften auf einmal als eher zufällig. Auch bei der Familie eines Nürnberger Opfers wollte niemand reden, eine junge Verwandte sagte nur: „Wir wissen nichts, aber wir haben ziemlich Angst. Wer weiß, was noch passiert.“ Angst haben sie jetzt alle, doch es sind womöglich nicht immer nur die diffusen Ängste vor einem Phantom mit einer tschechischen Automatik-Pistole. Irgendeine Beziehung zwischen Ermordeten und Mördern müsse es geben, glauben Fahnder, und eine vage Ahnung bei deren Landsleuten. Aber so groß die Angst auch sein mag – niemand weiht die Polizei ein. Die schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken schützt die Killer. Soko-Leiter Wolfgang Geier bekannte, durch die Ermittlungen sei den Beamten bewusst geworden, „wie wenig die Polizei eigentlich über ausländische Bevölkerungsteile und ihre Mentalität in unserem Lande weiß“. Guido Kleinhubbert, Conny Neumann GREGOR SCHLÄGER.DE (L.); LORENZ / BILD ZEITUNG (R.) Polizeiwache Uelzen, Beamter O.: „Für mich ist dieser Fall auch in zehn Jahren nicht vorbei“ JUSTIZ Todesfahrt des Kommissars Ein Polizist betrinkt sich auf der Wache und überfährt einen Jungen. Dessen Tod löst bis heute heftigste Reaktionen aus: Wut, Verzweiflung und den Wunsch nach Rache. Von Bruno Schrep E s passierte in einer Sekunde. Ein Aufprall, ein Krachen, splitterndes Glas. Eine Sekunde, die Unglück gebracht hat über zwei Familien. Eine Sekunde, deren Ursachen und Folgen das Vertrauen vieler Menschen erschüttert haben: in die Polizei, in die Justiz, in die Verwaltung. 1999 baute ein schwerbetrunkener Polizist nahe dem niedersächsischen Uelzen einen tödlichen Verkehrsunfall. Die Kollegen des Beamten hätten das womöglich verhindern können, die Justiz behandelte ihn milde, der Mann bekommt nun eine Pension – und die Verwaltung schaffte es erst jüngst, das Disziplinarverfahren gegen ihn abzuschließen. Tatsache ist: Was in dieser Sekunde passierte, war nicht allein Ergebnis eines schicksalhaften Zufalls, einer Verkettung unglücklicher Umstände. Das Unheil kündigte sich lange vorher an. Polizeiinspektion Uelzen, Ende der neunziger Jahre. Hier arbeitet Kriminaloberkommissar Klaus-Henning O., er ist zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Der gut- Schüler Patrick 33 Meter weit geschleudert 52 aussehende Mittvierziger organisiert Pressekonferenzen, schreibt Meldungen für die Lokalzeitungen, beschwichtigt Bürger, die sich über zu rabiate Polizeikollegen beschweren. In Uelzen und Umgebung kennt ihn fast jeder. Bei Auftritten in Schulen beschwört er die Schüler, niemals bei Rot über die Straße zu gehen. Die Eltern mahnt er, streng darauf zu achten, dass ihre Kinder keine illegalen Drogen konsumieren. Doch der Mahner und Warner, ehrgeizig, sensibel, hat selbst Probleme. Fühlt sich bei Beförderungen übergangen, findet, dass seine zahlreichen Einsätze abends und an Wochenenden viel zu wenig gewürdigt werden. Glaubt sich von seinen Vorgesetzten ungerecht behandelt. Eine chronische Erkrankung, ausgelöst durch Stress, zwingt den Oberkommissar zur Einnahme starker Medikamente, macht mehrmonatige Kuren notwendig, Schlafstörungen und Kopfschmerzen kommen hinzu. Immer öfter trinkt der Familienvater, der mit Ehefrau und zwei schulpflichtigen Söhnen in einem winzigen Nest in der Lüneburger Heide wohnt, Alkohol. Und er trinkt zu viel. Nach feuchtfröhlichen Feiern muss der Polizist mehrfach nach Hause gebracht werden. Zwei Kollegen, unterwegs auf Funkstreife, entdecken ihn eines Abends sturzbetrunken am Steuer seines parkenden Autos; der Kommissar kann weder aufrecht gehen noch deutlich sprechen. Kein Kollege hält es offenbar für nötig, den Personalrat über den Alkoholkonsum des Familienvaters zu informieren, kein Vorgesetzter schreitet ein. „Ich gehe davon aus, dass Polizeibeamte mit Alkohol umzugehen wissen“, sagt der damalige Inspektionsleiter. Gelegenheiten zum Trinken gibt es genügend: Zu Geburtstagen, Jubiläen oder d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Urlaubsbeginn wird auf der Polizeidienststelle gebechert, manchmal ein- bis zweimal im Monat. Oberkommissar O. ist meistens mit dabei, langt dann, wie sich Kollegen erinnern, stets kräftig zu. Ein paar Kilometer weiter, in einem Nachbarort, wohnt seit kurzem die siebenköpfige Familie Schüssler. Vater Ingo, Fensterputzer aus Uelzen, hat das zweistöckige Haus in der Heide gekauft, so kann jedes der fünf Kinder in einem eigenen Zimmer wohnen. Mutter Veronika putzt täglich Büros, damit das Geld für die Hypothekenzinsen reicht. Sohn Patrick, der Zweitjüngste, ist ein netter, freundlicher Junge. Der 14-Jährige, hellblond, groß für sein Alter, kann zwar zu Hause noch ganz kindlich sein, wirkt aber im Freundeskreis oft keck bis vorlaut. Patrick wird von Gleichaltrigen bewundert, weil er sich traut, mit einem älteren Mädchen anzubändeln. Und beneidet, weil er öfter von zu Hause wegbleiben darf als andere. In der Hauptschule tut sich der Junge schwer. In Mathematik und Englisch ist er schlecht, in Deutsch auch nicht viel besser. Auf dem Fußballplatz gilt er dagegen als Ass, der Jugendspieler des VfL Suderburg wird sogar in die Kreisauswahl berufen. Am 9. September 1999, einem strahlenden, wolkenlosen Spätsommertag, schwänzt der 14-Jährige das Training. Er trifft sich lieber mit der Freundin, danach mit Marcel, seinem besten Freund. Gegen 20.30 Uhr hat es Patrick plötzlich eilig. Die Eltern haben ihm verboten, im Dunkeln nach Hause zu fahren, und es dämmert bereits. Sein Rad, ein Mountainbike, hat kein Licht, nur Reflektoren an den Speichen. Aber es sind ja nicht mehr als zwei Kilometer bis nach Hause. Oberkommissar O. plagt an diesem Tag großer Ärger. Sein Chef wirft ihm vor, zu wenige Nachtdienste zu leisten, schreit ihn an. Nach einer Konferenz, die sich endlos hinzieht, muss O. nach kurzer Mittagspause zu einem Notfalleinsatz. Als er gegen 17 Uhr ins Uelzener Revier zurückkehrt, gereizt und gekränkt, sucht er ein Ventil. Da passt es, dass ihn ein Kollege zu einer Flasche Whisky einlädt, „Statesman Old Scotch“, 40 Prozent. Gemeinsam trinken Deutschland 54 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Der Oberkommissar wiederum bangt um seine Existenz. Ab zwölf Monaten Haft, ob mit oder ohne Bewährung, ist nach Beamtenrecht der Rausschmiss aus dem Polizeidienst zwingend. Drohende Konsequenz: Job weg, Altersversorgung weg, arbeitslos mit 45. Dabei fühlt sich der Polizist doppelt bestraft. Er wird zunächst suspendiert, später auf einen Schreibtischposten abgeschoben. In den Heidedörfern rund um Uelzen, seine Heimat, empfindet er jeden Weg als Spießrutenlauf. Einheimische tuscheln bei seinem Anblick. Die Ehefrau, eine Krankenschwester, wird auf der Straße geschnitten. Die Söhne, beide in der Pubertät, werden von Schulkameraden gemobbt. Zeugen hören den bösen Satz: „Dein Vater ist ein Kindermörder.“ Beim zweiten Prozess kommt der Kommissar besser weg. Eine Kammer des Landgerichts Lüneburg reduziert das Urteil auf elf Monate mit Bewährung. Es gelte, so die Begründung, „eine Entsozialisierung durch Strafe“ zu vermeiden. Im Klartext: Der Mann und seine Familie sollen nicht ruiniert werden. Unglücksfahrer O. kann Polizist bleiben. Der Beamte wird nicht mehr wegen Vollrauschs belangt. Dazu, argumentieren die Richter, sei er viel zu trinkfest. Sie verurteilen O. wegen fahrlässiger Tötung – ein Delikt, das mit Haft bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. O.s Alkoholpegel, mindestens zwei Promille, wird jedoch, wie im deutschen Recht üblich, als Strafmilderungsgrund berücksichtigt – einerseits. Andererseits muss O. noch 4500 Euro wegen Trunkenheit am Steuer und Unfallflucht zahlen. Und 5000 Euro Wiedergutmachung an die Eltern. Auch dieses Urteil, das nach langem juristischem Gezerre rechtskräftig wird, stößt auf Unverständnis. Der Lüneburger Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger schlägt Alarm. Die „milde Strafe“, warnt er, erschüttere „das Vertrauen der Bevölkerung“ in die Rechtsordnung. In der Redaktion der Lüneburger Lokalzeitung stapeln sich prompt Briefe empörter Leser, die über die „lächerliche Bewährungsstrafe“ wettern. „Dieses Urteil spricht jedem Rechtsempfinden hohn“, schimpft Leser Jürgen Block. Es wirft jedenfalls Fragen nach dem Sinn und dem Ziel von Strafe auf. Zum Beispiel, wem damit gedient wäre, wenn der Kommissar, der nicht resozialisiert werden muss, hinter Gitter müsste? Patricks verbitterten Eltern, deren Wunsch nach Rache mit rechtsstaatlichen Mitteln ein wenig DIRK EISERMANN die beiden Beamten auf der Wache die hal- mehr, als hätte er nie gelebt – für Psychobe Flasche. Hinterher bleibt Oberkommis- logen, die sich um die Familie kümmern, sar O. allein auf der Dienststelle. Er hat alarmierende Zeichen für unbewältigte, verdrängte Trauer. noch etwas zu erledigen. Vater Schüssler wird krank, bekommt Der Beamte kramt in Aktenordnern mit Einsatzplänen, vergleicht seine Dienst- Magenprobleme. Wird mit 45 Jahren Teilzeiten mit denen von Kollegen, kommt invalide, kriegt keinen Job mehr. Sobald zum Schluss, dass er völlig zu Unrecht die Rede auf Patricks Tod kommt, reagiert angeraunzt wurde. Wird immer wüten- er mit heftigsten Gefühlsausbrüchen. Unfallfahrer O. ist in seinen Augen eine der. Trinkt die restliche halbe Flasche Whisky leer. Setzt sich ans Steuer seines Art Mörder. „Wenn ich ihm begegne, passiert ein Unglück“, prophezeit er, ballt Wagens. Kreisstraße 28, 20.32 Uhr. Es ist nicht die Fäuste. „Der soll sich hier nie blicken mehr hell, aber auch noch nicht dunkel. lassen.“ Den schriftlichen Vorschlag des Der betrunkene Polizist bemerkt den vor Polizisten, sich zu einem persönlichen Geihm fahrenden Radler nicht. Mit rund 90 spräch zu treffen, lehnt er empört ab. Und Stundenkilometern rammt sein Auto von den Verlauf des Strafverfahrens empfindet er als persönlichen Affront, als eine hinten Patrick Schüsslers Mountainbike. Der Schüler knallt mit dem Kopf gegen schallende Ohrfeige für sich und seine die rechte Dachkante des Autos, wird dann Familie. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil ver33 Meter weit in den Straßengraben geschleudert. Er ist sofort tot. Sein Rad fliegt gehen weit über vier Jahre. Das Disziplinarverfahren gegen den Polizeibeamten fast 50 Meter weit auf eine Wiese. Zeugen beobachten von weitem, wie der Oberkommissar aussteigt, mehrfach sein Auto umkreist, etwas aufhebt. Die Windschutzscheibe seines Wagens ist geborsten, die Splitter liegen auf dem Beifahrersitz. Die Vorderfront ist verbeult. Ob er das Unfallopfer bemerkt, das verbeulte Rad entdeckt, wird nie geklärt. Fest steht nur: Die Zeugen sehen, wie er nach ein paar Minuten weiterfährt. Erst ein Fahrlehrer, der mit seinem Wagen am Unfallort vorbeikommt, sieht das zerstörte Mountainbike und schlägt Alarm. Schon Stunden später wird Klaus-Henning O. aus Mutter Schüssler, Unfallstelle: Verlust nie verkraftet dem Bett geholt. Kollegen, die seinen alten Audi 100 kennen, sind an- wird sogar erst kürzlich, nach über sechs hand abgesplitterter Karosserieteile an der Jahren, abgeschlossen. Beim ersten Prozess verurteilt ein LüneUnfallstelle auf ihn gekommen. O.s Ehefrau, ebenfalls aus dem Schlaf geschreckt, burger Amtsrichter den Oberkommissar bricht beim Anblick des demolierten Fahr- wegen vorsätzlichen Vollrauschs. Bestraft wird nicht die Unfallfahrt, sondern die Sauzeugs weinend zusammen. 24. Februar 2006. Patricks Geburtstag ferei vorher. Zumal der Polizist von Anfang fällt dieses Mal auf einen Freitag. Mutter an behauptet, er könne sich weder an den Veronika Schüssler fährt in aller Frühe zur Zusammenstoß noch an die Zeit unmittelUnfallstelle, an der ein verwittertes Holz- bar davor oder danach erinnern. Sein Gekreuz an Patricks Tod erinnert, legt einen dächtnis ende beim Whiskytrinken auf der Blumenstrauß nieder. Fährt dann weiter Wache und setze erst beim nächtlichen zum Friedhof. Patrick wäre 21 Jahre alt Aufschrecken, als plötzlich die Kollegen im Schlafzimmer standen, wieder ein. geworden. Das Strafmaß, ein Jahr Freiheitsentzug, Ingo Schüssler, der Vater, ist nicht mitgekommen. „Er regt sich viel zu sehr auf“, ausgesetzt zur Bewährung, löst bei den erklärt die Ehefrau. Die Familie hat den Prozessbeteiligten Entsetzen aus. Alle legen Berufung ein. Verlust von Patrick nie verkraftet. Patricks Eltern, die den angeklagten Die Mutter etwa lässt sein Zimmer jahrelang unverändert, verrückt nicht einen Kripomann während der Verhandlung Stuhl, ganz so, als könnte der Sohn jeden ständig fixieren, finden das Urteil Moment zurückkehren. Die Geschwister empörend. „Mein Sohn ist tot, und der dagegen erwähnen die Existenz des Bru- muss noch nicht einmal ins Gefängnis“, ders seit der Beerdigung mit keinem Wort kommentiert der Vater. 56 ULRICH BAATZ befriedigt würde? Empörten Bürgern, die am Rechtsstaat zweifeln? Andererseits: Ist es nachvollziehbar, dass ein Schiedsrichter, der ein paar Fußballspiele verschoben hat, jahrelang ins Gefängnis soll, ein Polizist, der fahrlässig einen Menschen getötet hat, dagegen keinen Tag? Fest steht jedenfalls: In ähnlich gelagerten Fällen sind höhere Strafen verhängt worden. Ein Berliner Autofahrer, der mit 1,75 Promille im Blut einen 17-jährigen Radfahrer von der Straße rammte, wurde zu zwei Jahren und acht Monaten ohne Bewährung verurteilt. Der Radler, der noch am Unfallort starb, war wie Patrick Schüssler mit einem unbeleuchteten Mountainbike unterwegs. Den Tod eines Motorradfahrers ahndete das Amtsgericht Bad Segeberg gar mit drei Jahren Freiheitsentzug. Das Opfer war beim Abbiegen von einem Fiat überrollt worden. Der Fahrer, schwer betrunken, hatte eine rote Ampel übersehen. In Uelzen wird die Aufregung noch größer, als Oberkommissar Klaus-Hennig O. kurz nach dem Urteil vorzeitig pensioniert wird, im Alter von nur 48 Jahren. Kein glücklicher Ruheständler allerdings. Der Polizist ist körperlich und seelisch beschädigt. Seine Krankheit ist schlimmer geworden, nach der Todesfahrt sind psychische Probleme dazugekommen: O., der beteuert, seit dem Unfall kaum noch Alkohol zu trinken, wirkt zutiefst niedergeschlagen, traut sich nur selten aus dem Haus. Nachdem mehrere Klinikaufenthalte keine Besserung bringen, schreibt ihn ein Amtsarzt dienstunfähig für immer. Um dem ehemaligen Kollegen weitere Unbill zu ersparen, versucht die Polizeibehörde, das eingeleitete Disziplinarverfahren gegen O. still und heimlich einzustellen – und setzt sich damit dem Vorwurf der Kumpanei aus. Erst auf Druck des niedersächsischen Innenministeriums ringen sich die Disziplinarvorgesetzten zu einer Entscheidung durch: Die Pension des Beamten wird zwei Jahre lang um fünf Prozent gekürzt. Die Strafe läuft bis zum 30. Juni 2007. „Für mich ist dieser Fall auch in zehn Jahren nicht vorbei“, ahnt der pensionierte Polizist, „der verfolgt mich bis ans Lebensende.“ Sein Wunsch, mit der Familie weit wegzugehen, scheitert an der betagten Mutter, die nicht mehr umziehen will. Er weiß, dass er in der Provinz immer der Polizist bleiben wird, der im Suff das Kind totgefahren hat. Er weiß, dass er sich in seiner Heimat nie mehr unbefangen bewegen kann. Und er weiß, dass ihm Patricks Eltern nie verzeihen werden. „Wenn es nach mir ginge, müsste dieser Mann lebenslänglich ins Gefängnis“, erklärt Patricks Mutter Veronika Schüssler, „unmöglich, dass er frei herumläuft.“ „Ich lebe doch schon fast wie in einem Gefängnis“, sagt Klaus-Henning O., „es sind nur keine Gitter drum herum.“ Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg (bei Dortmund): Zwangsernährung abgelehnt STRAFVOLLZUG Klarer Wunsch In Nordrhein-Westfalen hungerte sich ein psychisch kranker Häftling zu Tode. Die Ärzte schauten zu, bis es zu spät war. Nun ermitteln Staatsanwälte. A m Mittag des 30. Juni 2005 war es endgültig zu spät, um Thomas Kuske zu retten. Die Ärzte versuchten es noch mit künstlicher Beatmung, injizierten Adrenalin in seinen Herzmuskel. Aber Kuske starb im Alter von 25 Jahren auf der Intensivstation der Justizvollzugsklinik in Fröndenberg bei Dortmund. Der Untersuchungshäftling hatte 35 Tage lang das Essen verweigert und kaum einen Schluck getrunken. Die Polizei stufte den Vorfall daher als „Suizid“ ein, nichts Besonderes also: Seit 2003 haben sich deutschlandweit über 200 Häftlinge umgebracht. Auf Druck von Kuskes Mutter Martina Wittich und ihrem Anwalt Gunter Hoffmann will die Staatsanwaltschaft Dortmund nun aber klären, ob es sich nicht eher um die fahrlässige Tötung eines psychisch kranken Mannes handelt. Hätte Kuske nicht genauer untersucht und sogar zwangsernährt werden müssen? Als 1974 und in den Folgejahren etliche RAF-Terroristen gegen ihre Haftbedingungen anhungerten, entschloss sich die Exekutive ausnahmslos zum harten Durchgreifen. Die Streikenden wurden fixiert, zwangsernährt und bis auf Holger Meins und Sigurd Debus auch gerettet: Meins starb 1974, Debus 1982. Im Fall Kuske lehnten die Fröndenberger Mediziner Zwangsmaßnahmen aber bis zum Schluss ab. „Wir konnten nichts tun“, sagt der Ärztliche Direktor Wolfgang Riekenbrauck. Kuske hatte auf die Frage, warum er nichts essen wolle, immer dieselbe Antwort gegeben: „Darum.“ Die Ärzte nannten das einen „klar geäußerten Wunsch“ – und wer klar im Kopf ist, darf sich in Deutschland zu Tode hungern. Die Staatsanwaltschaft Dortmund prüft nun aber, wie viel dieser Wunsch wert war. In einem Gutachten bilanziert der Rechtsd e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 mediziner Eberhard Josephi, dass Kuskes Nahrungsverweigerung „in einem anderen Licht“ hätte gesehen werden müssen. Er stützt sich dabei auch auf Schriftstücke, die der Justiz schon Anfang Juni 2005 vorlagen. Danach könnte Kuske jener Sorte Patient entsprechen, über die sich Ärzte und Juristen überwiegend einig sind: Häftlinge, die nicht zurechnungsfähig sind, dürfen zwangsweise behandelt werden, wenn sie sich in Lebensgefahr bringen. Kuske wurde am 17. Mai festgenommen, weil er unter anderem auf seine Großmutter losgegangen war. Da er keinen festen Wohnsitz hatte, ließ ihn der Richter zur Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Mönchengladbach bringen. Kuske wog 113 Kilogramm. Als Martina Wittich ihren Sohn vier Wochen später besuchte, konnte er seine Hose kaum noch halten, wirkte fahrig und bat sie, ihn aus der Haft zu holen. Am 24. Juni wurde Kuske in die Klinik Fröndenberg gebracht. Er hatte etwa 25 Kilo abgenommen und lief Gefahr, lebensbedrohliches Kammerflimmern zu bekommen. Nun wäre es Zeit gewesen für eine „unverzügliche Medikation“, schreibt Rechtsmediziner Josephi. Doch die Fröndenberger Ärzte taten zu wenig, um den Häftling zu retten. Dabei wussten sie aus der JVA in Mönchengladbach, dass Kuske unter einer Psychose litt. Beim zuständigen Amtsgericht waren zudem drei Schriftstücke eingegangen, die im Behördenalltag untergingen. Das erste war ein Attest von Kuskes Arzt, in dem „dringend“ psychiatrische Hilfe empfohlen wurde. Das zweite stammte von einem Psychiater, der Kuske drei Jahre lang wegen Depressionen und „wahnhafter Zuspitzungen“ behandelt hatte. Im dritten Brief schreibt der Leiter einer Einrichtung für Obdachlose, Kuske habe immer wieder davon gefaselt, dass sein Essen vergiftet sei. Zur Verwunderung Josephis entschlossen sich die Ärzte aber erst am 29. Juni, einen Mitarbeiter des psychologischen Dienstes einzuschalten. Der kam nach einem Gespräch zu dem Schluss, dass Kuske mit seinem renitenten Verhalten offenbar seine Haftunfähigkeit beweisen wolle. Einen Tag später war der Patient tot. Guido Kleinhubbert BOENING / ZENIT / LAIF EUROPÄISCHER GERICHTSHOF Deutschland Europäischer Gerichtshof in Luxemburg: „Die anderen lachen über uns“ E U R O PA Chancen verbaut Seit Jahren verhindern parteipolitische Querelen, dass Deutschland entscheidenden Einfluss auf die europäische Rechtsprechung nehmen kann. D ie Aufforderung des Rats der Europäischen Union war eindeutig. Bis „spätestens 17. März 2006“ sollten 13 Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, erklären, wer für sie demnächst als Richter beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg fungieren soll. Zwölf Regierungen gaben ihre Benennung pünktlich ab. Nur eine ist immer noch säumig: die deutsche. Die Große Koalition in Berlin kann sich nicht einigen, wem sie diesen wichtigen Richterposten übertragen will: Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) würde gern die im Oktober auslaufende sechsjährige Amtszeit der von Rot-Grün benannten Richterin Ninon Colneric verlängern, die Union möchte lieber einen ihr nahestehenden Kandidaten nach Luxemburg schicken. Der Vorgang ist symptomatisch für den fahrlässigen Umgang Deutschlands mit einem einflussreichen Organ, das in Europa sowohl über die Rechtstreue der Mitgliedstaaten als auch der Brüsseler Machtzentrale wacht. Schon seit Jahrzehnten verzichten deutsche Regierungen aus innen- und vornehmlich parteipolitischen Gründen auf eine kontinuierliche Personalpolitik beim EuGH – und verschenken damit eine der wichtigsten Optionen, die europäische Rechtsordnung mitzugestalten. Die Luxemburger Richter, je einer aus jedem Mitgliedstaat, sollen ganz offiziell 60 die nationalen Rechtstraditionen repräsentieren, inoffiziell vertreten sie aber durchaus auch die Interessen ihres Heimatlandes. Je länger ein Richter im Amt ist, desto größeren Einfluss kann er gewinnen. Die Deutschen scheint das nicht zu interessieren: Sie wechseln ihre Richter stets bereits nach wenigen Jahren aus, anstatt sie über mehrere Amtszeiten in Luxemburg zu lassen, so wie dies die übrigen europäischen Staaten in aller Regel tun. „Die anderen lachen über uns“, sagt Manfred Zuleeg, von 1988 bis 1994 Richter am EuGH. „Deutschland verbaut sich seine Chancen selbst.“ Das beginnt schon damit, dass die Gerichtssprache Französisch ist, selbst bei den Beratungen der Richter wird ausschließlich französisch parliert. Dadurch dauert es meist Monate, manchmal sogar Jahre, bis ein Neuling rein sprachlich mithalten kann. Bei den Abstimmungen hat jeder Richter formal gleiches Gewicht, egal ob er aus Deutschland oder Malta kommt. Entscheidend aber ist die Erfahrung. Neulinge stehen ganz unten in der Hackordnung: Das „Standing im Richterkreis“, sagt ein ehemaliges deutsches Mitglied, zahle sich „erst im zweiten Mandat richtig aus“. Die europäische Rechtsmaterie hält selbst für Fachleute oft noch Fallstricke bereit. Ein guter Mitarbeiterstab kann Novizen zwar manches abnehmen, aber wenn in der Beratung überraschende Aspekte auftauchen, muss ein Neuling oft passen. Und nur wer Loyalitäten und Gefolgschaften organisiert, kann wirklich auch etwas bewegen – doch das braucht Zeit. Wichtige Verfahren landen so gut wie nie bei einem unerfahrenen Richter. Denn anders als etwa an deutschen Gerichten bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht üblich, gibt es am EuGH keine feste Geschäftsverteilung. Der Präsident hat dadurch eine äußerst starke Position: Er verteilt die Fälle an die jeweiligen Berichterstatter, und die prägen die Urteilssprüche maßgeblich. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Die Deutschen, so wird in Luxemburg gespottet, dürften sich traditionell zunächst an Routinesachen wie Milchquoten abarbeiten; Ninon Colneric hat immerhin jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, zwei der wichtigsten Verfahren bekommen, darunter einen Fall, in dem es um die Weitergabe von Flugpassagierdaten an die USA geht. Durch die Erweiterung der Europäischen Union ist der Kampf um Einfluss am höchsten EU-Gericht noch schärfer geworden. Jetzt rangeln 25 Richter um wichtige Posten in den Kammern. Das bevölkerungsreichste Land geht dabei oft leer aus – obwohl die meisten Fälle aus Deutschland kommen: Etwa zwei Drittel dieser Rechtsfragen werden allerdings inzwischen ohne deutsche Beteiligung entschieden. Andere Länder haben die Bedeutung einer personellen Kontinuität erkannt: Beim letzten Regierungswechsel in Großbritannien etwa tauschte Tony Blair zwar einen EU-Kommissar aus – den Richter in Luxemburg beließ er aber im Amt. Österreichs Kanzler Wolfgang Schüssel hat den 71-jährigen Peter Jann trotz dessen Alters und trotz innenpolitischen Widerstands erneut nominiert – Jann ist aufgrund seiner bereits elfjährigen Amtszeit mittlerweile einer der einflussreichsten Richter. Volle zwei Amtsperioden schöpfte noch kein deutscher Richter aus. Am längsten bleiben durfte zuletzt der ehemalige Verfassungsrichter Hans Kutscher, bevor er 1980 nach zehn Jahren freiwillig ausschied – vier Jahre davon wirkte er als Präsident. Kutschers Nachfolger wurden immer wieder schnell ausgewechselt – mal gab es daheim einen Regierungswechsel, mal fielen sie parteipolitischen Personalrochaden zum Opfer. An mangelnder Kompetenz lag es offenbar nicht. „Alle bisherigen deutschen Richter waren gute Leute“, sagt der ehemalige deutsche Generalanwalt Siegbert Alber, „aus fachlichen Gründen hätte gegen eine Wiederernennung nichts gesprochen.“ Dietmar Hipp Gesellschaft Szene Was war da los, Ms Borchert? Die amerikanische Verkäuferin Tammy Lynn Borchert, 28, über ihren Protest gegen die Fleischindustrie PAUL J. RICHARDS / AFP „Eine Stunde lang lag ich wie ein eingeschweißtes Stück Supermarktfleisch vor dem Holiday Inn in Washington. Länger ging nicht, die Luft wurde zu knapp. Einige Dutzend Rinderfarmer liefen an mir vorbei, sie waren auf dem Weg ins Hotel zu einer Konferenz der National Cattlemen’s Beef Association. Die meisten haben gelacht, als sie mich da liegen sahen, blutverschmiert und in Folie gewickelt. Einige haben sich über mich gebeugt, um zu sehen, ob ich nackt bin. Die hatten Pech, ich trug hautfarbene Unterwäsche. Das Ganze war eine Aktion der Tierrechtsorganisation PETA. Wir wollten die Menschen daran erinnern, dass Tiere, auch Zuchttiere, aus Fleisch und Blut sind, dass auch sie Schmerz empfinden und wir sie deswegen nicht essen sollen. Die meisten Passanten waren geschockt, als sie mich sahen, ein Kind fing sogar an zu weinen. Von einem Mann habe ich später erfahren, dass er jetzt Vegetarier werden will. Immerhin.“ Borchert in Washington Dichter, gut gelaunt S Geist“. Bertolt Brecht mokierte sich über den Irrglauben, Sport sei gesund. Das bis heute nicht gelöste Problem bringt der Romanautor und Langstreckenläufer Günter Herburger auf den Punkt: „Für Sportler sind Intellektuelle überheblich. Für Intellektuelle sind Sportler dumm. Was tun?“ eit der Sport „so epochal geworden ist, wissen die Menschen endlich, was sie anfangen sollen“, schrieb Siegfried Kracauer 1927 in der „Frankfurter Zeitung“. Und wollten immer auch erfahren – glaubt Kracauer –, warum sie Sport treiben. Welche Antworten Schriftsteller auf diese Frage geben, zeigt jetzt die auf München und Lübeck verteilte (von einem beim Arche-Verlag erschienenen Buch begleitete) Ausstellung „SportsGeist“ mit teils unbekannten Fotografien von Autoren beim Sport. Die Bilder, die auch an heute kaum noch bekannte Sportarten wie Rhönradturnen oder Nacktklettern erinnern, beweisen mindestens eins: Ob beim Schwimmen, beim Autorennen oder im Kanu – die Autoren sind bestens gelaunt. Was allerdings nichts am insgesamt ambivalenten Verhältnis der Dichter zum Sport ändert. So war für Robert Musil der Gebrauch des Wortes „Genie“ im Zusammenhang mit Sportlern ein Zeichen der geringen Wertschätzung der Moderne „für tatsächlichen Nacktkletterer Hermann Hesse (1910) 62 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 PSYCHOTHERAPIE Süße Medizin J DLA-MARBACH.DE AU S ST E L L U NGE N eder weiß: Schokolade macht glücklich und hilft bei Liebeskummer. Nun aber setzen israelische Ärzte Schokolade sogar in der Psychotherapie von Traumapatienten ein – und zwar gleich kiloweise. Am Beit-Loewenstein-Hospital in Raanana beginnen die Gruppensitzungen neuerdings mit dem Schmelzen von Schokolade. Anschließend formen die Patienten Skulpturen aus der Masse, sie stellen Pralinen her oder verzieren Kuchen. „Für praktisch jeden Menschen ist Schokolade durchweg positiv besetzt“, sagt die Psychologin Aviva Edelman: „Schon der Anblick von so viel Süßkram hebt die Stimmung der Patienten, und es fällt ihnen leichter, über sich und ihre Leiden zu sprechen.“ Den kleinen Tabubruch – eigentlich sollte man mit Essen ja nicht spielen – empfänden die Patienten als befreiend, sagt Edelman. Außerdem mache das Formen mit Schokolade einfach mehr Spaß als etwa mit Knete. Und was passiert nach der Therapie mit den Kunstwerken? „Manche Patienten nehmen ihre Arbeit mit nach Hause“, sagt Edelman. „Manches essen wir aber einfach an Ort und Stelle auf.“ Szene Gesellschaft Oh Happy Day Wie ein Rassist zum Menschenfreund bekehrt wurde R ichter William Mallory blieb ruKirchgang schlug er vor, sechs Gotteshig und sachlich, trotzdem klang dienste in einer schwarzen Gemeinde. es bedrohlich, wie er zum AngeDas werde Haines’ kulturellen Horizont klagten sprach: „Es scheint mir offenerweitern – und die rassistische Kluft in sichtlich, dass Sie keine Schwarzen möCincinnati verringern. Ob er das wolle? gen“, sagte er. „Aber jetzt sind Sie ei„Auf jeden Fall“, sagte Haines. nem schwarzen Richter ausgeliefert.“ Amerikanische Richter mögen solche Vor Mallory stand, kleinlaut, Brett Urteile. Sie lassen Angeklagte FrauenHaines, ein Weißer, 36 Jahre alt, Hankleider anziehen, weil sie Frauen beläsdelsvertreter. Am 26. November 2005 hatte er in einer Bar neun Bier getrunken und dann ein Taxi für die Heimfahrt gerufen. Der Taxifahrer schien Umwege zu fahren, Brett Haines wurde sauer. Er möge keine „Nigger“, schrie er den Fahrer an. Er werde ihn verprügeln und in der Taxe Crack verstecken und ihn anzeigen, drohte er. Es gibt viele Theorien darüber, warum Menschen wie Haines zu Rassisten werden, doch es gibt immer nur zwei Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen: bestrafen oder bekehren. Bei Haines hatte Richter Mallory, Angeklagter Haines (mit Anwalt) sich Mallory fürs Bestrafen entschieden, für 30 Tage Gefängnis. Aber der Fall ließ ihn nicht los. Richter Mallory ist im West End von Cincinnati, Ohio, aufgewachsen, einem Viertel mit tristen Sozialbauten, das zu 87 Prozent von Schwarzen bewohnt wird. Deren Vorfahren flüchteten als Sklaven nach Cincinnati. Wer die Stadt erreichte, war frei, aber nicht so frei wie ein Weißer. Als Kind musste RichAus der „Süddeutschen Zeitung“ ter Mallory andere Stadtteile meiden wegen seiner Hautfarbe. tigten, eine Nacht im Wald verbringen, Der Angeklagte Brett Haines lebt in weil sie Kätzchen aussetzten, oder ein einem Einfamilienhaus in der Eight Mile Bild des Menschen mit sich herumRoad im kleinen Ort Anderson. Ein tragen, den sie überfahren haben. Creaschmucker Vorort, elegante Parkanlative sentencing, kreatives Urteilen, nengen, Menschen mit Einkommen, die nen sie es, die Täter sollten die Opfer mehr als doppelt so hoch liegen wie in verstehen, sagen die Richter jedes Mal, Cincinnati. Nicht einmal ein Prozent aber oft scheint es nur ein Spaß zu sein, der Bewohner ist schwarz. ein bisschen Pranger. Vier Tage lang dachte Mallory darRichter Mallory meinte es ernst. Er über nach, wie Brett Haines wohl zum glaubt, dass Rassismus heilbar ist, er hat Rassisten geworden war, dann ließ er seine Gründe. Sein Vater war der erste ihn aus dem Gefängnis holen. schwarze Mehrheitsführer im RepräHaines könne freikommen, sagte der sentantenhaus von Ohio, sein Bruder Richter, aber dafür müsse er sein wurde vor fünf Monaten zum Bürger„schwarzes Bewusstsein“ entwickeln. meister von Cincinnati gewählt. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Am ersten Sonntag ging Brett Haines in einen Königreichsaal, zu schwarzen Zeugen Jehovas. Sie seien sehr freundlich gewesen, erzählte er dem Richter danach, aber er habe Angst, die Presse könnte ihn finden. Die Zeugen Jehovas hatten ihn offiziell eingeladen, er war jetzt ein prominenter Sünder, gute Werbung für jede Gemeinde. Richter Mallory erlaubte einen Wechsel. Am zweiten Sonntag besuchte Haines eine Episkopalgemeinde, außer dem Pastor wusste diesmal niemand, weshalb er da war. Er fiel trotzdem auf in einer Gemeinde, deren 300 Mitglieder alle Schwarze waren. Sie freuten sich über den Besucher, sie umarmten ihn. Haines kam wieder. Er hörte den Chor Spirituals singen, er nahm am Abendmahl teil, er sprach nach den Predigten mit anderen. Er fühle sich jetzt unterrichtet, sagte er dem Pfarrer, ja, nicht nur das, er fühle sich „erleuchtet“. Beim sechsten Mal brachte Haines seine Frau mit. Und wurde Gemeindemitglied. Am 1. März stand Brett Haines noch einmal vor Gericht und hatte sechs vom Pfarrer unterschriebene Gottesdienstprogramme dabei. Ob er etwas gelernt habe, wollte Mallory wissen. Ja, sagte Haines, dass alle Menschen gleich seien. Es klang nach einer Floskel. Seinen Beitritt zur Episkopalgemeinde verschwieg Haines. Er wollte nicht, dass ABC und NBC wieder anrufen, wollte nicht länger seinen Ausraster erklären und auch nicht, was bei den Episkopalisten passiert war. Brett Haines hatte Schwarze kennengelernt und verstanden, dass sie keine Nigger waren. Es ging so einfach, dass es ihm wie eine Erleuchtung vorkam. An einer Erleuchtung gibt es nichts zu erklären. Brett Haines durfte nach Hause, nach Anderson, in die Eight Mile Road. In Detroit gibt es auch eine Eight Mile Road, sie wurde bekannt, weil dahinter das Elendsviertel liegt, in dem der Rapper Eminem aufgewachsen ist. Die Straße markiert die Grenze zwischen der schwarzen Stadt und den weißen Vororten. Es gibt sie weiter, diese Grenze. Doch zwischen Cincinnati und Anderson, erzählt der Pfarrer, sei sie etwas durchlässiger geworden. Brett Haines fährt jetzt jeden Sonntag mit seiner Frau 25 Kilometer zu seinen neuen Brüdern und Schwestern. David Böcking FOTOS: GARY LANDERS / CINCINNATI ENQUIRER EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE 63 NOWOSTI / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.); YANN ARTHUS-BERTRAND / CORBIS (R.) Strahlenmessung in Tschernobyl nach der Havarie, aufgegebene Stadt Pripjat (1990): „Es war der Reaktor, Genosse – es gibt Opfer“ KERNKRAFT Pompeji des Atomzeitalters Tschernobyl ist die Chiffre für die größte technische Katastrophe in der Menschheitsgeschichte. Starben 56 oder 34 499 oder gar 50 000 Menschen? 20 Jahre nach dem Reaktorunglück erforschen Wissenschaftler noch immer das Ausmaß des Unfalls. Von Walter Mayr D er Zugang zur Todeszone ist versperrt. Die Straße zum TschernobylReaktor riegeln Polizisten mit Maschinenpistolen und Geigerzählern ab. Nur wer eine Sondererlaubnis vorweisen kann, wird durchgewinkt. Zu beiden Seiten der asphaltierten Trasse wuchert der Wald. Zwischen Birken, Kiefern und Pappeln ins Dickicht geduckt, sind fensterlose Ruinen einstöckiger Häuser zu sehen. Meter um Meter holt sich die Natur nun zurück, was ihr die Siedler von Tschernobyl einst abrangen. „Bewahre die Umwelt für deine Nachfahren“ steht auf einem rostigen Schild, 64 das erhalten geblieben ist inmitten menschenleerer Wildnis, ein grotesker Imperativ aus versunkener Zeit. Für die Nachfahren chassidischer Juden, die in und um Tschernobyl jahrhundertelang siedelten, und für die Kinder der sowjetischen Kraftwerksarbeiter, die ab 1970 kamen, gibt es hier keine Zukunft mehr. Die letzten Alten, die noch verstreut in den Wäldern der 30-Kilometer-Sperrzone rund um Tschernobyl hausen, klagen über Wölfe, die ihnen inzwischen bis in die Vorgärten folgen und die Wachhunde fressen. Durchs Zentrum der Geisterstadt Pripjat, vorbei am verlassenen Gebäude der Komd e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 munistischen Partei, wo die Türen aufgebrochener Aktenschränke im Wind knarren, traben Wildschweine in Richtung Ruine des Kulturpalasts „Energetik“. Es ist totenstill, im Pompeji des Atomzeitalters. Die Uhren sind angehalten worden am 26. April 1986, nachts um 1 Uhr 24. Da barsten im Inneren von Block 4 des Lenin-Kraftwerks die Brennstäbe, der tonnenschwere Deckel über dem Reaktorkern hob sich, und radioaktiver Staub wurde hoch in die Atmosphäre geschleudert. Seitdem sind die Böden ringsum mit Cäsium, Plutonium, Strontium verseucht, und der Name Tschernobyl ist zur Chiffre gewor- Gesellschaft Dnje Bis zu „50 Prozent des Brennstoffs“ den für die größte technische Katastrophe könnten 1986 in die Atmosphäre gedrunin der Geschichte der Menschheit. Mit Stahlplatten gepanzert, von einem gen sein, vermutet hingegen der ukraimächtigen Schlot überragt, gleicht der ex- nische Radiologe Wiktor Pojarkow. Wisplodierte Meiler heute einem schwerbe- senschaftler des renommierten Moskauer wehrten Dampfschiff im Trockendock. Aus Kurtschatow-Instituts vertreten nach Er300 000 Tonnen Beton, das entspricht weit kundungen im Reaktorsarg sogar die Theüber einer Million Schubkarrenladungen, se, fast das gesamte radioaktive Material und aus 7000 Tonnen Stahl haben sie dem sei vor 20 Jahren freigesetzt worden. Es geht bei diesem Streit nicht nur um Monstrum in den Monaten nach der Kernschmelze einen Schutzmantel verpasst. den Verbleib von 180 Tonnen hochradioDarunter begraben liegen bis heute: ein- aktiven Materials. Es geht auch um die gestürzte Betonträger, tonnenweise strah- Zahl der Todesopfer, der bisherigen und lender Staub und kegelförmige Häufchen derer, die noch folgen werden. Denn der „body count“, wie Amerikaner das nenrötlich brauner radioaktiver Lava. nen, ist von entscheidenNur drei bis vier Proder Bedeutung für die zent des im Reaktor einWEISSRUSSLAND Frage, ob der Super-GAU gesetzten Kernbrennstoffs Kontrollzone, von Tschernobyl als Arseien bei der Explosion in 30-kmRadius gument taugt gegen künfTschernobyl entwichen, tige Milliardengeschäfte behauptet die Internatiomit der Kernkraft. nale Atomenergieagentur Pripjat Von bisher 56 Toten – (IAEA). Die G 7-Länder Tschernobyl 47 Katastrophenhelfern fordern für die strahlende und neun Kindern mit tödAltlast einen neuen, mehr Kernkraftwerk lich verlaufenem Schildals eine Milliarde Dollar drüsenkrebs – sprechen teuren „Sarkophag“, um UKRAINE die Atomexperten der dessen Bau sich führende IAEA. 34 499 verstorbene westliche Konzerne be50 km Kiew Rettungshelfer verzeichwerben. pr d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 net hingegen allein die ukrainische Kommission für Strahlenschutz. Nach Schätzungen der Uno-Gesundheitsorganisation WHO lag die Zahl der an Strahlenschäden oder durch Selbstmord gestorbenen Einsatzkräfte von Tschernobyl schon vor sechs Jahren bei 50 000. Wie kaum ein anderes Ereignis mit globalen Folgen spaltet die Tragödie im LeninKraftwerk bis heute Wissenschaft und Politik. Mit dem Beispiel Tschernobyl ließ sich lange Zeit so gut wie jede Weltanschauung belegen – weil verlässliche Daten über Ursachen und vor allem Folgen der Havarie fehlten und weil die KPdSUFührung unter Michail Gorbatschow eisern schwieg oder log. Durch den Zerfall der Sowjetunion 1991 verschwanden zusätzlich Spuren und Krankenakten der Opfer sowie Beweismittel gegen die Schreibtischtäter in den neuen unabhängigen Republiken. 20 Jahre nach dem Reaktorunglück aber gibt es für eine wahrheitsnahe Bewertung des Geschehenen ausreichend Beweise, Indizien und Dokumente. Sie verbergen sich in Moskauer Parteiarchiven und in Krebsregistern weißrussischer Kinderärzte, in Tagungsprotokollen internationaler Kernkraftkonzerne und ihrer Lobbyisten wie in 65 Gesellschaft de Strahlenopfer nach Tschernobyl. Mitglied des russischen Oberhauses ist Ryschkow inzwischen, 76 Jahre alt und optisch gleichermaßen im Gestern wie im Heute zu Hause. Zur Kassenbrille im Sowjetgeschmack trägt er, in der Linken versenkt, ein winziges, schwarzsilbriges Handy. Verschleierung nach dem Reaktorunglück müsse er sich nicht vorwerfen lassen, sagt der einst zweitmächtigste Mann der Sowjetunion: „Was hätten wir denn damals in den Zeitungen schreiben sollen? Der Tod war ja nicht sichtbar. Wir haben schnell gehandelt und keinerlei Fehler gemacht.“ Worauf Ryschkow bis heute stolz ist: Sofort nach dem Reaktorunfall hat er Menschen und Material mobilisieren lassen, in bester sowjetischer Tradition und gewaltiger Stückzahl. Noch am Unglückstag setzen sich Nuklearingenieure von Moskau aus in Bewegung. 6000 Soldaten folgen, 40 000 Mann von den Chemischen Spezialtruppen, dazu erfahrene Hubschrauberpiloten – einige kommen direkt vom Kampf gegen die Mudschahidin auf den Schlachtfeldern Afghanistans. Am 26. April 1986 abends weiß Ryschkow noch nicht, dass in Tschernobyl die 400fache Radioaktivität der HiroshimaBombe freigesetzt worden ist und große Mengen der Trillionen Becquerel durch die Atmosphäre um den Erdball driften. Er weiß nicht, dass über dem Schlund von Block 4, in dem rotglühend vor Hitze der Reaktordeckel liegt, Feuerwehrleute, junge Polizisten und Soldaten ohne ausreichende Schutzkleidung abwechselnd in 90-Sekunden-Schichten ihr Leben ruinieren, um den Brand einzudämmen. Aber er ahnt, instinktiv, dass die Sache für ihn und die Partei nicht günstig läuft. Denn aus Tschernobyl, wo sechs Meiler mit je 1000 Megawatt zum damals leistungsstärksten Kernkraftwerk der Welt zu- den Leidensgeschichten der umgesiedelten Atomarbeiter. Es sind Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven. Zusammengefügt ergeben sie das Bild ein und derselben Tragödie. A ls in Reaktor 4 des Lenin-Kraftwerks Tschernobyl die Brennstäbe bersten, schläft Nikolai Ryschkow, Regierungschef der Sowjetunion, noch in seiner Datscha vor den Toren Moskaus. Dreieinhalb Stunden vergehen, ehe sein elfenbeinfarbenes Diensttelefon zum ersten Mal läutet. Am anderen Ende der Leitung meldet sich der Minister für Energie: In Tschernobyl habe es ein „Unglück“ gegeben, die Leute vor Ort sprächen von einer „Explosion“. Ryschkow ordnet an, um neun Uhr morgens sei ihm ein detaillierter Bericht zu erstatten, und lässt sich in den Kreml fahren. Kaum dort angekommen, erhält er den nächsten Anruf: „Es war der Reaktor, Genosse. Es gibt Opfer, es gibt Verstrahlte.“ Ryschkow reagiert sofort. Und zwar so, wie er es gelernt hat. Er ruft eine Kommission ins Leben und setzt sich selbst an deren Spitze. Den ersten Mann im Staat, Michail Gorbatschow, seit 13 Monaten Generalsekretär der KPdSU, informiert er vorläufig nicht. Und auch nicht das Volk. Ryschkow ist ein Mensch, der zu einmal gewonnenen Überzeugungen steht. Auch heute noch, 20 Jahre und Hunderttausen- Sowjetgrößen in Moskau* AFP „Wir haben keinerlei Fehler gemacht“ * Parteichef Michail Gorbatschow, der frühere Außenminister Andrej Gromyko und Regierungschef Nikolai Ryschkow bei der Feier zum 1. Mai 1986. Chronik der Tschernobyl-Katastrophe 26. April 1986, 1.23 Uhr Testbeginn in Block 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl: Bei laufendem Reaktor wird überprüft, was im Falle eines Stromausfalls passiert. Die Notabschaltung misslingt. 1.24 Uhr Der Reaktor explodiert. Radioaktive Stoffe werden rund 1200 Meter hoch in die Luft geschleudert. Die freigesetzte Radioaktivität entspricht der von rund 400 Hiroshima-Bomben. 27. April Die 49000 Einwohner der Kraft66 2. Mai werkssiedlung Pripjat werden evakuiert. 28. April In Skandinavien wird erhöhte Radioaktivität gemessen. Die sowjetischen Behörden bestreiten einen Reaktorunfall. Später meldet die sowjetische Nachrichtenagentur Tass einen Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. 30. April Die radioaktive Wolke erreicht Süddeutschland. Das sowjetische Staatsfernsehen zeigt ein erstes Foto des explodierten Reaktors. d e r sammengespannt werden sollen, hagelt es seit Jahren Warnungen. Gorbatschows Vorvorgänger als Generalsekretär, Jurij Andropow, hatte noch in seiner Funktion als KGB-Chef am 21. Februar 1979 Alarm ans Zentralkomitee der Partei gefunkt. In Andropows Bericht über „Mängel beim Bau des AKW Tschernobyl“, Aktenzeichen Nr. 346-A, „geheim“, werden Verstöße gegen Bauauflagen angeprangert, „die zu technischen Pannen und Unglücksfällen führen könnten“. Die Sicherheitsvorschriften im Werk würden nicht eingehalten. 170 Arbeiter seien innerhalb von neun Monaten verletzt worden. Das zuständige Ministerium reagiert wie gewohnt: Eine Kommission wird eingesetzt. Vier Jahre später, am 31. Dezember 1983, beurkundet Wiktor Brjuchanow, Chef des AKW Tschernobyl und Genosse, die fristgerechte Fertigstellung des vierten Reaktorblocks. Obwohl der Meiler, der später explodieren wird, noch nicht einmal fertig gesichert ist. Im Dezember 1985 erzählt der Werksdirektor einem Vertrauten: „Gott behüte, dass etwas Ernstes bei uns passiert – ich fürchte, nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Sowjetunion würde mit so einem Notfall nicht fertig.“ Die Dachkonstruktion der Reaktorhalle ist aus leicht brennbarem Material hergestellt. Am Berstschutz aus Beton, an Evakuierungsplänen, Schutzanzügen und Geigerzählern wurde gespart, weil es der Partei plötzlich nicht schnell genug gehen konnte. Unter den Einpeitschern profiliert sich ab seinem Amtsantritt im September 1985: Ministerpräsident Ryschkow. Das Energieministerium der UdSSR, so donnert er ganze acht Wochen vor der Reaktorkatastrophe auf dem 27. Parteitag der KPdSU, habe es „während des 11. Fünfjahresplans zugelassen, dass die angepeilte Energieproduktionssteigerung der Atomkraftwerke nicht erfüllt wurde“. So könne es nicht weitergehen – eine Steigerung der Atomstromproduktion um das Zweieinhalbfache binnen fünf Jahren hatte Gor- s p i e g e l Erste Warnungen vor belasteten Lebensmitteln in deutschen Medien. Einfuhrbeschränkungen für Nahrungsmittel aus Osteuropa treten in Kraft. 3. Mai Die Lebensmittelkontrollen werden ausgeweitet. In den folgenden Tagen wird tonnenweise belastetes Freilandgemüse beschlagnahmt. 6. Mai Nach zehn Tagen endet die massive Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem Unglücksreaktor. 1 6 / 2 0 0 6 Die Radioaktivität hat sich bis nach Nordamerika ausgebreitet. 21. Mai Die Kraftwerkssiedlung Pripjat bei Tschernobyl gilt offiziell als vollständig evakuiert. 15. November Der „Sarkophag“ aus Stahlbeton, der den zerstörten Reaktor ummantelt, wird fertiggestellt. IGOR KOSTIN / CORBIS Unfallhelfer in Tschernobyl nach dem Unglück: „Wir hatten Angst, es könnte Panik ausbrechen“ batschow gefordert. Der Afghanistan-Krieg in seinem siebten Jahr, der Rüstungswettlauf mit den USA und der dramatische Verfall der Rohölpreise haben die UdSSR an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht. Die Partei will die Devisenbringer Öl und Gas am heimischen Verbrauchermarkt durch mehr Kernenergie ersetzen. I n der drei Kilometer vom Reaktor entfernten Stadt Pripjat, wo 49 000 Menschen von und mit der Kernkraft leben, gehen die Dinge weiter ihren Gang. Der Samstag ist ein warmer Apriltag, die Straßen sind voll von Müttern mit Kindern und von Männern, die sich an Ständen mit Bier und Kwas eindecken. Dabei ist den Parteiführern in Pripjat, wie es in einem späteren Augenzeugenbericht ans ZK – Dokument 2585, „geheim“ – heißt, bereits eine Stunde nach dem Unglück das Ausmaß der „Strahlenbelastung klar“. Doch keiner wagt ohne Befehl aus Moskau ein Wort ans Volk. Gegen Mittag werden die Straßen mit Seifenlauge gewaschen. Nur Männer, die Nachtschicht hatten am Reaktor, wissen, warum. Ihre Familien zumindest haben sie vorgewarnt. Der Betriebsleiter des Kernkraftwerks Tschernobyl lässt am Samstag die Hochzeit seiner Tochter mit einem rauschenden Fest begehen, während im Zentrum der Stadt bereits das Mehrtausendfache der normalen Strahlung herrscht – keiner der diensthabenden Kollegen warnt ihn. Am Samstagabend lässt Ministerpräsident Ryschkow in Moskau die Evakuierung Pripjats für den nächsten Tag anordnen. 1100 Autobusse aus Kiew erreichen am Sonntagnachmittag die Stadt der Atomarbeiter. Wer nicht aus dienstlichen Gründen zurückbleiben muss, reist ab mit Gepäck „für zwei bis drei Tage“. So hat es die Partei verordnet. Am Montag tagt in Moskau das Politbüro, am Dienstag riskiert die Regierungszeitung „Iswestija“ eine dürre Acht-Zeilen-Meldung. Es habe eine „Havarie“ in Tschernobyl gegeben, „einer der Atomreaktoren wurde beschädigt“, mehr nicht. Zu diesem Zeitpunkt sind mehr als drei Tage vergangen seit dem Reaktorunglück. Das Ausmaß der Katastrophe ist den Verantwortlichen bekannt, die am schlimmsten betroffenen Rettungsarbeiter sind längst im Moskauer Klinikum 6 zu besichtigen – ihre Haut ist von der Strahlung dunkelbraun gefärbt und blättert ab, die Haare fallen aus. Die Mehrheit der Bürger aber wird weiter in Sicherheit gewiegt. „Wir hatten Angst, es könnte Panik ausbrechen. Und das in Millionenstädten wie Kiew und Minsk“, wird Gorbatschow später sagen. Ausgerechnet er, der noch auf dem MärzParteitag mit Lenins Worten „immer und unter allen Umständen die Wahrheit“ gefordert hatte. Durch Studien des Minsker Arztes Jewgenij Demidschik ist inzwischen erwiesen, dass Hunderte Fälle von Schilddrüsenkrebs bei weißrussischen Kindern, die zum Zeitpunkt der Katastrophe noch nicht oder gerade geboren waren, auf Verseuchung mit Jod 131 in den ersten Tagen nach der Katastrophe zurückzuführen sind. Mit Beschluss vom 8. Mai 1986 lässt das Politbüro die zulässigen Strahlendosen um das 10- bis 50fache anheben und verfügt, „Geheimer Anhang zu Punkt 10“ des Protokolls, die Verwurstung radioaktiv verseuchten Fleisches im Verhältnis 1:10 auf dem Territorium der meisten Unionsrepubliken, auch Russlands – „außer Moskau“. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Am 27. Juni 1986 werden per Erlass, Aktenzeichen U-2617 C, alle Daten über Tschernobyl, über die Behandlung der Opfer und über Art und Ausmaß ihrer Verstrahlung dem Prinzip „verschärfter Geheimhaltung“ unterworfen. Signiert ist das Papier von Jewgenij Schulschenko, Dritte Hauptabteilung im Ministerium für Gesundheit der UdSSR, gedeckt ist es von oberster Stelle. Es ebnet den Weg zur Unterdrückung, Fälschung und Vernichtung von Beweismaterial. Eine Karte der verseuchten Gebiete, die zeigt, dass 70 Prozent des Fallouts über Weißrussland niedergegangen sind, der Rest vor allem über der Ukraine und dem Süden Russlands, wird erst 1989 in der „Prawda“ veröffentlicht. So lange leben fünf Millionen Menschen in Tausenden verstrahlter Dörfer und einigen größeren Städten der Sowjetunion ohne genaues Bild von der Gefahr. Viele sammeln weiter Beeren und Pilze im Wald, pflanzen und essen selbstangebautes Gemüse. Im Bericht des Zentralkomitees vom 10. Juli 1986 über das Unglück von Tschernobyl, Aktenzeichen Nr. 20-34, „streng geheim“, wird für den internen Dienstgebrauch eingeräumt, im Falle Tschernobyl habe es sich um „einen der schlimmsten Unglücksfälle in der Geschichte der Atomenergie“ gehandelt – 26 Tote, 135 000 Evakuierte, 800 000 Menschen, die medizinischer Behandlung bedürften. A ls in Reaktor 4 des Lenin-Kraftwerks Tschernobyl die Brennstäbe bersten, ist Swetlana noch nicht auf der Welt. Ihre Eltern leben gemeinsam in Kiew, bis zu dem Tag, da der Vater zu Aufräumungsarbeiten an den explodierten Reaktorblock 4 in Tschernobyl abkommandiert 67 Gesellschaft wird. 600 000 bis 800 000 sogenannte Liquidatoren aus der ganzen Sowjetunion treten dort in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren nach der Katastrophe als Helfer an, um die Folgen der Katastrophe zu beseitigen. Swetlanas Vater überlebt den Einsatz. Zurück kommt er schwer verstrahlt und traumatisiert. Swetlana selbst, im Jahr nach der Reaktorkatastrophe geboren, ist heute 19 und lebt in einem Heim für behinderte Kinder und Jugendliche in Snamianka, Kreis Kirowgrad. Schon bei der Geburt wird ein Gehirntumor festgestellt, die rechte Gesichtshälfte ist derart verformt, dass das Mädchen nur auf einem Auge sieht. Heute, mehrere Operationen später, ist Swetlana noch immer so entstellt, dass sie aus Scham den Kontakt zur Außenwelt scheut. Lieber lässt sie ihre Hände sprechen. Sie malt, schreibt Gedichte und kümmert sich um jüngere Heiminsassen. Es gibt ja Kinder in ihrer nächsten Umgebung, denen geht es schlimmer. Grischa etwa, auch er wenige Monate nach dem Unfall in Tschernobyl geboren und inzwischen beinahe 20, hat missgebildete Beine und das Aussehen eines Dreijährigen. Die Mediziner vermuten bei ihm und anderen Kindern mit ähnlichen Symptomen eine Wachstumsstörung durch eine genetisch bedingte Fehlfunktion der Hirnanhangdrüse. Solche Erbgutschäden gab es in dieser Gegend auch vor der Atomkatastrophe, immer mal wieder. Im vergangenen Jahrzehnt aber beobachten nach Angaben der Stiftung „Kinder für Tschernobyl“ Ärzte bei den jungen Patienten aus besonders stark verstrahlten Gebieten Weißrusslands und der Ukraine einen dramatischen Anstieg an Missbildungen – an verkrüppelten Gliedmaßen, fehlenden Ohren, Hasenscharten und Füßen mit bis zu acht Zehen. Um Rückschlüsse auf die Ursachen ziehen zu können, müssen die Krankengeschichten auf Geburtsort und -datum der Kinder geprüft werden. Die Genetikerin Hava Weinberg etwa hat Hunderte Kinder von nach Israel ausgewanderten Rettungshelfern aus Tschernobyl untersucht. Die nach dem GAU geborenen hatten, verglichen mit den vor 1986 zur Welt gekommenen Geschwistern, eine um 700 Prozent höhere Quote bei Erbgutmutationen. Wolodymyr Wertelecki wiederum, Chefgenetiker an der Universität von Süd-Alabama, lässt mit amerikanischen Regierungsgeldern in einer Langzeitstudie durchschnittlich 14 000 Neugeborene pro Jahr in den ukrainischen Provinzen Wolyn und Rowno untersuchen. Die Zahl der Säuglinge mit „Spina bifida“ (offenem Rücken), so eines der Ergebnisse, ist um fast das 20fache gestiegen. Die Kinder mit Erbgutschäden stehen bereits für die zweite Generation von Tschernobyl-Opfern und für eine Neuauflage der Meinungs- und Materialschlacht 68 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 zwischen Medizinern und Wissenschaftlern der rivalisierenden Lager – der Internationalen Atomenergiebehörde und ihrer Gegner. In der ersten Runde ging es um Schilddrüsenkrebs. Fred Mettler, Radiologe von der Universität New Mexico und Veteran der atomindustriefreundlichen Bewertung von Strahlenschäden, hatte ab 1990 im Auftrag der IAEA nach Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl geforscht – und am Ende in einer Studie 1991 behauptet, es gebe keine, auch keine Kinder mit strahlenbedingtem Schilddrüsenkrebs. Im Jahr darauf zeigten im britischen Fachblatt „Nature“ veröffentlichte Unter- suchungen einen dramatischen Anstieg von Schilddrüsenkrebs in verseuchten Gebieten unweit Tschernobyls, und es wurde bekannt, dass auch Mettler entsprechende Daten aus Weißrussland und der Ukraine zur Verfügung hatte. Natürlich war das peinlich, für Mettler und die IAEA. Aber nicht peinlich genug, als dass die Zusammenarbeit hätte beendet werden müssen. Im jüngsten Bericht vom September 2005, den die IAEA unter dem Dach des „Tschernobyl-Forums“ der Vereinten Nationen vorstellte, ist zum Thema Gendefekte zu lesen: „Es wurden keinerlei Beweise gefunden für angeborene Missbildungen, die einer Strahlenbelastung zugeschrieben werden könnten.“ Als Autor zeichnet, unter anderen: Fred Mettler. „Ja, diese Leute von der Atom-Behörde“, sagt Professor Igor Komissarenko in Kiew kopfschüttelnd, „bei uns waren die natürlich auch, aber die wollen nichts Neues hören. Die sagen nur immer – so kennen wir das von Hiroshima her nicht.“ Professor Komissarenko, Doyen der ukrainischen Endokrinologie, ist ein kleiner energischer Herr jenseits der Sechzig. Er ist nicht für und nicht gegen Atomkraft, nur gegen Schilddrüsenkrebs und allein deshalb schon eine vertraueneinflößende Quelle. „Sehen Sie sich die Zahlen an“, sagt er und deutet auf eine handgemalte Grafik an der Bürowand: „Schilddrüsenkrebs bei Kindern, zwischen 1986 und 1990 verzehnfacht, inzwischen abfallend. Dagegen nun die Erwachsenen: 38 Fälle im Jahr 1990, inzwischen schon 308.“ Jod 131, schuld am Schilddrüsenkrebs, gehört zu den kurzlebigen unter den Isotopen, die beim Reaktorunfall in Tschernobyl ausgestoßen wurden. Cäsium 137 dagegen hat 30 Jahre Halbwertszeit, von Plutonium ganz zu schweigen. Krankheiten, die durch Strahlung ausgelöst oder befördert werden, könnten Jahrzehnte schlummern, sagen Mediziner. Der Tod durch Strahlung kommt leise, geruchlos und unsichtbar. Das sagen die Männer, die in Tschernobyl an vorderster Front und dem Tod nahe waren. Als Trümmerräumer am Reaktorgebäude, als Feuerwehrmänner, Sanitäter, Hubschrauberpiloten. Die ersten 28 von ihnen, die an akuter Verstrahlung starben, liegen seit zwei Jahrzehnten unter schweren Bleiplatten begraben auf dem Friedhof von Mitino bei Moskau. Von denen, die noch leben, haben einige bis zu acht Sievert Strahlung in kürzester Zeit erhalten. Das überschreitet die zulässige Jahreshöchstdosis um 16 000 Prozent. Die Unterlagen aber, die das Erlittene belegen könnten, seien vielfach auf Druck der Partei gefälscht oder im Sommer 1986 aus einem Safe im AKW Tschernobyl gestohlen worden, sagt der ukrainische Strahlenexperte Wladimir Usatenko. Mit ihrem Interesse an der Wahrheit stehen die Betroffenen weitgehend allein. Die zur Fürsorge verpflichteten Staaten, Weißrussland vor allem und die Ukraine, tragen schon so schwer genug an den Folgelasten des Unglücks, die sie seit dem Zerfall der Sowjetunion selbständig zu schultern haben. Mehr als 300 000 Schwerstversehrte wollen versorgt werden. Im Kiewer Stadtteil Darniza am linken Dnjepr-Ufer, wo es zwölfstöckige Hochhäuser mit je 546 Wohnungen gibt, in denen ausschließlich Tschernobyl-Vertriebene angesiedelt wurden, sterben inzwischen reihenweise die Mittfünfziger. Ausweislich ihrer Totenscheine werden sie in den Opferstatistiken der IAEA keine Spur hinterlassen. „90 Prozent von uns hier sterben kerngesund“, spotten die, die noch leben, und klagen über chronische Müdigkeit, Kopfschmerz und den Metallgeschmack auf der Zunge, den die Strahlung als bleibendes Andenken hinterlässt. Der Mann in Wohnung 328 immerhin, ehemals Leitender Ingenieur in Block 1 des Atomkraftwerks Tschernobyl und in der Unglücksnacht auf Schicht, hat Hoffnung geschöpft. Im Oktober haben sie ihm innerhalb kürzester Zeit beide Beine bis zum Oberschenkel amputiert. „Arteriosklerose“, sagten die Ärzte – kein Bezug zu Tschernobyl. Jetzt lernt er wieder laufen. Ein Gerüst, auf das er sich stützen kann, bauten ihm ehemalige Schlosser aus dem Atomkraftwerk. Seine Prothesen kommen aus Deutschland. Sie waren für Invaliden des Afghanistan-Kriegs vorgesehen. A ls in Reaktor 4 des Lenin-Kraftwerks die Brennstäbe bersten, hat Sergej Paraschin Nachtschicht. Er ist Erster Betriebsparteisekretär des Atomkraftwerks Tschernobyl. Der verlängerte Arm der Partei also, im Zukunftslabor der Sowjetunion. Rund um den Meiler herrscht Chaos. Der Direktor des Kraftwerks, der mit einer Stunde Verspätung eintrifft, weigert sich, den Messgeräten zu glauben, die schon außerhalb des Reaktors bis zu zwei Sie- d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 69 70 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 den Kulissen geschuldet, die der damalige ukrainische Vizepremier Mykola Tomenko im April 2005 als Verschleuderung „unglaublich hoher Summen“ für Berater- und Expertenhonorare durch ukrainische Regierungsbeamte und Vertreter internationaler Organisationen brandmarkt. „Tschernobylski bisnes“, das Geschäft mit Tschernobyl, ist beim ukrainischen Volk zum Schlagwort geworden. Es geht dabei um ein Geschäft, dessen Grundlage die Angst des Steuerzahlers vor strahlendem Müll abgibt. Um die Profite streiten sich zwei Parteien. Auf der einen Seite stehen die führenden Konzerne der Geberländer, die auf Aufträge in der verseuchten 30-Kilometer-Zone hoffen: die RWE-Nukem-Gruppe für Deutschland, die Baukonzerne Bouygues und Vinci für Frankreich und vor allem die amerikanische Firma CH2M Hill. Auf der anderen Seite stehen die Interessenvertreter der Ukraine. Das Problem mit den Altlasten Tschernobyls garantiert Tausende Arbeitsplätze auf dem Reaktorgelände und dazu satte Margen für Berater. Die Bauvorhaben der internationalen Kernkraftkonzerne wiederum versprechen Beschäftigung auf längere Sicht. Die Ukraine hat sich unter der Führung des orange Revolutionärs Wiktor Juschtschenko für einen beschleunigten Weg in eine Zukunft mit Kernenergie entschieden. Elf neue Atommeiler, so hat der Präsident angekündigt, sollen gebaut werden. Der gleichfalls erwogene, devisenträchtige Import verbrauchter Brennstäbe aus dem Ausland zur Endlagerung in der Todeszone von Tschernobyl ist nach massiven Protesten der Bevölkerung vorläufig von der Tagesordnung genommen worden. Und die 30-Kilometer-Sperrzone um den Reaktorsarg? Der staatliche Oberaufseher der Zone, Ex-Betriebsparteisekretär Paraschin, verwaltet aus Sicht von Kernenergieexperten und Wissenschaftlern ein Kleinod – ideal für genetische Experimente, botanische Feldversuche und Forschungsprojekte zur Strahlensicherheit. Pläne für ein gewaltiges Freiluftlabor im Umkreis von zehn Kilometern um den geborstenen Reaktor gibt es bereits. Ein „Internationales Versuchsgelände für Strahlenschutzforschung“ ist im Entstehen, abgeschirmt von der Außenwelt. Gleich dahinter, bis hin zu jenem Punkt, wo jetzt noch Polizisten mit Maschinenpistolen und Geigerzählern die Zufahrt versperren, soll eine Touristenattraktion entstehen. Gedacht ist an einen Nationalpark, mit Wildtieren und seltenen Pflanzen. ™ GAMMA / STUDIO X vert Strahlung pro Stunde anzeigen. Er weigert sich, entsprechend den Vorschriften des Zivilschutzes Katastrophenalarm auszulösen. Die verzweifelten Ingenieure rennen zu Paraschin, dem Parteisekretär: „Sergej Konstantinowitsch, der Direktor wirkt geistig verwirrt. Reden Sie mit ihm!“ Paraschin aber sagt: „Was sollte ich mit ihm reden. Ich bin schließlich kein Strahlenexperte.“ Und wendet sich ab. Der Mann der Partei übersteht die Schreckensnacht und ihre Folgen, anders als viele seiner Kollegen, unbeschadet. Er wird in der Folge selbst Direktor des Atomkraftwerks, dessen dritter Block weitere 14 Jahre in Betrieb bleibt. Und er steigt schließlich auf zum unangefochtenen Herrscher der 30Kilometer-Todeszone – zum Leiter des Staatlichen Amts für Umsiedlungs- und Evakuierungsfragen. In dieser Funktion vertritt Paraschin bis heute die Ukraine auf internationalen Konferenzen. In seinem Schlepptau ist zumeist Wolodymyr Holoscha, einst Paraschins Stellvertreter als kommunistischer Parteisekretär, heute Vizeminister Tschernobyl-Opfer (1987): Geruchlos und unsichtbar im Katastrophen-Ministerium. Die beiden Agitprop-Experten aus den ge den Torso des Reaktorblocks. Für seine Tagen der Einparteienherrschaft nehmen Eindrücke findet er Worte, die ihm den wie selbstverständlich am Tisch Platz, als Dank der Sowjetführung eintragen: „Wir am 6. September 2005 in Wien der mehr konnten Menschen auf den Feldern arbeials 600-seitige Bericht vorgestellt wird zu ten sehen, Vieh auf den Weiden, fahrende den Folgen der Katastrophe von Tscher- Autos auf den Straßen“, funkt Blix hinaus in die Welt. Rund um den Reaktor sehe nobyl, 20 Jahre danach. Den Rapport verantwortet das Tscher- es auch nicht übel aus: „Die Russen sind nobyl-Forum der Vereinten Nationen, in zuversichtlich, dass sie in der Lage sein dem sich unter Federführung der Interna- werden, das Gebiet zu säubern. Es wird tionalen Atomenergiebehörde auch Ver- wieder landwirtschaftlich nutzbar sein.“ treter der Weltgesundheitsorganisation, Am Kiewer Institut für Strahlenmedizin fünf weiterer Uno-Organisationen sowie hängt bis heute eine Ehrentafel, mit der der Weltbank und der Regierungen Weiß- die Regierung der Sowjetunion Hans Blix russlands, Russlands und der Ukraine zu- würdigt für seine Rolle bei der Bewältigung der Katastrophe von Tschernobyl. sammengeschlossen haben. Blix tritt 1997 als IAEA-Direktor zurück. Das Expertengremium kommt nicht nur zu dem günstigen Schluss, bis dato seien le- Tschernobyl aber bleibt er verbunden. Er diglich 56 Todesopfer zu beklagen. Es si- führt nun den Vorsitz in der Versammlung gnalisiert Entwarnung auf breiterer Front. der Geberländer, die unter dem Dach der Der WHO-Vertreter Michael Repacholi for- Europäischen Bank für Wiederaufbau und muliert das in Wien mit Worten, die auch Entwicklung eine Milliarde Euro für einen Laien verstehen: „Die Hauptbotschaft des neuen Reaktorsarg aufbringen. Deutschland liegt dabei mit direkten und Tschernobyl-Forums lautet – keine Beunruhigung.“ Die über Jahrzehnte gewachse- EU-gebundenen Beiträgen von 127 Millione, Systemgrenzen übergreifende Partner- nen Euro unter den Einzahlern an vordeschaft zwischen den Eliten der sowjeti- rer Stelle. Doch obwohl die Finanzierung schen Atomforschung und ihren Kollegen gesichert ist, kommt das Projekt auch nach mehr als acht Jahren nicht recht voran. An im Westen hat Früchte getragen. Als Galionsfigur der Gesinnungsge- einzelnen Studien, die dem Gremium vormeinschaft macht sich von Beginn an Hans liegen und eine neue, milliardenteure Blix verdient. Der schwedische Berufsdi- Schutzhülle für verzichtbar erklären, weil plomat mit der professoralen Ausstrahlung kaum radioaktiver Brennstoff im Meiler führt von 1981 an im Rang des General- verblieben sei, liegt es nicht. Der quälende Fortgang des Bauvorhadirektors die IAEA. Am 8. Mai 1986 überfliegt Blix als erster westlicher Augenzeu- bens scheint eher jenen Vorgängen hinter Gesellschaft Die innere Emigration Ortstermin: Wie die Hedwig-Dohm-Oberschule in Berlin-Moabit versucht, türkische Eltern zu integrieren S FOTOS: MARCO-URBAN.DE Es sind diese Eltern, die man gewinnen agogentage und schwer kontrollierbare o charmante Frauen hier, das ist doch mal was Positives“, sagt der Senator, muss. Sie sind besorgt um ihre Kinder, also Schüler erlebt, die in ruhigen Momenten und ganz kurz nur gefriert der Blick werden sie wollen, dass sich etwas ändert, hilflose Sätze sagten wie: „Warum gibt es von Derya Ovali, dann schiebt sie eine aber was bremst sie bisher? Warum kom- hier nicht mehr Deutsche, manchmal würHaarsträhne von der Stirn und strafft sich. men sie nicht zum Elternabend? Warum de ich gern mehr Deutsch sprechen, schaDas hier ist wichtig, sie wird vieles zu er- integrieren sie sich nicht so, wie es deut- de, dass es hier keine Deutschen gibt.“ Derya hat Eltern erlebt, die unglücklich klären versuchen, vielleicht gibt es ja eine sche Politiker von ihnen verlangen? Warum lassen sie Lehrer glauben, ihr Kind sei darüber sind, dass ihren Kindern nur die Chance. Hauptschule bleibt. Manche bilden sich Ein stilles Klassenzimmer in Berlin- ihnen egal? Derya sagt: „Sie haben Angst, dass sie ein, dass der deutsche Staat eben keine Moabit, Hedwig-Dohm-Oberschule, roter Backstein und die üblichen Graffiti nicht genug Deutsch können und Au- Türken auf deutschen Realschulen und draußen, drinnen in Raum 106 der Türki- ßenseiter sind“, was seltsam klingt bei Gymnasien akzeptiert, was soll man masche Bund Berlin-Brandenburg und der einer Schule, in der 75 Prozent der Kin- chen, sie wollen uns eben nicht. Sie schotten sich ab, und sie fühlen sich Berliner Bildungssenator Klaus Böger: Ver- der aus Migrantenfamilien kommen. Aber handelt wird über die Frage, welche Schuld viele Eltern, sagt Derya, sehen das wirk- bestätigt, wenn sie hören, wie Edmund Migranteneltern daran tragen, dass so viel lich so. Sie reagieren verschreckt auf Stoiber in Bayern und Jörg Schönbohm in schiefläuft in den Schulen, es geht um In- lange deutsche Briefe, die von der Schule Brandenburg auf die Rütli-Krise reagieren, kommen. Die Schule weiß das jetzt. In diese Ideen, dass man diejenigen abschietegration und innere Emigration. ben möge, die zu wenig Es spricht Derya Ovali, Deutsch können, in die SonDeutsch-Türkin, Studentin derschule oder die Türkei. der ErziehungswissenschafNur dass diese Eltern das ten. Schnell und eifrig nicht als Absurdität, sondern spricht sie, über neue Hoffals Bedrohung empfinden. nung und ein neues Projekt, Mit einer Vielzahl von arsie ist „Elternlotsin“, der beitslosen Vätern, Onkeln, Türkische Bund hat das erVettern, großen Brüdern funden. Sie kümmert sich wächst die dritte Generation um Familien von Hedwigder Einwanderer heran. Für Dohm-Schülern, ruft sie an sie ist es normal, dass Arund redet Türkisch mit ihbeitsvermittler mit den Achnen, besucht sie und lädt sie seln zucken, wenn man nach ein, und sie kommen auch – Jobs oder Lehrstellen fragt. gestern erst hatte sie so ein Es ist eine Zeit, die die FaTreffen. Den türkischen Elmilien verändert und auch tern erklärt sie die Welt der unerwartete Entwicklungen deutschen Schule, der Rebringt. Neuerdings, sagt Eren geln, Rechte, Pflichten, und Ünsal, die Sprecherin des jetzt ist sie hier, um dem Türkischen Bunds, gebe es Senator die Welt der türki- Lotsin Ovali (l.), Senator Böger (M.): Deutsche Regeln, Rechte, Pflichten „eine Auflösung der klaren schen Eltern zu erklären. Schwierige Dinge erklärt sie. Es ist ein wichtigen Fällen schickt sie Übersetzun- Rollenstrukturen. Man sieht mehr Väter, gen mit. die sich um die Erziehung kümmern, weil Versuch. Die Schule schickt diese Lotsen in die sie die Zeit dazu haben“. Die Hedwig-Dohm-Oberschule ist RealMehr kümmern: Das kann Gutes heischule, Europaschule sogar, das klingt nicht Familien als Vorbild, als lebendes Beispiel: nach Aufstand und Krawall. Aber es ist Schaut hin, es lohnt sich. Schaut sie euch an. ßen. Es kann auch bedeuten: mehr SchläSchaut euch Derya an, ein Kind aus ge für das Kind. auch die Schule, auf deren Schulhof vor Schlagen ist sehr viel üblicher in Mivier Monaten ein ehemaliger Schüler ver- Kreuzberg, 23 ist sie jetzt und studiert. Sie suchte, einer schwangeren Schülerin das hat einen Vater, der, wie sie sagt, „des grantenfamilien als in anderen. Studien beKind im Leib totzutreten, dessen Erzeu- Deutschen nicht ganz perfekt mächtig“ ist, sagen, dass deren Söhne und Töchter zweiaber dieser Vater war es, der sich Derya bis dreimal häufiger misshandelt werden ger er war. Derya Ovali spricht über türkische El- zur Brust nahm, als sie nach der Zehnten als andere Kinder. Derya sagt, bei ihren tern, die selten zu Wort kommen in der von der Schule wollte. „Du machst wei- Familienbesuchen sei von solchen Dingen Debatte dieser Tage, über diejenigen, die ter“, sagte er. „Du wirst später nicht schuf- nicht die Rede gewesen, vielleicht noch nicht die Rede gewesen. Wenn das geum ihre Kinder fürchten, die Angst haben ten wie wir.“ Sie schuftet, aber anders als ihr Vater. schieht, dann muss sich zeigen, ob sich die vor Gewalt und Drogen, Angst, dass sie mit ihren pubertierenden Söhnen und Für die Ausbildung hat sie an einer Haupt- Eltern etwas sagen lassen von einer fremTöchtern nicht mehr fertig werden und schule gearbeitet, in der es fast keine deut- den Studentin. Selbst wenn sie Türkisch schen Schüler mehr gibt, hat harte Päd- spricht. dass es eine Zukunft für sie nicht gibt. Barbara Supp d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 73 Wirtschaft Trends BÖRSE Insideruntersuchung bei E.on I MICHAEL DANNENMANN m Zusammenhang mit dem Übernahmekampf um den spanischen Versorger Endesa hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) offenbar erste Anhaltspunkte für verbotene Insidergeschäfte mit E.on-Aktien gefunden. „Wir haben eine förmliche Untersuchung eingeleitet“, bestätigt eine BaFin-Sprecherin jetzt. Nach „Hinweisen von außen“ hatte die Behörde schon vor einigen Wochen mit Vorermittlungen begonnen (SPIEGEL 12/2006). Der deutsche Energiegigant hatte am 21. Februar bekanntgegeben, den spanischen Konkurrenten für rund 29 Milliarden Euro übernehmen zu wollen, woraufhin der E.on-Kurs um bis zu sechs Prozent anstieg. Die Experten der Bundesanstalt konzentrieren sich nun bei ihrer Überprüfung auf die Börsengeschäfte, die vor diesem Termin getätigt wurden. Müller KON Z E R N E RAG strafft Verwaltung KIRSTEN NEUMANN / DDP B is spätestens Ende 2009 will die RAG mehr als 1500 Verwaltungsjobs abbauen. Das hat der Vorstand vor wenigen Tagen beschlossen. Die Stellenkürzungen sind Teil eines großangelegten Restrukturierungsplans, der zu jährlichen Einsparungen von rund 250 Millionen Euro führen soll und von der Beratungsfirma Boston Consulting erarbeitet wurde. Danach werden die Verwaltungen der bislang eigenständigen Tochtergesellschaften Degussa, Steag und RAG Immobilien mit zurzeit noch mehreren tausend Beschäftigten aufgelöst und vollständig auf die Konzernzentrale übertragen. Die verbleibenden operativen Ableger sollen in GmbH umgewandelt werden und künftig direkt an den Vorstand berichten. Durch den Umbau will der Vorstand die Entscheidungsprozesse beschleunigen und die RAG vor dem Hintergrund des angestrebten Börsengangs effizienter machen. „Wir tragen Hierarchieebenen ab, die uns träge machen“, sagt ein Vertrauter von RAG-Chef Werner Müller. Die Verwaltungsreform ist aus Sicht des Managements der letzte Schritt einer weitreichenden Neuausrichtung. So hat die RAG seit dem Amtsantritt Müllers insgesamt 280 Firmen verkauft und sich dadurch von 28 000 Mitarbeitern und 5,6 Milliarden Euro Umsatz getrennt. Der Aufsichtsrat soll die Maßnahme in seiner Sitzung am 17. Mai absegnen. E.on-Konzernzentrale in Düsseldorf KON J U N KT U R Fachleute des interministeriellen „Arbeitskreises Gesamtwirtschaftliche Vorausschau“ gehen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um eineinhalb bis zwei Prozent zulegt. Noch zu Jahresbeginn hatten die Konjunkturexperten aus den Ministerien für MARC DARCHINGER Mehr Wachstum in Sicht ie Bundesregierung wird ihre Wachstumsprognose für 2006 D voraussichtlich nach oben korrigieren. Glos d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Wirtschaft, Arbeit und Finanzen sowie des Kanzleramts mit einem Plus von einem bis eineinhalb Prozent gerechnet. Im Jahreswirtschaftsbericht hatten sie auch einen spitz gerechneten Wert von 1,4 Prozent angegeben. Die neue Prognose des Arbeitskreises wird Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) Ende April präsentieren. Ursache für die Belebung sind die nach wie vor hohen Exporte und die zunehmenden Investitionen. Selbst die Konsumnachfrage zieht nach Feststellung der Fachleute neuerdings wieder etwas an. 75 Wirtschaft Trends AIR BERLIN Piloten proben den Aufstand in Konflikt mit ihrer wichtigsten Beschäftigungsgruppe, den Piloten, droht der zweitgrößten deutschen Fluggesellschaft Air Berlin im Vorfeld ihres geplanten Börsengangs. In einem vertraulichen Internet-Forum rufen unzufriedene Flugzeugführer ihre Kollegen neuerdings zum massenhaften Eintritt in die Pilotenvereinigung Cockpit (VC) auf – offenbar mit Erfolg. InzwiHunold schen sind nach VC-Angaben schon über ein Drittel der rund 500 Air-Berlin-Cockpit-Angestellten der Organisation beigetreten. Die Funktionäre behandeln ihre Namen allerdings vertraulich, da Air-Berlin-Chef Joachim Hunold als erklärter Gewerkschaftsgegner gilt. Mit ihrer Kampagne wollen die Flugzeugführer bessere Arbeitsbedingungen, einen Tarifvertrag und einen Betriebsrat durchsetzen, nachdem Ende vergangenen Jahres bei einer geheimen Abstimmung bereits gut 40 Prozent aller Kapitäne und Co-Piloten für die Gründung einer Arbeitnehmervertretung votiert hatten (SPIEGEL 49/2005). Die Air-Berlin-Rebellen kriti- ROLAND MAGUNIA / DDP E sieren, dass sie, gemessen an den Kollegen vergleichbarer Carrier, trotz längerer Arbeitszeiten bis zu 30 Prozent weniger verdienen und zunehmend unattraktive Kurzstreckeneinsätze absolvieren müssten. Das Management weist die Vorwürfe vehement zurück. Als noch recht junges Unternehmen, argumentiert Flugvorstand Karl F. Lotz, sei Air Berlin mit Konkurrenten wie LTU oder HapagFly nur bedingt vergleichbar. Außerdem hätten auch viele Wettbewerber die Gehälter für neueingestellte Piloten inzwischen deutlich abgesenkt und die Arbeitszeiten erhöht. Kundin, Verkäuferin VOLKMAR SCHULZ / KEYSTONE Rechtsunsicherheit“ und gefährde die „bereits bestehende Flexibilität“ im Arbeitsrecht, heißt es in einem Papier der Handelsverbände HDE und BAG, das demnächst an die Spitzen von Regierung und Koalitionsfraktionen geschickt werden soll. Darin wehren sich die Verbände insbesondere gegen den Vorschlag, befristete Zeit-Jobs von bis zu zwei Jahren abzuschaffen. Diese seien „für beide Seiten berechenbar“, hätten sich „über viele Jahre bewährt“ und im Einzelhandel als „unverzichtbares Flexibilitätsinstrument“ erwiesen. Längere gesetzliche Probezeiten seien kein Ersatz, heißt es in dem Papier, da bestimmte Personengruppen, wie etwa werdende Mütter, ohnehin besondere Schutzrechte genießen und daher nicht erfasst würden. Zudem sei zu befürchten, dass die Gerichte den gelockerten Kündigungsschutz wieder einschränkten. Die geplante Regelung werde von den Verbänden deshalb „entschieden abgelehnt“. KÜNDIGUNGSSCHUTZ Handel pocht auf befristete Jobs K räftig Gegenwind bekommt die Bundesregierung bei ihren Plänen, den Kündigungsschutz zu reformieren, diesmal von den Einzelhandelsverbänden. Das Vorhaben der Großen Koalition, die Probezeit von 6 auf 24 Monate zu verlängern und im Gegenzug befristete Arbeitsverträge abzuschaffen (SPIEGEL 15/2006), führe zu „neuer 76 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 VW-Vorstand Bernhard: „Wenn wir die Probleme jetzt nicht lösen, steht das gesamte Unternehmen auf dem Spiel“ AU TOI N D U ST R I E Wolfsburger Malaise Z ehn Sekunden noch, dann geht es los. Eine Digitalanzeige zählt rückwärts, noch fünf, vier, drei, zwei Sekunden. Auf Cape Canaveral wird so der Start einer Rakete angekündigt. In Wolfsburg schließen sich bei „null“ die Türen von fünf kleinen Wägelchen, in die sich rund 30 Menschen gequetscht haben. Die Passagiere suchen noch nach Ablagemöglichkeiten für ihre Taschen und Regenschirme, da zuckelt der Zug schon los. „Guten Tag, meine Damen und Herren, ich begrüße sie auf unserer Werkstour“, sagt der Führer: „Wir befinden uns in der größten Autofabrik der Welt.“ Die meisten Passagiere sind in Wolfsburg, um ihr neues Auto abzuholen. Sie haben noch ein paar Stunden Zeit. Und jetzt wollen sie sehen, wie der Golf gebaut wird. „47 100 Mitarbeiter produzieren an allen Werktagen 24 Stunden am Tag, alle 21 Sekunden verlässt ein Auto die Fabrik“, sagt der Füh78 rer. Die letzten Worte wiederholt er, weil sich viele das gewiss kaum vorstellen können: „Alle 21 Sekunden ein Auto.“ Der Mann macht seinen Job gut. Die Fahrgäste sind beeindruckt. Was soll der Führer auch anderes erzählen? Er könnte sagen: Wir befinden uns in einer der unproduktivsten Autofabriken der Welt. Hier wird jedes Jahr ein Verlust in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro erwirtschaftet. Hier benötigen die Mitarbeiter 47 Stunden, um einen Golf zu montieren. Konkurrenten schaffen das bei ähnlichen Fahrzeugen in weniger als der Hälfte der Zeit. Aber Wolfsburg ist noch gut im Vergleich zum VW-Werk Emden. Dort vergehen 54 Stunden, bis ein Passat fertig ist. Das ist fast dreimal so viel Zeit wie beim besten Wettbewerber. Willkommen bei Volkswagen. Wolfgang Bernhard würde es wohl so formulieren, wenn er eine Werkstour leiten d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 müsste. Der einstige McKinsey- und DaimlerChrysler-Manager soll Volkswagen sanieren. Er ist Vorstand. Aber er redet nicht wie der Vorstand einer deutschen Aktiengesellschaft, dessen Vertragsverlängerung auch vom Betriebsrat abhängt. Wie Konzernchef Bernd Pischetsrieder beispielsweise, der seine Sätze so oft relativiert, dass man kaum noch weiß, was er sagen wollte. Bernhard sagt, dem VW-Konzern drohe ein ähnliches Schicksal wie General Motors. Der amerikanische Riese muss 30 000 Mitarbeiter entlassen und kämpft gegen den drohenden Konkurs. „Wenn wir die Probleme jetzt nicht lösen“, sagt der Markenchef, „dann steht langfristig das gesamte Unternehmen auf dem Spiel.“ Man könnte die letzten Worte wiederholen, weil viele sich das kaum vorstellen können: „Dann steht langfristig das gesamte Unternehmen auf dem Spiel.“ RIC FRANCIS / AP (L.); HANS-GÜNTHER OED (R.) Droht Volkswagen ein ähnliches Schicksal wie dem US-Konkurrenten General Motors, der ums Überleben kämpft? Die Probleme ähneln sich, allzu lange wurden sie von den VW-Managern verschwiegen und verdrängt. Doch schnelle und harte Schnitte wird es nicht geben. Wirtschaft VW-Produktion in Wolfsburg: Mit jedem Golf, den das Unternehmen verkauft, macht es einen Verlust Viele Aufsichtsräte bezweifeln, dass der Bayer der Richtige ist, um das Unternehmen aus der Krise zu führen. Zu lange schon sind die Probleme bekannt. Zu lange wurden sie verdrängt, erst von Piëch, dann von Pischetsrieder. Das Unternehmen leidet noch immer unter den gleichen Krankheiten wie bei der letzten Krise 1993: Die Modelle werden zu teuer entwickelt und produziert, die Fabriken in Deutschland arbeiten mit Verlust, und sie können nicht annähernd ausgelastet werden. Nachholbedarf Fahrzeug-Montagezeiten in Stunden Renault Mégane Werk: Palencia Ford Focus Valencia Fiat Stilo Cassio Opel Astra Bochum VW Golf Mosel Wolfsburg Ford Mondeo Genk VW Passat Emden 17 19 23 27 33 47 19 54 Quelle: Harbour Report Europe d e r s p i e g e l Wenn Pischetsrieders Vertrag verlängert wird, dann hat der Konzernboss das auch Bernhard zu verdanken. Dem trauen die Aufsichtsräte die harte Sanierungsarbeit zu. Aber der junge Wilde brauche einen, der ihn gelegentlich etwas bremst. Der Mann, von dem offenbar so viel abhängt, wird auf der Straße leicht übersehen. Bernhard ist eher klein und schmächtig. Unter mehr als 200 Gästen bei einem Empfang des Konzerns ist er dennoch schnell zu finden. Hier, am Rande des Autosalons in Genf, muss man nur zur größten Menschentraube gehen. Mittendrin redet sich der Mann heiser, dessen Verpflichtung den Aktienkurs des VW-Konzerns zeitweise um acht Prozent nach oben schießen ließ. Die Sätze kommen wie aus einem Maschinengewehr: Der Gesetzgeber fordert höhere Umweltund Sicherheitsstandards. Die Kosten für ein Auto werden deshalb steigen. In den neunziger Jahren konnte VW dies durch höhere Preise ausgleichen. Das ist vorbei. Die Kunden bezahlen nicht mehr Geld für ein Auto. Sie fordern Rabatte. Toyota macht das VW-Chef Pischetsrieder wenig aus, aber VolkswaBangen um den Job KARL-BERND KARWASZ Vor wenigen Jahren noch stieg die Marke Volkswagen scheinbar unaufhaltsam auf in Richtung Mercedes-Benz. Nachdem der damalige Konzernchef Ferdinand Piëch das Unternehmen mit der Plattformstrategie gerettet hatte, strebte er nach Höherem. Er investierte Milliarden für den Phaeton und den Touareg, für die Autostadt in Wolfsburg und die gläserne Manufaktur in Dresden. Der Konzern emanzipierte sich scheinbar von seiner eigenen Geschichte, von Adolf Hitler und Ferdinand Porsche, die mit dem Kraft-durch-Freude-Auto das deutsche Volk motorisieren wollten, vom Käfer, der für das Wirtschaftswunder stand, und vom Golf, nach dem eine Generation benannt wurde. Plötzlich ging es nicht mehr um Wagen für das Volk, sondern um Limousinen für die Oberschicht. Es ging nicht mehr um Fabriken, sondern um Architekturpaläste wie die Manufaktur in Dresden, in denen Autos wie ausgestellte Kunstgegenstände wirken. Alles glitzerte und glänzte, sogar die Bilanz, die zu Piëchs Abschied 2002 einen Gewinn von 5,4 Milliarden Euro auswies. Vier Jahre später sind 20 000 bis 35 000 Arbeitsplätze gefährdet. In Braunschweig, Salzgitter und Kassel fürchtet die Belegschaft die Schließung ihres Werks oder eines Teils davon. Die Fabrik in Brüssel hat kaum noch Chancen. Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats am 19. und 20. April will Vorstandschef Bernd Pischetsrieder den Rettungsplan für Volkswagen präsentieren und damit auch seinen eigenen Job sichern. 1 6 / 2 0 0 6 79 Wirtschaft Fabriken, schauen Sie sich an, was da läuft. Dann wissen Sie Bescheid.“ Für Fußgänger führen mehrere Wege zum Werk in Wolfsburg. Es gibt eine Brücke über den Mittellandkanal. Sie ist überdacht, und die Menschen werden auf einem Laufband transportiert wie in Flughäfen. Besucher der Autostadt kommen so zu einer künstlich angelegten Lagunenlandschaft, in der das Unternehmen seine Marken in Glas- und Stahlpavillons präsentiert. Das ist die schöne Scheinwelt. Oder man geht durch einen Tunnel unter dem Mittellandkanal hindurch zu Tor 17. Der Tunnel ist gekachelt wie eine Bahnhofstoilette. Durch ihn laufen Tausende von VW-Arbeitern täglich zu den Montage- vollautomatisch eingebaut. Die Anlagen kosteten Milliarden und müssten, um wirtschaftlich zu arbeiten, eigentlich sechs Tage die Woche im Einsatz sein. Doch am Donnerstag ist Schicht, für Wachendorf und für die vollautomatischen Produktionsanlagen. Am Freitag gleichen die VW-Werke in Wolfsburg, Emden, Braunschweig, Salzgitter, Kassel und Hannover Geisterfabriken. Nichts bewegt sich. In den meisten Hallen ist das Licht ausgeschaltet. Man muss nichts von Wirtschaft verstehen, um zu erkennen, dass ein Unternehmen auf Dauer so nicht arbeiten kann. Andere Konzerne hätten Arbeitsplätze gestrichen. Volkswagen aber ist kein gewöhnliches Unternehmen. Im Aufsichtsrat OLAF BALLNUS STEFAN SOBOTTA / VISUM gen? Die deutschen Fabriken zählen zu den unproduktivsten. Dennoch zahlt VW seinen Arbeitern die höchsten Löhne. Diese Kombination ist tödlich. Die Umstehenden wagen keinen Einwand. Bernhard redet, als handele es sich um Naturgesetze. Und er wird schnell ungeduldig mit Menschen, die seinen Gedanken nicht flott genug folgen. Alles muss schnell gehen – wie in seiner Karriere. Aufgewachsen ist Bernhard zusammen mit acht Geschwistern in dem 700-SeelenDorf Böhen im Allgäu. Er studierte in Darmstadt und New York und räumte bei den ersten Stationen seiner Karriere schnell aus dem Weg, was ihn störte – und wenn es der eigene Nachname war. Als VW-Arbeiter Schawe, Wachendorf, Krause, -Betriebsrat Osterloh: „Ein absolutes Armutszeugnis für die Manager“ Ayerle geboren, übernahm er den Geburtsnamen seiner Mutter, Bernhard. Ayerle klingt nach Allgäu. Und Ayerle kann man im Ausland nicht aussprechen. Drei Jahre arbeitete der Wirtschaftsingenieur bei McKinsey, dann sechs Jahre bei Mercedes-Benz, bis man ihm zusammen mit dem heutigen DaimlerChryslerChef Dieter Zetsche die Sanierung von Chrysler anvertraute. Sechs Fabriken wurden geschlossen oder verkauft, 26 000 Arbeitsplätze gestrichen. Wer Bernhard wütend erleben will, muss ihn nur fragen, ob er Volkswagen jetzt mit einer ähnlichen Hire-and-fire-Politik sanieren wolle. Die Miene sagt, mit welchem Blödsinn werde ich hier belästigt. Dann legt Bernhard los. „Was heißt hire and fire? Das war gar nicht möglich bei Chrysler. Wer dort Mitarbeiter entlässt, muss ein bis zwei Jahre die vollen Löhne weiterzahlen. Fragen Sie die amerikanische Automobilarbeiter-Gewerkschaft. Zusammen mit ihr haben wir den Jobabbau bewältigt.“ Aber dürfte es im VW-Konzern nicht schwieriger werden als in den USA? „Und wenn? Wir müssen die Probleme hier lösen, sonst können wir die Autoproduktion in Deutschland vergessen.“ Und wie konnte es so weit kommen? „Gehen Sie in die 80 hallen, in denen es düster und laut ist und die Maschinen häufig ausfallen. Das ist die reale Arbeitswelt, in der Leute wie Ralf Schawe, Ronald Wachendorf und Erhard Krause seit Jahren mitbekommen, was alles schiefläuft bei Volkswagen. Wachendorf erfuhr 1993 schon, was Krise heißen kann. Er hatte gerade das Richtfest für sein Haus gefeiert, als es hieß, VW habe 30 000 Mitarbeiter zu viel. „Mir ist fast das Herz stillgestanden“, sagt er. Doch dann kam Personalvorstand Peter Hartz mit seiner Viertagewoche. 30 000 Jobs waren gerettet, weil alle weniger arbeiteten. Das erschien vielen wie eine geniale Lösung. Aber es war eine große Illusion. Im Vergleich mit ihren Kollegen verdienten die Arbeiter von Volkswagen schon immer gut. Durch die Viertagewoche verringerte sich der Lohn zwar um 15 Prozent. Weil die Arbeitszeit aber um 20 Prozent gekürzt wurde, ist der Stundenlohn gestiegen. Und damit wuchs der Anreiz für das Unternehmen, Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. In kaum einem anderen Autowerk der Welt verrichten Roboter so viel Arbeit wie in Wolfsburg. Sie schweißen und schrauben, sie kleben und montieren. Scheiben, Batterien, Räder und das Cockpit werden d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 haben die Arbeitnehmervertreter und das Land Niedersachsen die Mehrheit. Nicht ein ordentlicher Gewinn war das Unternehmensziel, sondern eine möglichst hohe Beschäftigung. Die Viertagewoche sollte eine Zwischenlösung sein. Wenn der Verkauf wieder steigt, sollten die Bänder wieder an fünf Tagen laufen. Doch der Absatz stieg nicht. Seitdem stehen die teuren Produktionsanlagen fast die halbe Woche still. Die Arbeiter gewöhnten sich schnell an den neuen Rhythmus. Aber auch die VWBosse, erst Piëch und dann Pischetsrieder, versuchten nicht, etwas daran zu ändern. Lieber fügten sich die VW-Chefs in eine Art Nichtangriffspakt mit dem Betriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert. Sie sanierten die deutschen VW-Fabriken nicht, was Arbeitsplatzabbau und Ärger mit Volkert bedeutet hätte, und der ließ ihnen so manches Missmanagement durchgehen. „Meinen Sie denn, es liegt an uns“, fragt Arbeiter Wachendorf, „dass es 47 Stunden dauert, bis ein Golf fertig ist?“ Da ist die neue Laserschweißanlage, die 600 Millionen Euro gekostet hat. Der technikverliebte Produktionsvorstand Folker Weißgerber hatte sie durchgesetzt. Jetzt fällt sie häufig aus, und in der Lackiererei Autostadt Wolfsburg: Schöne und teure Scheinwelt in einer künstlich angelegten Lagunenlandschaft müssen 300 Mitarbeiter zusätzlich eingesetzt werden, um Schweißnähte mit PVC zu überstreichen. „Vergiss die Tür nicht“, sagt sein Kollege Krause. Auch so eine Erfindung Weißgerbers. Außenhaut und Innenseite werden nicht mehr mit einer Falz verbunden, sondern verschraubt. Die Türen verziehen sich jetzt häufig. Ständig müssen die Scharniere nachgestellt werden, damit die Türen nicht schief sitzen. Erst hinten, dann vorn, und mitunter kommen die Türen zu nahe an den Kotflügel heran. Dann muss der noch einmal abmontiert werden. Dies verlängert die Montagezeit jedes Autos um vier bis sechs Stunden. In anderen Konzernen werden Manager für solche Fehlentscheidungen entlassen. Bei VW schützte Betriebsratschef Volkert den Vorstand Weißgerber. Das muss nichts damit zu tun haben, dass Weissgerber der brasilianischen Geliebten Volkerts den Auftrag für einen Werbefilm erteilt hatte. Es kann auch daran liegen, dass durch dessen neues Produktionskonzept in Wolfsburg nun auch die Türen für die GolfProduktion in Mosel und Brüssel gebaut werden. Dadurch wurden einige hundert Arbeitsplätze im Stammwerk gesichert, der Wahlbasis des Betriebsratsvorsitzenden. Wachendorf, Krause und Schawe sind voll von Geschichten über Missmanagement in der Produktion. Sie kennen auch die Ursachen. In kaum einem Konzern waren Entwicklung und Produktion so getrennt wie bei Volkswagen. Die Konstrukteure entwarfen ihre Autos, dann mussten die Produktionsexperten zusehen, wie die Fahrzeuge zu montieren sind. Sie planten dies in ihren Büros auf ihren Computern und wussten gar nicht, wie es am Fließband aussieht. „Habt ihr schon mal einen lebendigen Planer am Band gesehen?“, fragt Wachendorf seine Kollegen. Haben sie nicht. Es überrascht sie deshalb auch nicht, dass die Konstrukteure eine Fertigungszeit von 33 Stunden für den neuen Golf errechnet hatten und es jetzt 47 Stunden dauert. Der erfolgreichste Autokonzern der Welt, Toyota, führt seit Jahrzehnten vor, wie es besser geht. Vom ersten Tag an arbeiten die Entwickler und Produktionsexperten zusammen. Die Ingenieure müssen auf manches verzichten, weil es in der Fabrik zu viel Arbeit verursachen würde. Aber die Kunden vermissen offenbar nichts an ihren Toyotas. Beim Golf durften die Entwickler sich verwirklichen. Sie verpassten ihm eine Mehrlenkerhinterachse und eine elektromechanische Lenkung. Beides kostet mehrere hundert Euro. Doch außer Testfahrern spürt diese Feinheiten kaum jemand. VW-Arbeiter Krause sagt, er liebe den Golf. „Das ist ein super Auto.“ Für das Unternehmen ist der Golf, rein wirtschaftlich betrachtet, fast ein Totalschaden. Verglichen mit dem Vorgänger, erhöhten sich die Montagezeiten und die Produktionskosten. Mit jedem Golf, den VW verkauft, macht das Unternehmen einen Verlust. Das ist, als würde McDonald’s mit jedem Big Mäc Geld verlieren. Der Manager, der das ändern soll, bewegt sich meist im Laufschritt vorwärts. Wie ein Getriebener hetzt VW-Vorstand Bernhard über die Flure. Er schickt Führungskräfte ein paar Tage in die Fabrik. Sie sollen sehen, wie es jenseits des eigenen Schreibtischs zugeht. Er setzt Entwickler und Produktionsexperten in einen Raum. Sie müssen überlegen, wie die Kosten gesenkt werden können. Abends lässt Bernhard sich die Vorschläge präsentieren und entscheidet, was umgesetzt wird. In seinem ersten Jahr in Wolfsburg hat Bernhard mehr erreicht als andere Vorstände in fünf Jahren. Dennoch wirkt er oft genervt. Er will alles, und das am liebsten sofort. Er sagt: „Let’s stop bullshitting.“ Ein Manager hat ein Qualitätsproblem nach drei Monaten immer noch nicht gelöst. „Den schmeiß ich raus“, sagt Bernhard. Schließlich: „Wir sind hier nicht auf einem Kindergeburtstag.“ Vielleicht müssen Sanierer so reden. Bernhard erweckt mitunter den Eindruck, d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 ZIELSKE / BILDERBERG er könne gar nicht anders. Die Krise, das ist seine Zeit. Da wird nicht lange geplant und diskutiert. Da muss entschieden werden. Das geht dann, wie Bernhard sagt, „bang, bang, bang“. Auf langjährige VW-Manager wirkt Bernhard wie ein Außerirdischer, der auf dem Planet Wolfsburg gelandet ist. Zwei Jahre lang wurde zuvor über einen Geländewagen geredet und geredet. Bernhard kam, drückte die Kosten für das Modell und entschied, dass es in Wolfsburg gebaut wird – bang. Solche Geschichten erzählen VW-Manager voller Ehrfurcht, andere dagegen mit viel Unverständnis. Bernhard hat angekündigt, Teile der Werke in Braunschweig, Kassel und Salzgitter müsse man schließen – oder einen Käufer für sie suchen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass dies die falsche Reihenfolge ist. Zumindest in den Augen von mehreren tausend Mitarbeitern und in denen des Betriebsrats. Der neue Vorsitzende des Gremiums, Bernd Osterloh, hat sein Büro in einem Backsteinbau direkt vor der Golf-Montage. Die Tür steht offen. Drinnen sitzt ein Mann mit einem fast kahlgeschorenen Kopf. Er trägt ein Designerhemd mit extra großen Knöpfen und sagt als Erstes: „Nur um eines gleich klarzustellen: Ich verdiene 6500 Euro im Monat.“ Osterloh musste eine Menge klarstellen in den vergangenen Monaten. Sein Vorgänger Volkert verdiente rund 30 000 Euro im Monat und ließ sich obendrein noch die Reisen mit der Geliebten und die Besuche bei Prostituierten vom Konzern bezahlen. Als Betriebsrat stand Osterloh gewissermaßen unter Generalverdacht. Neun Monate lang tingelte er durch Gaststätten und Turnhallen. Fast jedes Wochenende stellte er sich der Diskussion mit VWArbeitern. Er musste sich ihre Wut und Enttäuschung anhören. Sein Vorgänger war abgetaucht. Nun aber ist Osterloh geradezu vergnügt. Bei der Betriebsratswahl hat er die überwältigende Mehrheit der Stimmen er81 Wirtschaft TIM WEGNER halten. Die Belegschaft glaubt ihm, dass er mit der Lustreisen-Affäre nichts zu tun hatte. Und sie setzt auf ihn bei den Verhandlungen um das Sanierungsprogramm. Wer erwartet, Osterloh würde gleich über Bernhard herziehen, wird enttäuscht. „Er hat recht“, sagt er, „die Lage der Marke Volkswagen ist ernst.“ So einen Satz hätte sein Vorgänger nie gesagt. Volkert war, wie die VW-Vorstände, ein Meister des Schönredens und -rechnens. Gewinne im Ausland wurden mit den Verlusten der deutschen Fabriken vermengt. Mischkalkulation nannte Volkert das. Man könnte auch sagen: Missmanagement. So nennt es Osterloh. Bei diesem Stichwort kann sich der Betriebsratschef, der eine Ausbildung als Industriekaufmann absolviert hat, mächtig in Rage reden. Missmanagement in der Analyst Ellinghorst „Lohnkosten sind nicht das Problem“ Produktion. In Volkswagen-Fabriken wird zu viel Technik eingesetzt, die störanfällig ist. Missmanagement in der Entwicklung. Der Golf und der Passat sind zu aufwendig konstruiert. Missmanagement in der Planung. Der Konzern hat rund 100 verschiedene Motoren, eine Vielfalt, die teuer ist und die Kunden eher verwirrt. Für jene Manager, die dies zu verantworten haben, sagt Osterloh, „ist das ein absolutes Armutszeugnis“. Solche Aussagen bringen ihm auf der Betriebsversammlung viel Applaus ein. Aber sie machen die Lage nicht besser. Was passiert denn, wenn es Bernhard und anderen Managern gelingen sollte, diese Fehler abzustellen? Beim nächsten Golf werden die Türen wieder nach bewährtem System gebaut. Die Karosserie wird wieder stärker mit konventionellen Schweißzangen zusammengefügt. Und überflüssige Technik, die der Kunde nicht spürt, wird verschwinden. Die Montage des Golfs soll dann statt 47 nur noch 33 Stunden daud e r ern. Die Konsequenz ist klar: Viele tausend Arbeiter werden keine Beschäftigung mehr haben. Aber sind die hohen Löhne bei VW, die rund 20 Prozent über denen der Konzerntochter Audi liegen, nicht ebenfalls schuld an der Krise? Osterloh lächelt. Er scheint sich über die Frage zu freuen. Der neue Personalvorstand hat ihm auch schon vorgerechnet: Wenn die Beschäftigten statt 28,8 künftig 35 Stunden arbeiten und dafür keinen Euro zusätzlich verdienen würden, könnten bei jedem Golf 300 Euro Kosten gespart werden. „Und wissen Sie, um wie viel das unsinnige Türenkonzept den Golf verteuert?“, fragt Osterloh. Man ahnt es schon: „um 300 Euro“. Unterstützt wird der Wolfsburger Betriebsrat von einem, der ideologisch kaum weiter von ihm entfernt sein könnte: Arndt Ellinghorst, Analyst bei Dresdner Kleinwort Wasserstein. Der Spezialist für die Autoindustrie fragt nicht, wie viele Menschen ein Unternehmen beschäftigt. Er will wissen, wie viel Profit es in den nächsten Jahren erwirtschaftet. Ellinghorst gilt als einer der einflussreichsten Automobilanalysten in Deutschland. Er lebt in Köln, hat sein Büro in Frankfurt und ist häufig in London oder New York. Er entspricht damit dem Klischee von den fixen Börsenjungs, die von Unternehmen gemeinhin nur eines fordern: Sie sollen möglichst viele Mitarbeiter entlassen. Aber Ellinghorst sagt: „Die Lohnkosten sind nicht das entscheidende Problem von Volkswagen.“ Der Analyst hat für alles seine Excel-Tabellen, in denen einzelne Zahlen zu Kennziffern verknüpft werden. Das Verhältnis der Lohnkosten zum Umsatz ist so eine Größe. Bei Volkswagen machen die Lohnkosten 16,6 Prozent aus. „Die Möglichkeiten, hier zu sparen, sind eher begrenzt.“ Mit seinen Tabellen kann Ellinghorst belegen, was nach seiner Ansicht die Hauptursache für die Wolfsburger Malaise ist. In den vergangenen zehn Jahren sind die Materialkosten im Verhältnis zum Umsatz von 58 auf 74 Prozent gestiegen. Zum Teil sei dies darauf zurückzuführen, dass VW mehr von Lieferanten beziehe. VW habe aber vor allem deshalb stark steigende Materialkosten, weil die Wolfsburger ihre Autos zu aufwendig konstruieren und in ihnen zu viel Technik einbauen, die der Kunden kaum spürt. Ellinghorst kann auch ein weiteres Rätsel lösen. Warum konnte Piëch vor seinem Abgang noch Rekordgewinne vorweisen, wenn Volkswagen damals schon unter der Kostenkrankheit litt? Der VW-Konzern hatte seine Bilanzierung auf die International Accounting Standards (IAS) umgestellt. Dadurch erhöhte sich der ausgewiesene Gewinn in den Jahren 2000 und 2001 um 1,6 Milliarden Euro. Zudem war der Dollarkurs gerade hoch. VW konnte voll davon profitie- s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 83 84 THOMAS KIENZLE / AP (O.); WALTER SCHMIDT / NOVUM (U.) ren. Insgesamt, sagt Ellinghorst, haben diese beiden Effekte den Gewinn 2000 und 2001 um 30 Prozent erhöht. Die Bilanz sah schöner aus, aber das Unternehmen war im Kern nicht viel gesünder als heute. Es gib nur wenige Konzerne, in denen der Unterschied zwischen Schein und Sein so groß war wie bei Volkswagen. Seit Jahren sorgen die Schwestermarke Audi und die Finanzdienstleistungen für die meisten Gewinne. Volkswagen dagegen war längst reif für eine grundlegende Sanierung. Seit der Dollarkurs fällt, die Stahlpreise steigen und die europäischen Konkurrenten sich mit Rabatten überbieten, können sich die Vorstände vor der Sanierungsarbeit nicht mehr drücken. Die Belegschaft spürt, dass diese Krise möglicherweise anders ist als alle früheren. Aus der Viertagewoche kann man keine Dreitagewoche machen. Es gibt keine Wolfsburger Wundermittel. Üblicherweise kommen 10 000 Arbeiter zu einer Betriebsversammlung. Am 9. März drängten sich rund 25 000 Menschen in Halle elf. Sie pfiffen Bernhard und Pischetsrieder aus, sie jubelten ihrem Betriebsrat Osterloh zu. Am Ende aber verließen sie eher ratlos die Veranstaltung. Die Vorstände haben nicht verraten, wie ihr Sanierungsplan aussieht. Deshalb stellen sich in Wolfsburg jetzt viele aus Gerüchten, Vermutungen und einigen wenigen offiziellen Verlautbarungen ihren eigenen Plan zusammen. Teile der Werke Braunschweig, Kassel und Salzgitter sollen verkauft oder geschlossen werden. Das klingt schlicht, ist aber kompliziert. VW hat sich verpflichtet, bis 2011 keine Mitarbeiter zu entlassen. Also könnte der Konzern die Gießereien beispielsweise nur schließen, wenn er die Mitarbeiter mit hohen Abfindungen zum freiwilligen Ausscheiden bewegt. Wenn Volkswagen Werksteile an Lieferanten verkauft, muss es dem Erwerber viel Geld mitgeben. Denn der wird beispielsweise die Kunststoffproduktion und die darin beschäftigten Mitarbeiter nur übernehmen, wenn VW ihm einen Ausgleich für die höheren Volkswagen-Löhne zahlt. Die Belegschaft soll länger arbeiten. Wenn die VW-Arbeiter zu den Stundenlöhnen ihrer Audi-Kollegen 40 Stunden in der Woche arbeiten würden, wäre das Werk Wolfsburg wettbewerbsfähig. Durchsetzbar scheint, dass die Arbeitszeit von 28,8 auf 35 Stunden verlängert wird. Die teuren Produktionsanlagen könnten dann an fünf Tagen genutzt werden. Es würden mehr Autos in Wolfsburg gebaut. Ein anderes Werk – das in Brüssel oder eine SeatFabrik – müsste geschlossen werden. Auch in diesem Fall kämen auf VW zunächst Kosten zu: rund 750 Millionen Euro für Abfindungen und Abschreibungen. Milliardeneinsparungen dagegen sind möglich, wenn Volkswagen und Audi nicht mehr wie Wettbewerber gegeneinander ar- VW-Aufsichtsräte Wiedeking, Piëch, Wulff Kein Interesse an einem Kahlschlag beiten. Audi baut seine Motoren bei fast allen Modellen längs ein, VW quer. Deshalb müssen beide Marken unterschiedliche Getriebe und Allradsysteme entwickeln. Ergebnis dieser unsinnigen Konkurrenz innerhalb des Konzerns: VW sucht sich Partner außerhalb. Der Vorstand verhandelt mit DaimlerChrysler, ob die Stuttgarter das neue Direktschaltgetriebe von VW für Mercedes einkaufen. Außerdem wird geprüft, ob Chrysler die Plattform des nächsten Sharans für einen eigenen Van nutzt, der in Europa angeboten wird. Kapitalanleger in aller Welt glauben offenbar, dass bei Volkswagen jetzt die große Schöner Schein 5193 Volkswagen-Konzernzahlen • FAHRZEUGABSATZ in tausend 5143 5107 4996 • UMSATZ in Mrd. ¤ 87,3 85,3 5016 84,8 89,0 1,6 1,6 2003 2004 95,3 • GEWINN in Mrd. ¤ 5,4 4,8 2,8 2001 d e r 2002 s p i e g e l 2005 1 6 / 2 0 0 6 Sanierung beginnt. Die VW-Aktie steigt und steigt und steigt. Analyst Ellinghorst ist vorsichtiger. Wenn alle Sparmaßnahmen durchgeführt würden, müsste Volkswagen nicht 20 000 Arbeitsplätze abbauen, wie bislang offiziell bekanntgegeben, sondern 35 000 bis 40 000. Das dürfte auch mit hohen Abfindungen kaum gelingen. Das wird Betriebsrat Osterloh nicht mitmachen. Und das werden auch zwei weitere Herren zu verhindern wissen: Porsche-Chef Wendelin Wiedeking und Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff. Die beiden vertreten die größten Aktionäre des VW-Konzerns. Wiedeking hat bei Porsche gezeigt, wie man ein Unternehmen verantwortungsvoll aus der Krise führen kann. Er erwartet von Bernhard und Pischetsrieder eine ähnliche Leistung bei VW. Auch Wulff hat kein Interesse an einem Kahlschlag unter den fünf niedersächsischen VW-Fabriken. Die Zeit des Verdrängens und Vertuschens soll vorbei sein. Doch aus Wolfsburg wird nicht Detroit. Die einfachen und schnellen Schnitte wird es kaum geben. Für jede Gießerei, die nicht wettbewerbsfähig ist, muss eine eigene Lösung gesucht werden. Es muss verhandelt werden, mit Kaufinteressenten, mit Betriebsräten. Und auch die Automontage in Wolfsburg und Emden kann nicht zwischen zwei Schichten mal eben auf rationellere Produktionsverfahren umgestellt werden. Der Sanierer und der Betriebsrat versuchen deshalb, jeder bei seiner Klientel, übertriebene Erwartungen an das Sanierungsprogramm zu dämpfen. Bernhard bereitet die Börse darauf vor, dass es länger dauert, als mancher sich vorstellt. Erst in drei Jahren werde man aus dem Gröbsten raus sein. Und Osterloh signalisiert der Belegschaft, dass es harte Einschnitte geben wird. „Wir werden sicher auch zu Kompromissen kommen“, sagt der Betriebsrat, „die nicht zu Begeisterungsstürmen hinreißen.“ In Wolfsburg kann die Stammbelegschaft bereits beobachten, wie die Zukunft der Arbeit wohl aussehen wird: In den Hallen acht bis zehn arbeiten die Kollegen der Auto 5000 GmbH für einen geringeren Lohn bis zu 42 Stunden. Dort soll auch der neue Geländewagen gebaut werden. Dort entstehen neue Arbeitsplätze. Doch die größte Autofabrik der Welt, durch die 70 Kilometer Eisenbahnschienen und 75 Kilometer Straßen führen, bietet auch noch Platz für die scheinbar heile Volkswagen-Welt. In der Autostadt wird jedes Blatt, das auf den kurzgeschorenen Rasen fällt, sofort weggeharkt. Und Fingerabdrücke können allenfalls ein paar Minuten die großen Glasscheiben verschmieren, bevor sie eilig weggewischt werden. Nichts deutet darauf hin, dass die Autostadt ein Zuschussbetrieb ist, der 2005 über zehn Millionen Euro kostete. Dietmar Hawranek Wirtschaft gen mit den polnischen Behörden. „Ich musste einen 20-Jahre-Businessplan vorlegen, die wollten über jede einzelne Wurstsorte Bescheid wissen“, erzählt er. Doch mittlerweile weiß auch er die Vorzüge des Standorts zu schätzen: Seine Arbeiter erhalten in Slubice etwa 270 Euro brutto pro Monat, gut 15 Prozent mehr als der Mindestlohn. „Die Löhne sind natürNoch immer locken die lich der Hauptvorteil hier“, sagt Könecke, polnischen Sonderwirtschaftszonen der Steuerrabatt sei nur „der Schnaps mit üppigen Steuerrabatten. obendrauf“. Deutsche Mittelständler drängen Der Mann, der deutsche Investoren mit dem Schnaps nach Polen lockt, heißt Danach Slubice an der Oder. riusz Lesicki. Er ist Marketingdirektor der Zone und 100 km Karlino drückt Gästen einen Hochglanzprospekt in die Hand: Sonderwirtschaftszone „Garantiert 0% Steuer!“ steht darauf in roten Lettern. Goleniów Kostrzyn-Slubice: 805 Hektar groß, „Die Zone wird immer Police verteilt auf DEUTSCHbeliebter, vor allem bei LAND POLEN 15 Unterzonen deutschen Unternehmern“, Barlinek Chodziez sagt Lesicki, 34, „aber auch chinesische und indische FirGorzów men zeigen Interesse.“ Von Poznan Kostrzyn 1999 bis 2005 hätten sich die Swarzedz Berlin Investitionen auf gut 260 Slubice Frankfurt / Millionen Euro belaufen, alCzerwieńsk Oder lein in diesem Jahr werde Gubin Zielona Góra Nowa Sól nochmals gleichviel hinzuBytom kommen. Die Zone wurde Odrzański bereits von 543 auf 805 Steuerrabatt in der SonderwirtschaftsHektar vergrößert, um neue zone: 50 bis 65 % der Investitionssumme Parzellen zu schaffen. Körperschaftsteuer Polen 19,0% Dabei war Polen in den zum Vergleich Deutschland 39,4 % EU-Beitrittsverhandlungen dazu gedrängt worden, die Wurstfabrikant Könecke junior (r.), Mitarbeiter in Slubice: „Die Löhne sind natürlich der Hauptvorteil“ Steuersparzonen dichtzuer Weg in die Globalisierung führt seit 1998 in der Sonderwirtschaftszone Leg- machen. Aber die Regierungsvertreter aus für Manuel Dieckmann auf der A10 nica fertigen und bedient von dort aus die Warschau verhandelten geschickt und verostwärts. „Jeder Großkonzern geht rasch wachsenden Märkte Osteuropas, ge- wiesen auf Deutschlands Weigerung, den ins Ausland“, sinniert er, während sein rade verlagert der schwedische Electrolux- neuen EU-Bürgern sofort unbeschränkten schwarzer 3er BMW in Richtung deutsch- Konzern einen Teil der AEG-Produktion Zugang zum eigenen Arbeitsmarkt zu gewähren. Schließlich musste Polen den Steupolnische Grenze rast, „warum sollte ein von Nürnberg in die Walbrzych-Zone. Immer häufiger nutzen auch deutsche errabatt zwar etwas verringern, darf die Mittelständler nicht das Gleiche tun?“ Das Ziel des Jungunternehmers aus dem Mittelständler den Steuerrabatt: Das Wup- Zonen aber bis 2017 beibehalten. In Slubice, von Frankfurt/Oder bloß westfälischen Ascheberg liegt wenige Ki- pertaler Druckgusswerk Paul Hirsch hat lometer hinter der Grenze, an der Auto- vor kurzem Parzelle 23 in der Zone durch eine Brücke getrennt, herrscht also und Eisenbahnverbindung zwischen Berlin Kostrzyn-Slubice gekauft. Auf Parzelle 22, noch länger buntes Treiben. Die Straßen und Warschau, und ist der zurzeit begehr- direkt neben Dieckmanns Grundstück, sind schon jetzt belebter als im viermal teste Flecken in Westpolen: die Sonder- baut die Kölner Elektronikfirma Fraba eine so großen Frankfurt, die Kneipen voller, Fertigungsstätte. Bei Karl Könecke aus viele Geschäfte schließen erst nach 22 Uhr. wirtschaftszone Kostrzyn-Slubice. Dieckmann, 29, Inhaber der Dila Bremen laufen die Würste bereits vom Seit kurzem können sich die deutschen GmbH, wird hier eine Vertriebs- und Fer- Band, die Firma Brinkhaus aus dem nord- Investoren auf einem 18-Loch-Golfplatz tigungsstätte bauen. In einem halben Jahr rhein-westfälischen Warendorf stellt hier vergnügen. Katerstimmung dagegen westlich der sollen seine deutschen Kunden von Polen Kopfkissen her und Hanke aus Dortmund Oder: Nach dem Aus für das Chipfabrikaus mit Büromöbeln und Ladeneinrich- Toilettenpapier. Paul-Hirsch-Chef Eike Schulz, 34, ist be- projekt vor gut zwei Jahren liegt die Artungen versorgt werden. Die Investition, etwa eine Million Euro, wird Stellen für geistert vom neuen Standort. Bereits in beitslosigkeit bei fast 20 Prozent, den Bau etwa zwei Monaten könne er mit den Bau- einer Straßenbahn über die Oderbrücke 25 polnische Mitarbeiter schaffen. „Eigentlich wollte ich die Halle in arbeiten beginnen. „In Deutschland hätte haben die Frankfurter in einer Befragung Deutschland bauen“, erzählt er, doch die ich bis 2008 warten müssen, bloß um eine mit wuchtigen 83 Prozent abgelehnt. Oberbürgermeister Martin Patzelt, 58, exorbitanten Lohnnebenkosten und Steu- Genehmigung zu kriegen“, sagt er lachend. ern sowie Ärger mit den Behörden hätten Vor allem freut er sich aufs polnische Per- freut sich wenigstens über den Boom der ihn umgestimmt: „In Polen werde ich mit sonal: „In Deutschland sind die Arbeit- polnischen Schwesterstadt. „Wenn ich Gäste habe und abends etwas erleben will, nehmer satt, dort sind sie hungrig.“ offenen Armen empfangen.“ Wurstfabrikant Karl Könecke junior, 36, dann fahre ich rüber“, schwärmt er, „dort Mit offenen Armen – vor allem aber mit einem üppigen Steuerrabatt: Zwei Jahre machte zwar anfangs schlechte Erfahrun- ist einfach mehr los.“ Sebastian Ramspeck S TA N D O R T E CARSTEN KOALL Schnaps obendrauf nach Polens EU-Beitritt locken seine 14 Sonderwirtschaftszonen noch immer mit einem attraktiven Angebot. Firmen, die sich dort niederlassen, können bis zu 65 Prozent der Investitionssumme von der Körperschaftsteuer abziehen, in den ersten Jahren müssen sie meist keinen einzigen Zloty ans Finanzamt überweisen. Wer bereits vor 2001 investiert hatte, profitiert von einer 100-Prozent-Ermäßigung. Dabei liegt der polnische Körperschaftsteuersatz ohnehin bei niedrigen 19 Prozent. Viele Konzerne erlagen diesem unwiderstehlichen Angebot: Volkswagen lässt D 86 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 GLOBALISI ERUNG „Risse im System“ JÜRGEN FRANK Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff über ungezügelten Kapitalismus, die Gier der Konzernchefs und die Frage, wie den Deutschen ein neues Wirtschaftswunder gelingen kann Wirtschaftswissenschaftler Rogoff: „Auffallender Niedergang des Faktors Arbeit“ Rogoff, 53, war Chef-Ökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF) und lehrt nach Stationen in Princeton und Berkeley Wirtschaftswissenschaften an der Universität in Harvard. Der frühere Schachprofi und Internationale Großmeister ist ein Verfechter der liberalen IWF-Politik und bezeichnet sich als „Schwarzenegger-Republikaner“. In seinen jüngsten Schriften kritisiert er die negativen Folgen der Globalisierung und warnt vor politischen Unruhen, falls Politiker und Manager nicht für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands sorgen. SPIEGEL: Professor Rogoff, die US-Wirt- schaft brummt, Präsident Bush jubelt über das hohe Wachstum. Aber die Mehrheit aller Amerikaner glaubt, sie lebe in einer Rezession. Wer hat hier ein Wahrnehmungsproblem? Rogoff: Ich habe mich auch gefragt, ob die Leute verrückt geworden sind. Aber Tat90 sache ist: Der Anteil der Löhne am Gesamtwachstum schrumpft. SPIEGEL: Das heißt: Die meisten Menschen bekommen vom Aufschwung nichts mit und sind zu Recht enttäuscht? Rogoff: Die arbeitende Bevölkerung hatte in einem Zeitraum von 100 Jahren einen gleichbleibenden Anteil am volkswirtschaftlichen Einkommen. Deshalb waren auch Marx’ Thesen völlig falsch, dass im Kapitalismus nur die Kapitalisten profitieren und die Arbeiter ausgebeutet werden. Nichts war mehr von der Wahrheit entfernt. Arbeiter haben in gleicher Weise hinzuverdient, wie die Volkswirtschaften gewachsen sind. SPIEGEL: Gilt das nicht mehr? Rogoff: Seit 20 Jahren gibt es in allen reichen Ländern einen auffallenden Niedergang des Faktors Arbeit. Die Reichen werden reicher, aber am unteren Ende kommen die Menschen nicht so schnell voran wie die Kapitalisten. SPIEGEL: Marx hatte also doch recht? d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Rogoff: Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Arbeiter werden nicht ausgebeutet. Aber wenn ihr Anteil am Wachstum nicht größer wird, ist das eine potentielle Ursache sozialer Spannungen weltweit. Der Punkt ist nur: In den USA sind bisher Versuche gescheitert, diesen Trend umzudrehen. Die Boeing-Beschäftigten haben durch ihren Streik kaum etwas erreicht. Die Position der Arbeiter ist geschwächt – in der Luftfahrt und in anderen Industrien. SPIEGEL: Gleichzeitig kassieren Konzernchefs und Wall-Street-Banker Bonuszahlungen in Rekordhöhe. Rogoff: Es gab noch nie eine bessere Zeit, um reich zu werden. Es ist schon überaus erstaunlich, wie viel Geld etwa die Leute im Hedgefonds-Business machen oder im Private-Equity-Bereich und wie wunderbar es den wohlhabenden Familien geht. Angesichts solcher Widersprüche ist es kein Wunder, wenn Durchschnittsamerikaner anders über die Wirtschaft denken als George W. Bush und seine Freunde. Die können so lange mit Statistiken spielen, wie sie wollen: Über die ungerechte Verteilung des Wohlstands gibt es keinen Zweifel. SPIEGEL: Solange es den Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Traum gibt, hat das bislang kaum jemanden gestört. Rogoff: Ich sage meinen Kindern, dass ein Mann wie Bill Gates über ein Vermögen von 50 Milliarden Dollar verfügt. Das können sie überhaupt nicht begreifen. Dann erkläre ich ihnen, dass viele Länder auch nicht mehr Geld haben als er. Wenn wir solche Extreme haben, kann ich nicht einsehen, warum wir jetzt auch noch die Erbschaftsteuer abschaffen. Sie hat der Wirtschaft nicht geschadet und über die Generationen hinweg die Einkommensverteilung ausgeglichen. SPIEGEL: Solche milliardenschweren Steuergeschenke für Superreiche sollen Wachstum für alle erzeugen. Steigendes Wasser hebt alle Boote, lautet ein entsprechender Slogan der Konservativen. Rogoff: Bei der Katastrophe von New Orleans hat man konkret gesehen, wie es Leuten in bitterer Armut ergeht: Sie haben gar kein Boot. Noch mehr Steuererleichterungen sind der falsche Weg, solange es nicht einmal für Kinder eine Krankenversicherung gibt. Ich finde das ungeheuerlich. SPIEGEL: Sind diese Ungerechtigkeiten der Preis für niedrige Arbeitslosigkeit und starkes Wachstum in den USA? Rogoff: Dieser ungezügelte Kapitalismus bei uns wird sozial nicht durchzuhalten sein, das führt zu Spannungen. Wenn wir noch einmal fünf weitere Jahre wie die letzten fünf erleben, werden sich soziale Reibungen verstärken. Die Menschen schauen ja nicht nur auf ihr eigenes Wohlergehen, sondern auch auf ihre Nachbarn, auf ihren Platz in der Gesellschaft. Diese gewaltigen Ungleichheiten sind kein besonders wünschenswerter Wesenszug in unserer Gesellschaft. Wirtschaft MATT ROURKE / AP Rogoff: … ist kein Ausweg, wir können die Hurrikan-Opfer in New Orleans: „Ich finde das ungeheuerlich“ SPIEGEL: Sind westliche Konzernchefs Getriebene der Globalisierung, oder nutzen sie die Lage zu ihrem Vorteil aus? Rogoff: Wir reagieren auf die Kräfte des Marktes, wir versuchen, Jobs zu schützen – das ist das Selbstbild vieler Manager. Sie können überhaupt nicht verstehen, warum die Menschen wütend auf sie sind. Nehmen Sie Firmenübernahmen, bei denen der scheidende Vorstandschef eine Abfindung von 50 Millionen Dollar einstreicht und 5000 Arbeiter entlassen werden. So etwas passiert regelmäßig. Auf der einen Seite zeigt es: Wir haben ein flexibles Wirtschaftssystem, wir erlauben den Wandel. Andererseits ist es natürlich völlig naiv zu glauben, dass dadurch keine Spannungen entstehen. SPIEGEL: Aber schaden sich Unternehmen und Länder, die sich gegen die Globalisierung stellen, nicht am Ende selbst? Rogoff: Einfache Antworten gibt es nicht. Natürlich wäre es Selbstmord, beispielsweise unsere Industrien zu verstaatlichen. Wer aber sagt, die Wirtschaft wächst, alles ist wunderbar, der will diese Risse im System einfach nicht zur Kenntnis nehmen. In China ist diese Kluft ja übrigens noch viel gewaltiger. An der Küste herrscht das 21. Jahrhundert, und auf dem Land, wo zwei Drittel der Chinesen wohnen, kön- 92 nen Sie noch das 18. Jahrhundert erleben. Das sind unfassbare Ungleichheiten. Die haben einen extrem rohen Kapitalismus. SPIEGEL: Dem englischen Ökonomen Ricardo zufolge ist Freihandel für alle gut. Die reichen Industriestaaten müssten nach seiner Theorie nur auf der technologischen Leiter nach oben klettern, um ihre Verluste in ausgelagerten Industrien auszugleichen. Rogoff: Ricardo hatte noch nie recht. Sicher, es gibt mehr Gewinner als Verlierer, und die Gewinner profitieren mehr als die Verlierer einbüßen. Aber dass vom Freihandel alle zur gleichen Zeit pro- + 129 fitieren, stimmt einfach nicht. SPIEGEL: Protektionismus … Einseitiger Zuwachs Veränderung des Nettoeinkommens zwischen 1979 + 54 und 2003 in den USA, in Prozent + 25 Quelle: CBO + 13 + 15 +4 unteres Fünftel mittleres oberes oberes Fünftel Fünftel Prozent E I N KO MME N SK L ASSE N Uhr nicht zurückdrehen. Aber ein ungezügelter Kapitalismus wird zu sehr realen Problemen führen. Wir werden sehen, dass eine immer weiter reichende Liberalisierung langfristig die politische Unterstützung in der Bevölkerung verlieren kann. SPIEGEL: Wenn ganze Branchen nach Fernost verlagert werden, wo können dann im Westen überhaupt neue Arbeitsplätze entstehen? Rogoff: Unsere Hightech-Industrien profitieren ja gewaltig, aber für 50-jährige Stahlarbeiter oder für Leute aus der Luftfahrtindustrie ist es schwierig bis unmöglich, sich zum Besseren zu verändern. Das Problem – jedenfalls in den USA – ist nicht, dass die Leute keinen Job mehr finden. Das Problem ist, dass sie keinen Job mehr bekommen, der ihnen Würde verleiht und einen vernünftigen sozialen Status. Diesen enormen Sog nach unten für ungelernte Arbeiter gibt es ja schon länger. Ab jetzt werden auch die mittleren und höheren Ränge vom Outsourcing betroffen – Menschen, die sich in ihrer Position sehr sicher fühlten. SPIEGEL: Im Klartext: Nicht einmal erstklassige Bildung schützt vor der Konkurrenz der Chinesen? Rogoff: Wissen Sie, ich war in jüngeren Jahren Schachprofi. Früher konnten Sie sich als bester Spieler von New York sehr gut Ihren Lebensunterhalt verdienen. Inzwischen sind die Inder und Chinesen brillante Schachprofis geworden. Die steigen ins Flugzeug und spielen überall mit. Das hat zu einem dramatischen Druck auf die Einkommen geführt. Wenn Sie der beste Schachspieler Argentiniens sind, können Sie davon heute nicht mehr leben. SPIEGEL: Welchen Platz hat Deutschland in der globalisierten Welt? Rogoff: Selbst wenn Ihre Wirtschaft in diesem Jahr ein bisschen wächst – der Trend zeigt abwärts. Sie brauchen Reformen auf dem Arbeitsmarkt, im Steuersystem, im Corporate-Governance-Bereich und im Bildungssektor. Ihr Schulsystem ist im Vergleich zu den USA sehr gut, aber Ihre Universitäten sind nicht wettbewerbsfähig. SPIEGEL: Sie haben eine der weltweit größten Volkswirtschaften schon abgeschrieben? Rogoff: Verstehen Sie mich nicht falsch. Wenn Berlin endlich entschieden reformieren würde, könnte es die USA im Wachstum für 20 Jahre übertreffen. Deutschland, mit seiner Kultur, seiner Bildung, seinen hochqualifizierten Einwohnern, ist so unglaublich reich. Es müsste seine Muskeln nur ein wenig anspannen, dann könnte es in den nächsten Jahren Wachstumsraten von vier, fünf Prozent erreichen und ein Wirtschaftswunder wie in den fünfziger und sechziger Jahren schaffen. Solange es diese politische Lähmung bei Ihnen gibt, wird es dazu aber nicht kommen. Interview: Frank Hornig d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Wirtschaft tern per interner Rund-Mail vom 15. April 2005 Erfreulicheres mit: „Unser Unternehmen hatte im März einen Zuwachs von 14,28 Prozent über alle Bereiche gehabt. Im Monat April bisher 25,21 Prozent über alles.“ Rund 60 Millionen Euro setzt das Online-Reisebüro im Jahr um, eigentlich ist es auf Ägypten und mediterrane Gegenden spezialisiert. Für jede Buchung in TsunamiVon den in Aussicht gestellten Spenden Gebiete versprach das war in der E-Mail jedoch keine Rede mehr. Reisebüro „Billigweg“ eine Spende Weder Hilfsorganisationen noch die Regionen vor Ort sahen von Lambeck jemals – und wollte anschließend einen Cent. Eine Spendenbescheinigung nichts mehr davon wissen. konnte der Manager nicht vorweisen. ndreas Lambeck hatte schon immer Auf Anfrage bestritt der Geschäftsführer einen Hang zu skurrilem Markezunächst, dass es die Spendenaktion überting. Als die USA im März 2003 haupt gegeben hätte. „Herrn Lambeck ist nicht bekannt, dass diese Marketingaktion in den Irak einmarschierten, wollte der von Billigweg.de durchgegeschäftsführende Gesellführt worden ist“, ließ er eischafter des Internet-Reisenen Sprecher ausrichten. Vorunternehmens Billigweg.de sorglich wurde die dazugeöffentlichkeitswirksam den hörige Pressemitteilung von amerikanischen Präsidenten der Homepage gelöscht. SpäGeorge W. Bush wegen Verter wollte Lambeck glauben stoßes gegen das Völkerrecht machen, die Aktion sei eine verklagen. Fälschung von WettbewerUnter Völkerrecht verstand Lambeck vor allem das Recht bern, die ihm schaden wollten. Interne E-Mails sprechen auf Umsatz. Penibel rechneeine andere Sprache. In eite er vor, dass sein Unterner Mitteilung vom 12. Janehmen allein in beiden Monuar 2005 trieb der Billignaten vor Beginn des Feldweg.de-Marketingchef Heizugs der „Koalition der Wilko Rettke seine Mitarbeiter ligen“ wegen der unsicheren unter Hinweis auf die AkWeltlage einen Ertragsausfall tion an zu verkaufen, „was zwischen drei und dreieindas Zeug hält, damit wir mit halb Millionen Euro vereinem guten Januar-Ergebkraften musste. Er hätte „die nis die November-Schlappe besten Reiseangebote auf kompensieren können“. den Markt werfen, die größMit der tatsächlichen ten Rabattaktionen machen“ Existenz der zweifelhaften können, sagte er damals, Werbeaktion konfrontiert, „wenn Menschen Angst haschob der Billigweg.deben, haben sie Angst. Uns ist Gründer die Verantwortung nichts anderes eingefallen, „Billigweg“-Homepage, Touristen am Strand von Phuket: „Nur peinlich“ auf seine Mitarbeiter. „Wenn als uns so zu artikulieren“. Solch abstruse Kampagnen lässt sich ließ das Unternehmen im nordrhein-west- diese Pressemitteilung verschickt worden Lambeck immer wieder einfallen, um auf- fälischen Velbert per Pressemitteilung und ist ohne mein Wissen und Zustimmung, zufallen und sein Geschäft zu puschen. Mal Newsletter verkünden. Auch alle Billig- schäme ich mich dafür“, so Lambeck. Schon auf der diesjährigen Internatiozahlt er Kunden die Praxisgebühr zurück, weg-Filialen wurden über das neue Annalen Touristikmesse ITB in Berlin sorgte wenn sie bei ihm buchen, mal verschleu- gebot informiert. Als Geste der Unterstützung des Politi- Lambecks Aktion für Gesprächsstoff. Mehdert er einen „Volksurlaub“ für alle ab 9,99 Euro. Als die Bundesregierung das Ar- kervorschlags kündigte der Feriendiscoun- rere Branchenkollegen sprachen ihn an. beitslosengeld II einführte, offerierte Bil- ter am 11. Januar 2005 an, bei jeder Bu- Auch dort mimte er den Unschuldigen. ligweg.de zweiwöchige Flugreisen ab 189 chung in die betroffenen Gebiete bis Ende „Mir war das in dieser Situation nur peinEuro für Kunden, die sich als Hartz-IV- März desselben Jahres 25 Euro für den lich, und ich wusste mir nicht anders zu Empfänger ausweisen konnten. Auch Ge- Wiederaufbau zu spenden. „Dies wäre ein helfen“, so Lambeck. „Ich wollte auf alle ringverdiener bedachte der umtriebige wichtiger Beitrag, den Menschen vor Ort Fälle vermeiden, dass das ganze Thema in Manager: Alle Menschen mit einem Haus- nachhaltig zu helfen, die zu Tausenden auf der Öffentlichkeit ausgebreitet wird.“ Immerhin kündigte Lambeck nachträghaltseinkommen von unter 1000 Euro er- funktionierenden Tourismus angewiesen hielten bei ihm während einer befristeten sind, um ihren Lebensunterhalt zu be- lich eine Spende für den Wiederaufbau streiten“, wird Lambeck in der Mitteilung des kleinen Fischerdorfs Kalladdie an der Aktion zehn Prozent Rabatt. Ostküste Sri Lankas an. Insgesamt samEin Unternehmer mit Herz: In dieser zitiert. Die Aktion war ein Erfolg – für ihn und melte das Weltnotwerk der Katholischen Rolle sieht sich Lambeck – der neben seiner Internet-Seite auch Filialen auf sein Unternehmen. Während die Reise- Arbeitnehmer Bewegung (KAB) bisher diversen deutschen Flughäfen und in Fuß- branche im ersten Quartal ein Minus von rund 190 000 Euro dafür. Vor zwei Wochen gängerzonen betreibt – am liebsten. Sein bis zu zehn Prozent hinnehmen musste, überwies auch Billigweg.de 1850 Euro. Unternehmen gehört neben Expedia und teilte Lambeck seinen rund 130 MitarbeiJanko Tietz Abstruse Werbe-Welle A Opodo zu den größeren der Branche, der TÜV-Süd lobte es als „in hohem Maße vertrauenswürdig“. Dieses Image könnte jetzt Schaden nehmen. Als Ende des Jahres 2004 die Tsunami-Welle über Südostasien hereinbrach und der Tourismus quasi zum Erliegen kam, ließ sich das Unternehmen von einer besonders aberwitzigen Idee des Bundestagsabgeordneten Albrecht Feibel inspirieren: Der Haushaltsexperte der Union schlug damals vor, Touristen sollten Urlaubsreisen in Flutstaaten wie Thailand oder Sri Lanka von der Steuer absetzen können, um die Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen zu retten. Flugs kreierte Billigweg.de eine neue Aktion: „Die CSU fordert es, Billigweg.de unterstützt es und setzt noch eins drauf“, ANDREAS LANDER / PICTURE-ALLIANCE / DPA TOURISMUS d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 95 Medien Trends Einspiel-Erlöse und Zuschauermarktanteile der ARD-Fernsehlotterie FERNSEHEN 160 120 Quelle: ARD-Fernsehlotterie EINSPIEL-ERLÖSE in Millionen Euro 80 „Dreiste Rücksichtslosigkeit“ Kardinal Karl Lehmann, 69, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, über die umstrittene Werbung des TVSenders MTV für die satirische Sendung „Popetown“ 40 in Prozent 16,0 1989 1995 13,9 9,3 2000 13,5 2005 LOTTERI E-SHOWS Quote ist nicht alles ie Einspielerlöse der ARD-FernD sehlotterie „Ein Platz an der Sonne“ trotzen dem Fernsehverhalten der Zuschauer. Die wollen zwar kaum noch Lotterie-Shows sehen, zahlen aber ungehemmt für ihre Lose ein. Anfang der neunziger Jahre erreichten die Lotteriesendungen noch knapp 30 Prozent Marktanteil, zwischenzeitlich sackten sie auf unter 10 Prozent ab. Die Einnahmen aus dem Losverkauf schnellten trotzdem in die Höhe. Im Jahr 1989 spielte die Lotterie umgerechnet 35 Millionen Euro ein. Fast fünfmal so viel waren es im vergangenen: 168 Millionen. Im ersten Jahr des Bestehens sammelte die Lotterie umgerechnet 820 000 Euro ein. Allerdings gab es 1956 auch erst 393 000 Fernseher in Deutschland. R E A L I T Y-T V Kulturschock vor der Kamera SPIEGEL: MTV hat bis vor wenigen Tagen für die Sendung „Popetown“ mit einer Anzeige geworben, die Jesus vor dem leeren Kreuz im Fernsehsessel zeigt. Der Titel der Anzeige ist „Lachen statt rumhängen“. Ist das Blasphemie? Lehmann: Dies scheint mir sogar eine besondere Form von Verspottung religiös wichtiger Personen und Gehalte zu sein. SPIEGEL: Sind Sie persönlich verletzt? Lehmann: Ich bin nicht persönlich verletzt, aber betroffen. Und ich ärgere mich über diese dreiste Rücksichtslosigkeit. Lehmann SPIEGEL: Ironie und Spott und „eklatante Verletüber das Christentum zung religiöser Empfinsind in Deutschlands Medungen“ getadelt und dien eher alltäglich. Warmittlerweile vom Sender um fordert die Deutsche wohl nicht ohne Grund Bischofskonferenz die Abzurückgezogen. setzung der Sendung? Lehmann: Viele Christen SPIEGEL: Sehen Sie eine waren schon über die Parallele zum Streit um Werbung für die Serie die Mohammed-Karikaempört. Hier liegt ein beturen? sonders gravierender Fall „Popetown“-Szene Lehmann: Ja und nein. Ja, vor, und dies in dem Auweil die fehlende Sensigenblick, in dem die Christen die leben- bilität in beiden Fällen erschreckend ist; dige Erinnerung an den gewaltsamen Tod nein, weil die Mohammed-Karikaturisten Jesu begehen und in aller Welt das Kreuz vielleicht nicht mit den möglichen Folgen verehren. Die Anzeige wurde auch vom vertraut waren. Bei dieser Anzeige ist Deutschen Werberat als „Entgleisung“ wohl mehr Vorsätzlichkeit im Spiel. BBC Marktanteile STEFAN HUSCH / TERZ 30,2 währen: Dazu gehört neben der Jagd und traditionellen Transportmethoden (Foto) auch das Häuten von Tieren und die Teilnahme an Stammesriten. Interessant dürfte sich etwa der Aufenthalt einer Lehrerfamilie beim Nomaden- ine sehr spezielle TV-Variante des Zusammenpralls der Kulturen bereitet der Berliner Sender Sat.1 vor. Für ein Reality-Projekt mit dem Arbeitstitel „Wie die Wilden“ hat er vom vorigen Sommer bis zum Januar nacheinander drei Familien aus Kassel, Berlin und Hamminkeln (NRW) auf die indonesische Insel Siberut und in entlegene Stammesgebiete Togos und Namibias geschickt. Bei den Mentawai (Siberut), den Himba (Namibia) und den Tamberma (Togo) mussten sich die Westeuropäer vor Kameras im Alltagsleben be- PETER WERSE / SAT 1 E Szene aus „Wie die Wilden“ d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 stamm der Himba gestalten – dort werden Rinder ohne Werkzeuge getötet, zudem soll es Brauch sein, Gästen die eigene Ehefrau als Willkommensgeschenk anzubieten. In den Niederlanden und in Belgien lief das Format der Produktionsfirma Eyeworks unter dem Titel „Ticket to the Tribes“ mit großem Erfolg, bei der Ende April stattfindenden Verleihung des TV-EntertainmentPreises „Goldene Rose“ ist es in der Kategorie „Reality“ nominiert. Bei Sat.1 wird die Serie, die nicht nur bei Ethnologen für Gesprächsstoff sorgen dürfte, in diesem Frühherbst starten. Die logische Fortsetzung ist schon geplant: Dann sollen die Stammesbewohner den Gegenbesuch in Deutschland antreten – ein weiterer Kulturschock vor Kameras scheint also garantiert. 99 Fernsehen TV-Vorschau Tatort: Kunstfehler Ich bin Wagner – Du bist Deutschland Montag, 20.15 Uhr, ARD Mittwoch, 23.00 Uhr, NDR Kripomann Till Ritter (Dominic Raacke) hilft seiner ehemaligen Freundin (Katja Flint), die mit einem Unfallchirurgen verheiratet ist und nach mehreren Anschlägen auf ihre Familie um das Leben ihrer Tochter (Hanna Schwamborn) fürchtet. Zu spät – ein modernes Phantom der Oper hat längst zum Rachefeldzug angesetzt. Trotz einiger Kunstfehler überzeugt der „Tatort“ aus BerlinBrandenburg (Regie: Hartmut Griesmayr, Buch: Pim Richter). Er schreibt in „Bild“ die Briefe, die die Nation spalten. Der Sozialdemokratin Andrea Nahles, die sich den Zorn des damaligen SPDVorsitzenden Müntefering zuzog, empfahl Franz Josef Wagner allen Ernstes einen Mann zum Lieben. Die Kolumne „Post von Wagner“, Kriener, Michael Roll in „Kommissarin Lucas“ manchmal gnadenloser Populismus, manchmal treffsichere VerKommissarin Lucas schrobenheit, ist ein Markenzeichen des Samstag, 20.15 Uhr, ZDF Boulevard, auf das Freund und Feind achten. Das Porträt von Thomas Leif Wer erleben will, wie man Spannung zeigt kritisch, aber nicht unfair, einen erzeugt, ohne einen Blutstropfen zu Journalisten zwischen Wahn und Wirkvergießen, den nimmt Kommissarin lichkeit. Lucas (Ulrike Kriener) in der Folge „Das Verhör“ auf eine Schreckensreise mit. Noch trauert die Beamtin um Der Kommunismus – ihren toten Ehemann, da erschießt sie Geschichte einer Illusion einen bewaffneten Bankräuber. Ein Donnerstag, 23.45 Uhr, ARD Kind wird entführt, der gefasste Verdächtige (Marek Harloff) schweigt. In drei Teilen gehen der jüngst verstorWer den zermürbenden Ermittlungsbene Sozialdemokrat Peter Glotz und wettlauf gegen die Zeit und die Christian Weisenborn der Geschichte quälend kleinteilige forensische des Kommunismus nach. Sie belegen, Präzisionsarbeit verfolgt (Regie: Thodass der spätere Stalinsche Terror seine mas Berger, Drehbuch: Christian Wurzeln in Lenins Herrschaft hatte. Jeltsch, Thomas Berger), spürt den Große historische Überraschungen entgewaltigen Druck, der auf den Polihalten die drei Teile (weitere Sendezisten lastet. termine: 27. April und 4. Mai) nicht. Benedikt XVI. – Der rätselhafte Papst Dienstag, 23.05 Uhr, SWR CHRISTIAN STELLING Die Philosophen Alain Finkielkraut und Peter Sloterdijk, den Vatikan-Sprecher Pater Eberhard von Gemmingen, den Theologen Hans Küng – Felix Schmidt und Ludwig Ring-Eifel bieten Papst-Audienz viele Zeugen in ihrem interessanten Film auf, um die Persönlichkeit des Papstes zu erklären. Doch Benedikt XVI. bleibt ein Rätsel. Die Bilder von der Fronleichnamsprozession in Rom, auf denen der Papst, ins Gebet versunken, durch die Menge gleitet, passen gut zu Sloterdijks Bemerkung, dass ein Papst die Gabe haben müsse, seelisch 2000 Jahre alt zu sein und Immunität gegenüber dem Zeitgeist zu besitzen. TV-Rückblick Familie Dr. Kleist / In aller Freundschaft 11. April, ARD So wichtig wie die Reform des Gesundheitswesens ist die Reform der Doktorspiele im Fernsehen. Dort leidet man nämlich an schwerem Wirklichkeitsverlust. Vergangenen Dienstag präsentierte das Erste mit „Familie Dr. Kleist“ und der 305. Folge der wöchentlichen Soap In Sachen Kaminski Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD KRAJEWSKI / MDR / ARD Ein glänzend gespieltes Sozialdrama (Juliane Köhler, Matthias Brandt) über einen empörenden Fall von Kindesentziehung durch das Jugendamt (Regie: Stephan Wagner, Buch: Holger Karsten Schmidt). Szene aus „In aller Freundschaft“ 100 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 „In aller Freundschaft“ eine Weißkittelwelt, die eine komplette Realitätsverweigerung darstellt. Dr. Kleist (Francis Fulton-Smith) verfolgte hartnäckig und zeitaufwendig eine Patientin auch außerhalb der Sprechstunde, von deren Kranksein er – zu Recht – überzeugt war. Von Arbeitsstress, kassenärztlicher Drangsal keine Spur, der Mann hatte alle Zeit der Welt für seine hippokratische Sendung. Die „Sachsenklinik“ machte darauf dem Seriennamen „In aller Freundschaft“ alle Ehre, denn der vorgeführte Fall – ein Tumorpatient, ehemaliger Klinikchef und Förderer eines der „Sachsenklinik“-Ärzte – kam aus der Branche. Das bestätigte den Trend der Soap zum Selbstbezug: Am liebsten beschäftigen sich die Leipziger TV-Ärzte mit sich selbst oder mit ihren Bekannten. Die heile oder sich selbst heilende Medizinerwelt erscheint im Übrigen als unheilbar: Dr. Kleist siegte an diesem Abend mit 20,7 Prozent Marktanteil über Désirée Nosbusch (Sat.1) und sogar Fußball (ZDF). WALTER WEHNER / ZDF Medien DEFD (L.); CHRISTINE SCHRÖDER / NDR (R.) Fernsehkommissarinnen Block (ZDF), Lindholm (ARD)*: „Revolutionäre Umkehrung des früheren TV-Hausmütterchenbildes“ T V- P R O G R A M M Kinderfreie Zone Im Fernsehen sind intakte Familien mit Kindern noch seltener als im Alltag. Attraktive Alleinstehende und Karriere-Kommissarinnen sind die Lieblingshelden der Drehbuchschreiber. Alltägliche Sippensorgen kommen allenfalls in Reality-TV-Formaten vor. D * Darstellerinnen Hannelore Hoger, Maria Furtwängler. 102 lingsfiguren deutscher Fernsehmacher sind, überrascht dabei nicht wirklich. Ungebundene Lottas und Julias lassen sich auf ihren Wegen zum Glück eben wesentlich hemmungsloser verkuppeln als treusorgende Ehefrauen, und dass sich Alleinerziehende zu hübschen Patchwork-Familien zusammensetzen lassen, weiß man spätestens, seit Peter Weck in den achtziger Jahren im ZDF Thekla Carola Wied und ihre vierköpfige Familie heiratete. Neu an der familiendiagnostischen Bestandsaufnahme ist dagegen der Befund, dass die Kinderlosigkeit im Fernsehen auch etwas mit gewandelten Rollenbildern zu tun haben könnte. „Die revolutionäre Umkehrung des früheren TV-Hausmütterchenbildes in die engagierte Berufs- MICHAEL PANCKOW / ACTION PRESS esaströser als in der deutschen Realität, so dachte man eigentlich, könnte es um die Familie nirgendwo bestellt sein. Leerer, so vermutete man, könnten die Kinderkrippen nirgends sein, zerrütteter die Familienverhältnisse an keinem anderen Ort. Das Demografiedebakel beschäftigt Journalisten und TalkshowGäste seit Wochen, „Kinder kriegen, Rente retten“ heißt es bei Maybrit Illner, „Kinder – nein danke?“ fragen sich besorgte „Menschen bei Maischberger“. Doch wer dachte, er könnte den Kindernotstands-Szenarien per Fernbedienung entfliehen, der hat sich getäuscht. Umschalten hilft meistens nicht: Im Unterhaltungsfernsehen kommen normale Familien kaum vor. Auf dem Bildschirm tummeln sich weit mehr Großstadt-Singles, kinderlose Männer und Alleinerziehende als in der Wirklichkeit. „Eine Geburtenrate von 0,48 Kindern pro Frau und 0,6 pro Mann macht das Filmleben der Primetime zur quasi kinderfreien Zone und potenziert den demografischen Niedergang des ‚wahren Lebens‘ auf dem Schirm ins geradezu Apokalyptische“, lautet das Ergebnis einer Studie des AdolfGrimme-Instituts zu Familienbildern im Fernsehen. Im Fernsehfilm gab es im Untersuchungszeitraum 2004 mehr als doppelt so viele Singles und dreimal so viele Alleinerziehende wie in der deutschen Realität. Dass attraktive Singles und getrennte oder verwitwete Alleinerziehende die Lieb- ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“: Mit Trennungskindern zum Multikulti-Rudel d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 RTL (L.); DIRK HÄGER (R.) Medien Neue Fernsehserien „Die Familienanwältin“ (RTL)*, „Die Spezialisten“ (ZDF): Auf der Suche nach Familienanschluss frau frisst im wahrsten Sinne des Wortes ihre Kinder“, schreiben Arne Birkenstock und Irmela Hannover, die Autoren der Studie. Die moderne Fernsehheldin folgt einem neuen Muster: Sie ist nicht mehr nur jung und schön, sondern vor allem auch berufstätig. Beim Sat.1-Telenovela-Erfolg „Verliebt in Berlin“ sucht sich das hässliche Entlein Lisa einen anständigen Job, bevor es sich wundersam verhübscht auf die tollpatschige Jagd nach dem Märchenprinzen macht. Und typisch an „Typisch Sophie“ (Sat.1) ist vor allem, dass die Heldin eine patente Rechtsanwaltsgehilfin ist – und dabei als alleinerziehende Mutter immer wieder an ihre Grenzen stößt. Mit einer Beschäftigungsquote von 76 Prozent liegen die Filmfiguren, laut Grimme-Studie, nicht nur weit über der Quote deutscher Frauen von etwa 57 Prozent, sondern toppen sogar die weltweit höchste Quote norwegischer Frauen (73,5 Prozent). Das war in den guten alten Ur-Zeiten der deutschen Familienserie noch anders. Als die „Hesselbachs“ in den sechziger Jahren hessisch babbelnd heiles Großfamilien-Glück demonstrierten, waren die Zuständigkeiten klar aufgeteilt: „Babba“ kümmerte sich um den Betrieb, Mamas soziale Welt war die der Kaffeekränzchen – und ihre Hauptaufgabe die Aufzucht der vier heranwachsenden Kinder. Dieses Familienmodell funktionierte lange Zeit, bis zu den „Drombuschs“ und den „Lindenstraßen“-Beimers. Heute findet es sich allenfalls noch in Historien-Verfilmungen. Die reine Hausfrau zählt im Fernsehen mittlerweile zur aussterbenden Spezies. Selbst in der derzeit heilsten der HeileWelt-Serien, „Familie Dr. Kleist“, deren zweite Staffel der ARD mit der Folge „Familienglück“ zu Beginn gerade 6,6 Millionen Zuschauern bescherte, kümmert sich Francis Fulton-Smith glattrasiert und fürsorglich alleinerziehend um seine Filmkinder – während sich die von ihm Rosen-romantisch umworbene Schulleiterin Marle* Mit Mariele Millowitsch als Juristin Hanna Lorenz. ne derzeit noch ziert, den Ehefrau- und Mutterplatz an seiner Seite einzunehmen. „Der Wandel der Geschlechterrollen spiegelt sich auch in der Familiendarstellung im Fernsehen wider“, sagt der Potsdamer Medienforscher Lothar Mikos, „früher hatten starke Frauen die einzige Aufgabe, die Familie zusammenzuhalten, heute sind sie dazu da, ein Leben zu meistern, das aus Beruf und Familie besteht.“ Dass diese Doppelaufgabe im Fernsehen mindestens ebenso schwierig zu bewältigen sein könnte wie im wirklichen Leben, dafür spricht der Aufstieg der zahlreichen TVKommissarinnen seit den neunziger Jahren: Bella Block, Rosa Roth, Lena Odenthal – sie alle verkaufen kriminalistische Emanzipationsträume ohne Familienglück. Maria Furtwängler, in der Realität ausgebildete Ärztin, Schauspielerin, BurdaGattin und zweifache Mutter, ermittelt als „Tatort“-Kommissarin Charlotte Lindholm kühl und kinderlos. Ihre Kollegin Andrea Sawatzki kümmerte sich einige „Tatort“Folgen lang immerhin treusorgend um ihre siechen Eltern – bis sie die Drehbuchschreiber von dieser familiären Bürde per Mord befreiten. „Das Bild der KarriereKommissarinnen zeigt mit einem Funken Realismus, dass Emanzipation und demografischer Auftrag unter den deutschen Verhältnissen nicht plausibel gestaltbar sind“, sagt die Berliner Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze. Die Grimme-Autoren stören sich denn auch am neuen Typ der starken Fernsehfrau. „Dem Fernsehen gelingt es derzeit nicht, die Normalität eines Lebens mit Kindern zu transportieren, sondern im Gegenteil: Die Normalität im Fernsehen ist eigentlich ein Leben ohne Kinder“, sagt Irmela Hannover, Studien-Autorin und stellvertretende Leiterin der Programmgruppe Service & Ratgeber beim WDR. Fernsehfrauen blieben entweder kinderlos oder vereinbarten Familie und Beruf auf allzu märchenhafte Weise: „Die Frage, dass Mann oder Frau ja auch irgendwann mal nach Hause gehen und den Kindern die Nase putzen muss, die taucht im Fernsehen nicht auf.“ d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Dass stinknormale Sippensorgen durchaus für Drama und Quote sorgen können, zeigen derzeit allerdings Reality-Formate wie die „Super Nanny“ und „Frauentausch“, bei denen Erziehungsfragen und Kinderchaos den Sendern treue Zuschauer bescheren. Und so entdecken nun auch phantasiebegabte Fiction-Macher die heimlichen Werte des Schlachtfelds Familie neu. „Die Familie vermittelt Sicherheit und Zusammengehörigkeit“, hat RTL-Fiction-Chefin Barbara Thielen erkannt und will mit neuen Formaten nun „das Thema moderne Familien bedienen, ohne in eine Klischeewelt abzuheben“. Den Anfang macht beim Kölner Sender RTL gerade die „Familienanwältin“ Mariele Millowitsch, die ihre allzu blonde Krankenschwester-„Nikola“-Frisur gegen ein graumäusig-kratzbürstiges Image als frisch verlassene, überforderte Mutter eingetauscht hat und vor Gericht und zu Hause allerlei heikle Familienfälle verhandelt. Im ZDF startet kommende Woche mit den „Spezialisten“ eine Kommissarin, die sich im Frankfurter Kriminellenmilieu auch durch ihren Mutterinstinkt auf die rechte Spur locken lässt und nebenbei mit dem ExMann zu kämpfen hat, der die gemeinsame Tochter fiebrig allein zu Hause gelassen hat. Auf der Suche nach Familienanschluss für ihre Power-Protagonistinnen, wenden sich die Fernsehmacher nun offenbar wieder dem Alltagsleben zu – und entwerfen neue junge Fernsehfamilien. In der ARD-Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“ avanciert ausgerechnet eine deutsch-türkische Multikulti-Familie auf humorig-intelligente Weise zur modernen Großfamilien-Herde. Mutter Doris kann nicht kochen und leistet sich zum Auftakt des Patchwork-Lebens erst mal den Ratgeber „Ökosystem Familie“. Bei Tiefkühlpizza am Küchentisch verhandeln die Schneider-Öztürks dann pubertäre Alkoholsünden ebenso wie den allzu antiautoritären Erziehungsstil der Mutter. Und nebenbei lernen rudelunerfahrene Trennungskinder, dass Mutter Doris vielleicht recht hat, wenn sie sagt: „Wenn es kalt ist, machen viele Tiere Julia Bonstein glücklich.“ 103 Medien S P O RT- M A R K E T I N G „Handwerklicher Fehler“ Der Fifa-Marketing-Chef für die WM in Deutschland, Gregor Lentze, 37, über sein rigides Sponsorenschutzprogramm und das schlechte Image des Weltverbands SPIEGEL: … was zeigt, dass man der Fifa inzwischen so ziemlich alles zutraut. Lentze: Nein, wenn Sie mit den Leuten sprechen, weiß natürlich jeder, dass das Quatsch ist. Aber es scheint sich halt immer wieder gut zu lesen. SPIEGEL: Wie hoch sind denn die Sponsoreneinnahmen, für die Sie sich so verkämpfen? Lentze: Aus dem Sponsoring erhalten wir rund 700 Millionen Euro, insgesamt wer- ist das Image der Fifa miserabel wie nie. Wie konnte das passieren? Lentze: Das mag Ihr Eindruck sein, laut einer aktuellen Umfrage sehen 70 Prozent der Befragten die Arbeit der Fifa positiv. Die Negativstimmung gibt es leider vor allem in den Medien. Aber natürlich tauchen bei einer solchen Großveranstaltung auch Interessenkonflikte auf. SPIEGEL: Wie mit den zwölf Ausrichterstädten, die sich von der Fifa und ihrem Regulierungswahn gegängelt fühlen? Münchens Oberbürgermeister Christian Ude schimpfte gar über „Knebelverträge“. Lentze: Das ist ja schon ein Weilchen her. Seither haben wir mit den Städten weitere Verträge geschlossen, etwa über die FanFeste, und nie hatten wir auch nur einen Knebel dabei. Stattdessen bringen wir Sponsoren mit – erst dadurch ist die Finanzierung der Fan-Feste gesichert worden. SPIEGEL: Weil Sie den Städten verbieten, eigene Sponsoren zu gewinnen. Lentze: Die Städte können sehr wohl eigene Sponsoren haben. Es dürfen keine Wettbewerber unserer Partner sein, aber das ist doch klar. Wir haben 15 offizielle Partner und 6 nationale Förderer und die Verpflichtung, deren Rechte zu schützen. Bei einem Tennisturnier des TC Grün Weiß an der Ecke würde das kein Mensch infrage stellen. Wir gehen dabei im Rechteschutz nicht einmal so weit wie möglich, nur so weit wie nötig – so wird es bei den Fan-Festen zum Beispiel überall lokales Bier geben. SPIEGEL: Da haben wir allerdings einen anderen Eindruck. Die Berlin Tourismus Marketing sollte an ihrem Messestand bei der ITB unlängst nicht einmal die 32 Flaggen der Teilnehmerländer aufstellen dürfen. Beansprucht die Fifa jetzt schon Hoheit über Nationalflaggen? Lentze: Nein, überhaupt nicht. Die 32 Flaggen hingen dort und werden sicher auch noch oft woanders hängen. Das ist unnötigerweise ein bisschen emotional eskaliert. Es ging gar nicht um die Flaggen, sondern um die Kooperation mit den Sponsoren der Berlin Marketing. Aber die Sache ist besprochen und erledigt. SPIEGEL: Nächstes Beispiel: Bei der offiziellen Auslosung in Leipzig durfte Nürnberg Lebkuchen verteilen, Frankfurt aber keine Weingummis. Finden Sie das nicht selbst ein bisschen lächerlich? 104 ECKEHARD SCHULZ / AP SPIEGEL: Rund 50 Tage vor Anpfiff der WM Werbung des offiziellen WM-Förderers Deutsche Bahn, Fifa-Manager Lentze: „Emotional ein Lentze: Fifa und Organisationskomitee ha- ben den Städten bei der Auslosung kostenlose Standflächen geboten und die Kosten für den Stand teilfinanziert. Die Städte konnten sich dort der Weltpresse präsentieren – verbunden mit klaren Regeln. Weil Nürnberger Lebkuchen weltbekannt ist, haben wir bei dieser regionalen Spezialität eine Ausnahme gemacht. SPIEGEL: Bei all den negativen Schlagzeilen müssten Ihre Sponsoren Sie eigentlich längst drängen, kulanter zu sein. Lentze: Unsere Partner sehen das ganz nüchtern und wissen sehr gut, dass wir ihre Rechte angemessen schützen. SPIEGEL: Zum Beispiel in Sachen Kleiderordnung in den Stadien? Lentze: Die Vorstellung, dass wir Leute mit den falschen T-Shirts zurückweisen ist nun wirklich völlig absurd. Genau wie das Gerücht, Staatsgäste dürften nur in Hyundais vorfahren und Taxen müssten ihre Werbung überkleben. In Bayern hieß es zu Fasching, wir würden nur viereckige Bierbecher erlauben. Darauf haben tatsächlich Leute bei uns angerufen … d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 den die Einnahmen bei rund 1,8 Milliarden liegen – bei Kosten von etwa 1,1 Milliarden. SPIEGEL: Bleiben genau die 700 Millionen Gewinn durch die Vermarktung. Warum also der ganze Werbewahnsinn – und: Darf die Fifa als eingetragener Verein eigentlich überhaupt Gewinne erzielen? Lentze: Ich glaube nicht, dass man private Finanzierung über Sportsponsoring als Werbewahnsinn bezeichnen kann. Natürlich muss die Fifa Einnahmen haben, um ihren Aufgaben nachkommen zu können. Mehr als 70 Prozent der Einkünfte fließen direkt zurück in den weltweiten Fußball, sei es in Form von finanzieller Unterstützung der Verbände oder durch Zuschüsse an unterschiedlichste Projekte – gerade hat die Fifa in Afrika das 100. Fußballprojekt angestoßen. Die WM ist übrigens die einzige Fifa-Veranstaltung, die momentan gewinnbringend ist. Selbst der Confed-Cup war ein Zuschussgeschäft. SPIEGEL: Für Aufregung in den Ausrichterstädten sorgt vor allem, dass die Fifa sich in ihrem Wust von Vorschriften nicht nur auf MARCO-URBAN.DE die Stadien beschränkt, sondern Bannmeilen um die Stadien einrichten will. Lentze: Vergessen Sie den Begriff „Bannmeile“. Aber die Verantwortung von Fifa und OK kann doch nicht am Stadionzaun enden, deshalb wird in Absprache mit den Städten ein „kontrolliertes Gelände“ um die Stadien eingerichtet – schon um dort Sicherheit und den reibungslosen Transport zu gewährleisten. Natürlich wollen wir dort kein Ambush-Marketing oder kon- bisschen eskaliert“ kurrierende Veranstaltungen. Der Rechteschutz ist eine normale Sache, er ist auch nicht anders in der Bundesliga, bei der Uefa oder beim IOC. Würden wir das nicht ernst nehmen, müsste man uns zu Recht Dilettantismus vorwerfen. SPIEGEL: In Deutschland gilt Werbe- und Gewerbefreiheit – und im Stadionumfeld hat die Fifa eigentlich nichts zu melden. Lentze: Natürlich gibt es diese Freiheit, und sie wird auch überhaupt nicht eingeschränkt. Es ist aber so, dass man beispielsweise für ein Großposter eine Genehmigung braucht. Das liegt im Ermessen der Städte. Die können aber eigentlich auch kein Interesse daran haben. SPIEGEL: Wieso? Lentze: Die Städte und Stadien stehen im Licht der Weltöffentlichkeit. Ich glaube nicht, dass man rundherum einen wilden Basar aus fliegenden Händlern und wehenden Großpostern sehen möchte. SPIEGEL: Solange es nicht die der offiziellen Sponsoren sind, meinen Sie? Lentze: Für die Partner gelten in diesem Bereich natürlich dieselben Vorgaben. d e r SPIEGEL: Und wer überwacht das – eine Privatarmee aus Fifa-Anwälten? Lentze: Die Marketingdivision wird 250 Mitarbeiter im Einsatz haben, etwa 20 davon im Rechteschutz. Sie werden in Teams von Stadion zu Stadion reisen und vor Ort von Freiwilligen unterstützt. SPIEGEL: Ist Ihre Angst vor Trittbrettfahrern nicht völlig übertrieben? Lentze: Bitte? Wir haben im Vorfeld der WM schon 1600 Fälle von Ambush-Marketing und Produktpiraterie. 2002 hat ein Großkonzern einem Fan aus Costa Rica 5000 Dollar bezahlt, damit er ein 100-MeterWerbebanner ins Stadion schleppt. Das ist die Realität. Aber gesprochen wird immer vom kleinen Bäcker, der mit Schadensersatzklagen überzogen wird. Absoluter Unsinn: Es gibt nicht einen einzigen Fall, in dem die Fifa gegen die berühmte WMSemmel vorgegangen ist. SPIEGEL: Ist der prominenteste Fall von Trittbrettfahrer-Marketing nicht OK-Chef Franz Beckenbauer persönlich, mit seinem aktuellen Erdinger-Spot? Lentze: Das sehe ich überhaupt nicht so. SPIEGEL: Die Fifa gilt auch aus anderen Gründen als Spielverderber: Viele öffentliche WMVorführungen werden gerade abgeblasen, weil Leinwände teuer sind und sich aufgrund ihrer Regeln nicht genug Sponsoren finden. Lentze: Die Absagen gibt es vor allem, weil die Sicherheitsauflagen wie Eingangskontrollen und Einzäunung so umfangreich und damit auch teuer sind. Das hat mit Marketing nichts zu tun. Dort waren wir sehr kompromissbereit. 95 Prozent der Public Viewings finden in Schulen, Gaststätten oder Kirchen als kostenfreie, nichtkommerzielle Veranstaltungen statt. Für die etwa 60 kommerziellen gilt: Die Veranstalter können regionale Sponsoren gewinnen, wenn sie mit unseren nicht konkurrieren. Die bescheidenen Lizenzgebühren gehen übrigens an die SOS-Kinderdörfer. SPIEGEL: Erstaunlich ist auch Ihr Umgang mit den Medien. Ihre „Richtlinien“ waren ein Eingriff in die Pressefreiheit. Lentze: Es handelte sich um ein älteres Dokument, die von der Fifa gelebte Praxis war immer eine andere. Das Dokument war daher ein handwerklicher Fehler, den wir im März aber aus der Welt geschafft haben. Es gibt jetzt keine „Richtlinien“ mehr, sondern ein „Informationsblatt“. Natürlich gibt es im redaktionellen Bereich keine Einschränkungen. SPIEGEL: Massiven Ärger gab es auch wegen der Restriktionen bei der Verwendung von Spiel-Bildern in Online-Angeboten. Lentze: Auch in dieser Hinsicht hat man sich gefunden. Es gibt für Online-Bilder keine zeitlichen und mengenmäßigen Einschränkungen mehr. Allerdings sind aktuelle Online-Bilder für viele Anbieter auch ein Geschäft, für das sich der Markt gerade findet. Für diese WM ist die Diskussion aus unserer Sicht mit dem gefundenen Kompromiss aber beendet. Interview: Marcel Rosenbach s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 105 Ausland Panorama TERRORISMUS Falscher Fokus FRANKREICH Zweite Welle REUTERS n den USA ist eine Kontroverse darüber ausgebrochen, ob Abu Mussab al-Sarkawi wirklich die zentrale Figur im Kampf gegen die Besatzungsmacht im Irak ist. Experten in den Geheimdiensten und hochrangige Militärs halten den Qaida-Statthalter für „gefährlich überbewertet“. Dazu deckten amerikanische Medien nun auf, dass das für Nahost-Einsätze zuständige Central Command in Tampa, Florida, seit zwei Anschlag in Bagdad Jahren eine millionenteure Kampagne mit dem Ziel steuert, „Sarkawi zum Hauptübeltäter“ zu stempeln und damit „fremdenfeindliche Reaktionen“ im Irak gegen ausländische Terroristen auszulösen. Erste Angriffe von Stammesmilizen im Irak gegen nichtirakische Aufrührer in den vergangenen Monaten seien ein Ergebnis dieser Propaganda-Aktion. „Durch aggressive strategische Kommunikation steht Abu Mussab al-Sarkawi nun für: Terrorismus im Irak, das Leiden des irakischen Volkes, die Zerstörung aller Hoffnungen“, zitiert das „Wall Street Journal“ einen Bericht aus dem amerikanischen Hauptquartier in Bagdad. Etliche Experten, darunter Oberst Derek Harvey, der jahrelang mit militärischer Aufklärung im Irak befasst war, kritisieren mittlerweile diese Sarkawi WISSAM AL-OKAILI / AFP I Kampagne des Hauptquartiers in Tampa. Sie habe aus Sarkawi eine „überlebensgroße Karikatur gemacht und ihn weit mächtiger dargestellt, als er in Wirklichkeit ist“. Dadurch drohten die wirklichen Risiken aus dem Blick zu geraten, warnte Harvey bei einer internen Konferenz in Fort Leavenworth – „die Vertreter des früheren Regimes und ihre Anhänger“ seien weit gefährlicher als Sarkawi. Gemeint sind Gefolgsleute des Ex-Diktators Saddam Hussein aus der BaathPartei und der Armee, die nach wie vor das Rückgrat des Widerstands im sunnitischen Dreieck nordwestlich von Bagdad bilden sollen. Spezialisten im deutschen Geheimdienst BND teilen die Skepsis über die Rolle Sarkawis – das sei „ein falscher Fokus“. Bier, Kaffee und eben auch Zigaretten verkauft werden. Das Gesetz werde „schlecht umgesetzt“, stellt ein Bericht aum sind die Massenproteste gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung Villepin abgeflaut, da sorgt der Plan für ein „absolutes Rauchverbot“ für neuen Ärger. Restaurant- und Barbesitzer, Tabakverkäufer und die Zigarettenindustrie wollen dagegen auf die Barrikaden gehen. Schon jetzt verbietet ein Gesetz aus dem Jahr 1991 das Rauchen in „kollektiv genutzten Räumen“, mit Ausnahme eigens ausgewiesener „Raucherzonen“. Tatsächlich schert sich jedoch kaum ein Gastwirt um die Vorschrift; blauer Dunst wabert durch Speiselokale und steht in jeder „BarTabac“ – jener typisch französischen Institution, in der am Zinktresen Wein, FAYOLLE / SIPA PRESS K von Gesundheitsminister Xavier Bertrand fest. Der will angesichts von jährlich bis zu 5000 Toten allein durch Passivrauchen die verschärften Vorschriften „so schnell wie möglich“ verabschiedet sehen. Premier Dominique de Villepin, durch sein Gesetz zur Kündigung für Berufsanfänger, das nun zurückgezogen wurde, unpopulärer denn je, fordert diesmal „den denkbar größten Konsens“. Der Verband der Tabakverkäufer rüstet schon zum Protest auf der Straße: Am 25. April steht in Paris eine Großkundgebung bevor, unter ihren elf Millionen Kunden wollen die Barbesitzer landesweit Unterschriften gegen das Rauchverbot sammeln, Motto: „Meine Freiheit ist mir wichtig“. Demonstranten mit Villepin-Karikatur 107 Panorama BÜCHER Shirin Ebadi: „Mein Iran“. Pendo Verlag, München; 296 Seiten; 19,90 Euro. 108 Straßenschlacht in Katmandu, Gyanendra N E PA L König außer Kontrolle I n Katmandu nehmen die blutigen Unruhen kein Ende, zu denen der despotische König Gyanendra, 58, maßgeblich beiträgt. Armee und Polizei feuerten Anfang der Woche auf Demonstranten, mindestens 4 Menschen fanden den Tod, etwa 1300 wurden verhaftet, darunter 25 Journalisten sowie 10 Touristen, einer von ihnen aus Deutschland. Gyanendra regiert seit 14 Mo- I TA L I E N Der überrumpelte Don er „Boss der Bosse“ der sizilianischen Mafia narrte die Polizei D 42 Jahre und sieben Monate lang – am Ende führte ausgerechnet eine Lieferung frischer Unterwäsche die Fahnder naten mit Notstandsgesetzen, er hat das gewählte Parlament abgesetzt und Spitzenpolitiker ins Exil getrieben. Immer wieder kommt es zu Streiks. Indien und die USA bemühten sich bislang vergebens um Vermittlung. Die sieben größten demokratischen Parteien Nepals versuchen mittlerweile gemeinsam mit den militanten Maoisten, Gyanendra zu entmachten. zu ihm. Und das, obwohl er die berühmten Zettelbotschaften an seine Leute all die Jahre immer mit dem gleichen Satz beendet hatte: „Sorgt dafür, dass ich mich nicht blamiere.“ Bernardo Provenzano, 73, wurde am vergangenen Dienstag auf einem Bauernhof in der Nähe der Mafiahochburg Corleone verhaftet und sitzt jetzt in einer Einzelzelle in der mittelitalienischen Stadt Terni. Provenzano hatte der Cosa Nostra nach der Verhaftung seines Vorgängers Salvatore „Toto“ Riina 1993 eine neue Strategie verpasst, den blutigen Krieg gegen den Staat eingestellt und seine Leute auf „minimale Sichtbarkeit und maximale Geschäftstätigkeit“ getrimmt, wie der römische „Messaggero“ schrieb. In seiner frühen Mafiakarriere hatte er selbst allerdings wenig Skrupel, Menschen REUTERS sehen. Was sie las, stürzte sie in die „zehn quälendsten Tage meines Berufslebens“, wie sie schreibt. In den Unterlagen, die eine Serie von Morden an iranischen Intellektuellen betrafen, stieß Ebadi, schon damals Irans prominenteste Anwältin, auf Passagen, in denen von einem Anschlag auf ihr Leben die Rede war. „Die nächste Person ist Schirin Ebadi“, las sie in Auszügen eines Gesprächs „zwischen einem Regierungsminister und einem Mitglied des Todeskommandos“, das in den Fall verwickelt war. Die Entdeckung schildert die Friedensnobelpreisträgerin in ihrer Autobiografie „Mein Iran“, die sie am Mittwoch in Berlin vorstellen will. Die sonst eher zurückhaltende Menschenrechtlerin gibt Einblicke in ihr Leben, die sie immer wieder mit der politischen Entwicklung ihres Landes verknüpft: Das beginnt beim Putsch im Jahr 1953 gegen den Premierminister und vom Volk „geliebten Nationalhelden“ Mohammed Mossadegh, den der amerikanische Geheimdienst CIA mitinszenierte. Unter Mossadegh hatte es Ebadis Vater zum stellvertretenden Landwirtschaftsminister gebracht. Sie beschreibt den Sturz von Schah Mohammed Resa und die Machtübernahme durch Ajatollah Ruhollah Chomeini 1979. Sie schildert Aufstieg und Fall der Reformer unter dem eher liberalen Staatspräsidenten Mohammed Chatami, auf den der Fanatiker Mahmud Ahmadinedschad folgte. Ebadi gesteht, sie sei anfangs von der Revolution „wie hypnotisiert“ gewesen. Doch unter den Mullahs wird sie zur Kämpferin an zwei Fronten: Sie tritt ein für die Gleichberechtigung ihrer „Schwestern“ im patriarchalischen System der religiösen Eiferer. Und sie bäumt sich auf gegen die Willkür der Mullahkratie, indem sie Oppositionelle vertritt. In nahezu allen politisch bedeutsamen Fällen trat sie seither als Verteidigerin auf und beschreibt diese jetzt mit einer Fülle von Details. Das gibt ihrem Buch Brisanz: als lehrreiche Anklageschrift gegen den Gottesstaat. SAURABH DAS / AP Verratene Revolution n einem Herbsttag im Jahr 2000 durfte Schirin Ebadi Protokolle in A den Räumen der Teheraner Justiz ein- Provenzano nach seiner Festnahme d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Ausland C H I N A N E P A L I N D I E N Kerngebiet der maoistischen Guerilla Mount Everest Katmandu 200 km Die indische Regierung bringt das in eine Zwickmühle: Wenn sie das Zweckbündnis zwischen den gemäßigten Parteien und den Maoisten unterstützt, steigen die Chancen, dass Gyanendra zur Besinnung kommt. umzubringen – in den Mafiaprozessen der neunziger Jahre lasteten Zeugen ihm „bis zu 40 Morde“ an. Sein Spitzname: „der Traktor“, die Justiz schätzt sein Vermögen auf 20 Milliarden Euro. Experten befürchten nun, dass es um die Nachfolge Provenzanos zu einem Bandenkrieg kommen könnte. „Es ist wohl besser, wieder bewaffnet herumzulaufen“, kommentierte ein Polizist in Palermo die Festnahme. Die italienische Justiz erhofft sich von Provenzano Aufschluss über mächtige Helfer in Staat und Polizei, die ihm in letzter Sekunde immer wieder die Flucht ermöglicht hatten. Womöglich hielt sich Provenzano auch in Deutschland auf: Sein Bruder arbeitete als Stahlkocher bei Thyssen. Als sich Provenzanos Frau Saveria Benedetta 1993 mit ihren beiden Söhnen in Corleone zurückmeldete, wollte sie zwar nicht sagen, wo sie all die Jahre verbracht hatte, den Beamten fiel aber das „unsichere Italienisch“ der Kinder auf – umso fließender hätten sie Deutsch gesprochen. CHINA Sonne oder Trapez S ogar auf die Architektur wirkt sich das schwierige Verhältnis zwischen Japan und China aus, wie sich am „Shanghai Weltfinanz-Zentrum“ zeigt, das derzeit in Pudong, dem Finanzbezirk der ostchinesischen Metropole, entsteht. Der Büroturm wird von einer japanischen Firma errichtet. Mit 492 Metern soll er eines der höchsten Gebäude der Welt werden. Der amerikanische Architekt William Pedersen wollte es ursprünglich mit einer riesigen kreisförmigen Öffnung in der Spitze verzieren, als Sinnbild für ein „Mondtor“; vor allem aber dient das Loch dazu, die Stabilität des Wolkenkratzers zu verbessern. Doch die Chinesen interpretierten den Kreis als aufgehende Sonne, das Nationalsymbol Japans – eine unerträgliche Assoziation, denn im Zweiten Weltkrieg und davor hatten japanische Invasionstrup- Weltfinanz-Zentrum pen Millionen Chi- (Modell) nesen umgebracht. Um dem Dilemma zu entfliehen, schlugen die Architekten zunächst vor, den Kreis durch eine Querverbindung zu teilen. Das reichte den Shanghaiern nicht aus. Nun wird es eine trapezförmige Himmelspforte geben. CLARO CORTES IV / REUTERS NARENDRA SHRESTHA / CORBIS Andererseits könnte der Kompromiss in Indien als Zeichen der Schwäche gedeutet werden, denn auch in 30 indischen Distrikten sind Aufständische aktiv, die von nepalesischen Genossen bewaffnet und ausgebildet werden. Eine eindeutige Haltung nehmen nur Vertreter indischer Linksparteien ein, die Premier Manmohan Singhs Koalition mittragen. Sie beteiligten sich vorigen Montag als Ehrengäste an einer Solidaritätskundgebung der Exilnepalesen in Neu-Delhi. Ein Sprecher verkündete: „Das Echo eurer Stimmen aus Nepal hören wir in Indien. Wir werden Gyanendra zwingen, Wahlen abzuhalten.“ Nepal ist für Indien als Handelspartner und Puffer zu China von Bedeutung. Für Amerika hingegen bleiben Maoisten Terroristen. Eine Tolerierung ist derzeit undenkbar, weshalb Washington den außer Kontrolle geratenen König Gyanendra einstweilen weiter stützt: „Er hat zwar die Demokratie zerstört“, erklärte der stellvertretende US-Außenstaatssekretär Richard Boucher vorige Woche in Neu-Delhi, „andererseits sind die Maoisten gemeine Leute, die bombardieren und Zivilisten töten.“ Ausland I TA L I E N Der 0,6-Promille-Sieg Selten ähnelte ein Wahlerfolg so sehr einer Niederlage. Romano Prodi wird Nachfolger von Silvio Berlusconi werden, doch das gespaltene Land sehnt sich nach deutschen Verhältnissen – nach der Großen Koalition. B Politiker mit dem Charisma einer Tasse Kamillentees. Ein Sieg ist nicht nur eine Stimme mehr. Das Mitte-links-Bündnis Unione hat nur minimal gewonnen – 49,8 Prozent stehen gegen 49,7 Prozent des Berlusconi-Lagers. Gestärkt sind innerhalb der Neun-Parteien-Allianz Prodis ausgerechnet die Neokommunisten um Fausto Bertinotti. Dessen Untreue hatte schon die erste Regierung Prodi 1998 vorzeitig beendet. Jetzt steht der Professor vor der Aufgabe, mit neun denkbar unterschiedlichen Koalitionspartnern und ohne eigene Partei im Rücken eine Regierung zu bilden. Und dazu warten auf ihn, als Willkommensgeschenk seines Vorgängers, leere Staatskassen, kaum ANDREW MEDICHINI / AP ei der Verkündung seines Sieges wirkt Romano Prodi so fröhlich wie ein frisch Verurteilter. „Vinto“ – Gewonnen –, murmelt er ins Mikrofon. Und wenig später spricht der Professor schon von „Verfassungsreform“ und der Notwendigkeit von Wachstum. Ein Epochenbruch klingt anders. Der künftige Regierungschef Italiens wird wohl Romano Prodi heißen. Aber er wird nicht durch den erhofften Erdrutsch ins Amt kommen, sondern durch einen sachten, zitternden Pendelschlag. Italien hat bei der Wahl am vorigen Sonntag kein „Basta, Berlusconi!“ ausgestoßen, sondern ein ratloses „Mal sehen“Votum abgegeben für einen 66-jährigen Wahlsieger Prodi: „Wir werden fünf Jahre lang regieren“ 110 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 begonnene Reformbaustellen und ein abgegrastes Feld politischer Blütenträume. Der frühere Präsident Francesco Cossiga legte Prodi und Berlusconi angesichts der Verhältnisse sogar den Rücktritt nahe, damit Italien sich neu finden könne. Denn das Land ist in zwei gleich große, sich leidenschaftlich misstrauende Lager gespalten. Deswegen hat Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi es zur allgemeinen Überraschung abgelehnt, Romano Prodi noch in seiner Mitte Mai endenden Amtszeit mit der Bildung einer Regierung zu beauftragen – wie es verfassungsrechtlich möglich wäre. Die politischen Lager sollen sich erst mal zusammensetzen und auf ein neues Staats- GAMMA / LAIF d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 ALESSANDRA TARANTINO / AP lusconis Parteien-Allianz im Senat, der zweiten gleichberechtigten Kammer. Nur „Little Italy“, die Emigranten in den USA, standen weiterhin zu ihrem „Don Coglioni“ („Wall Street Journal“). Das Prodi-Bündnis verfügt jetzt im Senat über eine hauchdünne Mehrheit von 158 zu 156 Sitzen. Ohne die Stimmen aus der Ferne hätte eine Regierung Prodi jedes Gesetz gegen den Widerstand der zweiten Kammer durchsetzen müssen. Der Senat wird aus den Regionen heraus gewählt und entspricht nach der jüngsten Verfassungsreform mehr und mehr dem deutschen Bundesrat, muss aber jedem Gesetz seinen Segen geben. So ist der knappe Sieg in Wahrheit eine peinliche Niederlage für die Linke, die sich um Prodi schart. Trotz fünf Jahren Berlusconismus, trotz Interessenkonflikten, fortwährender Nötigung der Justiz und trotz Kaufkraftschwunds ist der Linken kein Plebiszit gegen den Übermächtigen gelungen. Seine Partei Forza Italia bleibt stärkste politische Kraft im Lande. Berlusconi hat sich gegen den Trend gestemmt wie einst Gerhard Schröder, mit Wutanfällen, windigen Steuerversprechungen und düsteren Warnungen vor den Kommunisten. Nach fünf Jahren an der Regierung ist es ihm zwar nicht noch einmal gelungen, eine ähnliche Aufbruchstimmung mit seiner Person zu verbinden wie bei der vorherigen Parlamentswahl. Die wirtschaftlich und politisch so wichtigen Regionen Norditaliens haben aber wieder mehrheitlich für die Regierung gestimmt, ebenso Sizilien und der Süden. Der Noch-Regierungschef weigerte sich bis in die Nacht zum Donnerstag, Prodi zum Sieg zu gratulieren: Es gebe „zu viele dunkle Seiten“ in dem Ergebnis, erklärte er. Es sei unverantwortlich, wenn Prodi jetzt Siegesfeiern veranstalte. Noch in der Wahlnacht hatte Forza Italia angekündigt, es den Amerikanern nachzumachen – wie einst im Wahlkampf 2000 zwischen George W. Bush und Al Gore in Florida: „Wir werden jede einzelne Stimme nachzählen“, erklärte der Sprecher Berlusconis. Doch das ist eher Nervenbalsam als Taktik. Es geht im Fall der Abgeordnetenkammer um jene 43 028 „strittigen“ Wahlzettel, die laut Wahlrecht noch einem Richtergremium vorgelegt werden können. Es ist unwahrscheinlich, dass alle Zettel sich plötzlich als Berlusconi-Voten demaskieren ließen. Und nur dann würde sich am Ergebnis noch etwas ändern. Wahlverlierer Berlusconi: „Zu viele dunkle Seiten“ oberhaupt einigen. Im Gespräch sind unter anderen der ehemalige Ministerpräsident Giuliano Amato sowie der Ehrensenator auf Lebenszeit Giorgio Napolitano. Der Neue soll dann, wenn die Wogen geglättet sind, die neue Regierung berufen. Damit bekäme Berlusconi rund zwei Monate Nachspielzeit eingeräumt. Der Abschied vom Berlusconismus zieht sich in die Länge. Als kämen zwei nicht voneinander los. Es sind 25224 Stimmen gewesen, die Prodis Bündnis eine Mehrheit im Unterhaus einbrachten, einen 0,6-Promille-Sieg. Und nur dank dem Wahlrecht, das ironischerweise gerade das Prodi-Lager heftig bekämpft hatte, verwandelten sich die Handvoll Stimmen mehr für Mitte-Links in eine satte Mehrheit von 348 zu 281 Sitzen. Am Ende sorgten die Abwesenden dafür, dass Italien nicht in Unregierbarkeit versinkt. Pikanterweise hatte erst die Regierung Berlusconi dafür gesorgt, dass Italiener im Ausland per Brief wählen dürfen. Doch es muss kein Vergnügen gewesen sein, als Italiener im Ausland ständig auf die Peinlichkeiten Berlusconis angesprochen zu werden. Jedenfalls stimmte die rund drei Millionen Menschen starke Diaspora unerwartet deutlich für Mitte-Links und verhinderte so eine Mehrheit für Ber- Prodi-Anhänger in Rom Neuwahl in Jahresfrist? Bei diesen Verhältnissen ist es kein Wunder, dass „la Grande Coalizione“ nach Merkelschem Vorbild zum meistgebrauchten Wort in den Talkshows wurde. So wie die Teutonen sich einst ins Land südlich der Alpen sehnten, so verklären manche Politiker Italiens nun die deutschen Verhältnisse: Kennst du das Land, wo die Koalitionen blüh’n? Selbst Silvio Berlusconi verblüffte sein Publikum, als er verkündete: „Vielleicht sollten wir uns an einem anderen großen Land Europas ein Beispiel nehmen, die Kräfte vereinen und im Einvernehmen regieren.“ Bis zu diesem Augenblick hatte er eine persönliche Niederlage zur nationalen Katastrophe hochstilisiert und alle als „Vollidioten“ beschimpft, die so dumm seien, nicht für ihn zu stimmen. Natürlich weiß Berlusconi, dass Prodi sein Angebot zur nationalen Einheit nicht annehmen kann. Die Koalitionspartner würden sich in alle Winde zerstreuen. Berlusconi und sein Außenminister Gianfranco Fini rechnen nun mit einer Neuwahl in Jahresfrist. Sie bezweifeln, dass Prodis Qualitäten als Premier ausreichen, seine knappe Mehrheit über 2006 hinaus zusammenzuhalten. Bis dahin, so hoffen sie, kann sich das „Haus der Freiheiten“ zu einer etwas respektableren liberal-konservativen Partei zusammenraufen. Auch Prodi lehnt die Zusammenarbeit mit Berlusconi, und sei es auch nur bei einem informellen Runden Tisch, kategorisch ab: „Wir werden fünf Jahre lang regieren“, erklärt er und verspricht, nicht nur seine zentrifugale Koalition, sondern ganz Italien zusammenzuhalten. Für die Zukunft verspricht Prodi, die italienischen Truppen aus dem Irak abzuziehen. Das ist populär im Land. Und er will – wenn auch „nicht gegen die Opposition“ – das Wahlrecht ändern, jene Reform, der sein Mitte-links-Bündnis den Sieg verdankt. Das wäre die noble Geste eines Siegers, der keiner ist. Alexander Smoltczyk 111 Ausland ISLAM Im Haus des Islam Ist der Kampf der Kulturen entbrannt? Der SPIEGEL dokumentiert Freitagspredigten aus Moscheen in aller Welt. Die Imame lotsen ihre Gläubigen durch den Alltag, preisen die Wonnen des Paradieses, säen Zweifel an den staatlichen Autoritäten – oder predigen Hass auf den Westen. A m vorigen Montag, dem 12. Rabi al-Awwal 1427, ruhte in den meisten islamischen Ländern der Verkehr, die Beamten hatten Urlaub, die Kinder schulfrei. Am 12. Rabi begehen die Muslime den Geburtstag des Propheten. Die Ägypter feiern den Prophetengeburtstag, den Maulid al-Nabi, als eine Art islamisches Weihnachtsfest. In den Städten des Nildeltas ziehen Tausende mit Trommeln und Trompeten durch die Straßen, die Mädchen bekommen Puppen, die Jungen kleine Pferde aus Zucker geschenkt. Es ist das größte religiöse Volksfest in Ägypten. In Pakistan setzen die Gläubigen einen als Beduinen verkleideten Knaben auf ein Pferd und lassen ihn durch die Straße reiten: die Wiederkehr des Propheten in Kindesgestalt – kein Widerspruch offenbar zum sonst vehement verteidigten Bilderverbot. In diesem Jahr endete Mohammeds Rückkehr allerdings in einem Blutbad: 57 Menschen kamen in Karatschi ums Leben, als ein Selbstmordattentäter beim Gebet eine Bombe zündete. 112 Der Islam hat viele Gesichter, und am Freitag vor dem Prophetengeburtstag haben SPIEGEL-Korrespondenten und -Mitarbeiter von Nigeria bis Indonesien Moscheen besucht, um sich vor Ort die Predigten der Imame anzuhören. Sie sind einem Verdacht nachgegangen, der sich über Jahre, zumal seit dem 11. September 2001, im Westen verfestigt hat: dass die Moschee vom Gebetshaus zu einem Hort des Extremismus geworden sei, zu einem Zentrum islamistischer Indoktrination. Der Kampf der Kulturen, so auch in Deutschland die gar nicht so heimliche Angst, sei längst in voller Schärfe entbrannt. Radikale Prediger haben mit Eifer zu diesem Bild beigetragen. In einer Berliner Moschee schnitt ein Fernsehteam heimlich die Predigt eines türkischen Vorbeters mit, in der er die Deutschen als Gottlose bezeichnete und ihnen vorwarf zu stinken. In London rief der Hassprediger Abu Hamsa al-Masri die Gläubigen auf, Touristinnen in seinem Heimatland Ägypten umzubrind e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 gen: „Wenn eine Frau, selbst eine muslimische Frau, nackt ist und du sie nicht anders verhüllen kannst, so ist es legitim, sie zu töten.“ Andere Koran-Exegeten zeigen sich maßvoll, wenn sie zu einem westlichen Publikum sprechen – und deutlich radikaler, wenn sie sich an die Muslime wenden. Der Fernsehprediger Jussuf al-Kardawi, der vielleicht einflussreichste islamische Schriftgelehrte der Gegenwart, räumte in einem SPIEGEL-Interview großmütig ein, auch rechtgläubigen Christen und Juden stehe das Himmelreich offen. Auf seiner arabischen Website stellte er kurz darauf klar, dass Christen und Juden letztlich doch nur Ungläubige seien. Worte des Hasses und der Diskriminierung – aber sind sie repräsentativ für die Abertausenden Freitagspredigten, die jede Woche von Millionen Muslimen besucht werden? Auch von denen, die gelegentlich ein Morgengebet verschlafen und deren Leben nicht ausschließlich um ihre Religion kreist? Istiqlal-Moschee in Jakarta Der Befund ist vielschichtig, als Faustregel kann gelten: Je virulenter ein Konflikt erscheint, in dem sich fromme Muslime vom säkularen Westen bedroht sehen, desto eifernder rufen auch die Prediger zu gottgefälligem Kampf auf. Während sich in Istanbul oder Jakarta die Imame vornehmlich der theologischen Exegese widmeten, ertönten in Pakistan, in Iran oder im Gaza-Streifen die politischen Predigten. Dort peitschten die Religionsgelehrten ihre Zuhörer zu heiligem Furor auf und zogen eine scharfe Grenze zwischen dem Dar al-Islam, dem Haus des Islam, und dem Dar al-Harb, dem Haus des Krieges – jenen beiden Sphären, in welche die islamischen Rechtsschulen die Welt aufgeteilt haben. Gleichzeitig gibt es aber auch, zum Teil in derselben Predigt, die Anrufung Gottes als Helfer in Alltagsnöten, den moralischen Appell an die eigene politische Führung und immer wieder den steten Trauergesang der islamischen Welt: den Vergleich zwischen dem düsteren Jetzt und der glorreichen Vergangenheit. Die Nachrichtenlage am vorvergangenen Freitag hielt alle Zutaten für eine dramatische politische Predigt bereit: In der Nacht zuvor hatte die israelische Armee zwei Büros der Aksa-Brigaden im GazaStreifen beschossen; die USA und die Europäische Union kündigten an, der HamasRegierung ihre Finanzhilfen zu streichen. In der irakischen Stadt Nadschaf riss am Donnerstag eine Bombe 10 Menschen in den Tod, 70 weitere starben in Bagdad, als sie nach der Freitagspredigt die Moschee verließen. Die Washingtoner Regierung machte deutlich, dass sie keine neuerliche Kandidatur des Amtsinhabers Ibrahim alDschaafari für den Posten des irakischen Premierministers will. Zwischen Iran und dem Westen zeichnete sich bereits die nächste Zuspitzung im Atomkonflikt ab. Hohe religiöse Würdenträger nannten die Forderung der Uno, die Urananreicherung einzustellen, inakzeptabel. Das Weiße Haus, enthüllte dann am Wochenende das Intellektuellenblatt „The New Yorker“, beschleunige die Ausarbeitung der Pläne für einen Militärschlag auf Irans Atomanlagen. Der Mullahstaat wiederum, verkündete Präsident Mahmud Ahmadinedschad, habe erfolgreich Uran angereichert und sei nun Mitglied im Club der Atommächte. Doch diese prekäre Weltlage kommt beispielsweise in der Predigt von Didin Hafiduddin, dem Imam der IstiqlalMoschee in Jakarta, nicht vor. Seine Ansprache in einem der größten Gebetshäuser der Welt trug den Titel „Professionalität und ehrliche Treuhänderschaft“ und hörte sich an wie ein Vortrag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Hafiduddin erzählte den Gläubigen im bevölkerungsreichsten islamischen Land der Erde vom Israeliten Josef, dem Wirtschaftslenker im Dienste des ägyptischen Pharao. Er versucht, die auch in der Bibel erwähnte Geschichte auf das moderne Indonesien zu übertragen, einen Staat, der den Kampf gegen die Korruption aufgenommen hat. „Setze mich über die Speicher des Landes; siehe, ich bin ein kluger Hüter“, schlägt Josef in der nach ihm benannten Koran-Sure dem Pharao vor. Niemand sei je ein derart effizienter Manager gewesen wie Josef, so der Imam in Jakarta. An seinen Fähigkeiten sollten die Führer der Gegenwart sich orientieren, denn „Korruption, Trägheit und Betrug bringen Zerstörung hervor“. Dagegen belohne Gott Sachverstand und eine „strikte Arbeitsethik“ mit Glück und Erfüllung. Der moralische Appell an die eigene politische Führung ist ein Leitmotiv in den Ansprachen muslimischer Prediger – und gleichzeitig ein Reflex auf die starren autokratischen Verhältnisse in vielen islamischen Ländern. Wenn Scheich Ibrahim Abu Bakr Ramadan im nigerianischen Kano die „Ungerechtigkeit, die von der Führung ausgeht“, als „die schlimmste in unserer Gesellschaft“ beklagt, ist das noch eine relativ milde Abmahnung: Präsident Olusegun Obasanjo strebt eine Verfassungsänderung an, um sich nach Ablauf seiner Amtszeit 2007 noch einmal wählen zu lassen. Der Maulana Khalil Ahmad verglich im pakistanischen Peschawar die monotheistischen Weltreligionen und pries, wenig überraschend, den Islam als die vollendetste: „Vor allem im Christen- und Judentum sowie im Kommunismus herrschen Widersprüche vor.“ Das war zahm gegen die Predigt, die sein Kollege Abd al-Akbar Chitrali in der Woche zuvor an gleicher Stelle gehalten hatte. Der hatte sich über den Anspruch von Staatschef Pervez Musharraf mokiert, Pakistan wahre Demokratie beschert zu haben. Was Musharraf vorschwebe, sei der „westliche Säkularismus“ AL-AZHAR, KAIRO Die Moschee und Universität wurde vor gut tausend Jahren von dem Fatimiden-Feldherrn Gauhar al-Sikilli gegründet und gilt heute als bedeutendstes Zentrum sunnitisch-islamischer Lehrtätigkeit. Der Freitagsprediger, Scheich Dr. Id Abd al-Hamid Jussuf, 65, lehnt jede Instrumentalisierung des Islam für politische Zwecke ab. Der Prophet vergab denen, die Unrecht an ihm getan hatten. Er vergab dem Mörder seines Onkels Hamsa. Er verzieh seinen Landsleuten, nachdem sie ihn aus Mekka vertrieben hatten … Der Islam verbreitete sich über die ganze Welt durch Argumente und Überzeugung, nicht aber mit dem Schwert, wie die Feinde des Islam behaupten. Der Islam benutzte das Schwert nur dann, wenn er angegriffen Jussuf d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 BARRY IVERSON PAULA BRONSTEIN / GETTY IMAGES „Gott belohnt mit Erfüllung und Glück“ wurde … Der Prophet verbot Extremismus und Fanatismus. Er sagte: „Ich wurde von der Großzügigkeit des Himmels selbst entsandt. Die Nacht wurde zum Tage. Wer von diesem Wege abweicht, fällt dem Verderben anheim.“ Die Religion wirkt auf manche wie ein Irrgarten. Betretet ihn mit Vorsicht, denn wer immer sich der Religion als Extremist nähert, kommt in seinem Extremismus um. 113 Ausland NUR-MOSCHEE, GAZA-STREIFEN In der den Extremisten der Hamas nahestehenden Moschee im Flüchtlingslager Dschabalija endete die Freitagspredigt mit einem Aufruf an die Palästinenser, sich gegen die Besatzungsmacht Israel zu wehren. Die Predigt hielt Imam Talal al-Madschdalawi, 38. OSAMA HATEM uns macht, steht geschrieAls die Juden aus dem Gazaben im Buch Gottes.“ Dort Streifen abzogen, dachten heißt es: „Ihr werdet Angst wir, dass wir alle Freiheit der und Hunger erleiden.“ Welt gewonnen hätten. Dann Aber auch wir werden in kam das Bombardement. den Herzen derer, die uns Dies ist ein Zeichen, ihr heute Angst und Hunger Gläubigen, dass euer Kampf bringen, solche Angst und mit den Juden noch lange Furcht säen, wie sie sie nicht zu Ende ist. Es ist der nie zuvor kennengelernt Beweis, dass der Konflikt haben. Wir sollten uns mit nicht unter uns und zwischen Gottes Hilfe vor nichts uns stattfindet, sondern mit fürchten. Wir dürfen uns den ungläubigen Juden. Des- Madschdalawi nicht bei jedem Einschlag halb solltet ihr bei jedem Raketeneinschlag sagen: Gott sei geprie- eines Geschosses oder bei jeder Drosen, es gibt keinen Gott außer dem hung erschrecken … Das macht uns Einen, und Er ist unser Beschützer. Wir keine Angst. Das soll uns stark machen sagen den Juden: „Was ihr heute mit im Kampf gegen die Juden. Iranische Demonstrantinnen: Vom säkularen 114 überflüssig: Imam Jussuf warnt vor allzu hitzigem Glaubenseifer: „Der Extremist pflügt keine Erde, er lässt keine Blumen sprießen.“ Souverän nutzt Emrullah Hatipoglu, der Imam der Blauen Moschee in Istanbul, den Spielraum, den ihm das staatliche Präsidium für Religionsangelegenheiten einräumt. Er tritt der Auffassung der säkularen Elite des Landes entgegen, der Islam sei eine rückwärtsgewandte, wissenschaftsfeindliche Religion. „Lies, im Namen deines UNIVERSITÄT TEHERAN Die Freitagspredigt an der Universität Teheran wird ausschließlich von hohen Funktionären der schiitischen Geistlichkeit des Landes gehalten. Ajatollah Ali Chamenei, der höchste religiöse Führer, ernennt persönlich die Campus-Prediger, unter denen Hodschatolislam Ahmed Chatami ein Neuling ist. Er predigte vor Tausenden Gläubigen. Die schiitischen und sunnitischen Brüder sehen sich einem gemeinsamen Feind gegenüber, der das Ziel verfolgt, den Islam anzugreifen. Hier ist nicht nur die Rede von den Schiiten. Jede Beleidigung des Propheten ist eine Beleidigung der ganzen Religion. Es ist daher notwendig, dass die Schiiten und Sunniten in dieser Beziehung sich mehr Chatami um Zusammenhalt und Einigung der Herzen bemühen sollten. Schiiten und Sunniten sollten brüderlich miteinander leben … Mit dem Märchen über die Kernenergie wollen unsere Feinde eine Krise heraufbeschwören. Der Sicherheitsrat der d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Vereinten Nationen ist selbst ein Faktor der Unsicherheit und der Ungerechtigkeit geworden, anstatt ein Platz für die Sicherheit der Welt zu sein … Nach internationaler Gepflogenheit ist es unser Recht, die Technik der Gewinnung von Kernenergie zu beherrschen. Der Sicherheitsrat will uns zwingen, diese Technik nicht zu beherrschen. Das ist ein Gesetz des Dschungels, denn es besagt: Wer stärker ist, kann sich durchsetzen. Aber unsere Nation hat klar gesagt, dass wir unser Recht wollen. Für dieses Recht stehen wir bis zu unserem letzten Atemzug und mit unserem Blut ein. RAHEB HOMAVANDI / REUTERS seines Vorbilds Mustafa Kemal Atatürk, hatte der Prediger geschimpft. Der Gründer der modernen Türkei sei schließlich ein Mann gewesen, „der Moscheen in Kirchen verwandelt und Gelehrte der Schrift hat umbringen lassen. Hört mir zu, Muslime! Unser Ideal ist nicht Kemal Atatürk. Musharraf versucht nicht nur, den Westen und die USA zufriedenzustellen, sondern für immer an der Macht zu bleiben“. Ähnliche Vorbehalte gegen ihre Staatsführung hegen auch viele Imame in Ägypten und in der Türkei. Doch wenig davon war in ihren Predigten zu hören. In beiden Ländern stehen die Moscheen unter der Kuratel des Sicherheitsapparats. In Ägypten geht das so weit, dass der Großscheich der Azhar-Universität, der traditionell höchsten Autorität sunnitischer Gelehrsamkeit, direkt vom Staatspräsidenten ernannt wird und folglich als dessen Sprachrohr gilt. Entsprechend beschaulich fiel am Vorabend des Prophetengeburtstags die Predigt an der Azhar aus. Der Redner, Scheich Id Abd al-Hamid Jussuf, pries Mohammed als den vollkommensten aller Propheten: „Es wird uns nie gelingen, seiner Erinnerung gerecht zu werden.“ Damit der Funke nicht vom Religiösen aufs Politische überspringt, stehen in Kairo bei jeder Freitagspredigt Hunderte Polizisten in den Straßen um die Azhar-Moschee. Selten haben sich die Gläubigen in den vergangenen Jahren nach dem Gottesdienst zu einem Protestmarsch formiert – und wenn, dann bestand die Demonstration zu einem großen Teil aus Zivilpolizisten. An diesem Freitag ist solche Vorsicht AFP BLAUE MOSCHEE, ISTANBUL Das unter Sultan Ahmet I. 1616 fertiggestellte Gebetshaus gehört zu den Istanbuler Großmoscheen, die den Glauben und die Macht des Osmanischen Reichs verkörpern sollten. Die Predigt hielt der Imam der Moschee, Emrullah Hatipoglu. ran. Wir wenden ihn nicht überall an. Nehmen wir an, dass wir einen Supermarkt betreiben. Dürfen wir dort im Islam verbotene, nicht legitime Waren verkaufen? Nein? Aber das machen viele Muslime. Die Waren müssen den in der Türkei festgelegten Standards entsprechen und den Vorschriften des Konsumentenschutzes, aber nicht denen des Korans. Ist es zulässig, Alkohol oder Schweinefleisch zu verkaufen? Wo bleibt da der Koran? Das alles sind Sünden, meine Glaubensbrüder. HAMDI GÖKBULUT / TÜRGERPRESS Ohne Gott gibt es keine Wissenschaft. Wir sehen, was sich alles an den Schulen abspielen kann, wenn nicht im Namen des Herrn gelernt wird. Wenn heute in den Schulen gemordet wird, wenn eine unmenschliche Entwicklung zur Bedrohung wird, stellt sich die Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung. Gott sagt im Koran: Einen un- Hatipoglu schuldigen Menschen zu ermorden gleicht der Ermordung der ganzen Menschheit … Der Koran durchdringt unser Leben. Doch es gibt Probleme in unserer Haltung zum Ko- Westen bedroht? Herren, der geschaffen hat“, beginne der Koran, und diesem Bildungsbefehl habe der moderne Muslim zu folgen: „Physik, Chemie, Mathematik, Astronomie … Lest das!“ Mit gleichem Eifer sollen die Gläubigen aber auch den Koran lesen: „Da gibt es keine Ausrede. Niemand kann behaupten, er könne den Koran nicht lesen. Habt ihr keine Computer, keine CDs?“ Danach folgt ein Katechismus, der sich wie ein Wahlprogramm des heutigen Premierministers Tayyip Erdogan aus den neunziger Jahren anhört, als er noch Bürgermeister von Istanbul war und gegen Alkoholausschank, Prostitution und die unaufhaltsame Verwestlichung der Türkei zu Felde zog. Heute, das Ziel des EU-Beitritts vor Augen, ist Erdogans islamistische Rhetorik weitgehend verstummt, aber der Konflikt mit dem säkularen Establishment, vor allem der Armee, köchelt weiter – in den Predigten einer staatlich gegängelten Geistlichkeit. Klar sind dagegen die Fronten in Palästina, noch klarer die in Iran. 25 Minuten lang spricht Imam Talal al-Madschdalawi im Gaza-Streifen über den bevorstehenden Prophetengeburtstag und über die Notwendigkeit, ständig über Gott und den heiligen Koran nachzudenken. Dann folgt, in den letzten fünf Minuten, das politische Resümee seiner Predigt: „Gestern sind auf uns 200 Geschosse abgefeuert worden“, sagt der Imam. „Was hindert uns daran, beim Einschlag jedes Geschosses an Gott zu denken?“ Es ist eine dialektische Denkfigur, die seit langem den Diskurs der Islamisten bestimmt: Je härter uns der Feind schlägt, je deutlicher er uns seine vermeintliche Über- legenheit vorführt, desto enger rücken wir zusammen, desto entschlossener sind wir, ihm entgegenzutreten. Alles, auch das nächtliche Bombardement der israelischen Luftwaffe, folge einer großen göttlichen Weisheit: „Hasse nicht das Böse, es könnte eine Gabe Gottes für dich sein.“ Das ist die islamistische Antwort auf die Frage der Theodizee: Wenn Gott allmächtig ist, warum ist dann so viel Übel in der Welt? Vor einem ähnlichen Problem steht Hodschatolislam Ahmed Chatami, der im Hof der Universität Teheran vor Tausenden iranischen Gläubigen spricht. Er beginnt den politischen Teil seiner Predigt mit dem verheerenden Erdbeben in der Provinz Lorestan und lobt das „fleißige islamische Regime für die Bewältigung dieser Schwierigkeiten“. Die Gemeinde will aber auch anderes hören. „Tod Amerika! Tod England und seiner Hinterlist! Kernenergie ist unser selbstverständliches Recht!“, haben die Gläubigen skandiert, als Chatami ans Pult trat. Er enttäuscht sie nicht. Er spricht den Karikaturenstreit an und beschwört die Einheit von Sunniten und Schiiten im Angesicht „der Beleidigung des Propheten“. Er verteidigt, unter Berufung auf den Koran, das Recht auf Widerstand. „Die Hochachtung für unsere 27 Jahre alte Revolution hat mit unserem Widerstand zu tun. Viele Krisen hat man eurer großen Nation bereitet, aber wir haben sie mit erhobenem Haupt hinter uns gelassen.“ Dann kommt er auf den Atomkonflikt zu sprechen. „Sie haben uns einen Monat Zeit gegeben, um die Forschung einzustellen“, sagt d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 er in Anspielung auf den Uno-Sicherheitsrat. „Ein Monat, ein Jahr – ihr könnt uns so viele Ultimaten geben, wie ihr wollt.“ Iran bestehe auf seinem Recht, und das bedeutet, „dass wir bis zu unserem letzten Atemzug und mit unserem Blut für unser Recht geradestehen werden“. So hat Chomeini gepredigt, es ist die Sprache der Konfrontation. Chatami verweist auf die jüngsten Marinemanöver „in den blauen Gewässern des Persischen Golfs“ und droht: „Wenn ihr auch nur ein Zeichen von Aggression gegen das islamische Regime wagen solltet, dann werden wir euch mit unserer Faust einen Schlag aufs Maul geben.“ Mit einer Anrufung Gottes endet seine Predigt: Er möge dem geliebten Iran Schutz und seinen verehrten Führern Erfolg gewähren und sie alle als Soldaten des Wali-je Asr annehmen – des zwölften, des Verborgenen Imam. „Beschleunige seine Auferstehung“, beschwört er den Allmächtigen. Das Freitagsgebet ist überall auf der Welt der Höhepunkt der Woche im Leben eines frommen Muslim. Es war ein Freitag, an dem Adam das Paradies betrat, und es war ein Freitag, an dem es wieder verließ. Auch der Tag der Auferstehung, so soll Mohammed gesagt haben, werde ein Freitag sein. „Gott gab sowohl den Juden als auch den Christen den Befehl, den Freitag als den Tag der Verehrung zu feiern“, heißt es in einem seiner überlieferten Aussprüche. „Aber sie missachteten diesen Auftrag.“ Im Koran sehen die Muslime die letzte, die vollkommene Offenbarung Gottes. Jede Freitagspredigt erinnert sie daran. Daniel Steinvorth, Bernhard Zand 115 Benedikt XVI. beim Weltjugendtag in Köln (2005) FRANK AUGSTEIN / AP VAT I K A N Professor Dr. Papst Ein Jahr lang hat Benedikt XVI. abgewartet, seine Feinde enttäuscht und viele Anhänger frustriert: Wo bleibt der Ruck? Doch den Kurs seines Pontifikats hat er diskret abgesteckt: Leanmanagement, Konzentration aufs Kerngeschäft. Von Alexander Smoltczyk D ie neue Öffnung des Vatikans misst 3,70 Meter in der Breite und 5 Meter in der Höhe. Es ist ein vierflügeliges, an aufgestellte Buchrücken erinnerndes Bronzetor: das erste Bauwerk des deutschen Papstes. Man könnte sagen: Durchs Wort führt der Weg in die Kirche. Zumindest in deren Tiefgarage. An diesem Montagmorgen ist es menschenleer im Papstpalast. Draußen, jenseits der Leoninischen Mauer, werden gleich die Wahllokale schließen. Hier drinnen ist nur 116 das Ticken einer Uhr zu hören, ringsum und an der Decke das lautlose Getümmel der allegorischen Fresken. „Der mit dem Anker um den Hals ist der heilige Klemens“, sagt der Gardist in die Stille. Dann zeigt er auf den Fahrstuhl: „Pius XII.“ Es tickt. Im Obergeschoss sind wohl Handwerker zugange. Der alte Prälat, der anonym bleiben möchte, sitzt in einer der damastbespannten Dienstkammern und kennt Ratzinger schon aus der Zeit, als der noch als bleicher d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 „Großinquisitor“ durch die Medien gespensterte. „Es ist“, sagt er mit fast akzentfreiem Deutsch, „ein Unterschied, ob man in der Defensive spielt, mit harter Manndeckung, oder als Libero. Er ist der Gleiche geblieben. Nur kann er jetzt eine Seite zeigen, die früher nicht verlangt war.“ Vom früheren Chef der Glaubenskongregation hatten sich Freund und Feind anderes erwartet. Ein Ruck würde durch den Kirchenstaat gehen. Aber als Benedikt XVI. seine Enzyklika vorlegte, war Ausland d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 salen Machtanspruch, als „Vater der Fürsten und Könige, Lenker der Welt und Stellvertreter Christi auf Erden“. Benedikt wollte es eine Nummer kleiner, als Zeichen guten Willens gegenüber den Orthodoxen. Dieser Papst will die Ostpolitik. Als Eisbrecher schickte er jemanden nach Moskau, der im Konklave wohl nicht zu seinen Anhängern gehört hatte: Kardinal Walter Kasper. Ebenso wandelt sich das Verhältnis zu China: „Es herrscht Tauwetter“, sagt ein Kirchendiplomat, der regelmäßig nach Peking reist. „Die Regierung hat keine Angst vor dem jetzigen Papst. Das war anders bei seinem Vorgänger. Der hatte Osteuropa zu Fall gebracht.“ Offenbar wird überlegt, die päpstliche Nuntiatur noch vor der Olympiade 2008 von Taipeh nach Peking zu verlegen und auch weiterhin keine Bischöfe ohne informelle Absprachen zu ernennen. Die Ernennung des regimekritischen Bischofs von Hongkong zum Kardinal wurde von Peking ohne ernsten Widerstand geschluckt. Ob all dies schon an Benedikts Wappen abzulesen ist, mag mancher bezweifeln. Doch sind Zeichen und Wunder täglich Brot im Reich der Katholiken. Es war genau am 24. März, als der Chefheraldiker Andrea Cordero Lanza di Montezemolo vom ehemaligen Hitlerjungen Ratzinger in den Kardinalsstand erhoben wurde – dem Jahrestag jenes Massakers in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem Corderos Vater von der SS ermordet wurde, nach tagelanger viehischer Folter. ACTION PRESS das kein Manifest der Reaktion, sondern die in Italien oft allem Deutschen entgeeine Liebeserklärung: „Deus caritas est.“ gengebracht wird und nicht mit Zuneigung Der einst in Italien als „Panzerkardinal“ verwechselt werden darf: „Ich habe gehört: geführte Deutsche sprach vom Gottesge- Endlich mal wieder ein Deutscher. Der schenk des Eros, der Liebe, der guten Tat wird aufräumen.“ Doch der Neue ließ sich Zeit. Das erste und ließ selbst hier kein Wort fallen über das Teufelswerk der Verhütung. Der Kreuz- Dreivierteljahr verging ohne grundlegende ritter gegen die Befreiungstheologie über- Personalentscheidungen und ohne Weiließ es den italienischen Bischöfen, sich chenstellungen. Als wollte der Unfehlbare um die Tagespolitik zu kümmern, und ver- ex cathedra die Maschine erst einmal genau studieren. tiefte sich in Psalmen. „Etliche waren frustriert, dass so wenig Alles ist anders, nichts hat sich verändert. Jeden Mittwoch, Punkt 10.30 Uhr, geschieht. Viele waren glücklich darüber.“ hält Professor Dr. Papst eine Vorlesung. Es sind die gleichen Themen wie zu seiner Tübinger Zeit. Nur findet das Seminar unter freiem Himmel statt, und es hören einige Zigtausend zu, von Woche zu Woche mehr. Es ist schwer, einen Pastor tedesco zu lieben, aber die Römer mögen ihn. Zumal er offenbar größte Sorgfalt auf sein Äußeres legt. Denn als geborene Katholiken wissen Italiener, dass Schein und Wesen nicht zu trennen sind. Kein Detail ist zufällig. Einen Papst mag man aus Accessoires genauso zu lesen wie aus seinen Schriften. Pilger beim Weltjugendtag in Köln (2005): Papst der Worte Oder? Der Prälat bemüht sich um einen nach- Der Benediktiner-Mönch Wolf putzt sich sichtigen Gesichtsausdruck. Er würde es gutgelaunt die Nase. Seit Februar, sagt er, anders formulieren: „Kleine Zeichen ha- hätten sich die Dinge beschleunigt. Die Kuben oft die massive Last der Bedeutung. rienreform ist beschlossen. Die Enzyklika ist Zumal für Beobachter, die sich nicht erst veröffentlicht und bislang anderthalb Milvon Ballast freimachen müssen. Achten Sie lionen Mal verkauft. Die Zahl der Päpstlichen Räte ist verringert, ein hohes Mitglied auf die Zeichen, es gibt sie.“ der Kurie als Nuntius nach Ägypten geSTILFRAGEN. Als Erster musste Massimilia- schickt worden, und 15 neue Kardinäle sind no Gammarelli erfahren, dass dieser Papst ernannt, darunter – zum Schauder des Hofkein Verständnis für Formfehler hat und zu staats – nur drei Veteranen aus der Kurie. „Reform“, dixit Ratzinger, „besteht in radikalen Schnitten fähig ist. Die Gammarellis bestücken seit 1793 die Kleider- der Entfernung des Überflüssigen.“ schränke des Vatikans. Benedikt XVI. wechselte den päpstlichen Schneider und WAPPEN UND VERZICHT. Der Chefheraldiging zu Euroclero, gegenüber der Glau- ker des Vatikans und toskanische Edelbenskongregation im Sant’Ufficio. Angeb- mann Andrea Cordero Lanza di Montelich sei der Papst verärgert gewesen, dass zemolo bekam schon zwei Tage nach dem er seine erste Audienz in einer Hochwas- Konklave einen Anruf: „Ich besprach mit ser-Soutane absolvieren musste, zu kurz, dem Heiligen Vater die Elemente seines um die seidenen Beinkleider zu verdecken. persönlichen Wappens. Die Augustinus„Ich würde von einem neuen Stil spre- muschel, den Freisinger Mohr, den Bären, chen“, sagt Notker Wolf. Er spielt E-Gitar- die Petrusschlüssel, das war zu erwarten. re in einer Hardrockband und steht als Abt- Aber er bestand auf einer Neuerung.“ primas dem Benediktiner-Orden vor. Unter Benedikt wollte die „Tiara“, die dreifach den Fenstern seines Arbeitszimmers auf umreifte Papstkrone im Wappen, durch dem Aventinhügel liegt die Stadt Rom. „Be- eine „Mitra“ ersetzt haben, die Kopfbenedikt geht mit seiner Gesundheit vorsich- deckung der Bischöfe – und zwar genau tig um. Er gibt wenige Audienzen und jene aus seinem Besitz, die am 7. Dezemschottet sich ab. Er ist weise genug zu sagen, ber 1965 von Paul VI. getragen wurde, als belästigt mich nicht mit unnötigen Dingen.“ er die letzten Dekrete und Erklärungen des In der Kurie, diesem Intrigantenstadel, Konzils verkündete. seien sie Papst Benedikt seit dem 19. April Eine heraldische Wende, an der sich ein 2005, dem Tag seiner Wahl, mit jener distan- Programm ablesen lässt. Die drei Ringe der ziert staunenden Bewunderung begegnet, Tiara stehen ursprünglich für den univer- SAMTMÜTZE UND VATICANUM. Kurz vor Weihnachten protestierte die Organisation Europäischer Tier- und Naturschutz gegen den Papst: „Das Blut unschuldiger Tiere“, so der (deutsche) Geschäftsführer, klebe an der „mittelalterlichen Kopfbedeckung“ Benedikts. Gemeint war der „Camauro“, ein rotes Käppchen mit Hermelinbesatz, das schon auf den Renaissancebildern eines Raffael zu sehen war. Weil er von jeher an kalten Ohren leidet und sich eine Erkältung nicht leisten kann, war das Kirchenoberhaupt zur Generalaudienz am 21. Dezember mit der Mütze erschienen. Doch nicht nur der Temperaturen wegen. Auch die Mütze war ein Zeichen, ein Querverweis auf das Zweite Vatikanische Konzil, das in jenen Tagen 40. Jahrestag hatte. Es war eine Verbeugung vor dem Vater des II. Vaticanums, Johannes XXIII., der den Camauro-Look im Vatikan wieder eingeführt hatte und die Mütze mit sich ins gläserne Grab nahm – zu sehen in einem Winkel des Peters117 Ausland 118 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Gesamtkunstwerke: Eine Messe ist keine Oper, schon gar keine italienische. Dagegen lautet das Glaubensbekenntnis von Erzbischof Piero Marini, dem Eventmanager im Kirchenstaat: „Zu Beginn des dritten Millenniums muss die Kirche sich in bellezza zeigen.“ Ratzinger hat Marini schon drei Diözesen angeboten, um ihn loszuwerden, bislang vergebens. Ihm ist alles Barocke suspekt, er misstraut dem Bild. „Es gab vielleicht“, heißt es im Vatikan, „einen gewissen Hang des Vorgängers“, längere Pause, „wie soll ich sagen?“ – nun: Johannes Paul II. liebte Massenmessen und Benedikt XVI. nicht. Es ist kein Geheimnis, dass Ratzinger das Verschwinden des Lateins in der Messe bedauert und der bloße Gedanke an gitarrengestützte Frömmelei bei ihm Hautreizungen auslöst. Er möchte den Ritus ins Zentrum stellen und nicht die Vermittlung. Die Ausgestaltung der Liturgie war das Generalthema der ersten Bischofssynode unter Ratzinger im Oktober. „Es ist eine lautlose Verschlankung der päpstlichen Liturgien im Petersdom zu sehen“, sagt Monsignore Walter Brandmüller, der Kirchenhistoriker. „Die Folklore-Elemente sind in den Hintergrund gedrängt. Mehr Sakralität, theologische Tiefe, Überlieferung.“ Selbstverständlich, fügt Brandmüller hinzu, sehe das Konzil die Liturgie auf Latein vor und ebenso die Hinwendung des Zelebranten nach Osten statt zum Volk. Nur sei die Praxis aus dem Ruder gelaufen. ANDREAS SOLARO / AFP doms. Das „Sacrosanctum Concilium“, für Schreibtisch zu finden. Johannes Paul II. manche eine Art „Achtundsechzig“ des war der Papst der Bilder, Benedikt ist der Katholizismus, ist die theologische Grund- Papst des Wortes. Alle seine Großpredigten schreibt der erfahrung Ratzingers gewesen. Im Konklave war er der Einzige, der am Konzil Chef selbst, und Vorlagen werden in seiner noch prägend teilgenommen hatte. So winzigen Professorenschrift von Grund auf wurde die Papstwahl auch eine Abstim- umgeschrieben: „Malbücher“, sagen sie im mung über die „getreue Auslegung“ der Sekretariat. Die Ernennung zum Kirchenführer hat Beschlüsse: Wie weit darf die Öffnung zur Gegenwart gehen und: Ist sie nicht schon Ratzinger nicht wirklich aus seiner lebenslangen Arbeit gerissen. Er müht sich immer viel zu weit gegangen? Als Kardinal hatte Ratzinger immer noch ab an seinem Grundkonflikt und stellt wieder von den „Irrtümern“ der postkon- die „Wahrheit“ gegen den „Relativismus“ ziliaren Debatte gesprochen, von Über- der Moderne: Ins Zentrum gehört der treibungen und Fehldeutungen, besonders seiner deutschen Kollegen. In der Predigt mit der Samtmütze und, kurz darauf, in seiner Weihnachtsansprache bekannte Ratzinger sich jedoch klar zum Konzil. Für die Wirrnisse innerhalb der Kirche sei eine falsche Auslegung verantwortlich. Es sei um „Reform“ gegangen, nicht um „Bruch“. Für Klarstellungen wie diese ist er gewählt worden. Ratzinger verdankte seine Wahl den italienischen „Großwählern“ um Kardinal Camillo Ruini. Nur einem Neuernannte Kardinäle*: Ratio im Dienst des Glaubens Professor aus dem Land Luthers trauten sie zu, der Kirche noch Gehör Mensch als Gottesgeschöpf, nicht der zu verschaffen in einem Europa des trans- Mensch als Gottesersatz. Seine Kunst ist es, in den weltlichen Dezendentalen Analphabetentums. In Italien hat Ratzinger 20 Jahre lang den Dialog mit batten die Ebenen zu wechseln. Benedikt XVI. redet nicht über Kondome, sondern der agnostischen Intelligenz geführt. „Mit Wojtyla konnte man nicht disku- verurteilt Sexualität ohne Liebe. Er mischtieren“, sagt ein Kardinal. „In wenigen te sich nicht explizit in die SommerkamMinuten ist er in visionäre Höhen ent- pagne der italienischen Bischöfe gegen schwebt.“ Anders Benedikt. Er versteht künstliche Befruchtung ein, sondern sprach die Nichtglaubenden. Er sagt nicht wie über die Kirchenväter. Er kümmert sich weiterhin ums dogmasein Vorgänger: Hinknien und Rosenkranz beten. Er sagt: Die Aufklärung muss auf- tische Fundament, aber will auch darauf geklärt werden. Er ist ein Intellektueller, vertrauen können, dass in den anderen der die Ratio nicht durch Mystik ersetzt, Stockwerken nicht zu sehr gepfuscht und sondern sie in den Dienst des Glaubens gebastelt wird. Deswegen die Kurienreform. Entfernung des Überflüssigen. „Die nimmt. Kompetenzkonkurrenzen“, sagt eine QuelSONNENBRILLE UND ERLEUCHTUNG. Im Som- le aus dem Apostolischen Palast, „haben mer vergangenen Jahres ließ sich Benedikt uns viel Wadenbeißerei eingebracht.“ XVI. zur allgemeinen Überraschung im Cabrio durch Rom fahren. Dazu trug er KEHRWOCHE UND KARWOCHE. Es geht um eine Designersonnenbrille der Marke Se- die Feinheiten, um die Vierteltöne und rengeti – deren Gläser laut Herstelleran- Nuancen. Deswegen ist, angeblich auf Begabe kurzwelliges aus dem Himmelslicht treiben des Hausherrn, auch der Kapellherausfiltert. So ermüden die Augen we- meister im Petersdom ausgetauscht worniger. Und die Augen sind sein Kapital. den. Sein Nachfolger wird am Karfreitag Ratzinger schreibt und schreibt und erstmals den Chor leiten und wissen, dass schreibt. Briefe, Predigten, Ansprachen, diesem Papst kein Misston entgehen wird. Sendschreiben, Bücher. Dabei ist er jetzt Mit fast schon Lutherschem Argwohn schon der meistverlegte Pontifex der Kir- hat Ratzinger die Inszenierungen seines chengeschichte. Dieser Oberhirte ist im- Vorgängers verfolgt, diese farbtrunkenen stande, noch bei der Akkreditierung des Botschafters von Andorra einen funda- * Andrea Cordero Lanza di Montezemolo (Italien), Jorge mentaltheologischen Gedanken unter- Liberato Urosa Savino (Venezuela), Jean-Pierre Ricard zubringen. Für ihn ist die Wahrheit am (Frankreich) am 25. März in Rom. PONTIFEX UND BECKENBAUER . Der Erzbi- schof von Genua, Tarcisio Kardinal Bertone, hat jahrelang neben Ratzinger in der Glaubenskongregation gesessen. Er kennt den Mann. Er sagte im Vatikan-TV „Telepace“ über Benedikt: „Die Kirche hat ihren Beckenbauer gefunden. Er treibt uns mit seinen Pässen nach vorn. Er versteht seine Mitspieler nach ihren Talenten einzusetzen. Ein zurückgezogener Regisseur und ein verlässlicher Mittelfeldspieler. Ratzinger hat mir übrigens oft von seinen Treffen mit Trapattoni erzählt.“ Statt über die Kontinente zu jetten, von einer Massenmesse zur nächsten, möchte dieser Papst den Kirchengarten bestellen. Er möchte seinem Nachfolger einen dogmatisch und organisatorisch gefestigten Vatikan hinterlassen, sofern ihm die Zeit gegeben ist. Mehr Urbs als Orbis. Wer also auf einen päpstlichen Ruck hofft bei den Fragen Verhütungsmittel, Frauenordination oder der Zulassung Wiederverheirateter zur heiligen Kommunion, der wird auf andere Päpste warten müssen. KNUT MUELLER Bundeswehr-Patrouille (südlich von Kabul): Wie lange dauert eine Ewigkeit? nicht abschütteln. Auch die Deutschen könnten bald seinen Machthunger zu spüren bekommen. Nur 140 Kilometer östlich von Shibarghan zieht das Bundesministerium der Verteidigung sein weltweit größtes Auslandsprojekt hoch: Camp Marmal ist eine eigeKabul blüht, doch der Rest des Landes ist eine ne Stadt. Für 53 Millionen Euro werden Kampfzone, in der auch deutsche Soldaten auf Warlords, Drogen- hier 75 000 Tonnen Stahl und 300 000 Tonnen Beton verbaut. Das neue Hauptquarbarone und die Taliban treffen. Von Susanne Koelbl tier, in dem künftig 1500 deutsche Soldaten stationiert er Angst verbreiten kann in AfUSBEKITADSCHIKIwerden, entsteht am Flugghanistan, der kann kein NieSTAN STAN hafen der quirligen Promand sein. Wer Angst verbreitet, TURKMENISTAN vinzhauptstadt Masar-idessen Stärke wird bewundert, und kaum FaizaShibar- Masar- Kunduz bad Scharif, am Fuß eines maeiner erregt so viel Ehrfurcht wie der Usghan i-Scharif lerischen Gebirges. Es ist zwei beken-General Abdul Raschid Dostam. Kilometer lang, zwei Kilometer breit Der General empfängt in der nördlichen und soll den Grundstein für den Provinzhauptstadt Shibarghan am SwimKabul Herat politischen und wirtschaftlichen Aufmingpool seines Gästehauses, eines Phanschwung im Norden legen. Ein Bauwerk tasiebaus mit viel Glas und einer wilden AFGHANISTAN wie für die Ewigkeit. Farbmischung aus Braun, Blau und Lila: Wie lange aber dauert eine Ewigkeit in „Palast“ nennt der Volksmund den LuxusAfghanistan? Wohin steuert dieses Land, bau mit Saunabad, Whirlpool und den mit das derzeit von einer Anschlagsserie erKronleuchtern verzierten Ballsälen. Der Kandahar IRAN PAKISTAN schüttert wird? Deutsche Soldaten wurden Ort ist berüchtigt für ausschweifende Fei200 km im als relativ sicher geltenden Norden binern, bei denen es trotz islamischer Regeln Einsatzgebiet nen kürzester Zeit dreimal mit Fahrradan Wodka und Frauen nicht mangelt. der Bundeswehr bomben, Feuerwaffen und Panzerfäusten „Hier gibt es keine Mullahs“, dröhnt angegriffen, fünf von ihnen teilweise der Hausherr, der heute einen ChapanMantel angelegt hat, wie man ihn von durch die Schluchten nach Masar-i-Scharif schwer verletzt. Afghanistan ist in den vergangenen fünf Präsident Hamid Karzais eleganten Auf- und Kabul. Es heißt, er sei verantwortlich tritten kennt. für den Erstickungstod vieler Hunderter Jahren nicht sicherer geworden, eher noch Dostam kämpfte in den achtziger Jahren Taliban, die nach ihrer Kapitulation in unsicherer: 284 amerikanische Soldaten auf der Seite der Sowjets gegen die Mu- Container gesteckt und unweit von Shibar- starben seit dem Kriegsbeginn im Oktober 2001 am Hindukusch, allein 99 im vergandschahidin, später führte er Krieg gegen ghan in der Wüste verscharrt wurden. die Taliban. Dann war er im Herbst 2001 Die Amerikaner wollen ihren einstigen genen Jahr. Und mehr Afghanen als je zueiner der engsten Verbündeten der Ame- Alliierten am liebsten wieder loswerden. vor seit Beginn der Mission „International rikaner und half deren Spezialkräften Doch so leicht lässt sich einer wie Dostam Security Assistance Force“ (Isaf) im DeA F G H A N I S TA N Der General in seinem Palast W d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 119 Ausland 120 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 sein Leben riskieren, wo er doch 100 Dollar einheimsen kann, wenn er den Drogentransport durch sein Dorf leitet? General Dostam verdient überall, wo Dollars verdient werden. Er war meist oben, auch wenn Afghanistan ganz unten war. Jetzt trinkt er grünen Tee, sein breites Gesicht glüht rosig, er kommt gerade aus der Sauna. Er sagt, dass alle Vorwürfe gegen ihn falsch seien. Er empfiehlt sich als eiserne Faust gegen das Krebsgeschwür des Terrorismus: Als Anführer einer Spezialeinheit würde er die Taliban und al-Qaida „gnadenlos ausmerzen“. Denn davon verstehe er etwas: vom Krieg. Auch Maimana in der Provinz Faryab gehört zu Dostams Einflusssphäre. Das dortige Isaf-Wiederaufbauteam ist der äußerste Außenposten der internationalen Friedenstruppe im künftig deutschen Verantwortungsbereich im Nordwesten Afghanistans. Zum künftigen Hauptquartier der Deutschen in Masar-i-Scharif sind es genau 339 Kilometer, eine Zehn-Stunden-Fahrt durch gebirgige Wüste, grüne Hügellandschaft und flaches Land. Insgesamt misst der Bereich mehr als tausend Kilometer bis nach Badakhshan an die Spitze Chinas – eine Region, fast halb so groß wie Deutschland. In Maimana hielt der finnische Isaf-Soldat Leutnant Tuomas Kainulainen am 7. Februar die Stellung, als ein tobender Mob das PRT-Quartier im Zentrum der Kleinstadt stürmte. Örtliche Mullahs hatten die Massen wegen der in Dänemark veröffentlichten Mohammed-Karikaturen aufgestachelt. Sie rissen das eiserne Tor ein, Molotowcocktails explodierten im Hof, Schüsse und Tausende faustgroße Steine prasselten auf drei Dutzend Norweger und Finnen ein. Drei lange Stunden dauerte es, bis die Deutschen per Hubschrauber Verstärkung schickten. Er sei stolz darauf, dass sie nach dem Angriff trotzdem geblieben seien, sonst wäre das Konzept der Nato in Afghanistan wohl bereits gescheitert, sagt Kainulainen abends beim Bier in der Kellerbar „Red Mig Down“ – über dem Tresen hängt der Flügel einer abgeschossenen russischen „Mig“-Maschine. Das kleine PRT-Team kann nicht viel ausrichten. Die Soldaten knüpfen Kontakte, sind eine Art Frühwarnsystem in der Region. Dabei haben sie einen Mann ständig im Blick: Abdul Raschid Dostam, der natürlich auch in Faryab der starke Führer ist. Sein Konterfei hängt hier überall. Ob aus Verehrung oder Angst oder aus Vorsorge: Wer weiß das schon? ™ KNUT MUELLER zember 2001 verloren voriges Jahr ihr Le- lords und Drogenhändler heuern die Taliben durch terroristische Anschläge, insge- ban als eine Art Sicherheitsdienst gegen ausländische Militärs an, damit der Mohn samt 1600 Menschen. Was läuft schief in Afghanistan? Kabul ungestört angebaut werden kann. Umgeblüht auf. Die Grundstückspreise explo- kehrt finanzieren Taliban und al-Qaida dieren, in der Innenstadt werden exklusi- dank dieser Einnahmequelle Waffen und ve Hotels und Einkaufszentren gebaut, und Fahrzeuge; auch die Familien von Selbstimmer mehr Frauen wagen sich in der mordattentätern sollen mit Drogen-Dollars Hauptstadt ohne Burka auf die Straße. Es entschädigt werden. Mit einem Religionskrieg gegen ungläugeht voran, in der Hauptstadt. Auf dem Land aber sieht es anders aus. bige Besatzer hat das kaum noch zu tun, Den Norden, wo die Deutschen im Juni da wird ein Geschäft verteidigt. 2,7 MilVerantwortung für gleich neun Provinzen liarden Dollar Einnahmen bringt der übernehmen werden, stuft ein Mitarbeiter Opiumverkauf jährlich in Afghanistan, des Bundesnachrichtendienstes in Kabul einige 100 Millionen Dollar, schätzen Exneuerdings als besondere Gefahrenzone perten, gehen in die Finanzierung des ein. Angeblich hat Taliban-Chef Mullah Terrorismus. Omar den Auftrag erteilt, die Deutschen in Masar-iScharif anzugreifen, weil dies dort „viel besser“ gehe als in Kabul. Alarmierend ist jetzt schon die Lage im Süden und Südosten des Landes. Trotz des fast fünf Jahre währenden Kampfs gegen die Taliban, den amerikanische Streitkräfte tragen, kontrollieren die Taliban heute wieder weite Teile der Paschtunen-Provinzen Nimruz, Oruzgan, Helmand, Kandahar und Paktika. Von Wiederaufbau kaum eine Spur: Es gibt so gut wie nirgends Strom oder fließend Wasser, asphaltierte Straßen, Schulen oder Hospitäler. Hilfsorganisationen wagen sich kaum dorthin. „Was ist mit den neuen Straßen, den Bewässerungsanlagen und den Jobs, die ihr General Dostam, Leibwächter: „Hier gibt es keine Mullahs“ uns versprochen habt?“, beDrogen sind bis heute neben der reschwert sich ein alter Herr mit großem, weißem Turban in einem Dorf nahe Lash- gulären Landwirtschaft der einzige relekar Gah, der Provinzhauptstadt von Hel- vante Wirtschaftszweig in Afghanistan. mand, einer Region, die mehr Opium pro- Auch in Kabul sind offenbar viele Beamduziert als jede andere auf der Welt. Nichts te direkt oder indirekt darin verwickelt, hält er von Karzai und vom Westen, und so vom kleinen Zollbeamten bis in die wie er denken die meisten hier. Die Ent- höchsten Spitzen der Regierung. Der täuschung macht sie empfänglich für mili- Präsident hat immer wieder angekündigt, jeden erbarmungslos vor Gericht zu steltante Gruppen. 55 Millionen Dollar sollen laut Uno-Dro- len, der mit diesem schmutzigen Geschäft genbehörde in Helmand in Programme in- zu tun hat. Der Polizeichef der Badakhshan-Provestiert worden sein, um die Bauern von der Opiumproduktion abzubringen. Außer vinz, Shah Jahan, schmuggelte kürzlich in einigen sogenannten „Geld für Arbeit“- seinem eigenen Fahrzeug 100 Kilogramm Projekten, bei denen Afghanen für den Heroin Richtung tadschikische Grenze. Aufbau der Infrastruktur angeheuert wur- Der Gouverneur von Kunduz soll bei den, etwa zur Reinigung von Abwasser- Kurierfahrten durch seine Region, ein kanälen, hat sich so gut wie nichts getan. Drehkreuz des Opiumhandels, das in der Für viele Bauern lohnt das angebotene Schutzzone der Bundeswehr liegt, jeGeld den Fruchtwechsel nicht. Andere weils zehn Prozent des Warenwerts bewerden von den Taliban gezwungen, auch anspruchen. Die Polizisten mischen sich nicht in den weiterhin Mohn anzubauen. Die Taliban haben mit der Drogenmafia Drogenkampf ein. Warum sollte ein Beeine Allianz geschmiedet, die das Projekt amter, der höchstens 60 Dollar Gehalt im Afghanistan schnell gefährden kann: War- Monat von der Zentralregierung bekommt, Ausland HA NOI Unrecht, Brot und Wein Global Village: Die ersten Supermärkte erreichen Vietnam und bedrohen eine gewachsene Metropole. D STEPHEN SHAVER / POLARIS / LAIF urch Hanoi gehen Flüsse aus Was- gestellten, darunter Herr Thanh, der alles die internationalen Ladenketten, die anser und solche aus Menschen und über Würste weiß. Frau Nga bezieht ihre onymen Systemgastronomen und die Maschinen, östlich des Zentrums Ware über Importhäuser, die sogar schwar- smarten Entwickler von Immobilien- und schneidet der Rote Fluss seine breite Dia- ze Trüffeln aus französischen Eichenwäl- sonstigen Fonds ihre Breschen noch nicht gonale in die Stadt, durch ihre Straßen dern binnen Tagesfrist an Hanoier Haus- schlagen durften. Aber Vietnam drängt jetzt in die Weltaber fluten die Zweiräder, Mopeds, Mo- türen liefern könnten. „Au Délice“ agiert global und im handelsorganisation (WTO) . Das Land will tor- und Fahrräder. Wer immer den Gehsteig verlässt, steigt in den Verkehr wie in Heute. Aber der Laden fühlt sich dem mitmachen im Rattenrennen der Globalieinen Strom, alles fließt, tags wie nachts, es Gestern verpflichtet, als würde hier im sierung, man erhofft sich Gewinne, ohne ist ein langer, ruhiger Fluss, Tempo 30, 35, Alleingang das gute Erbe der Franzosen immer an den Preis zu denken, man erkaum Autos darin, kaum Laster, kaum angetreten, die bis 1954 Herren waren über hofft sich, in Hanoi, nach dem SozialisVietnam. Sie brachten, zwiespältig ist mus, eine Art Kapitalismus mit menschHektik. Sie fahren zu zweien, zu vieren, ein alle Geschichte, Unrecht und Leid, aber lichem Antlitz. Helm ist nirgends zu sehen, ganze Fami- auch Brot, Wein und Esskultur. Das war Aber die Vorboten der neuen Zeit sind lien fahren auf zwei Rädern herum, mit zu Zeiten, als Globalisierung noch Kolo- gesichtslos. Es sind Zweckbauten, die weiter draußen vom Zentrum in die Gegend Säuglingen zwischen sich auf die Sitz- nialismus hieß. bank geschnallt, Verliebte gewürfelt liegen, an Ausfallstraßen, wo schon das Auto wiegen sich im Takt der regiert und nicht mehr FahrKurven, junge Frauen zeiräder und Mopeds. Es finden gen kerzengerade Haltung. sich dort erste Super-HyWie ein Schwarm schöner per-Märkte, ein Metro-Markt Fische bewegt sich die Flotte, und das ist nicht anders darunter, groß wie ein Bahnhof, gefüllt mit internatioan der Han-Thuyen-Straße, wo sich, in einem Eckladen, naler Ware, die dem heimischen Angebot überflüssig alte und neue Globalisierung Konkurrenz macht. In einem vereinen. Eisschrank bei Metro stapeln „Au Délice“ heißt der Ort, der sich seltsam anfühlt, sich gefrostete Hühner aus besonders dann, wenn vor Brasilien, transportiert einden Türen die tropische mal um die halbe Welt herHeißluft steht, geschwängert um, importiert in ein Land, von nasser Feuchte. Im Innedas selbst acht Millionen kleiren finden sich üppige, kühne Hühnerfarmer in seinen le Käsetheken, bestückt mit Provinzen zählt. Wie viele Roquefort und Reblochon, werden es morgen noch sein? mit Beaufort und Brie de Es geht bald nicht mehr, in Meaux, es finden sich RäuHanoi, um ein paar Flaschen cherfische aus Norwegen und edlen Weins, ein paar KäseHolland, Rollmöpse, Matjes, exoten, ein paar Würste, wie mitten in Asien. sie Frau Ngas Laden im AnEs gibt Chorizo und Bre- Ladenbesitzerin Nga: Kapitalismus mit menschlichem Antlitz gebot hat. Die neureichen saola, es gibt Schinken aus Vietnamesen, die sich bei ihr Die neue, heutige Globalisierung ist etwas gönnen, werden bald eingeladen Bayonne und Parma, die Hälfte der Namen ist falsch buchstabiert, aber das tut noch sehr schwach in Hanoi, eigentlich ist werden in den Welt-Supermarkt, der an nicht mehr weh, acht-, neuntausend Kilo- sie so gut wie unsichtbar. Wer noch eine allen Ecken seine Filialen eröffnet, wenn meter von den Produzenten entfernt. Es Stadt erleben will, eine schöne, lebendige erst die WTO ihre Regeln auch in Vietnam gibt getrüffelte Olivenöle aus der Toska- Stadt, in deren Straßen kein McDonald’s durchsetzen darf. na, Balsamessig aus Modena, Senf aus zu sehen ist, kein Burger King, kein KenHanoi wird dann bunter werden auf den Dijon, es gibt belgische und Schweizer tucky Fried Chicken, kein Starbucks, eine ersten Blick, die Werbeschriften größer, Luxusschokoladen, tschechisches, irisches Stadt, wo die Menschen zu überleben die Schaufenster breiter. Das wird ausseBier, es gibt lange Weinregale, gefüllt mit scheinen ohne Supermärkte, ohne Shop- hen wie reiner Gewinn. Aber von den raren, teuren Flaschen. Es gibt Dinge, im ping-Malls, ohne kathedralengroße Tank- Straßen werden erst die Fahrräder, dann „Au Délice“, im sozialistischen Hanoi, die stellen, der muss Hanoi besuchen, und er die Mopeds verschwinden. Dann werden man in vielen kapitalistischen Städten ver- muss es bald tun. immer mehr Autos im Strom schwimmen Er kann dort erleben, wie sich eine asia- wie zu dick geratene Fische. Und Hanoi gebens suchen würde. Frau Nga ist die Chefin. Sie war mit ei- tische Stadt ihr europäisches Erbe glücklich wird anders sein, bald, kolonisiert auf ein nem Belgier verheiratet, jetzt macht sie anverwandelt hat und wie human und be- Neues, aber freiwillig diesmal und ohne den Laden allein, mit einer Handvoll An- haglich sich so eine Stadt anfühlt, wenn sichtbaren Feind. Ullrich Fichtner 122 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Serie Ernte von Chinaschilf (in Mecklenburg), Choren-Raffinerie für Pflanzendiesel (in Freiberg): Hoffnungsschimmer für die mobile Gesellschaft Der Kampf um die Rohstoffe (4) Wer mitspielen will im weltweiten Monopoly um Macht und Wohlstand in der globalen Wirtschaft, braucht vor allem Energie – doch die fossilen Ressourcen werden immer knapper. Im letzten Teil der Serie geht der SPIEGEL der Frage nach, ob und wann regenerative Kraftstoffe das Erdöl ersetzen können. Bohrtürme zu Pflugscharen Die erste greifbare Alternative zu den fossilen Brennstoffen bietet der Ackerbau. Aus Biomasse lässt sich am leichtesten Ersatz für Benzin, Diesel und Erdgas herstellen. Aussichtsreiche Verfahren sind schon im Einsatz. Die Vision vom Wasserstoffzeitalter hingegen verblasst. V or sechs Jahren eröffnete VW die „Autostadt“ in Wolfsburg. Es ist der eindrucksvollste Vergnügungspark, den die PS-Branche jemals um ihr Handelsgut errichtete. Die Metropole des Motorenkults bietet Kinos, Museen und lehrreiche Spektakel. Das interessanteste – und für das 124 Automobil womöglich bedeutendste – Ausstellungsstück ist ein durchsichtiger Kunststoffkasten. Sein Inhalt: ein Gemüsegarten. Über einen ferngesteuerten Roboterarm kann der Besucher hier Brunnenkresse aussäen – und acht Wochen später das Ergebnis abholen: ein Tröpfchen Diesel, von d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 der Konzernforschung aus der Salatbeigabe raffiniert. Zwei Meter, sagt VW, könne ein Traktor damit fahren; das ist kein großer Schritt für eine Landmaschine – doch ein zarter Hoffnungsschimmer für die mobile Gesellschaft, die mit zunehmender Sorge auf die globale Tankuhr blickt. JENS BÜTTNER / DPA (L.); BERTHOLD STEINHILBER / BILDERBERG (R.) Pflanzenfett ist dem Motor ebenso willkommen wie Erdöl, das wussten schon die Urväter des Maschinenbaus. „Wie sich herausgestellt hat, können Dieselmotoren ohne jede Schwierigkeit mit Erdnussöl betrieben werden“, erklärte der ingeniöse Erfinder Rudolf Diesel im Jahr 1912. Diesels Zeitgenossen schenkten solchen Fragen kaum Beachtung. Es war schwer vorstellbar, dass das Automobil einmal dazu taugen sollte, ein Ressourcenproblem zu kriegen. Knapp hundert Jahre später gibt es halb so viele Autos, wie damals Menschen leb- D ie bisher größte Anstrengung, fossilen Kraftstoff durch ein Pflanzenprodukt zu ersetzen, unternahm die deutsche 23 660 km Rapsdiesel 1300 Liter ten. 800 Millionen Kraftfahrzeuge bilden ein Heer von Spritschluckern und sind mit Abstand der größte Erdölverbraucher der Welt. Gut zehn Millionen Tonnen Öl pro Tag, mehr als die Hälfte der Weltproduktion, werden in Transportmitteln verbrannt. Diese Flotte auf nachhaltige Kost umzustellen wird eine der Herkulesaufgaben der industriellen Zeitenwende sein. Erdnussöl wird da nicht reichen. 91 % 2500 Liter Jahresertrag pro Hektar Effizienz gegenüber Diesel Effizienz gegenüber Benzin 33 000 km Bioethanol Reichweiten mit Bio-Kraftstoffen aus dem Jahresertrag eines Hektars Anbaufläche 75 330 km bei einem Verbrauch von 5 l/100 km 66 % 99 600 km SunDiesel (BtL) 4050 Liter Rapsölbranche. Im Laufe des vorigen Jahrzehnts mauserte sich die Initiative mittelständischer Einzelkämpfer zu einem veritablen Industriezweig. 1,9 Millionen Tonnen Rapsölmethylester, gewonnen aus dem Samen der gelbblühenden Feldpflanze, wurden 2005 in Deutschland den Autos als Futter verabreicht. Der Biodiesel, so die offizielle Handelsbezeichnung, gelangt teils als Beimischung in den konventionellen Kraftstoff, teils in reiner Form an inzwischen knapp 2000 Zapfstellen zu günstigeren Preisen in die Tanks. Nirgendwo sonst auf der Welt wurden bisher vergleichbare Mengen Biodiesel hergestellt. Das deutsche Rapsexperiment zeigt damit aber auch die Grenzen ökosauberen Wachstums auf. Gut eine Million Hektar, etwa ein Zehntel der gesamten bundesdeutschen Ackerfläche, werden inzwischen vom Rapsanbau belegt. Eine Ausweitung um weitere 500 000 Hektar ist aus Expertensicht möglich. Im günstigsten Fall wären also jährlich knapp drei Millionen Liter Biodiesel aus heimischen Äckern zu gewinnen. Dem steht jedoch ein aktueller Jahresbedarf der deutschen Bevölkerung von 130 Millionen Tonnen Mineralöl entgegen. Der Raps allein kann eine Industriegesellschaft nie und nimmer vom Erdöltropf befreien. Unabhängig von seinem spärlichen Ertrag ist Rapsdiesel ohnehin ein problembehafteter Saft: Für die Düngung der Felder und spätere Verarbeitung der Ernte wird extrem viel Energie verbraucht – und die macht einen Großteil des Einsparpotentials wieder zunichte. Zudem taugt Biodiesel allenfalls bedingt für den Einsatz in modernen Motoren. Seine chemische Zusammensetzung erschwert eine saubere Verbrennung und Abgasreinigung. Moderne Dieselmotoren mit hochfeinen Einspritzdüsen und Partikelfiltern werden gemeinhin nicht für den Einsatz von Rapsölmethylester freigegeben. Die Forscher des Mineralölkonzerns Shell zählen Rapsdiesel zu den pflanzlichen Kraftstoffen der ersten Generation. Bei dieser werden lediglich die Samen oder Knollen der Gewächse genutzt. „Das Resultat“, erklärt Wolfgang Warnecke, Leiter der weltweiten Kraftstoff- 93 % Biomethan 3560 kg 140 % d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 125 Serie entwicklung bei Shell, „ist erstens kein hochwertiger Kraftstoff, zweitens steht seine Gewinnung in unmittelbarer Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion. Und beides wollen wir nicht haben.“ Shell setzt deshalb verstärkt auf die Entwicklung von Biokraftstoffen der zweiten Generation. Diese werden aus den Pflanzenteilen gewonnen, die in der Landwirtschaft bisher vorwiegend als Abfall anfielen: etwa Stroh von Getreide oder die Stengel von Sonnenblumen. „Bei diesen Verfahren“, sagt Warnecke, „droht keine ethische Schieflage, und die KohlendioxidBilanz ist nahezu neutral.“ iner der ersten Biokraftstoffe, deren Herstellungsverfahren an der Schwelle stehen, den Sprung von der ersten zur zweiten Generation zu machen, ist eine Substanz, die dem Menschen schon seit Jahrtausenden als Rauschmittel dient: Alkohol. Nikolaus August Otto befeuerte einen Vorläufer des später nach ihm benannten Ottomotors um 1860 mit diversen Sprittypen, die der Handel anbot. Einer davon war Ethylalkohol, damals weit verbreitet als Brennstoff für Lampen. Die amerikanischen Autopioniere Henry Ford und Charles Kettering, damals Forschungschef von General Motors, sahen schon während der dreißiger Jahre ein enormes Potential im Schnapssprit und wollten ihre Autos gern mit dem Gärprodukt amerikanischer Ackerfrüchte füttern. In einem flammenden Appell setzte sich auch Francis Garvan, damals Präsident der HEINZ TEUFEL / AGENTUR FOCUS E Rapsanbau (in Schleswig-Holstein): Problembehafteter Kraftstoff mit spärlichem Ertrag ßere Ölfelder entdeckt – vor allem in Arabien. Der fossile Kraftstoff erwies sich als die billigere Wahl – und die westlichen Industrienationen marschierten stramm in die totale Abhängigkeit von Importen. Nur ein einziges Land ging einen Sonderweg und setzte offensiv auf Alkohol im Tank: Brasilien. Etwa 40 Prozent seines Kraftstoffbedarfs deckt das südamerikanische Land heute mit Bioethanol, einer Form von Alkohol. Das tropische Klima lässt dort Alkoholgewinnung aus Holz Zuckerrohr als Rohstoff für die Ethanol-Gewinnung in gigantischen Säure und Enzyme spalMengen emporsprießen – was nicht Holz ten unter Hitze die aus unbedingt ein Segen für die örtlidem Holz stammenden che Umwelt ist. Millionen Hektar Cellulosemoleküle in TrauUrwald mussten bereits den Plantabenzucker (Glukose) auf. gen für Autofutter weichen. In Europa und Nordamerika gewinnt man Ethanol vorwiegend aus Cellulose Feldfrüchten wie Weizen, Roggen Lignin, ein Holzbestandoder Mais. In Deutschland haben teil, wird abgetrennt und Firmen wie Südzucker inzwischen Glukose geht zur Verbrennung in Schnapsraffinerien in Betrieb geein Holzkraftwerk. nommen. All diese Unternehmen arbeiten noch mit HerstellungsmeDie verbleibende ZuckerlöHefe thoden der ersten Generation. Die sung wird in einem Kessel Erträge würden niemals reichen, mit Hefe zusammengeum nennenswerten Ersatz für Benbracht und fermentiert. Dabei entsteht Alkohol. zin zu schaffen. Erst seit wenigen Jahren arbeiten Forscher an leisBei der Destillation tungsfähigen Verfahren zur Umwird das restliche wandlung von Stroh und Holz in Wasser abgeschieEthanol. Wasser den. Anlagen dieser Art befinden sich noch im Forschungsstadium, teilAls Endprodukt weise mit Unterstützung der Ölentsteht Ethanol. multis. Shell hat sich in Kanada an dem Ethanol-Produzenten Iogen Bioethanol-Anlage der Südzucker AG (in Zeitz): Zarte Pflanze im weltweiten Kraftstoffgeschäft Chemical Foundation, für Alkoholsprit ein: „Es heißt, wir haben ausländisches Öl“, erklärte Garvan 1936 während einer Konferenz im Ford-Heimatort Dearborn bei Detroit. „Es liegt in Persien und in Russland. Glauben Sie, damit können Sie Ihre Kinder verteidigen?“ Doch die Alkohollobby konnte sich nicht durchsetzen. Zu rasch wurden immer grö- MARTIN GEENE / VARIO-IMAGES Bioethanol 126 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 beteiligt, einem der Pioniere dieser jungen Branche. Politiker und Ingenieure aller Industrieländer sind inzwischen gleichermaßen von der Idee berauscht, Autos mit Alkohol anzutreiben, der im Grunde aus Abfällen hergestellt wird. In Schweden soll Bioethanol sogar das Schlüsselelixier sein, mit dem sich das Nordland vom Jahr 2020 an vollkommen vom Erdöl unabhängig machen will. Auch die Regierung der Vereinigten Staaten sieht im Bioethanol jenen Kraftstoff der Zukunft, mit dem der ultimative energetische Befreiungsschlag gelingen soll. US-Präsident George W. Bush erklärte erst kürzlich: „Wir wollen, dass die Leute mit Treibstoff fahren, der in Amerika wächst.“ Zu den großen Vorzügen des Alkohols zählt seine Ähnlichkeit mit Benzin. Bis zu fünf Prozent lassen sich dem konventionellen Sprit beimischen, ohne dass am Motor des Fahrzeugs etwas verändert werden muss. In Europa verfügbar sind derzeit Mischverhältnisse mit bis zu 85 Prozent Alkoholanteil. Ford und die schwedischen Hersteller Volvo und Saab bieten bereits Modelle an, deren Motoren den neuen Kraftstoff namens E85 vertragen. Die Veränderungen an der Motorsteuerung sind trivial, der Aufpreis beträgt nur einige hundert Euro. In Südamerika fahren Autos sogar mit reinem Ethanol. Allerdings steigt mit dem Alkoholanteil im Tank auch der Verbrauch des Motors; denn im Schnaps stecken nur etwa zwei Drittel des Energiegehalts von Benzin. Noch sind die heimischen Ethanol-Produzenten zarte Pflanzen im weltweiten Kraftstoffgeschäft. Während Brasilien bereits zehn Millionen Tonnen Bioethanol pro Jahr herstellt, bringen es die drei Anlagen in Deutschland gerade mal auf etwa eine halbe Million Tonnen. „Die größte Herausforderung“, sagt Shell-Forscher Wolfgang Lüke, „wird darin bestehen, wirklich nennenswerten Ersatz zu schaffen.“ Welches Potential aber hat der alkoholische Hoffnungsträger wirklich? Nach Berechnungen der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR), dem Kompetenzzentrum des deutschen Landwirtschaftsministeriums in Sachen Biosprit, lassen sich aus dem Kornertrag eines Hektars heimischer Getreideäcker 2500 Liter Ethanol gewinnen. Ein Liter ersetzt 0,66 Liter Ottokraftstoff. Bleibt also eine reale Substitution von 1650 Litern. W eit größere Hoffnungen nährt eine Technologie, die sich noch im Entwicklungsstadium befindet: Sie heißt „SunDiesel“ und wird derzeit im sächsischen Freiberg erprobt. Dort ersann der gelernte Steinkohlehauer und auf dem zweiten Bildungsweg d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 127 Serie zum Ingenieur veredelte Visionär Bodo Wolf eine Methode, die aus Holz und anderen organischen Substanzen die Entstehung der fossilen Rohstoffe im Zeitraffer nachvollziehen soll. Die Schlüsselerkenntnis, auf deren Grundlage er schon zu DDR-Zeiten sein Verfahren ausbrütete, manifestiert sich in einer simplen Wahrheit: „Öl, Gas und Kohle – das ist alles Sonnenenergie.“ Das gesamte Kraftfutter des Industriezeitalters ist das Resultat blühenden Lebens der Urzeit, das infolge tektonischen Ungemachs zügig unter der Erde verschwand, ehe es an der Luft vermodern konnte: Wälder wurden zu Kohleflözen, trockengefallene Lagunen voller Algen und Meeresgetier zu Öl- und Gasfeldern. Unter enormem Druck und hohen Temperaturen bildeten sich aus den Kohlenwasserstoffen der früheren Lebewesen die festen, flüssigen und gasförmigen Energieträger. W olf hat eine Methode entwickelt, genau diesen Prozess nachzuahmen und dabei gewaltig zu beschleunigen. Was die Natur in Jahrmillionen bewerkstelligte, erledigt das von Wolf patentierte „CarboV-Verfahren“ in wenigen Stunden: Holz, Stroh und jede andere Form getrockneter organischer Substanzen wird in einer Apparatur von Brennern und Katalysatoren in ein Synthesegas verwandelt. Aus diesem gewinnt ein Fischer-TropschReaktor, wie auch bei der schon länger praktizierten Kohle- und Erdgasverflüssigung, Dieselkraftstoff (siehe Grafik Seite 130). Das von Wolf gegründete Unternehmen nennt sich Choren. Die ersten drei Buchstaben stehen für Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) – die Grundbausteine organischen Lebens und jeglicher konventioneller Energie; die letzten drei Buchstaben stehen für „renewable“, also erneuerbar. Der Gründer ist inzwischen im Ruhestand. Um sein Erbe rankt sich ein Kompendium hochmögender Industriekonzerne. DaimlerChrysler und Volkswagen fungieren schon seit drei Jahren als Entwicklungspartner. Im vergangenen Sommer beteiligte sich Shell an Choren. Die Erwartungen sind enorm, obgleich die Freiberger Dieselbraukunst von der Feuertaufe des ersten kommerziellen Einsatzes noch ein gutes Stück entfernt ist. Bisher läuft lediglich eine kleine Forschungsanlage. Erst im kommenden Jahr, weit später als anfangs geplant, soll die zweite, weit größere Apparatur in Betrieb gehen und 15 000 Tonnen SunDiesel pro Jahr produzieren. Noch später soll die erste Großraffinerie im vorpommerschen Lubmin auf einen Jahresausstoß von 200 000 Tonnen kommen. Der gefährlichste Widersacher auf dem Weg dahin ist möglicherweise der Staat. Die wachsende Produktion von Biokraft- 128 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 stoffen hat inzwischen fiskalische Begehrlichkeiten geweckt. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) kündigte bereits an, Biokraftstoffe bald, ähnlich wie Mineralöl, besteuern zu wollen. Dieser Kostendruck könnte dazu führen, dass die unergiebige Billiglösung Rapsöl überlebt, während aussichtsreichere Techniken, die noch in der Forschung stecken, auf dem Weg zur Marktreife verhungern. Europas Autoindustrie setzt dennoch enorme Hoffnungen in SunDiesel. Dieselmotoren sind wegen ihrer enormen Sparsamkeit die zentrale Trumpfkarte der Branche, allerdings haftet ihnen noch immer der Makel schlechter Abgasqualität an. Das Rußpartikelproblem ist durch Filtertechniken inzwischen gelöst. Was bleibt, ist der höhere Stickoxidausstoß, der sich nur mit weiteren Investitionen, etwa in Harnstoffkatalysatoren, bändigen lässt. Der neue Kraftstoff könnte Abhilfe bringen: SunDiesel ist wesentlich sauberer als die etablierte Variante auf Erdölbasis, vollkommen ungiftig und frei von Aromaten. Ohne weitere Nachbehandlung der Abgase würde sein Einsatz den Schadstoffausstoß erheblich senken. Zudem verspricht Kraftstoff von der Choren-Sorte, auch BtL („Biomass to Liquid“) genannt, eine phantastische Effizienz, wenngleich der Beweis dafür im kommerziellen Einsatz noch nicht erbracht wurde. Die FNR-Experten schätzen die jährliche Ausbeute pro Hektar auf etwa 4000 Liter SunDiesel – das wäre der dreifache Ertrag von Rapsöl und etwa der doppelte von Ethanol. Doch es lässt sich sogar noch mehr aus Biomasse herausholen. Der Rohstoff Holz ist ein erstklassiger Energielieferant, vor allem, wenn er nicht Autos mobil macht, sondern Strom und Wärme liefert. Thomas Nussbauer, Ressourcenexperte und Dozent an der ETH Zürich, erteilt dem baumbasierten Biokraftstoff für den Straßenverkehr eine klare Absage. In einem Aufsatz für das Holz-Zentralblatt plädiert er nachdrücklich dafür, Baumreste in den Ofen und nicht in den Tank zu stecken. Bei der Wärmeerzeugung lasse sich Holz ebenso effizient nutzen wie fossile Brennstoffe. Bei der Umsetzung in Kraftstoff blieben dagegen bestenfalls drei Viertel des Energiegehalts übrig. Michael Deutmeyer, verantwortlich für das Biomasse-Management bei Choren, immer am Erdöltropf. Versuche, es mit Strom anzutreiben, sind nachhaltig gescheitert. Auch die aktuellen Verbesserungen der Batterietechnik für Hybridfahrzeuge lassen kaum hoffen, dass gebrauchstüchtige Elektromobile in absehbarer Zeit serienreif sein könnten. Ein Tank voller Sprit, der für Hunderte von Kilometern reicht und sich in wenigen Minuten nachfüllen lässt, ist bislang durch nichts zu ersetzen. Mit Biomethan aus vergorenem Energiemais lassen sich pro Hektar und Jahr nahezu 5000 Liter Benzin ersetzen – das ist Weltrekord. stellt die Richtigkeit dieser Rechnung nicht in Frage. Dennoch verfehle diese die eigentliche Problemstellung. Im Bereich der Wärme- und Stromproduktion gebe es heute schon zahlreiche Möglichkeiten, sich von fossilen Energieträgern zu befreien: „Geo- und Solarthermie, bessere Isolation, Wind- und Wasserkraft bilden ein breites Spektrum einsatzreifer Techniken. Beim Verkehr gibt es dagegen außer den Biokraftstoffen noch keine wirksame Alternative zu fossilen Energieträgern.“ Auf Gedeih und Verderb hängt das Auto noch A llerdings muss der Tankinhalt nicht unbedingt flüssig sein: Die bisher beste Alternative zu fossilem Benzin und Dieselkraftstoff ist gasförmig. Sie kommt ebenfalls vom Acker und wird mit einer ebenso simplen wie bewährten Methode schon heute hergestellt. Methan aus vergorener Biomasse hat nach den Berechnungen der FNR-Experten derzeit das größte Potential. Pro Hektar und Jahr lassen sich aus Energiemais 3560 Kilogramm Methan gewinnen. Die könnten wiederum fast 5000 Liter Benzin ersetzen – Weltrekord. Das Verfahren gleicht äußerlich dem der Herstellung von Ethanol und ist wie dieses weit simpler als die hochkomplexe BtLProzedur: Das Erntegut muss nicht getrocknet werden, sondern verwandelt sich in einem großen Bottich von feuchter Pampe in den begehrten Kraftstoff (siehe Grafik Seite 131). Die Anlagenbauer haben sich das Prinzip des Verdauungssystems von Rindern und anderen Grasfressern zu Eigen gemacht – mit allen bewährten Vorteilen des natürlichen Kreislaufs von Wachstum, Fressen, Ausscheiden und Wiederverwertung als Dünger. Biogasanlagen verarbeiten ein breites Spektrum von Pflanzensorten und erlauben somit einen bodenschonenden Variantenreichtum. Und sie produzieren ihren eigenen Dünger: Die Reste lassen sich wie Kuhdung zurück auf die Felder streuen. Die Biogasbranche hat sich bislang vorwiegend auf Stromerzeugung verlegt. Direkt auf den Gehöften treibt das gewonnene Gas über Verbrennungsmotoren Generatoren an, die Strom ins Netz speisen. Die mittlere Ausbeute ist zwar, gemessen am Landverbrauch, weit geringer als etwa bei Windrädern oder Solarkraftwerken. Dafür haben die Energiebauernhöfe einen Vorteil, den die Netzbetreiber sehr schätzen: Sie liefern konstant Strom, auch bei Nacht und bei Flaute. In den kleinen Blockheizkraftwerken macht das gewonnene Biomethan also nichts anderes, als es auch im Automobil tun würde: Es treibt Motoren an. Auch für den Betrieb von Erdgasautos taugt es hervorragend. Doch bisher zögert die Branche, den gewonnenen Treibstoff der Mobilität zu spenden. Nur vereinzelt wurden Biogas- d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 129 BILDAGENTUR WALDHAEUSL folgsaussichten dieser Alternative: Die BPTochter Aral fördert beharrlich den Ausbau des Gastankstellennetzes – gerade wegen des enormen regenerativen Potentials von Biogas. Die Shell-Experten sehen in der Initiative dagegen nur eine Nischenlösung etwa für Flottenbetreiber und favorisieren die Umwandlung von Erdgas in Flüssigkraftstoff. „Die größten Fehler, die wir bei der Suche nach Alternativen machen können, sind voreilige Experimente mit der Infrastruktur“, warnt Shell-Forscher Wolfgang Lüke. Aussicht auf unmittelbaren Erfolg haben aus seiner Sicht nur alternative Spritsorten, die sich den konventionellen Kraftstoffen beimischen lassen. Ethanol und SunDiesel erfüllen genau diese Forderung. Die Energiesäfte des postfossilen Zeitalters, prophezeit der Shell-Experte, werden in langsam zunehmender Menge in bestehende Kraftstoffe hineinfließen und die Erdöl-Ära Tröpfchen für Tröpfchen dem Ende zuführen. Ein komfortabler Prozess, Mischwald: „Öl, Gas und Kohle – das ist alles Sonnenenergie“ der unauffällig begonnen hat und von dem tankstellen, etwa in Deutschland und zeptable Reichweiten. Das Verstauen aus- der Verbraucher (abgesehen von meist Schweden, eröffnet. Es mangelt an Ab- reichender Druckflaschen ist in den meis- fruchtlosen Polit-Debatten) gar nichts mitnehmern. Schon die Verfeuerung des fos- ten Fahrzeugen noch immer technisch un- bekommt. Andererseits erscheint es ratsam, die silen Brennstoffs Erdgas kommt kaum vor- möglich. So blieb der Durchbruch des steuan. Seit Jahren kämpfen die Gasversorger erlich geförderten und deshalb extrem bil- Geschwindigkeit dieses Prozesses nicht zu und Hersteller von Erdgasautos (feder- ligen Alternativkraftstoffs bis heute aus. In überschätzen. Dünnbesiedelte Länder wie das nach Ölabstinenz trachführend sind Opel, Volvo und Fiat) mit tende Schweden oder auch spärlichem Erfolg um Akzeptanz. Teure Der Energiegehalt der Vegetation, die laufend der jäh von ProblembeUmbauten an Fahrzeugen und Infrastrukauf der Erde nachwächst, übersteigt den aktuellen wusstsein durchdrungene tur bremsen das Vorhaben. Öljunkie USA verfügen Eine Erdgaszapfstelle kostet mit dem Bedarf der Menschheit um den Faktor acht bis zehn. zwar durchaus über landnötigen Druckspeicher etwa 200000 Euro – wirtschaftliche Nutzflächen, etwa das Vierfache von Benzin- oder Dieselstationen. Die Autohersteller verlangen Deutschland, wo mit großem Optimismus die eine Industrienation mit dem Enerfür ihre Erdgasmobile Aufpreise von 2000 inzwischen über 650 Zapfstellen für den gieträger Biomasse zumindest zu großen bis 4000 Euro. Die Ausrüstung mit Druck- flüchtigen Brennstoff errichtet wurden, sind Teilen ernähren könnten. In Mitteleuropa tanks fordert ihren Preis. gerade mal 30 000 Erdgas-Pkw zugelassen. hingegen ist diese vegetarische VollverAußerdem haben nur sehr wenige der So streiten sich auch bei den Mineral- sorgung der Automobile nicht annähernd bisher angebotenen Erdgasfahrzeuge ak- ölkonzernen die Experten über die Er- möglich. SunDiesel „Biomass to Liquid“ (BtL) – Herstellung synthetischen Kraftstoffs aus Biomasse am Beispiel des ChorenVerfahrens Niedrigtemperatur-Vergaser Brennkammer Partikelfilter Bei 400 bis 500 Grad wird die Biomasse in Schwelgas verwandelt. Der zurückbleibende Holzkohlestaub wird später in die Brennkammer eingeblasen. Bei Temperaturen oberhalb von 1400 Grad verbrennt das teerhaltige Schwelgas. Das Rohgas wird entstaubt. Rekuperator Schadstoffe wie Chlor und Schwefel werden beseitigt. Das Rohgas wird gekühlt. Fischer-Tropsch-Reaktor Schwelgas Holzschnitzel Sauerstoff Gasreinigung Sauerstoff Über Katalysatoren wird das Gas in flüssigen Kraftstoff verwandelt. Synthesegas Katalysator Holzkohlestaub Rohgas Rohgas Schlacke Restkoks, Asche, Staub 130 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Abwasser Wasserkreislauf Kraftstoff I n den Szenarien der Agrarbranche werden Bohrtürme zu Pflugscharen. Die ehemalige grüne Landwirtschaftsministerin Renate Künast kürte die Bauern schon zu den „Ölscheichs von morgen“. Nur um jenes Wundergas, das einige Autokonzerne beharrlich als künftiges Elixier sündenfreier Mobilität beschwören, ist es verdächtig still geworden: Wasserstoff. Das leichteste Element des Periodensystems galt den Ingenieuren lange als globaler Kraftquell des postfossilen Zeitalters. Mit Solar- oder Windstrom aus Wasser erzeugt, sollte das knallfreudige Gas ein Energieträger ohne Grenzen werden – blitzsauber und schier unendlich reproduzierbar. Die Autokonzerne investierten Milliarden in die Entwicklung von Prototypen. Omnibusse und Pkw mit Brennstoffzellen, die Wasserstoff nahezu schadstofffrei und enorm effizient in Fahrstrom umwandeln, juckeln allerorten einher. Auch Verbrennungsmotoren lassen sich mit Wasserstoff betreiben. BMW entwickelte einen Zwölfzylinder-Rennwagen für diesen Kraftstofftyp und überschritt in einer drolligen Ökorekordfahrt die 300km/h-Marke. Mercedes wollte bereits im Jahr 2004 Brennstoffzellenautos in den Handel bringen. Doch davon ist nun keine Rede mehr. Inzwischen nennt DaimlerChrysler das Jahr 2015 – und wird wohl auch diese Zahl wieder korrigieren müssen. Es fehlt nicht an Autos, die den Wasserstoff schlucken könnten – es fehlt am Wasserstoff selbst. Nirgendwo auf der Welt sind auch nur Ansätze von Vorhaben erkennbar, im industriellen Maßstab aus Ökostrom das ökosaubere Gas zu gewinnen. Sogar Shell, einer der aufgeschlossensten Konzerne der Mineralölbranche, bemüht bei dem Thema den Konjunktiv: „Wasserstoff könnte der endgültige Kraftstoff sein“ steht auf einem der Schaubilder, die Entwicklungsleiter Warnecke zu dem Thema aushändigt. Die größte Hürde, so der Shell-Mann, sei die Unverträglichkeit mit den bestehenden Kraftstoffen: „Ethanol und BtL mischen wir ganz einfach bei. Mit Wasser- VOLKER LISTL / ARGUM Laut FNR-Prognose stehen im Jahr 2020 knapp 3,5 Millionen Hektar deutscher Ackerfläche für den Anbau von Energiepflanzen bereit. Bei optimistischer Einschätzung der technischen Entwicklung ließe sich auf diesem Boden ein Viertel des im deutschen Straßenverkehr benötigten Kraftstoffs herstellen. Weltweit jedoch, sagt FNR-Experte Birger Kerckow, „ist das Biomasse-Potential enorm“. Tatsächlich übersteige der Energiegehalt der Vegetation, die laufend auf der Erde nachwächst, den aktuellen Bedarf der Menschheit um den Faktor acht bis zehn, lehrt Konrad Scheffer, Professor am Institut für Nutzpflanzenkunde der Universität Kassel/Witzenhausen. Biogasproduktion (in Bayern): Energieernte nach dem Verdauungsprinzip von Rindern Biomethan Gasgewinnung aus Energiemais FERMENTER GASSPEICHER Gas Energiepflanzen Unter Luftabschluss zersetzen Bakterien die Biomasse und erzeugen Biogas Heizung stoff müssten wir komplett zu einer neuen Infrastruktur springen.“ Und diese wäre um ein Vielfaches aufwendiger als die für Erdgasautos. Wasserstoff muss entweder zur Verflüssigung auf 253 Grad unter null abgekühlt oder gasförmig auf 700 bar (das Dreieinhalbfache des derzeitigen Erdgasdrucks) verdichtet werden, damit ein Auto mit einer Tankfüllung auf akzeptable Reichweiten kommt. Die bestehende Erdgasinfrastruktur wäre für einen Wasserstoffvertrieb demnach vollkommen untauglich. Unabhängig von wirtschaftlichen Hindernissen wird auch der reine Umweltnutzen selbst von solchen Fachleuten skeptisch bewertet, die der Erdölbranche nicht nahe stehen. Zur sauberen Wasserstoffgewinnung bedarf es eines schieren Überflusses an Ökostrom. Und den gibt es bisher allenfalls im Geothermie-Paradies Island und dem wasserkraftstrotzenden Paraguay. So untersuchte das Wuppertal-Institut die Chancen und Risiken eines forcierten Einstiegs in eine Wasserstoffwirtschaft. Dieser, so das ernüchternde Resümee, sei „in den nächsten 30 bis 40 Jahren ökologisch nicht sinnvoll“. Durch direkte Einspeisung ins Netz könne der regenerativ gewonnene Strom weit effektiver eingesetzt werden. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Biodünger Hauptbestandteile des Biogases: 50 bis 75 % Methan 25 bis 45 % Kohlendioxid Sollte in der Mitte des 21. Jahrhunderts aber doch noch eine ebenso saubere wie gigantische Produktion von Wasserstoff beginnen, endet dieses Gas womöglich gar nicht direkt im Tank von Brennstoffzellenautos. Dankbare Abnehmer wären etwa die Produzenten von pflanzlichen Kraftstoffen. Bei der Herstellung des BtL-Diesels herrscht akuter Wasserstoffmangel. Durch eine Einspeisung der reaktionsfreudigen Substanz in den Choren-Prozess ließe sich der Gesamtausstoß der Anlagen nahezu verdoppeln. Das Ergebnis wäre eine vollkommen regenerative Prozesskette, die dem Vorbild von Jahrmillionen Erdgeschichte folgt: Wasserstoff ist ein ausgesprochen heiratswilliges Element. Nur in Verbindung mit Kohlenstoff bildet es den Grundbaustein organischen Lebens – und der daraus resultierenden Energieressourcen Erdöl und Erdgas. „Die Natur“, sagt Choren-Gründer Wolf, „lässt den Wasserstoff nirgends in seiner reinen Form vorkommen. Es leuchtet nicht ein, warum die Industrie das anders machen sollte.“ Christian Wüst ENDE 131 Wissenschaft · Technik Prisma B O TA N I K Zarte Drinks für Osterglocken E in Gläschen verdünnten Wodkas für die Osterglocke, ein Spritzer Tequila im Gießwasser für die Tazette: Wer diese Form der Blumenpflege praktiziert, darf sich über kurze Stengel und Blätter nicht wundern – aber weiterhin über prachtvolle Blüten freuen. William Miller, Zwiebelpflanzenexperte von der amerikanischen Cornell University, hat herausgefunden, dass vier- bis sechsprozentige Alkohollösungen zwar das Wachstum unterhalb der Blüte einschränken, auf diese selbst jedoch keinen Einfluss haben. Eine nützliche Entdeckung: An Narzissen, die auf herkömmliche Weise allein mit Wasser gegossen werden, haben Blumenfreunde bisher nur kurze Zeit Freude. Die Gewächse schießen in die Höhe, Stengel und Blätter werden schlaff und fallen auseinander – während die mit gestrecktem Hochprozentigen wie Gin, Wodka, Whisky, Rum, Tequila oder Korn versorgten Artgenossen klein, straff und kompakt bleiben. Drinks wie Wein und Bier dagegen schaden den Blumen; sie enthalten zu viel Zucker. In diesem Frühjahr möchte Miller seine Versuchsreihe ausdehnen und Gemüsesorten wie Tomate oder Paprika ein paar Kurze gönnen. ARCHÄOLOGI E CARLOS SPOTTORNO Brettspiel im Grab CORNELL UNIVERSITY S pielten vor Tausenden von Jahren die Pharaonen bereits Backgammon? Inwieweit sich die Spielregeln glichen, darüber streiten die Gelehrten – sicher ist jedoch: Bei dem, was Archäologen jetzt bei Ausgrabungen in den Ruhestätten zweier altägyptischer Adliger fanden, handelt es sich um Teile eines SenetSpiels. Von früheren Funden ist bekannt, dass es, ähnlich wie Backgammon, ein Wettlaufspiel mit Würfel und Figuren war; allerdings mussten die Spieler drei Reihen à zehn Felder überwinden. Das Spiel symbolisierte den Weg der Seele Königin Nefertari beim Senet, neuentdeckte Senet-Teile des Toten hin zu Osiris’ Unterwelt und sollte im Jenseits für Kurzweil sorgen. Aus sieben Meter Tiefe hat das Team um den spanischen Ägyptologen José Manuel Galán das 3500 Jahre alte Senet aus Holz und Elfenbein zutage gefördert – es gilt als einer der bedeutendsten Funde aus den Gräbern von Djehuti und Heri, zweier hoher Beamter aus der Zeit der 18. Dynastie. Die Nekropole befindet sich im Westen der ehemaligen altägyptischen Hauptstadt Theben. Tazetten im Alkoholversuch PSYCHOLOGIE Hübsch muss er sein Z d e r s p i e g e l GERHARD / SILVESTRIS äh hält sich die Vorstellung einiger Evolutionsbiologen, dass sich das Weib auf Partnerjagd von Natur aus so verhalte wie Anna Nicole Smith: Hauptsache, der Kerl hat ein üppiges Portemonnaie. Alter, Glatze, Bauch – all das spiele kaum eine Rolle. Schließlich müsse die Frau einen Mann ergattern, so das Argument des Psychologen David Buss von der University of Texas, „der die Möglichkeit und den Willen hat, in sie und ihre Kinder zu investieren“. Doch die Psychologin Fhionna Moore und ihre Kollegen von der schottischen University of St. Andrews Fitnesstraining 1 6 / 2 0 0 6 bezweifeln die Vorstellung vom versorgungsbedürftigen Mäuschen auf Geldsacksuche. Die Forscher fragten mehr als 1800 heterosexuelle Frauen nicht nur nach den Traumeigenschaften ihres Märchenprinzen, sondern auch nach deren eigener finanzieller Unabhängigkeit, nach ihrer Bildung und danach, wie wichtig ihnen Karriere sei und wie viel Einfluss sie auf Entscheidungen daheim und im Job ausübten. Es stellte sich heraus: Je mehr die Frauen Geld und Leben im Griff haben, desto wichtiger ist ihnen der Look des Lovers – und umso unwichtiger dessen Konto. „Ab ins Fitnessstudio“, riet das britische Wissenschaftsblatt „New Scientist“ den Männern sogleich. „Und benutzt Feuchtigkeitscreme.“ 133 Wissenschaft · Technik U M W E LT Waldidyll mit Hirsch D as Reh ist die Frau vom Hirsch – das glauben fast zwei Drittel der Kinder zwischen 7 und 13 Jahren. Wenigstens können die meisten den Hirsch auf einem Foto identifizieren. Das Tier, obwohl selten in freier Natur zu beobachten, scheint bereits für die Kleinen eine Ikone deutschen Waldidylls zu sein. Den Spatz hingegen, der öfter vor ihren Augen herumhüpft, im Spielplatzsand badet oder Pausenbrotkrümel stibitzt, kann gerade mal jedes zweite Kind als solchen erkennen. Dies ergab eine Forsa-Befra- Prisma gung von mehr als 500 Schülern – der Auftraggeber, die Deutsche Wildtier Stiftung, wollte herausfinden, wie gut die Kinder über die heimische Fauna Bescheid wissen. Erstaunlich war dabei vor allem, dass die Wildgeschöpfe in der Schule zumindest ab der zweiten Klasse Antworten in Prozent Forsa-Umfrage unter Schülern in Deutschland „Welche der folgenden Wildtiere gibt es in Deutschland?“ 65 Wölfe Elche 21 Tiger 2 37 33 Wildschwein 49 Seeadler falsch 82 Fischotter Feldhase 55 Murmeltiere richtig oder überwiegend richtig „Welche der folgenden gehören zu den bedrohten Arten?“ 80 Kreuzspinnen offenbar kaum Thema sind: Die 7-Jährigen kennen sich bereits ebenso gut (oder schlecht) aus wie die 13-Jährigen. Vielleicht kann Ostern Anlass sein, den Kindern wenigstens zu vermitteln, dass der Feldhase zu den gefährdeten Tieren gehört – falls dies den Eltern bewusst ist. Reh 25 „Wo können Wildtiere in Deutschland überall vorkommen?“ Feldhasen „Wie heißt dieses Tier?“ von den Schülern anhand von Bildern identifiziert; in Klammern die als überwiegend richtig gewerteten Antworten Rothirsch 91 (Hirsch) 79 Schwarzspecht (Specht, Buntspecht) 55 Sperling, Spatz 98 in Wäldern 68 in Flüssen in Städten im tropischen Regenwald in Wüsten 35 25 20 Forsa-Umfrage vom 21. bis 30. März 2006, 519 befragte Kinder im Alter von 7 bis 13 Jahren MANFRED DANEGGER / OKAPIA TECHNIK MEDIZIN W er gestaunt hat, wie Tom Cruise in dem Science-FictionThriller „Minority Report“ mit den Gesten eines Dirigenten Daten auf gläsernen Bildschirmen aufleuchten und wieder verlöschen lässt, ahnt, wo Thomas Riedls Erfindung hinführen könnte. Der Physiker von der Technischen Universität Braunschweig hat es erstmals geschafft, farbige, aber völlig durchsichtige Pixel auf ein transparentes, aktives Display zu zaubern. Das wünschen sich zum Beispiel Autohersteller: So könnte, über Radarsensoren, dem Fahrer die Information über einen Radler im toten Winkel direkt ins Blickfeld gesendet werden. Solche Einblendungen etwa der aktuellen Ge„Minority Report“-Szene schwindigkeit auf die Frontscheibe lassen sich derzeit nur mit Hilfe sehr aufwendiger Projektionstechniken verwirklichen. Das Problem: In konventionellen Displays, zum Beispiel bei Handys, werden die einzelnen Bildpunkte mit Transistoren (TFT) aus Silizium angesteuert – das Halbmetall ist für sichtbares Licht völlig undurchsichtig. Riedls Trick: Er verwendet Transistoren aus Metalloxiden, etwa aus Zinkoxid, einem preiswerten Material, das auch in vielen Sonnencremes steckt. „Die sind nicht nur völlig durchsichtig, sondern transportieren auch noch den Strom ungefähr zehnmal besser“, schwärmt der Erfinder. 134 d e r Schwarzer Freitag im Krankenhaus uch wenn das Wochenende daheim locken mag – sich freitags nach Hause schicken zu lassen ist für KrankenA hauspatienten offenbar gar nicht gesund: Fast 15 Prozent von ihnen landen innerhalb des folgenden Monats erneut in der Klinik – gegenüber knapp 10 Prozent derer, die sonntags entlassen wurden. Dies ergab eine Studie der Gmünder Ersatzkasse, für die Forscher der Berliner Charité über 900 000 stationäre Behandlungsfälle aus den Jahren 1997 bis 2002 auswerteten. Das Wochenende zeigt sich auch vorteilhafter hinsichtlich der Sterblichkeit: Nur 3 bis 4 von 1000 Patienten, die samstags oder sonntags den Entlassungsschein erhielten, starben innerhalb der folgenden 30 Tage. Hingegen sind es montags bis freitags 8 von 1000. An Freitagen werden die meisten Patienten entlassen – wahrscheinlich, weil es am Wochenende an Personal mangelt. Möglich, dass der dadurch entstehende Stress weniger Zeit und Ruhe lässt, die scheidenden Patienten ausführlich zu beraten. Hinzu kommt: Apotheken, Ärzte und Pflegedienste stehen wochenends nur begrenzt zur Verfügung. Patient bei Entlassung s p i e g e l SUPERBILD Display zum Durchgucken 1 6 / 2 0 0 6 Wissenschaft Schülerinnen im „Gläsernen Labor“ (in Berlin): Erbsubstanz aus der Nektarine extrahiert NORBERT MICHALKE BILDUNG Die Gendetektive aus der 10d Eine wichtige Vertiefung des naturwissenschaftlichen Unterrichts vollzieht sich außerhalb der Klassenzimmer: In Schülerlabors an Universitäten und Instituten forscht die Jugend selbst. Für viele Schulen sind die Laborausflüge mittlerweile fester Bestandteil des Lehrprogramms. M it der modernen Genetik tun sich die Schüler vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium noch ein wenig schwer. „Wer hat die DNA entdeckt?“, fragt Biologe Axel Wessolowski, ein Modell der Doppelhelix in der Hand. Beherzt rät eine Schülerin: „War das nicht dieser Mendel?“ Im „Gläsernen Labor“ auf dem BioCampus in Berlin-Buch hören die Zehntklässler aus dem sachsen-anhaltinischen Salzwedel dann nicht nur die Geschichte vom Nobelpreis für die DNA-Pioniere James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins. In Zweierteams extrahieren die 136 Schüler später sogar eigenhändig Erbsubstanz aus einer Nektarine. Versuchsleiter Wessolowski assistiert beim ungewohnten Hantieren mit Pipette, Zentrifuge und den kleinen Eppendorfgefäßen. Als Nächstes muss ein fiktiver Verbrecher anhand seines genetischen Fingerabdrucks überführt werden. Die Jungen und Mädchen aus der 10d bekommen eine Probe der Erbsubstanz vom angeblichen Tatort, dazu drei DNA-Proben der „Verdächtigen“. Wie im forensischen Labor wird das Erbgut aufgespalten und mit Gel-Elektrophorese analysiert: CSI Berlin. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Im Agarose-Gel entspricht am Ende nur ein Muster dem genetischen Profil des Übeltäters. Der Fall ist gelöst, die 10 d begeistert. „Genetik steht bei uns gerade auf dem Lehrplan“, sagt Klassenlehrerin Carola Szebrat, „und was die Schüler selbst gemacht haben, bleibt viel besser hängen.“ Szebrat hat Mitte der achtziger Jahre studiert, in ihrer Ausbildung kam die moderne Molekularbiologie noch gar nicht vor. „Außerdem hätte ich an der Schule auch nicht die Ausstattung, um solche Versuche mit der Klasse zu machen.“ Der Ausflug zum Gläsernen Labor gehört inzwischen zum Standardprogramm ort. Für die Schüler ist es ganz wichtig, dass sie authentische Wissenschaft zu sehen bekommen und dass sie dabei ernst genommen werden.“ Lebensnahes Wissen ist auch gefragt, wenn nach Ostern wieder die Pisa-Tester durch die Lehranstalten ziehen. Den Schwerpunkt der dritten Runde der internationalen Schulleistungsstudie bilden diesmal die Naturwissenschaften. Wichtiger als Formeln und Fakten ist den PisaForschern die „Lösung von wirklichkeitsnahen naturwissenschaftlichen Fragestellungen“. In einer der möglichen Aufgaben Was Euler besonders verblüffte: Den Mädchen machten die Experimente ebenso viel Spaß wie den Jungen. „Offenbar interessieren sich Mädchen genauso für technische Fächer wie Jungs, wenn nur die Inhalte lebensnah vermittelt werden.“ „Die Lebenswissenschaften verändern sich heute so schnell, dass die Schulen kaum darauf reagieren können“, ergänzt Eulers Kollegin Dorothee Dähnhardt. „Die Schülerlabors bieten eine Dynamik, die das traditionelle Bildungssystem nie erreicht. Guten Unterricht können sie aber auf keinen Fall ersetzen.“ In vielen Schü- KARSTEN SCHÖNE (L.); BEN BEHNKE (R.) des Jahn-Gymnasiums: Neben Szebrats 10d waren gerade alle zehnten Klassen da – trotz der dreistündigen Anreise aus Sachsen-Anhalt. „Wir sind bis Jahresende ausgebucht“, sagt Laborchef Ulrich Scheller, „wir könnten sofort noch ein weiteres Labor eröffnen.“ Dabei haben die Berliner gerade erst einen zweiten hochmodernen Experimentierraum in Betrieb genommen. Das Gläserne Labor ist eines der ältesten Schülerlabors in Deutschland. „Als wir 1999 anfingen, wollten wir eigentlich vor allem für mehr Akzeptanz der molekular- Achtklässler im „DLR School Lab“ (in Köln), Gymnasiastin Vlada im „Offenen Labor“ (in Lübeck): Experimente mit flüssigem Stickstoff biologischen Forschung sorgen“, erklärt Scheller. Doch statt erwachsener Gentech-Skeptiker kamen vor allem die Schulklassen. „Mit einem solchen Ansturm hatten wir nicht gerechnet“, sagt der Biochemiker. Viele Lehrer melden sich am Ende ihres Besuchs gleich fürs nächste Schuljahr an. Pioniere wie das Gläserne Labor schufen die Grundlage für einen wahren Boom der außerschulischen Experimentierstätten. Inzwischen können sich Nachwuchsforscher in mehr als 200 Schülerlabors austoben – europäischer Rekord. Universitäten, Museen und Konzerne bieten eigens auf die jugendliche Klientel abgestimmte Experimente an. Die Zielgruppe reicht von der Vorschulklasse bis zum Leistungskurs, das Themenspektrum vom Käferzählen im Waldboden über Roboterbauen und Klimaforschung bis zu komplizierten molekularbiologischen Methoden. Mehr als 300 000 Kinder und Jugendliche tüfteln jährlich in den verschiedenen Schülerlabors, Tendenz steigend. Dem Schulunterricht haben die Lernorte meist nicht nur die moderne Ausstattung voraus, sagt Laborleiter Scheller: „Wir bieten Hightech-Forschung an einem Hightech-Stand- geht es um ein ähnliches Problem wie beim Versuch mit der Täter-DNA im Gläsernen Labor. „Obwohl naturwissenschaftliche Forschung viel Kreativität, Neugier und originelle Ansätze erfordert, gelten die entsprechenden Schulfächer oft als langweilig und trocken“, sagt der Physik-Didaktiker Manfred Euler vom Kieler Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften. Euler leitet den Dachverband „Lernort Labor“, der seit 2004 die Aktivitäten der Schülerlabors koordiniert, auswertet und über die insgesamt 2,3 Millionen Euro Fördermittel vom Bundesbildungsministerium wacht, mit denen etwa neue Labors eingerichtet werden können. Mit den Mitmachversuchen gelingt es augenscheinlich, das Image der ungeliebten Disziplinen aufzumöbeln: Lernforscher Euler und sein Team haben Besuchergruppen verschiedener Schülerlabors unmittelbar nach ihrem Besuch und noch einmal nach zwei bis drei Monaten befragt. Ergebnis: Fast die Hälfte stand den technischen Fächern nach dem ExperimentierExkurs dauerhaft positiver gegenüber, viele meinten, wissenschaftliche Sachverhalte nun besser zu verstehen. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 lerlabors können sich daher auch die Lehrer weiterbilden – und dann aktuelle Kenntnisse in die Klassenzimmer bringen. Im „DLR School Lab“ des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in KölnPorz beeindruckt schon die Kulisse. Mitten im Schülerlabor steht eine gewaltige Zentrifuge, mit der Astronauten für die extreme Beschleunigung beim Start ins All trainiert werden. Schüler dürfen nicht auf die Schleudervorrichtung – sehr zum Bedauern mancher Jungs aus der 8b von der Kölner Eichendorff-Realschule. Wie ein Luftballon in minus 196 Grad kaltem flüssigem Stickstoff zusammenschrumpelt, können Marcel, Malte, Julia und Jason immerhin selbst ausprobieren. Die extreme Temperatur soll die Bedingungen im Weltraum simulieren – ebenso wie der Mini-Fallturm und die Vakuumröhre, mit denen die Schüler ausprobieren, wie sich Schwerelosigkeit auswirkt. Das DLR bietet an sechs Standorten Schülerlabors an – auch um sich Nachwuchs zu sichern. „Langfristig werden wir zu wenig Ingenieure haben“, erklärt Laborchef Richard Bräucker, „da freuen wir uns natürlich, wenn sich nach einem Besuch bei uns einige Schüler für ein 137 Wissenschaft Studium im Bereich Luft- und Raumfahrt entscheiden.“ Für die Kölner Physiklehrerin Simone Kiesel ist es bereits der vierte Besuch im School Lab: „Hier erleben meine Schüler Wissenschaft einmal ohne die Fachgrenzen, die sie aus der Schule kennen.“ Im „Offenen Labor“ der Universität Lübeck („Lola“) steht ein reales Rätsel der Evolution auf dem Programm: Vier Schülerinnen aus Schleswig-Holstein, Siegerinnen bei der Biologie-Olympiade, wollen die Verwandtschaftsverhältnisse von Neandertaler und modernem Menschen ergründen. Vor mehr als 40 000 Jahren, so die Überlegung, hätten sich der Urmensch mit den Stirnwülsten und die ersten Vertreter der Gattung Homo sapiens im heutigen Europa zumindest begegnen können. Doch sind sie sich auch nähergekommen? Ist der heutige Mensch womöglich Ergebnis vorzeit- Der berühmte Anthropologe stellt den Schülern DNA vom Neandertaler zur Verfügung. licher Techtelmechtel zwischen Neandertaler und Cro-Magnon-Mensch? Um das zu klären, hat der renommierte Anthropologe Svante Pääbo NeandertalerDNA mit dem Erbgut des modernen Menschen verglichen. Im „Lola“ wollen die Abiturientinnen Ramona Grudda, Vlada Schößler, Nina Beyer und Nina Dombrowski das Experiment in vereinfachter Form nachvollziehen. Für den Schülerversuch hat Pääbo echte Neandertaler-DNA zur Verfügung gestellt. „In der Schule geht es nie um so aktuelle Themen“, ist Ramona begeistert. „Es ist toll, dass wir hier mit Wissenschaftlern arbeiten, die selbst in der Forschung etwas geleistet haben“, lobt Vlada. Ihr anthropologisches Experiment nimmt am Ende einen ähnlichen Ausgang wie das von Forscher Pääbo: Die untersuchten Erbgutschnipsel von Mensch und Neandertaler sind zu unterschiedlich, die beiden Spezies vermutlich nicht verwandt. Nicht nur das Versuchsergebnis ist wie in der wahren Wissenschaft: Im Lola lernen die Schülerinnen auch die Probleme des Forscheralltags kennen. In dem Gel, auf das sie ihre DNA-Proben aufgetragen haben, leuchten über dem erwarteten Bandenmuster ein paar weitere Streifen, außerdem ein unerklärlicher Fleck. Die Mädchen überlegen. Haben sie im Verlauf des Versuchs vielleicht einmal nicht die exakten Mengen zusammenpipettiert? Wahrscheinlich liegt es an einer Verklumpung im Gel, an dem ein Stück der Probe hängen blieb, klärt Lola-Leiterin Bärbel Kunze auf. „Wir freuen uns immer, wenn auch mal etwas schiefgeht“, so die Wissenschaftlerin, „dann haben wir was zu diskutieren.“ Julia Koch 138 die leblos wirkende Person auch wirklich bewusstlos ist. „Wenn der Patient beim Versuch der Reanimation widerspricht, kann man wieder aufhören“, schlägt Dirks nun als pragmatischen Ansatz vor. Bis zum Beweis des Gegenteils sollte der Helfer von einem Herz-Kreislauf-Stillstand ausgehen. „Die Herzdruckmassage ist das Allerwichtigste“, betont Dirks, der an den neuWas tun bei Herzstillstand? en Leitlinien auf internationaler Ebene Notfallärzte haben ihre Erste-Hilfe- mitgearbeitet hat. „Danach erst kommt die Regeln vereinfacht: Am Beatmung. Und dann schließlich die Defibrillation, also ein Stromstoß, der das Herz wichtigsten ist die Druckmassage. wieder zum Schlagen bringt.“ Gerade für Laien stellt die Mund-zum Boden liegt ein Mensch. Er atmet nicht, er antwortet nicht, sein Herz Mund-Beatmung eine Ekelhürde dar – und steht still. Passanten stehen hilflos schwierig ist sie noch dazu. Selbst Profis um ihn herum und fragen sich, wie sie hel- brauchen lange, bis sie einen Menschen richtig beatmen können. Dirks verweist auf fen können. Jährlich sterben allein in Europa 700 000 eine englische Studie, in der selbst MediMenschen den plötzlichen Herztod. Viele ziner wegen Problemen mit der Mund-zuvon ihnen könnten gerettet werden, wenn Mund-Beatmung die Herzdruckmassage mehr Menschen wüssten, welche Hand- vernachlässigten. Warum die Reanimation auch ohne Begriffe die richtigen sind. „Unsere Wiederbelebungsleitlinien waren bislang zu kom- atmung funktioniert, erklären Mediziner pliziert; deshalb helfen die Menschen häu- sich so: Wenn das Herz blitzartig stehenfig gar nicht. Sie haben Angst, etwas falsch bleibt, befindet sich noch sauerstoffreiche zu machen“, sagt Burkhard Dirks, Notfall- Luft in den Lungen. Weil aber die Pumpe nicht mehr schlägt, kommt der lebensnotwendige Stoff nicht im Gehirn und am Herzmuskel an. Beginnt ein Helfer so schnell wie Ansprechbar oder bewusstlos? Vereinfachte möglich mit der HerzdruckmasRegeln zur Um Hilfe rufen Notruf 112 sage, pumpt er so lange sauerWiederbelebung Atemwege freimachen, stoffreiches Blut in Hirn und bewusstloser falls keine Atmung: Herz, bis der Rettungsdienst Personen Wiederbelebung kommt. Die Profis kümmern sich anschließend um Beatmung und Neben dem Bewusstlosen knien, sich über ihn beugen, eine Hand auf Defibrillation. die Brustmitte legen, mit der „Beatmung und Defibrillation anderen Hand den Druck haben wir in der Vergangenheit verstärken. Finger verzu wichtig genommen und darschränken, dann über die Herzdruckmassage verDRUCKstoßweise 5 cm tienachlässigt“, sagt Dirks. Zwar MASSAGE fen Druck ausüben, hängen Defibrillatoren mittler100-mal pro Minuweile in vielen Bahnhöfen und te; nach 30 Koman Flughäfen und sind auch pressionen 2-mal von Laien bedienbar; doch reicht beatmen. der Stromstoß aus den Geräten ohne eine Herzdruckmassage oft nicht aus. „Aus Studien wissen wir, dass man häufig erst zwei Minuten das Herz massieren muss, damit die Defibrillation überhaupt etwas mediziner aus Ulm. „Also machen wir die bringt“, erklärt Dirks. Sein Rat: „Wenn da jemand ist, der den Defibrillator anschlieRegeln einfacher.“ Künftig gilt als Minimalhilfe: Wenn ein ßen kann, dann soll er das machen. Aber Mensch am Boden liegt, nicht auf Anspre- unterbrechen Sie dafür um Himmels willen chen und Anfassen reagiert und auch kei- nicht die Druckmassage!“ Ein weiterer Vorteil der neuen Leitlinien: ne normale Atmung mehr wahrnehmbar ist, dann soll der Ersthelfer knapp zweimal „Selbst einem Laien können Sie am Handy pro Sekunde fünf Zentimeter tief in die jetzt erklären, was er tun muss“, sagt Dirks. Mitte seines Brustkorbs drücken (siehe Voraussetzung sei nur, dass er auch die Grafik). Selbst mit dieser verstümmelten Notrufnummer 112 wählt (und nicht die Form der Wiederbelebung können Patien- 110, wie es erstaunlich oft vorkommt). „Die Beatmung können Sie dagegen am Telefon ten ins Leben zurückgeholt werden. Ältere Empfehlungen forderten vom niemandem beibringen, das ist viel zu Laien, erst umständlich zu überprüfen, ob kompliziert.“ Dennis Ballwieser MEDIZIN Pumpen, bis der Arzt kommt A Erste Hilfe d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Wissenschaft Zeugung im Reagenzglas RONALD FROMMANN / LAIF Die biologische Uhr austricksen FORTPFLANZUNGSMEDIZIN Wunschkind aus der Kälte Eingefrorene Eizellen könnten die Lebensplanung von Single- und Karrierefrauen revolutionieren. Noch gilt die Methode als experimentell, doch an ihrer Wirksamkeit zweifelt niemand. A manda und Alexandra sind gut drauf – und kein bisschen blöd. Auf der Website der vor zwei Jahren gegründeten US-Firma Extend Fertility verraten die Mittdreißigerinnen, warum sie so glücklich sind: Sie haben sich Eizellen entnehmen und auf Eis legen lassen. Wenn die Zeit für den Kinderwunsch eines Tages reif ist, werden sie ihr reproduktives Kapital auftauen und mit den Spermien des „Mr Right“ befruchten lassen. „Dass ich das getan habe, gibt mir die innere Ruhe, auf die wirkliche Liebe zu warten“, flötet Amanda, Finanzexpertin aus San Francisco. Und die 34-jährige Alexandra, Verkaufs-Powerfrau aus Boston, bestätigt: „Wenn man über 33 ist und noch mitten in der Karriere steckt, wird man es nie bereuen, Eizellen eingefroren zu haben; aber man könnte sich eines Tages ernsthaft Vorwürfe machen, diese Chance verpasst zu haben.“ Was die Muttis in spe aus Werbegründen ins Web posaunen, ist kein Hirngespinst mehr. Die Kryokonservierung unbefruchteter Eizellen, seit Jahrzehnten eine Sack140 gasse in der Babymacher-Branche, gilt zwar nach wie vor als experimentelles Verfahren, doch die Tiefkühlexperten haben in den vergangenen ein, zwei Jahren einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht: „Die Technik funktioniert, das muss man ehrlicherweise sagen“, erklärt Michael von Wolff, Reproduktionsmediziner an der Uni-Klinik Heidelberg. „Im Prinzip machen wir bei Krebspatientinnen genau das schon.“ Befruchtete Eizellen überstehen seit langem den Aufenthalt im minus 196 Grad Celsius kalten flüssigen Stickstoff. Sie fallen an, wenn bei der Zeugung im Reagenzglas („In-vitro-Fertilisation“, kurz IVF) mehr als die zwei oder drei befruchteten Eizellen zustande kommen, die anschließend in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Die Kryokonservierung ist in Deutschland erlaubt, weil dabei die Samenzelle rund 16 bis 20 Stunden nach der Befruchtung bereits in die Eizelle eingedrungen ist, die beiden Zellkerne aber noch nicht miteinander verschmolzen sind („Vorkernstadium“). Auch Embryonen lassen sich problemlos einfrieren (was aber d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz verboten ist). Selbst nach einer Lagerung von über zehn Jahren im Eis sind aus den gefrorenen Zellklumpen schon gesunde Kinder entstanden. Äußerst schwierig war es dagegen bislang, auch unbefruchtete Eizellen in den Kryobehältern aufzubewahren. „Sie sind beim Auftauen zu mehr als 50 Prozent kaputtgegangen“, erläutert Markus Montag, Kryobiologe an der Uni-Klinik Bonn. Die Erklärung: In den mit bloßem Auge zu erkennenden weiblichen Keimzellen ist viel Wasser enthalten. Beim Einfrieren können sich gefährliche Eiskristalle bilden, die die verletzlichen Zellen von innen wie Rasiermesser zerschneiden. Erst seit kurzem haben die Fortpflanzungsmediziner mit verbesserten Kryoverfahren diese Hürde gemeistert. Beim langsamen Einfrieren mit speziellen Gefrierschutzlösungen überstehen inzwischen rund 80 Prozent der Eizellen die Liegezeit im Eis und das anschließende Auftauen. Noch erfolgreicher ist eine neuartige Blitz-Einfriertechnik, bei der sich die in Stickstoff getauchten Zellen in Sekundenbruchteilen in einen glasartigen Zustand verwandeln. Die Gefahr der Kristallbildung besteht dabei nicht mehr. Bis zu 96 Prozent der unbefruchteten Eizellen tauchen nach dem Schockfrosten wieder heil aus der wabernden Stickstoffsuppe auf. „Die Lagerung unbefruchteter Eizellen stellt heute eine realistische und effektive Alternative dar“, konstatierten Reproduktionsexperten von der Uni-Klinik Köln unlängst im „Deutschen Ärzteblatt“. Die mit Eizellen aus der Kälte erzielten Schwangerschaftsraten reichen bereits an die bei der künstlichen Befruchtung mit frischen Eizellen heran. Eleonora Porcu, Fortpflanzungsmedizinerin an der Universität von Bologna und eine der weltweit führenden Experten für das langsame Einfrieren, berichtete im Sommer vorigen Jahres von erstaunlichen Erfolgen. Etwa 80 gesunden Wunschkindern aus der Kälte hat die Italienerin nach eigener Aussage bereits zum Leben verholfen. Porcu: „Ich wollte sehen, ob die Methode funktioniert, und ich glaube, das tut sie. Es gibt keinen statistisch signifikanten Unterschied mehr zwischen dem Einfrieren von unbefruchteten Eizellen und dem von Embryonen.“ Und Gillian Lockwood, Reproduktionsmedizinerin an einer Spezialklinik im britischen Walsall, bilanziert: „Wir können mit Sicherheit sagen, dass das Einfrieren von unbefruchteten Eizellen eine Option für viele Frauen sein wird, denen ohne diese Technik die Chance auf Mutterschaft verwehrt bliebe – das Ganze ist nicht mehr nur ein leeres Versprechen.“ Auch deutsche Reproduktionsmediziner sind von der Attraktivität der Lebensplanungsoption nicht überzeugt. „Ich halte das für ein Spiel mit der Angst der Frauen. Im Grunde müssten sich dann auch Männer mit 20 überlegen, ob sie sich Sperma einfrieren lassen – schließlich könnte es ihnen passieren, dass sie durch Unfälle oder Infektionen steril werden“, sagt Bernd Hinney, Fortpflanzungsexperte an der Uni-Klinik Göttingen. „Das tut doch auch keiner.“ Schwerer wiegt derweil noch die Sorge vor unerkannten Spätschäden. Knapp 200 Eisbabys sind bisher weltweit aus tiefgefrorenen unbefruchteten Eizellen entstanden (vermutlich rund zehn davon in Deutschland). Die Datenbasis ist noch zu dünn, um aus diesen wenigen Fällen verlässliche Aussagen über Risiken und Fehlbildungsraten bei den Kindern ableiten zu können. Um die Kryokonservierung schon gesunden Frauen als Routinemethode anbieten zu können, sei es noch viel zu früh, warnte die US-Fachgesellschaft für Reproduktionsmedizin in einer Stellungnahme. „Die weltweiten Erfahrungen mit der Methode reichen zurzeit einfach noch nicht aus“, erklärte Mark Fritz, Fortpflanzungsmediziner an der Universität von North Carolina in Chapel Hill. Allerdings, räumte er ein: „Die ersten Erkenntnisse, die wir zu der Technik haben, sind ermutigend.“ Dennoch rechnen auch vorsichtige Beobachter damit, dass sich die Kryokonser- vierung aus Lifestyle-Gründen durchsetzen wird. „Für Frauen könnte es eines Tages zur Selbstverständlichkeit werden, ihre Eizellen auf Eis zu legen“, prophezeite Virginia Bolton, Reproduktionsmedizinerin am Guy’s Hospital in London, bei einem Expertentreffen im Januar. „Das kommt ins Rollen, in zwei bis drei Jahren stecken wir mitten in der Diskussion“, glaubt auch Kryobiologe Montag. An deutschen Zentren für Fortpflanzungsmedizin melden sich bereits Kandidatinnen, die ihrer biologischen Uhr mittels Kryotechnik ein Schnippchen schlagen möchten: „Wir verschließen uns dem Wunsch dieser Frauen nicht, aber wir weisen sie darauf hin, dass das noch keine Routinemethode ist“, berichtet Hans van der Ven, Reproduktionsmediziner an der Uni-Klinik Bonn. Noch werde das Einfrieren unbefruchteter Eizellkonten in Deutschland, anders als in den USA und Großbritannien, nicht kommerziell angeboten. „Aber ich glaube“, so der Mediziner, „dass viele Kliniken oder Praxen bereits ähnliche Anfragen bekommen wie wir.“ Die Zukunft, das haben die Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre gezeigt, liegt in der Babymacher-Branche immer nur einen kleinen Schritt entfernt. „Wir sind auf alle Techniken vorbereitet“, sagt Klaus Diedrich, Fortpflanzungskoryphäe an der Uni-Klinik Lübeck. Günther Stockinger FOTOS: MATTHIAS JUNG Für Single- und Karrierefrauen, die auf ihr späteres Mutterglück nicht verzichten möchten, bieten sich damit ganz neue Möglichkeiten. Sie können im Alter zwischen 20 oder 30 Jahren Eizellen einfrieren und diese später bei Bedarf wieder auftauen lassen – wenn sie den Wunschvater für ihr Kind gefunden haben oder ihnen der Job mehr Luft für die Familienplanung lässt. „Für Frauen, die sehen, dass sich ihre Fruchtbarkeit dem Verfallsdatum nähert, ist die Kältekonservierung von Eizellen die größte Errungenschaft seit der Pille“, jubelt das US-Blatt „Newsweek“. Noch aber warnen Experten vor übertriebenen Hoffnungen. Frauen mit einer solchen Lifestyle-Indikation müssen sich derselben strapaziösen Prozedur unterziehen wie bei der regulären künstlichen Befruchtung: Zunächst wird ihnen zwei bis drei Wochen lang ein Hormoncocktail unter die Haut gespritzt, der ihre Eierstöcke derart auf Touren bringt, dass sie mehr als nur eine reife Eizelle pro Menstruationszyklus produzieren. Anschließend werden die Keimzellen unter Narkose und Ultraschallkontrolle mit einer feinen Nadel durch die Scheidenwand direkt aus den Eierstöcken herausgesaugt. „Eine junge, gesunde Frau müsste die damit verbundenen Risiken auf sich nehmen – das ist kein Spaziergang im Park“, warnt die italienische Kryoexpertin Porcu. Kryobiologe Montag: „Das kommt ins Rollen“ Reproduktionsmediziner van der Ven: Spätes Glück? d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 141 PANAMA Panama-Stadt COSTA RICA KOLUMBIEN San Telmo SVEN RÖBEL 200km Expeditionsteilnehmer am Wrack vor San Telmo: Portal in eine vergessene Zeit S E E FA H R T Das Geheimnis der Perleninsel Tag für Tag, seit 137 Jahren, taucht an einem Pazifikstrand ein rätselhaftes Wrack aus den Fluten auf: Forscher wissen jetzt, dass dies die verschollene „Sub Marine Explorer“ ist – eines der ersten U-Boote der Welt, genial konstruiert von einem Deutschen, dem seine Erfindung den Tod brachte. Je weiter sich das Wasser zurückzog, desto mehr begriff Delgado, Direktor des renommierten Vancouver Maritime Museums, dass die Geschichte des Fischers nicht stimmen konnte: Das Ding, das da vor ihm aus der Vergangenheit auftauchte, musste älter sein. Viel älter. Die Konstruktion erinnerte den Forscher an eine „eiserne Zigarre“, und unwillkürlich schossen ihm die Bilder der „Nautilus“ durch den Kopf, jenes legendären Unterseeboots, das Jules Verne in seinem Roman „20 000 Meilen unter den Meeren“ be- SVEN RÖBEL Z uerst sah Jim Delgado den Turm. Zentimeter um Zentimeter hob er sich aus der tiefgrünen Brandung des Pazifischen Ozeans: ein schwarzverkrustetes Stück Metall, bedeckt von Muscheln, Rost und Tang, das bei ablaufendem Wasser mit gespenstischer Langsamkeit aus dem Meer auftauchte. Jim Delgado saß am Strand, auf der Wurzel eines steinalten Stachelrindenbaumes, und starrte gebannt auf das Wasser. Vor ihm wühlten sich Einsiedlerkrebse durch den Sand, in den Baumwipfeln kreischten braune Pelikane, ansonsten war er allein – die einzige Menschenseele auf dieser gottverlassenen Insel namens San Telmo, irgendwo am achten Breitengrad südöstlich von Panama-City. Die Ebbe kam langsam, schleppend, und dann gab sie dieses mysteriöse Ding frei, von dem ein Fischer ihm erzählt hatte: das rostzerfressene Wrack eines seltsamen Tauchgeräts. Angeblich sei es, so glaubte es dieser Fischer, ein japanisches SpionageU-Boot, das im Zweiten Weltkrieg den Panama-Kanal angreifen sollte und das dabei in den tückischen Gewässern des Perlen-Archipels gestrandet sei. Unterwasserarchäologe Delgado Tödliche Technik d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 schrieben hatte. Delgado hatte das Buch als Junge verschlungen. Aber konnte so etwas möglich sein? Delgado war wie elektrisiert: Als Unterwasserarchäologe hatte er vor Jahren das Wrack des Goldrausch-Schiffes „General Harrison“ aus der Bucht von San Francisco gebuddelt, er war auch bei der Hebung der „H. L. Hunley“ aus der Hafeneinfahrt von Charleston, South Carolina, dabei – des ersten U-Boots, das jemals ein feindliches Schiff versenkte: 1864 im Amerikanischen Bürgerkrieg. Und jetzt, ausgerechnet in seinem Urlaub, an diesem völlig einsamen Strand, schien ihm der Zufall auf einem tropischen Eiland den spektakulärsten Fund seiner archäologischen Karriere zu bescheren. Ohne Ausrüstung, lediglich mit Boxershorts bekleidet, schwamm Delgado zu dem rätselhaften Wrack hinüber. Er fluchte, als er sich das linke Bein am scharfkantigen Metall aufriss und weil er kein Maßband dabei hatte, um die genauen Dimensionen des Gebildes zu dokumentieren. Größe, Form und Beschaffenheit der Kammern passten zu keinem Vehikel, das er kannte. Und er kennt eigentlich fast 143 TRH PICTURE LIBRARY / US NAVY US-U-Boot „H. L. Hunley“ im Trockendock von Charleston (Zeichnung, um 1863): Tollkühne Taucher als „Spaceshuttle“-Piloten ihrer Zeit alles, was jemals schwamm. Aber die Technik dieses Dings schien viel moderner als die der „Hunley“. Und die Rumpfform mutete eher phantastisch an wie aus einem uralten Science-Fiction-Buch. Wieso zum Teufel hatte er noch nie von diesem Gefährt gehört? Als Delgado das Schlauchboot kommen hörte, das ihn zurück auf sein Kreuzfahrtschiff bringen sollte, schoss er noch schnell ein paar Dias mit seiner Touristenkamera und dankte dem Schicksal dafür, dass er nicht mitgefahren war auf diese öde VogelBeobachtungstour wie die anderen Passagiere: Die paar Stunden auf dieser einsamen Insel hatten sich gelohnt. Das war vor fünf Jahren, und jetzt ist klar, dass dem Unterwasserwissenschaftler Delgado eine historische Sensation geglückt ist: Er hat die verschollen geglaubte „Sub Marine Explorer“ entdeckt – eines der ersten funktionstüchtigen Unterseeboote der Welt, konstruiert von einem genialen deutschen Ingenieur, dem seine Erfindung schließlich einen qualvollen Tod brachte. Das guterhaltene Wrack vor den Gestaden von San Telmo ermöglicht einzigartige Blicke in die Nebel der Vergangenheit – denn obwohl der Beginn der bemannten Unterwasserschifffahrt nach historischen Maßstäben noch gar nicht lange zurückliegt, ist die Pionierzeit der U-Boote eine Geschichte voller offener Fragen: Alte Baupläne weichen oft von den tatsächlichen Konstruktionen ab, viele Boote gelten als verloren oder zerstört. Und oft ist unklar, wie genau – und ob überhaupt – die Vehikel funktionierten. Der Fund von San Telmo könnte Antworten geben auf viele Fragen zu den ers144 ten U-Booten. Kollegen Delgados halten das Wrack im Pazifik für ein einzigartiges Exemplar jener Handvoll erhalten gebliebener, submariner Prototypen, in denen sich tollkühne Männer im 19. Jahrhundert in die unbekannte Welt unter der Wasseroberfläche wagten – als „Spaceshuttle“Piloten ihrer Epoche. Lediglich fünf Tauchapparate aus den Jahren vor 1870 haben die Brandung der Zeit überstanden: • die 1850 gebaute „Brandtaucher“ des deutschen Erfinders Wilhelm Bauer, heute in einem Museum in Dresden; • ein namenloses U-Boot der Konföderierten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg von 1862, ausgestellt in New Orleans; • die 1863 konstruierte „H. L. Hunley“, die derzeit in Charleston restauriert wird; • die „Intelligent Whale“, ein weiteres USU-Boot aus dem Jahr 1866, jetzt in einem Museum in New Jersey, • und eben die „Sub Marine Explorer“ vor San Telmo im Pazifik, gebaut 1865. Ausgestattet mit einem ausgeklügelten System von Ballastkammern und Presslufttank, das einen Druckausgleich und durch zwei unter dem Rumpf angebrachte Luken sogar das Aussteigen von Tauchern unter Wasser ermöglicht, markiert die „Explorer“ einen Höhepunkt maritimer Ingenieurkunst – wenn auch einen tragischen: Als das Boot vor rund 130 Jahren den Meeresgrund vor Panama erforschte, war die berüchtigte Taucherkrankheit noch weitgehend unbekannt. Das Leiden kann bei zu schnellem Auftauchen aus tiefem Wasser einen jämmerlichen Tod verursachen. Der technische Fortschritt hatte den medizinischen auf fatale Weise überholt – und d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 im Fall der „Explorer“ ihre Mannschaft wie auch ihren Erfinder Gesundheit und Leben gekostet. Doch von den Tragödien, die sich einst in diesem eisernen Sarg bei den Perlengründen vor Panamas Küste abgespielt haben müssen, ahnte Delgado noch nichts, als er am Abend nach seiner Entdeckung leicht überdreht im Speisesaal des Kreuzfahrtschiffs saß. Er konnte nicht aufhören, seiner Frau Ann immer wieder die Details des seltsamen Wracks zu schildern. Daheim in Vancouver ließ der Wissenschaftler die auf San Telmo geschossenen Dias entwickeln und mailte sie – versehen mit einer Beschreibung und der Frage, ob jemand etwas mit dem Boot anfangen könne – an Kollegen in aller Welt. Einer konnte: Richard Wills, Experte für U-Boote des amerikanischen Bürgerkriegs, meldete später einen Volltreffer – Delgados Daten stimmten perfekt mit einer Beschreibung überein, die Wills in einem wissenschaftlichen Aufsatz von 1902 entdeckt hatte. Die Publikation enthielt sogar eine exakte Zeichnung des weitgehend unbekannten Tauchgeräts. Die Merkmale passten perfekt – so viel Zufall konnte es gar nicht geben: Das Boot musste die „Sub Marine Explorer“ sein. Über ihren Konstrukteur wusste man da noch nicht allzu viel. Er hieß Julius H. Kroehl und war ein aus Deutschland in die USA emigrierter Erfinder. 1856 hatte er in Harlem einen eisernen Feuer-Wachturm errichtet, bevor er erfolglos versuchte, im Auftrag des New Yorker Magistrats ein Riff zu sprengen, das die Schifffahrt im East River behinderte. Aber wie kam der mysteriöse Deutsche dazu, ein derart fortschrittliches Tauchboot zu konstruieren? Technik Sprache seiner Zeit die Arbeitsweise des revolutionären U-Boots beschrieben: „Vor dem Abtauchen“ werde mit Hilfe einer auf einem Beiboot montierten, dampfbetriebenen „Pumpe mit der Kraft von 30 Pferdestärken so viel Luft in die Pressluftkammer gefüllt, bis diese eine Dichte von mehr als 60 Pfund erreicht“, was einem Druck von etwa vier Bar entspricht. Nach dem Versiegeln des Presslufttanks „betreten die Männer die Maschine durch den Turm an der Oberseite“, und „sobald dem Wasser gestattet wird, die Ballastkammern zu füllen, sinkt die Maschine geradewegs hinab zum Meeresgrund“. Dort werde „alsdann eine ausreichende Menge Pressluft in die Arbeitskammer geleitet, bis diese über ausreichend Volumen und Kraft verfügt, um dem enormen Druck des Wassers standzuhalten“, damit die Männer „die Luken im Boden der Maschine öffnen“ und mit dem Bergen der Austern beginnen können. Der zeitgenössische Autor fuhr fort: „Wenn sie eine ausreichende Zeitspanne unter Wasser waren und alle Muscheln in Reichweite geobere Rumpfhälfte sammelt sind“, werde schließdurch Verstrebungen lich Pressluft in die Ballastverstärkt, enthält die Rekonstruktion der „Sub Marine Pressluftkammer kammern geleitet, „und Explorer“ von 1865 während diese Luft dann das Turm mit Einstiegsluke, Wasser herauszwingt, erhebt Fenstern und Tauchkammer sich die Maschine sicher zur Oberfläche“. Kroehl, der Konstrukteur, konnte damals nicht wissen, wie wichtig ein langsamer, Antrieb durch kontrollierter Druckausgleich Muskelkraft beim Auftauchen ist. Und wenn Unterwasserforscher Delgado, selbst routinierter Taucher, heute in die enge untere Rumpfhälfte Kammer klettert, die mittags Ballastkammern an den Außenvon der reflektierenden Troseiten, dazwischen verläuft die pensonne in fahles, grünes Arbeitskammer für die Besatzung Rumpflänge: 11m Licht getaucht wird, muss er zwischen all den rostverkrusTiffany, offenbar ein Spross der gleichna- fenbar, um das Boot, das sich mit einer teten Hähnen, Ruderhebeln und Griffen durch Muskelkraft betriebenen Schraube daran denken, wie jener „sich gefühlt hamigen Schmuck- und Lampendynastie. Die Sache wurde immer spannender – fortbewegte, stromlinienförmig zu halten. ben muss, in diesem eisernen Sarg“. Wie In der feinen Sandschicht, die den Bo- er das Zischen der Pressluft hörte, mit vor und nach zwei weiteren Ortsterminen auf San Telmo in den Jahren 2002 und 2004 den der Arbeitskammer mit den beiden Druck schmerzenden Ohren. Und wie sauhatte Delgado schließlich so viel Material Luken zum Bergen der Austern bedeckte, er die Luft gerochen haben muss, unten zusammen, dass er die Zeit gekommen fand Delgado ein mit Quecksilber gefülltes auf dem Meeresgrund, wenn sie fast versah, eine Expedition zusammenzustellen, Tiefenmessgerät und den Holzgriff einer braucht war und die Kerzen langsam ausdie die letzten Geheimnisse der „Explo- Handpumpe, die offenbar zur Verbesse- gingen. rung der Atemluft in der engen DruckDelgado wird philosophisch in solchen rer“ und ihres Erfinders lüften sollte. Begleitet von SPIEGEL und SPIEGEL- kammer diente: Mit ihr wurde wohl feiner Momenten und spricht vom „großen TV brach das internationale Forscherteam Wassernebel versprüht, der das Kohlen- Strom der Geschichte, der das Individuam 18. Februar in die Gewässer des Perlen- dioxid der Atemluft an Bord binden sollte. um auslöscht“. Seit fünf Jahren erforscht Archipels auf. Expeditionsleiter Delgado Schließlich schaufelten in dem Boot bis zu er nun die „Explorer“ – und kennt noch hatte, wie er sagt, „die besten Leute zu- sechs Männer bei Kerzenschein Austern – nicht einmal das Gesicht ihres Erfinders. Obwohl Kroehl selbst ein leidenschaftsammengebracht“: etwa den Australier Schwerstarbeit auf dem Grund der See. All diese Merkmale passten exakt zu licher Fotograf gewesen sein soll, ist bis Michael McCarthy, 58, einen Unterwasserarchäologen von Weltruf; den gleichaltri- einer alten Zeitungsmeldung, die Del- heute kein Porträt von ihm aufzutreiben. Und auch die Biografie des vergessenen gen Kollegen Larry Murphy, einen Spezia- gados Rechercheure zuvor aus den Tiefen listen für Korrosionsstudien, sowie den der Archive gegraben hatten: Im Sommer Ingenieurs, zusammengetragen aus den ruMetallurgen Don Johnson, 79, einen aus- 1869 hatte der in Panama erscheinende dimentären Erinnerungen seiner Nachfahgewiesenen Experten für Materialfor- „Mercantile Chronicle“ in der blumigen ren und den Akten seiner Militärzeit bei Delgado beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen: Recherchen in historischen Archiven ergaben, dass die „Sub Marine Explorer“ zuletzt einer Firma namens Pacific Pearl Company gehört hatte, die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor Panamas Küste nach Austern schürfen wollte. Bereits in den Zeiten der Konquistadoren hatte man hier in den Tiefen des „Archipiélago de las Perlas“ reiche Beute gemacht. Hier hatten schwarze Sklaven einst die legendäre Perle „Peregrina“ aus den Fluten gefischt, eine mattschimmernde Pretiose von sagenhaften 50 Karat. Mit den Muscheln war auch in der Neuzeit ein Vermögen zu verdienen, wobei nicht nur die Perlen Profit abwarfen, sondern vor allem das Perlmutt. Für die Mode jener Epoche war das Material ein begehrter Luxusartikel. Unter den Teilhabern des Unternehmens, das unweit der New Yorker Wall Street firmierte, fand sich nach alten Geschäftsberichten auch ein gewisser W. H. schung und Rostprozesse. Sie sollten vor allem die drängende Frage klären, wie lange das einzigartige Wrack noch das ständige Auf- und Abtauchen im Salzwasser überstehen würde. Und: Aus welchem Material war es überhaupt gebaut? Wie funktionierte es? Mit Navigationsempfängern des Global Positioning Systems, mit Multi-ParameterSonden und lasergesteuerten Entfernungsmessern rückten die Forscher der archaischen Technik des 19. Jahrhunderts zu Leibe. „Es war“, schwärmt Delgado, „als würde man ein Portal in eine vergessene Zeit aufstoßen.“ Immer wieder wurden sein Team und er verblüfft von der Konstruktionsweise des Bootes und den technischen Feinheiten. Die obere Hälfte der doppelten Rumpfhülle etwa, die einst den Presslufttank beherbergte, war aus druckresistentem Gusseisen gefertigt, während die untere Hälfte aus schmiedeeisernen Platten bestand, die mit Nieten verbunden waren. Die Nietenköpfe zeigten dabei nach innen – of- Fortschrittliches Fossil d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 145 Technik aus eigener Kraft bewegen kann, die also unerkannt Minen an feindlichen Kriegsschiffen anbringen könnte. Doch als er die Pläne fertig hat und selbst wieder bei Kräften ist, zeigt sich die Admiralität wenig begeistert: Der Krieg ist vorbei, das Vorhaben zu kostspielig. Die Militärs sehen einfach nicht, welch ungeheures Potential eine tauchende Kampfmaschine dieser Bauart haben könnte. Die Versuche mit einigen anderen Geräten waren nicht so ermutigend – nur ist Kroehls U-Boot den anderen technisch weit voraus. Doch der Erfinder gibt nicht auf. 1864 wird er Chefingenieur und Teilhaber der Pacific Pearl Company, die zwei Jahre später für Schlagzeilen sorgt. Im Frühjahr 1866 SVEN RÖBEL den Unions-Streitkräften der Nordstaaten, ist noch immer lückenhaft: Als sicher gilt immerhin, dass Kroehl 1820 im ostpreußischen Memel geboren wurde, dem heutigen Klaipeda in Litauen, und dass er dann als Kind mit seiner Familie nach Berlin zog. In alten Adressbüchern findet sich noch heute die Spur seines Vaters, des Kaufmanns Jacob Kröhl, der zwischen 1829 und 1833 am Hausvogteiplatz Nummer 11 residierte. Nach dem Wehrdienst bei der Artillerie soll der junge Julius dann um 1838 eines jener Auswandererschiffe bestiegen haben, die damals zahllose Deutsche an die Gestade der Neuen Welt brachten: Dokumentiert ist, dass Kroehl 1840 Staatsbürger der USA wird und dass er 1855 erstmals als Forscher Delgado (l.) in der gefluteten Druckkammer der „Explorer“: Ungeheures Potential Ingenieur in den Geschäftslisten von New York City auftaucht, im Stadtteil Lower Manhattan, einem Viertel vollgestopft mit Docks, Eisengießereien – und deutschen Emigranten. Kroehl hat inzwischen ein Patent zur „Verbesserung von Eisenbiege-Maschinen“ angemeldet und zeigt sich fasziniert von den Taucherglocken, die neuerdings beim Brückenbau zum Einsatz kommen. Im November 1858 heiratet der Deutsche in Washington die 26-jährige Sophia Leuber, bevor er 1863 eineinhalb Jahre lang in den amerikanischen Bürgerkrieg zieht. Er dient bei der Marine der Nordstaaten als Spezialist für Unterwassersprengungen und schließlich als Späher in den Sümpfen Louisianas. Hier infiziert sich Kroehl offenbar mit einer Krankheit, die ihn über Monate aufs Krankenbett zwingt. Zwischen Fieberschüben muss der Erfinder immer wieder an der Idee für seine Unterwassermaschine getüftelt haben. Er denkt wohl an eine Art Taucherglocke, die sich aber frei und 146 berichtet die „New York Times“ über den ersten sensationellen Tauchgang der „Sub Marine Explorer“: Am 30. Mai, gegen 13.30 Uhr, besteigt Kroehl in Begleitung von drei Freunden seinen Unterwasserapparat und taucht auf den Grund des Hafenbeckens der North Third Street. Anderthalb Stunden müssen die Zuschauer bangen, bevor das stählerne Monster wieder an der Oberfläche erscheint und sich langsam die Luke öffnet. Augenscheinlich bester Laune schmaucht Kroehl lässig seine Meerschaumpfeife und präsentiert stolz einen Eimer Schlamm frisch vom Grund des Docks. Die Investoren der Pacific Pearl Company sind von der Vorstellung offenbar überzeugt. Noch im selben Jahr finanzieren sie den Transport der in Einzelteile zerlegten „Explorer“ von New York an die panamaische Karibikküste, von wo aus das Boot per Eisenbahn durch den Dschungel nach Panama-City am Pazifik geschafft wird. Die einst so stolze Perle der spanischen Krone ist zu jener Zeit ein moskitod e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 verseuchter Moloch, voll mit zweifelhaften Bars, korrupten Beamten und fiebrigen Glücksrittern auf dem Weg nach Kalifornien – ein Zwischenstopp am Scheitelpunkt der neuen Transitroute zwischen New York und San Francisco. Am 8. Dezember 1866 macht in diesem allgemeinen Chaos die Nachricht Furore, dass ein unglaublicher Tauchapparat in der Stadt eingetroffen sei. Er werde an der Eisenbahnstation zusammengebaut und sei in Kürze einsatzbereit. Gut sechs Monate später meldet der „Panama Star and Herald“ dann Vollzug: Ingenieur Kroehl habe persönlich überwacht, wie die „Sub Marine Explorer“ ins angrenzende Dock gehoben wurde; in wenigen Tagen solle das Boot vor den Inseln der Pacific Mail Steamship Company erste Tauchfahrten unternehmen. Die wochenlangen Experimente werden Kroehl offenbar zum Verhängnis. Vollends überzeugt von seiner Erfindung und wie besessen von der Arbeit in der Tiefe, kann er nicht wissen, dass sich die Stickstoffmoleküle im Körper zu kleinen Gasblasen ausweiten, wenn man zu schnell auftaucht. Dass das Blut regelrecht zu schäumen beginnt. Die Ärzte stellen die ortsübliche Diagnose, der US-Konsul macht sie amtlich: Julius H. Kroehl stirbt am 9. September 1867 – „an Fieber“, wie der Diplomat der Witwe schreibt; auch er kann ja nichts von der tödlichen Taucherkrankheit wissen. Die Beerdigung sei durch die örtliche Bruderschaft der Freimaurer durchgeführt worden, auf dem „Cementerio de Extranjeros“, dem „Fremdenfriedhof“ im Viertel Chorrillo. Nach Kroehls Tod verliert sich zunächst auch die Spur der „Explorer“ – für zwei Jahre –, bis die „New York Times“ über eine Perlentauchexpedition nach „St. Elmo“ berichtet. An einem Augusttag des Jahres 1869, gegen 11 Uhr, sei das Boot vor der Perleninsel in die Fluten gesunken, vier Stunden unter Wasser geblieben und schließlich mit 1800 Austern wieder aufgetaucht. An den folgenden elf Tagen sei dieser Vorgang wiederholt worden, bis man insgesamt 10,5 Tonnen Austern und Perlen im Wert von 2000 US-Dollar beisammen hatte. Danach aber, so die Zeitung, seien „wieder alle Taucher von Fieber befallen“ worden, was letztendlich zum Abbruch der Unternehmung geführt habe. Man habe die teuflische Maschine in eine geschützte Bucht der Insel gebracht und wolle bald wiederkommen; diesmal aber mit „einheimischen, akklimatisierten Tauchern“, denen das – vermeintliche – Fieber nichts anhaben könne. In genau dieser Bucht, in den grünen Wassern von San Telmo, hat Jim Delgado die „Explorer“ wiedergefunden – als sie bei Ebbe auftauchte, wie jeden Tag zweimal, seit 137 Jahren. Sven Röbel Kultur Szene RUHRGEBIET BERND THISSEN / DPA „Im Pott blüht mehr Kultur als in Berlin“ Ruhrtriennale-Intendant Jürgen Flimm, 64, über die Entscheidung der Brüsseler EU-Jury, Essen und die Ruhrregion zur Kulturhauptstadt Europas 2010 auszurufen ACHIM SCHEIDEMANN / DPA SPIEGEL: Herr Flimm, haben Sie gejubelt, als am vergangenen Dienstag bekannt wurde, dass im Wettstreit um den Kulturhauptstadt-Titel am Ende Essen gegenüber Görlitz vorn lag? Flimm: Klar. Jetzt hoffe ich, dass bei der Organisation die Kreativen das Ruder in die Hand kriegen und nicht die Politiker. Schon während der Bewerbung konnte man merken, dass sich unter den an Kunst Interessierten an der Ruhr ein ganz neues Selbstbewusstsein breitmacht. SPIEGEL: Inwiefern? Flimm: Die Leute hier nehmen nun wahr, „Nacht der Industriekultur“ in der Kokerei Zollverein in Essen (2002) dass hier im Pott mehr Kultur blüht als sogar in Berlin. Man guckt plötzlich ganz anders auf die Klöster Flimm: Mal langsam. Erst mal war Mortier doch derjenige, der und Museen, auf die vielen Theater und Initiativen künstlerisch überhaupt gezeigt hat, dass man in alten Industriedenkmälern engagierter Menschen. Die EU-Zusage wird dieser Kultur- dieser Region kulturelle Ereignisse veranstalten kann und dass landschaft einen weiteren Schub geben, da bin ich sicher. es hier mehr gibt als nur alte rostige Fabriken. Die RuhrtriennaSPIEGEL: Ein paar Politiker wollen auch einen wirtschaftlichen le hat vielen Leuten die Augen geöffnet. Und das Festival wird Schub herbeireden. Kann die Kulturhauptstadt-Ehre wirklich sich unter meiner Nachfolgerin Marie Zimmermann auch für neue Arbeitsplätze sorgen und Touristen anlocken? 2010 sicher nicht einfach im Kulturhauptstadt-Programm aufFlimm: Mit solchen Vorhersagen wäre ich vorsichtig. Aber festlösen. Es bleibt ein autonomer Bestandteil. zustellen ist, dass sich gerade ein Großkonzern wie die RAG SPIEGEL: 1999 war Weimar europäische Kulturhauptstadt. wirklich reingehängt hat in die Kulturhauptstadt-Bewerbung. Welche Stadt sollte als nächste für Deutschland antreten? SPIEGEL: Entsteht nicht für die von Gérard Mortier gegründete Flimm: Erst war der Osten dran, jetzt der Westen, als Nächstes und jetzt von Ihnen geleitete Ruhrtriennale eine Riesenkon- kommt der Norden. Hamburg würde mir als Hanseat besonkurrenz durch das Kulturhauptstadt-Spektakel? ders gefallen. Stimme des Widerstands AZIMUT MULTIMEDIA / ACTION PRESS S ie gilt als Diva, Göttin, lebende Legende. Seit über 60 Jahren ist die iranische Sängerin Marzieh, 82, einer der populärsten Stars ihrer Heimat. Als Aschraf al-Sadat-Mortesaï in Teheran geboren, förderte ihre Mutter die musische Begabung der Tochter schon im Grundschulalter; Marzieh erhielt bei acht großen Meistern eine klassische Gesangsausbildung. Bald international umworben, wurde Marzieh ein Aushängeschild ihres Landes. Sie sang vor Staatsgästen wie US-Präsident Richard volutionsführer Ajatollah Chomeini. Zurückgezogen in einem Dorf außerhalb der Hauptstadt, erduldete Marzieh 15 Jahre lang das vom Regime verordnete Schweigen – dann setzte sie sich 1994 nach Paris ab. Der lange Arm der Mullahs reichte jedoch bis in die französische Hauptstadt: Weil sie sich zum iranischen Widerstand bekannte, untersagte der damalige französische Innenminister Charles Pasqua den Auftritt der Künstlerin. Jetzt, 12 Jahre später, gibt Marzieh zum ersten Mal wieder ein großes öffentliches Konzert. Am Ostermontag singt die Ikone des Widerstands im Pariser Olympia. Marzieh bei einer Demonstration in Italien (1999) Nixon und Königin Elizabeth. Doch nach dem Sturz des Schah-Regimes 1979 wurde sie Opfer eines Auftrittsverbots – Frauen dürfen nicht singen, verfügte Re- LEGENDEN d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 149 Szene TA N Z Berlin in Bewegung er Tanz hat es nicht leicht. Lange Jahre schon muss er, mehr als die Oper und das Theater, um Beachtung kämpfen. Dabei hat die traditionsreiche Kunstform gerade hierzulande mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient. Denn das Engagement der Staatsballette bis hin zu freien Kompanien ist groß, die Vielfalt moderner Produktionen beachtlich. Nun veranstaltet die Kulturstiftung des Bundes mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt einen viertägigen Tanzkongress (20. bis 23. April) unter dem Motto „Wissen in Bewegung“, um über die Rolle des zeitgenössischen Tanzes in Kultur und Gesellschaft, aber auch über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse der Bewegungsforschung zu diskutieren. Über hundert Choreografen, Tänzer, Wissenschaftler und Pädagogen sind eingeladen. Darunter Stars der Szene wie Ballettintendant und Ausnahmetänzer Wladimir Malachow, der ein von Sasha Waltz choreografiertes Solo uraufführt, aber auch Royston Maldoom und William Forsythe. Dieser wird mit einer EnsembleProduktion die Veranstaltung eröffnen. SCHERF / POP-EYE D Malachow, Polina Semionowa in „Schwanensee“ (2005) ARSENAL FILM „Elsa und Fred“. Die 82-jährige Elsa (Chi- „Mord und Margaritas“ erzählt von na Zorilla) saugt das Leben gierig auf. Mit Chuzpe und Libertinage pfeift die alte Dame auf Konventionen. Ganz anders als ihr Nachbar, der ebenso betagte Alfredo (Manuel Alexandre) – ein trübsinniger, überkorrekter Hypochonder. Wie die ungleichen Alten im Verlauf der Geschichte zueinander finden, zeigt der spanische Regisseur Marcos Carnevale rührend und amüsant zugleich – und erbringt den Beweis, dass Liebe alterslos ist. der Freundschaft zwischen einem alternden Profi-Killer (Pierce Brosnan) und einem glücklich verheirateten Geschäftsmann (Greg Kinnear). Der gefühlskalte Mörder sehnt sich, des Tötens müde, nach einem Zuhause, der aufrechte Bürger erliegt, zermürbt vom Beruf, der Faszination des blutigen Handwerks. Auch der Zuschauer fühlt sich wie ein Irrläufer im moralischen Niemandsland, Thornton (l.) in „Die Bären sind los“ schwankend zwischen beiden Helden. Regisseur Richard Shepard insze- halfterten, versoffenen Coach Morris Butniert sein Drehbuch etwas zu kühl, um termaker (herzerwärmend schräg und den Zuschauer ins Herz zu treffen. schandmäulig: Billy Bob Thornton) in die Hände fällt. Aber wie üblich in solchen Komödien wächst die undisziplinierte „Die Bären sind los“ in Regisseur Richard Linklaters politisch höchst unkorrektem Versagertruppe, dem Einsatz einer beRemake einer Baseball-Komödie von gnadeten Persönlichkeit sei Dank, über 1975, in der eine miese, zusammenge- sich selbst hinaus, bessern sich die Beteiwürfelte Jugendmannschaft dem abge- ligten in jeder Beziehung und gewähren obendrein einen boshaften Blick auf das institutionalisierte US-Sportgeschehen. Zorilla, Alexandre in „Elsa und Fred“ d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 DEFD Kino in Kürze Kultur R E P O R TA G E N Schönes altes Europa elancholie gehört wohl dazu, PaM thos auch, wenn 15 Autoren aus 15 Ländern über Orte in Europa schrei- reich, für den 42 Dörfer demoliert wurden, samt Gutshöfen, Kirchen und Glockentürmen. Die Schatten des Spätsommers liegen über diesen Plätzen, und die Texte wollen alles zugleich sein, Reisereportage und Landschaftsbeschreibung, Essay und historisches Panorama. Der New Journalism entdeckt das alte Europa, und es entsteht eine neue Form des Schreibens – die Geopoesie. L I T E R AT U R Der Fall Jensen W ie viel Nichtstun kann ein Mensch ertragen? Wie viel Außenwelt zerstört sein Innenleben? Und wer sind die Helden, wer die Versager unserer Gesellschaft? Fragen, die sich Herr Jensen stellt, nachdem er nach mehr als zehn Jahren seinen Aushilfsjob als Briefträger bei der Post verloren hat. Dabei hatte der junge Mann mehr als diese solide Arbeit gar nicht gewollt. Zwar ging er seinen ewig nörgelnden Eltern zuliebe kurzzeitig an die Uni, aber verwirrende Kursangebote und selbständige Belegung von Vorlesungen erschienen dem wenig kontaktfreudigen Herrn Jensen schnell als zu schwierig. Da warf er lieber fremden Leuten ihre Post in den Kasten und verbrachte seine freie Zeit mit Zeitunglesen, Fernsehen oder ziellosen Spaziergängen. Doch als Herr Jensen ohne gewohnten Lebensrahmen in seiner mit alten Kinderzimmermöbeln bestückten Bude hockt, beginnt er an sich und der Welt zu zweifeln. Vom Arbeitsamt wird er zu Kursen geschickt, die ihn „Fit for Gastro“ mad e r TOMÁŠ POSP ĚCH ben, die untergegangen sind. Sie mussten einem Fortschritt weichen, der oft keiner war. Soeben ist der wunderbare Reportageband „Last & Lost“ (Suhrkamp Verlag) erschienen, begleitet von einer Ausstellung im Münchner Literaturhaus (bis 30. April). Dieser „Atlas des verschwindenden Europas“, wie ihn die Herausgeberinnen Katharina Raabe und Monika Sznajderman nennen, ist vor allem eines: hemmungslos subjektiv. Denn hier erkunden die Autoren ihre Lieblingsorte. Etwa den ehemals zweitgrößten Bahnhof Russlands, der nun verfallen in Litauen steht, oder einen Truppenübungsplatz im Rummelplatz in Dub nad Moravou (Tschechien, um 1998) Waldviertel in Öster- chen sollen, doch weshalb soll er da hingehen? („Warum wollen sie unbedingt mir eine Arbeit geben, obwohl es angeblich so wenig Arbeit gibt? Ich habe nicht darum gebeten.“) Der in Leipzig geborene Schriftsteller Jakob Hein, 34 („Formen menschlichen Zusammenlebens“), zeichnet in seinem jüngsten Roman „Herr Jensen steigt aus“ das tragische, aber humorvoll verpackte Porträt eines Sonderlings. Eines Vereinsamenden, den Arbeitslosigkeit, Sozialpläne und die damit verbundenen Demütigungen beinahe um den Verstand bringen. Doch dann wird Jensen zum Widerständler. Er wirft seinen Fernseher aus dem Fenster, demonstriert allein auf der Straße, den Briefkasten schraubt er von der Wand, und zuletzt entfernt er auch sein Namensschild an der Wohnungstür. Herr Jensen torpediert eine Umgebung, in der er weder leben noch etwas leisten will. Und was macht der Leser? Der fragt sich, wer eigentlich die Helden, wer die Versager unserer Gesellschaft sind. Jakob Hein: „Herr Jensen steigt aus“. Piper Verlag, München; 144 Seiten; 14,90 Euro. s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 151 Titel Mose Superstar Er ist der geistige Vater der drei großen monotheistischen Religionen: Mose, den Sigmund Freud für einen Ägypter hielt. Der Prophet und die Zehn Gebote könnten die immer wieder blutige Feindschaft unter den Glaubensbrüdern beenden und eine neue Weltfriedlichkeit begründen. Papst Benedikt XVI. beim Weltjugendtag in Köln (2005), Pilger an der Kaaba in Mekka: Zwei Religionen, aber eine einzige Familie W uchtige Worte: „Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg, und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern. Mose führte es aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der Herr war im Feuer auf ihn herabgestiegen.“ Worte aus dem Alten Testament, mindestens 2600 Jahre alt. Gott spricht „mitten aus dem Feuer“ zu Mose: „Mir gehört die ganze Erde“; und verkündet vor einer erhabenen Naturkulisse den erhabensten Sittenkodex der Weltgeschichte: die Zehn Gebote. Er schreibt sie dann auf „zwei steinerne Tafeln“ und übergibt sie dem Propheten. „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat; aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben … Du sollst nicht morden. Du sollst nicht die Ehe brechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlan- 152 gen.“ Das ist, vereinfacht, der älteste Kern, sieben Leitsätze. Die weiteren drei Gebote sind, aus der Fülle der zunächst mündlich tradierten Tora-Vorschriften, später hinzugefügt worden: Der Gottesname darf nicht, etwa bei Flüchen, missbraucht, die Sabbatruhe nicht missachtet, die Eltern sollen geehrt werden. Verkündigungsart und Wortlaut der Zehn Gebote gehören zum kostbarsten Schatz des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit. Die steinalte Erzählung mit ihrer unverblümt fordernden Botschaft ist, so scheint es, eines Tages in die Menschheit gestürzt wie ein Komet aus dem All und funkelt seitdem unverwüstlich. „Ich bin Jahwe, dein Gott“: Wer von den 6,5 Milliarden Menschen, die heute auf der Erde leben, wurde jemals so angeredet – es sei denn von einem Wahnsinnigen? Dass Gott spricht, ist ein altes Bild für das Ungeheure und Unbegreifliche. Wie anders wäre die sensationelle moralische Kehre zu nennen, die von den Zehn Geboten eingeleitet wurde? Nach all den Jahrtausenden vorher, in denen nichts als das brutale Recht des Stärkeren galt. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Ausgerechnet im orientalischen Ursprungsgebiet der Zehn Gebote aber beherrschen zurzeit Gottesmissbrauch und Propagandalüge die Tagesordnung, vor allem das serielle Töten unschuldiger Menschen durch sogenannte Selbstmordattentäter. Anlass genug, den drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam ins Gewissen zu reden, auf deren gemeinsamen Gott sich die Menschenschlächter jener geheimnisvollen Weltgegend ständig berufen. Alle drei Glaubensrichtungen wurzeln im Alten Testament und verehren Mose. Hätten sie sich nicht längst zusammenraufen und gemeinsam jene Grundmoral bei ihren Anhängern einklagen müssen, für die Mose und die Zehn Gebote stehen? Der Würgewut der „Islam-Faschisten“ standzuhalten, von denen kürzlich Clifford May, der Präsident der Washingtoner „Stiftung zur Rettung der Demokratien“, gesprochen hat; die kenntnisarme, unverschämte Propaganda gegen die sogenannten Ungläubigen abzuwehren; und das daraus resultierende Tötungsgeschäft zu verhindern, das gehört zu den größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Ungläubigen, sagen die Islamisten, müssen für ihren Nihilismus „bestraft“ werden. Glauben denn die Ungläubigen an nichts? Ihre wichtigsten Normen sind keineswegs rein weltliche Produkte der Aufklärung, wie auch viele ihrer Verfechter meinen. Diese Normen sind letzten Endes religiös fundiert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Die Trias der Französischen Revolution beerbt den altgriechischen Humanismus, der über ironiefähige Individualisten wie Sokrates Juden in Jerusalem Prophet Mose* d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 A. BIENERT (L.); A. KATIB/GETTY IMAGES (M. L.); ARCHIV FRIEDRICH/INTERFOTO (M. R.); NEWSMAKERS/GETTY IMAGES (R.) „Jeder erschlage seinen Bruder“ oder Diogenes von Sinope verfügte, vor allem jedoch das Christentum und das Judentum. Das mag überraschen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie antiklerikal die meisten Revolutionäre waren. Indes: Nachdem sich Jahwe, im ersten Jahrtausend vor Christus, vom Wettergott, Vulkangott und Stammesgott der Hebräer zu einem allumfassenden, alleinherrschenden Schöpfergott hochgearbeitet hatte, wurden im Prinzip alle Menschen gleichwürdige Brüder und Schwestern. Jeder Mensch gewann die Auszeichnung, vom Allerhöchsten als eines seiner Geschöpfe bejaht zu sein. Da sie fortan moralisch letzten Endes nur seinen Geboten unterworfen waren, erreichten die „Kinder Gottes“ schon bald eine gewisse Freiheit gegenüber jeglichem Absolutheitsanspruch irdischer Herrscher. Allerdings hat die Umsetzung dieses emanzipatorischen Urprogramms dann viele Jahrhunderte gedauert. Und dauert immer noch an. * Szene aus dem Film „Die Zehn Gebote“, mit Charlton Heston (1956). 153 KEYSTONE FRANCE / LAIF Dahinter steckt also kein Übermut von sogenannten Ungläubigen, sondern ein religiöses Urmotiv. Das aber beruht auf Mose. Der Religionsphilosoph Martin Buber sieht Mose als dominante „Symbolfigur“ der Befreiung des Menschen vom „ewigen Pharaonentum“ des Staates. Abraham ist nur genealogisch der Erste. Mose, der große Held des Alten Testaments, der die Hebräer aus dem ägyptischen „Sklavenhaus“ führt: Auch der Koran erzählt diese Story, für ihn ist Mose der bedeutendste vorislamische Prophet, er erwähnt „Mussa“ an nicht weniger als 136 Stellen. Zuweilen mit dem Hinweis, Mussa habe das Kommen des Propheten Mohammed vorausgesagt. Wer war nun dieser frühantike Superstar der Wüste eigentlich? Sah er aus wie jene stämmige Würdegestalt „mit gedrückter Nase, einem geteilten Bart, weitstehenden Augen und breiten Handgelenken“, die Thomas Mann 1943 in der Erzählung „Das Gesetz“ beschrieben hat, offensichtlich frei nach der Mose-Skulptur Michelangelos? Der Bildhauer der Renaissance prägt bis heute das Mose-Bild stärker als Charlton Heston, der in Cecil B. DeMilles pathetischem Hollywood-Schinken „Die Zehn Gebote“ (1956) Mose mimt; stärker auch als der jugendlicher wirkende Dougray Scott in Robert Dornhelms dreistündigem TV-Film „Die Zehn Gebote“, den Sat.1 Karfreitag gesendet hat. Der Name „Mose“ ist ursprünglich ägyp- gen verfolgt wurde, sei „historisch nicht tisch, abgeleitet von „gebären, Sohn“ unwahrscheinlich“, schreibt der Münchner („msj“), „Der Gott … hat ihn geboren“; Alttestamentler Eckart Otto, 61, in seinem „Ra-messes“, Ramses, ist zum Beispiel der neuen Buch „Mose – Geschichte und Sohn des Gottes Ra. Den Gott, der Mose Legende“*. Im Zuge späterer Legendengeboren hat, verrät sein ägyptischer Name bildung sei dann, so Otto, „ganz Israel in nicht – weil er kein richtiger Ägypter war? Gestalt der nach den Söhnen Jakobs beDie Kurzform „Mose“ entspricht dem he- nannten zwölf Stämme aus Ägypten“ ausbräischen „Mosche“, und Hebräisch ist die gezogen, dabei sei das durch umschlagende Winde in sumpfigem Sprache des Alten TestaTerrain verursachte „Meerments – Luther hat aus der wunder“ mit „geheimnisgriechischen Version übervollen“ Attributen gesteisetzt, dort heißt der Prophet gert worden. Mose kam „Moosäs“ („Moses“). also erst nachträglich ins Mose war ein Hitzkopf, Spiel, so dass die Wogen der gern wütend die Fäuste schließlich auf seine Weischüttelte, wenn ihm wiesung hin zur Seite wichen der einmal die Worte fehlund seine Mannen trocken ten – er war „schwer von durchs Meer gelangten, Sprache“; ein Sohn hebräiwährend die ägyptischen scher, vielleicht beduiniVerfolger ertranken. scher Sklaven, die in ÄgypDer historische Mose, ten, im 13. Jahrhundert vor womöglich ein Mann des Christus, auf der Suche 12. vorchristlichen Jahrnach Wasser und Nahrung hunderts, hat mit den Zehn hängengeblieben waren Sigmund Freud, Psychoanalytiker Geboten nichts zu tun. Sie und für den bauwütigen wurden erst rund 600 JahPharao Ramses II. schuften Moses Monotheisre nach ihm, vielleicht im mussten. Das Herrenvolk mus: Nachhall des Exil oder gab den Sklaven gern ägypägyptischen Licht- babylonischen während der Exil-Demütitische Namen. gung, von zurückgebliebeDass eine solche Bau- gottes Aton, der sklavenabteilung sich der „alles Bestehende Fron entziehen wollte und * Verlag C. H. Beck, München; 128 von Ägyptern mit Streitwa- erschafft“. Seiten; 7,90 Euro. 154 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 nen Gelehrten in Jerusalem schriftlich fixiert. Aber das ändert nichts daran, dass für das Gedächtnis der Menschheit die biblische Verbindung der Mose-Gestalt mit den Geboten unauflöslich bleibt. Die Mose-Story dürfte, wie Homers „Ilias“ und „Odyssee“ oder das mittelhochdeutsche „Nibelungenlied“, eine Legende mit historischem Kern sein. Komplett legendär ist schon die Rettung des Kindes im wasserdicht gemachten Korb auf dem Nil. Der Pharao hatte befohlen, den Israeliten, die sich stark vermehrt hatten und aus deren Reihen er ein Attentat befürchtete, die männlichen Erstgeborenen wegzunehmen und diese zu töten (dieses Motiv wird, bezogen auf Herodes, im Neuen Testament variiert). Als die levitische Sklavin ihren drei Monate alten Sohn, so schreibt das Alte Testament, vor den ägyptischen Häschern „nicht mehr verborgen halten konnte, nahm sie ein Binsenkästchen, dichtete es mit Pech und Teer ab, legte den Knaben hinein und setzte ihn am Nilufer im Schilf aus. Die Tochter des Pharao kam herab, um im Nil zu baden“. Der Knabe weinte, sie bekam Mitleid mit ihm. „Und sie sagte: Das ist ein Hebräerkind.“ Sie akzeptierte ihn als Sohn und nannte ihn Mose. Diese Anfangserzählung erinnert an die Sargon-Legende, einen „zentralen Text der neuassyrischen Herrscherlegitimation“ (Eckart Otto). Er beginnt so: „Sargon, der starke König von Akkad bin ich … Mein AKG Titel Zehn-Gebote-Darstellung von Lucas Cranach dem Älteren (Wittenberg, 1516): Eine moralische Kehre, sensationell wie ein Komet Geburtsort ist Azupiranu, der am Euphratufer liegt. Meine Mutter, eine Hohepriesterin, wurde mit mir schwanger und gebar mich im Verborgenen. Sie legte mich in ein Schilfkästchen. Mit Bitumen dichtete sie meine Behausung ab und setzte mich am Ufer des Flusses aus, der mich überspülte. Der Fluss trug mich fort … Akki, der Wasserschöpfer, zog mich heraus … zog mich als Adoptivkind groß.“ Sargon wird Gärtner, die Göttin Ischtar verliebt sich in ihn, er wird König. Exilhebräer könnten durchaus diese assyrische Geschichte aus dem 1. Jahrtausend vor Christus zum Vorbild ihrer MoseErzählung genommen haben. Sargon ist ein uneheliches Kind, seine Mutter von hohem Adel. Das spricht für eine Variante, die nicht von der Bibel, aber von Thomas Mann, nach außerbiblischen Quellen, genüsslich im Altväter-Tonfall erzählt wird: „Ramessu’s, des Pharao’s, zweite Tochter, ergötzte sich mit dienenden Gespielinnen … in dem königlichen Garten am Nil. Da wurde sie eines ebräischen Knechtes gewahr, der Wasser schöpfte, und fiel in Begierde um seinetwillen … für Pharao’s Tochter war er ein Bild der Schönheit und des Verlangens, und sie befahl, dass man ihn zu ihr einlasse in einen Pavillon; da fuhr sie ihm mit dem kostbaren Händchen ins schweißnasse Haar, küsste den Muskel seines Arms und neckte seine Mannheit auf, dass er sich ihrer bemächtigte, der Fremdsklave des Königskindes.“ Wenig später wird der Liebhaber getötet, doch nach neun Monaten bringt die Tochter des Pharaos einen Jungen zur Welt, den die dienenden Frauen erst im Schilf verbergen und dann wiederfinden. Der im Haus des Pharaos Großgewordene erschlägt eines Tages einen Ägypter, weil der einen Hebräer, vielleicht einen Bauleiter, verprügelt hat. Die Tat kommt dem König zu Ohren, er will Mose umbringen lassen. Mose flieht in die Wüste nach Midian. Dort verteidigt er an einem Brunnen die Töchter des Priesters Reguël, die von fremden Hirten angepöbelt und belästigt werden. Der Vater der Mädchen zeigt sich dankbar und gibt Mose eine seiner Töchter zur Frau, die schöne Zippora. Sie haben bald einen Sohn: Gerschom. Neben Zippora gibt es noch eine dunkelhäutige Geliebte, Tharbis, irgendetwas zwischen Prinzessin und Kurtisane. Sie soll Mose später die staubige Exodus-Qual in der Wüste versüßt haben. Thomas Mann: „Zweifellos hatte sie schon manchen Mann erkannt, und dennoch nahm Mose sie an sich als Bettgenossin. In ihrer Art war sie ein prachtvolles Stück, mit Bergesbrüsten, rollendem Augenweiß, Wulstlippen, in die sich im Kuss zu versenken ein Abenteuer sein mochte, und einer Haut voller Würze.“ Moses Familie, besonders Zippora, hasste die „Bett-Mohrin“ (Thomas Mann). d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Mose hütet fortan das Vieh seines Schwiegervaters, bis sich ihm eines Tages Gott im brennenden Dornbusch offenbart: „Ich bin, der ich bin.“ Was ist über dieses galaktische, auch galaktisch einfache Wort alles spekuliert worden. Jahwe offenbare sich als „der Seiende schlechthin“, heißt es etwa in Mircea Eliades „Geschichte der religiösen Ideen“, Jahwe, der alles, was ist, umfasse, schaffe und repräsentiere. Eigentlich besagt der einer heidnischen Zauberformel nicht unähnliche, tautologische Spruch bloß: Komme mir nicht zu nahe, ich entziehe mich dir und jeder bildhaften oder namentlichen Eingrenzung. Es steckt in diesem „Ich bin, der ich bin“ auch ein trotziges „und nichts anderes“: „Ich bin Jahwe, und keiner sonst“, heißt es entsprechend beim Propheten Jesaja. Der lodernde Dornbusch-Jahwe fährt fort: „So sag zu den Israeliten: Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt.“ Mose erhält den Auftrag, die Hebräer „aus dem Elend Ägyptens herauszuführen … in ein Land, in dem Milch und Honig fließen“. Der Auftrag der Aufträge: Die Hebräer-Identität stützt sich auf diesen Exodus aus Ägypten. Mose kehrt denn auch nach Ägypten zurück. Sein redegewandter Bruder Aaron wird sein Pressesprecher: sein Propagandist. Mose und Aaron bedrängen den Pharao, dem Volk die schwere Arbeit am Bau 155 Titel s Tigr i Euphrat Babylon AN Alexandria KANA Mittelmeer Ur Persischer Golf Jerusalem Über den Auszug der Hebräer aus Ägypten berichtet der römische Historiker Tacitus (etwa 55 bis circa 116 nach Christus) sehr viel nüchterner als die Bibel. In seinen berühmten „Historiae“ ist zu lesen: Ägypten wird von einer Seuche heimgesucht, die körperliche Missbildungen zur Folge hat. Pharao Bokchoris befragt das Orakel, ihm wird befohlen, das Land von jener fremden Rasse („genus“), die den Göttern verhasst sei, zu „reinigen“. Die Juden werden in die Wüste gejagt. Mose hält den Haufen zusammen und organisiert die Etablierung des Jahwe-Glaubens als Gegenreligion („novus ritus“), festigt damit auch den eigenen Führungsanspruch, bringt die Vertriebenen nach Palästina und gründet Jerusalem. Tacitus charakterisiert die neue Religion so: „Die Ägypter verehren viele Tiere und monströse Bilder; die Juden kennen nur einen Gott und diesen nur mit dem Geist. Sie betrachten solche, die Bilder von Gott nach menschli- Tempel von Ramses II. in Abu Simbel, Sargdeckel aus Echnatonchem Vorbild herstellen, als unfromm: Das höchste und ewige Wesen ist scheibe („Aton“), galt bereits als Schöpfergott, der durch Licht und Zeit „alles für sie undarstellbar und unendlich.“ Als Ägypter steht Mose – diese Version Bestehende erschafft“. Kanaan war zur bevorzugt Sigmund Freud in seinem Buch Echnaton-Phase ägyptisch verwaltet. Freud nimmt an, das Volk habe, Mose „Der Mann Moses“ (1939) – in dem dringenden Verdacht, er habe den im 14. Jahr- zum Trotz, den rustikalen Kriegsgott hundert vor Christus von Pharao Ameno- Jahwe dem vergeistigten Aton vorgezogen, phis IV., der sich selbst „Echnaton“ nann- der dann aber doch, bedingt durch die späte, durchgesetzten bilderfeindlichen Aton- tere Verklärung des Mose, das Verständnis Kult wiederbelebt – eine monotheistische, von Jahwe nachträglich veredelt habe. Für esoterisch-sinnliche Lichtreligion. Aton, Freud gehört auch dies zur typischen „Wiesymbolisiert durch die abstrakte Sonnen- derkehr des Verdrängten“. SIMEONE / BILDAGENTUR HUBER zu ersparen, zunächst für einige Tage, an denen es seinem Gott Opfer darbringen wolle. Als der Pharao ablehnt, wird er schließlich mit den zehn Plagen erpresst, die Jahwe, der Schutzgott der Hebräer, ihm schickt: Frösche, Stechmücken, Heuschrecken, Krätze, Hagel, Finsternis, Blut im Nil und anderes, bis Jahwe schließlich, weil der Pharao stur bleibt, als „Verderber“ die männlichen Erstgeborenen der Ägypter tötet. Das religiöse Israel gedenkt dieser Bestrafungsaktion, vor der die Erstgeborenen der Hebräer durch Lämmerblut an Türpfosten geschützt werden, im Pessachfest und verwandelt so eine uralte Frühlingsfete von Hirten in ein Ereignis der Heilsgeschichte. Der Ägypterkönig gibt endlich nach. Mose bezwingt den Pharao, führt sein Volk durch das Meer und, immerhin 40 Jahre lang, durch die Wüste. Die stolzen Mose-Leute – was für ein elender Haufen! Das „heilige Volk“ war lange versklavt und ist ganz und gar wild und grob. Thomas Mann: „Vorläufig waren sie nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch bekundeten, dass sie ihre Leiber einfach ins Lager entleerten, wo es sich treffen wollte.“ Hier tritt Mose dann als der mythische Erzieher auf, der dem Sklavenvolk die – nach dem Sinn für den „Unsichtbaren“ und der Erfindung der Schrift – drittwichtigste Grundlage der Kultur beschert: Hygiene. Neben dem Jahwe-Gott wird die Vorschrift, sauberer zu sein (und nur Entsprechendes zu essen) als andere, ein elementares Motiv der hebräischen Auserwähltheit. Ein Gott, drei Religionen Berg Sinai Die Wurzeln des Monotheismus biblische Daten ÄGY PTEN Ro Medina s te M ee r Mekka Biblische Urgeschichte Abraham, zentrale Figur des Alten Testaments, zieht auf Gottes Geheiß nach Kanaan, um dort ein neues Volk zu gründen. Judentum, Christentum und Islam sehen ihn als Urvater ihrer jeweiligen Religion. 1364 bis 1347 v. Chr. In Ägypten herrscht Amenophis IV. (Echnaton). Er gründet den Kult um den Sonnengott Aton – Vorläufer des monotheistischen Glaubens. um 1250 v. Chr. Mose führt das unter Ramses II. versklavte Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft. Auf dem Berg Sinai nimmt er die Zehn Gebote entgegen. 156 ca. 1004 bis 964 v. Chr. König David erobert Jerusalem und errichtet sein legendäres Großreich. 965 bis 926 v. Chr. Bau des ersten Jerusalemer Jahwe-Tempels unter Salomo 587/586 v. Chr. Zerstörung des Tempels durch die Babylonier unter Nebukadnezar II. Beginn der Babylonischen Gefangenschaft (bis 538) 7. Jahrhundert v. Chr. Niederschrift der Mose-Erzählungen 6. Jahrhundert v. Chr. Die Zehn Gebote werden zusammengestellt und in das 5. Buch Mose integriert. 63 v. Chr. Pompeius erobert Jerusalem, Beginn der römischen Vorherrschaft über Palästina. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 um 4 v. Chr. Geburt Jesu um 70 n. Chr. Das Markus-Evangelium wird geschrieben. 391 n. Chr. Das Christentum wird Staatsreligion im Römischen Reich. 622 n. Chr. Auszug des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina. Die Zeitrechnung des Islams beginnt. bis 656 n. Chr. Schriftliche Fixierung des Koran-Textes. Viele Figuren des Alten Testaments, besonders Abraham und Mose, finden sich im Koran wieder. „Er offenbarte dir die Schrift mit der Wahrheit und bestätigte hiermit sein schon früher gesandtes Wort. Er offenbarte schon vorher die Tora und das Evangelium als Richtschnur für die Menschheit, und nun offenbarte er die Unterscheidung“ (Sure 3, Vers 3 – 4). BEN BEHNKE Grab: Die Figur des Mose bündelt die altägyptischen Wurzeln jüdischer Identität stammung andichten.“ Einen gebürtigen ägyptischen Prinzen hätten die Juden nicht als Freiheitshelden akzeptiert. In der Religionshistorie durchgesetzt hat sich diese Theorie nicht. Immerhin bestreitet nicht einmal Krauss, der so vieles an der Mose-Geschichte „erdichtet“ findet, dass es den Propheten Mose gegeben hat. Nach dem Durchzug durchs Meer ruft Mose: „Wer ist wie du unter den Göttern, Jahwe?“ Daraus folgt: Das erste Gebot („Ich bin Jahwe“ gilt im Judentum schon als erstes Gebot, sonst meist Präambel), keine anderen Götter zu verehren, schließt die Existenz dieser anderen Götter nicht grundsätzlich aus. In dieser frühen Phase seiner Entwicklung ist der jüdische Glaube zwar exklusiv auf Jahwe gerichtet, aber noch kein echter Monotheismus. Das wurde er erst im babylonischen Exil, als Kompensation für den Verlust von Tempel und Königtum: Als der Prophet literarisch Umrisse gewann, hatte die babylonische Großmacht gerade, um 586 vor Christus, Tempel und Stadt Jerusalem zerstört und das Davidsche Königtum abgeschafft. Die Judäer dieses Jahrhunderts blieben ihrem Jahwe trotzig treu, ERICH LESSING / AKG Der Berliner Ägyptologe Rolf Krauss („Das Moses-Rätsel“, 2001) versucht zu beweisen, dass hinter wesentlichen Zügen der Mose-Gestalt der ägyptische EmpörerPrinz Amun-masesa steckt. Daraus habe dann ein „national-religiöser Dichter“, der „Jahwist“, den Gründungsmythos der jüdischen Religion und des „heiligen Volkes“ gebastelt. Krauss: „Als der Jahwist über den ägyptischen Empörerkönig Amun-masesa alias Moses stolperte, musste er dem gebürtigen Ägypter eine hebräische Ab- obwohl im alten Orient die Gottheit des Siegers vom Verlierer übernommen werden musste. Als der letzte Garant ihrer nationalen und geistigen Identität wurde Jahwe nun zum Allein-Gott der Juden. Die wiederholte biblische Rede vom „Sklavenhaus“ Ägypten und seinem Pharao zielt zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wird, mehr auf die aktuellen Unterdrücker als auf die zeitlich eher entrückten Herren vom Nil. Ägypten dient längst „verdeckt“ als „Synonym für Assyrien“, wie Eckart Otto belegt. Mose darf zwar Gottes Gesetz in Empfang nehmen, und das gleich zweimal – die erste Tafel-Edition hat er, im Zorn über das Goldene Kalb, das seine Leute in seiner Abwesenheit errichteten, zerschmettert, es gibt danach noch eine zweite; aber das Gelobte Land darf der charismatische Führer nur noch sehen, nicht mehr betreten. Nachdem er es vom Berg Nebo aus, über den Jordan hinweg, geschaut hat, muss er sterben. Entweder bringen ihn die eigenen Leuten um, so Freuds Version – nach 40 Jahren mehr oder weniger irrer Wüstenwanderung und ständiger spiritueller Überforderung nicht verwunderlich. Oder er wird gerichtet „durch den Mund Gottes“, einen göttlichen Kuss, wie es in einer Quelle heißt. Weil er am Ende doch zu oft seinem Gott misstraut hat? Weil ein mystischer Asket, ein auf sich zentrierter Geist einfach nicht an das Ziel seiner Sehnsucht gelangen darf? Der Mythos des Asketen könnte erklären, wieso ausgerechnet des Allerhöchsten Musterknabe am Ende so abgestraft wird. Michelangelos Mose-Skulptur hat diesen ernsten Rätselblick in die Ferne, ins Gelobte Land und auf den baldigen eigenen Tod wunderbar eingefangen. Es ist der Blick des Geistes. Moses General Josua soll Jericho dann erobern. O-Ton Jahwe: „Mein Knecht Mose ist gestorben; mach dich also auf den Weg, und zieh über den Jordan, hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde.“ Josua zögert nicht. Da sich der Jordan stromaufwärts vor der Bundeslade staut, jenem Wanderheiligtum mit den Gesetzestafeln, gelangen Josuas Leute trockenen Fußes durch das Flussbett (wie beim Exodus durch das Meer). Sie umstellen Jericho. Niemand kann heraus oder hinein. Josuas Männer rennen mit Kriegsgeschrei, während die Priester ihre Widderhorn-Posaunen blasen, gegen die älteste befestigte Stadt der Welt. Und siehe da: Die Mauern stürzen in sich zusammen. Nachhilfe durch ein kleines Erdbeben? „So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“ Die Einwohner werden mit- Israel am Sinai* Wolken und Hörnerschall d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 * Gemälde von Uriel Birnbaum. 157 LIFE samt ihren Haustieren hingemetzelt und als Ruhetag, zwischen der Gerstenernte verbrannt. Bis auf die Hure Rahab und (Ostern) und der Weizenernte (Pfingsten). ihre Angehörigen. Die Frau hatte vor der Hier verraten die Zehn Gebote deutlich ihre Eroberung zwei Kundschaftern Josuas Un- Herkunft aus einer bäuerlichen Kultur. Sie terkunft gewährt. sollen helfen, die Grundlagen des stolzen Die ungewöhnliche Brutalität dieser An- Landlebens zu sichern. Dem dient auch das kunft im Gelobten Land, kein gutes Omen Gebot, die Eltern zu ehren und – in erweifür Israel, erklärt sich nicht etwa daraus, terter Fassung – die Alten zu versorgen. dass Mose nicht mehr auf Josua aufpassen Das Sabbatgebot bildet die Brücke zwikann. Mose selbst war nicht zimperlich: schen dem direkten Bekenntnis zu Gott Unter seiner Führung befördern die wan- und dem Verhaltenskodex gegenüber den dernden Juden, als sie zur Oase Kadesch Menschen. Die fünf eindeutig mitmenschkommen, deren männliche Bewohner ins lichen Vorschriften – nicht morden, nicht Jenseits; und als Mose, nach 40 Tagen Got- ehebrechen, nicht stehlen, nicht verleumtesmeditation auf dem Berg Sinai, die heid- den, das Eigentum des Nächsten respeknische Bescherung im Tal, das Anbeten des tieren – sind ursprünglich ein einziges Goldenen Kalbs samt Wein, Weib und Ge- „Wort“ der Nächstenliebe (Dekalog heißt sang, beenden und bestrafen will, befiehlt auch: „zehn Worte“). Warum wurden aus er seinen Gefolgsleuten: „Jeder lege sein diesen sechs schließlich doch zehn? Schwert an. Jeder erschlage seinen Bruder, Dahinter wirkt die Magie der Zahl Zehn: seinen Freund, seinen Nächsten.“ Und es zehn Finger! Der griechische Philosoph fielen, resümiert die Bibel kühl, „an jenem Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) nennt Tage gegen dreitausend Mann“. zehn „Kategorien“, die das, was ist, prinDie wackere Mose-Schar führt keinen zipiell umgrenzen, etwa „Substanz“ und gewöhnlichen, sondern einen „heiligen „Quantität“, „Ort“ und „Zeit“. Die PythaKrieg“. In Wahrheit ist es ja Jahwe, der goräer halten die Zehn für eine ideale Zahl für Israel viele Völker aus dem Weg räumt: und damit für einen entscheidenden BauHetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaani- stein des Wirklichen. Was diese antiken ter, Perisiter, Hiwiter, Jebusiter. „Wenn der Denker fasziniert: Die Zahl Zehn enthält Herr, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie die gesamte Natur der Zahlen. Wir zählen schlägst, dann sollst du sie der Vernich- bis zehn und beginnen wieder mit der eins: tung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit 11. Für die alten Griechen spiegelt die in ihnen schließen, sie nicht verschonen.“ zwei gleichwertige Hälften teilbare Zehn Der Gott des jeweils Besiegten wird na- die Symmetrie des Universums. mentlich nicht mehr erwähnt: „Denn ich Die Zehn ist das Merkmuster, der Ordbin ein eifersüchtiger Gott.“ nungsschlager schlechthin: Troja wird von Mose, der Mordbrenner, der zugleich den den Griechen zehn Jahre belagert; Mose Menschen feierlich das Verbot zu morden weilt nach seinem Sieg über die Äthiopier überbringt – ein erstaunlicher Widerspruch. zehn Jahre in deren Land; den Ägyptern Das Buch Exodus gebietet: „Wer einen schickt sein Schutzgott Jahwe zehn PlaMenschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit gen. Wenn die Zahl Zehn also ein Baudem Tod bestraft.“ Mit Todesstrafe werden stein des Weltgebäudes ist, dann ist der auch Menschenraub (er ist ursprünglich mit Dekalog ein Weltgesetz. dem Gebot „Du sollst nicht Spätere Deuter der Bibel stehlen“ gemeint), Sodomie sagen, die Zehn Gebote seiund Verfluchung der Eltern en dem Menschen „ins geahndet. Auch „eine Hexe Herz geschrieben“ (Eckart sollst du nicht am Leben lasOtto). Thomas von Aquin, der große Philosoph des sen“. Fast kurios wirkt diese hohen Mittelalters, meint Vorschrift: „Wenn ein Rind sogar, der Dekalog, der einen Mann oder eine Frau so stößt, dass der Betreffenalle Sittengebote des Alten Testaments zusammenfasde stirbt, dann muss man se, entspreche dem Naturdas Rind steinigen, und sein recht. Fleisch darf man nicht essen; der Eigentümer des Das Judentum findet die Rinds aber bleibt straffrei.“ Zehn Gebote nicht wichtiger als die ganze Tora mit Wer ein Rind steinigt, beihren 613 Lebensvorschrifstraft es und spricht ihm daten. Aber indirekt zeigt mit eine gewisse Fähigkeit Thomas Mann, Schriftsteller man dann doch Respekt zu, das Unglück zu verantvor der Zehn-Zahl: In den worten. Im Gebot, den Sab- Moses „Bettgenos613 (hebräischen) Buchbat zu heiligen, zeigt sich sin“ war „ein staben der Zehn Gebote ein Respekt vor Tieren: sind nach alter RabbinerAuch Rind und Esel sollen prachtvolles Stück, lehre die 613 Gebote der am siebten Tag der Woche mit Bergesbrüsten Tora vorgezeichnet. Und „keine Arbeit tun“. und einer Haut was ist die Quersumme von Der siebte Tag galt ur613? Zehn. sprünglich nur zur Erntezeit voller Würze“. 158 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 CINETEXT Titel Jesus bei der Bergpredigt (Szene aus dem Film Auch der Koran kennt, in der 17. Sure, ähnliche Gebote. Darunter diese: „Setze neben Gott keinen anderen Gott“; „Erweist den Eltern Güte“; „Gib dem Verwandten, ebenso dem Armen und dem Reisenden“; „Lasst euch nicht auf Unzucht ein“; „Und tötet niemanden – es sei denn zu Recht“; „und wandle nicht in Übermut auf der Erde“. Inhaltlich entsprechen die meisten KoranGebote denen der Bibel, doch die Form, die Zahl Zehn, gilt nicht als wesentlich. Im chinesischen Daoismus, der ethisch mit dem Buddhismus eng verwandt ist, gibt es fünf Gebote und zehn gute Taten, durch die der Gläubige, ein Anhänger des aktiven Nichthandelns, Unsterblichkeit erlangt. Zu den zehn guten Taten zählt die Pietät gegenüber den Eltern, das Mitleid mit allen Dingen und Lebewesen. Dieser Dekalog zielt nicht auf den „Bund“ mit einem persönlichen Gott, sondern auf gesellschaftliche Harmonie und die Unsterblichkeit des „Berufenen“. Der Berufene meidet, das fordert eines der fünf Gelübde, „das Heftige“, „das Üppige“, „das Großartige“. Der hitzige Mose wäre kein Berufener gewesen. Wer sich gegen ihn stellt, der wird meist „mit dem Tod bestraft“; den verfolgt Jahwe mit seiner Rache bis in die vierte Generation. Die höchste Strafe ist der „Zorn des Herrn“, der den Delinquenten auch vernichtet. Es droht Strafe, aber es lockt auch Lohn, „damit du lange lebst und es dir gutgeht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt“. CINETEXT (L.); AKG (R.) „König der Könige“, USA 1961), Mohammeds Himmelfahrt (persische Miniatur, 16. Jahrhundert): Feindesliebe oder Töten als „Vergeltung“? Gott verspricht Bleibe und Wohlergehen an einem Ort, den die Hebräer immer wieder heftig vermissen werden: in der Heimat. In der vom Verfasser des MatthäusEvangeliums ein halbes Jahrtausend später komponierten „Bergpredigt“ spricht Jesus, dessen Gestalt und Auftreten in manchem der Mose-Figur nachgezeichnet ist, ausdrücklich die Gebote des Propheten durch. Er bestätigt sie: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben.“ Und doch ändert er einiges. Jesus verbietet, anders als Mose, die Ehescheidung, außer wegen „Unzucht“. Denn wer seine Frau entlässt, der ist schuld, wenn ein anderer die Ehe mit ihr bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe. Kühner begründet der Evangelist Markus das Scheidungsverbot: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ – denn der Schöpfergott habe „Mann und Frau“ als Paar „geschaffen“. Die Schärfe dieses Scheidungsverbots erklärt sich auch daraus, dass die ältesten Propheten die Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk im Bild des Ehebundes ausgedrückt haben. Es geht in der Rede vom Ehebund eben um mehr als um den Ehebund. Jesus nimmt das Sabbatgebot nicht übermäßig ernst (er heilt am Sabbat einem Kranken die Hand), untersagt das Schwören generell, nicht bloß den Meineid (wie Mose), und distanziert sich auch von etli- chen Tora-Vorschriften zu reiner und unreiner Nahrung. Das Mordverbot des Mose dagegen verschärft Jesus, indem er bereits die Emotion zu zähmen versucht, die eine Gewalttat auslösen kann: „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt“, der muss vors Gericht. Er solle sich mit seinem Gegner vertragen. Am weitesten geht Jesus über Mose hinaus, wenn er dem vom Propheten geforderten Kernkodex, Gottesglaube und Nächstenliebe, die Feindesliebe hinzufügt. Wie Luther übersetzt: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ Und „wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“. Evangelist Lukas ergänzt: „Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. Was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Mit der Bergpredigt „transzendiert“ Jesus „die vorgegebene Tora“ der Juden deutlich, so der Erlanger Neu-Testamentler Jürgen Roloff. Aber nur, um ihre ursprüngliche Unbedingtheit wiederzubeleben. Diese Radikalisierung Jesu erklärt sich, so Roloff, aus der fiebrigen Erwartung, die „Gottesherrschaft“ stehe unmittelbar bevor. Die Bergpredigt formuliert eine Utopie: ein „von der unmittelbaren Gegenwart Gottes bestimmtes Miteinander“ der Menschen. Zu Jesu Zeiten haben dem allenfalls seine Jünger nachgeeifert. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Für den vom Ende der Geschichte noch etwas entfernten Alltag ist der Dekalog des Mose weit praktikabler als die ziemlich radikale Bergpredigt. Vom Verbot, die Feinde einfach umzubringen, profitieren diese schon genug. Müssen sie auch noch geliebt werden? Eine geheimnisvolle Fibel steht dem Geist der Zehn Gebote erstaunlich nahe: das „Ägyptische Totenbuch“, dessen Sprüche viele Jahrhunderte vor dem Alten Testament formuliert wurden und zur Grabausstattung wohlhabender Bürger gehörten. Vor der Reise durch die Unterwelt muss der Gestorbene, im Angesicht von Totengott Osiris und 42 messerbewehrten Richtergottheiten, bekennen, welche Sünden er nicht begangen hat: „Wohlan, ich habe das Leben dazu genutzt, das Gute zu vollbringen … ich habe Speise gegeben denen, die bedürftig waren … Beim Träger der Kher-Aha-Flammen, ich habe nicht gestohlen! Bei der Nase von Hermopolis, ich habe nicht betrogen! Beim Verschlinger der Schatten, ich habe keinen Menschen erschlagen! … Meine Eltern habe ich in ein Leichentuch gehüllt … Die Geier des Himmels habe ich gespeist, denn es sind heilige Tiere … Ich habe an Orten der Reinheit keine Unzucht getrieben.“ Nicht stehlen, nicht lügen, keine Menschen erschlagen, die Eltern ehren, den Armen geben – hier wie dort formulieren die ethischen Texte der alten Hochkulturen ähnliche Prinzipien. In wesentlichen Zügen 159 Titel Frauen heiraten, müssen sie allerdings auch versorgen können. Es sind kriegerische Zeiten mit großem Männermangel. Die Tötung neugeborener Mädchen, damals häufig, verbietet er ebenso wie die Verheiratung eines Mädchens gegen dessen Willen. Den Zölibat, die Pflicht zur Ehelosigkeit, lehnt Mohammed ab: „Sooft ihr das Werk des Fleisches verrichtet, so oft gebt ihr ein Almosen.“ Mohammed, zunächst ein Kamelhirte, ist durch die Heirat einer 15 Jahre älteren Kaufmannswitwe in die Oberschicht von Mekka aufgestiegen und hat als Kaufmann reichlich Gelegenheit zu reisen, auch nach Palästina, wo er die Lehren der Juden und Christen hört (lesen kann er sie nicht). In einer Berghöhle offenbart ihm der Erzengel Gabriel die ersten Koranverse. Zu Tieren ist Mohammed zartfühlend: Tierliebe ist teilweise Pflicht, wie im Buddhismus (Jesus kümmert sich, anders als Mose, nicht um Tiere). Eines Tages strebt Mohammed fort zum Gebet. Auf einem Ärmel seines Gewandes schläft eine Katze. Mohammed schneidet sich den Ärmel halb ab. Er will die Ruhe des schönen Tieres nicht stören. Er war ein eifriger Krieger, aber, nach dem Sieg über Mekka, immerhin milde gegen seine Feinde von früher. Der islamische Gottesstaat, den er etablierte, erstreckte sich unter seinen Nachfolgern bis Syrien, Ägypten, Persien, Südspanien, im 16. Jahrhundert gerieten auch große Teile Indiens unter den Halbmond und 1683 um ein Haar Wien. Bei der Rechtfertigung oder Ablehnung der Gewalt ist der Koran so widersprüchlich wie das Alte Testament. Es gibt wie im Dekalog das Verbot, Menschen zu töten. „Wer einen umbringt, nicht um zu vergelten oder weil dieser Verderben auf der Jerusalemer Altstadt mit islamischem Felsendom MÜLLER G.R. / SÜDDEUTSCHER VERLAG geht es dabei um die Bedingungen eines halbwegs zivilen Zusammenlebens von Menschen in einer entwickelten Gemeinschaft. Sie würde am nackten Wolfsverhalten zugrunde gehen. Umso brisanter, und bis in unsere Tage folgenreicher, sind die Unterschiede bei anscheinend gleicher Grundüberzeugung. Am ehesten tolerieren der Koran und das Alte Testament, obwohl sie das Morden verbieten, das Töten sogenannter Gesetzesbrecher. Wie Mose im Äthiopien-Feldzug und nach dem Auszug aus Ägypten durch das großzügige Beseitigen von Nahrungskonkurrenten und Bewohnern begehrter Orte um sich schlägt, so erobert der Kaufmann Mohammed, „der Gepriesene“, im Jahr 630 nach Christus von Medina aus seine Heimatstadt Mekka: Sie wollte vorher seine Lehren nicht hören. Er nimmt die Kaaba in Besitz, bis dahin wohl auch von Christen genutzt und fortan die zentrale heilige Stätte der Muslime, zu der sie einmal in ihrem Leben pilgern müssen. Solange er in Medina lebt, rechtfertigt Mohammed auch die regelmäßigen Überfälle auf Karawanen der Mekkaner. Schon das ist „Dschihad“, Kampf um Beute für die eigenen Leute; der Begriff meint auch den Kampf um die Herrschaft des Einzelnen über seine Sinne. Nach dem Sieg über Mekka ist Mohammed ein Herrscher, der ein größeres Heer befehligt, die Steuern festlegt, gutes Essen, angenehme Gerüche und schöne Frauen liebt; er verfügt über einen prächtigen Harem mit Ehefrauen und Sklavinnen. Seine Lieblingsfrau Aischa ist neun Jahre alt, als er sie heiratet, die Tochter eines alten Freundes. Die Liebe zu Frauen – das Paradies schaut Mohammed „zu Füßen der Mütter“ – gibt er in reduzierter Form an seine Gefolgsleute weiter. Sie dürfen bis zu vier Mose und das Goldene Kalb (Passionsspiel Oberammergau, 2000): „Es fielen gegen 3000 Mann“ 160 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Erde anrichtete, so sei es, als habe er alle Menschen umgebracht. Wer andererseits eines einzigen Menschen Leben rettet, sei angesehen, als habe er das Leben aller Menschen erhalten.“ Dieser Ausspruch wird regelmäßig als Beleg dafür genommen, dass der Islam den Mord verbiete. Das Töten als „Vergeltung“ und das Töten „verderblicher“ Existenzen, wer das auch sein mag, werden immerhin gestattet. „Der wahre Muslim ist derjenige, dessen Zunge und dessen Hand kein Muslim zu fürchten hat.“ Ähnlich der Nächstenliebe des Alten Bundes, kippt in diesem Prophetenwort Friedfertigkeit, die primär bezogen bleibt auf Glaubensgenossen, um in Aggression gegen Außenstehende. Im Blick auf „Ungläubige“ heißt es martialisch: „Tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt.“ Allah selbst übt vernichtend „Vergeltung“ an dem, der ihn beleidigt. Mohammed, dessen Himmelfahrt von Jerusalem aus geschieht, betrachtet Jesus („Issa“) als Propheten, der auch beim Jüngsten Gericht auftreten wird. Doch wird Jesus, so eine Version, den muslimischen Glauben annehmen, heiraten und neben Mohammed in Medina begraben. Danach haben die „Ungläubigen“ wirklich nichts mehr zu lachen: Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen dem Islam und dem tödlichen Schwerthieb. Prophet Mohammed ist, wie Mose und Jesus, ein Nachfahre des Stammvaters FRIEDRICH STARK und jüdischer Klagemauer: Heilige Stätte der abrahamitischen Religionen GETTY IMAGES Abraham („Ibrahim“). Abraham zeugte Gebote verstoßen. Bestritten wird zudem, mit seiner ersten Frau Hagar, einer ägypti- dass Jesus gekreuzigt wurde. Die meisten schen Sklavin, Ismael, den Ahnherrn der islamischen Länder haben aber christliche arabischen Stämme; seine zweite Frau Sara Kulte stets toleriert. Christen hatten ihr eigebar ihm Isaak, den Ahnherrn der jüdi- genes Recht, mussten indes Steuern zahlen, schen Stämme. Wahrhaftig eine einzige, und das war nützlich, da Muslime traditiouralte Familie, die sich in Palästina zur- nell von Steuern befreit sind. zeit wieder die Köpfe einWie ist es zu erklären, schlägt. dass seit den barbarischen Kreuzzügen im Mittelalter Allah, die arabische Überdas heilige Dreieck zwisetzung für „Jahwe“, ist der schen Judentum, Chriseinzige, wahre, ewige, untentum und Islam nicht teilbare Gott, groß und mehr zur Ruhe kommt? barmherzig. „Unser Gott Dass immer wieder Diffaund euer Gott ist ein einimierung, Misstrauen, Hass, ger Gott“, sagt Mohammed Mord und Totschlag eben(Sure 29, 46) zu den Chrisdort zum Alltag gehören, ten, dem „Volk der Schrift“, wo eigentlich die höchste mit dem Muslime schon desMoral der Nächstenliebe halb „nicht streiten“ sollen, Gesetz wurde und gepreweil auch Jesus, wie Mose, digt wird? Ist „Feindliche Muslim ist, einer, der dem Brüder“ eben doch die Islam (wörtlich: „Ergebung Steigerung von „Feinde“? in Gott“) zugehört. Allah Mircea Eliade, Religionshistoriker Der Religionshistoriker zeigt sich gnadenlos vor allem gegen die Vielgötterei „Die Intoleranz der Mircea Eliade sieht es so: „Die Intoleranz und der heidnischer Araber. An den monotheistischen Christen wird kritisiert, dass Fanatismus, die für die sie Gott in drei Personen Religionen hat Propheten und Missionare aufteilen; dass sie sich, über Vorbild und Rechtder drei monotheistischen Jesus, ein Bild von Gott maReligionen charakteristisch fertigung im chen und damit sogar gegen sind, haben ihr Vorbild das dritte der eigenen Zehn Beispiel Jahwes.“ und ihre Rechtfertigung d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 im Beispiel Jahwes.“ Eliade hat recht, bis auf die Rede von „Missionaren“. Denn die Juden, anders als Christen und Muslime, wollten nie andere Völker missionieren. Aber ihr Gott ist „eifersüchtig“, er duldet keinen anderen neben sich. Ebendies hat Allah von Jahwe gelernt. Also gilt die Kampfmoral: Ich oder die anderen. Mein Gott ist allmächtig und einzig, also bin ich es auch gewissermaßen. Das Volk, das sich als „besonderes Eigentum“ seines Gottes versteht, besitzt, so war es anfänglich, umgekehrt auch diesen Gott exklusiv. Ihm aber gehört die Welt, die er schuf. Was folgt daraus? Wenn nicht die Weltherrschaft, dann zumindest eine religiöse Allmachtsphantasie, ein spiritueller Größenwahn. Sobald die Anhänger einer konkurrierenden Religion wie des Islam genau so ausschließend auftreten, folgt daraus leicht ein einziges Hauen und Stechen. Die Kinder der jeweiligen Allein-Götter verfolgen einander nach dem Motto „Denk wie ich oder stirb!“; Voltaire zitiert es als den Leitspruch aller Fanatiker. Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, 67, hat in seinem wegweisenden Buch „Moses der Ägypter – Entzifferung einer Gedächtnisspur“ (1998) die „mosaische Unterscheidung“ zwischen wahr und unwahr in der Religion, zwischen Juden und Gojim, später dann Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubigen für eine Welt „voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt“ verantwortlich gemacht. Er sah diese Figuration im ägyptischen Echnaton-Kult, der die anderen Götter verwarf, vorgezeichnet. Daraufhin wurde er verdächtigt, er mache, da er den Himmelsmonopolisten Jahwe für den Hass gegen ihn in die Pflicht nehme, die Juden selbst für den Antisemitismus verantwortlich. Somit sei er – die naheliegende Suggestion – tendenziell selbst Antisemit. So argumentierte in einem Zeitungsbeitrag der Berliner Judaist Peter Schäfer. Der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf, 57, geht in seinem neuen Buch „Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze“ nicht so weit*. Aber Assmann, meint er, übersehe, dass religiöse Symbolsprachen „sehr viel fluider, variationsreicher und deutungsoffener“ seien, als die These vom militanten „Trennungsdenken“ Jahwes behaupte. Der Mose-Gott sei kein Mono-Block, sondern sehr wohl „pluralismusfähig“. Aber was ist, wenn Graf die Liberalität der Monotheisten über- und das FreundFeind-Denken des Mose-Gottes unterschätzt? Dann liegt der Ägyptologe doch sachlich richtig. Dann wiederum ist auch ein neues Kapitel aufgeklärter Religionskritik fällig, vergleichbar jener marxistischen, die im 19. Jahrhundert zu Recht beklagte, das christliche Heilsversprechen fürs Jenseits sei „Opium des Volks“, das sich ausbeuten lasse. * Verlag C. H. Beck , München; 100 Seiten; 12 Euro. 161 Titel AKG GAMMA / LAIF orthodoxen Judentums fordert, und sei es nur im Sinne der Sanftmut des Rabbi Jesus, ist bestimmt nicht gleich ein Antisemit. Er macht sich bloß Gedanken über einen möglichen Weltfrieden, den die Religionen mitbegründen, aber eben leider auch immer neu verhindern können. Das hat Jan Assmann versucht. Er schwärmt vom prinzipiell mit Gott und der Welt versöhnten, optimistisch gestimmten „Kosmotheismus“ der Ägypter, dem Glauben an die Welt als Körper Gottes oder der Götter. Der von Juden, Christen und Muslimen verteufelte antike Polytheismus ist, so Assmann, wegen der „gegenseitigen Übersetzbarkeit“ seiner Gottheiten eine große kulturelle Toleranzleistung. In der Tat haben ja die Römer nicht etwa den obersten Griechengott Zeus abgesetzt und seine Anbeter totgeschlagen, sie haben bloß gesagt, Zeus sei Jupiter. Etwas von dieser listigen Toleranz steckt in der „Erklärung zum Weltethos“, die auf Betreiben des Schweizer TheoloFriedensgebet der Weltreligionen (Assisi 2002): „Niemand darf im Namen Gottes töten“ gen Hans Küng 1993 in Chicago formuliert wurde, im Namen eines „Parlaments der Die marxistische Religionskritik hat die kaum besser als Mose: Bei der im Johan- Weltreligionen“. Aus den moralischen Religion am Ende kaum geschwächt, son- nes-Evangelium beschriebenen Tempel- „Kernwerten“ aller großen Religionen dern zu einem subtileren Verständnis des reinigung würden „die“ Juden als Geld- wurde ein gemeinsamer Bestand gebildet, Himmelreichs gezwungen: Es wurde zu ei- wechsler und Viehhändler von ihm ver- der, so hofft Küng, eine neue, friedlichener innerweltlichen Heilsdimension, die unglimpft, geschlagen und verjagt. Diese re „Weltordnung“ vorbereiten könne. Die nicht erst im Jenseits, nach dem Tod, rele- Passage habe auch Hitler gemocht. konkreten Verbote des Dekalogs (abgeseIn einem Punkt hat Onfray, ein amü- hen vom Bilderverbot) werden aktualivant ist. „Himmel“ meint ein spirituelles Einssein mit sich, Gott und der Welt, das santer „Philosoph der Lebensfreude“, siert (es gibt ein Sachlichkeitsgebot für der Mensch nach christlicher Meinung durchaus recht: Christentum, Judentum Massenmedien) und teilweise auch gemilals göttliches „Seelenfünklein“ (Meister wie Islam enthalten jede Menge irritieren- dert, wenn etwa das Ehebruchverbot sich Eckart) von Anfang an in sich trägt, aber der Widersprüche und haben recht unbe- verwandelt in die „Verpflichtung auf eine nur allzu leicht an die vielen Reize dieser denklich den „gerechten Krieg“ (Augusti- Kultur der Gleichberechtigung“ und der Welt verliert. Dieses Fünklein kann schon nus) gegen Feinde gerechtfertigt, die im „Partnerschaft von Mann und Frau“. „Jeim Leben zünden. Im Tod könnte es, so Grunde nur Andersdenkende waren. der Mensch muss menschlich behandelt Gewiss darf auch ein Gottesgläubiger werden“, heißt es zu Beginn dieses Tuder Glaube, ein ewiger Zustand werden. Eine der marxistischen Religionskritik sich kriegerisch gegen Welteroberer wie gendkatalogs. Es gibt auch eine „Verähnliche Attacke hat kürzlich der französi- Dschingis Khan oder Adolf pflichtung auf eine Kultur sche Philosoph Michel Onfray, 46, mit der Hitler verteidigen. Aber der Solidarität und eine Streitschrift „Wir brauchen keinen Gott – von dieser außergewöhngerechte WirtschaftsordWarum man jetzt Atheist sein muss“ ge- lichen Sorte waren nur die nung“. führt*. Über das Mordverbot schreibt er: wenigsten „gerechten KrieAlles gut und schön. Allein mit diesen Worten könne man „schon ge“ der Geschichte. Der Aber braucht man für Reeine ganze Ethik gründen: Gewaltlosigkeit, spanische Philosoph Fergeln dieser Art überhaupt Frieden, Liebe, Vergebung, Milde, Toleranz, nando Savater meint in seieine religiöse Begründung? ein ganzes Programm unter striktem Aus- nem Buch „Die Zehn GeWohl nicht. Diesem „Weltschluss von Krieg, Gewalt, Armee, Todes- bote im 21. Jahrhundert“ ethos“ kann jedermann zustrafen, Schlachten, Kreuzzügen, Inquisiti- zu wissen**: In 5500 Jahstimmen, der – mit dem on, Kolonialismus, Atombomben, Mord … ren Historie gab es 14 513 Philosophen Immanuel alles Dinge, die von den Anhängern der Kriege, in denen 1240 MilKant (1724 bis 1804) – den Bibel jedoch seit Jahrhunderten praktiziert lionen Menschen massaMenschen als „vernünftiges werden, und zwar ungeniert und sogar im kriert wurden. Und „ein Wesen“ betrachtet, als Namen dieser berühmten Heiligen Schrift“. Großteil“ dieser Kriege „Zweck an sich selbst“, dessen „Würde“ alle „bloOnfray sagt, das Mordverbot meine habe „Anfeindungen auf- Immanuel Kant, Philosoph ßen Naturwesen“ überragt, bloß: „Du als Jude sollst keine Juden tö- grund unterschiedlichen die ja als Mittel zu Zwecken ten.“ Das Massaker der Mose-Mannen Glaubens“ zum Grund „Handle so, dass benutzt, die geschlachtet etwa bei der Eroberung Jerichos könne gehabt, wobei Religion die Maxime deines und gegessen werden dürman „als ersten Völkermord der Ge- fast immer nur „Vorwand“ fen. Die praktische Verschichte bezeichnen“. Und Jesus, die- für Machtinteressen gewe- Willens als Prinzip nunft ist es, die sich selbst ser „geißelschwingende Choleriker“, sei sen sei. einer allgemeinen Wer vor diesem Hinter„Grundgesetz“ (Kant) Gesetzgebung gel- das grund auch Korrekturen des Kategorischen Impera* Piper Verlag, München; 320 Seiten; 14 Euro. am Gottesverständnis des ten könne.“ tivs gibt: „Handle so, dass ** Verlag Klaus Wagenbach, Berlin; 160 Seiten; 16,50 Euro. 162 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 AKG die Maxime deines Willens Aber es gibt Hoffnungsjederzeit zugleich als Prinzip geschichten. Eine passierte einer allgemeinen Gesetzim Januar 2002. Der polnigebung gelten könne.“ sche Papst Johannes Paul II. Mord, Diebstahl, Ehebruch, lud die Abgesandten von Elternmissachtung sind einzwölf größeren Religionen fach nicht verallgemeinenach Assisi ein, um mit ihnen gemeinsam für den rungsfähig für Menschen, die Frieden zu beten. Es kasich als „vernünftige Wesen“ men muslimische Großmufverstehen. Mag Kant auch tis, jüdische Rabbiner, KaGott als moralisches „Postutholiken, Orthodoxe, Prolat“ durch die Hintertür wietestanten, Buddhisten und der hereinbitten; Religion ist Hindus und sogar Naturseitdem im Streit um die richreligiöse. Sie beteten auf tige Moral nicht mehr der unterschiedlichen Plätzen, stärkste Mitspieler. Wozu aber aber alle im Geburtsort jeüberhaupt noch Religion? nes heiligen Franziskus, der Die drei großen monotheismit den Vögeln und Fischen tischen Religionen sind Wüssprach. tenprodukte. „Nichts verIm Rückblick auf die Ansperrt dort den Blick zum schläge vom 11. September Himmel“, wie Gerhard Stades Vorjahrs sagte Johannes guhn schreibt („Gott und die Paul II.: „Niemand darf im Götter“, 2003). Die karge UmNamen Gottes töten“, jegwelt ist die ideale Kulisse für liche Art von „terroristischen die Hinwendung zu einem Gewaltakten“ im „Namen fernen, unsichtbaren Gott, der von Religionen“ seien abzuAskese verlangt – psychische lehnen. Aus dem Kreis der Selbstverwüstung. anwesenden ReligionsbotDas lateinische Wort für Mose-Porträt von Rembrandt (1659): „Fels des Menschenanstandes“ schafter hat keiner widerGott, „deus“, hängt mit dem altindischen Wort „deva“ und dem in- dem ihm klargeworden ist, dass er rational sprochen. Ob sie auch im Stillen alle zudoeuropäischen „deiwos“ zusammen. Die- das Rätsel nicht lösen kann. Wer so rea- gestimmt haben? Wie weit Teile der islamischen Welt von se Worte heißen so viel wie Himmel, Licht, giert, ist schon religiös. Menschen, die einen offenen Existenz- der Assisi-Episode entfernt sind, belegt das Tag, Höhe, Vaterschaft. In den Religionen, die davon geprägt sind, gilt der Blitz als horizont fragend ertragen, ohne sich an ir- Beispiel jenes Abdul Rahman, der kürzgendeiner altehrwürdigen Erzählung fest- lich nach etlichen Jahren im Ausland, wo göttlich, als das Feuer vom Himmel. Eigentlich liegt es nahe, dass der Mensch zuhalten, sind nun mal selten. Man nann- er zum Christentum übergetreten war, instinktiv nach oben, in die Weiten des te sie früher „Philosophen“, Liebhaber der nach Afghanistan zurückkehrte. Weil er es dort ablehnte, wieder Muslim zu werden, Kosmos, guckt, um herauszufinden, was Weisheit, dass wir nichts wissen. Die wärmende Glaubensgewissheit, die drohte ihm die Hinrichtung. Ein Fortschritt das Ganze denn nun sei und solle. Ebenso nahe liegt es, dass er das Grundrätsel sei- von den großen Religionen rettend dage- gegenüber dem Debattenstand des Jahres ner Existenz – warum ist überhaupt etwas gengehalten wird, wäre legitimer, wenn die 1779 war da kaum spürbar. Damals vollenund nicht vielmehr nichts? – mit dieser Gläubigen sich dabei weniger „eifersüch- dete der sächsische Pastorensohn Gotthold Metaphorik positiv oder, falls er Melan- tig“ gegen konkurrierende Heilsbotschaf- Ephraim Lessing sein berühmtes Weltanschauungsdrama „Nathan der Weise“. choliker ist, apokalyptisch codiert. Nach- ten benähmen. Dessen Botschaft: Die Vorurteile, die aus der Verschiedenheit der unduldsamen ReGlobale Verteilung der vorherrschenden Weltreligionen ligionen erwachsen, lassen sich nur überwinden, wenn jede Religion die andere achtet. Weil ihre Repräsentanten einsehen: Es gibt keine Wahrheitsbesitzer, nur Wahrheitssuchende. Thomas Mann nennt das „Bündig-Bindende“, das ewig „Kurzgefasste“ der mosaischen „Grundweisung“ den „Fels des Menschenanstandes unter den Völkern der Erde“. Er schrieb seine Mose-Erzählung im US-Exil als Antwort auf „Hitlers Krieg Katholiken gegen das Sittengesetz“. Hitler wollte geLIBANON Protestanten gen „die so genannten Zehn Gebote“ die Mittelmeer Orthodoxe „Tafeln eines neuen Gesetzes aufrichten“. Diesen Kampf gewann schließlich doch jeJuden ner knorrige Mann, der vielleicht nie geMuslime Jerusalem lebt hat, mit dessen imponierender Gestalt Hindus sich aber ein sehr altes, wunderbar einfaBuddhisten ches, wunderbar einleuchtendes Gesetz ISRAEL Shintoisten verbindet wie der Stein mit der Schwere: Quellen: Westermann, World Christian Encyclopedia Sonstige Mose. Mathias Schreiber Fromme Vielfalt 164 ÄGYPTEN JORDANIEN MICHAL DANIEL Kultur „Stuff Happens“-Produktion in New York*: „Das ist das Gute am Irak, er ist machbar“ T H E AT E R „Die Macht macht, was sie will“ In „Stuff Happens“ beschreibt David Hare, wie eine Handvoll amerikanischer Politiker den Irak-Krieg begann. Nichts ist wahr und doch alles richtig. Von Alexander Osang * Mit Peter Francis James als Colin Powell, Gloria Reuben als Condoleezza Rice, Jay O. Sanders als George W. Bush. 166 „Verstehe“, sagt Bush. „Aber wie hoch ist sie, Paul?“„10 bis 50 Prozent“, sagt Wolfowitz. „Ich würd sagen, ’ne 10- bis 50-prozentige Wahrscheinlichkeit.“ Bush schaut ergriffen, die anderen auch. Irgendwann sagt Wolfowitz: „Das ist das Gute am Irak. Er ist machbar.“ Dann gibt’s Essen in Camp David. Hühnersuppe, hausgemacht. Und selbstge- US-Politiker Bush, Rice, Powell: Wo gehobelt wird, fallen Späne ERIC DRAPER / THE WHITE HOUSE A m Wochenende nach dem 11. September 2001 treffen sich Bush, Cheney, Wolfowitz, Rice, Rumsfeld und Powell in Camp David, um zu beraten, wie es jetzt weitergeht mit Amerika. Sie beten. „Gott, gib uns die Weisheit, Gutes zu tun“, sagt Bush, anschließend erklärt er den Krieg gegen den Terror. Der Kampf gegen die Taliban in Afghanistan werde ein Beispiel für alle geben, die sich mit Amerika anlegen, sagt der Präsident. Donald Rumsfeld hat Bedenken. „Afghanistan ist ein großes Land, aber was bombardieren wir? Tommy Franks hat mir erzählt, es gibt nur drei Dutzend Ziele da. Drei Dutzend! Hat jemand von euch sich mal Afghanistan angeguckt? Terrakottatöpfe und Strohhütten. Nicht einfach.“ Wolfowitz sagt: „Und was für ein Beispiel wollen wir damit geben? Was für eine Botschaft? Irak dagegen ist ein Land, das wir kennen. Wir waren ja schon da. Und was noch wichtiger ist – wenn wir schon über Botschaften reden –, es gibt eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass Saddam Hussein direkt in den Angriff aufs World Trade Center verwickelt war.“ backenes Brot. „So wie deine Mutter es serviert hat“, sagt CIA-Chef George Tenet zu Präsident Bush. „O nein“, sagt Bush. „Nicht meine Mutter. Die hat nie gekocht. Die Frau hatte Frostbeulen an den Fingern, so oft war sie am Tiefkühlfach.“ Da lacht das Kriegskabinett. Und auch die knapp 400 Zuschauer im New Yorker Public Theater lachen. Sie lachen mit George W. Bush und über ihn, so genau kann man das nicht trennen. In diesem Moment scheinen Barbara Bushs Kochkünste und die Bombardierung von Bagdad miteinander zusammenzuhängen. Man hat das Gefühl, dort zu sein, wo die wirklichen weltpolitischen Entscheidungen getroffen werden. „Es ist gut, dieses Essen zu essen“, sagt der Präsident. „Es ist Comfort Food. Es ist gut, es gerade jetzt zu essen.“ Später puzzelt er zusammen mit seiner Ehefrau ein Familienbild vom Weißen Haus zusammen. Sie legt die Kanten, er die Personen. Als sie fertig sind, schlägt sie vor, bowlen zu gehen, aber keiner will. „Kennt jemand ein Kirchenlied?“, fragt Laura Bush. „Ich“, sagt Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und beginnt, „Amazing Grace“ zu singen. Nach der ersten Strophe fallen die anderen ein. Der englische Dramatiker David Hare hat sich das ausgedacht, denn natürlich weiß niemand genau, was an diesem Abend vor viereinhalb Jahren in Camp David wirklich passiert ist. Hare, dessen Drehbuch für den Film „The Hours“ eine Oscar-Nominierung bekam, hat mit vielen Leuten gesprochen, die in der Nähe waren, er hat Protokolle gelesen, die öffentlich waren, und aus alldem ein Theaterstück gemacht, das den Weg der Welt in den Irak-Krieg beschreibt. Von ganz oben gesehen. Hares Helden heißen Rumsfeld, Cheney, Bush, Rice, Blix, Powell und Blair. 25 Prozent seiner Erzählung sind belegt, der Rest ist Vermutung, aber nichts ist wissentlich unwahr, sagt David Hare. Die Grenzen verschwimmen, nach anderthalb Stunden, in der Pause, denkt man: So kann es gewesen sein. Nach drei Stunden, am Ende: So war’s. Das Stück heißt „Stuff Happens“. „Stuff happens“, hatte der Verteidigungsminister Rumsfeld gesagt, als ihn Reporter nach dem Chaos fragten, das dem amerikanischen Einmarsch in Bagdad folgte. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Darum geht’s. Es ist ein Spiel um Macht, gezeigt wird: Machtkampf ganz, ganz oben ist simpler, als man ihn sich immer vorstellt. „Ich bin der Präsident“, sagt Bush. „Ich muss nicht erklären, was ich mache. Das ist das Schöne daran, Präsident zu sein.“ Das amerikanische Kriegskabinett in „Stuff Happens“ erinnert nicht zufällig an das SED-Politbüro. Als Außenminister Colin Powell den anderen mitteilt, dass die Menschen in der Welt rechtmäßige, wirkliche Gründe für einen Krieg wollen, wird er zusammengebrüllt. „Ich sage dir, was rechtmäßig ist. Was wir tun, ist rechtmäßig“, schreit PentagonChef Rumsfeld. „Genau“, sagt Bushs Vize Dick Cheney. „Das Volk gibt uns das Recht zu handeln“, sagt Rumsfeld. „Das amerikanische Volk“, sagt Cheney. „Richtig“, sagt Rumsfeld. In diesem Moment sind der amerikanische Vizepräsident und der Verteidigungsminister universelle, historische Charaktere. Dick Cheney könnte Günter Mittag sein und Donald Rumsfeld Sir John Falstaff. „Shakespeares historische Stücke handeln ja auch immer von Macht in der Politik“, sagt David Hare. „Shakespeare war kein Anarchist, er glaubte an Macht und daran, dass jemand sie ergreifen muss. George W. Bush ist jemand, der die Macht d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 167 Kultur DAVID CHANCELLOR / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS Amerikas sehr gut versteht und weiß, was London der strahlende Held war, ist Colin er damit ausrichten kann. Die Unfähigkeit, Powell in New York der tragische Held sich zu artikulieren, darf man nicht mit von „Stuff Happens“. Ein Mann, der zu Dummheit verwechseln.“ schwach, zu loyal oder vielleicht auch nur Es ist schön zu beobachten, wie Bush im zu ehrgeizig war, um diesen Krieg zu verTheaterstück (Regie: Daniel Sullivan) den hindern. David Hare hat Powell ein paar zweifelnden, nervösen, moralisierenden große Monologe geschrieben. „Ich habe Tony Blair in den Griff bekommt, indem er mein Leben lang beim Militär zugebracht. oft gar nichts sagt, manchmal „sicher“ oder Vielleicht bin ich deswegen weniger be„ich denke darüber nach“ und einmal: „Du eindruckt von Gewalt als einige andere bist immer so eloquent, Tony.“ hier. Ich sehe Gewalt als das, was sie ist“, Bush trägt ausgewaschene Jeans, Cow- sagt Powell seinem Präsidenten. boystiefel und in der Gesäßtasche ein paar „Und was ist sie?“, fragt Bush. Arbeitshandschuhe, Blair einen schwarzen „Versagen“, sagt Powell. Anzug, denn er kommt gerade von der Be„Wenn ich mir die jetzigen Planungen erdigung der Queen Mum. für den Irak ansehe, dann sehe ich nur ein „Sie war eine schöne Frau“, sagt Bush. paar Sesselfurzer, die sich freuen loszu„Ja“, sagt Blair irritiert. „Auf ihre Art.“ schlagen, ohne die geringste Ahnung, wie Viel später, als sich Blair wir dort wieder herauskomvon allen allein gelassen fühlt, men“, sagt Powell, er fordert ruft ihm sein Berater David die Einbeziehung der Uno, erManning in Downing Street 10 läutert seinem Präsidenten die zu: „Bush will nicht deine Ansensible Lage im Nahen Osten, sichten, Tony. Er will deine die Ängste in Europa und verdammte Unterschrift auf die vermessenen Pläne der inder Kriegsurkunde.“ tellektuellen amerikanischen „Nein“, sagt Blair. „Ich Welteroberer. Powell hält eine kenne Bush. Ich war auf seigroße fünfminütige Friedensner Ranch. Wir beide haben rede. einen Deal.“ „Ich denk darüber nach“, „Die Macht braucht keine sagt Bush. Deals, Tony“, sagt Manning. Dramatiker Hare Doch ein paar Wochen spä„Die Macht macht, was sie Von ganz oben ter teilt der Präsident seinem will.“ Außenminister mit, dass er Hare hat das Stück schon im Jahr 2004 auch ohne das Einverständnis der Vereingeschrieben. Es wurde in London uraufge- ten Nationen in den Irak-Krieg zieht. führt, im vergangenen Jahr wurde es in „Ich bin einverstanden“, sagt Powell und Los Angeles gezeigt. Jetzt ist es in New tritt wenig später vor die Uno, um der Welt York angekommen. Hare hat immer weiter lächerliche Beweise für Massenvernichdaran gearbeitet. Er arbeitet immer noch tungswaffen zu präsentieren, an die er daran, es gibt ja täglich neue Enthüllungen selbst nicht glaubt. über die Vorbereitung dieses Krieges. David Hare macht ihn zu einem großen, Gerade schreiben die Zeitungen dort tragischen Theatercharakter. Überlebensdraußen, dass Bush persönlich Geheim- groß. Im Januar dieses Jahres hat der wirkdienstinformationen freigab, um seinen liche Colin Powell der BBC in einem InKrieg zu rechtfertigen. Damit ihm sein Stück terview erklärt, er müsse sich für nichts nicht zu Staub zerfällt, hat es Hare immer entschuldigen. Er habe die Welt nicht wismehr personalisiert. Die Welt wurde zur sentlich getäuscht. Es werde alles Mögliche Tafelrunde. Die Details aus der Uno ver- in seine Person hineingedeutet, aber nieblassten, Kofi Annan wurde ganz heraus- mand könne für ihn sprechen. gestrichen, die europäischen BedenkenAm Ende von „Stuff Happens“ wird träger verschwanden aus dem Stück. George W. Bush gefragt, wo eigentlich OsaEinmal erwähnt jemand einen Hippie ma Bin Laden sei. „Keine Ahnung“, sagt und Ex-Peacenik, jetzt Außenminister ei- Bush. „Und es interessiert mich, ehrlich nes europäischen Landes, und womöglich gesagt, auch nicht.“ meint er Joschka Fischer, ansonsten komDann geht er lächelnd von der Bühne. men die friedliebenden Deutschen nicht Dort stehen am Ende 16 leere Stühle. 47 vor. Es bleiben der grübelnde Blair, der Prozent aller Amerikaner denken bis heueitle französische Außenminister Domi- te, dass Saddam Hussein eine entscheinique de Villepin und der Uno-Beauftrag- dende Rolle bei den Anschlägen auf das te Hans Blix, der „durch Mesopotamien World Trade Center spielte, sagt eine irrt wie Hercule Poirot“. Stimme aus dem Off. Sicher ist es kein Zufall, dass Colin PoUnd 44 Prozent sind überzeugt, dass die well, der ehemalige US-Außenminister, die Flugzeugentführer Iraker waren. Figur ist, an der David Hare in den verStuff happens. gangenen anderthalb Jahren am meisten Es ist schwer zu sagen, ob die Figuren in arbeitete. „Stuff Happens“ in fünf Jahren noch ir„Ich habe Powell zunächst zu positiv ge- gendjemandem etwas sagen werden. Eisehen“, sagt David Hare. Nachdem er in gentlich, hofft man, nicht. ™ 168 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 PROKINO / FOX Darsteller Poupaud, Moreau: Sterben adelt nicht FILM Wem die Stunde schlägt Frankreichs ewiges Kino-Wunderkind François Ozon, 38, hat einen kurzen Film über das Sterben gedreht: „Die Zeit die bleibt“. R uck, zuck geht es los, nach einem ersten, fast traumverlorenen Blick aufs leere Meer: ein Modefoto-Shooting mit der ganzen Hektik, die für Professionalität zu bürgen scheint – schöne junge Models und ein schöner junger Fotograf in blendendem Sonnenlicht. Dann ein Blackout, der Mann mit der Kamera ist kollabiert, vielleicht hat er doch einen Espresso zu viel gekippt oder sich zu oft eine Linie Koks reingezogen, um sich kreativ auf Touren zu bringen. Als Nächstes, im Gespräch mit dem jungen Fotografen, ein Arzt, betont freundlich-nüchtern: Da genügt das Wort „Metastasen“, um ein Todesurteil anzukündigen. Keine falschen Hoffnungen, keine trügerischen Therapien, auch wenn man erst dreißig ist, kommt das vor. „Die Zeit die bleibt“, ein paar Monate – mehr gibt es nicht, basta. Regisseur François Ozon macht keine Umschweife, diesmal nicht. Von der Verschwendungslust, die vor ein paar Jahren den kleinen Krimi „8 Frauen“ in eine große Star-Show hochjubelte, hat Ozon sich losgesagt; er erzählt, wenn auch in schönen, oft lyrischen Bildern, denkbar knapp, rigoros, minimalistisch von diesem jungen Mann namens Romain, dem die Stunde geschlagen hat. Alles, was bisher sein Leben war, ist in Frage gestellt. Er hat keine Gewissheit mehr vor sich als den Tod. Ozon ist anspruchsvoll, also ungefällig mit sich, seinem Schmerzensmann und seinem Publikum. Er wirbt um Zuneigung 170 d e r für einen Mann, den man lieber nicht lieben möchte, weil die abweisende Oberfläche seines Charmes auf den ersten Blick spüren lässt: Dies ist kein sonderlich wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Ozons Mut, aufs Ganze zu gehen, liegt darin, dass sein Film nicht von einem Heldentod handelt, sondern von einem Jedermannstod. Auch seine Geschichte ist eine Passion, doch Sterben adelt nicht. Natürlich war dieser Romain ein Erfolgstyp par excellence, ein sonniger Egoist also, und sein verführerisch sanfter Darsteller Melvil Poupaud gibt ihm in den kurzen ersten Minuten genug von diesem Strahlen, um daraus Fallhöhe zu gewinnen: „Ich bin kein netter Kerl.“ Er hat wohl schon immer so wenig teilen mögen, dass er nun auch seinen Tod für sich allein behalten will. Rundum Befreiungsschläge: Er bricht beim gewohnten sonntäglich-bürgerlichen Familientisch mit Vater und Mutter und Schwester einen Krach vom Zaun, um endlich nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben; er setzt den anhänglichen Lebensgefährten kurzerhand vor die Tür – und andererseits begeht er in befreitem Leichtsinn ein paar Verrücktheiten, die er sich zuvor niemals zugetraut hätte. Nur mit der Großmutter ist das eine andere Sache, weil Großmütter fast immer leichter zu lieben sind und weil er sich ausmalt, sie müsse dem Tod so nah sein wie er. Natürlich findet die alte Dame das ganz und gar nicht, und Jeanne Moreau mit ihrer exzentrischen Lebendigkeit macht aus diesem Großmutter-Auftritt in ihrem Knusperhäuschen das „Herzstück“ (Ozon) des Films, eine wahre Märchenszene – dieses Momentchen Unsterblichkeit, das es nur im Kino gibt. Natürlich kann man genauso gut einfach nicht wissen wollen, wie sich Ozons Jedermann ungetröstet und doch ohne pathetisches Wehgeschrei vom Leben verabschiedet. Aber wenn man sich auf den leisen, zärtlichen Sog der Erzählung einlässt, lernt man, fast wider Willen, diesen ungeselligen Kerl Romain zu lieben und um ihn Urs Jenny zu trauern. s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Kultur Leandro-Spett-Karikatur „Matze Maker“ LEANDRO SPETT Demonstration des Selbstvertrauens K A R I K AT U R E N Koschere Antisemiten Israelische Künstler haben einen Wettbewerb für den besten antijüdischen Cartoon ausgerufen – mit witzigen Ergebnissen. 172 AMIT SHABI / LAIF A us dem Antisemitismus könne schon was werden, spottete bereits der k. u. k. Satiriker Roda Roda, „wenn sich nur die Juden seiner annehmen würden“. Sechzig Jahre nach Roda Rodas Tod wird der Witz nun Wirklichkeit. Zwar hat es auch zu seiner Zeit jüdische Antisemiten gegeben – Karl Marx, Otto Weininger, Karl Kraus etwa –, aber sie traten immer nur als Individuen in Erscheinung, nie als Kollektiv. Das könnte jetzt anders werden. Über hundert jüdische Zeichner und Karikaturisten haben sich an einem Wettbewerb für antisemitische Cartoons beteiligt, den zwei Israelis im Februar ausgerufen haben. Vergangene Woche wurden die Gewinner bekanntgegeben. Sieger nach Punkten wurde Aron Katz, 24, aus Los Angeles. Er zeichnete einen „Fiddler on the Roof“, der auf einem Pfeiler der Brooklyn Bridge steht und Geige spielt, während die Türme des World Trade Center brennen – eine grafische Umsetzung des vor allem im Internet geisternden Gerüchts, hinter dem Anschlag vom 11. September 2001 steckten nicht islamische Fundamentalisten, sondern die Juden und der israelische Ge- Initiator Sandy „Das Feuer mit Humor bekämpfen“ d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 heimdienst Mossad. Katz stiftete sein Preisgeld, 600 Dollar, unter anderem den „Rabbis for Human Rights“, einer israelischen Organisation, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Der zweite Preis ging an Ilan Touri, 32, aus Sydney. Sein Cartoon heißt „Studio 6“ und zeigt, was Auschwitz „wirklich“ war: Kulisse für einen Film, wie es die Revisionisten immer wieder behaupten. „Unsere Juroren haben sich die Entscheidung nicht einfach gemacht“, sagt Amitai Sandy, der Erfinder des Wettbewerbs. Da sich die fünf Preisrichter, unter ihnen der New Yorker Zeichner Art Spiegelman („Maus“), nicht auf einen Gewinner einigen konnten, vergaben sie Punkte, und am Ende hatte Katz die beste Note. „Wenn es nur nach mir gegangen wäre“, versichert Sandy, „wäre der Preis an einen anderen Teilnehmer gegangen.“ An Daniel Higgins aus England zum Beispiel, der einen hakennasigen Moses gezeichnet hat, wie er den Juden ein geheimes elftes Gebot übergibt – „PS: Vergesst nicht, die Medien zu kontrollieren“. Oder an Leandro Spett aus Brasilien für seinen „Matze Maker“, eine Maschine, die palästinensische Kinder zu Matzen verarbeitet. Sehr gelungen findet Amitai Sandy auch eine eher subtile Arbeit: den Schiffbrüchigen von Jeremy Gerlis aus New York, der sich hinter einer Palme versteckt, als ein israelisches Schiff am Horizont auftaucht. Sandy, 1976 in der Kleinstadt Kfar Saba nordöstlich von Tel Aviv geboren, arbeitet als Illustrator für alle großen israelischen Tageszeitungen und etliche Verlage. Er hat an der Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem Visuelle Kommunikation studiert und in der israelischen Armee gedient, zuerst bei der Artillerie, später in der Küche seiner Truppe. „Nach 18 Monaten hatte ich genug.“ Er suchte einen Psychiater auf und drohte mit Selbstmord. Daraufhin wurden ihm die restlichen 18 Monate erlassen – die in Israel übliche Art, dem Wehrdienst zu entkommen. Schon vor seinem Gastspiel in der Armee gab er ein Magazin für Comics, Musik und städtische Subkultur heraus: „Penguins’ Perversions“. Der Name war ein Phantasieprodukt, der Inhalt subversiv. Nach 21 Ausgaben war Schluss. Seit 2003 bildet Sandy mit vier weiteren Künstlern die Dimona Comix Group; bis jetzt sind drei Comic-Bücher erschienen, die auch in den USA vermarktet werden. Als die iranische Tageszeitung „Hamschahri“ nach dem Furor über die dänischen Mohammed-Karikaturen im Februar zu einem internationalen Cartoon-Wettbewerb über den Holocaust aufrief (der nach Meinung des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gar nicht stattgefunden hat), war Sandy sofort klar: „Wir SHARON ROSENZWEIG ARON KATZ Eingereichte Cartoons*: „Man sollte nur über die eigene Sippe spotten“ müssen etwas unternehmen, um das Feuer mit Humor zu bekämpfen.“ Eine erste Option wurde sofort verworfen: Witze über die Mullahs in Umlauf zu bringen. „Das wäre nicht anständig. Man sollte nur über die eigene Sippe spotten.“ Und weil es bei den Juden alter Brauch ist, sich über Juden lustig zu machen, war „die richtige Antwort auf eine irre Kampagne“ schnell gefunden: „Israeli AntiSemitic Cartoons Contest“. Kaum war der Wettbewerb im Internet angezeigt, trafen die ersten Reaktionen aus aller Welt ein. Ein US-Iraner aus Los Angeles schrieb: „Ich habe gehört, dass die Juden die Weltherrschaft übernehmen wollen. Ich hoffe, es wird bald geschehen.“ Sandys Vater, Ezra Sanderovich, der in Singapur lebt, zeigte sich von der Idee seines Sohnes nicht so begeistert. Er sagte: „Warum musst du dich in Sachen einmischen, die uns nichts angehen?“ Die „Jerusalem Post“ bat die Gedenkstätte Jad Waschem und das Simon* „Fiddler on the Roof“ von Aron Katz, „Throbbing Heart“ von Sharon Rosenzweig. Wiesenthal-Zentrum um Stellungnahme. „Wir glauben nicht, dass dies der richtige Weg ist“, erklärte Jad Waschem. Auch vom Wiesenthal-Zentrum kam milder Tadel: „Galgenhumor“. Strenger reagierten dagegen fundamentalistische Christen aus den USA, die Israel über alles lieben: „Wie können Juden so etwas machen?“ Sandy hatte mit Schlimmerem gerechnet. Am Ende war er „fast ein wenig enttäuscht, dass sich niemand richtig aufgeregt hat“, denn die Cartoons, die er nach und nach online stellte, enthielten alle bekannten antisemitischen Klischees: Juden als Ausbeuter, Blutsauger, Betrüger, Kriegstreiber und Verschwörer, die nach der Weltherrschaft streben. „Der Wettbewerb für den besten antisemitischen Cartoon war eine Demonstration von Stärke und Selbstvertrauen“, rechtfertigt sich der Inspirator: „Bevor die anderen mit dem Finger auf uns zeigen, machen wir es selbst – und witziger. Wir sind koschere Antisemiten.“ Von den rund 150 eingesandten Cartoons wurde allerdings etwa ein Drittel „disqualifiziert“, nicht wegen des Inhalts, sondern wegen „schlechter Qualität“. Einige Künstler machten sich über Jesus oder Mohammed lustig, „und das war nicht unsere Absicht“. Die verbliebenen 100 werden vom 20. Mai an in einer Galerie in Tel Aviv ausgestellt. Amitai Sandy, der sich selbst der „extremen israelischen Linken“ zurechnet und bei den Wahlen für die kommunistische Hadasch-Liste gestimmt hat, hält sich trotz allem für einen guten Israeli. „Als Künstler kann ich in Israel viel weiter gehen als in jedem anderen Land der Welt, niemand zensiert mich, niemand bedroht mich“, sagt er. Er nimmt an Demos gegen den Bau der Mauer teil, die Israel gegen die palästinensischen Gebiete abriegeln soll, und stellt gemeinsam mit palästinensischen Künstlern aus. Ob er mit seinem Wettbewerb Antisemiten in die Hände spielt, interessiert ihn nicht. „Die sind auf mich nicht angewiesen, sie haben genug eigene Ideen.“ Und so schaut er sich in aller Ruhe und mit kollegialem Auge die genuin antisemitischen Karikaturen auf www.irancartoon. com an. Einige, gibt Sandy zu, „sind wirklich gut gemacht“. Denn während sich an seinem Wettbewerb für den besten antisemitischen Cartoon vor allem Amateure beteiligten, machen beim offiziellen iranischen Preisausschreiben unter den bisher 181 Teilnehmern aus 42 Ländern (darunter Russland, die Schweiz und die USA) auch viele Profis mit. Jetzt hofft Sandy, dass sich die Palästinenser ein Beispiel nehmen und eines Tages einen Wettbewerb für die besten antipalästinensischen Karikaturen veranstalten. „Das wäre ein Zeichen politischer Reife. Aber wenn es einer heute versuchen würde, müsste er um sein Leben Henryk M. Broder fürchten.“ Kultur Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Rowohlt; 19,90 Euro 2 (–) Truman Capote Sommerdiebe 1 (2) Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro 2 (1) 3 In der schwülen Hitze New Yorks bleibt ein Teenager sich selbst und einer nicht standesgemäßen Liebe überlassen (2) (3) 4 (4) Dan Brown Sakrileg (8) 8 (5) (6) (10) (7) (5) Eva-Maria Zurhorst Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro 6 (–) Volker Weidermann Lichtjahre 7 (11) Cecelia Ahern Zwischen Himmel und Liebe W. Krüger; 16,90 Euro Henning Mankell Kennedys Hirn Ingrid Noll Ladylike 8 (7) Corinne Hofmann Wiedersehen in Barsaloi A 1; 19,80 Euro 9 (9) Dietrich Grönemeyer Der kleine Medicus Rowohlt; 22,90 Euro 10 (6) Heiner Lauterbach Nichts ausgelassen Droemer 19,90 Euro 11 (–) Michael Baigent Die Gottes-Macher (9) Lübbe 19,90 Euro 12 (10) Lars Brandt Andenken Hanser; 15,90 Euro François Lelord Hectors Reise 13 (8) Piper; 16,90 Euro 11 Albrecht Müller Machtwahn Droemer; 19,90 Euro Leonie Swann Glennkill Diogenes; 19,90 Euro 10 5 Bernhard Schlink Die Heimkehr Zsolnay; 24,90 Euro 9 Peter Hahne Schluss mit lustig Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro Goldmann; 17,90 Euro 7 (3) Stephen King Puls Diogenes; 19,90 Euro 6 Senta Berger Ich habe ja gewußt, daß ich fliegen kann Johannis; 9,95 Euro Heyne; 19,95 Euro 5 (–) Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro Lübbe; 19,90 Euro 4 Frank Schirrmacher Minimum Blessing; 16 Euro Kein & Aber; 16,90 Euro 3 Frank Schätzing Nachrichten aus einem unbekannten Universum John Irving Bis ich dich finde 14 (4) Diogenes; 24,90 Euro Roger Willemsen Afghanische Reise S. Fischer; 16,90 Euro Harry G. Frankfurt Bullshit Suhrkamp; 8 Euro 12 (13) Simon Beckett Die Chemie des Todes Wunderlich; 19,90 Euro 15 (19) Marion Knaths Vom Krebs gebissen Hoffmann und Campe; 12,95 Euro 13 (12) Joanne K. Rowling Harry Potter und der Halbblutprinz 16 (14) Eduard Augustin / Philipp von Keisenberg / Christian Zaschke Fußball Unser Carlsen; 22,50 Euro Süddeutsche Zeitung; 18 Euro 14 (16) Minette Walters Des Teufels Werk Goldmann; 19,95 Euro 15 (18) Ilija Trojanow Der Weltensammler Hanser; 24,90 Euro 16 (11) Tommy Jaud Resturlaub 17 (13) Necla Kelek Die verlorenen Söhne Kiepenheuer & Witsch; 18,90 Euro 18 (12) Eric-Emmanuel Schmitt Mein Leben mit Mozart Ammann; 19,90 Euro 19 Scherz; 12,90 Euro 17 (–) Ketil Bjørnstad Vindings Spiel Insel; 22,90 Euro (–) Werner Siefer / Christian Weber Ich. Wie wir uns selbst erfinden Campus; 19,90 Euro 18 (17) Tanja Kinkel Venuswurf Jeder kann sich ändern, aber nicht jeder will es: Demontage des Mythos vom angeborenen Charakter Knaur; 19,90 Euro 19 (15) Dan Brown Diabolus Lübbe; 19,90 Euro 20 (–) Feridun Zaimoglu Leyla Kiepenheuer & Witsch; 22,90 Euro d e r 20 (15) Silvia Arroyo Camejo Skurrile Quantenwelt Springer; 29,95 Euro s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 175 Kultur KUNST „Wir brauchen Abenteuer“ Der Maler Jonathan Meese über Radikalität, Konformismus und fehlende Risikofreude beim Künstlernachwuchs an den Hochschulen Trotz seiner Fixierung aufs SPIEGEL: Jonathan Meese, in London sind Sie kürzlich mit einer Galerieschau und einer wilden Performance im Museum Tate Modern aufgefallen. Nun folgt in den Hamburger Deichtorhallen Ihre bisher größte Ausstellung. Handelt es sich, selbst für Ihre Verhältnisse, um ein ereignisreiches Jahr? Meese: Ja. Die Hamburger Schau ist für mich eine Zäsur. Das ist eine riesige Halle, ein enormer Maßstab. Ich fühle mich wie kurz vor der Explosion. Mir ist klar, nach dieser Ausstellung beginnt eine neue Etappe, und ich weiß noch nicht, wie die aussieht. SPIEGEL: Es scheint, als hätten Sie bislang alles richtig gemacht. Sie sind mit 36 Jahren berühmt, ein Weltstar des Kunstbetriebs. Meese: Ruhm ist eine Nebenerscheinung, uninteressant. Aber natürlich stimmt es, ich darf mir viel erlauben. SPIEGEL: Das klingt bescheiden, Ihre Kunst aber ist es nicht. Sie ist monumental, voller Anspielungen aufs Böse und Obszöne. In Bild und Schrift tauchen Fieslinge der Geschichte auf oder Personen, die sich am Düsteren berauscht haben. Caligula, Hagen von Tronje, Wagner, Hitler, Stalin … Meese: Die Figuren stehen in meiner Kunst nicht mehr als Sinnbild für irgendetwas, sondern sie sind bloß noch Abziehbilder ihrer selbst. Wir machen den Fehler, einen 176 COURTESY CONTEMPORARY FINE ARTS / JOCHEN LITTKEMANN Barbarische gilt Jonathan Meese als einer der gefragtesten deutschen Künstler. Auf Bildern, in Installationen und während rotweinseliger Happenings lässt er Tyrannen und Theatraliker der Welt-, Geistes- und Filmgeschichte auftreten: Nero, Nietzsche, Klaus Kinski. Meese, 36, stellte von Osaka bis New York aus. Nun sorgt er dafür, dass Hamburg als Kunststandort wieder auffällt. In den dortigen Deichtorhallen startet am 30. April auf 2500 Quadratmetern die Schau „Mama Johnny“. In den Tagen zuvor führt die Berliner Volksbühne das Stück „Kokain“ auf. Für dessen Inszenierung von Frank Castorf hatte Meese 2004 das Bühnenbild gestaltet. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines britischen Vaters kam in Tokio zur Welt, wuchs überwiegend in Ahrensburg nahe Hamburg auf und besuchte bis 1998 die Hamburger Hochschule für bildende Künste. Er lebt in Berlin und Ahrensburg. Hitler, einen Stalin auf merkwürdig faszinierte Weise in unsere heutige Realität hineinzuziehen, sie immer näher zu holen. SPIEGEL: Das tun Sie doch auch. Sie haben das Londoner Publikum mehrmals mit einem Hitlergruß verblüfft, beim Bühnenbild für das Theaterstück „Kokain“ ist das dominierende Motiv ein Eisernes Kreuz. Meese: Stalin hat sich selbst dermaßen produziert, da können wir nicht mithalten. Hitler hat sich selbst mehr abgefeiert als jeder andere Mensch. Wir müssen diesen Figuren die Selbstneutralisation gestatten. Ich will zeigen: Sie dürfen ihren Totentanz tanzen, aber in einer anderen Welt, dort sollen sie sich gegenseitig ausspielen. Mir geht es darum, sie in die Bedeutungslosigkeit zu entlassen. Stattdessen berauscht man sich an ihnen. SPIEGEL: Sie werden als eine Art Superwüstling gefeiert. Vor ein paar Jahren hatten Sie einen Auftritt im Kinofilm „Sonnenallee“. Ihre Rolle war die eines exzentrischen Künstlers. Sehen Sie sich selbst auch so? Meese: Man kann sich als Künstler zurückziehen und verweigern, wenn es zum eigenen Naturell passt. Zu mir passt es nicht, ich kann mich nicht zügeln. Da bin ich wie ein störrisches Kind, ich will, dass etwas passiert. Ich produziere viel, und das fast d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 manisch, ich zeichne, male, habe Tausende von Textseiten geschrieben, mache Bühnenbilder. Ich stehe, wenn ich Aktionen mache, selbst auf der Bühne. Mit einem Freund habe ich Platten gemacht. Demnächst schreibe ich ein Theaterstück. Es gibt natürlich Befindlichkeitsfanatiker, all diese Schulterklopfer, die mir Ratschläge geben wollen. SPIEGEL: Zum Beispiel welche? Meese: Es heißt, mach weniger, mach mehr, lass das mit den großen Skulpturen. Da solltest du Ausstellungen machen, dort nicht. Ich will das nicht hören. Und ich habe mich entschieden, ich mache alles. Alles muss hinaus in die Welt, und wenn es dort ist, kann damit geschehen, was will, das ist für mein Seelenheil nicht mehr wichtig. Aber ich wundere mich, denn was ich mache, ist das derzeit Radikalste in der Kunst. Warum kommt keiner und ist noch radikaler? SPIEGEL: Es gibt das Beispiel Ihres Kollegen Santiago Sierra, der Abgase in eine ehemalige Synagoge leitete und die Besucher mit Gasmasken ausstattete. Die Aktion hat jüngst für viel Aufruhr gesorgt. Erscheint Ihnen sein Umgang mit der Vergangenheit radikal oder eher zynisch? Meese: Ich bewerte die Freiheit der Kunst sehr hoch, aber wahrscheinlich war diese Aktion extrem unangebracht. Womöglich wurde der Künstler von sich Meese-Werke*, Künstler Meese GUNTER GLUECKLICH „Der Harmlosigkeit etwas entgegensetzen“ selbst überrumpelt, von seiner eigenen Idee. Das muss er aber mit sich selbst ausmachen. Unter radikal verstehe ich etwas anderes. SPIEGEL: Radikalität ist ein Kampfbegriff der Sechziger und Siebziger, auch der damaligen Kunstszene. Ist er nicht überholt? Meese: Nein. Radikalität in der Musik, auf der Bühne, in der Literatur, in der Kunst, in der Philosophie – die können wir geschehen lassen. Sie schadet niemandem. Aber damit können wir gewisse Versteinerungen, die unsere Gesellschaft prägen, aufbrechen. Man muss der heutigen Harmlosigkeit etwas entgegensetzen. Wir sollten wieder ein Abenteuer wagen. Kunst ist keine Frage des Geschmacks, sie darf stärker sein als man selbst, als der Künstler, als der Zuschauer. Doch sogar unter den 20-Jährigen gibt es, wenn überhaupt, nur noch simulierte Radikalitäten. SPIEGEL: Ihnen erscheint der Künstlernachwuchs offenbar zu lasch? Meese: Ja, und man kann nicht darauf warten, als Künstler in seiner Radikalität erst nach seinem Tod entdeckt zu werden. Ein Künstler sollte es schaffen, zu seinen Lebzeiten gefährlich zu sein, und wenn man nicht in jungen Jahren auf die Barrikaden geht, wann dann? SPIEGEL: Wie wollen Sie junge Künstler dazu bringen, rebellischer zu sein? Meese: Ich bin für die komplette und totale Abschaffung von Kunsthochschulen. Diese Zuchtanstalten haben keinen Sinn mehr. Von zehntausend Leuten, die in die Hochschulen hineingehen, kommen ohnehin nur zehn heraus, die akzeptabel sind, und darunter ist dann vielleicht ein richtiger Künstler. Das ist eine Form von Sozialdarwinismus, die viele vielleicht befürworten. Ich nicht, ich bin dagegen. SPIEGEL: Diese Einstellung erinnert an Joseph Beuys, der wollte die Ausbildung auch völlig umkrempeln. Er hat dafür plädiert, alle Bewerber aufzunehmen, und er hat mit seinen Studenten die Düsseldorfer Kunstakademie besetzt. Meese: Bei ihm ist es nicht weit genug gegangen. Er war nachsichtiger und glaubte, diese Institutionen sind zu reformieren, ich glaube das nicht. Ich habe mich an der Hamburger Hochschule verabschiedet, bevor ich mein Diplom hatte. Ein Diplom sagt nichts aus. SPIEGEL: Warum eigentlich nicht? Meese: Kunst ist weder lehrbar noch erlernbar. Die Masse der Professoren will ihr Mittelmaß weitertragen, geradezu ein * Gemälde „Jörg Immendorff II. in der Parteimaschine. Gedreidaddy“ (l.); übermalte Fotos mit dem Titel „Erzlove“, die Romy Schneider und Jonathan Meese zeigen. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 künstlerisches Mitläufertum erzeugen. Da bekommt man dann Ratschläge wie: „Da oben muss aber noch ein bisschen mehr Grün auf die Leinwand.“ Ansonsten: Immer mehr Benotungen, immer mehr Beglaubigungen, immer mehr Beurkundungen, da wird nichts riskiert, aber alles standardisiert, das ist doch zynisch. Das hat doch nichts mit Kunst zu tun. SPIEGEL: Sie sind mit Künstlern wie Daniel Richter oder Jörg Immendorff befreundet, haben mit ihnen zusammengearbeitet: lauter erfolgreiche Maler – und Professoren. Meese: Die haben eine Mission, und denen nehme ich das ab. Und trotzdem glaube ich nicht an die Zukunft dieser Ausbildungsstätten. SPIEGEL: Wie oft hat man Ihnen schon eine Professur angeboten? Meese: Immer mal wieder. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Noch schlimmer als die Professoren sind die Studenten. Sie haben die Pflicht, sich aufzulehnen. Stattdessen gehen sie den vorgebahnten Weg. Ich kann mir doch nicht nach sechs Jahren an der Hochschule von einem Gremium sagen lassen: Ja, du bist ein toller Künstler. Das ist so ähnlich wie mit den Stipendien. Seltsame, komische, sperrige Künstler beantragen keine Stipendien, die können das gar nicht. Das ist denen viel zu bürokratisch. Also gelangen nur Leute an Stipendien, die stromlinienförmig sind, und das schon mit 23 Jahren. SPIEGEL: Sie sind ein Vorbild der nachkommenden Generation, auch weil Sie – ganz kommerziell – für Erfolg stehen. Sammler wie der Brite Charles Saatchi reißen sich um Ihre Werke und geben dafür sechsstellige Eurobeträge aus. Meese: Mir geht es nicht darum, mich selbst zu versilbern. Ich gebe zu: Ich habe keine weiße Weste, ich habe viel falsch gemacht. Wahrscheinlich bin ich zu den falschen Leuten viel zu freundlich gewesen. Das bleibt nicht aus, aber es ist erforderlich, sich auch mal selbst anzuklagen. SPIEGEL: Das ist leichter, wenn man es bereits geschafft hat. Meese: Was heißt das denn schon, es geschafft zu haben. Ich war noch mit Anfang 20 ein Träumer, habe in einer winzigen Wohnung angefangen, riesige Leinwände zu malen, ich konnte da nicht mehr schlafen, die Luft war terpentinverseucht. Und ich war ein manischer Sammler. Ich studierte an einer Hochschule, aber ich habe meine Energie auch daraus gezogen, kein Diplom zu machen, kein Stipendium anzunehmen. Wenn man will, kann man das eine Strategie nennen. Meine Mutter hat sich jahrelang größte Sorgen gemacht, zu Recht. Es hätte auch anders enden können. Interview: Ulrike Knöfel 177 Kultur Die Absage seiner WM-Eröffnungsshow durch die Fifa machte André Heller fast sprachlos. Jetzt lässt er seinem Zorn freien Lauf. H inter den Plattenbauten von BerlinMarzahn, zwischen klobigen Betonhallen, stapfen zwei Dutzend halbnackte Indianer im Gänsemarsch durch die Eiseskälte zu einer lustig bemalten Holzpyramide. Unter den Sandalen der Frauen und Männer knirscht grober Kies, sie tragen bunte Federn auf dem Kopf und Gänsehaut auf ihrem bloßen Oberkörper. Da tritt ein großer, weißbärtiger Mann in grauer Kapuzenjacke auf sie zu und spricht in sonorem Singsang. „Ich bitte euch: Bringt ein bisschen Licht und spirituelle Wärme nach Deutschland. Dieses Land braucht Hilfe.“ André Heller sieht selber fröstelnd und ein bisschen traurig aus, als er die indianischen Mitspieler von „Pok Ta Pok“ begrüßt; die Gäste aus Mexiko sollen vom Freitag an in Hamburg und weiteren Städten ein Ballspiel der Azteken und Maya vorführen, das als Vorläufer des Fußballsports gilt. Heller hat „Pok Ta Pok“ und rund 50 weitere Attraktionen des Kunst- und Kulturprogramms zur Fußball-WM ins Land geholt, um Spaß, Poesie und eine, so der Meister, „schöne Wachheit“ zu fördern. Seit der Absage der für den 7. Juni in Berlin angesetzten WM-Eröffnungsgala blieb Heller wie unter Schock fast sprachlos. Jetzt lässt er seinem Zorn freien Lauf, und es trifft nicht nur diejenigen, die ihm die Show vermasselt haben. „In meiner kindlichen Phantasie habe ich gedacht, dass die Deutschen den Slogan ,Die Welt zu Gast bei Freunden‘ ernst nehmen“, sagt Heller und blickt in den bleigrauen Himmel über Marzahn. „Jetzt kommt es mir so vor, als hätte man sich die Gäste nicht eingeladen, um gemeinsam ein Fest zu feiern, sondern ganz allein, um sie zu besiegen.“ Warum tue dieses Volk nur so, „als sei es vom Schicksal und allen Göttern zum Weltmeisterwerden verdammt“? Und wer könnte ihm fröhlichere Töne beibringen? Er nicht. „Ich bin nicht der seelische Klavierstimmer von Deutschland“, seufzt Heller. Dass der Mann nur lauter kleine „Pok Ta Pok“-Feste feiern darf, zu denen bislang immerhin rund 1,7 Millionen Menschen kamen, aber keine Superfete vor anderthalb Milliarden Fernsehzuschauern, daran sind aber nun wirklich mal nicht die Deutschen schuld. Die große Gala zur WM-Eröffnung im Berliner Olympiastadion hat der internationale Fußballverband Fifa gecancelt. Der sitzt in der Schweiz. 178 Werk. 25 Millionen Euro sollte die bis ins vorletzte Detail geplante Show kosten. Rund 9 Millionen, heißt es, werden nun für die Entschädigung der Künstler und Techniker fließen. Heller sagt: „Wenn man so reich ist wie die Fifa, dann ist einem so eine Summe egal. Das erinnert mich an Herren, die einen Wolkenkratzer bauen lassen und sechs Wochen vor dem Einzug wieder abreißen. Und sie schlafen trotzdem gut.“ „Ein Herz ist kein Fußball“ heißt der Beitrag des Berliner Theaters Ramba Zamba zu Hellers WM-Restprogramm. 17 geistig behinderte Darsteller stürzen sich mit furioser Begeisterung und einem Rockband-gestützten Höllenlärm in ein Traumspiel, das davon handelt, dass irgendwer den einzigen Fußball auf Erden ins Weltall geschossen hat. Bei der Premiere in der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg ist auch Innenminister Schäuble da. Er sagt ein paar nette, wärmende Worte über das WM-Kulturprogramm, Heller nennt ihn „einen guten Verbündeten“. Die drei Verbündeten, mit denen Heller sein FußballAbenteuer anfing, sind weit weg. Gerhard Schröder und Ramba-Zamba-Mitspieler in Berlin: Fußball im Weltall Otto Schily sind abgewählt, mit Franz Beckenbauer hat er seit Absage der WM-Gala nur kurz am Telefon geredet. Fifa-Chef Sepp Blatter hat in Interviews angedeutet, ausgerechnet Beckenbauer habe ihm zur Absage der Gala geraten. Am nächsten Freitag wollen Heller und Beckenbauer sich in die Augen sehen, im Fernsehstudio bei „Beckmann“. Der Franz sei „nicht mein Freund, aber ein unermüdlicher Helfer“, so der Impresario. Viele haben Heller den Absturz prophezeit. Nicht Impresario Heller (r.), Minister Schäuble*: Wärmende Worte zum ersten Mal. Diesmal aber durfte er, zum ersten nen von Marlene Dietrich bis Heino und Mal, überhaupt nicht abheben – ein gefesAlbert Einstein dargestellt hätten; ein Ballett selter Ikarus. „Das passiert mir kein zweites von fliegenden Fußball-Artisten; und als Mal“, sagt er, er werde künftig „nur noch Basis des Ganzen ein flirrender, funkeln- mit Liebenden“, mit wirklich Begeisterten, der, auf dem Rasen verlegter Riesenbild- arbeiten. Mit den Fifa-Leuten trifft er sich schirm, auf dem sich computeranimierte nicht mehr, sie reden nur noch über Dritte. Wasserkreise, Fußballkobolde, RasenmonsZum Beispiel über die kleine 20-Minuter, Leuchtkissen zu einem wohl tatsächlich ten-Show vor dem Münchner Eröffnungsrevolutionären Bilder-Irrsinn gefügt hätten. spiel. Heller lässt sie vom OberammerDer Rasen im Olympiastadion müsse ge- gau-Spielleiter Christian Stückl gestalten, schont werden, begründete die Fifa ihre Herbert Grönemeyer soll einen eigenen Gala-Absage. Eine Blutgrätsche beim Warm- WM-Song vortragen. „Die Fifa hat das Lied laufen, fast unmittelbar vor dem Anpfiff. abgenommen, es dauert fünf Minuten“, sagt „Verwirrung und Einfalt“ sieht Heller am Heller, „aber jetzt verlangt sie, dass er um zwei Minuten kürzt. Wegen der Reden.“ * Mit Ramba-Zamba-Theaterchefin Gisela Höhne in Berlin. Der Beton ist überall. Wolfgang Höbel JOHANNES EISELE / DDP Gefesselter Ikarus Aus, aus, das große Spiel ist aus – und das ist ein Jammer. Nicht unbedingt, weil irgendein Fußballfan die Show wirklich gebraucht hätte. Aber genau diese schöne Nutzlosigkeit war der Reiz der Sache. Die Computerentwürfe für die Gala beweisen, dass Hellers Team den schieren Aberwitz ins Olympiastadion zaubern wollte. Stolz führt er die Skizzen auf einem Laptop vor: Zum Auftakt einen „Rausch von Blüten“ aus Abertausenden vom Stadiondach hängenden Blumengirlanden; danach ein ironisches Party-Defilee mit bis zu 3000 Mitspielern, die unter anderem deutsche Iko- BAGANZ/SCHROEWIG S P E K TA K E L d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Sport SEGELN Pionier aus dem Westerwald Der Milliardär Ralph Dommermuth finanziert die erste deutsche Yacht in der Geschichte des America’s Cup. Dessen Mythos zieht von jeher Wirtschaftsmagnaten an, doch den Internet-Unternehmer reizt der Wettbewerb vor allem aus geschäftlichen Gründen. E Nachdem er eine Weile die Baustelle betrachtet hat, wendet sich Dommermuth ab. Er setzt sich auf einen Holzstuhl ans Wasser, faltet das Sakko sorgfältig zusammen und schaut hinüber zu den Prachtbauten der Topteams Alinghi, BMW Oracle und Luna Rossa am anderen Ende des Hafens. In solchen Augenblicken lebt in Dommermuths Phantasie das Bild vom nächsten r hat sein schwarzes Sakko über die Schulter gehängt, er trägt ein hellblaukariertes Hemd und eine beige Hose, er sieht aus wie ein Manager, der sich am Morgen vor dem Anzugschrank für den Freizeit-Dresscode entschieden hat. Doch Ralph Dommermuth, 42, schaut verkniffen statt lässig. Nicht wegen der Sonne, die zur Mittagszeit hoch über dem Jahr auf, wenn in Valencia der Wahn um den America’s Cup ausbrechen und der noch still dümpelnde Hafen vor Trubel beben wird. Die Miene des Geldgebers entspannt sich. Seine Leute sind zeitlich in Verzug, ja und? Das ist ärgerlich, aber alles andere als ein Drama. Viel wichtiger ist, dass in der Kieler Knierim-Werft die neue Yacht „GER-89“ America’s-Cup-Yachten bei Qualifikationsregatta Sponsor Dommermuth Yachthafen von Valencia steht und blendet. Dommermuth sieht auf eine Baustelle, und dieser Anblick schmerzt. Drei Etagen hoch ragt das Stahlgerippe in die Luft, weiß und rotbraun getüncht, ein Schweißbrenner spuckt Funken. Aus dem Rohbau entsteht bis Ende Juni der Stützpunkt des deutschen America’s-CupTeams, jener Segelcrew, die Dommermuth, Vorstandschef und Großaktionär des Konzerns United Internet, besitzt und finanziert. In diese Riesengarage soll einmal der Schiffsrumpf hineingeschoben und gewartet werden, zu Füßen der Sponsorengäste, die auf der obersten Etage schlemmen. In einem großen Halbkreis um das Hafenbecken stehen die Hallen aller zwölf Teams dicht an dicht. Bis auf ein Gebäude sind alle fertig. Bis auf das Camp des United Internet Team Germany. 180 GLOGER/JOKER/ULLSTEIN (L.); C. BORLENGHI/SEA&SEE/PICTURE-ALLIANCE/DPA (R.) Die Depression der New Economy überlebt sen und einige Segelprofis an der Hand. Doch dann schreckte Illbruck zurück, weil er keine weiteren Sponsoren fand und den Gesamtetat nicht allein aufbringen konnte. Mit Dommermuth lässt sich nun ein Mann auf das Wagnis America’s Cup ein, für den Geld keine Rolle mehr spielt, der indes bislang keinen Cent in Sportsponsoring gesteckt hat – nicht einmal in einen Satz Trikots für den Fußballverein im Westerwaldstädtchen Montabaur, dem Sitz der Konzernzentrale. Die deutsche Kampagne kostet rund 50 Millionen Euro; eine Hälfte zahlt United Internet, die gleiche Summe legt der Vorstandschef privat drauf. Dommermuth kann es sich leisten: Allein seine Aktienanteile sind an der Börse mehr als eine Milliarde Euro wert. Trotz seines Vermögens ist Dommermuth weithin unbekannt. Dabei ist die Vita des gelernten Bankkaufmanns eine der selten gewordenen Erfolgsstorys der neueren Zeit. United Internet ist eines der größten mermuth, „hatten wir ein gutes Gefühl dafür entwickelt, welches Businessmodell eine Chance hat. Wir machen nichts Kunterbuntes mehr, sondern konzentrieren uns auf das Kerngeschäft.“ Heute gehört United Internet zu den profitabelsten Providern, was sich auch an der Börse niederschlägt: Ende März schnellte der Kurs über die Höchstmarke aus Zeiten der New-Economy-Blase – und das, obwohl der Wert nach dem Crash um 96 Prozent abgesackt war. „Ralph Dommermuth schreibt Wirtschaftsgeschichte“, staunt die „Welt“ angesichts des Höhenflugs. Für den „Stern“ ist er „der deutsche Mister Internet“, bei „Bild“ schlicht der „Internet-König“. Er selbst spöttelt: „Ich bin nach sechs Jahren wieder Milliardär – wenigstens auf dem Papier.“ Da wird er nicht der einzige sein in Valencia. Den America’s Cup haben von jeher Wirtschaftsmagnaten als ihren Privatclub betrachtet. 1930 etwa kreuzten der englische Tee-Tycoon Sir Thomas Lipton und der amerikanische Eisenbahnerbe Harold S. Vanderbilt voreinander her. Ihnen folgten Kugelschreiber-Fabrikanten, Medienmogule und Modezaren, angelockt vom Mythos um den einst von Queen Victoria gestifteten Pokal. Mittlerweile prägen vor allem Larry Ellison, Gründer und Mitbesitzer des US-Software-Unternehmens Oracle, und der Schweizer Biotech-Konzernchef Ernesto Bertarelli, Eigner des AlinghiTeams, den Cup mit ihren zusammengeheuerten Elitecrews. Herausforderer BMW Oracle und Cupverteidiger Alinghi lassen mit Budgets von jeweils rund hundert Millionen Euro den anderen Teams kaum noch eine Chance. „Es ist doch eine billige Sache“, tönt Ellison. „Ich wundere mich, dass nicht noch mehr mitmachen.“ Während Ellison gern den Großkotz spielt, bleibt Bertarelli im Deutsche Segelcrew (beim Training vor Valencia): „Das hier ist Business und kein Urlaub“ Hintergrund und fügt sich als NaDenn erstmals seit der Debütregatta deutschen Web-Unternehmen. Von seiner vigator diskret in die Mannschaft ein. So von 1851 segeln die Teams wieder in euro- Heimatstadt Montabaur aus hat Dommer- unterschiedlich die beiden superreichen päischen Gewässern um die älteste Sport- muth einen Konzern hochgezogen, der in- Teameigner auch sein mögen, gemeinsam trophäe der Welt. Dass niemals zuvor eine zwischen in Europa und Amerika agiert, ist ihnen, dass sie es beherrschen, sportlich Crew mit deutscher Fahne am Rumpf fast 6000 Mitarbeiter beschäftigt und 800 zu segeln. Im Gegensatz zu Dommermuth. dabei war, ist eine weitere Besonderheit Millionen Euro Jahresumsatz macht, fast Der gibt seine Ahnungslosigkeit offen zu. Ein privater Segeltörn sieht bei ihm so in der fast schon mythischen Geschich- doppelt so viel wie noch 2003. Er hat den te dieses Wettbewerbs. Anläufe hatte es Rausch der New Economy erlebt und ihre aus: Eine Crew überführt seine 30-Metereinige gegeben, aber über das Planungs- Depression überlebt, obwohl am Ende des Yacht ins Ferienrevier, zum Beispiel zu den stadium kamen sie nie hinaus. Die viel- Wahns auch United Internet mit 86 Millio- Seychellen, Dommermuth fliegt ein, lässt sich umherschippern und genießt die Abversprechende AeroSail-Initiative, von nen Euro Schulden fast abgesoffen wäre. Daimler-Benz in den Neunzigern finanDamals schmiss Dommermuth alle un- geschiedenheit der Buchten. „Auf dem ziert, scheiterte daran, dass der Konzern rentablen Beteiligungen über Bord. Er Wasser draußen kann ich das Steuerrad die Geduld verlor. trennte sich von einem Online-Auktions- halten“, sagt er, „aber im Hafen würde ich Dem nächsten Projekt mangelte es an haus, einer Jobbörse und ähnlichen Fir- ein paar andere Boote versenken.“ Es war stets Geltungssucht, Leidenschaft, Geld. Der Münchner Kunststofffabrikant men; manche Gesellschaften brachten nur Michael Illbruck hatte für 2003, als der Cup einen symbolischen Euro ein, der beste Ehrgeiz, Langeweile oder alles zusammen, in Neuseeland ausgetragen wurde, zwar Deal immerhin über 18 Millionen. „Als die was die Milliardäre zum America’s Cup schon einen Bootsrumpf auf Kiel legen las- Musik aufhörte zu spielen“, sagt Dom- trieb. Für Dommermuth dagegen ist der NICO KRAUSS / IMAGO dieser Tage fertig wird. Zur Schiffstaufe übernächste Woche hat sich die Frau des Bundespräsidenten angekündigt. Eva Luise Köhler als flaschenschwingende Patin, das ist ein Coup: Dommermuth hatte sich ihr beim Berliner Presseball vorstellen lassen und im Plausch den Vorschlag gemacht – ein paar Wochen später sagte das Präsidialamt zu. Seitdem weiß Dommermuth, welchen Bonus sein Pionierprojekt besitzt. In Zeiten wie diesen, in denen in Deutschland selbst auf den Anzeigetafeln der U-Bahnhöfe der Countdown bis zum Beginn der Weltmeisterschaft läuft, hat es den Anschein, als ob neben dem Fußball keine anderen Sportarten mehr existierten. Da das Leben aber nach dem 9. Juli weitergehen wird, gibt es ein paar Unternehmen, die über diesen Tag hinaus planen – und da scheint der America’s Cup, der nach monatelangen Ausscheidungsrennen im Sommer 2007 ausgesegelt wird, keine schlechte Wahl. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 181 Wettbewerb nicht die Bühne zur Erfüllung persönlicher Träume – ihn bewegt vielmehr geschäftliches Kalkül. Vermutlich erfüllt ihn so etwas wie Besitzerstolz, wenn er das schlanke weiße Schiff mit den Firmenlogos sieht. Aber damit hat es sich auch. „Das hier“, sagt Dommermuth strikt, „ist Business und kein Urlaub.“ Mehr als ein Rang im Mittelfeld der zwölf Boote wird dabei kaum herausspringen. Das wäre schon ein Erfolg. Denn das Projekt entsprang der wohl naivsten Idee, mit der je in Deutschland das Ziel America’s Cup angegangen wurde. 2004 hatten drei Initiatoren, der Münchner Geschäftsmann Uwe Sasse, der Bootsbauer Eberhard Magg vom Bodensee und der Hamburger Segler Andreas John, die Kampagne „Fresh Seventeen“ ausgeheckt. 17 deutsche Nachwuchskräfte sollten als fröhliche Anfänger-Besatzung einer Nation sympathisch werden, irgendwie, Hauptsache dabei. Ebenso gut hätten sie sagen können: Hey, einer von uns hat doch einen Sportwagen in der Garage stehen, wollen wir nicht in der Formel 1 starten? Erst als der dänische Profi-Skipper Jesper Bank, 48, dazustieß, nahm das Projekt Form an. Der Olympiasieger, ein erfahrener America’s-Cup-Segler, brachte den Kern der Crew mit. Im letzten Moment sagte Dommermuth als Sponsor zu. Wenige Stunden vor Meldeschluss, nachts um halb elf, flatterten beim Veranstalter die nötigen Papiere auf den Tisch. Doch fast wäre das Team noch gekentert, als im vorigen Herbst zwischen Dommermuth und Sasse, dem Vorstand und Anteilseigner, ein Machtkampf entbrannte. Zweifel an einer sauberen Buchführung Sasses kamen auf, sogar von Untreue war die Rede. Außerdem murrten einige Segler, weil sie unzureichende Verträge vorgelegt bekamen und sich hingehalten fühlten. Manchmal wusste die Crew morgens beim Ablegen zum Training nicht, ob ihr Team noch existierte, wenn sie abends wieder im Hafen einlief. Nach wochenlangem Streit in der Öffentlichkeit zahlte Dommermuth Sasse mit einem Millionenbetrag aus. „Gemessen am Gehalt für einen Angestellten war es natürlich teuer, gemessen an meinem Vermögen nicht so sehr“, sagte Dommermuth danach. Seitdem schweigt er zu dem Thema. Ein Nachfolger indes war schnell gefunden. Jetzt kümmert sich Michael Scheeren, 48, um die Geschäfte. Der Weggefährte von Dommermuth war lange Finanzvorstand bei United Internet und sitzt im Aufsichtsrat des Unternehmens. Seine erste Amtshandlung: Er gab den Seglern binnen weniger Tage vernünftige Verträge und ordnete den Etat. Scheeren vollzog damit den letzten Schritt und machte aus dem kippelnden Projekt eine reibungslos laufende Firma. Ein Mann des Geldes, ganz in Dommermuths Sinn. Detlef Hacke 182 BERND FEIL / MIS Sport Nationaltorwart Lehmann: „Ich habe erlebt, wie es ist, um meine Existenz zu spielen“ FUSSBALL „Ich muss weiter Gas geben“ Nationalspieler Jens Lehmann über seine neue Rolle als Nummer eins, seine Fitness und seinen Rivalen Oliver Kahn Lehmann, 36, wurde Uefa-Cup-Sieger mit Schalke 04 und Deutscher Meister mit Borussia Dortmund. Bundestrainer Jürgen Klinsmann wählte den Schlussmann von Arsenal London jetzt zum ersten Torwart der deutschen Nationalelf. SPIEGEL: Herr Lehmann, hat sich seit Ihrer Beförderung zum WM-Torwart Nummer eins Ihr Leben verändert? Lehmann: Nicht so, dass ich es fühlen könnte. Natürlich habe ich eine Menge Anrufe, SMS und E-Mails bekommen. Aber ich muss mich vor der WM so oder so auf all die wichtigen Spiele mit Arsenal London konzentrieren. SPIEGEL: Sie stehen aber mehr unter Beobachtung, Ihre neue Position gilt als psychologisch schwieriger als die Rolle des Herausforderers. Ist Oliver Kahns Ankündigung, er wolle auch als degradierter Torhüter mit zur Weltmeisterschaft, als Kampfansage zu werten? Gibt er womöglich noch nicht auf? Lehmann: Es steht mir nicht zu, da irgendetwas zu interpretieren. Ich weiß ohnehin, dass ich bei Arsenal weiter Gas geben muss. In England habe ich einen wesentlich höheren Druck, als ich ihn in Deutschland kannte. Damit habe ich umzugehen d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 gelernt. Diese Erfahrung werde ich zur WM mitnehmen. Ich habe erlebt, wie es ist, um meine Existenz zu spielen. Dagegen fühlt sich der Druck jetzt sanfter an. SPIEGEL: Was meinen Sie mit Existenz? Lehmann: Vor eineinhalb Jahren ging es darum, wo wir leben – meine Kinder, meine Frau. Gehen wir wieder weg, bleiben wir hier? SPIEGEL: Sie meinen die Zeit, da ArsenalCoach Arsène Wenger Sie für zehn Spiele auf die Reservebank verbannte? Lehmann: Das waren ja nicht eben mal zehn Spiele, sondern eine Phase, in der man alles neu überdenkt. Ich wollte ja zur WM und in den verbleibenden Profi-Jahren auf hohem Niveau spielen. Was sollte ich jetzt machen? Plötzlich fing unser Ältester an zu weinen, weil er dachte, er müsste London schon wieder verlassen. Irgendwann stand für mich fest: Ich bleibe und packe das hier. Ich wusste: Ich muss alles noch einmal erhöhen. Das ist Druck. SPIEGEL: Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß behauptet, Sie hätten seit eineinhalb Jahren gewusst, dass Sie bei der WM spielen. Wie kann das sein? Lehmann: Da hätte ich schon sehr optimistisch oder Hellseher sein müssen. Vor eineinhalb Jahren war ich von der Nummer der zweiten Halbzeit. Ich komme aus der Kabine gelaufen und gewöhne mich einfach noch einmal an den Boden, ans Fallen. Denn das ist mein Job. Einmal abrollen, zack, und die Gelenke sind warm. Das finden die Leute hier toll. Manchmal mache ich es nicht, dann verlangen sie es geradezu: „Roll, roll“, rufen sie. In Deutschland hat das keinen interessiert. SPIEGEL: In der englischen Premier League ist das Tempo höher, und als mitspielender Torwart, der Angriffe vorausahnen und oft weit vor dem Tor abfangen muss, sind Sie stets hochkonzentriert und wirken angestrengt. Hat Ihnen diese Schule den Platz im WM-Tor eingetragen? Lehmann: Wegen dieser Spielweise bin ich damals von Arsenal gekauft worden. Wie viele Kilometer, glauben Sie, laufe ich im Spiel? SPIEGEL: Drei? Vier? Lehmann: Etwa fünf bis sechs in 90 Minuten. Das ist einiges, wenn man weiß, dass Mittelfeldspieler in der Regel auf zehn bis elf Kilometer kommen, Stürmer auf acht bis neun. Aber ich denke, auch das Training bei Arsenal kam mir zugute. Man trainiert hier ständig das Spielsystem, auch mit dem Torwart. Das ist in Deutschland noch nicht überall üblich. Doch Jürgen Klinsmann und Joachim Löw denken wohl ähnlich: Auch sie haben eine genaue Vorstellung davon, was jeder Spieler auf dem Platz zu tun hat. Daher ist Arsenal für mich ein Geschenk des Himmels. Ich weiß, wie das Spiel funktioniert. Und ich bin topfit. SPIEGEL: Woher kommt die Fitness? Lehmann: Ich habe in meinem Leben unheimlich viel trainiert. Nicht nur phasenweise, sondern konstant. Auf und neben dem Platz, viel Gymnastik und Kraftraum. Ich hoffe, dass sich das jetzt auszahlt. Ich dachte mir: Mehr kann ich nicht geben, wenn ich das so mache. Von der Disziplin, vom Lebenswandel. Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, ich hätte nicht alles für das Ziel WM getan. SPIEGEL: Es heißt, Sie hätten einen Wettbewerbsvorteil genossen, weil Sie mit dem Bundestrainer den Berater teilten. Lehmann: Mit dem Anwalt André Gross, den Sie meinen, habe ich seit vier Jahren nicht mehr zusammengearbeitet. SPIEGEL: Glaubten Sie, im Torwartduell deutlich besser sein zu müssen, um den Platzhirsch Kahn zu verdrängen? Lehmann: Ich wusste, dass ich irgendwann richtig gute Leistungen würde bringen müssen. Im vergangenen Sommer begann es. Beim Confederations Cup hatte ich das Glück, dann Lehmann-Rivale Kahn*: „Ein Konkurrent, der kämpft“ * Am vergangenen Montag in München bei der Bekanntgabe seiner Entscheidung, auch als Ersatzmann an der WM teilnehmen zu wollen. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 CHRISTOF KOEPSEL / GETTY IMAGES Lehmann: Die mache ich in der Regel vor MATTHIAS SCHRADER / DPA eins im Nationalteam weit entfernt. Weil ich ja in London auf der Bank gesessen habe. Daraufhin habe ich einiges geändert, auch den Trainingsrhythmus. Wenn man aus Deutschland kommt, ist man es gewohnt, ein paar Monate sehr hart zu trainieren – bis zur Winterpause, in der man sich erholen kann. In England gibt es die Winterpause nicht. Ich musste lernen, dort von Ende November an mehr Gewicht auf die Qualität des Trainings zu legen, weniger auf Intensität. So bleibt man frisch. Seit jenem Winter habe ich so konstant gespielt wie nie zuvor. Das hat meinen Optimismus gestärkt. SPIEGEL: Wirkten Sie deshalb im Endspurt um die Gunst Klinsmanns so gelassen? Lehmann: In meinem Fußballerleben hatte ich manche schwierige Situation zu bewältigen. Bei Schalke standen wir auf dem letzten Tabellenplatz, und der Verein hatte jede Menge Schulden. Da war ich 18. Da fing der Druck an. Dann kam der Trainer Aleksandar Ristic, der mir vor jedem Spiel aufs Neue sagte: Wenn du heute wieder einen Fehler machst, bist du weg. Später kam Jörg Berger, der mich in seinem ersten Spiel zur Pause auswechselte und anderntags meinte: Besser, du suchst dir einen neuen Verein. SPIEGEL: Sie galten in Ihrer Karriere nie als Publikumsliebling. Vor einem Länderspiel in Kaiserslautern pfiffen die Zuschauer Sie sogar schon aus, als die Mannschaftsaufstellung durchgesagt wurde. Erhoffen Sie sich nun, als WM-Torwart der Nation, mehr Unterstützung? Lehmann: Natürlich. Wie jeder andere auch werde ich gern gemocht. SPIEGEL: In England haben Sie einen Ruf wie Oliver Kahn in Deutschland: humorlos, grimmig, häufig in Rangeleien mit Gegenspielern verstrickt. Sind deutsche Torhüter besonders verbissen? Lehmann: In meinem Fall ist die Antwort einfach. Die Engländer haben recht: Ich bin wirklich so – auf dem Platz. Angry, grumpy, wie sie hier sagen. SPIEGEL: Aber Ihre Purzelbäume scheinen beliebt zu sein. Welchen Zweck erfüllen die eigentlich? Bundestrainer Klinsmann „Genaue Vorstellung, was jeder zu tun hat“ zu spielen, als wir gute Ergebnisse brauchten. Die Abwehr stand in der Kritik, ich durfte spielen – und wir gewannen gegen Tunesien 3:0. SPIEGEL: Kahn suchte während des Zweikampfs immer wieder die Bestätigung des Bundestrainers, noch die Nummer eins zu sein. Ein Fehler? Lehmann: Dazu kann ich nichts sagen. Konkurrenzkampf im Tor bin ich seit acht, neun Jahren im jeweiligen Verein gewohnt. Ich weiß: Die Bestätigung bekommst du nie verbal. Noch nie im Leben bin ich zum Trainer gegangen und habe gefragt: Bin ich die Nummer eins? Das muss ich mir im Training und Spiel erarbeiten. SPIEGEL: Über das WM-Abschneiden der Deutschen wird vermutlich nicht der Torwart entscheiden. Wird diese Position zu wichtig genommen? Lehmann: Dafür kann ich aber nichts. Gegenüber den Mitspielern in der Nationalmannschaft ist es mir schon peinlich, dass die Leute an dem Thema so interessiert sind. Die Mannschaft muss im Mittelpunkt stehen. Wenn wir Weltmeister werden, wäre ich auch froh, wenn ich dazu keinen einzigen Ball halten müsste. SPIEGEL: Hätten Sie im Sinne des Betriebsklimas gern ein Mitspracherecht in der Frage, wer Ihr Stellvertreter sein soll? Lehmann: Nein. Das würde meiner Einstellung zum Wettbewerb total widersprechen. Auch im Verein ist immer ein Konkurrent da, der kämpft. SPIEGEL: Aber wie kann Oliver Kahn bei der WM Ihr Kamerad sein, wo Sie ihm doch den Platz weggenommen haben? Lehmann: Ich glaube, dass ich ihm nicht den Platz weggenommen habe. Sondern dass die Trainer eine Entscheidung für mich gefällt haben. Interview: Jörg Kramer 183 Chronik 8. bis 12. April Seit Dienstag ist das Kinderzimmer von George W. Bush in Texas zu besichtigen. SPIEGEL TV DONNERSTAG, 20. 4. 22.35 – 23.25 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Schweiß und Tränen – Aufnahmeprüfung am Reinhardt-Seminar Das Wiener Max Reinhardt Seminar ist eine der renommiertesten Schauspielschulen Europas. Wer die vierjährige Ausbildung zum Diplomschauspieler antreten will, muss jedoch erst ein einwöchiges Bewerbungsmarathon überstehen. SPIEGEL TV Extra begleitet Nachwuchstalente bei den Aufnahmeprüfungen. JEFF MITCHELL / REUTERS FREITAG, 21. 4. 22.25 – 0.25 UHR VOX SPIEGEL TV THEMA Patrouille im Regenwald – Dschungelförster und Wildhüter im Einsatz WAHL Harald Ringstorff wird auf der Landesvertreterversammlung der SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit 95,7 Prozent zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im September gekürt. BESUCH Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat nichts gegen einen Besuch des iranischen Präsidenten und Israel-Feindes Mahmud Ahmadinedschad bei der Fußball-WM. Der Zentralrat der Juden spricht von einem „Skandal“. S O N N TA G , 9 . 4 . HOCHWASSER Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht das Hochwassergebiet an der Elbe und verspricht den Betroffenen schnelle Hilfe. Der Pegel in der niedersächsischen Gemeinde Hitzacker erreicht 7,63 Meter – 13 Zentimeter höher als beim „Jahrhunderthochwasser“ 2002. IRAK Im Internet taucht eine neue Video- botschaft mit den beiden verschleppten deutschen Technikern Thomas Nitzschke und René Bräunlich auf. Die Geiseln wirken erschöpft und bitten um Hilfe. RAUMFAHRT In der kasachischen Steppe landet die Langzeitbesatzung der Internationalen Raumstation ISS. Mit an Bord der „Sojus“-Kapsel ist auch Marcos Pontes, der erste brasilianische Astronaut. M O N TA G , 1 0 . 4 . FUSSBALL Oliver Kahn will trotz seiner Degradierung zum Ersatztorwart an der Fußball-Weltmeisterschaft teilnehmen. SPD Parteichef Matthias Platzeck erklärt überraschend seinen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen. Nachfolger soll Kurt Beck werden. FRANKREICH Nach wochenlangen Streiks und Demonstrationen von Schülern und Studenten zieht die Regierung ihr umstrittenes Gesetz zur Erstbeschäftigung zurück. D I E N S TA G , 1 1 . 4 . ITALIEN I Nach stundenlanger Auszählung der Stimmzettel steht Romano Prodi als knapper Sieger der Parlamentswahlen fest. Verlierer Silvio Berlusconi zweifelt das Ergebnis an. ITALIEN II Sicherheitskräfte nehmen den gefürchteten Mafia-Boss Bernardo Provenzano, genannt „das Raubtier“, fest. Der 73-Jährige wurde seit 1963 gesucht. ANSCHLAG Mindestens 40 Menschen sterben bei einem Bombenanschlag auf eine Gebetsversammlung sunnitischer Muslime im Süden Pakistans. AUSZEICHNUNG Essen wird im Jahr 2010 europäische Kulturhauptstadt. Die Ruhrgebietsmetropole gewann mit ihrer Bewerbung „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“. MITTWOCH, 12. 4. ATOMPROGRAMM Die Bekanntgabe einer ersten erfolgreichen Atomanreicherung in Iran löst weltweit große Besorgnis aus. Auch die traditionellen Verbündeten Russland und China äußern sich kritisch zu den Atomversuchen. SAMSTAG, 22. 4. 21.50 – 23.50 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Kaufrausch im Wohnzimmer – Das Geschäft mit dem Versandhandel Die Deutschen sind Europameister im Bestellen. Besonders gern wird über das Internet geordert: Fast 25 Millionen Online-Käufer sorgten 2005 für den Rekordumsatz von 6,1 Milliarden Euro. SPIEGEL TV über Sammelbesteller, adlige Trendscouts und Bioschnitzel in der Post. SONNTAG, 23. 4. 22.30 – 23.20 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Schröder, Kohl und Konsorten – Karrieren ehemaliger Polit-Größen; Stadt ohne Zukunft – Bremerhaven und die Verwaltung des Niedergangs; Aufmarsch der Hartz-IV-Empfänger – Spargelernte in Hes- sen. ALEXANDER ZEMLIANICHENKO / AP S A M S TA G , 8 . 4 . In Brasilien liegt das weltweit größte tropische Regenwald-Schutzgebiet: Der Tumucumaque-Nationalpark. Der Deutsche Christoph Jaster soll im Auftrag der brasilianischen Umweltbehörde ein Paradies schützen, dessen Fläche so groß wie die Niederlande ist. Dazu unternimmt er Expeditionen an Orte, die noch nie vom „weißen Mann“ betreten wurden. DAIMLER-CHRYSLER Auf der Hauptversammlung kündigt Konzernchef Dieter Zetsche eine Gewinnsteigerung an. Der Absatz des Unternehmens werde aber eher stagnieren. ÜBERNAHME Ein US-Investor will das nach dem Betrugsskandal insolvente Werttransportunternehmen Heros übernehmen. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Altbundeskanzler Gerhard Schröder 185 Register zeichnungen erhielt Reve den bedeutenden niederländischen Literaturpreis P. C. Hooftprijs. Gerard Reve starb am 8. April im belgischen Zulte. gestorben 왘왘 POLITIK Wundersame Wandlung: Wie CSUMinisterpräsident Edmund Stoiber nach seiner Schlappe in Berlin am Comeback als Spitzenkandidat arbeitet. SPIEGEL ONLINE beobachtet die Rückkehr des Vielgescholtenen. 왘왘 WISSENSCHAFT Thermoskarren: Deutsche Forscher entwickeln eine neue Energieversorgung für Großkunden. SPIEGEL ONLINE beschreibt, wie industrielle Abwärme per Lkw zum Verbraucher geliefert wird. 왘왘 KULTUR Zeitgeschichte: SPIEGEL-ONLINEInterview mit der Swing-Legende Coco Schumann über seine Zeit als Musiker im Dritten Reich und sein Überleben im KZ Theresienstadt. 왘왘 SPORT Titelangriff: Timo Boll führt die deutschen Tischtennis-Herren zur Mannschafts-WM in Bremen. Bei SPIEGEL ONLINE spricht der Weltranglisten-Zweite über seine gefährlichsten Gegner – die starken Chinesen. Jeden Tag. 24 Stunden. www.spiegel.de Schneller wissen, was wichtig ist. FRANK MÄCHLER / DPA Maßgabe der allgemeinen Gesetze zulässig.“ Ernst Müller-Meiningen jr. starb am 10. April in München. Allan Kaprow, 78. Der Amerikaner selbst Gerard Reve, 82. Es dauerte 41 Jahre, bis der Erstlingsroman des niederländischen Schriftstellers, „Die Abende“, auf Deutsch erschien. Das war 1988, und Reve galt in seiner Heimat schon lange als einer der wichtigsten Nachkriegsautoren. Früher bekennender Marxist, trat er der katholischen Kirche bei und bekannte sich nach der Scheidung in den sechziger Jahren zu seiner Homosexualität. Religion und Sexualität thematisierte er auch immer wieder in seinen Texten. Im Roman „Näher zu dir“ (Deutsch 1970) so drastisch, dass er wegen Blasphemie verklagt wurde. Reve malte sich in allen Details aus, wie es wäre, mit Gott, der in Gestalt eines Esels auf Erden wandelt, zu kopulieren. „Der vierte Mann“ machte den Schreiber, der viel von Melancholie und von Humor verstand, 1993 in Deutschland einem breiteren Publikum bekannt. Neben zahlreichen anderen Aus186 d e r te sie zur Handelsschule, doch Ballett- und Schauspielunterricht sagten der gebürtigen Berlinerin mehr zu. Mit Hartnäckigkeit und Talent schaffte sie es ans Zürcher Schauspielhaus und nach Hamburg, zu Gustaf Gründgens. „Das mit dem Film“, meinte die Blondine nach einem halben Jahrhundert solider Schauspielarbeit und mehr als 200 Rollen unter anderem neben Gert Fröbe, Romy Schneider, Heinz Rühmann, Eddie Constantine, „war eher Zufall. Da ich so hübsch war, kam der Film nicht an mir vorbei.“ Sie spielte zwar meist Nebenrollen, das aber kontinuierlich. Regisseur Rainer Werner Fassbinder engagierte sie unter anderem für „Faustrecht der Freiheit“ und „Berlin Alexanderplatz“. Zuletzt war sie in der Soap „Unter uns“ auf RTL als etwas anstrengende Hausbesitzerin zu sehen. Junge Kollegen bewunderten sie wegen ihrer illustren Bekanntschaften, aber auch, weil sie zum Weinen keinen Tränenstift brauchte. Christiane Maybach starb am 12. April in Köln. bezeichnete sich als „Unkünstler“, dabei hatte er bei dem aus Deutschland stammenden Maler Hans Hofmann eine solide Ausbildung absolviert – und sollte zu einer der maßgeblichen Gestalten bei der Entwicklung einer eigenständigen US-Moderne werden. Kaprow hatte sich in den Vierzigern und nach dem Vorbild von Jackson Pollock im „Action Painting“ versucht. Dann verstärkte er den Aspekt mit dem Körpereinsatz, entwickelte schließlich eine eigenständige Kunstrichtung. 1959 erfand er den dazugehörigen Fachausdruck: „Happening“. Er ließ Leute über Autoreifen klettern oder richtete Räume ein, in denen die Besucher die Möbel umstellen durften. In den Siebzigern baute er die Berliner Mauer nach – wobei er Marmeladenmörtel verwendete. Seine Kunst war flüchtig, überraschend, voller Witz und insofern nichts fürs Museum. Diese Art von Anarchie hat den Künstler zum Vorbild einer jungen Generation gemacht. Allan Kaprow starb am 5. April im kalifornischen Encinitas bei San Diego. s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 GLOBE / INTER-TOPICS Indiens boomende Wirtschaft verblüfft das Ausland und begeistert die Einheimischen. SPIEGEL-ONLINE-Report aus dem Land, in dem plötzlich Millionen Menschen an sich glauben – und so den Aufschwung befeuern. Christiane Maybach, 79. Der Vater schick- HORST OSSINGER / DPA NEU-DELHIS KRAFTAKT behielt der Jurist und Journalist bis ins hohe Alter bei – zum Gedenken an seinen Vater, den bayerischen Justizminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten der Weimarer Zeit, und auch zum Zeichen dafür, dass der Mensch sich seiner Wurzeln bewusst zu sein hat. 1908 in München geboren, in der HitlerZeit beruflich chancenlos, bestimmte der streitbare Liberale von 1946 bis 1979 mit seinen Kommentaren und Glossen – gezeichnet mit dem Kürzel „M.M.jr.“ – den rechtspolitischen Kurs der „Süddeutschen Zeitung“: nie schäumend, sondern mit dem geschliffenen Wort für einen humanen, freiheitlichen Rechtsstaat fechtend. Schon in den fünfziger Jahren kritisierte er den noch von obrigkeitsstaatlichen Prinzipien geprägten Strafprozess; er stritt gegen die Einführung der Todesstrafe und erinnerte die NS-Täter an ihre persönliche Verantwortung. Für die Zeitung schrieb er 1997 nach seinem Ausscheiden – anlässlich der Diskussion um den Großen Lauschangriff – wenigstens noch einen Leserbrief, in dem er ironisch vorschlug, Artikel 1 des Grundgesetzes doch zu ergänzen: „Folter ist nur nach HOLLANDSE HOOGTE ADEEL HALIM / REUTERS Ernst Müller-Meiningen jr., 97. Den „jr.“ Personalien Volker Kauder, 56, Fraktionschef der CDU/CSU, gibt sich offiziell gern modern, hält aber offenbar nichts davon, wenn junge Mütter arbeiten gehen und ihre Kinder in Tagesstätten abgeben. Am Stuttgarter Flughafen traf Kauder unlängst auf eine Bundestagskollegin, die türkischstämmige GrünenAbgeordnete Ekin Deligöz. Die war gerade mit einer typischen Elternarbeit beschäftigt: Deligöz versuchte, ihren schreienden vierjährigen Sohn zu bändigen. Vor dem Rückflug mit der PolitikerMutter nach Berlin fiel ihm wohl der Abschied von den Großeltern schwer. Kauder beobachtete die Szene und fragte, so erinnert sich die Abgeordneten-Kollegin: „Das arme Kind. Warum nehmen Sie ihn denn mit?“ Deligöz antwortete: „Weil sein Vater in Berlin arbeitet und ihn auch sehen will.“ Kauder, selbst kinderlos, blickte verdutzt und erklärte: „Was, er arbeitet auch noch? Das haben Sie von Ihren Lebensstilen.“ Dann wendete er sich ab und grummelte kopfschüttelnd: „Kitas – armes Kind, kann ja nicht gut gehen.“ Volker Kauder konnte sich in der vorigen Woche an den Wortlaut der Unterhaltung nicht mehr erinnern. Shakira, 29, kolumbianisches Sangeswunder, sorgt in ihrer Heimatstadt Barranquilla (Provinz Atlántico) für Aufregung. Es geht um den Ort, an dem eine Skulptur der berühmtesten Tochter der Stadt ihren endgültigen Platz finden soll. Das Werk des deutschen Shakira-Fans, Kunst-Autodidakten und hauptberuflichen Landrats des rheinischen Kreises Neuss Dieter Patt, 62, das dieser Tage als Frachtgut in Kolumbien angelandet ist, soll nach dem Willen der Sängerin auf einem verkehrsreichen Platz vor der Universität Atlántico aufgestellt werden. Hier seien „die jungen Leute jeden Tag unterwegs“, für die sei die Statue auch gedacht. Doch die Landesregierung von Atlántico ist dagegen. Man möchte die sperrige fünf Meter hohe und fünf Shakira-Skulptur, Patt Tonnen schwere Eisenplastik lieber in einem noch zu gestaltenden ruhigen Park aufstellen. Shakira wird sich mit ihrem Wunsch wohl durchsetzen. Denn die Lichtgestalt Kolumbiens will nur dann zur Einweihungsfeier kommen, wenn die Skulptur an einem ihr genehmen Ort aufgestellt wird. Denn: „Nicht ich bin es, die dort abgebildet ist, es ist meine Generation mit der Gitarre in der Hand“, hatte die Künstlerin gesagt, als sie im November vergangenen Jahres in Neuss die Skulptur erstmals in Augenschein nahm. Atallah Abu al-Sabh, 58, neuer Kulturminister Palästinas, grenzt sich und sein Land scharf ab von den Taliban. Weder Bilderstürmerei solle es geben, noch müssten alle zu Allah beten. Verboten werde allerdings die Bauchtänzerei. Denn „Bauchtanz bedeutet nackte Frauen. Das ist unislamisch“. Jede Shakira BWP / REFLEX ten, wegen der „moralischen Korruption“, ebenso wird es keine „Madonna in Bed“ geben. Und noch etwas: „Nicht alles, was aus Hollywood kommt, ist schlecht. ,Titanic‘ war ein guter Film, ein humaner Film“, sagt Abu al-Sabh, der wohl vergessen hat, dass Kate Winslet, 30, die Hauptdarstellerin, in einer Szene nackt zu sehen ist. legen inzwischen als ebenbürtig erwiesen. Und Oberstabsfeldwebel Kraft hatte sich gar den besonderen Respekt ihrer Kollegen erworben, als sie bei einem Anschlag auf eine Ölpipeline aus dem kreisenden Hubschrauber heraus mit einem M4-Gewehr im Anschlag mehrere Angreifer tötete. Statt „töten“ bevorzugt die zierliche Kalifornierin das kühl-bürokratische Wörtchen „neutralisieren“, gestand sie in einem Interview. Sie wolle nicht, dass „die Leute zu Hause denken, dass wir Gefallen daran fänden, Menschen zu töten. Dies ist ein Teil unseres Jobs, der uns keine Freude macht“. „Titanic“-Szene mit Winslet Menge ägyptischer und auch russischer Bauchtänzerinnen kämen ins Land. Ließe man zu, dass sich das „Phänomen Bauchtanz weiterverbreitet“, so die Überlegung des Ministers, „dann könnte es sein, dass unser Volk sich dagegen wehrt und Menschen tötet“. Er wolle nicht, „dass unser Volk ein Volk von Taliban wird“. Kinos sollen dagegen wieder geöffnet werden, die Filme aus Israel aber bleiben verbo188 Oberstabsfeldwebel der U. S. Army, ist eine von acht Pilotinnen der im irakischen Kirkuk stationierten zweiten Staffel des 17. Kavallerieregiments, die mit einem Kampfhubschrauber über dem sunnitischen Dreieck Einsätze fliegt. Bei der Infanterie ist Soldatinnen die Teilnahme an Kampfhandlungen verboten, nicht so den Kampfpilotinnen. Sie haben sich im Irak ihren männlichen Kol- Kraft d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6 Ludwig II., im Jahr 1886 bei Berg im Starn- NICK MEO 20TH CENTURY FOX Mariko Kraft, 31, berger See ertrunkener König von Bayern, soll mit einem riesigen, wenn auch vergänglichen Bildnis geehrt werden. Die Vereinigung der sogenannten Guglmänner SM, eine Art anonymer Fanclub des „Kini“, lässt auf einem Feld neben dem Münchner Flughafen ein überdimensionales Porträt von Ludwig II. ins Getreide fräsen – mit einem Mähdrescher, der via Satellit gesteuert wird. Sowohl die Besucher der Fußball-Weltmeisterschaft als auch im der Opferbereitschaft – an das Amt“, weiß die Darstellerin. Die echte Elizabeth II., auf die achtzig zugehend, hat auch „Elizabeth I.“ gesehen. Auf einer Dinnerparty erzählte die Queen einem der TV-Produzenten, sie habe die Serie genossen. Der erbot sich, Ihrer Majestät eine DVD zu überlassen. Die Königin, so Mirren, habe abgewehrt: „Oh, no, wir haben keine DVDs. Ein Video wäre gut.“ GUGLMANN Dominique de Villepin, 52, französischer Premierminister, büßte durch einen politischen Bestseller erheblich an dem von ihm sorgsam gepflegten Image des aristokratischen Feingeists und Poeten ein. In einem mit zahllosen Fußnoten akribisch dokumentierten Buch über Staatspräsident Jacques Chirac „Die Tragödie des Präsidenten“ beschreibt der Chefredakteur des Magazins „Le Point“ Franz-Olivier Giesbert Regierungschef Villepin als Vielfraß, der „für vier“ esse und trinke sowie Widersacher grundsätzlich als „Blödmänner“ und „Arschlöcher“ abqualifiziere. Höhepunkt des Zitatenschatzes des ausgewiesenen Patrioten Galouzeau de Villepin – so der volle Name – ist dessen Einschätzung von Frankreich als lasziver Dame: „La France scheint am Boden zu liegen. Betrachtet sie aus der Nähe. Sie hat die Beine gespreizt. Sie wartet verzweifelt darauf, dass sie gebumst wird. Es ist zu lange her, dass jemand sie solcherart beehrt hat.“ Trockener Kommentar des gaullistischen Ex-Premiers Edouard Balladur: Wer keine drei Sätze reden könne, ohne obszön zu werden, „muss ein sexuell Besessener sein“. Geplantes Porträt Ludwigs II. September Papst Benedikt XVI. können beim Landeanflug auf den Airport den berühmten Wittelsbacher Regenten von oben betrachten. Die Guglmänner sehen die Aktion auch als Protest gegen das Haus Wittelsbach und die staatlichen Behörden, die sich immer noch weigern, den Sarkophag des Königs zu öffnen. Dann, glaubt der Geheimbund, ließe sich ein Mord an Ludwig II. nachweisen und eine gigantische Geschichtsfälschung aufklären. Helen Mirren, 60, britische Schauspielerin, kennt sich nun aus in der Geschichte der britischen Monarchinnen. Sie spielte in der kleinen TV-Serie „Elizabeth I.“ die gleichnamige britische Königin aus dem 16. Jahrhundert. Jetzt hat sie steife Halskrausen und wallende Roben gegen Perlenketten und Tweedröcke getauscht. In dem Kinowerk „The Queen“, einem Porträt der königlichen Familie nach Prinzessin Dianas Tod, übernahm sie die Rolle der Elizabeth II. „Elizabeth I. wie die II. sind durchdrungen von einem aufrichtigen Gefühl der Hingabe – um nicht zu sagen GILES KEYTE / CHANNEL 4 (O.); LAURIE SPARHAM (U.) Mirren in „Elizabeth I.“, in „The Queen“ Sebastian Edathy, 36, Vorsitzender des Bundestagsinnenausschusses und Sohn eines indischen Vaters, wurde mal wieder Opfer eines Vorurteils. Bei einer EU-Konferenz mit Beitrittskandidaten diesen Montag in Wien wurde der SPD-Parlamentarier bei der Anmeldung von einer Gästebetreuerin mit der Bemerkung begrüßt: „Oh, der Türkisch-Dolmetscher ist ja auch schon da.“ Edathys Richtigstellung („Ich bin nicht hier zum Dolmetschen“) ließ die Betreuerin zwar erröten, eine Entschuldigung jedoch verkniff sie sich. Edathy hat Erfahrung damit, als Ausländer wahrgenommen zu werden. Auf einer Reise in die Hamburger Partnerstadt St. Petersburg begrüßte der damalige Hamburger Bürgermeister Ortwin Runde den Abgeordneten, obwohl Edathy als Mitglied der deutschen Delegation vorgestellt worden war, mit der flotten Formel: „Nice to meet you.“ Edathy entgegnete: „Wir können auch Deutsch reden, Ortwin.“ 189 Hohlspiegel Rückspiegel Bildunterschrift aus der „Berliner Morgenpost“: „Marcello Mastroianni als Alter Egon von Frederico Fellini in dessen Selbstporträt ,Achteinhalb‘.“ Zitate Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Der 17-Jährige wurde von der Polizei alkoholisiert und aufgegriffen.“ Aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Ein Klon-Skandal jagt den nächsten: Jetzt soll Ian Wilmut, gefeiert als Vater des KlonSchafes ,Dolly‘, vor einem Untersuchungsausschuss in Edinburgh zugegeben haben, dass er nicht der Vater des weltberühmten Klon-Schafes sei.“ Aus dem Wochenblatt „Kaufen und Sparen“ Aus dem „Bergsträßer Anzeiger“: „Die Wärme von Sabine Meyers Klarinette ersetzt die Zentralheizung.“ Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“: „Leider spielt seine Geschichte nun mal in einem Krankenhaus, in dem täglich Menschen und Ärzte ihr Schicksal teilen.“ Aus der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“ Aus der „taz“: „Im besten gebärfähigen Alter bleiben sie lieber große Jungen, als junge Väter zu werden, formulieren die Bevölkerungsexperten plakativ.“ Aus der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“: „Es kommt immer wieder zu teils schauerartig verstärktem Regen, später auch zu Regenschauern.“ 190 Die „Welt“ zum SPIEGEL-Dokument „SPD – Ein besserer Sozialstaat“ von Matthias Platzeck (Nr. 15/2006): Platzecks fünfmonatige Amtszeit als Parteichef wird durch zwei programmatische Beiträge eingerahmt von seiner allseits anerkannten Rede auf dem Karlsruher SPDParteitag, der ihn am 15. November vergangenen Jahres mit dem Traumergebnis von 99,4 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt hatte. Und von einem Abschiedsgruß im jüngsten Heft des SPIEGEL, mit dem er das verstaubte Grundsatzprogramm auf Vordermann bringen wollte. Dazwischen fiel es Platzeck schwer, der SPD nachhaltig zu neuem Profil zu verhelfen; seine Strategie setzte auf lange Fristen. Aber in seiner Partei wuchs die Nervosität angesichts sinkender Umfragewerte. Das schien auch Platzeck zu verunsichern. Der Komiker Otto Waalkes in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ („FR“) zum SPIEGEL-Titel „Das Land des Lächelns“ (Nr. 9/2006): „FR“: Glaubt man dem SPIEGEL, leben wir derzeit in einem Land des Lächelns, in dem alle einen merkwürdigen Optimismus verspüren, obwohl die Lage gar nicht danach ist. Otto: Als Komiker glaube ich dem SPIEGEL in der Beziehung gern. Denn dieser „merkwürdige Optimismus“ treibt mich seit Jahrzehnten an. Und gerade in solchen Momenten, wenn alles bedrückt ist, wird der Ruf nach Unterhaltung am lautesten. Und das nutzen wir Alleinunterhalter natürlich ein bisschen aus. Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGEL-Buch „Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ von SPIEGEL-Redakteur Peter Wensierski, DVA, München 2006: Peter Wensierski schreibt aus der Perspektive der Opfer, der einstigen Heimzöglinge. Doch das Buch geht über die bisher erschienenen Erlebnisberichte hinaus. Es bleibt im Stil nüchtern, zitiert aus den Akten, wo sie zugänglich sind – oft waren sie es allerdings nicht. Es gibt auch die entsetzten Notizen der jungen Pädagogen wieder, die in den 70er Jahren mit neuen Idealen von der Universität kamen und im brutalen Alltag der Heimerziehung landeten. Es endet mit den Heimrevolten der frühen 70er Jahre, über die eine junge, politisch engagierte Journalistin berichtete: Ulrike Meinhof. Das Buch zeigt die düstere, gewalttätige Seite der 50er und 60er Jahre, die inzwischen überraschend weich und idyllisch gezeichnet werden. d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 6