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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
15. April 2006
Betr.: Titel, Imame, U-Boot
N
INDEX STOCK / AVENUE
achrichten, die in dieser Zeit aus der Region zwischen Euphrat, Tigris und Nil kommen, handeln meist vom Krieg und von Selbstmordattentaten. „Sie lassen vergessen“, sagt Titelautor Mathias Schreiber, 63, „dass in dieser Gegend einst eine beeindruckende Kultur blühte, welche die wichtigsten westlichen Werte hervorbrachte: das
Ideal einer auf gleichen Rechten ruhenden Gemeinschaft
freier Individuen etwa.“ Der Held dieser Geschichte, so
Schreiber, sei der Hebräer Mose, der den Menschen der
Überlieferung nach die Zehn Gebote übergab. In Archiven
und in der Fachliteratur recherchierte Schreiber, um die zuweilen verwirrende Figur des ungewöhnlichen Propheten
zu fassen. Dabei stieß er auch auf Kuriositäten: So wird
Mose häufig, nicht nur durch die Skulptur des Michelangelo in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli, mit
zwei seltsam anmutenden Stummelhörnern über der Stirn
dargestellt. Der Grund dafür ist ein Übersetzungsfehler: In
der Vulgata, der lateinischen Bibel, wurde aus dem „strahlenden Antlitz“ des Mose ein „gehörntes“ (cornuta) – deren Übersetzer, der Kirchenvater Hieronymus, hatte das
Michelangelos Mose
doppeldeutige hebräische Wort missverstanden (Seite 152).
A
bermillionen Muslime versammeln sich, wie es ihnen der Prophet aufgetragen hat,
freitags zu Gebet und Predigt in der Moschee. Hetzreden einiger Imame mit unverblümten Aufrufen zur Gewalt haben auch in der islamischen Welt zu einer Debatte
darüber geführt, wann die Grenzen der Toleranz überschritten sind. Aber was wird
in den Moscheen tatsächlich gepredigt? SPIEGEL-Mitarbeiter und -Korrespondenten
notierten am vorvergangenen Freitag in Moscheen in Ägypten, Indonesien, Iran,
Nigeria, Pakistan, Palästina und in der Türkei, worüber die Imame sprachen: In GazaStadt war von „Angst und Furcht“ die Rede, die „in den Herzen“ der Israelis gesät
werden sollten – am Vorabend hatte die israelische Armee Ziele im Gaza-Streifen angegriffen. In Teheran hörten die Gläubigen den Appell, „mit unserem Blut“ für das
Recht Irans einzustehen, die „Technik der Gewinnung von Kernenergie zu beherrschen“, in Jakarta ging es um die Bekämpfung der Korruption. „Häufig geben Imame Lebenshilfe für den Alltag, manchmal wiegeln sie ihre Zuhörer aber auch auf“, sagt
Bernhard Zand, 38, SPIEGEL-Korrespondent in Kairo (Seite 112).
ieben Bootsstunden vor der Küste
Panamas, am Strand der kleinen Pazifikinsel San Telmo, liegt ein Schiffswrack,
das Seefahrtsgeschichte schrieb, aber über
130 Jahre als verschollen galt. SPIEGELRedakteur Sven Röbel, 33, und ein Team
von SPIEGEL TV waren dabei, als Unterwasserarchäologen um den Amerikaner
Jim Delgado, 48, die „Sub Marine Explo- Röbel (auf San Telmo)
rer“ erforschten, ein Tauchboot des Baujahrs 1865. Julius H. Kroehl, ein um 1838 in die USA emigrierter Deutscher aus dem
damals ostpreußischen Memel, hatte es als Kampfboot für den amerikanischen Bürgerkrieg konstruiert, letztlich wurde es im Pazifik für Tauchgänge nach Austern und
deren Perlen eingesetzt. Die Forscher enträtselten die Technik des Schiffs, aber auch
den Tod seines Erfinders: Kroehl wusste nicht, dass zu schnelles Auftauchen lebensgefährlich ist. „Die maritime Ingenieurskunst war der Medizin damals leider ein
Stück voraus“, sagt Röbel (Seite 143).
Im Internet: www.spiegel.de
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SPIEGEL TV
S
In diesem Heft
Titel
Panorama: Elterngeld stößt auf Widerstand /
Kritik an Kronzeugenregelung / Entführter
Zammar will Deutschland verklagen ................ 19
SPD: Das Gerangel um die nächste
Kanzlerkandidatur beginnt ............................... 24
Wie die Sozialdemokraten ihre Vorsitzenden
verschleißen ..................................................... 28
SPIEGEL-Gespräch mit dem neuen Parteichef
Kurt Beck über nötige Reformen,
mögliche Partner in der Zukunft und die
Vorzüge der Provinz ........................................ 37
Der designierte Beck-Vize Jens Bullerjahn
gilt als harter Sanierer ...................................... 40
Außenpolitik: Angela Merkels diskreter
Widerstand gegen Washington ......................... 42
Reformen: Der milliardenschwere
Gesundheitssoli stößt in der Regierung
auf Kritik ......................................................... 44
Verbrechen: Mysteriöse Mordserie macht
Fahnder ratlos .................................................. 46
Justiz: Verbitterung über die mild
bestrafte Todesfahrt eines Polizisten ................. 52
Strafvollzug: Hungertod eines Häftlings ......... 56
Europa: Berliner Parteiquerelen mindern
deutschen Einfluss auf die Rechtsordnung ....... 60
Gesellschaft
Szene: Ausstellung über Sport und Geist /
Schokolade als Therapeutikum ........................ 62
Eine Meldung und ihre Geschichte .................. 63
Kernkraft: Das wahre Ausmaß der
Tschernobyl-Katastrophe ................................. 64
Ortstermin: Wie in Berlin-Moabit die
Hedwig-Dohm-Oberschule
versucht, türkische Eltern zu integrieren .......... 73
Das rote Personalkarussell
Seiten 24 bis 40
JOCHEN ZICK / KEYSTONE
Deutschland
Nach dem überraschenden
Rücktritt Matthias Platzecks
vom SPD-Vorsitz beginnt bereits der Stellungskampf um
die nächste Kanzlerkandidatur. Neben dem designierten
Parteichef Kurt Beck wollen
sich auch die Minister Peer
Steinbrück und Sigmar Gabriel in Position bringen. Im
SPI EGEL -Gespräch fasst
Beck eine künftige „Renaissance des sozial-liberalen Modells“ ins Auge.
Beck
Vom Acker in den Tank
Schneller als gedacht entwickeln
Mineralölkonzerne und Autofirmen Alternativen zu den knapper
werdenden fossilen Brennstoffen.
Am einfachsten lässt sich Ersatz
für Benzin, Diesel und Erdgas aus
Biomasse gewinnen. Einige Kraftstoffe vom Acker werden bereits
in großer Menge angeboten. Der
ökosaubere Wasserstoff hingegen
hat kaum noch eine Zukunft.
Seite 124
VOLKER LISTL / ARGUM
Der Prophet Mose und die Zehn Gebote ........ 152
Biogas-Anlage (in Bayern)
Wirtschaft
Trends: RAG streicht 1500 Stellen /
Regierung erwartet stärkeres Wachstum /
Handel attackiert Kündigungsschutzpläne ....... 75
Autoindustrie: Jahrelang wurden die
Probleme bei VW verschwiegen und verdrängt... 78
Standorte: Polnische Sonderwirtschaftszonen
locken deutsche Unternehmen
mit üppigen Steuerrabatten .............................. 86
Globalisierung: Interview mit dem HarvardÖkonomen Kenneth Rogoff über den
ungezügelten Kapitalismus und dessen Folgen ... 90
Tourismus: Die merkwürdigen Marketingmethoden von Billigweg.de .............................. 95
Der tödliche Fehler eines Kommissars
Weil er sich auf der Wache mit Whisky betrank, fuhr ein niedersächsischer Polizeikommissar einen Jugendlichen tot. Die milde Bestrafung und die Frühpensionierung
des Beamten schüren Wut und Hass im Ort des Dramas.
Mehr Kinder ins Fernsehen?
Seite 102
Medien
HARDY SPITZ / ARD
Trends: Sat.1 schickt Familien in den Busch /
Kardinal Lehmann attackiert MTV .................. 99
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ................... 100
TV-Programm: Im Fernsehen gibt es noch
weniger Kinder als in der Realität ................... 102
Sport-Marketing: Interview mit dem
Fifa-Manager Gregor Lentze über das rigide
Sponsorenschutzprogramm
des Fußball-Verbands ...................................... 104
8
Seite 52
Die Geburtenrate im Fernsehen liegt mit 0,48 Kind pro
TV-Frau noch weit unter der
Realität, der Fernsehheld von
heute ist meist kinderlos. Zu
den wenigen Ausnahmen
zählt die ARD-Serie „Türkisch
für Anfänger“. Sie steht für
eine Fernsehwelt, in der auch
Familien einen Platz haben.
„Türkisch für Anfänger“
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Ausland
Panorama: Washington überschätzt die Rolle
des irakischen Terror-Paten Sarkawi /
Frankreichs Premier Villepin steht weitere
Protestwelle ins Haus / Weltfinanz-Zentrum
im chinesischen Pudong ................................. 107
Italien: Prodis magerer Sieg ........................... 110
Islam: Was Imame predigen –
SPIEGEL-Dokumentation der Freitagsgebete 112
Vatikan: Der Papst, der seine Kritiker
überrascht ....................................................... 116
Afghanistan: Rückfall in unsichere Zeiten .... 119
Global Village: Die ersten Supermärkte
erreichen Hanoi .............................................. 122
ANDREW MEDICHINI / AP
Prodi
Serie
Italien: Glanzloser Sieger
Seite 110
Eine Zeitenwende sollte es sein, doch Romano Prodi brachte es nur zu einem matten Erfolg. Italien ist in zwei gleich große politische Lager gespalten – und Prodi muss
mit seinem Bündnis aus neun Parteien einen Weg aus der Krise des Landes finden.
GAMMA / STUDIO X
Tod in Tschernobyl
Seite 64
Um 1.24 Uhr am frühen Morgen des 26. April 1986
barsten die Brennstäbe, radioaktiver Staub wurde
in die Atmosphäre geschleudert – die Welt erlebte in
Tschernobyl ihre größte technische Katastrophe.
20 Jahre danach streiten Wissenschaftler über das
Ausmaß des Atomunfalls.
Seite 136
KARSTEN SCHÖNE
Schulausflug ins Forschungslabor
Schüler beim Experiment
Szene: Regisseur Jürgen Flimm über die
Ruhrgebietsmetropole Essen als europäische
Kulturhauptstadt / Tanzkongress in Berlin:
„Wissen in Bewegung“ ................................... 149
Theater: Amerikas Weg in den Irak-Krieg
auf der Bühne ................................................. 166
Film: François Ozons Sterbedrama
„Die Zeit die bleibt“ ....................................... 170
Karikaturen: Israelische Künstler wetteifern
um die witzigsten antisemitischen Zeichnungen 172
Bestseller ...................................................... 175
Kunst: Der Maler Jonathan Meese über seine
Großausstellung in Hamburg und
den bösen Radikalismus seiner Werke ............ 176
Spektakel: André Hellers Wut über das
verpatzte WM-Kulturprogramm ...................... 178
Sport
Mit dem Druck umgehen
TEAM 2 / ULLSTEIN
Wissenschaft · Technik
Prisma: Betrunkene Blumen
blühen schöner / Entlassungen aus der
Klinik sind freitags riskanter ........................... 133
Bildung: Schulunterricht im Forschungslabor .. 136
Medizin: Neue Regeln für die Erste Hilfe
beim Herzstillstand ......................................... 138
Fortpflanzungsmedizin: Eizellen auf Eis –
wie Ärzte die biologische Uhr
austricksen wollen ........................................... 140
Seefahrt: Der Fund eines rätselhaften
U-Boot-Wracks bringt Forscher
auf die Spur eines genialen Konstrukteurs
aus Deutschland ............................................. 143
Kultur
Zerstörter Reaktor
Bereits über 200 Schülerlabors an
Universitäten und Instituten bieten
praxisnahe Forschung für Kinder
und Jugendliche. Die Mitmach-Experimente wecken Begeisterung für
oft unbeliebte Fächer wie Physik
und Chemie. Die Ausflüge in die
reale Wissenschaft sollen auch dazu
beitragen, Nachwuchs zu gewinnen.
Der Kampf um die Rohstoffe (4):
Wachsen die Kraftstoffe der Zukunft
auf dem Acker? .............................................. 124
Seite 182
Kaum wurde Jens Lehmann zum Nationaltorwart Nummer
eins bestimmt, da kündigte auch dessen Rivale Oliver Kahn
seine WM-Teilnahme an. Bei Arsenal London habe er gelernt,
sagt Lehmann im Interview, mit Druck umzugehen: „Ich
habe erlebt, wie es ist, um meine Existenz zu spielen.“
Lehmann
Segeln: Internet-Milliardär
Ralph Dommermuth – der Mann hinter der
ersten deutschen America’s-Cup-Teilnahme .... 180
Fußball: Interview mit Jens Lehmann über
seine neue Rolle als Nummer eins der
deutschen Elf, seine Fitness und Oliver Kahn ... 182
Briefe ............................................................... 10
Impressum, Leserservice ........................... 184
Chronik .......................................................... 185
Register ......................................................... 186
Personalien ................................................... 188
Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 190
Titelbild: Fotos Scala, AKG (2), dpa, AP (3), Reuters
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Briefe
Autor wie schreibt. Wenn er seinen eigenen Ansatz Revue passieren lässt, muss er
konstatieren: „Ich hab es durch Intuition.“
Nichts bleibt von haarspalterischen Debatten um das, was Realismus letztlich ausmachen soll, reduziert er sein Schreiben
doch selbst auf „Dunkelschöpfung, ins
Licht gerückt“, wie es an anderer Stelle
heißt.
„Beim Lesen des Titel-Artikels
fiel mir spontan ein Spruch aus meiner
Schulzeit ein: „Denke nie, gedacht
zu haben, denn das Denken der
Gedanken ist gedankenloses Denken.
Wenn du denkst, du denkst,
dann denkst du nur, du denkst.“
Volkmar Lohse aus Filderstadt zum Titel „Gefühltes Wissen –
Die Erforschung der Intuition“
In jedem Moment, immer wieder
Nr. 15/2006, Titel: Gefühltes
Wissen – Die Erforschung der Intuition
Es ist immer wieder bemerkenswert, wie in
der Psychologie und Neurobiologie mit
großem finanziellem und personellem Aufwand Banalitäten wissenschaftlich bewiesen werden. Es ist doch Allgemeinwissen
und völlig banal, dass Intuition einen Einfluss auf Entscheidungen hat und dass dies
im Hirn physiologische Spuren hinterlässt.
Wo denn wohl sonst? Die Forschungsgilde
könnte sich großen Aufwand sparen, wenn
sie ihre eigenen Ergebnisse zuerst mal intuitiv vorhersagt, bevor sie solch einen
Aufwand macht.
Engelberg (Schweiz)
wollen und trotzdem aktiv zu bleiben, mutet dem westlichen Denken unheimlich an,
ist aber zum Beispiel dem japanischen
Zen-Buddhismus selbstverständlich: Wer
Eindrücke nicht krampfhaft analysiert,
sondern vertrauensvoll ausagieren kann,
wird spontan und sicher und schafft sich
seine eigene authentische Welt. Was bleibt
uns auch anderes übrig? Als neurologisches
Phänomen passiert Intuition sowieso in je-
Psychologin, Testperson
Hofheim (Hessen)
Quelle der Erkenntnis
Sie tun Hegel unrecht, wenn Sie ihn, quasi gegen die Intuition, als Gefühlsskeptiker ins Feld führen. Wie Ihr Titel „Gefühltes Wissen“ richtig ausdrückt, geht es um
Wissensinhalte, die über Gefühl vermittelt
werden, und nicht um subjektive Gefühlsinhalte. Letztere sind es aber, die Hegel
als „Hausmittel“ anspricht, die in der
Rechtsprechung nichts zu suchen haben.
In Ihrem Artikel werden solche Unterscheidungen nicht getroffen. Zudem
werfen Sie Begriffe wie Verstand, Geist
und Vernunft in einen Topf mit der Aufschrift „Nicht-Gefühle“. Bei Hegel aber
drückt der Begriff Vernunft die Fähigkeit
aus, feste Verstandes-Bestimmungen und
zufällige Gefühlsinhalte zu vermitteln, um
so der Wirklichkeit als Ganzem gerecht zu
werden.
Helga Klöpping
Plötzliche Eingebungen werden von „kritischen Zeitgenossen“ gern geleugnet,
doch ermöglicht Intuition das Erleben einer Welt, die im ständigen Fluss ist. Diese
Fähigkeit, nichts willentlich erzwingen zu
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Reinhard Fink
Heimlicher Gegenentwurf
Alexander Koerdt
Dr. Elmar Ernst
Lüdenscheid (Nrdrh.-Westf.)
Nr. 14/2006, Alte Sprachen: Wachsendes Interesse für
Latein und Griechisch an deutschen Gymnasien
Gehirnforschung, Kasperletheater, der hinkende Bote von oben zum Bauch. Vergessen der Mensch, im Urstromtal geprägt,
mit einem Rest von Unverstand.
Dortmund
Intuition als unmittelbares Erfassen des
Wesenskerns einer Sache hat Kant nicht
infrage gestellt, wohl aber, dass es keine
Ausnahmen von den selbst wahrgenommenen Regeln gibt. Diese Ausnahmen
wahrzunehmen, bedarf es, wie er hinlänglich bewiesen hat, der Vernunft. Damit
will sich die Feeling Philosophy bis heute
nicht abfinden und sucht Trost im Unterbewusstsein. Im Übrigen hat Henri Bergson schon vor 100 Jahren die Intuition als
sicherste Quelle der Erkenntnis beschrieben und damit den Irrationalisten aufs
Fahrrad geholfen. Die Phänomenologen
scheinen auf einem guten Weg dorthin.
MARTIN JEHNICHEN
SPIEGEL-Titel 15/2006
Dinslaken (Nrdrh.-Westf.) Hans-Peter Fischer
dem Moment immer wieder mit allen. Intuition darf aber nicht mit bloßer subjektiver Meinung verwechselt werden, melden sich doch beim Erwachsenen, wie der
Autor schön beschreibt, zu viele im Bewusstsein abgespeicherte automatisierte
Vorurteile scheinbar spontan als pseudointuitive Erkenntnis.
Berlin
Timur Diehn
Kein Geringerer als Fontane stellt alle Realismusdebatten auf den Kopf, also alle Versuche, per Verstand zu erklären, was der
Selbst Absolvent eines humanistischen
Gymnasiums (Abitur 1958) habe ich den
Beitrag mit großer Freude und Genugtuung gelesen. Vermisst habe ich lediglich
einen Hinweis darauf, dass Latein Basis
aller sogenannten romanischen Sprachen
ist (Italienisch, Spanisch, Portugiesisch,
Französisch) und dadurch einen exzellenten Zugang zu diesen lebenden Sprachen
vermittelt – zugegebenermaßen in erster
Linie zu deren Schriftform.
Backnang (Bad.-Württ.)
Dr. Reinhard Till
Habe nun, ach, Latein und Griechisch
durchaus studiert und muss schmerzlich
erkennen, wie sehr mir Französisch und
Spanisch fehlen! Alte Sprachen als Einstieg
in moderne Sprachen zu bezeichnen ist
ungefähr so, als würde man fordern, erst
Reiten zu lernen, bevor man den Führerschein macht. Und wer sein analytisches
und logisches Denkvermögen schulen will,
der schreibe ein Computerprogramm. Denn
Vor 50 Jahren der spiegel vom 18. April 1956
Das erste gezeichnete SPIEGEL-Titelbild Rudolf Augstein an die Leser.
Erregte Debatte im Bundestag Die Zwiebeltürme des Kreml. Musterprozess um Vaterschaftserklärung für „Besatzungskinder“ Über alle Berge
und Meere. Erinnerungsfeier zur SPD-Urabstimmung gegen Zusammenschluss mit der KPD Der neue Stil. Nachwuchsmangel im Handwerk
Lehrlinge können wählerisch sein. Moskauer Anti-Stalin-Kurs Frohlocken
und Trauer. Verbot von „Felix Krull“ in Irland Sonderbares Zensursystem.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
Titel: Giorgio La Pira, Bürgermeister von Florenz
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Briefe
Lehrern et cetera geprägt ist, weil eine bestimmte Klientel von Schülern/Eltern außen
vor ist. Das ist sozusagen der heimliche Gegenentwurf zur Gesamtschule.
Antike Statuen im Kolosseum (Rom)
Kohorte statt Songtext
der Computer ist erbarmungslos konsequent und kennt keine unregelmäßigen
Verben.
Bergisch Gladbach
Dieter Hahne
Alle tiefschürfenden Begründungen für die
Hinwendung zu toten Sprachen sind nach
meiner Erfahrung Hilfskonstruktionen. Der
wahre Hintergrund für die Renaissance dieser Sprachen ist unausgesprochen ein anderer: Wer sich der Mühe unterwirft, diesen
Bildungsweg freiwillig zu gehen, der findet
mit Sicherheit ein schulisches Umfeld vor,
das von Leistungsbereitschaft, Abwesenheit
von Gewalt und Terror, psychisch intakten
Krass spiegelverkehrter Sinn
Nr. 11/2006, Zeitgeschichte: Wie die
Links-Postille „Konkret“ von Kommunisten
aus Ost-Berlin gesteuert wurde
Meinen empirischen Erkenntnissen nach
ist das wachsende Interesse an den „toten
Sprachen“ eine Reaktion auf die zunehmende Verdummung der Gesellschaft und
dem damit verbundenen Verlust unserer
Werte und Traditionen. Die LateinschülerInnen erkennen, dass wir uns zu diesen
Wurzeln rückbesinnen müssen, um nicht
unser Gesicht zu verlieren. Umfragen unter Schülern und Studenten bestätigen das
wachsende Interesse an Latein. Dabei streben unter 4200 Befragten 93,7 Prozent den
Erwerb des Latinums an. Viele schreiben
mir, dass ihnen Latein einfach Spaß macht.
Bexbach (Saarland)
Marc Keller
Webmaster der Lateinseite www.latein24.de
Es ist doch inzwischen bewiesen, dass diejenigen Eltern, die in ihrer Kindheit geschlagen worden sind, ihre Kinder ebenfalls schlagen. Genauso verhält es sich mit
dem Lateinlernen. Wer sich in seiner
Schulzeit damit rumquälen musste, tut das
gleiche gern heute seinen Kindern an. Meidervätern gehört und bin im Zusammenhang mit Klaus Röhl auch nie unter
der Doppelchiffre „R. und R.“ intim gewesen, aber wo dem sogenannten investigativen Journalismus die Puste ausgeht, ist der altgermanische Stabreim
natürlich ein treffliches Mittel, um Lesern eine glatte Unterstellung als vermeintliche Tatsache einzubleuen.
Es ist noch um einiges ärger. So findet
sich im Tempelfries Ihres Phantasiegebäudes beispielsweise ein Doppelporträt von Röhl und mir aus dem Jahre
Leider lässt der Artikel „Rosen aus OstBerlin“, der sich eingehend mit dem
Buch „So macht Kommunismus Spaß!“
von Bettina Röhl befasst, jenen Erkenntnisgewinn vermissen, den das
Buch selbst seinen Lesern keineswegs
vorenthält. Während sich dort die unterschiedlichsten Rosenkavaliere wegen
ihrer Verdienste bei der Gründung der
Zeitschrift „Studentenkurier“ (später
„Konkret“) aus dem Fenster hängen
(beispielsweise die KP-Funktionäre
Klaus Hübotter und Manfred Kapluk),
und die Person P. R. allenfalls als Zielobjekt figuriert, lesen sich die Vorgänge
bei Ihnen in einem krass spiegelverkehrten Sinn. So heißt es bei Ihnen:
„Bereits der von Röhl und seinem Intimus, dem Lyriker Peter Rühmkorf, 1955
gegründete ,Studentenkurier‘ schöpft Autor Rühmkorf
aus trüben Quellen. ,R. und R.‘, wie sich Ein treffliches Mittel
die Freunde in der bewegten Hamburger Szene nennen, können das Blatt nur 1969, das zwar die Jahreszahl nicht ausauf den Markt bringen, weil sich ihnen spart, nur dass die Bildunterschrift
ein dritter Mann hinzugesellt. Der heu- „,Konkret‘-Gründer Rühmkorf, Röhl:
te in Bremen lebende Bauunternehmer Im Propaganda-Krieg des geteilten
Klaus Hübotter – ehedem Mitglied der Landes der wichtigste Außenposten“
verbotenen Freien Deutschen Jugend – zwei ungleich mit der Zeitschrift bebietet sich ihnen als Geldbeschaffer an.“ fasste Personen zu einem kooperierenNun habe ich zwar nie zu den Grün- den Agentenduo zusammenblendet.
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MICHAEL ZAPF / AKG
SÄMMER / IMAGO
Ostermünchen (Bayern)
Dr. Friedrich Wörndle
ne Freunde kannten die Songtexte der
Beatles, ich kannte den Aufbau einer Kohorte. Aber Hauptsache elitär! Und wozu
das alles? Meine Kollegen sind mit Fremdwörtern, klugen Sprüchen (si tacuisses)
und Grammatik genauso fit wie ich, nur
haben sie den Vorteil, dass sie neben
fließend Englisch und Französisch eben
noch Spanisch oder Russisch sprechen und
sich nicht jahrelang mit einer toten Sprache
rumquälen mussten, in der man sich nicht
einmal unterhalten kann. Carpe diem!
Offenbach
Herbert Pfaff-Schley
Aussagen wie Ohrfeigen
Nr. 14/2006, Psychologie: SPIEGEL-Gespräch mit
der Oberstaatsanwältin Gabriele Gordon über sexuellen
Missbrauch und ihren neuen Kriminalroman
Selten eine so luzide Aussage gehört wie
die von Gabriele Gordon-Wolff, die ich aus
einer gemeinsamen Krimi-Lesenacht noch
gut in Erinnerung habe. Endlich kann ich
belegen, was zu sagen ich mich in den
frühen Frauengesprächskreisen nicht getraute: Ach, die Erinnerung an diesen
grässlichen Missbrauch kommt dir erst
jetzt nach zehn Jahren nach den Fragen
einer Therapeutin?!
Dortmund
Gisa M. Zigan
Während das Röhl-Buch von zahlreichen konspirativen Treffen etlicher Redaktionsmitglieder und KP-Instrukteure berichtet und mich an keiner Stelle
als Teilnehmer aufführt, was Sie eigentlich hätte stutzig machen müssen,
manipuliert Ihr Bericht mich unübersehbar in die Rolle eines heimlichen
Strippenziehers oder „willigen Vollstreckers“.
Dass ich selbst bei der Lektüre des
Röhl-Buches von einem Rücken auf
den anderen gefallen bin, will ich Ihnen
nicht vorenthalten. Auch nicht, dass
meine unhonorierte Mitarbeit unter
sechs Pseudonymen der Zeitschrift gewaltig an intellektueller Reputation
beigetragen hat – es erschiene mir
scheinbescheiden, Leslie Meiers oder
Johannes Pontares Beiträge schamvoll
unter den Scheffel zu stellen. Abgesehen von den wirklichen literarischen
Exzellenzen, die ich für das Blatt eingeworben und zur Mitarbeit ermuntert habe: Hans Henny Jahnn und
Kurt Hiller, Alfred Döblin und Robert
Neumann, Arno Schmidt oder Karlheinz Deschner oder Jürgen Manthey –
alles nützliche Idioten selbstverständlich oder – wie Sie sie fatalerweise
zu nennen belieben – „willige Vollstrecker“, was Ihrem Artikel dann doch
wohl einen recht speziellen Hautgout
verleiht.
Hamburg
Peter Rühmkorf
Briefe
Die Aussagen von Frau Gordon stellen wohl
für jedes tatsächliche Missbrauchsopfer eine
Ohrfeige dar. Des Weiteren halte ich es für
gewagt, die Zahl von jährlich 200 Anzeigen
aus der Provinz Brandenburgs als repräsentativ anzusehen und gleichzeitig die
Dunkelziffer als „übertrieben“ zu bezeichnen. Was sie unerwähnt lässt, ist, dass die
Manipulierbarkeit von kindlichen Erinnerungen ebenfalls von Tätern ausgenutzt
wird. Was nach dem Lesen des Interviews
bleibt, ist das ungute Gefühl, dass es tatsächliche Missbrauchsopfer geben könnte, die
durch das Raster gefallen sind. Denn dass
sich Gutachter irren können, ist ebenso bekannt wie auch menschlich.
Leipzig
Christopher Lüdtke
Atemberaubend einfältig
Nr. 14/2006, Katastrophen: Nach dem Einsturz der Eishalle will Bad Reichenhall schnell Ruhe haben
Bei der Lektüre Ihres Berichts zum Unglück von Bad Reichenhall ballt sich mir
die Faust in der Tasche. Totschweigen und
Wegsehen scheinen immer noch viel zu
weit verbreitete Untugenden in Deutschland zu sein. Der Zusammenhalt, der sich
hier beim kollektiven Verdrängen offenbart, sollte sich sinnvollerweise in der
vorbehaltlosen Aufarbeitung der Tragödie
widerspiegeln. Ein beschämendes Armutszeugnis kleinbürgerlichen Realitätsverlustes.
Köln
Ein friedliches Miteinander
Nr. 12/2006, Islamisten: Geheimdienstler suchen nach
Radikalen in Deutschlands Moscheen
Wir haben den Beitrag im SPIEGEL gelesen, in dem die hiesige Moschee zu unserem großen Erstaunen unter 39 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als radikal
eingestuften Moscheen genannt worden ist.
Dass unsere Moschee irgendwie eine Rekrutierungsstätte für Radikale sei, ist grotesk. Die Interkulturellen Wochen oder die
Tage der Offenen Moschee dokumentieren unser gemeinsames Anliegen eines
friedlichen Miteinanders der Schweriner,
gleich welcher Weltanschauung. Dass
der Artikel unsere jahrelange Kleinarbeit
gefährdet, ist sehr bedauerlich, zumal damit auch zugleich das Image unserer Stadt
selbst geschädigt wird, indem Schwerin
nun als eine Art Terror-Rekrutierungsstelle gilt.
Mein doppeltes Beileid an Herrn Zauner!
Als Familienvater kann ich den Verlust von
Ehefrau und Mutter des Sohnes nachempfinden. Mein zweites Beileid aber dafür,
dass sich die „Verantwortlichen“ der Stadt
Bad Reichenhall so schändlich aus der Affäre ziehen.
Hamburg
Klaus Reese
Die Ereignisse um die eingestürzte Eissporthalle als schicksalhaft zu betrachten
ist atemberaubend unschuldig und einfältig. Hätten wir nicht Präzedenzfälle für
derartige Vorgänge, würde ich das als Rei-
Haiko Hoffmann
Islamischer Bund in Schwerin e. V.
Moschee „As-Salam“
DIETHER ENDLICHER / AP
Schwerin
Axel Zurhausen
Rückzug ins Private
Nr. 14/2006, Debatte: Schriftstellerin Nahed Selim
plädiert für ein neues Koranverständnis
Eingestürzte Eishalle in Bad Reichenhall
Totschweigen und Wegsehen
Wann hören wir endlich auf, Religionen
zu behandeln, als ob sie Trägerinnen ewiger Wahrheiten seien; wann sehen wir sie
als kulturelle Systeme, welche die Umstände ihrer Entstehungszeit widerspiegeln? Wann sind wir so ehrlich, zuzugeben,
dass wir die Etablierung der „humanistischen Prinzipien“ niemals der Religion,
sondern jenen Aufklärern zu verdanken
haben, welche sich aktiv gegen die Religion
gewandt haben und wenden?
Tübingen (Bad.-Württ.)
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Koblenz
Gerhard Birkhahn
Matthias Rude
So viel Aufklärung war selten. Dieser Artikel wäre als Pflichtlektüre für Koranschulen
und Religions- beziehungsweise Ethikunterricht ein guter Anfang. Religionen sollten
sich mehr in die Privatsphäre zurückziehen.
Berlin
chenhaller Regional-Kungelei abtun. Die
Ereignisse rund um den Dacheinsturz geben dagegen eine unmissverständliche
Antwort auf die Schuldfrage: Eine Holzdachkonstruktion wird durch eine undichte Dachhaut in ihrer Tragfähigkeit insgesamt herabgesetzt. Für den Zustand der
teilweisen Durchfeuchtung wurde sie statisch nicht berechnet.
Harry Rehm
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Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected]
In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befinden
sich Beilagen der Firmen Weltbild Verlag, Augsburg, sowie
SPIEGEL-Verlag/Kooperation (G+J), Hamburg.
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Deutschland
Panorama
ARBEITSMARKT
FA M I L I E N
Union bei
Kombilöhnen einig
Elterngeld auf
der Kippe
D
ie Union hat sich auf die Eckpunkte
für das geplante bundesweite
Kombilohnmodell geeinigt. Nach dem
Konzept ihrer Generalsekretäre Ronald
Pofalla (CDU) und Markus Söder (CSU)
sollen die Lohnzuschüsse ausschließlich
an bestimmte Problemgruppen des Arbeitsmarktes fließen. Nach dem Konzept
soll der Staat künftig die kompletten Sozialbeiträge für gering qualifizierte Langzeitarbeitslose unter 25 und über 50 Jahre übernehmen, die einen Job im Niedriglohnbereich antreten. Mit einem so
ausgestalteten Kombiverdienst könnten
bundesweit bis zu 600 000 Erwerbslose
gefördert werden. Die Kosten des Programms betragen nach Schätzung der
Nürnberger Bundesagentur für Arbeit
zwischen einer Milliarde und 1,5 Milliar-
I
den Euro. Sie sollen durch Einsparungen
im übrigen Etat der Behörde finanziert
werden. Bereits in der vergangenen
Woche hatte die nordrhein-westfälische
Landesregierung ein ähnliches Kombilohnmodell vorgelegt. Das politische
Ziel der Bundesregierung ist es, die Zahl
der Arbeitslosen unter die Vier-MillionenMarke zu drücken.
GASPROM-BÜRGSCHAFT
Kanzleramt informiert
Ü
DMITRY ASTAKHOV / DPA
ber die umstrittene
Bürgschaft für einen
Milliardenkredit an Gasprom hat das Bundeswirtschaftsministerium das
Kanzleramt doch informiert. Am 15. Dezember
vergangenen Jahres, gut
drei Wochen nach der Regierungsübernahme durch
Angela Merkel (CDU), sei
das Kanzleramt auf Arbeitsebene von Beamten des
Schröder
d e r
Wirtschaftsministeriums
über den Vorgang unterrichtet worden, erklärte
Wirtschaftsstaatssekretär
Bernd Pfaffenbach am vergangenen Dienstag vor Abgeordneten des Haushaltsausschusses. Die Information habe „routinemäßig“
im Rahmen einer Gesamtdarstellung der energiewirtschaftlichen Beziehungen
zu Russland stattgefunden.
s p i e g e l
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HAEBERLE / STERN / LAIF
UTA RADEMACHER
BERND ARNOLD / VISUM
Niedriglöhner (in Köln)
n Union und SPD
formiert sich massiver Widerstand gegen das von Familienministerin Ursula von
der Leyen (CDU) geplante Elterngeld. Inzwischen wenden sich
mehrere
CDU-MiVon der Leyen nisterpräsidenten, die
CSU-Landesgruppe sowie führende CSU-Repräsentanten gegen zentrale Punkte des ambitionierten
Milliardenprojekts der Ministerin, mit
dem eine grundlegende Korrektur in der
Familienpolitik eingeleitet werden soll.
Das Elterngeld bemisst sich am Einkommen der Familie – und es soll nur
dann volle zwölf Monate gewährt werden, wenn auch Männer nach der Geburt des Kindes mindestens zwei Monate zu Hause bleiben. Vor allem an diesen
sogenannten Vätermonaten entzündet
sich Kritik. „Es ist nicht Aufgabe des
Staates, in die Erziehungsverantwortung
der Familien einzugreifen“, sagt Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus.
Sein sächsischer Kollege Georg Milbradt
warnte vor einer Bevormundung der Eltern: „Es geht darum, dass mehr Kinder
geboren werden, und nicht, wer spült.“
Der bayerische Landtagspräsident Alois
Glück sprach von einer unzulässigen
„Einmischung der Politik in private Lebensverhältnisse“. Linke in der SPD
wiederum bekämpfen das Elterngeld als
sozial ungerecht. Der SPD-Politiker Karl
Lauterbach sagte, ein Elterngeld, das
sich am Einkommen der Familie ausrichte, widerspreche den Grundsätzen
seiner Partei. Um ihr wichtigstes Vorhaben zu retten, ist von der Leyen inzwischen zu Zugeständnissen an ihre Kritiker bereit. So plant das Familienministerium ein Mindestelterngeld von 300
Euro pro Monat, das unabhängig vom
Engagement des Vaters und vom vorherigen Einkommen gewährt wird. Um der
SPD-Linken entgegenzukommen, soll
dieser Sockelbetrag zusätzlich zu ande-
ren Sozialleistungen wie Hartz IV bezahlt und nicht verrechnet werden. Den
konservativen Flügel der Union will von
der Leyen mit einer Regelung für mehrfache Mütter ködern. Diese sollen auch
dann Elterngeld bekommen, wenn sie
längere Zeit nicht mehr gearbeitet haben. Von der Leyen will den Referentenentwurf für das Elterngeld nach Ostern
vorlegen. Ein Mann aus der Führungsspitze der Union ahnt: „Wenn es ihr
nicht gelingt, bald einen Kompromiss zu
erzielen, ist das Elterngeld tot.“
Vergangene Woche hatte Pfaffenbach
erklärt, er habe Merkels Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) absichtlich nicht
in die Angelegenheit eingeweiht, um
politische Einmischung zu vermeiden.
Diese Gefahr bestand nach dem Kanzlerwechsel offenbar nicht mehr.
Auch Bundeswirtschaftsminister
Michael Glos (CSU) und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sind
schon seit langem über die Bürgschaft
informiert. Glos wurde von seinen Beamten Anfang Dezember 2005 kurz
vor seinem Antrittsbesuch in Russland
über den Deal aufgeklärt, Steinbrück
von seinen Mitarbeitern in der ersten
Januarwoche.
19
Panorama
H O C H WA S S E R
Wut über die Flut
D
ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES
ie neuerliche Jahrhundertflut an der Elbe
hat für eine handfeste Verstimmung zwischen ost- und westdeutschen Politikern gesorgt. Am vorigen Mittwoch schickte Brandenburgs Umweltminister Dietmar Woidke
(SPD) einen ernsten Brief an seinen niedersächsischen Amtskollegen Hans-Heinrich Sander (FDP), in dem er Schuldzuweisungen für
die dramatische Lage in den niedersächsischen
Hochwassergebieten zurückweist. „Mit großer
Verwunderung“, so Woidke, habe er „zur
Kenntnis genommen, dass als mögliche Ursache für die Überschwemmung der Stadt
Hitzacker die nicht erfolgte Flutung der Ha- Überschwemmung in Hitzacker
velpolder ins Gespräch gebracht wurde. Ich
möchte Sie hiermit bitten, solchen Mutmaßungen entschieden Sander hatte gewettert, dass die Bereitstellung der Polder Sache
entgegenzutreten“. Auch ein Fluten der Rückhalteflächen in der Länder am Oberlauf des Flusses sei; sein Ministerpräsident
Brandenburg und Sachsen-Anhalt, so Woidke, hätte das Hoch- Christian Wulff (CDU) hatte einen Länderstaatsvertrag über die
wasser nicht verhindern können. Mit seinem Brief reagierte Flutung der Entlastungsflächen gefordert, „damit nicht mehr
der Umweltminister auf zuvor geäußerte Kritik aus Hannover: so viel Wasser die Elbe abwärts fließt“.
PA R T E I E N F I N A N Z I E R U N G
LANDWIRTSCHAFT
Undurchsichtige Darlehen
Gefahr für Biohöfe
STEFAN BONESS / IPON
ngesichts des Skandals um geheime Kredite für die Labour Party in Großbritannien fordern Experten auch von
den deutschen Parteien Auskunft über deren Darlehensgeber.
„Nicht nur Spenden, gerade Darlehen an eine Partei können
Chancen der Einflussnahme eröffnen“, kritisiert der Direktor
des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht in
Düsseldorf, Martin Morlok. In ihren aktuellen Rechenschaftsberichten weisen
CDU wie SPD
zweistellige Millionenbeträge als
„sonstige“ Verbindlichkeiten
und Darlehen
aus. Diese Buchungsposten
sind eigentlich
für Bagatellbeträge gedacht;
Darlehensgeber,
Parteiplakate
Höhe, Laufzeit
oder Zinsen müssen nicht offengelegt werden. Die CDU
verbuchte dort 2003 gut 15 Millionen Euro, ein Viertel ihrer
Gesamtverbindlichkeiten, die SPD fast 18 Millionen Euro,
knapp 20 Prozent. Aufgeschlüsselt werden müssen laut Parteiengesetz nur „sonstige Einnahmen“ (beispielsweise Erbschaften), falls sie die hauptsächlichen Eigeneinnahmen um mehr
als zwei Prozent übersteigen. „Diese Zwei-Prozent-Regel sollte auch für Verbindlichkeiten gelten“, fordert Morlok: „Es ist
im Interesse der Parteien, dass Transparenz herrscht.“ SPDVizeschatzmeister Ingo Moll nimmt den Vorstoß gelassen: Die
sonstigen Verbindlichkeiten der SPD seien „höchst unspektakulär“. Ähnlich äußert sich ein CDU-Sprecher.
20
d e r
B
undeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) will
sich im Streit über den Biolandbau mit den unionsregierten Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Schleswig Holstein anlegen. Die beiden Länder planen, die Landesmittel für
die Agrarförderung, die rund ein Fünftel der Bundes- und EUMittel ausmachen, ab 2007 wieder verstärkt an die konventionelle Landwirtschaft auszuschütten. Neuanträge für Umstellungshilfen für Biohöfe
sind bereits jetzt in Nordrhein-Westfalen chancenlos. Gekürzt werden die
sogenannten Agrarumweltmaßnahmen, von denen vor allem die Biohöfe
profitierten. Bei einem
Spitzengespräch mit Vertretern der ökologischen
Agrarverbände vergangene Woche in Berlin versicherte Seehofer, er werde solche „Strafaktionen
gegen Biolandwirte“
verhindern. Nach einer
neuen Studie der Braunschweiger Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft schneidet
Deutschland bei der
Förderung des Bioanbaus
inzwischen schlechter
ab als osteuropäische Reformstaaten wie Litauen
oder Slowenien.
Biogemüse
s p i e g e l
FOTO POLLEX / ACTION PRESS
A
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Deutschland
JUSTIZ
L I N K S PA R T E I
Anreiz für Lügner
Richtung Rot-Rot
E
U
nter Experten löst die von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries
(SPD) am vergangenen Dienstag vorgestellte Ausweitung der „Kronzeugenregelungen“ Entsetzen aus. „Das sprengt
alle bisher diskutierten Maßstäbe“, sagt
Gunter Widmaier, Vorsitzender des
Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer: Wenn jeder Angeklagte, sogar bei Mord, durch Verrat
anderer auf deutliche Strafmilderung
hoffen könne, würden viele doch „das
Blaue vom Himmel lügen“. Lutz Hansen vom Bund Deutscher Kriminalbeamter befürchtet, dass so eine „unendliche, schwer überprüfbare Kette von
Beschuldigungen“ entsteht. Selbst in
den Reihen der Union, die seit Jahren
für weitere Kronzeugenregelungen
ficht, hält man diesen Vorschlag für
übertrieben. Die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) fordert, das Gesetz auf Bereiche zu begrenzen, „wo es
hilft, mafiaähnliche Strukturen aufzubrechen, etwa in der Organisierten Kriminalität“. Zypries will Gerichten erlauben,
jeden Täter mit Strafmilderung, viele sogar mit -erlass zu belohnen, wenn deren
Geständnisse dazu beitragen könnten,
„eine nicht nur der leichten Kriminalität
zuzurechnende Straftat“ zu verhindern
oder aufzuklären. Die Gefahr einer „Anzeigenwelle“ sieht sie nicht.
d e r
D
ie Vorstandswahlen in der Linkspartei werden zum Machtkampf um die
künftige Ausrichtung der Linken. Parteichef Lothar Bisky und Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch wollen auf dem
Parteitag Ende April verstärkt reformorientierte ostdeutsche Landespolitiker
im Vorstand platzieren. So soll neben
der sächsischen Bundestagsabgeordneten
Katja Kipping und
dem Umweltminister
von MecklenburgVorpommern, Wolfgang Methling, auch
Katina Schubert
Bisky
neue stellvertretende
Vorsitzende werden.
Schubert ist persönliche Referentin des
Berliner Wirtschaftssenators Harald
Wolf, der in der Hauptstadt mit der SPD
koaliert. Aus dem ebenfalls rot-rot regierten Mecklenburg-Vorpommern kandidiert die Fraktionsvorsitzende Angelika Gramkow für den erweiterten Vorstand. Vertreter des linken Flügels der
Partei kritisierten die Vorschläge in einer
Vorstandssitzung als „scharfen Rechtsruck“. Bartsch und Bisky verteidigen
ihre Personalpläne vor der für 2007 geplanten Fusion mit der WASG als „Hinwendung zur Realität“.
s p i e g e l
JENS MEYER / AP
Ärger um Henry
GÖTZ SCHLESER / IMAGO
in geplanter Festvortrag Henry
Kissingers bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung sorgt für
Unmut. Der ehemalige USAußenminister soll am 15.
Mai im Reichstagsgebäude
bei der Verabschiedung des
Stiftungsvorsitzenden Otto
Graf Lambsdorff über „Menschenrechte als Leitprinzip
der Weltpolitik“ sprechen.
Das erbost liberale Altvordern – schließlich war Kissinger mitverantwortlich für
Kissinger
zivile Bombenopfer in Vietnam, unterstützte den Staatsstreich des chilenischen Generals
Augusto Pinochet und begrüßte den
Militärputsch in Argentinien. Burkhard
Hirsch, ehemaliger Vizepräsident des
Bundestags, sagte seine Teilnahme an
der Feier ab. „Völliges Unverständnis“
für die Einladung bekundet der frühere
FDP-Bundesinnenminister Gerhart
Baum. Kissinger sei auch „in den letzten Jahren nicht durch Engagement für
Menschenrechte, etwa im Kongo oder
im Sudan, aufgefallen“. In einem
Brandbrief an die Stiftung fragt er, wer
„auf die peinliche Idee gekommen“ sei,
Kissinger zu diesem Thema
sprechen zu lassen. Der sei
„zweifellos ein interessanter
Mann“ gewesen, „aber zum
Thema Menschenrechte kann
ich es gut entbehren, ihm
zuhören zu müssen“. Auch
die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
moniert, man habe „Kissinger nicht als einen Verfechter
der Menschenrechte kennengelernt“. Die Naumann-Stiftung verteidigt die Wahl: Kissinger sei
„nun mal der amerikanische Außenpolitiker schlechthin“ und habe schon beim
FDP-Parteitag in Köln 2005 „unter
großem Beifall gesprochen“. Zudem sei
der ehemalige Außenminister „ein persönlicher Freund von Graf Lambsdorff“.
LIBERALE
1 6 / 2 0 0 6
21
Deutschland
Panorama
KIRCHEN
Späte Reue
is in die siebziger Jahre waren Kinder in
kirchlichen Erziehungsheimen fragwürdigen Methoden ausgesetzt – jetzt stellen sich die
Kirchen diesem Thema. „Wenn dieses Unrecht
nicht beim Namen genannt wird, dann wird die
Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals“, sagt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber. Er hat
das Diakonische Werk aufgefordert, Archive
zu öffnen und die Aufarbeitung voranzutreiben. Auch der Vorsitzende der Deutschen
Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann,
spricht inzwischen von „falsch verstandener
Pädagogik“. Er befürwortet „die Aufarbeitung Arbeitende Heimkinder (in Münster)
der Geschehnisse“, obwohl nicht alle Heime
unter Generalverdacht stünden. Unter Erklärungsdruck gerie- Schlägen, Demütigung“. In Hessen sollen eine Forschungsten die Kirchen durch den Vorstoß des hessischen Landes- und Beratungsstelle und ein Museum zur „Geschichte der
wohlfahrtsverbands, der sich bei jenen, die alltäglich „physi- Heimerziehung“ eingerichtet werden. Der Bundestag plant mit
scher und psychischer Gewalt ausgesetzt waren“, entschuldigt Unterstützung der SPD-Abgeordneten Marlene Rupprecht und
hat. Ihr Leid bleibe verbunden mit „Holzpritschen ohne Ma- Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse eine Anhörung ehetratzen, mit Strafbunkern, Besinnungsräumen, Arbeitszwang, maliger Heimkinder.
R E C H T S S TA AT
MARCO-URBAN.DE
Zammar gegen
Deutschland
F
ür die Bundesregierung könnte
die Entführung des Hamburger
Deutsch-Syrers Mohammed Haydar
Zammar durch US-Geheimdienstler ein
juristisches Nachspiel haben. Im Auftrag von Zammars Ehefrau plant die
Rechtsanwältin Gül Pinar, Deutschland vor dem Landgericht Berlin auf
Schmerzensgeld zu verklagen. Zammar
war Ende 2001 während einer Marokko-Reise von der CIA nach Syrien
verschleppt worden, wo er seither
inhaftiert ist. Die Amerikaner hatten
seinerzeit durch einen Hinweis des
Bundeskriminalamts von Zammars Trip
erfahren.
Juristin Pinar argumentiert, die deutschen Behörden hätten wissen müssen,
dass die US-Kollegen diesen Hinweis
für rechtswidrige Aktionen verwenden
würden. Die Bundesregierung sei somit
mitverantwortlich für Zammars Entführung. Für Berlin bekäme der Fall mit
dieser Klage zusätzliche Brisanz –
ohnehin wird er, neben weiteren umstrittenen Auslandsaktionen deutscher
Sicherheitsbehörden, den gerade eingesetzten Untersuchungssauschuss des
Bundestags beschäftigen.
22
Jungstör
ARTENSCHUTZ
Stör-Manöver
an der Oder
aus dem Bundesumweltministerium
heißt. Tatsächlicher Hintergrund sind
aber offenbar politische Querelen über
den Ausbau der Oder als Schifffahrtsstraße. Während Polen gern die OstOder ausbaggern würde, setzt Deutschland auf die Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße bei Schwedt. Für
das Stör-Projekt bedeutet die Absage
einen herben Rückschlag. „Wir müssen
nun nach neuen Aussetzungsstandorten
im Ostseeraum suchen“, sagt Henning
von Nordheim vom Bundesamt für
Naturschutz, das seit 1996 rund zwei
Millionen Euro in die Rückkehr des
Störs investiert hat.
D
er deutsch-polnische Streit um den
Ausbau der Oder hat ein Artenschutzprojekt zur Wiedereinbürgerung
des Ostsee-Störs vorerst gestoppt. Biologen aus Deutschland und Polen hatten
geplant, 500 Exemplare des seit mehreren Jahrzehnten aus der Region verschwundenen Fischs in der Oder auszusetzen. Bundesumweltminister Sigmar
Gabriel (SPD) und sein polnischer Kollege Jan Szyszko wollten im Anschluss
an die Sitzung des Deutsch-Polnischen
Umweltrats am vergangenen Dienstag
die ersten Exemplare der urwüchsigen
Tiere in den Grenzfluss entlassen. Doch
die Artenschutzaktion wurde von polnischer Seite kurzfristig abgesagt, „aus
organisatorischen Gründen“, wie es
d e r
s p i e g e l
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Nachgefragt
Keine Panik
Werden Sie Ihren Eierkonsum zu Ostern aufgrund der
Vogelgrippe einschränken?
JA
6%
NEIN
91 %
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“
JOCHEN GÜNTHER
B
Deutschland
SPD
Roter Machtpoker
Nach dem überraschenden Wechsel an der Parteispitze beginnt unter den Sozialdemokraten das
Rennen um die Kanzlerkandidatur. Während der designierte Vorsitzende Beck
formal seinen Anspruch bekundet, lauern die Minister Gabriel und Steinbrück auf ihre Chance.
D
was er für die SPD getan habe. Bald darauf
wechselte er abrupt den Gesprächsgegenstand: „Das Thema Kanzlerkandidatur
wird jetzt natürlich kommen“, sagte er. Seine Stimme klang ernst, seine Worte waren
eine Warnung. „Ich sage dazu: Der Vorsitzende hat das erste Zugriffsrecht, und
außerdem haben wir noch gut drei Jahre
Zeit. Die Frage stellt sich also nicht.“
Beim spannenden Kandidatenthema
fanden auch die anderen rasch die Worte
wieder. „Da dürfen wir uns nicht hinter
die Fichte führen lassen“, kommentierte
Stiegler aus der Raucherecke. „Das bringt
nur Unruhe in die Partei. Alle Fragen müssen wir abperlen lassen.“ Finanzminister
Peer Steinbrück gab zu bedenken, dass das
so leicht nicht zu bewerkstelligen sei. Sein
sachdienlicher Hinweis: „Da steht ein Wald
von Mikrofonen vor der Tür.“
Doch die obligatorische Warnung vor
den Medien war nur ein schlechtgetarntes
Ablenkungsmanöver. In Wahrheit interessiert die Kandidatenfrage niemanden mehr
als die Genossen selbst.
Denn mit dem Rückzug Platzecks hat
die SPD nicht nur ihren Vorsitzenden verloren, sondern vorerst auch ihre Machtoption. Nur kurz konnte sie sich an der Illusion berauschen, einen Sympathieträger
an ihrer Spitze zu haben, einen Mann, der
klug und stark genug ist für den Kampf
ums Kanzleramt. Nun aber geht das Casting um einen Herausforderer für Angela
MARKUS SCHREIBER / AP
ie Atmosphäre war beklemmend,
Matthias Platzeck hatte seinen Kollegen im SPD-Präsidium gerade tiefe Einblicke in seine Krankheitsgeschichte
gewährt. Danach dauerte es ein wenig, ehe
die Genossen am vorigen Montag wirklich
begriffen, dass sie soeben ihren Vorsitzenden verloren hatten.
An einer Seite des Tisches, intern Raucherecke genannt, zogen Peter Struck und
Ludwig Stiegler etwas verschämt an Pfeife
und Zigarre. „O je, nicht schon wieder“,
stöhnte Stiegler vor sich hin. Andrea Nahles kämpfte mit den Tränen.
Als Erster räusperte sich der neue Häuptling. Kurt Beck dankte Matthias Platzeck
für dessen Offenheit und natürlich für alles,
Genossen Beck, Platzeck (am vorigen Montag): Nur kurz berauschte sich die SPD an ihrem Sympathieträger
24
d e r
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UMFRAGE: KANZLERKANDIDAT
„Welcher der folgenden Politiker
wäre am besten geeignet, als
Kanzlerkandidat der SPD
anzutreten?“
SPDAnhänger
Kurt Beck
38 %
46
Peer Steinbrück
18 %
20
JAN WOITAS / DPA
10 %
16
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
keine Angabe, spontan: „keiner der Genannten“
RALPH SONDERMANN
Sigmar Gabriel
Konkurrenten Gabriel, Steinbrück: Ein erbarmungsloser Prozess der Auslese beginnt
Merkel von vorn los, ein erbarmungsloser
Prozess der Auslese beginnt.
Neben dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck ist in der SPD
genügend Raum für jene, die sich schon
immer alles zugetraut haben, etwa für Peer
Steinbrück, den Verlierer der Wahl in
Nordrhein-Westfalen, und für Sigmar Gabriel, der bisher gleichermaßen durch
Ideenreichtum, Wortwitz und Sprunghaftigkeit auffiel. Beide spekulieren darauf,
in ihrem neuen Amt als Finanzminister
und Umweltminister so viel Kompetenz
und Wählerzustimmung tanken zu können, dass im entscheidenden Moment niemand an ihnen vorbeikommt.
Wenn es um die Kandidatur für das
wichtigste Regierungsamt geht, zeigt sich
die Politik von ihrer archaischen Seite. Der
Kampf nimmt die perfideste Form an, weil
der Gegner jemand ist, den man offiziell einen Freund nennen muss.
„Solche Machtfragen müssen wie im
Wolfsrudel untereinander ausgebissen werden“, beschrieb einmal der Grüne Joschka
Fischer diesen Prozess. Was martialisch
klingt, gehört zu den Grundlagen des Parteienstaats, in dem SPD und Union Menschen hervorbringen müssen, die sich zutrauen, die Republik zu führen.
Ein Land mit fünf Millionen Arbeitslosen
und kränkelndem Sozialsystem braucht einen Wettstreit der Ideen, es braucht politische Entwürfe und Gegenentwürfe, es
braucht Politiker, die miteinander konkurrieren, um Konzepte und um die Macht.
Gefragt ist eine Persönlichkeit, die sensibel
genug ist, den Zeitenwandel zu begreifen,
und energisch genug, ihn zu gestalten.
Die Union hat Angela Merkel. Die SPD
braucht eine Machtperspektive mit Gesicht, um sich selbst zu motivieren, um
kreativ und vital zu bleiben. Sie wird erst
dann in der Großen Koalition wieder richtig wahrgenommen werden, wenn sie der
Kanzlerin einen echten Konkurrenten gegenüberstellen kann.
Vorsitzende sind wichtig, damit Parteien
sich behütet fühlen. Ein Kanzlerkandidat
aber ist die Aussicht auf mehr. Er ist die
Verheißung auf Richtlinienkompetenz und
die wahren Insignien der Macht. Deshalb
fällt die Entscheidung für einen Kandidaten
den Parteien so schwer, obwohl intern über
nichts anderes so heftig diskutiert wird.
Der Startschuss zur neuen Kandidatendebatte fiel in Potsdam. Es war Mittwoch,
der 29. März, als Matthias Platzeck begriff,
dass sein Körper kapituliert hatte. Er saß
nach der Aufsichtsratssitzung des Flughafens Schönefeld auf der Rückbank seines
dunklen Audi A8, als er plötzlich heftige
Stiche im rechten Ohr spürte. Der Chauffeur änderte den Kurs in Richtung Klinikum Ernst von Bergmann.
Die Ärzte diagnostizierten einen schweren Hörsturz, den zweiten binnen drei Monaten, sie behielten Platzeck im Krankenhaus. Bis dahin hatten sich seine Mitarbeiter bemüht, ernste Vorfälle als Zipperlein
zu verkaufen.
Erst am 11. Februar, einem Samstag, hatte er im Hausflur seiner Privatwohnung
das Bewusstsein verloren. Am Morgen hatte er in Magdeburg die heiße Phase des
Landtagswahlkampfs eröffnet, hatte gerufen: „Die CDU ist deutlich wahrnehmbar
erschöpft.“ Am Nachmittag fiel er dann
selbst in Ohnmacht.
In aller Heimlichkeit eskortierten ihn
Personenschützer ins Krankenhaus, schnell
verbreitete sich das Gerücht, der Ministerpräsident habe einen leichten Schlaganfall
erlitten. Platzecks Regierungssprecher Thomas Braune versuchte zu beschwichtigen.
Um 17.40 Uhr sendete dpa eine harmlose
Agenturmeldung: Platzeck sei an Grippe
erkrankt und könne deshalb nicht wie geplant an der Karnevalsgala „Heut’ steppt
der Adler“ in Cottbus teilnehmen.
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Platzecks jüngste Zusammenbrüche und
die beiden Hörstürze gehören zu einer
Kette von Erschöpfungen, mit denen der
52-Jährige seit langem ringt. Nach einem
ersten Hörsturz zum Jahreswechsel hatten
seine Leute noch erklärt, Platzeck verbringe mit seiner Lebensgefährtin gerade
einen „Kurzurlaub auf den Kanaren“. Jetzt
aber war klar, dass der Schein nicht länger
aufrechtzuerhalten war.
Am Dienstagnachmittag vergangener
Woche besuchten ihn seine drei engsten
Getreuen in seiner Babelsberger Wohnung.
Man trank Tee, es ging um seine Zukunft.
Platzeck suchte nach einer Möglichkeit,
sich Luft zu verschaffen. Ließe sich mehr
Arbeit auf die Minister im Potsdamer Kabinett verlagern? Wie könnten die Stellvertreter im Willy-Brandt-Haus besser eingespannt werden? Es blieb ein Gespräch
ohne Beschluss. Platzeck hatte Mühe, seine Mitstreiter zu verstehen. „Sprich lauter,
ich höre dich nicht“, sagte er. Am Donnerstag traf er sich mit Beck und Vizekanzler Franz Müntefering in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung. An
diesem Abend ahnte Beck, dass es auf ihn
zulaufen könnte. Platzeck war noch immer unentschlossen. Abends gab er einen
Essay zum Parteiprogramm frei, den er für
den SPIEGEL verfasst hatte: „Ein besserer
Sozialstaat“ (15/2006).
Die letzte Entscheidung für den Rücktritt fiel am Samstag. Am Sonntag informierte Platzeck die Kanzlerin, den SPDGeneralsekretär, aber auch den von ihm
sehr geschätzten DGB-Chef Michael Sommer. Er wird nun aus der Provinz beobachten, wer an seiner Stelle das Kanzleramt ins Visier nimmt.
Es treten an drei Herren, deren Inhalte
kaum unterscheidbar sind, ihr Stil dagegen schon. Alle drei sind überzeugt, dass
ihr bester Verbündeter die Zeit ist. Sie wissen, dass sie entweder als zu unerfahren
25
Deutschland
* Mit dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle.
26
teressengruppen, von Fraktion und eigenen Ministern als Parteichef standhält?
Es sind die Fragen, die sich derzeit vor allem seine Konkurrenten stellen. Sie werden
darauf achten, dass nicht verborgen bleibt,
wenn Beck den Erwartungen nicht genügt.
Und sie werden versuchen, ihr eigenes Image aufzupolieren.
In besinnlichen Momenten erzählt Peer
Steinbrück gern von seinem Idol Helmut
Schmidt. Er schwärmt dann von den Nachmittagen in Schmidts Garten in HamburgLangenhorn, während deren sich Steinbrück zu vergewissern suchte, dass beide
quasi aus demselben Holz geschnitzt seien.
Es ist dann von einem zeitgemäßen Politikertypus die Rede, der Visionen für eine
Krankheit hält, die schleunigst vom Arzt
behandelt werden sollte. Von einem Typus, der Probleme und Lösungen kennt,
nichts anderes, keine Show, der Nüchternheit zum Standortvorteil erhebt.
Im Bauch der SPD hat man freilich eine
andere Sicht auf Steinbrück. „Steinbrück
ist kein Menschenfischer“, sagt ein wichtiges Vorstandsmitglied. „Er ist zu überheblich, er wirkt wie ein Schulmeister, so was
will man nicht in der SPD.“
Steinbrück hat diese Ressentiments bislang erfolgreich ignoriert. Sein Ego war
sein größter Helfer. In der Riege der Kandidatenkandidaten spielt er die Rolle des
eitlen Pfaus, der seinen Glauben an sich
selbst ohne größere Scham zur Schau trägt.
Wenn die SPD neben einem Herz auch
noch Vernunft hätte, dann würde sie ihn
zum Kanzlerkandidaten berufen, heißt es
in seinem Umfeld. Steinbrück setzt auf die
Kraft der Kompetenz. Er möchte weitere
Beweise für seine Qualifikation vorlegen,
Koalitionäre Müntefering, Merkel, Struck: Eine
JOCKEL FINCK / AP
oder als zu leichtgewichtig befunden würden, wenn sie heute auf die Kanzlerwaage
klettern müssten. Die Zeit aber, so die
Hoffnung, werde ihnen das nötige Gewicht
schon noch verschaffen.
Kurt Beck sitzt im Konferenzraum eines Hotels in der pfälzischen Provinz, in
Bad Sobernheim. Sein Landeskabinett ist
zu einer Klausur zusammengekommen.
Vor 30 Stunden wurde er zum künftigen
Vorsitzenden der SPD ausgerufen.
Beck wirkt sehr zufrieden mit sich, er
lässt die Brille durch die Finger gleiten und
räsoniert über seine Ziele, die Partei und
die Kandidatenfrage. Er sagt, dass er keine
Übergangslösung sein wolle, dass er die
Programmdebatte weiterführen werde und
dass der Parteichef „der Erste ist, der gefragt wird“, wenn es um die Kanzlerkandidatur gehe (siehe Gespräch Seite 37). Er
redet gelöst, er wirkt wie einer, der tief in
sich ruht, der keine Angst hat vor der Aufgabe und dem, was noch auf ihn zukommen könnte. Er hat es weit gebracht für einen Elektromechaniker aus der Südpfalz.
Beck hat es stets genossen, wenn man
ihn im vergangenen Sommer als möglichen
Parteichef ins Spiel brachte. Am vergangenen Sonntag ergab sich endlich die
Chance. Diesmal packte er zu, und diesmal
will er nicht wieder loslassen.
Der rechte Seeheimer Kreis steht hinter
Beck, das „Netzwerk“ ebenso, und selbst
die Partei-Linken sind voller Erwartungen.
„Der Kurt kann Schätze heben“, sagt die
Linken-Sprecherin Andrea Nahles.
Beck hat sehr konkrete Vorstellungen
von erfolgreicher Politik. Die ist nicht links
und nicht rechts, die vertritt er nicht immer
laut, aber in der Sache beharrlich. Er hat
sich auch mit dem stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Rainer Brüderle gut verstanden,
mit dem er jahrelang in Mainz
regierte. Er ist für den Mindestlohn und gegen die Ausbildungsplatzabgabe. Er war es,
der maßgeblich darauf drängte,
milliardenschwere Investitionen
im SPD-Wahlprogramm festzuschreiben. Beck sagte als einer
der ersten Genossen nach der
letzten Bundestagswahl, dass
Kanzler Schröder nicht zu halten sei.
Er vereint eine Mischung aus
Energie und Volkstümlichkeit,
die manche Genossen an Helmut Kohl denken lässt. Sie haben auch die Wahlsiege im Sinn.
Die Frage ist nur, ob Becks
Mainzer Modell auch in Berlin
funktioniert. Moderieren als politisches Stilmittel, das Kumpelhafte und Rustikale? Ob er dem
Dauerfeuer von Medien und In-
Liberaler Brüderle (r.)*: Mit Beck in Mainz regiert
d e r
s p i e g e l
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schöne Zahlen, gute Gesetze. Deshalb will
er, dass die Kandidatenfrage hinausgezögert wird, bis es viele Beweisstücke gibt.
Steinbrück wollte vom ersten Amtstag
an mehr sein als nur Finanzminister, ein
Hans-Eichel-Nachfolger. Er möchte zu allen wichtigen Vorhaben der Regierung
gehört werden. Sein Ministerium, in dem
alle Reformen bewilligt werden müssen,
gibt ihm die Gelegenheit dazu, seine Chuzpe verleiht ihm Kraft. Steinbrück sagt, er
wolle gestalten, nicht verwalten.
Gerade ist er dabei, seine Grundsatzabteilung aufzurüsten. Er ergänzte sie um
eine dritte Unterabteilung, eine Truppe für
Feindbeobachtung. Sie nimmt die anderen
Ressorts unter die Lupe und formuliert
Einschätzungen und Positionen für den Minister. Egal ob Gesundheits-, Arbeitsmarktoder Familienpolitik.
Damit seine Botschaften auch das Volk
erreichen und die Öffentlichkeit eine Vorstellung von der „Marke Steinbrück“ bekommt, gibt er 160 000 Euro jährlich für
persönliche strategische Imageberatung
aus. Noch nie hat sich ein Minister seine
Selbstdarstellung so viel kosten lassen.
Wenn Peer Steinbrück der Pfau unter
den möglichen Kandidaten ist, dann ist
Sigmar Gabriel das Chamäleon, das vorerst
alles dafür tut, seine Ambitionen zu verheimlichen. Zutrauen würde der Umweltminister sich den Job zwar schon, aber
2009 könnte für ihn zu früh sein. Er ist gerade dabei, sich neu zu erfinden. Seine
Chancen auf eine Kandidatur hängen auch
davon ab, ob sein Selbstversuch gelingt.
„Der macht seine Sache richtig gut“, befand unlängst Vizekanzler Müntefering, der
mit Lob eher sparsam umgeht. Als jüngster
der drei Aspiranten könnte er zwar auf seine Chance im Jahr 2013 warten, aber die
Option 2009 will er nicht aufgeben. Sollte
das Führungskräftesterben in der SPD weitergehen, könnte seine Stunde kommen.
Gabriel hätte sogar schon ein Verfahren
für die Kandidatenfindung parat: Primaries
nach amerikanischem Vorbild, bei denen
alle Bürger die Chance bekommen, über
die Kandidaten einer Partei abzustimmen.
Vor kurzem hat er das Vorwahlmodell in
seinem Landkreis Goslar getestet, es ging
um die Kandidaten für die Landratswahl.
Einwände von Skeptikern, wonach sich vor
allem Mitglieder anderer Parteien in die
Versammlungen schleichen könnten, wehr-
TOBIAS SCHWARZ / REUTERS
UMFRAGE: BECK
vorgezogene Neuwahl haben die Unionsspitzen im Kalkül
Wer es gut mit ihm meint in der SPD, der
verweist darauf, dass Gabriel ihr größtes
politisches Talent aus der Generation der
40- bis 50-Jährigen sei, der preist vor allem
seine Fähigkeit zur Leidenschaft, die im
politischen Betrieb langsam verkümmernde
Gabe, begeisternde Volksreden zu halten.
Wer es weniger gut mit Gabriel meint,
der erinnert an seinen hart erarbeiteten Ruf
als politischer Hallodri. Es ist ein Image,
das man nicht einfach abklopfen kann wie
eine Fluse vom Pullunder.
Früher galt er mal als Linker, er wurde
groß bei den Falken, einer Splittergruppe
der sozialdemokratischen Nachwuchsbewegung. Dann spannte er sich als Zugpferd
vor das reformfreudige „Netzwerk“. Inzwischen ist er auch dem konservativen
Seeheimer Kreis der Fraktion beigetreten.
Er erinnert an einen Geschäftsmann mit
einem ganzen Bündel von Kreditkarten.
Gelitten hat Gabriels Image vor allem
nach seiner Abwahl als Ministerpräsident
in Niedersachsen 2003. Damals verwandelte er sich vom potentiellen Nachfolger
Gerhard Schröders im Kanzleramt zur tragischen Figur. Mal forderte er die Einführung der Vermögensteuer, mal trat er
für die Beschneidung der Gewerkschaftsmacht ein. „Der Sigmar läuft Gefahr, beliebig zu werden“, lästerte sogar sein einstiger Förderer Schröder.
Es wäre fast in Vergessenheit geraten,
dass Gabriel sich sehr kluge Gedanken
über die Defizite der SPD machen kann,
zum Beispiel, dass sie Gefahr laufe, ihren
Charakter als Volkspartei zu verlieren, weil
„Wird der überraschende Rücktritt von Matthias Platzeck der
SPD schaden?“
20 %
65 %
NEIN
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
keine Angabe
sie ihre Funktionäre nicht mehr aus allen
Schichten der Bevölkerung rekrutiert.
Nun ist er doch noch Minister geworden,
Umweltminister zwar nur, aber das macht
vorerst nichts. Auf die Stelle des beamteten
Staatssekretärs hat er den erfahrenen SPDStrategen Matthias Machnig gesetzt.
Die Präsidiumssitzung am vorigen Montag verließ Gabriel vorzeitig wegen dringender Amtsgeschäfte. „Sorry, ich treffe
den polnischen Umweltminister“, erklärte
er den Genossen. Diszipliniert wie nie zuvor verkneift sich Gabriel jeglichen Kommentar zur Lage seiner Partei. Er weiß,
dass er vorerst keine Ambitionen erkennen lassen darf. Intern verkündet er, Beck
solle Kandidat der SPD werden. Gabriel
muss sich verstellen wie ein Chamäleon,
das die Farbe wechselt, um von den Gegnern nicht erkannt zu werden.
Bislang scheint die Strategie aufzugehen.
Ganz allmählich bessert sich sein Ansehen.
d e r
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60 %
JA
NEIN
UMFRAGE: PLATZECK
JA
„Wird sich Kurt Beck in der
Großen Koalition als durchsetzungsstarker SPD-Chef
neben Bundeskanzlerin Angela
Merkel erweisen?“
21 %
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 10. und 11. April;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
keine Angabe
te er erfolgreich ab: „Unsere Schweine erkennen wir am Gang.“
Die Aktion war ein Riesenerfolg. Statt
ein paar Genossen strömten plötzlich bis
zu 700 Menschen in die Säle. Endlich habe
man ein Mittel gefunden, um der „Wahlmüdigkeit zu begegnen“, schwärmte Gabriel. Es ist ein Verfahren, das wie gemacht
ist für begeisternde Volksredner.
Kanzlerin Angela Merkel beobachtet das
Treiben der Sozialdemokraten unterdessen mit Gelassenheit. Sie kann – wie in
den vergangenen fünf Monaten des Öfteren geschehen – die verschiedenen SPDGrößen gegeneinander ausspielen.
Auch eine vorgezogene Neuwahl, zum
Beispiel nach drei Jahren Großer Koalition, haben die Unionsspitzen im Kalkül.
Mögen die persönlichen Beziehungen zwischen Merkel und Müntefering noch so belastbar sein, am Ende wird die Kanzlerin
die Entscheidung zu einem für sie günstigen Zeitpunkt suchen. Sollte die SPD dann
keinen Kanzlerkandidaten haben, könnte
die Partei ins Schleudern kommen. „Wir
alle in der Politik“, sagt Merkel häufig,
„sind vor allem interessengeleitet.“ Und
manchmal fügt sie hinzu: „Gott sei Dank.“
Markus Feldenkirchen;
Horand Knaup, Roland Nelles,
Christian Reiermann, Sven Röbel
27
ANDREAS ALTWEIN / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); ARND WIEGMANN / REUTERS (R.)
Scheidende SPD-Vorsitzende Schröder (2004), Müntefering (2005): Sie haben die Kinder ohne Trost stehengelassen
Die Sanften und die Alphatiere
In 15 Jahren hat die SPD sechs Vorsitzende verschlissen. Die einen waren schwach und konnten der
Partei kein Profil geben. Die anderen waren autoritär und haben der Partei ihren
Willen aufgezwungen. Keiner war bereit oder in der Lage, alles zu geben. Von Dirk Kurbjuweit
E
s regnet, es regnet fürchterlich im
pfälzischen Landau, als Kurt Beck
und Matthias Platzeck Wähler für die
SPD werben wollen. Beck sucht das Gespräch, Platzeck zieht mit zwei roten Rosen durch die Fußgängerzone. Hinter ihm
geht ein Mann, der einen Kübel schleppt.
Darin sind hundert weitere Rosen.
Platzeck lächelt. Er hat so ein sanftes,
schönes Lächeln. Es gilt einer Frau, die
sich mit hochgezogenen Schultern nähert.
Als ihr Platzeck eine rote Rose geben will,
schreckt sie zurück, als würde ihr ein Tintenfisch überreicht. Sie geht schnell weiter.
Jahrzehnte, Jahre, Monate
Beck redet. Das heißt, er hört zu. Ein alter Mann erzählt ihm, wie es früher war in
der SPD, wie schön, wie gut, wie nett. Der
alte Mann redet und redet.
Platzeck läuft durch den Regen, Tropfen sprenkeln seine Brille. Er verteilt
überfallartig Rosen, aber der Kübel leert
sich nur langsam. Es sind nicht genug
Frauen unterwegs, und nicht jede Frau will
eine Rose von Platzeck. Beck wird den
Alten nicht los. Es geht immer noch um
früher.
Platzeck nimmt jetzt auch Männer. „Für
die Liebste“, sagt er zu einem Geschäfts-
Die Vorsitzenden der SPD seit 1946
Kurt Schumacher
Erich Ollenhauer
Willy Brandt
Hans-Jochen Vogel
Björn Engholm
Rudolf Scharping
1946 – 1952
1952 – 1963
1964 – 1987
1987 – 1991
1991 – 1993
1993 – 1995
910 063
919 871
861 480
PARTEIMITGLIEDER im Jahr des Amtsantritts
711 448
28
mann, der seinen Laden renoviert. „Rechts
von mir ist nur die Wand“, knurrt der
Mann, aber er akzeptiert die Rose. Eine
weniger.
Platzeck gibt auf, noch ehe er die Hälfte der Rosen verteilt hat. Er geht zu Beck,
der sofort die Chance sieht, sich von dem
Alten loszueisen. Gemeinsam ziehen sie
davon, durch den Regen.
Das war am Freitag vor der Wahl in
Rheinland-Pfalz. Man sah da schon, dass es
nicht nur schön ist, an der Spitze der SPD
zu stehen. Platzeck war Vorsitzender, Beck
sein Stellvertreter.
627 817
678 484
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SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
Sie ist 15 Jahre lang enttäuscht
17 Tage später sind sie wieder
worden und hat sich täuschen lasbeisammen. Diesmal ist die Lage
sen. Wie eine naive Braut hat sie zu
wirklich schlimm. Sie stehen im
viel erwartet und ist immer an den
Foyer des Willy-Brandt-Hauses in
Falschen geraten.
Berlin, und Matthias Platzeck tritt
Nie war die SPD so betrogen wie
zurück, weil er zum dritten Mal
am 12. Oktober 2005, gut drei Woin vier Monaten einen gesundheitchen nach der Bundestagswahl.
lichen Rückschlag erleiden musste.
Gerhard Schröder hielt eine Rede
In der Woche nach der Landtagsauf dem Kongress der IG Bergbau,
wahl hatte er einen Hörsturz. Beck
Chemie, Energie in Hannover. Er
wird sein Nachfolger.
redete nicht mehr als Kanzler, sonBeck redet, Platzecks Wimpern
dern als Sozialdemokrat zu Geflattern. Er setzt seine Brille auf,
werkschaftern, die mehrheitlich Sodamit man seine Tränen nicht sieht.
zialdemokraten sind.
Auf den sechs Galerien des Foyers
Er sagte: „Ich weiß, wo ich herstehen Mitarbeiter der SPD, nach
komme, und deswegen weiß ich
vorn gebeugt, auf das Geländer geauch, wo ich hingehöre.“ Dann
lehnt, und viele haben ihren Kopf
setzte er seine Brille auf und sagte,
auf eine Hand gestützt. Solche Geer tue das, damit im Fernsehen
stalten sieht man derzeit in großer
nicht alles zu sehen sei. Er meinte
Zahl in der Ausstellung „Melanseine Tränen. Er war gerührt von
cholie“ in Berlin. Künstler aller
sich selbst. „Ich hoffe, wir können
Epochen haben so Traurigkeit und
es so einrichten, dass wir zusamunbestimmtes Sehnen ausgedrückt.
menbleiben“, sagte Schröder noch.
Die SPD ist derzeit die melanKurz darauf verdingte er sich als
cholischste Partei der Welt. Seit
Berater bei der Arbeiterwohlfahrt,
1991, dem Abgang von Hansbei der IG Metall und beim ArbeiJochen Vogel, hat sie kein Glück
ter-Samariter-Bund.
mit ihren Vorsitzenden. Es gab die
Falsch. Tatsächlich verdingte sich
Sanften: Björn Engholm, Rudolf
Schröder beim Verlag Ringier, bei
Scharping und Matthias Platzeck.
Es gab die Alphatiere: Oskar La- Scheidender Parteichef Platzeck (am vergangenen Montag) einer Tochter des russischen Energielieferanten Gasprom und bei der
fontaine, Gerhard Schröder und Politik machen, ohne sich wie ein Politiker zu verhalten
Investmentbank Rothschild.
den Spätentwickler Franz MünteSchröders Sätze von Hannover waren
fering. Keiner hat länger als fünf Jahre
Das ist die traurige Bilanz von nur 15
durchgehalten, keiner hatte einen guten Jahren. Die SPD hat seit Vogel keinen Vor- Heuchelei. Es waren, muss man im NachAbgang.
sitzenden mehr gefunden, der bereit oder hinein sagen, die verlogensten Sätze der
jüngeren deutschen Politik. Schröder hatEngholm musste 1993 zurücktreten, weil in der Lage war, alles zu geben.
er in der Barschel-Affäre die Unwahrheit
Und das passiert einer Partei, die te als Kanzler gegen seine Partei regiert, er
gesagt hatte. Scharping wurde 1995 von nicht nur Führung erwartet, sondern Ver- hat sich nach seiner Abwahl endgültig von
Lafontaine gestürzt. Lafontaine warf 1999 körperung. Der Vorsitzende soll dem der SPD verabschiedet und der Wirtschaft
hin, weil er Schröders Regierungskurs Urschlamm der Partei entschlüpft sein zugewendet.
Gerhard Schröder hat eine verstörte
nicht folgen wollte. Schröder gab den Stab und ihre Traditionen und Werte ver2004 an Müntefering weiter, weil er sich körpern. Er soll proletarisch sein, intel- Partei hinterlassen. Er tut fein mit den
des Rückhalts seiner Partei nicht sicher lektuell, führungsstark und mehrheits- Leuten, die Sozialdemokraten im Wahlwar. Müntefering schmiss 2005 hin, weil er fähig. Es gibt diesen Menschen nicht, kampf als Heuschrecken geschmäht haseinen Kandidaten für das Amt des Gene- jedenfalls hat er nicht den Weg an die ben, und die SPD sucht nach einem neuralsekretärs nicht durchsetzen konnte. Spitze der SPD gefunden. Das ist das Dra- en Selbstbewusstsein nach sieben Jahren
unter Schröders Knute.
Platzecks Gesundheit spielt nicht mit.
ma der Partei.
Eine Folge der NachSchröder-Wirren war Matthias Platzeck. Wegen seiner
angegriffenen Gesundheit
bekam er nicht die Chance
zu beweisen, dass er ein guter Vorsitzender sein kann.
Er wäre aber nie Vorsitzender geworden, wäre die SPD
in einem anderen Zustand,
als sie ist.
Anfang März gab es
Oskar Lafontaine Gerhard Schröder
Franz Müntefering
Matthias Platzeck
Kurt Beck
ein Abendessen mit ihm
1995 – 1999
1999 – 2004
2004 – 2005
15. Nov. 2005 –
kommissarisch
im Potsdamer Restaurant
„Lehmofen“. Platzeck hatte
10. April 2006
ab 10. April 2006
es ausgesucht. Er kam pünkt817 650
lich, schwungvoll, seine
755 066
Hand flog heran, und,
591 076
580 491
605 000
klatsch, der Händedruck hat30. Nov. 2005
28. Feb. 2006
te die Wucht einer mittleren
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29
SPD-Chef Engholm (1992)
Sinnieren im Lübecker Elfenbeinturm
die den Nationalsozialismus überwindet.
Es ging darum, die Demokratie zu etablieren.
Die zweite Generation der Alphatiere,
Schröder und Lafontaine, sah die SPD als
Garantin für eine Art Neugründung der
Bundesrepublik mit Willy Brandt. „Mehr
Demokratie wagen“ und die Ostpolitik waren die Attraktionen der späten sechziger
und frühen siebziger Jahre.
Damals war die SPD cool. Sie war die
Partei des Fortschritts und der kurzen
Röcke. Es gab eine starke linke Elite, die
FRIEDHELM SCHULZ
Ohrfeige. Er plauderte gleich los, er sorgte sich um das Essen, den Wein, man fühlte sich bald wohl mit ihm. Eine wichtige
Frage des Abends war: was ihn zur SPD gezogen hat?
Es begann eine längere Erzählung, Platzeck referierte den ganzen langen Weg von
einer Bürgerinitiative in Potsdam zum
Bündnis 90, zum Umweltminister in Brandenburg, zum Austritt aus dem Bündnis
90 bis zum Eintritt in die SPD. Er redete
über Handlungen, nicht über Inhalte. Es
hatte sich halt so ergeben. Er gehörte als
Parteiloser einer Regierung der SPD an.
Da lag es nahe, in die SPD einzutreten.
Je länger man mit ihm redete, desto
mehr drängte sich der Eindruck auf, Platzeck müsste eigentlich Mitglied der Grünen sein. Bei den grünen Themen wurde
er leidenschaftlich und zeigte Kompetenz.
Aber er war Vorsitzender der SPD, einer
Partei, die Arbeit, Arbeit, Arbeit ruft, einer
Partei, die auf dem Betonfundament einer
langen Tradition steht, die gern Stallgeruch
atmet, die verliebt ist in Debatten. Platzeck wirkte da wie ein Irrtum.
Die SPD wählte ihn mit 99,4 Prozent
im Chaos nach Schröders Abgang. Es gab
niemanden sonst, der gewollt hätte. Platzecks Wahl im Herbst 2005 ist Ausdruck
einer Erschöpfung. Die lange Krise der
SPD mit ihren Vorsitzenden ist Ausdruck
der Erschöpfung einer Idee. Die sozialdemokratische Idee zieht nicht mehr genug starke Leute, die sie verkörpern wollen oder können.
Die Alphatiere der SPD in der Nachkriegszeit wurden nicht allein durch die
soziale Frage angezogen. Willy Brandt,
Helmut Schmidt oder Herbert Wehner
wollten eine Bundesrepublik schaffen,
WULF PFEIFFER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Deutschland
Genossen Scharping, Lafontaine*: Mit der Macht wächst das Ego
32
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den intellektuellen Diskurs dominierte. Die
bürgerliche Elite war in der Defensive.
Das hat sich in den achtziger und neunziger Jahren gedreht, als die Demokratie
auch für den Letzten erkennbar etabliert
war, dafür aber die Zahl der Arbeitslosen
stetig wuchs. Die dominierende Elite waren jetzt jene Leute, die erfolgreiches Wirtschaften vorlebten oder Lösungen für die
ökonomischen Krisen zu kennen glaubten.
Diese neue Elite ging nicht zur SPD, sie
ging in keine Partei. Die Alphatiere, immer
auf der Suche nach Anerkennung, sahen in
der Politik keine Chance, befriedigt zu
werden. Der Pool für den SPD-Führungsnachwuchs wurde auch deswegen kleiner,
weil die Grünen einen Teil der linken Politikinteressierten abzogen.
Heute gilt die SPD als uncool. Die Journalisten aus Schröders Generation waren
von Brandt begeistert und sind es immer
noch. Heute hört man in Berlin jüngere
Journalisten maulen, wenn sie über die
SPD berichten müssen. Die Partei und ihre
Mitglieder gelten als bieder, als zopfig.
Für Alphatiere ist die SPD auch deshalb
wenig interessant, weil sie es ihren Mächtigen so schwer macht. Matthias Platzeck
hat gern erwähnt, dass für die CDU die
Probleme gelöst seien, wenn sie eine Wahl
gewinnt. Dann wird regiert, endlich, hurra,
und die Regierenden werden schon wissen, was sie tun.
Für die SPD, sagte Platzeck, fingen die
Probleme an, sobald eine Wahl gewonnen
sei. Von da an werde misstraut. Sind Regierungs- und Parteiprogramm deckungsgleich? Denken die Regierenden auch Tag
und Nacht an die Seele der lieben Partei?
Muss wirklich modernisiert werden, wo
doch die Traditionen so schön sind? Lädt
nicht Macht zum Missbrauch ein?
So macht die SPD ihren Vorsitzenden das
Leben zu Hölle. Nicht einmal Willy Brandt
war davor geschützt. Er trat 1987 zurück,
weil die Partei motzte, als er eine Parteilose
zur Pressesprecherin machen wollte. Es
schien mal wieder die Seele bedroht. Die
SPD ist immer nur knapp regierbar und
knapp regierungsfähig. Es gibt nicht viele
Machtmenschen, die sich das antun wollen.
Auch deshalb hat der Sanfte eine recht
gute Chance in der Partei. Auch deshalb
hat es einen Matthias Platzeck als Parteivorsitzenden gegeben. Seine Grundhaltung
zur Politik ist symptomatisch für diesen
Typus des SPD-Politikers.
Anfang Februar besuchte Platzeck in
London Tony Blair. Gegen Mitternacht
führten in der „Leader’s Bar“ im Hotel
Marriott ein Dutzend Journalisten ein Hintergrundgespräch mit ihm. Gerade hatte
sich Arbeitsminister Franz Müntefering auf
die Rente mit 67 festgelegt, zum Verdruss
der Partei, die sich auch fragte, warum der
Vorsitzende das nicht verhindert hatte. Was
* Bei Oskar Lafontaines Wahl zum Parteichef am 16.
November 1995 in Mannheim.
MATTHIAS JÜSCHKE
Deutschland
Scheidender SPD-Chef Brandt (r.), Nachfolger Vogel (1987): Starke linke Elite
nun passierte in der „Leader’s Bar“, war
für einen Journalisten, der vor allem die
Rüpel-Generation Schröder/Fischer begleitet hat, eine Überraschung. Matthias
Platzeck blieb, obwohl ihn einige Journalisten fast zur Härte drängten, zum Durchsetzen, zum Auf-den-Tisch-hauen, unerbittlich samtpfotig. Wollte er alles nicht.
Er sinnierte darüber, ob Müntefering
nicht teilweise recht habe, er webte mit
sanfter Stimme ein Tuch aus Seide, das
sich angenehm weich auf die Runde legte.
Nach einer Stunde war man bereit, sich
mit allen Gegnern zu versöhnen und wollte nie mehr ein böses Wort sagen oder
schreiben.
Zwei Wochen nach dem Auftritt in der
„Leader’s Bar“ saßen Müntefering, Platzeck und Peter Struck, der Fraktionsvorsitzende der SPD, in der Bundespressekonferenz. Struck war liebenswürdig mit
Platzeck, Platzeck war liebenswürdig mit
Müntefering, und Müntefering zeigte eine
Strenge und Starre, die an alte Fotos vom
Politbüro der SED erinnerte. Es wurde
nichts Bedeutendes gesagt, nur einmal
musste man aufhorchen. Jetzt sollten „alle
aufs Spielfeld laufen, die was im Kreuz haben“. Das hat wer gesagt? Genau. Franz
Müntefering.
Es ist der Sound eines Politikverständnisses, bei dem es um Kampf geht, um
Männlichkeit, um Siegen auf Teufel komm
raus. Das Spielfeld, das Müntefering meinte, ist kein Rasen, wo man schön kickt,
und wer foult, sieht Rot und ist ganz böse.
Es ist eher so, dass der, der schön und fair
spielen will, als Schwächling gilt.
Dieses Spiel müssen auch die Sanften
spielen, es gibt kein anderes im Berliner
Regierungsviertel. Hier findet sich immer
einer, der auf Schwächen lauert, und da
zählt nicht, dass die angebliche Schwäche
menschlich gesehen vielleicht eine Stärke
ist. Politiker müssen siegen, egal, wie. Zum
Sieg führt oft tierhaftes Wollen.
Die Sanften täuschen sich meist in dem
Gedanken, sie könnten ein eigenes Spiel
spielen. In London sagte Platzeck, „vom
Berliner Tempo lasse ich mich nicht komplett aufsaugen“. Er dachte, er müsse nicht
alles geben, könne sich ein inneres und
äußeres Idyll erhalten.
Was ihn so sympathisch macht, ist ja
auch diese Genussfreudigkeit, diese
Leckermäuligkeit. Sobald das Essen im
„Lehmofen“ auf den Tisch kam, wurde er
WERNER BAUM / AFP
rund in den Schultern, da war er ganz und
gar Vorfreude und beinahe schnurrendes
Behagen. Er wurde nie müde zu betonen,
dass er all diese Ämter nicht angestrebt,
nicht erkämpft habe, dass er sich auch ein
Leben als Kneipenwirt in der Uckermark
vorstellen könne.
So viel innere Unabhängigkeit klang prima. Aber was soll ein SPD-Mitglied, dessen Welt gerade zusammenfällt, darüber
denken, dass sich der Vorsitzende danach
sehnt, professionell Bier zu zapfen?
Politik ist für Spitzenpolitiker eine Totalität. Politik fordert alles. Einer Angela
Merkel, einem Franz Müntefering würde
niemand bestreiten, dass sie alles geben
für ihr Amt, und angesichts der Lage darf
man das auch erwarten.
Natürlich arbeitete Platzeck hart. Das
Problem mit ihm oder einem Björn Engholm war eher diese innere Sperre, dieses
Unbehagen an der Berliner Politik und die
Sehnsucht nach einem anderen Leben, einem anderen Tempo.
Vielleicht hat Platzeck auch seine Zerrissenheit krank gemacht. Er wollte gern
Bundespolitik machen, ohne wie ein Politiker zu sein, ohne wie ein Politiker zu leben.
Er musste merken, dass das unmöglich ist.
Die SPD hatte keine gute Zeit mit ihren
Sanften, weil sie die Interessen der Partei
nicht sichtbar machen konnten, geschweige denn durchsetzen. Engholm sinnierte
Privatier Lafontaine (1999)
Nachgeholte Bürgerlichkeit
gern im Lübecker Elfenbeinturm. Scharping radelte im magentafarbenen Trikot
die Berge hinauf und herzte den Sprinter
Erik Zabel nach dessen Zielankünften. Sie
waren, und wenn in Gedanken, manchmal
mehr in ihren Idyllen als bei der Sache.
Es war deshalb leichtes Spiel für Oskar
Lafontaine, Scharping von der Parteispitze
zu verdrängen. Er musste nur das Vakuum
füllen, das Scharping ließ. Er besetzte Positionen für die Partei und hielt die zünden-
den Reden. Seine Schwäche war das, was
ihn stark machte: sein Ego.
Die Alphatiere der SPD, Lafontaine,
Schröder und Müntefering, sind alle am
Ego-Paradox gescheitert. Mit der Macht
wächst das Ego, es wächst und wächst und
wird dabei immer empfindlicher. Irgendwann ist es prall und dünnhäutig wie ein
Luftballon, der bis an die Kapazitätsgrenze
aufgeblasen wurde.
Der Starke ist schließlich schwach, weil
er vieles für unzumutbar hält. Nicht mit
mir, ist ein Satz von Alphatieren. Es ist oft
der letzte Satz vor dem Rücktritt, also dem
Verlust der Stärke.
Lafontaine wollte sich Schröders pragmatischen Regierungskurs nicht mehr zumuten. Schröder wollte sich die Arbeit mit
einer widerspenstigen Partei nicht mehr
zumuten – zweimal gleich, bei seinem
Rücktritt als Parteivorsitzender und bei seiner Entscheidung für Neuwahlen. Müntefering wollte sich nicht zumuten, mit einer
Parteispitze zusammenzuarbeiten, die ihm
eine Personalie abgelehnt hatte.
So machte die SPD die seltsame Erfahrung, dass die, die der Partei am meisten
zugemutet haben, sich die Partei nicht
mehr zumuten wollten. Schröder und
Müntefering haben die SPD kujoniert wie
die Eingangsklasse einer Kadettenanstalt.
Sie haben der Partei den Reformwillen aufgezwungen, sie in der Regierungs-
BONSS / MOMENTPHOTO / IMAGO
Wahlparteitag der Sozialdemokraten (2005 in Berlin): Immer nur knapp regierbar
maschinerie verwurstet. Das war in der
Sache oft richtig, aber für den großen
Debattierverein SPD war es wie eine
Vergewaltigung. Es vergeht derzeit kaum
ein Hintergrundgespräch mit einem
Sozialdemokraten, in dem nicht irgendwann ein Seufzer der Erleichterung hörbar
wird. Es geht dann um den Stil der vergangenen Jahre, der autoritär war und
maulfaul.
Das ist die Tragik dieser Partei. Die Vorsitzenden taten manchmal genau das Gegenteil von dem, was die SPD erwartet,
zum Beispiel herrschaftsfreien Diskurs.
Die Partei und ihre Alphatiere kann
man sich vorstellen wie eine Familie. Am
Abend, wenn die Eltern ausgehen wollen,
stehen die Kinder an der Tür und flehen:
Nehmt uns mit. Die Partei will immer mitgenommen werden, bei allen Entscheidungen, allen Projekten. Schröder und
Müntefering haben die Kinder ohne Trost
stehenlassen und sind davongebraust.
Was Schröder zudem weit von seiner
Partei entfernt hat, waren die Versuchungen der Macht. Schon in seiner Kleidung
hat er sich bald dem Vorbild der Wirtschaftselite angepasst. Er fand es angenehmer, sich mit Autobossen zu treffen als
zum Beispiel mit Familie Unterschicht.
Jetzt führt er selbst ein Managerleben.
Jetzt kann er sein Einkommen auf Managerniveau treiben. Lafontaine hat es, mit
Büchern, längst geschafft und zeigt es allzu gern. Ins Saarland hat er sich eine protzige Villa gepflanzt, in der man gut und
gern einige Abteilungen des Willy-BrandtHauses unterbringen könnte. Gerade diese nachgeholte Bürgerlichkeit hat etwas
Hemmungsloses, Aufdringliches und Rück36
sichtsloses gegenüber der SPD und bei Lafontaine nun gegenüber der Linkspartei.
Doch auch bei den Sanften war der Kontakt zu den unteren Schichten der Gesellschaft nicht gerade ausgeprägt. Auch sie
ließen sich rasch in eine Politikroutine
spannen, die das Herz der SPD wenig
berücksichtigt. Auch hierfür lieferte Platzeck, trotz seiner kurzen Amtszeit, ein
symptomatisches Beispiel.
Zwei Tage vor der Wahl in RheinlandPfalz besuchte er das Jugendwerk St. Joseph in Landau. Hier lernen vor allem Jugendliche, die es schwer haben mit sich
oder der Gesellschaft, Maler, Drucker oder
Tischler. Es sind die klassischen Schützlinge der Sozialdemokraten.
Für den Maler, der sich gerade mühte,
eine Tapete streifenfrei anzumalen, hatte
Platzeck zwei Minuten. Den Drucker fragte er eine Frage: „Macht Spaß?“ Der Junge nickte, Platzeck wünschte ihm alles
Gute und ging. Über die Gärtner, die im
Treibhaus zwischen Blumen hockten, sagte er aus der Ferne: „Was für ein schöner
Anblick.“ Zu einem Gespräch kam es
nicht. Platzeck musste rasch weiter, zum
nächsten Termin im Wahlkampf. Er hatte
insgesamt 45 Minuten für St. Joseph.
In der SPD-Spitze gibt es seit langem
eine Scheu vor der eigenen Klientel. Man
wollte die Partei zur bürgerlichen Mitte
verschieben, also dorthin, wo man selbst
inzwischen angekommen war. Diese Strategie war nicht falsch, aber dabei wurden
die unteren Schichten der Gesellschaft vernachlässigt, jene, die nun kaum noch für
Politik erreichbar sind.
Wie konnte es gerade Rot-Grün zulassen, dass der Bildungsgrad der Kinder
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wieder stärker vom sozialökonomischen
Status der Eltern abhängt? Und das in einem Land, das sein Wohlstandsniveau nur
halten kann, wenn eine gebildete Arbeitnehmerschaft hochwertige Produkte herstellt. Und das in einem Land, in dem gerade die Gebildeten besonders wenig Kinder bekommen.
Also wird es bald nicht genug gebildete
Arbeitnehmer für hochwertige Produkte
geben. Daraus wird ein Auftrag für die
SPD-Führung.
Matthias Platzeck hat das erkannt,
immerhin. Er wollte erreichen, dass sich
der Staat vor allem darum kümmert, allen Kindern die Chance auf eine gute Bildung zu verschaffen. Die SPD müsste sich
komplett umorientieren. Traditionell versteht sie den Staat als Patriarchen, der sorgend eingreift, wenn es bei einem Bürger
nicht gut läuft. Nach Platzecks Vorstellungen soll der Staat schon früh dafür sorgen, dass es gut läuft. So hat er es in seinen Ideen für ein neues Programm angedeutet.
Wenn Kurt Beck klug ist, nimmt er das
auf, aber peitscht es nicht durch, sondern
nimmt die Partei mit. Denn es geht nicht
nur um ein gesellschaftliches Problem,
sondern auch um ein Problem für den
Führungsnachwuchs der SPD.
Es sind gerade die unteren Schichten,
aus denen sich der Führungsnachwuchs
der SPD rekrutiert hat. Die Kinder der Armen wollten nach oben und bildeten sich
fleißig. Wenn das nicht mehr gemacht
wird, geht die SPD unter, oder sie wird
endgültig eine bürgerliche Partei und damit
überflüssig. Denn die bürgerliche Volkspartei gibt’s ja schon.
Deutschland
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Es geht um das Signal“
Der neue SPD-Vorsitzende Kurt Beck über die Aufgabe,
seine Partei aus der 30-Prozent-Niederung zu holen, sein Bekenntnis zur
Provinz und seine Vorbehalte gegen Grüne und Linkspartei
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO
SPIEGEL: Herr Beck, was sagt denn Ihr Beck: Das ist richtig. Aber wer nicht bereit wo ein scharfer Trab auch reicht. Bei den
Hausarzt zu den Risiken und Nebenwir- ist, anderen einen Vertrauensvorschuss schwierigen Problemen, die anstehen,
kungen Ihres neuen Amtes?
einzuräumen, der wird bei der Führung ei- muss auch mal Zeit bleiben, nachdenken
Beck: Ich hoffe, dass er mich für stabil nes so heterogenen Betriebs, wie es eine und reflektieren zu können, bevor man
Partei nun mal ist, nicht weit kommen.
genug hält.
entscheidet.
SPIEGEL: Und wie stabil muss man sein für SPIEGEL: Ihr Vorgänger Platzeck hat über SPIEGEL: Die Berliner Politikszene sieht sich
den Job im Willy-Brandt-Haus?
das hohe „Berliner Tempo“ geklagt. Wollen gern als Bundesliga und schaut ein bissBeck: Der Politikerjob ist auch ohne Willy- Sie sich diesem Tempo anpassen oder glau- chen abfällig auf die herab, die im Ruf
stehen, nur in der vermeintlich gemächBrandt-Haus nicht gerade gesundheitsför- ben Sie, sich dem entziehen zu können?
dernd. Aber ich kann damit ganz gut um- Beck: Weder noch. Ich halte den Reform- lichen zweiten Liga in der Provinz zu
gehen. Wichtig ist, dass man eine saubere fahrplan der Bundesregierung in den ver- spielen.
Arbeitsstruktur findet, sonst schlägt einem einbarten Fristen für umsetzbar. Das heißt Beck: Wenn auch die Leistungen in Berlin
irgendwann alles über dem Kopf zusammen. nicht, dass ich glaube, da käme ein gemüt- immer erstligareif wären, hätte ich an dem
SPIEGEL: Hat es daran bisher in Berlin ge- licher Job auf mich zu. Ich bin kein Illu- Bild nichts auszusetzen. Außerdem finde
fehlt?
sionist, dazu bin ich schon zu lange im Ge- ich an dem Begriff Provinz überhaupt
Beck: Das kann ich nicht beurteilen. Aber schäft. Aber ich werde schon darauf ach- nichts Negatives. Ich bin und bleibe Rheinich habe bei Matthias Platzeck nie den Ein- ten, dass ich nicht anfange zu galoppieren, land-Pfälzer, und ich bin stolz darauf.
Auch wir hier können uns auf
druck gehabt, dass er Hektik
einer Rolltreppe bewegen, ohne
verbreitet. Es wäre auch leichthinzufallen.
fertig, für seine ernste Erkrankung nur den Stress verantSPIEGEL: Was ist Ihr Konzept, um
wortlich zu machen. Wenn ich
die SPD erstligareif zu halten?
ihn richtig verstanden habe,
Beck: Ganz einfach: Wir müsgab es eine Grunderkrankung,
sen ein paar Tore mehr
die sich jetzt verschärft hat und
schießen und die Abwehr besdie keine Chance zur Heilung
ser aufstellen.
hatte unter diesem Druck.
SPIEGEL: Das heißt konkret?
SPIEGEL: Sie sind jetzt der vierBeck: Wir würden gut daran
te SPD-Vorsitzende innerhalb
tun, für die Reformdiskussiovon gut zwei Jahren. Wie wolnen, die jetzt auf uns zukomlen Sie Ihrer Partei etwas mehr
men, erst mal in den ParteiKontinuität verschaffen?
gremien Eckpunkte und Spielregeln zu formulieren, damit
Beck: Zu meinem ArbeitsprinFraktion und Regierungsebene
zip gehört, dass man nicht alles
wissen, wie die Partei tickt.
selbst machen muss. Ich habe
Und ich erwarte, dass diese
fest vor, meine Stellvertreter
Spielregeln dann auch in der
und den Generalsekretär stark
Fraktions- und Regierungsarin die Arbeit und die öffentbeit berücksichtigt werden.
liche Präsenz einzubinden. Ich
bilde mir ein, dass ich genug
SPIEGEL: Das klingt sehr nach
innere Abgeklärtheit habe, um
Kritik am Arbeitsstil von Vizemich nicht sofort von äußeren
kanzler Franz Müntefering und
Einflüssen und weniger freundEx-Kanzler Gerhard Schröder.
lichen Kommentaren aus der
Beck: Es ist doch nicht alles
Ruhe bringen zu lassen. Aber
gleich Kritik, was man an eigeich rechne auch damit, dass die
nen Vorstellungen über einen
Partei selbst daran interessiert
neuen Arbeitsstil hat. Ich habe
ist, dass diese personelle Lödamit in Rheinland-Pfalz gute
sung einige Jahre trägt.
Erfahrungen gemacht und will
versuchen, das jetzt auf der
SPIEGEL: Ihr Arbeitsprinzip
Bundesebene zu praktizieren.
funktioniert in Rheinland-Pfalz,
Das ist eher meine politische
wo Sie als Ministerpräsident
Handschrift als Kritik.
eine geschlossene Partei hinter sich haben. Da sieht es in
SPIEGEL: Und damit soll die SPD
der Bundes-SPD etwas anwieder aus der 30-Prozent-Nieders aus.
Parteichef Beck: „Tore schießen und die Abwehr besser aufstellen“ derung kommen?
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Deutschland
Beck: Nicht allein damit. Die notwendigen
Veränderungen der vergangenen Jahre
mussten natürlich eine Partei wie die SPD
besonders treffen. Darauf kann man nur
reagieren, indem man immer wieder das
Gespräch mit unseren Mitgliedern und
Wählern sucht. Wir müssen bei den Reformen der Sozialpolitik klar machen, dass
wir die Situation der Betroffenen im Blick
haben.
SPIEGEL: Sie wollen wieder mehr auf die
klassische SPD-Wählerschaft zugehen, dann
aber auch die Partei für Selbständige, Ärzte und Rechtsanwälte interessant machen.
Wie soll denn so ein Spagat funktionieren?
Beck: Der muss einfach funktionieren. Für
Mittelständler, Handwerker und Freiberufler können wir mit Leitbildern von
einer aufgeklärten sozialen Marktwirtschaft und einer kulturell reichen Bürgergesellschaft attraktiv sein. Wir brauchen
diese ganze Bandbreite, zumal die klassische Arbeitnehmerschaft kleiner wird statt
größer.
SPIEGEL: Bei den letzten Wahlen hatte die
SPD vor allem das Problem, dass ihre klassische Klientel einfach zu Hause geblieben
„Wir müssen wieder dort
hingehen, wo unsere früheren
Stammwähler sind.“
ist. Wie wollen Sie diese Leute wieder erreichen?
Beck: Wir müssen wieder dort hingehen,
wo unsere früheren Stammwähler sind: in
die Betriebsversammlungen, zu den Gewerkschaften. Das funktioniert. In Rheinland-Pfalz hatten wir bei der Landtagswahl
im März einen leichten Stimmenzuwachs
bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern zu verzeichnen – trotz
WASG-Kandidatur.
SPIEGEL: In Rheinland-Pfalz setzen Sie auf
persönliche Kontakte und Volksnähe. So
etwas lässt sich aber nicht einfach auf den
Bund übertragen.
Beck: Sicher nicht eins zu eins. Aber es
geht darum, das Signal auszusenden: Wir
gucken nicht weg und schwimmen einfach
im Strom des rein ökonomischen Denkens
mit, sondern wir nehmen unsere Gesamtverantwortung ernst.
SPIEGEL: Was ist das Besondere am Mainzer
Modell, das gegen den Bundestrend absolute SPD-Mehrheiten ermöglicht?
Beck: Der entscheidende Punkt ist, dass
wir mit allen Interessengruppen reden können. Dadurch konnten wir uns zum Beispiel von den Streitereien auf Bundesebene um die Ausbildungsabgabe abkoppeln
und einfach handeln. Bei unserem Ausbildungspakt in Rheinland-Pfalz sind die
Gewerkschaften mit am Tisch geblieben,
ebenso der Mittelstand.
SPIEGEL: In Mainz haben Sie es mit einer
übersichtlichen Zahl von Interessengruppen zu tun, die konnten Sie noch an einen
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Tisch bringen und sich deshalb mit dazusetzen. Das ist doch mit dem unüberschaubaren Chor der Interessenvertreter
auf Bundesebene nicht vergleichbar.
Beck: Auch im Bund haben Sie die
Handwerksverbände, den Industrieverband, den Arbeitgeberverband. Ich sage
ja nicht, dass da immer Friede, Freude,
Eierkuchen herrschen muss, aber es hilft
nichts, wenn man Türen zuschlägt, statt
den Dialog zu suchen.
SPIEGEL: Das erste große Reformprojekt Ihrer Amtszeit wird die Gesundheitsreform sein. Wo liegen da Grenzen der
SPD, die nicht überschritten werden
dürfen?
Beck: Eine Kopfprämie wird es mit der
SPD nicht geben. Wir wollen eine faire
Balance bei der Kostenverteilung und einen diskriminierungsfreien Weg zu allen
medizinischen Errungenschaften.
SPIEGEL: Die teilweise Finanzierung des Systems durch Steuern und ein Einfrieren der
Arbeitgeberbeiträge sind nicht tabu?
Beck: Das kommt auf das Gesamtpaket an.
Wenn etwa Einkünfte aus Mieten und Zinsen ins System einbezogen werden, lässt
sich darüber reden.
SPIEGEL: Außerdem wartet auf Sie die Arbeit an dem Grundsatzprogramm. Da wollen Sie an die Vorarbeiten von Matthias
Platzeck anknüpfen.
unter 20 Prozent können wir die Republik nicht mehr zukunftsfähig gestalten,
gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der enormen
Herausforderungen im Bildungssektor.
SPIEGEL: Sie wollen also Steuern erhöhen?
Beck: Wir haben in der Koalitionsvereinbarung ja schon eine dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung beschlossen.
SPIEGEL: Diese Mehreinnahmen sind doch
schon längst verfrühstückt.
Beck: Langsam, langsam – noch haben wir
das Geld ja gar nicht. Aber wir brauchen
einfach mehr Mittel für Investitionen, sonst
droht auch die bestehende Infrastruktur
zu verfallen.
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO
Beck: Ich war an diesen Arbeiten beteiligt,
das ist also leicht.
SPIEGEL: In dem Entwurf steht, die SPD
will die Finanz- und Kapitalmärkte regulieren. Wie wollen Sie das anstellen?
Beck: Da geht es darum, etwa Hedgefonds
mit Hilfe nationaler oder besser europäischer Gesetzgebung so zu bändigen, dass
nicht mehr jeder zerstörerische Eingriff in
intakte Unternehmen als gottgegeben hingenommen werden muss.
SPIEGEL: Im Entwurf werden stetig steigende öffentliche Investitionen gefordert. Wer
soll das bezahlen?
Beck: Zunächst natürlich die Steuerzahler. Mit der aktuellen Steuerlastquote von
Beck beim SPIEGEL-Gespräch*
„Der Spagat muss funktionieren“
SPIEGEL: Beim Thema Sozialstaat ist in dem
Entwurf die Rede von Sicherheit, Teilhabe
und Orientierung, aber nicht mehr davon,
dass die SPD den sozialen Aufstieg auch
für Schwächere organisieren will.
Beck: Zunächst einmal: Das ist ein Eröffnungspapier, das ich noch überarbeiten
werde. Da wird sicher nicht jede Formulierung so bleiben, wie sie jetzt ist. Gerade
an dieser Stelle sehe ich noch einigen Klarstellungsbedarf. Was Matthias Platzeck als
„vorsorgenden Sozialstaat“ bezeichnet hat,
darf nicht so verstanden werden, als wäre
Verteilungsgerechtigkeit das einzige Merkmal. Fairer Zugang zu Bildungseinrichtungen und damit Aufstiegschancen sind genauso wichtig.
SPIEGEL: Ein neues Programm ist ganz nett,
der Erfolg eines SPD-Chefs bemisst sich
aber an Wahlergebnissen. Wie hoch liegt
da Ihre Messlatte?
Beck: Das lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Das Ziel muss sein, zu regieren –
am liebsten allein, ansonsten als Stärkster
in einer Koalition.
SPIEGEL: In Rheinland-Pfalz hatte die SPD
dieses Ziel 15 Jahre lang durch eine Koa-
„Eine Renaissance des
sozial-liberalen Modells schließe
ich ausdrücklich nicht aus.“
lition mit der FDP erreicht. Ist das ein
Modell, das Sie auf den Bund übertragen
wollen?
Beck: So wie die FDP auf Bundesebene
derzeit aufgestellt ist, sehe ich das noch
nicht. Für die Zukunft schließe ich eine
Renaissance des einst ja sehr erfolgreichen
sozial-liberalen Modells im Bund ausdrücklich nicht aus. Allerdings muss sich
die FDP dafür von einigen Positionen verabschieden. Ein Verneinen jeglicher Mitbestimmungsansprüche der Arbeiter in
Unternehmen etwa kommt mit der SPD
einfach nicht in Frage.
SPIEGEL: Gegenüber den Grünen scheinen
Ihre Berührungsängste größer zu sein.
Beck: Das wird mir gern nachgesagt. Das
galt auch viele Jahre gegenüber den rheinland-pfälzischen Grünen, hat aber nichts
* Mit den Redakteuren Dirk Kurbjuweit, Matthias Bartsch
und Horand Knaup.
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Deutschland
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Harter Strich
Jens Bullerjahn soll Stellvertreter
von Kurt Beck als SPDChef werden. Der Ingenieur gilt
in seiner Heimat SachsenAnhalt als unbequemer Sanierer.
W
enn über die Flure der SPD-Fraktion im ersten Stock des Magdeburger Landtags Led Zeppelin
schallt, dann ahnen die Angestellten: Der
Chef lernt mal wieder. In solchen Momenten sitzt Jens Bullerjahn, 43, in seinem
Büro über langen Zahlenreihen und liest
sich ein in die Feinheiten des Finanzressorts. Dabei mag er es hart und laut.
Seit der Landtagswahl im März, bei der
die SPD 21,4 Prozent der Stimmen holte,
arbeiten die Magdeburger Genossen auf
ROLF H. SEYBOLDT / SEYBOLDT-PRESS
mit Grundabneigungen zu tun. Ich erwarte allerdings von einem Partner, dass
er sich der Gesamtverantwortung stellt.
Wenn in einem Land wie RheinlandPfalz 616 Militäreinrichtungen aufgegeben werden, muss ich handeln und ganz
schnell Arbeitsplätze schaffen. Da kann
ich nicht über Monate darüber reden, ob
die Schafzucht mit linksbeinigen australischen Bergschafen auch eine Alternative
wäre.
SPIEGEL: Die Bundes-Grünen sind verlässlicher?
Beck: Zum Teil. Da gibt es eine Reihe von
Leuten wie Reinhard Bütikofer, mit denen
ich gern rede. Mir sind allerdings auch
schon andere begegnet. Mit dem früheren
Umweltminister Jürgen Trittin hätte ich
große Probleme.
SPIEGEL: Es könnte sein, dass die SPD für
die nächste Kanzlerschaft auf die Stimmen
der Linkspartei angewiesen ist.
Beck: Solange ich Vorsitzender der SPD
bin, schließe ich eine Koalition mit der
Linkspartei aus. Zumindest bei uns im
Westen der Republik ist das eine Zusammenkunft von ehemaligen Sektierern und
Leuten, mit denen ich nichts am Hut habe.
SPIEGEL: Was muss ein guter SPD-Kanzlerkandidat mitbringen?
Beck: Politische Erfahrung, Unterstützung
durch die Partei, eine politische Persönlichkeit. Und schon mal eine Wahl gewonnen zu haben ist sicher kein Nachteil.
SPIEGEL: Trifft ja alles auf Sie zu.
Beck: Das trifft auf viele Leute zu. Ich habe
aber immer gesagt, dass der oder die Parteivorsitzende der oder die Erste ist, der
gefragt wird. Aber die Entscheidung fällt
erst in zwei, drei Jahren.
SPIEGEL: Der letzte SPD-Kanzler sorgt
gerade für Unruhe, weil er in den Aufsichtsrat eines Unternehmens wechselt,
dem er in seiner Amtszeit zu einem Geschäft verholfen hat. Halten Sie das für
sauber?
Beck: Wenn ich die gleiche Entrüstung erlebt hätte, als Helmut Kohl seine Deals mit
Leo Kirch gemacht hat, würde ich Ihre
Empörung über Gerhard Schröders Übereinkunft mit Gasprom herzlich gern teilen. So aber halte ich das für eine etwas
künstliche Aufregung.
SPIEGEL: Hätten Sie’s gemacht?
Beck: Als ich Bürgermeister war, habe ich
in meiner Gemeinde kein Grundstück gekauft. Und solange ich Ministerpräsident
eines Landes bin, kaufe ich keine Aktie,
weil nie ganz auszuschließen ist, dass man
über eine Bürgschaft entscheiden muss,
von der diese Firma dann in irgendeiner
Form betroffen ist. Meine Steuererklärung
liegt jedes Jahr für Journalisten in der
Staatskanzlei zur Einsicht aus. Aber das
sind meine persönlichen Maßstäbe, und
das ist mein Stil. Über andere will ich nicht
richten.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Designierter SPD-Vize Bullerjahn
Links und rechts sind nicht mehr wichtig
eine Große Koalition an der Elbe hin. Und
Spitzenkandidat Bullerjahn soll in dieser
als stellvertretender Ministerpräsident und
Finanzminister mit deutlichen Schnitten
die klamme Kasse des Landes sanieren.
Es wird nicht die einzige Baustelle des
Ingenieurs bleiben – als einer von fünf
stellvertretenden SPD-Vorsitzenden soll
Bullerjahn künftig Sprachrohr des Ostens
sein und die Partei an der Seite von Kurt
Beck in die überfällige Programmdiskussion führen.
Den auf Bundesebene weithin unbekannten Sachsen-Anhalter – bis dato war
er nur einer von 37 Beisitzern im Bundesvorstand – hatte Beck selbst ins Gespräch
gebracht. Bullerjahn ist ein Quereinsteiger
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in die Politik, wie es sie im Osten häufig
gibt. Er war 27 und parteilos, als die DDR
zu wanken begann. In Eisleben ging der
Atheist Bullerjahn zu den Friedensgebeten – der Pfarrer dort war Kontaktmann
zur neugegründeten Sozialdemokratischen
Partei. Noch im Oktober 1989 wurde Bullerjahn Mitglied, kurz darauf fand er sich
am Runden Tisch wieder, er wurde Gemeinderat, saß im Kreistag und zog sofort
in den neu konstituierten Landtag ein.
Bereits nach drei Jahren wählte die Fraktion den Youngster zum Parlamentarischen
Geschäftsführer – von 1994 an brachte es
Bullerjahn in diesem Amt gar bundesweit
zu etwas Bekanntheit: Der Genosse gilt als
einer der Architekten des umstrittenen
„Magdeburger Modells“, bei dem sich die
SPD-geführte Minderheitsregierung von
der PDS tolerieren ließ. Bullerjahn kungelte mit dem PDS-Geschäftsführer Wulf Gallert die Strategie aus; als „Plisch und Plum“
zogen die beiden die Strippen.
Die schwere Wahlschlappe 2002, bei der
die SPD nur noch auf 20 Prozent kam, besiegelte des Ende des Modells – und eigentlich auch das Ende von Bullerjahns
Karriere. In den eigenen Reihen wegen der
Niederlage umstritten, behielt er zwar sein
Amt als Geschäftsführer, zog sich aber immer weiter aus der Tagespolitik zurück.
Zwei Jahre beriet er sich im Hintergrund
mit Wissenschaftlern und Wirtschaftsleuten. 2004 gab er dann die Studie „SachsenAnhalt 2020. Einsichten und Perspektiven“
heraus. Bullerjahn sagte einen drastischen
Schwund der Bevölkerung voraus – wozu
nicht viel gehörte. Seine Therapievorschläge allerdings waren mit hartem Strich
gezeichnet: Er verlangte einen rabiaten
Sparkurs, Stellenabbau im Öffentlichen
Dienst, auch die Fusion mit Thüringen und
Sachsen hielt er für nötig.
Bullerjahn war plötzlich wieder da, und
ein Zufall brachte ihn nach oben. SPDLandes- und Fraktionschef Manfred Püchel
legte im Sommer 2004 alle Ämter nieder –
Bullerjahn wurde Fraktionschef und Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2006.
Ende letzten Jahres beerbte er Matthias
Platzeck als Chef des SPD-Forums „Ostdeutschland“.
Mit der Linkspartei hat der Genosse inzwischen gebrochen. „Diese Partei gibt
sehr einfache Antworten“, ist Bullerjahn
aufgegangen. SPD und Linkspartei hätten
sich immer weiter auseinanderentwickelt.
Die Sozialdemokraten, so seine Erkenntnis, müssten jetzt zunächst ihren Standort
bestimmen, bevor sie sich mit Lafontaines
Truppen beschäftigen. Er wünsche sich dabei eine möglichst ideologiefreie Diskussion in der Partei; das Land habe Probleme, die seien zu lösen. Die Begriffe „links“
und „rechts“ seien da nicht mehr wichtig
– einem Politiker, der schon aus schierem
Pragmatismus sein eigenes Bundesland
quasi auflösen wollte, kann man so etwas
vielleicht sogar glauben.
Steffen Winter
Deutschland
Riskante Doppelstrategie: Offiziell
umschmeichelt die Kanzlerin die
USA mit Freundschaftsbekundungen,
intern übt sie harsche Kritik
an der amerikanischen Regierung.
G
eorge W. Bush könnte glauben, in
Deutschland lebten zwei verschiedene Angela Merkels. Die eine tritt
im Fernsehen auf und spricht würde- und
weihevoll von den deutsch-amerikanischen
Beziehungen. Das unter ihrem Vorgänger
Gerhard Schröder arg ramponierte Verhältnis wolle sie rasch wieder aufpolieren.
Die andere Angela Merkel klingt forscher und fordernder. So erlebt sie der
US-Präsident fast wöchentlich am Telefon. Und demnächst wird die Kanzlerin
ihn bereits zum zweiten Mal innerhalb ihrer noch kurzen Amtszeit im Weißen Haus
besuchen.
Die Wunschliste der deutschen Regierungschefin ist lang und wird mit jedem Tag
länger. Sie verlangt Akzentverschiebungen
in der Iran- und Russland-Politik, und auch
der laxe Umgang des Präsidenten mit der
indischen Nuklearmacht missfällt ihr.
Am Montag voriger Woche diskutierten
Bush und Merkel 35 Minuten lang die
komplizierte Weltlage. Die Dame aus Berlin sparte nicht mit guten Ratschlägen, hinter denen sie ihre Kritik an der Außenpolitik der USA versteckt.
Washington möge sich doch bitte direkt
in den Streit um das iranische Atomprogramm einschalten, warb die Kanzlerin,
die den Präsidenten auf seiner Ranch erreicht hatte. Ohne dessen Zutun werde sich
der Atomkonflikt wohl kaum entspannen.
Wiederholt hatte Bush das Ansinnen, in
eine direkte Kommunikation mit dem Regime in Teheran zu treten, abgelehnt. Auch
seine Außenministerin Condoleezza Rice
erläuterte kürzlich in Berlin die zögerliche
Position der Amerikaner. Schon da hielt
Merkel freundlich, aber bestimmt dagegen.
Noch ein anderer Punkt war der Kanzlerin in dem Telefonat mit Bush wichtig.
Die Vereinigten Staaten seien gut beraten,
sagte sie, eine Konfrontation mit Moskau
zu vermeiden. Man brauche die russische
Großmacht, um die Führung in Teheran
zum Einlenken zu bringen. Der G8-Gipfel,
der im Juli unter russischer Regie in St. Petersburg stattfinde, und besser noch die gesamte G8-Präsidentschaft der Russen müssten ein Erfolg werden. Amerika sollte alles
tun, so Merkel, den Russen dabei zu helfen.
Bushs Sicherheitsberater, der zu dem
Gespräch dazugeschaltet war, weiß mitt42
JOSÉ GIRIBAS
Merkels
Wunschliste
Washington allerdings leidet immer noch an seinem
Trauma von 1979, als iranische Studenten nach dem
Sturz des US-freundlichen
Schahs 444 Tage lang die
amerikanische Botschaft besetzt hielten. In der neuen
„National Security Strategy“ rangiert Iran als
„größte Bedrohung für die
USA“.
Die Bush-Administration
setze auf einen Regierungswechsel in Iran, fürchtet
man in Berlin und nimmt inzwischen kein Blatt mehr
vor den Mund. „Je besser
man sich versteht, desto offener kann man sein“, sagt
Ruprecht Polenz (CDU),
Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und ein
Vertrauter Merkels.
Partner Merkel, Bush*: Forsch und fordernd
Mittlerweile setzt sich die
Kanzlerin auch halböffentlich von den Freunden in
Übersee ab. Vor dem Auswärtigen Ausschuss in Berlin zeigte sie Verständnis für
die von den USA gerade in
den letzten Monaten gescholtenen Russen. Sie lobte Putins Verdienste um
die „Wiederherstellung der
Staatlichkeit“ im chaotischen Russland Ende der
neunziger Jahre. Und dass
die Privatisierungen nicht
hätten übertrieben werden
dürfen, fand sie auch. Das
würde nur im „Ausverkauf“
an amerikanische ÖlinteresMinister Steinmeier, Präsident Putin*: Den Russen helfen
sen münden.
Den Atom-Deal der Amerikaner mit der
lerweile um die Hartnäckigkeit der Berliner Regierungschefin. Er bekam we- „Weltmacht Indien“ (Bush) sehen die
nige Stunden nach dem Telefonat die Deutschen ebenfalls kritisch. In einem Tegleiche Botschaft noch einmal persönlich lefonat vor einigen Wochen, das der Vorbereitung von Bushs Indien-Visite diente,
serviert.
Bei seinem Besuch im Weißen Haus drängte Merkel auf mehr Zurückhaltung
drängte Außenminister Frank-Walter Stein- gegenüber Neu-Delhi. Was man diesem
meier die Amerikaner zu direkten Ge- Land gestatte, lasse sich schwer den Irasprächen mit Teheran. Wenn eine US-De- nern verweigern, war ihr Argument.
Teheran könne das amerikanische Techlegation – wie geplant – mit Iran über die
Zukunft des Nachbarlands Irak rede, kön- telmechtel mit Indien als Beispiel anne man doch auch gleich über das bren- führen, dass Washington mit zweierlei
nendste Thema der internationalen Poli- Maß messe, sagte auch Steinmeier bei seitik sprechen, den nuklearen Ehrgeiz Tehe- nen Gesprächen im US-Kongress. Bevor
Deutschland und andere Lieferstaaten von
rans, so seine Vorstellung.
Merkel und Steinmeier fürchten, dass Nukleartechnologie entschieden, ob sie
allein diplomatischer Druck nicht ausrei- den amerikanisch-indischen Pakt gutchen werde, um Teheran zum Einlenken hießen, solle sich zuerst der US-Kongress
zu bringen. Iran wolle Sicherheitsgarantien die Sache gründlich anschauen.
Die deutsche Kritik hatte Wirkung. Bei
und die Anerkennung seines Status als Regionalmacht, doch diese Erwartungen kön- einer Anhörung las die demokratische Senatorin Barbara Boxer genussvoll Steinne nur die Supermacht USA erfüllen.
meiers Aussagen vor. Außenministerin
Rice starrte ausdruckslos ins Leere.
* Oben: am 13. Januar im Weißen Haus in Washington;
BPA / ULLSTEIN BILDERDIENST
AU S S E N P OL I T I K
unten: am 3. Dezember 2005 im Moskauer Kreml.
d e r
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Ralf Beste, Georg Mascolo
Deutschland
Minister Steinbrück
RALPH SONDERMANN
„Die Gesundheitsreform braucht Reifezeit“
REFORMEN
Soli mit
Nebenwirkung
Ein milliardenschwerer
Steueraufschlag soll die Krankenkassen sanieren.
Finanzminister Peer Steinbrück hält
die Idee für verfassungswidrig.
P
eer Steinbrück hatte das Gefühl, sich
guten Gewissens in den Osterurlaub
verabschieden zu können. In zahlreichen Einzelgesprächen hatte der Finanzminister seinen Kabinettskollegen das
Versprechen abgenommen, ihn bis auf
weiteres nicht mit Ausgabenwünschen zu
behelligen. Vor allem den Sozialpolitikern
trichterte er ein, dass mit zusätzlicher
Staatsknete nicht zu rechnen sei.
Doch der Minister täuschte sich. Die
österliche Vorfreude verdarben ihm ausgerechnet zwei hochkarätige Koalitionsfreunde in trautem Zusammenspiel, Unionsfraktionschef Volker Kauder und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Der eine
präsentierte öffentlich seine Idee, frische
Milliarden in das Krankenkassensystem
zu pumpen. Die andere nahm die Steilvorlage dankbar auf: Sie begrüße den Vorschlag, ließ Ulla Schmidt postwendend
mitteilen.
Es geht um die Reform des maroden Gesundheitswesens – und wieder einmal soll
der Weg des geringsten Widerstands gegangen werden: Eine Steuererhöhung soll
es richten. Mindestens 14 Milliarden Euro
will Kauder den Bürgern im kommenden
Jahr zusätzlich abnehmen.
Der Unionsfraktionschef, als Gesundheitsexperte bislang nicht groß in Erscheinung getreten, weiß auch schon wie. Er
präferiert, wie etliche andere Vertreter
der Großen Koalition, das Modell des sogenannten Gesundheitssoli. Hinter dem
putzigen Begriff verbirgt sich eine neue
Zwangsabgabe, die den Solidarzuschlag
zur Finanzierung der deutschen Einheit
weit übersteigt. Kauder möchte, dass jeder Bürger auf seine Steuerschuld einen
44
d e r
zusätzlichen Aufschlag von acht Prozent
entrichtet.
Steinbrück ist strikt dagegen. Öffentlich
hält er sich zurück. Doch intern steht sein
Urteil fest. Der neue Soli wäre ein Anschlag auf die Konjunktur, fürchtet er, zumal die Koalition schon eine Mehrwertsteuererhöhung beschlossen hat. Außerdem würde er den Reformdruck aus dem
maroden Krankenversicherungssystem
nehmen. Erst einmal soll die Krankenversicherung saniert werden, bevor er frisches
Geld geben will.
Steinbrück ist zwar auch der Ansicht,
die Sozialversicherungen sollten stärker
durch Steuermittel finanziert werden, aber
nicht jetzt – und erst recht nicht so. Er hält
Kauders Idee für grundgesetzwidrig.
Dabei stützt sich der Minister auf eine
Expertise seiner Fachleute. Die Juristen im
Finanzressort haben ihrem Minister klipp
und klar zu verstehen gegeben, dass ein zusätzlicher Soli sich „verfassungsrechtlich
eindeutig im roten Bereich“ befände. Sie
berufen sich dabei auf den „Bonner Kommentar“, die Juristenbibel zur Auslegung
des Grundgesetzes. Demnach handelt es
sich beim Soli, der allein dem Bund zusteht,
um eine sogenannte Ergänzungsabgabe,
und die dürfe nicht beliebig erhöht werden.
Sie müsse „in einem angemessenen Verhältnis zur Einkommen- und Körperschaftsteuer“ stehen. Andernfalls verstoße
sie gegen das „Aushöhlungsverbot“, das
vor allem die Bundesländer vor einer allzu
trickreichen Bundesregierung schützen soll.
Nach Einschätzung des Finanzministeriums liegt die zulässige Obergrenze bei
10 Prozent. Die Zugabe für den Aufbau
Ost und der Gesundheitssoli würden sich
jedoch auf 13,5 Prozent summieren.
Öffentlich steht der Unionsfraktionschef
mit seinem Vorschlag ziemlich allein da.
Von „Kauder-Welsch“ war die Rede. Auch
Bundeskanzlerin Angela Merkel, zum Urlaub auf der italienischen Ferieninsel
Ischia, war alles andere als amüsiert.
Gleich zweimal griff sie zum Telefon, um
Kauder aus der Ferne zur Rechenschaft zu
ziehen. Hörbar angesäuert wollte sie wissen, was ihn geritten habe, den Vorschlag
öffentlich auszuplaudern.
Nun sehen sich jene bestätigt, die von
Anfang an nicht verstehen konnten, warum ausgerechnet Steinbrück nicht zu den
Reformverhandlungen hinzugeladen war.
Schließlich sei er es, der am Ende für die finanziellen Folgen geradestehen muss.
Allzu hart mochte der Finanzminister
den Kollegen von der Union allerdings nicht
angehen. „Die Gesundheitsreform braucht
Reifezeit“, gab er staatsmännisch zu Protokoll. Deshalb rate er allen Beteiligten zu
mehr Selbstdisziplin – „auch in nachrichAlexander Neubacher,
tenarmer Zeit“.
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Christian Reiermann
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ANDREAS FISCHER
Tatort in Kassel: „Eure Polizei wird den Fall nicht lösen“
VERBRECHEN
Die Spur der Ceska
In einer beispiellosen Mordserie wurden neun eingewanderte
Kleinunternehmer mit derselben Pistole getötet. Doch Landsleute und Familien schweigen – wohl aus Angst vor den Killern.
A
lles ist wie jeden Tag im Demokratischen Kulturverein im Kasseler
Norden. Nichts deutet darauf hin,
dass vor wenigen Tagen nur drei Häuser
entfernt im türkischen Internet-Café ein
Mann ermordet wurde. Ein älterer Türke
blättert in einer Zeitung. Über die Schüsse von nebenan will er keinesfalls reden.
Doch in einem ist sich der Gast sicher:
„Eure Polizei wird den Fall nicht lösen.“
Der „Fall“ – das ist die unheimlichste
Mordserie Europas.
5
3
Hamburg
Rostock
Dortmund
8
9
Und danach, dass deutsche Ermittler diesen Fall bald aufklären werden, sieht es
tatsächlich nicht aus: Seit mehr als fünf
Jahren ziehen mysteriöse Killer eine blutige Spur durch Deutschland. Neun Männer, meist Inhaber kleiner Läden, wurden
regelrecht hingerichtet – nach gleichem
Muster, in Nürnberg, Hamburg, München,
Rostock, Dortmund und Kassel: immer
durch Schüsse in den Kopf, am helllichten
Tag, an belebten Straßen. Acht Deutschtürken waren es und ein Grieche. Er-
Tödliche Schüsse
schossen mit einer Ceska, Typ 83, Kaliber
7,65 Millimeter.
Monate oder Jahre lagen manchmal zwischen den Morden, doch vergangene Woche erhöhten die Täter plötzlich die Schlagzahl: Am Dienstag töteten sie einen Kioskbetreiber in Dortmund – und schon am
Donnerstag darauf den jungen Inhaber des
Internet-Cafés in Kassel. Die Nürnberger
„Soko Bosporus“ ermittelt auf Hochtouren
und kommt doch nicht voran.
Dabei ging der Killer bei seinem letzten
Attentat in Kassel ein hohes Risiko ein: Er
betrat das Internet-Café an der Holländischen Straße, obwohl mindestens drei Gäste
dort im Web surften und eine Polizeiwache
nur rund hundert Meter entfernt liegt. Kurz
nach 17 Uhr starb der 21-jährige Halit Y.
durch zwei Schüsse aus der Ceska, beide
trafen ihn in den Kopf. Einer der Gäste will
nur einen dumpfen Knall gehört haben,
doch habe er sich gar nichts dabei gedacht.
Das Geld für das eigene Café hatte sich
Halit vor kurzem von seinem Vater geliehen. Wie die anderen acht Männer vor ihm
wurde er nicht ausgeraubt. „Was sollte man
da auch holen“, sagt ein Freund, „der Halit hatte doch nicht viel.“
Fleißig, unauffällig, gut integriert – so
waren fast alle Opfer der Mordserie, die im
September 2000 in Nürnberg begann.
Enver S., Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern, war der Erste. Er
stand mit seinem Blumen-Mobil am Vormittag des 9. September 2000 an einer Ausfallstraße in Nürnberg-Langwasser. S., 38,
vertrat einen Kollegen, der an dem Tag
Urlaub wollte. Am Nachmittag fand man
S. im Wagen, von Kugeln durchsiebt.
Neun Monate vergingen, bis es Abdurrahim Ö. traf. Der 49-Jährige war geschieden, lebte in Nürnberg-Steinbühl in einer
alten Ladenwohnung. Er war Schneider,
Die Opfer der Mordserie
1
2
3
4
Enver S. (38)
Abdurrahim Ö. (49)
Süleyman T. (31)
Habil K. (38)
9. September 2000
13. Juni 2001
28. Juni 2001
29. August 2001
7
8
9
Kassel
1 2 6
Nürnberg
46
5
6
Yunus T. (25)
Ismail Y. (50)
Theodorus B. (41)
Mehmet K. (39)
Halit Y. (21)
25. Februar 2004
9. Juni 2005
15. Juni 2005
4. April 2006
6. April 2006
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H ÜRRI Y ET
4 7
BAY ERNP RE SS. D E
München
BAYERNPRESS.DE
Deutschland
Tatort in Nürnberg: „Wir haben Angst“
seit langem in Deutschland. Tagsüber stand
er bei Siemens am Band, abends besserte
er für ein paar Euro Kleider aus. Am Nachmittag des 13. Juni 2001 hörten Nachbarn
einen Streit, angeblich waren zwei osteuropäisch wirkende Männer bei Ö. Wenig
später lag der Schneider tot auf dem fleckigen PVC-Boden hinter dem Schaufenster,
mit zwei Kugeln aus der Ceska im Kopf.
Süleyman T., 31, wurde nur wenige Tage
später, am 28. Juni, von seinem Vater
gefunden. Der Obst- und Gemüsehändler
arbeitete im eigenen Laden in HamburgBahrenfeld. Kurz hintereinander hatte man
ihn mit zwei Waffen – eine war die Ceska
– dreimal in den Kopf geschossen. Spätestens jetzt war den Ermittlern klar: Die Morde haben System, die Waffe ist das verbindende Element. Nur: Wo ist ein Motiv, das
zum Killer führen könnte?
Ende August waren die Mörder zurück
in Bayern: Am 29. August starb Habil K.
durch zwei Kopfschüsse in seinem Gemüsegeschäft in München-Ramersdorf. Passanten glauben, sie hätten einen ausländischen
Mann mit Schnurrbart weglaufen und in
ein dunkles Auto steigen sehen.
Danach war erst mal Ruhe. Zweieinhalb
Jahre gab es keine Spur mehr von der Ceska und auch keinen solchen Mord in
Deutschland. Doch am Morgen des 25. Februar 2004 bekam der 25-jährige Yunus T.
in einem Rostocker Dönerstand Besuch.
Wieder war es ein Kopfschuss, wieder aus
der Ceska. Bis heute ist unklar, ob T. verwechselt wurde. Denn er war erst seit ein
paar Tagen in Rostock, der Besitzer des
Dönerstandes soll ihn an diesem Morgen
zum Aufsperren vorausgeschickt haben, er
selbst habe noch Gemüse kaufen wollen.
Es verging mehr als ein Jahr – doch dann
gab es eine neue Spur: Am 7. Juni 2005
50
Tschechische Ceska 83
Bewusst gelegte Spur?
rollte ein schwarzer Van langsam auf einen
fast verlassenen Parkplatz in Nürnberg,
zwischen dem Wöhrder See und einer
Hochhaussiedlung. Zwei Tage stand das
Auto dann dort, man sah es aus den Fenstern der Mietwohnungen. Aber niemand
merkte sich Kennzeichen oder Marke.
Erst Donnerstagvormittag erschienen
zwei junge Männer auf Fahrrädern, sie luden die Räder und dunkle Rucksäcke in
den Transporter, stiegen ein, das Auto verschwand. Alles ging ziemlich schnell und
hinterließ bei den Nachbarn ein merkwürdiges Gefühl – denn es war noch keine
Saison für Ausflügler und der See zum
Schwimmen viel zu kalt.
Doch die beiden Männer wollten nicht
ins Grüne, sie hatten einen Job erledigt.
Mit gezielten Schüssen hatten sie Ismail Y.,
50, in seinem Dönerstand an der Scharrerstraße getötet, kurz bevor Kids aus der
benachbarten Schule in der Pause bei
„Onkel Y.“ Snacks kaufen konnten.
Bauarbeiter hatten zur selben Zeit zwei
Radfahrer beobachtet: Sie standen an einer
Litfaßsäule, studierten einen Stadtplan.
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Dann stellten sie ihre Räder direkt vor Y.s
Stand ab, gingen hinein, kamen rasch
zurück und steckten eilig einen Gegenstand in den Rucksack. Die Augenzeugen
erinnerten sich so gut an die beiden Radfahrer, dass es von den mutmaßlichen
Tätern nun endlich ein Phantombild gab –
sie sehen sich ähnlich wie Zwillingsbrüder.
Sechs Tage später töteten Unbekannte
im Münchner Westend den Griechen Theodorus B., 41, der gerade einen Schlüsseldienst eröffnet hatte. Wieder die Ceska,
wieder der Kopf. B. hatte viele türkische
Freunde. Und er sollte nicht der Letzte
sein: Mehmet K., 39, hörte am Dienstag
vergangener Woche wohl noch die Türglocke seiner kleinen Trinkhalle an der
belebten Dortmunder Mallinckrodtstraße
bimmeln, dann fielen Schüsse.
Es scheint, als legten die Täter bewusst
eine Spur in diesem grausamen Spiel: die
Ceska. Die Waffe und das brutale Vorgehen sind es, die die Soko sicher sein lassen:
Die Schützen sind Profis. Vermutlich handeln sie im Auftrag einer internationalen
Organisation.
Doch was der Polizei fehlt, ist das Motiv.
Denn zwischen den Opfern gibt es offenbar keinerlei Berührungspunkte. Keiner
der Männer war politisch oder religiös aktiv, es gibt keine Hinweise auf Drogen,
Schmuggel oder Geldwäsche. Es gibt keine
Kontakte zur Unterwelt, keine Spiel- oder
Wettsucht, keine verdächtigen Verbindungen ins Ausland. Für Schutzgelderpresser
waren ihre Umsätze viel zu gering. Mehr
als tausend Spuren, die die Polizei verfolgte, führten ins Leere.
Wem waren die Händler so gefährlich
geworden, dass sie sterben mussten? Wer
wollte sich an ihnen rächen und wofür?
Einige Ermittler glauben, dass Familien
oder Freunde teilweise Antworten auf diese Fragen geben könnten. Aber die sagen
nur das Nötigste: Ehefrauen wollen sich um
Geschäfte nie gekümmert haben, Freunde
schildern die Bekanntschaften auf einmal
als eher zufällig. Auch bei der Familie eines
Nürnberger Opfers wollte niemand reden,
eine junge Verwandte sagte nur: „Wir wissen nichts, aber wir haben ziemlich Angst.
Wer weiß, was noch passiert.“
Angst haben sie jetzt alle, doch es sind
womöglich nicht immer nur die diffusen
Ängste vor einem Phantom mit einer
tschechischen Automatik-Pistole. Irgendeine Beziehung zwischen Ermordeten und
Mördern müsse es geben, glauben Fahnder, und eine vage Ahnung bei deren
Landsleuten. Aber so groß die Angst auch
sein mag – niemand weiht die Polizei ein.
Die schwer durchdringbare Parallelwelt
der Türken schützt die Killer. Soko-Leiter
Wolfgang Geier bekannte, durch die Ermittlungen sei den Beamten bewusst geworden, „wie wenig die Polizei eigentlich
über ausländische Bevölkerungsteile und
ihre Mentalität in unserem Lande weiß“.
Guido Kleinhubbert, Conny Neumann
GREGOR SCHLÄGER.DE (L.); LORENZ / BILD ZEITUNG (R.)
Polizeiwache Uelzen, Beamter O.: „Für mich ist dieser Fall auch in zehn Jahren nicht vorbei“
JUSTIZ
Todesfahrt des Kommissars
Ein Polizist betrinkt sich auf der Wache und überfährt einen Jungen.
Dessen Tod löst bis heute heftigste Reaktionen aus: Wut,
Verzweiflung und den Wunsch nach Rache. Von Bruno Schrep
E
s passierte in einer Sekunde. Ein
Aufprall, ein Krachen, splitterndes
Glas. Eine Sekunde, die Unglück gebracht hat über zwei Familien.
Eine Sekunde, deren Ursachen und
Folgen das Vertrauen vieler Menschen erschüttert haben: in die Polizei, in die Justiz,
in die Verwaltung.
1999 baute ein schwerbetrunkener Polizist
nahe dem niedersächsischen Uelzen einen
tödlichen Verkehrsunfall. Die Kollegen des
Beamten hätten das womöglich verhindern
können, die Justiz behandelte ihn milde, der
Mann bekommt nun eine Pension – und die
Verwaltung schaffte es erst jüngst, das Disziplinarverfahren gegen ihn abzuschließen.
Tatsache ist: Was in dieser Sekunde passierte, war nicht allein Ergebnis eines
schicksalhaften Zufalls, einer Verkettung
unglücklicher Umstände. Das Unheil kündigte sich lange vorher an.
Polizeiinspektion Uelzen, Ende der
neunziger Jahre. Hier arbeitet Kriminaloberkommissar Klaus-Henning O., er ist
zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Der gut-
Schüler Patrick
33 Meter weit geschleudert
52
aussehende Mittvierziger organisiert Pressekonferenzen, schreibt Meldungen für die
Lokalzeitungen, beschwichtigt Bürger, die
sich über zu rabiate Polizeikollegen beschweren. In Uelzen und Umgebung kennt
ihn fast jeder. Bei Auftritten in Schulen
beschwört er die Schüler, niemals bei Rot
über die Straße zu gehen. Die Eltern mahnt
er, streng darauf zu achten, dass ihre Kinder keine illegalen Drogen konsumieren.
Doch der Mahner und Warner, ehrgeizig, sensibel, hat selbst Probleme. Fühlt
sich bei Beförderungen übergangen, findet, dass seine zahlreichen Einsätze abends
und an Wochenenden viel zu wenig gewürdigt werden. Glaubt sich von seinen
Vorgesetzten ungerecht behandelt.
Eine chronische Erkrankung, ausgelöst
durch Stress, zwingt den Oberkommissar
zur Einnahme starker Medikamente, macht
mehrmonatige Kuren notwendig, Schlafstörungen und Kopfschmerzen kommen
hinzu. Immer öfter trinkt der Familienvater,
der mit Ehefrau und zwei schulpflichtigen
Söhnen in einem winzigen Nest in der
Lüneburger Heide wohnt, Alkohol. Und er
trinkt zu viel.
Nach feuchtfröhlichen Feiern muss der
Polizist mehrfach nach Hause gebracht
werden. Zwei Kollegen, unterwegs auf
Funkstreife, entdecken ihn eines Abends
sturzbetrunken am Steuer seines parkenden Autos; der Kommissar kann weder
aufrecht gehen noch deutlich sprechen.
Kein Kollege hält es offenbar für nötig,
den Personalrat über den Alkoholkonsum
des Familienvaters zu informieren, kein Vorgesetzter schreitet ein. „Ich gehe davon aus,
dass Polizeibeamte mit Alkohol umzugehen
wissen“, sagt der damalige Inspektionsleiter.
Gelegenheiten zum Trinken gibt es genügend: Zu Geburtstagen, Jubiläen oder
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Urlaubsbeginn wird auf der Polizeidienststelle gebechert, manchmal ein- bis zweimal
im Monat. Oberkommissar O. ist meistens
mit dabei, langt dann, wie sich Kollegen
erinnern, stets kräftig zu.
Ein paar Kilometer weiter, in einem
Nachbarort, wohnt seit kurzem die siebenköpfige Familie Schüssler. Vater Ingo,
Fensterputzer aus Uelzen, hat das zweistöckige Haus in der Heide gekauft, so
kann jedes der fünf Kinder in einem eigenen Zimmer wohnen. Mutter Veronika
putzt täglich Büros, damit das Geld für die
Hypothekenzinsen reicht.
Sohn Patrick, der Zweitjüngste, ist ein
netter, freundlicher Junge. Der 14-Jährige,
hellblond, groß für sein Alter, kann zwar
zu Hause noch ganz kindlich sein, wirkt
aber im Freundeskreis oft keck bis vorlaut.
Patrick wird von Gleichaltrigen bewundert, weil er sich traut, mit einem älteren
Mädchen anzubändeln. Und beneidet, weil
er öfter von zu Hause wegbleiben darf als
andere.
In der Hauptschule tut sich der Junge
schwer. In Mathematik und Englisch ist er
schlecht, in Deutsch auch nicht viel besser.
Auf dem Fußballplatz gilt er dagegen als
Ass, der Jugendspieler des VfL Suderburg
wird sogar in die Kreisauswahl berufen.
Am 9. September 1999, einem strahlenden, wolkenlosen Spätsommertag, schwänzt
der 14-Jährige das Training. Er trifft sich
lieber mit der Freundin, danach mit Marcel, seinem besten Freund. Gegen 20.30
Uhr hat es Patrick plötzlich eilig.
Die Eltern haben ihm verboten, im Dunkeln nach Hause zu fahren, und es dämmert bereits. Sein Rad, ein Mountainbike,
hat kein Licht, nur Reflektoren an den
Speichen. Aber es sind ja nicht mehr als
zwei Kilometer bis nach Hause.
Oberkommissar O. plagt an diesem Tag
großer Ärger. Sein Chef wirft ihm vor, zu
wenige Nachtdienste zu leisten, schreit ihn
an. Nach einer Konferenz, die sich endlos
hinzieht, muss O. nach kurzer Mittagspause
zu einem Notfalleinsatz. Als er gegen 17
Uhr ins Uelzener Revier zurückkehrt, gereizt und gekränkt, sucht er ein Ventil.
Da passt es, dass ihn ein Kollege zu einer
Flasche Whisky einlädt, „Statesman Old
Scotch“, 40 Prozent. Gemeinsam trinken
Deutschland
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Der Oberkommissar wiederum bangt
um seine Existenz. Ab zwölf Monaten
Haft, ob mit oder ohne Bewährung, ist
nach Beamtenrecht der Rausschmiss aus
dem Polizeidienst zwingend. Drohende
Konsequenz: Job weg, Altersversorgung
weg, arbeitslos mit 45.
Dabei fühlt sich der Polizist doppelt bestraft. Er wird zunächst suspendiert, später
auf einen Schreibtischposten abgeschoben.
In den Heidedörfern rund um Uelzen,
seine Heimat, empfindet er jeden Weg als
Spießrutenlauf. Einheimische tuscheln bei
seinem Anblick. Die Ehefrau, eine Krankenschwester, wird auf der Straße geschnitten.
Die Söhne, beide in der Pubertät, werden von Schulkameraden gemobbt. Zeugen hören den bösen Satz: „Dein Vater ist
ein Kindermörder.“
Beim zweiten Prozess kommt der Kommissar besser weg. Eine Kammer des
Landgerichts Lüneburg reduziert das Urteil auf elf Monate mit
Bewährung. Es gelte, so die
Begründung, „eine Entsozialisierung durch Strafe“ zu
vermeiden. Im Klartext: Der
Mann und seine Familie sollen nicht ruiniert werden.
Unglücksfahrer O. kann Polizist bleiben.
Der Beamte wird nicht
mehr wegen Vollrauschs belangt. Dazu, argumentieren
die Richter, sei er viel zu
trinkfest. Sie verurteilen O.
wegen fahrlässiger Tötung –
ein Delikt, das mit Haft bis
zu fünf Jahren geahndet
werden kann. O.s Alkoholpegel, mindestens zwei Promille, wird jedoch, wie im
deutschen Recht üblich, als
Strafmilderungsgrund berücksichtigt – einerseits. Andererseits muss
O. noch 4500 Euro wegen Trunkenheit am
Steuer und Unfallflucht zahlen. Und 5000
Euro Wiedergutmachung an die Eltern.
Auch dieses Urteil, das nach langem juristischem Gezerre rechtskräftig wird, stößt
auf Unverständnis. Der Lüneburger Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger schlägt Alarm.
Die „milde Strafe“, warnt er, erschüttere
„das Vertrauen der Bevölkerung“ in die
Rechtsordnung.
In der Redaktion der Lüneburger Lokalzeitung stapeln sich prompt Briefe
empörter Leser, die über die „lächerliche
Bewährungsstrafe“ wettern. „Dieses Urteil
spricht jedem Rechtsempfinden hohn“,
schimpft Leser Jürgen Block.
Es wirft jedenfalls Fragen nach dem Sinn
und dem Ziel von Strafe auf. Zum Beispiel, wem damit gedient wäre, wenn der
Kommissar, der nicht resozialisiert werden
muss, hinter Gitter müsste? Patricks verbitterten Eltern, deren Wunsch nach Rache
mit rechtsstaatlichen Mitteln ein wenig
DIRK EISERMANN
die beiden Beamten auf der Wache die hal- mehr, als hätte er nie gelebt – für Psychobe Flasche. Hinterher bleibt Oberkommis- logen, die sich um die Familie kümmern,
sar O. allein auf der Dienststelle. Er hat alarmierende Zeichen für unbewältigte,
verdrängte Trauer.
noch etwas zu erledigen.
Vater Schüssler wird krank, bekommt
Der Beamte kramt in Aktenordnern
mit Einsatzplänen, vergleicht seine Dienst- Magenprobleme. Wird mit 45 Jahren Teilzeiten mit denen von Kollegen, kommt invalide, kriegt keinen Job mehr. Sobald
zum Schluss, dass er völlig zu Unrecht die Rede auf Patricks Tod kommt, reagiert
angeraunzt wurde. Wird immer wüten- er mit heftigsten Gefühlsausbrüchen.
Unfallfahrer O. ist in seinen Augen eine
der. Trinkt die restliche halbe Flasche
Whisky leer. Setzt sich ans Steuer seines Art Mörder. „Wenn ich ihm begegne, passiert ein Unglück“, prophezeit er, ballt
Wagens.
Kreisstraße 28, 20.32 Uhr. Es ist nicht die Fäuste. „Der soll sich hier nie blicken
mehr hell, aber auch noch nicht dunkel. lassen.“ Den schriftlichen Vorschlag des
Der betrunkene Polizist bemerkt den vor Polizisten, sich zu einem persönlichen Geihm fahrenden Radler nicht. Mit rund 90 spräch zu treffen, lehnt er empört ab. Und
Stundenkilometern rammt sein Auto von den Verlauf des Strafverfahrens empfindet er als persönlichen Affront, als eine
hinten Patrick Schüsslers Mountainbike.
Der Schüler knallt mit dem Kopf gegen schallende Ohrfeige für sich und seine
die rechte Dachkante des Autos, wird dann Familie.
Bis zu einem rechtskräftigen Urteil ver33 Meter weit in den Straßengraben geschleudert. Er ist sofort tot. Sein Rad fliegt gehen weit über vier Jahre. Das Disziplinarverfahren gegen den Polizeibeamten
fast 50 Meter weit auf eine Wiese.
Zeugen beobachten von
weitem, wie der Oberkommissar aussteigt, mehrfach
sein Auto umkreist, etwas
aufhebt. Die Windschutzscheibe seines Wagens ist geborsten, die Splitter liegen
auf dem Beifahrersitz. Die
Vorderfront ist verbeult.
Ob er das Unfallopfer bemerkt, das verbeulte Rad entdeckt, wird nie geklärt. Fest
steht nur: Die Zeugen sehen,
wie er nach ein paar Minuten weiterfährt. Erst ein Fahrlehrer, der mit seinem Wagen
am Unfallort vorbeikommt,
sieht das zerstörte Mountainbike und schlägt Alarm.
Schon Stunden später
wird Klaus-Henning O. aus Mutter Schüssler, Unfallstelle: Verlust nie verkraftet
dem Bett geholt. Kollegen,
die seinen alten Audi 100 kennen, sind an- wird sogar erst kürzlich, nach über sechs
hand abgesplitterter Karosserieteile an der Jahren, abgeschlossen.
Beim ersten Prozess verurteilt ein LüneUnfallstelle auf ihn gekommen. O.s Ehefrau, ebenfalls aus dem Schlaf geschreckt, burger Amtsrichter den Oberkommissar
bricht beim Anblick des demolierten Fahr- wegen vorsätzlichen Vollrauschs. Bestraft
wird nicht die Unfallfahrt, sondern die Sauzeugs weinend zusammen.
24. Februar 2006. Patricks Geburtstag ferei vorher. Zumal der Polizist von Anfang
fällt dieses Mal auf einen Freitag. Mutter an behauptet, er könne sich weder an den
Veronika Schüssler fährt in aller Frühe zur Zusammenstoß noch an die Zeit unmittelUnfallstelle, an der ein verwittertes Holz- bar davor oder danach erinnern. Sein Gekreuz an Patricks Tod erinnert, legt einen dächtnis ende beim Whiskytrinken auf der
Blumenstrauß nieder. Fährt dann weiter Wache und setze erst beim nächtlichen
zum Friedhof. Patrick wäre 21 Jahre alt Aufschrecken, als plötzlich die Kollegen
im Schlafzimmer standen, wieder ein.
geworden.
Das Strafmaß, ein Jahr Freiheitsentzug,
Ingo Schüssler, der Vater, ist nicht mitgekommen. „Er regt sich viel zu sehr auf“, ausgesetzt zur Bewährung, löst bei den
erklärt die Ehefrau. Die Familie hat den Prozessbeteiligten Entsetzen aus. Alle legen Berufung ein.
Verlust von Patrick nie verkraftet.
Patricks Eltern, die den angeklagten
Die Mutter etwa lässt sein Zimmer jahrelang unverändert, verrückt nicht einen Kripomann während der Verhandlung
Stuhl, ganz so, als könnte der Sohn jeden ständig fixieren, finden das Urteil
Moment zurückkehren. Die Geschwister empörend. „Mein Sohn ist tot, und der
dagegen erwähnen die Existenz des Bru- muss noch nicht einmal ins Gefängnis“,
ders seit der Beerdigung mit keinem Wort kommentiert der Vater.
56
ULRICH BAATZ
befriedigt würde? Empörten Bürgern, die
am Rechtsstaat zweifeln?
Andererseits: Ist es nachvollziehbar, dass
ein Schiedsrichter, der ein paar Fußballspiele verschoben hat, jahrelang ins Gefängnis soll, ein Polizist, der fahrlässig einen
Menschen getötet hat, dagegen keinen Tag?
Fest steht jedenfalls: In ähnlich gelagerten Fällen sind höhere Strafen verhängt
worden. Ein Berliner Autofahrer, der mit
1,75 Promille im Blut einen 17-jährigen
Radfahrer von der Straße rammte, wurde
zu zwei Jahren und acht Monaten ohne Bewährung verurteilt. Der Radler, der
noch am Unfallort starb, war wie Patrick Schüssler mit einem unbeleuchteten
Mountainbike unterwegs.
Den Tod eines Motorradfahrers ahndete
das Amtsgericht Bad Segeberg gar mit drei
Jahren Freiheitsentzug. Das Opfer war
beim Abbiegen von einem Fiat überrollt
worden. Der Fahrer, schwer betrunken,
hatte eine rote Ampel übersehen.
In Uelzen wird die Aufregung noch
größer, als Oberkommissar Klaus-Hennig
O. kurz nach dem Urteil vorzeitig pensioniert wird, im Alter von nur 48 Jahren.
Kein glücklicher Ruheständler allerdings.
Der Polizist ist körperlich und seelisch
beschädigt. Seine Krankheit ist schlimmer
geworden, nach der Todesfahrt sind psychische Probleme dazugekommen: O., der
beteuert, seit dem Unfall kaum noch Alkohol zu trinken, wirkt zutiefst niedergeschlagen, traut sich nur selten aus dem Haus.
Nachdem mehrere Klinikaufenthalte keine
Besserung bringen, schreibt ihn ein Amtsarzt dienstunfähig für immer.
Um dem ehemaligen Kollegen weitere
Unbill zu ersparen, versucht die Polizeibehörde, das eingeleitete Disziplinarverfahren gegen O. still und heimlich einzustellen – und setzt sich damit dem Vorwurf
der Kumpanei aus.
Erst auf Druck des niedersächsischen Innenministeriums ringen sich die Disziplinarvorgesetzten zu einer Entscheidung
durch: Die Pension des Beamten wird zwei
Jahre lang um fünf Prozent gekürzt. Die
Strafe läuft bis zum 30. Juni 2007.
„Für mich ist dieser Fall auch in zehn
Jahren nicht vorbei“, ahnt der pensionierte Polizist, „der verfolgt mich bis ans Lebensende.“ Sein Wunsch, mit der Familie
weit wegzugehen, scheitert an der betagten
Mutter, die nicht mehr umziehen will.
Er weiß, dass er in der Provinz immer
der Polizist bleiben wird, der im Suff das
Kind totgefahren hat. Er weiß, dass er sich
in seiner Heimat nie mehr unbefangen
bewegen kann. Und er weiß, dass ihm
Patricks Eltern nie verzeihen werden.
„Wenn es nach mir ginge, müsste dieser
Mann lebenslänglich ins Gefängnis“, erklärt Patricks Mutter Veronika Schüssler,
„unmöglich, dass er frei herumläuft.“
„Ich lebe doch schon fast wie in einem
Gefängnis“, sagt Klaus-Henning O., „es
sind nur keine Gitter drum herum.“
Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg (bei Dortmund): Zwangsernährung abgelehnt
STRAFVOLLZUG
Klarer Wunsch
In Nordrhein-Westfalen hungerte
sich ein psychisch kranker
Häftling zu Tode. Die Ärzte schauten
zu, bis es zu spät war.
Nun ermitteln Staatsanwälte.
A
m Mittag des 30. Juni 2005 war es
endgültig zu spät, um Thomas Kuske zu retten. Die Ärzte versuchten
es noch mit künstlicher Beatmung, injizierten Adrenalin in seinen Herzmuskel.
Aber Kuske starb im Alter von 25 Jahren
auf der Intensivstation der Justizvollzugsklinik in Fröndenberg bei Dortmund.
Der Untersuchungshäftling hatte 35 Tage
lang das Essen verweigert und kaum einen Schluck getrunken. Die Polizei stufte
den Vorfall daher als „Suizid“ ein, nichts
Besonderes also: Seit 2003 haben sich
deutschlandweit über 200 Häftlinge umgebracht. Auf Druck von Kuskes Mutter Martina Wittich und ihrem Anwalt Gunter
Hoffmann will die Staatsanwaltschaft Dortmund nun aber klären, ob es sich nicht
eher um die fahrlässige Tötung eines psychisch kranken Mannes handelt. Hätte
Kuske nicht genauer untersucht und sogar
zwangsernährt werden müssen?
Als 1974 und in den Folgejahren etliche
RAF-Terroristen gegen ihre Haftbedingungen anhungerten, entschloss sich die Exekutive ausnahmslos zum harten Durchgreifen. Die Streikenden wurden fixiert,
zwangsernährt und bis auf Holger Meins
und Sigurd Debus auch gerettet: Meins
starb 1974, Debus 1982.
Im Fall Kuske lehnten die Fröndenberger Mediziner Zwangsmaßnahmen aber bis
zum Schluss ab. „Wir konnten nichts tun“,
sagt der Ärztliche Direktor Wolfgang Riekenbrauck. Kuske hatte auf die Frage, warum er nichts essen wolle, immer dieselbe
Antwort gegeben: „Darum.“ Die Ärzte
nannten das einen „klar geäußerten
Wunsch“ – und wer klar im Kopf ist, darf
sich in Deutschland zu Tode hungern.
Die Staatsanwaltschaft Dortmund prüft
nun aber, wie viel dieser Wunsch wert war.
In einem Gutachten bilanziert der Rechtsd e r
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mediziner Eberhard Josephi, dass Kuskes
Nahrungsverweigerung „in einem anderen Licht“ hätte gesehen werden müssen.
Er stützt sich dabei auch auf Schriftstücke,
die der Justiz schon Anfang Juni 2005 vorlagen. Danach könnte Kuske jener Sorte
Patient entsprechen, über die sich Ärzte
und Juristen überwiegend einig sind: Häftlinge, die nicht zurechnungsfähig sind, dürfen zwangsweise behandelt werden, wenn
sie sich in Lebensgefahr bringen.
Kuske wurde am 17. Mai festgenommen,
weil er unter anderem auf seine Großmutter losgegangen war. Da er keinen festen
Wohnsitz hatte, ließ ihn der Richter zur
Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Mönchengladbach bringen. Kuske wog 113 Kilogramm. Als Martina Wittich ihren Sohn vier Wochen später besuchte, konnte er seine Hose kaum
noch halten, wirkte fahrig und bat sie, ihn
aus der Haft zu holen.
Am 24. Juni wurde Kuske in die Klinik
Fröndenberg gebracht. Er hatte etwa
25 Kilo abgenommen und lief Gefahr,
lebensbedrohliches Kammerflimmern zu
bekommen. Nun wäre es Zeit gewesen für
eine „unverzügliche Medikation“, schreibt
Rechtsmediziner Josephi.
Doch die Fröndenberger Ärzte taten zu
wenig, um den Häftling zu retten. Dabei
wussten sie aus der JVA in Mönchengladbach, dass Kuske unter einer Psychose litt.
Beim zuständigen Amtsgericht waren zudem drei Schriftstücke eingegangen, die
im Behördenalltag untergingen. Das erste
war ein Attest von Kuskes Arzt, in dem
„dringend“ psychiatrische Hilfe empfohlen wurde. Das zweite stammte von einem
Psychiater, der Kuske drei Jahre lang wegen Depressionen und „wahnhafter Zuspitzungen“ behandelt hatte. Im dritten
Brief schreibt der Leiter einer Einrichtung
für Obdachlose, Kuske habe immer wieder davon gefaselt, dass sein Essen vergiftet sei.
Zur Verwunderung Josephis entschlossen sich die Ärzte aber erst am 29. Juni,
einen Mitarbeiter des psychologischen
Dienstes einzuschalten. Der kam nach einem Gespräch zu dem Schluss, dass Kuske
mit seinem renitenten Verhalten offenbar
seine Haftunfähigkeit beweisen wolle.
Einen Tag später war der Patient tot.
Guido Kleinhubbert
BOENING / ZENIT / LAIF
EUROPÄISCHER GERICHTSHOF
Deutschland
Europäischer Gerichtshof in Luxemburg: „Die anderen lachen über uns“
E U R O PA
Chancen
verbaut
Seit Jahren verhindern parteipolitische Querelen, dass
Deutschland entscheidenden
Einfluss auf die europäische
Rechtsprechung nehmen kann.
D
ie Aufforderung des Rats der Europäischen Union war eindeutig.
Bis „spätestens 17. März 2006“ sollten 13 Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, erklären, wer für sie demnächst als
Richter beim Europäischen Gerichtshof
(EuGH) in Luxemburg fungieren soll.
Zwölf Regierungen gaben ihre Benennung pünktlich ab. Nur eine ist immer
noch säumig: die deutsche.
Die Große Koalition in Berlin kann sich
nicht einigen, wem sie diesen wichtigen
Richterposten übertragen will: Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) würde gern die
im Oktober auslaufende sechsjährige Amtszeit der von Rot-Grün benannten Richterin Ninon Colneric verlängern, die Union
möchte lieber einen ihr nahestehenden
Kandidaten nach Luxemburg schicken.
Der Vorgang ist symptomatisch für den
fahrlässigen Umgang Deutschlands mit einem einflussreichen Organ, das in Europa
sowohl über die Rechtstreue der Mitgliedstaaten als auch der Brüsseler Machtzentrale wacht. Schon seit Jahrzehnten
verzichten deutsche Regierungen aus innen- und vornehmlich parteipolitischen
Gründen auf eine kontinuierliche Personalpolitik beim EuGH – und verschenken damit eine der wichtigsten Optionen, die europäische Rechtsordnung mitzugestalten.
Die Luxemburger Richter, je einer aus
jedem Mitgliedstaat, sollen ganz offiziell
60
die nationalen Rechtstraditionen repräsentieren, inoffiziell vertreten sie aber
durchaus auch die Interessen ihres Heimatlandes. Je länger ein Richter im Amt
ist, desto größeren Einfluss kann er gewinnen. Die Deutschen scheint das nicht
zu interessieren: Sie wechseln ihre Richter
stets bereits nach wenigen Jahren aus, anstatt sie über mehrere Amtszeiten in Luxemburg zu lassen, so wie dies die übrigen
europäischen Staaten in aller Regel tun.
„Die anderen lachen über uns“, sagt
Manfred Zuleeg, von 1988 bis 1994 Richter
am EuGH. „Deutschland verbaut sich
seine Chancen selbst.“ Das beginnt schon
damit, dass die Gerichtssprache Französisch ist, selbst bei den Beratungen der
Richter wird ausschließlich französisch parliert. Dadurch dauert es meist Monate,
manchmal sogar Jahre, bis ein Neuling rein
sprachlich mithalten kann.
Bei den Abstimmungen hat jeder Richter formal gleiches Gewicht, egal ob er aus
Deutschland oder Malta kommt. Entscheidend aber ist die Erfahrung. Neulinge
stehen ganz unten in der Hackordnung:
Das „Standing im Richterkreis“, sagt ein
ehemaliges deutsches Mitglied, zahle sich
„erst im zweiten Mandat richtig aus“.
Die europäische Rechtsmaterie hält selbst
für Fachleute oft noch Fallstricke bereit.
Ein guter Mitarbeiterstab kann Novizen
zwar manches abnehmen, aber wenn in
der Beratung überraschende Aspekte auftauchen, muss ein Neuling oft passen. Und
nur wer Loyalitäten und Gefolgschaften
organisiert, kann wirklich auch etwas bewegen – doch das braucht Zeit.
Wichtige Verfahren landen so gut wie
nie bei einem unerfahrenen Richter. Denn
anders als etwa an deutschen Gerichten
bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht
üblich, gibt es am EuGH keine feste Geschäftsverteilung. Der Präsident hat dadurch eine äußerst starke Position: Er verteilt die Fälle an die jeweiligen Berichterstatter, und die prägen die Urteilssprüche
maßgeblich.
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Die Deutschen, so wird in Luxemburg
gespottet, dürften sich traditionell zunächst
an Routinesachen wie Milchquoten abarbeiten; Ninon Colneric hat immerhin jetzt,
zum Ende ihrer Amtszeit, zwei der wichtigsten Verfahren bekommen, darunter einen Fall, in dem es um die Weitergabe von
Flugpassagierdaten an die USA geht.
Durch die Erweiterung der Europäischen
Union ist der Kampf um Einfluss am höchsten EU-Gericht noch schärfer geworden.
Jetzt rangeln 25 Richter um wichtige Posten
in den Kammern. Das bevölkerungsreichste
Land geht dabei oft leer aus – obwohl die
meisten Fälle aus Deutschland kommen:
Etwa zwei Drittel dieser Rechtsfragen werden allerdings inzwischen ohne deutsche
Beteiligung entschieden.
Andere Länder haben die Bedeutung einer personellen Kontinuität erkannt: Beim
letzten Regierungswechsel in Großbritannien etwa tauschte Tony Blair zwar einen
EU-Kommissar aus – den Richter in Luxemburg beließ er aber im Amt. Österreichs Kanzler Wolfgang Schüssel hat den
71-jährigen Peter Jann trotz dessen Alters
und trotz innenpolitischen Widerstands erneut nominiert – Jann ist aufgrund seiner
bereits elfjährigen Amtszeit mittlerweile
einer der einflussreichsten Richter.
Volle zwei Amtsperioden schöpfte noch
kein deutscher Richter aus. Am längsten
bleiben durfte zuletzt der ehemalige Verfassungsrichter Hans Kutscher, bevor er
1980 nach zehn Jahren freiwillig ausschied
– vier Jahre davon wirkte er als Präsident.
Kutschers Nachfolger wurden immer wieder schnell ausgewechselt – mal gab es
daheim einen Regierungswechsel, mal fielen sie parteipolitischen Personalrochaden
zum Opfer.
An mangelnder Kompetenz lag es offenbar nicht. „Alle bisherigen deutschen
Richter waren gute Leute“, sagt der ehemalige deutsche Generalanwalt Siegbert
Alber, „aus fachlichen Gründen hätte gegen eine Wiederernennung nichts gesprochen.“
Dietmar Hipp
Gesellschaft
Szene
Was war da los,
Ms Borchert?
Die amerikanische Verkäuferin Tammy Lynn Borchert,
28, über ihren Protest gegen die Fleischindustrie
PAUL J. RICHARDS / AFP
„Eine Stunde lang lag ich wie ein eingeschweißtes Stück Supermarktfleisch vor dem Holiday Inn in Washington. Länger
ging nicht, die Luft wurde zu knapp. Einige Dutzend Rinderfarmer liefen an mir vorbei, sie waren auf dem Weg ins
Hotel zu einer Konferenz der National Cattlemen’s Beef Association. Die meisten haben gelacht, als sie mich da liegen
sahen, blutverschmiert und in Folie gewickelt. Einige haben
sich über mich gebeugt, um zu sehen, ob ich nackt bin. Die
hatten Pech, ich trug hautfarbene Unterwäsche. Das Ganze
war eine Aktion der Tierrechtsorganisation PETA. Wir wollten die Menschen daran erinnern, dass Tiere, auch Zuchttiere, aus Fleisch und Blut sind, dass auch sie Schmerz empfinden und wir sie deswegen nicht essen sollen. Die meisten
Passanten waren geschockt, als sie mich sahen, ein Kind
fing sogar an zu weinen. Von einem Mann habe ich später erfahren, dass er jetzt Vegetarier werden will. Immerhin.“
Borchert in Washington
Dichter, gut gelaunt
S
Geist“. Bertolt Brecht mokierte sich
über den Irrglauben, Sport sei gesund. Das bis heute nicht gelöste Problem bringt der Romanautor und
Langstreckenläufer Günter Herburger
auf den Punkt: „Für Sportler sind Intellektuelle überheblich. Für Intellektuelle
sind Sportler dumm. Was tun?“
eit der Sport „so epochal geworden
ist, wissen die Menschen endlich,
was sie anfangen sollen“, schrieb Siegfried Kracauer 1927 in der „Frankfurter
Zeitung“. Und wollten immer
auch erfahren – glaubt Kracauer –,
warum sie Sport treiben. Welche
Antworten Schriftsteller auf diese
Frage geben, zeigt jetzt die auf
München und Lübeck verteilte
(von einem beim Arche-Verlag erschienenen Buch begleitete) Ausstellung „SportsGeist“ mit teils
unbekannten Fotografien von Autoren beim Sport. Die Bilder, die
auch an heute kaum noch bekannte Sportarten wie Rhönradturnen oder Nacktklettern erinnern, beweisen mindestens eins:
Ob beim Schwimmen, beim Autorennen oder im Kanu – die Autoren sind bestens gelaunt. Was allerdings nichts am insgesamt ambivalenten Verhältnis der Dichter
zum Sport ändert. So war für
Robert Musil der Gebrauch des
Wortes „Genie“ im Zusammenhang mit Sportlern ein Zeichen
der geringen Wertschätzung der
Moderne „für tatsächlichen
Nacktkletterer Hermann Hesse (1910)
62
d e r
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PSYCHOTHERAPIE
Süße Medizin
J
DLA-MARBACH.DE
AU S ST E L L U NGE N
eder weiß: Schokolade macht glücklich und hilft bei Liebeskummer.
Nun aber setzen israelische Ärzte
Schokolade sogar in der Psychotherapie von Traumapatienten ein – und
zwar gleich kiloweise. Am Beit-Loewenstein-Hospital in Raanana beginnen die Gruppensitzungen neuerdings
mit dem Schmelzen von Schokolade.
Anschließend formen die Patienten
Skulpturen aus der Masse, sie stellen
Pralinen her oder verzieren Kuchen.
„Für praktisch jeden Menschen ist
Schokolade durchweg positiv besetzt“,
sagt die Psychologin Aviva Edelman:
„Schon der Anblick von so viel Süßkram hebt die Stimmung der Patienten,
und es fällt ihnen leichter, über sich
und ihre Leiden zu sprechen.“ Den
kleinen Tabubruch – eigentlich sollte
man mit Essen ja nicht spielen – empfänden die Patienten als befreiend, sagt
Edelman. Außerdem mache das Formen mit Schokolade einfach mehr
Spaß als etwa mit Knete. Und was passiert nach der Therapie mit den Kunstwerken? „Manche Patienten nehmen
ihre Arbeit mit nach Hause“, sagt
Edelman. „Manches essen wir aber
einfach an Ort und Stelle auf.“
Szene
Gesellschaft
Oh Happy Day
Wie ein Rassist zum Menschenfreund bekehrt wurde
R
ichter William Mallory blieb ruKirchgang schlug er vor, sechs Gotteshig und sachlich, trotzdem klang
dienste in einer schwarzen Gemeinde.
es bedrohlich, wie er zum AngeDas werde Haines’ kulturellen Horizont
klagten sprach: „Es scheint mir offenerweitern – und die rassistische Kluft in
sichtlich, dass Sie keine Schwarzen möCincinnati verringern. Ob er das wolle?
gen“, sagte er. „Aber jetzt sind Sie ei„Auf jeden Fall“, sagte Haines.
nem schwarzen Richter ausgeliefert.“
Amerikanische Richter mögen solche
Vor Mallory stand, kleinlaut, Brett
Urteile. Sie lassen Angeklagte FrauenHaines, ein Weißer, 36 Jahre alt, Hankleider anziehen, weil sie Frauen beläsdelsvertreter. Am 26. November 2005 hatte er in einer
Bar neun Bier getrunken
und dann ein Taxi für die
Heimfahrt gerufen. Der Taxifahrer schien Umwege zu
fahren, Brett Haines wurde
sauer. Er möge keine „Nigger“, schrie er den Fahrer
an. Er werde ihn verprügeln
und in der Taxe Crack verstecken und ihn anzeigen,
drohte er.
Es gibt viele Theorien darüber, warum Menschen wie
Haines zu Rassisten werden,
doch es gibt immer nur zwei
Möglichkeiten, mit ihnen
umzugehen: bestrafen oder
bekehren. Bei Haines hatte Richter Mallory, Angeklagter Haines (mit Anwalt)
sich Mallory fürs Bestrafen
entschieden, für 30 Tage Gefängnis.
Aber der Fall ließ ihn nicht los.
Richter Mallory ist im West End von
Cincinnati, Ohio, aufgewachsen, einem
Viertel mit tristen Sozialbauten, das zu
87 Prozent von Schwarzen bewohnt
wird. Deren Vorfahren flüchteten als
Sklaven nach Cincinnati. Wer die Stadt
erreichte, war frei, aber nicht so frei
wie ein Weißer. Als Kind musste RichAus der „Süddeutschen Zeitung“
ter Mallory andere Stadtteile meiden
wegen seiner Hautfarbe.
tigten, eine Nacht im Wald verbringen,
Der Angeklagte Brett Haines lebt in
weil sie Kätzchen aussetzten, oder ein
einem Einfamilienhaus in der Eight Mile
Bild des Menschen mit sich herumRoad im kleinen Ort Anderson. Ein
tragen, den sie überfahren haben. Creaschmucker Vorort, elegante Parkanlative sentencing, kreatives Urteilen, nengen, Menschen mit Einkommen, die
nen sie es, die Täter sollten die Opfer
mehr als doppelt so hoch liegen wie in
verstehen, sagen die Richter jedes Mal,
Cincinnati. Nicht einmal ein Prozent
aber oft scheint es nur ein Spaß zu sein,
der Bewohner ist schwarz.
ein bisschen Pranger.
Vier Tage lang dachte Mallory darRichter Mallory meinte es ernst. Er
über nach, wie Brett Haines wohl zum
glaubt, dass Rassismus heilbar ist, er hat
Rassisten geworden war, dann ließ er
seine Gründe. Sein Vater war der erste
ihn aus dem Gefängnis holen.
schwarze Mehrheitsführer im RepräHaines könne freikommen, sagte der
sentantenhaus von Ohio, sein Bruder
Richter, aber dafür müsse er sein
wurde vor fünf Monaten zum Bürger„schwarzes Bewusstsein“ entwickeln.
meister von Cincinnati gewählt.
d e r
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Am ersten Sonntag ging Brett Haines
in einen Königreichsaal, zu schwarzen
Zeugen Jehovas. Sie seien sehr freundlich gewesen, erzählte er dem Richter
danach, aber er habe Angst, die Presse
könnte ihn finden. Die Zeugen Jehovas
hatten ihn offiziell eingeladen, er war
jetzt ein prominenter Sünder, gute Werbung für jede Gemeinde. Richter Mallory erlaubte einen Wechsel.
Am zweiten Sonntag besuchte Haines
eine Episkopalgemeinde, außer dem
Pastor wusste diesmal niemand, weshalb er da war. Er fiel trotzdem auf in
einer Gemeinde, deren 300 Mitglieder
alle Schwarze waren. Sie freuten sich
über den Besucher, sie umarmten ihn.
Haines kam wieder. Er hörte den Chor Spirituals singen,
er nahm am Abendmahl teil,
er sprach nach den Predigten
mit anderen. Er fühle sich
jetzt unterrichtet, sagte er
dem Pfarrer, ja, nicht nur das,
er fühle sich „erleuchtet“.
Beim sechsten Mal brachte
Haines seine Frau mit. Und
wurde Gemeindemitglied.
Am 1. März stand Brett
Haines noch einmal vor Gericht und hatte sechs vom
Pfarrer unterschriebene Gottesdienstprogramme dabei.
Ob er etwas gelernt habe,
wollte Mallory wissen. Ja,
sagte Haines, dass alle Menschen gleich seien. Es klang
nach einer Floskel.
Seinen Beitritt zur Episkopalgemeinde verschwieg Haines. Er wollte nicht,
dass ABC und NBC wieder anrufen,
wollte nicht länger seinen Ausraster
erklären und auch nicht, was bei
den Episkopalisten passiert war. Brett
Haines hatte Schwarze kennengelernt
und verstanden, dass sie keine Nigger waren. Es ging so einfach, dass es
ihm wie eine Erleuchtung vorkam. An
einer Erleuchtung gibt es nichts zu
erklären.
Brett Haines durfte nach Hause, nach
Anderson, in die Eight Mile Road. In Detroit gibt es auch eine Eight Mile Road, sie
wurde bekannt, weil dahinter das Elendsviertel liegt, in dem der Rapper Eminem
aufgewachsen ist. Die Straße markiert die
Grenze zwischen der schwarzen Stadt
und den weißen Vororten.
Es gibt sie weiter, diese Grenze. Doch
zwischen Cincinnati und Anderson, erzählt der Pfarrer, sei sie etwas durchlässiger geworden. Brett Haines fährt
jetzt jeden Sonntag mit seiner Frau 25
Kilometer zu seinen neuen Brüdern und
Schwestern.
David Böcking
FOTOS: GARY LANDERS / CINCINNATI ENQUIRER
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
63
NOWOSTI / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.); YANN ARTHUS-BERTRAND / CORBIS (R.)
Strahlenmessung in Tschernobyl nach der Havarie, aufgegebene Stadt Pripjat (1990): „Es war der Reaktor, Genosse – es gibt Opfer“
KERNKRAFT
Pompeji des Atomzeitalters
Tschernobyl ist die Chiffre für die größte technische Katastrophe in der Menschheitsgeschichte.
Starben 56 oder 34 499 oder gar 50 000 Menschen? 20 Jahre nach dem
Reaktorunglück erforschen Wissenschaftler noch immer das Ausmaß des Unfalls. Von Walter Mayr
D
er Zugang zur Todeszone ist versperrt. Die Straße zum TschernobylReaktor riegeln Polizisten mit Maschinenpistolen und Geigerzählern ab. Nur
wer eine Sondererlaubnis vorweisen kann,
wird durchgewinkt.
Zu beiden Seiten der asphaltierten Trasse wuchert der Wald. Zwischen Birken,
Kiefern und Pappeln ins Dickicht geduckt,
sind fensterlose Ruinen einstöckiger Häuser zu sehen. Meter um Meter holt sich die
Natur nun zurück, was ihr die Siedler von
Tschernobyl einst abrangen.
„Bewahre die Umwelt für deine Nachfahren“ steht auf einem rostigen Schild,
64
das erhalten geblieben ist inmitten menschenleerer Wildnis, ein grotesker Imperativ aus versunkener Zeit. Für die Nachfahren chassidischer Juden, die in und um
Tschernobyl jahrhundertelang siedelten,
und für die Kinder der sowjetischen Kraftwerksarbeiter, die ab 1970 kamen, gibt es
hier keine Zukunft mehr.
Die letzten Alten, die noch verstreut in
den Wäldern der 30-Kilometer-Sperrzone
rund um Tschernobyl hausen, klagen über
Wölfe, die ihnen inzwischen bis in die Vorgärten folgen und die Wachhunde fressen.
Durchs Zentrum der Geisterstadt Pripjat,
vorbei am verlassenen Gebäude der Komd e r
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munistischen Partei, wo die Türen aufgebrochener Aktenschränke im Wind knarren, traben Wildschweine in Richtung Ruine des Kulturpalasts „Energetik“.
Es ist totenstill, im Pompeji des Atomzeitalters. Die Uhren sind angehalten worden am 26. April 1986, nachts um 1 Uhr 24.
Da barsten im Inneren von Block 4 des
Lenin-Kraftwerks die Brennstäbe, der tonnenschwere Deckel über dem Reaktorkern
hob sich, und radioaktiver Staub wurde
hoch in die Atmosphäre geschleudert. Seitdem sind die Böden ringsum mit Cäsium,
Plutonium, Strontium verseucht, und der
Name Tschernobyl ist zur Chiffre gewor-
Gesellschaft
Dnje
Bis zu „50 Prozent des Brennstoffs“
den für die größte technische Katastrophe
könnten 1986 in die Atmosphäre gedrunin der Geschichte der Menschheit.
Mit Stahlplatten gepanzert, von einem gen sein, vermutet hingegen der ukraimächtigen Schlot überragt, gleicht der ex- nische Radiologe Wiktor Pojarkow. Wisplodierte Meiler heute einem schwerbe- senschaftler des renommierten Moskauer
wehrten Dampfschiff im Trockendock. Aus Kurtschatow-Instituts vertreten nach Er300 000 Tonnen Beton, das entspricht weit kundungen im Reaktorsarg sogar die Theüber einer Million Schubkarrenladungen, se, fast das gesamte radioaktive Material
und aus 7000 Tonnen Stahl haben sie dem sei vor 20 Jahren freigesetzt worden.
Es geht bei diesem Streit nicht nur um
Monstrum in den Monaten nach der Kernschmelze einen Schutzmantel verpasst. den Verbleib von 180 Tonnen hochradioDarunter begraben liegen bis heute: ein- aktiven Materials. Es geht auch um die
gestürzte Betonträger, tonnenweise strah- Zahl der Todesopfer, der bisherigen und
lender Staub und kegelförmige Häufchen derer, die noch folgen werden. Denn der
„body count“, wie Amerikaner das nenrötlich brauner radioaktiver Lava.
nen, ist von entscheidenNur drei bis vier Proder Bedeutung für die
zent des im Reaktor einWEISSRUSSLAND
Frage, ob der Super-GAU
gesetzten Kernbrennstoffs
Kontrollzone,
von Tschernobyl als Arseien bei der Explosion in
30-kmRadius
gument taugt gegen künfTschernobyl entwichen,
tige Milliardengeschäfte
behauptet die Internatiomit der Kernkraft.
nale Atomenergieagentur
Pripjat
Von bisher 56 Toten –
(IAEA). Die G 7-Länder
Tschernobyl
47 Katastrophenhelfern
fordern für die strahlende
und neun Kindern mit tödAltlast einen neuen, mehr Kernkraftwerk
lich verlaufenem Schildals eine Milliarde Dollar
drüsenkrebs – sprechen
teuren „Sarkophag“, um
UKRAINE
die Atomexperten der
dessen Bau sich führende
IAEA. 34 499 verstorbene
westliche Konzerne be50 km
Kiew
Rettungshelfer verzeichwerben.
pr
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net hingegen allein die ukrainische Kommission für Strahlenschutz. Nach Schätzungen der Uno-Gesundheitsorganisation
WHO lag die Zahl der an Strahlenschäden
oder durch Selbstmord gestorbenen Einsatzkräfte von Tschernobyl schon vor sechs
Jahren bei 50 000.
Wie kaum ein anderes Ereignis mit globalen Folgen spaltet die Tragödie im LeninKraftwerk bis heute Wissenschaft und
Politik. Mit dem Beispiel Tschernobyl ließ
sich lange Zeit so gut wie jede Weltanschauung belegen – weil verlässliche Daten
über Ursachen und vor allem Folgen der
Havarie fehlten und weil die KPdSUFührung unter Michail Gorbatschow eisern schwieg oder log. Durch den Zerfall
der Sowjetunion 1991 verschwanden zusätzlich Spuren und Krankenakten der
Opfer sowie Beweismittel gegen die
Schreibtischtäter in den neuen unabhängigen Republiken.
20 Jahre nach dem Reaktorunglück aber
gibt es für eine wahrheitsnahe Bewertung
des Geschehenen ausreichend Beweise, Indizien und Dokumente. Sie verbergen sich
in Moskauer Parteiarchiven und in Krebsregistern weißrussischer Kinderärzte, in
Tagungsprotokollen internationaler Kernkraftkonzerne und ihrer Lobbyisten wie in
65
Gesellschaft
de Strahlenopfer nach Tschernobyl. Mitglied des russischen Oberhauses ist Ryschkow inzwischen, 76 Jahre alt und optisch gleichermaßen im Gestern wie im
Heute zu Hause. Zur Kassenbrille im Sowjetgeschmack trägt er, in der Linken versenkt, ein winziges, schwarzsilbriges Handy.
Verschleierung nach dem Reaktorunglück müsse er sich nicht vorwerfen lassen,
sagt der einst zweitmächtigste Mann der
Sowjetunion: „Was hätten wir denn damals
in den Zeitungen schreiben sollen? Der Tod
war ja nicht sichtbar. Wir haben schnell gehandelt und keinerlei Fehler gemacht.“
Worauf Ryschkow bis heute stolz ist: Sofort nach dem Reaktorunfall hat er Menschen und Material mobilisieren lassen, in
bester sowjetischer Tradition und gewaltiger Stückzahl. Noch am Unglückstag setzen sich Nuklearingenieure von Moskau
aus in Bewegung. 6000 Soldaten folgen,
40 000 Mann von den Chemischen Spezialtruppen, dazu erfahrene Hubschrauberpiloten – einige kommen direkt vom
Kampf gegen die Mudschahidin auf den
Schlachtfeldern Afghanistans.
Am 26. April 1986 abends weiß Ryschkow noch nicht, dass in Tschernobyl die
400fache Radioaktivität der HiroshimaBombe freigesetzt worden ist und große
Mengen der Trillionen Becquerel durch die
Atmosphäre um den Erdball driften. Er
weiß nicht, dass über dem Schlund von
Block 4, in dem rotglühend vor Hitze der
Reaktordeckel liegt, Feuerwehrleute, junge
Polizisten und Soldaten ohne ausreichende
Schutzkleidung abwechselnd in 90-Sekunden-Schichten ihr Leben ruinieren, um den
Brand einzudämmen.
Aber er ahnt, instinktiv, dass die Sache
für ihn und die Partei nicht günstig läuft.
Denn aus Tschernobyl, wo sechs Meiler
mit je 1000 Megawatt zum damals leistungsstärksten Kernkraftwerk der Welt zu-
den Leidensgeschichten der umgesiedelten Atomarbeiter.
Es sind Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven. Zusammengefügt ergeben sie das Bild ein und derselben
Tragödie.
A
ls in Reaktor 4 des Lenin-Kraftwerks
Tschernobyl die Brennstäbe bersten,
schläft Nikolai Ryschkow, Regierungschef
der Sowjetunion, noch in seiner Datscha
vor den Toren Moskaus. Dreieinhalb Stunden vergehen, ehe sein elfenbeinfarbenes
Diensttelefon zum ersten Mal läutet. Am
anderen Ende der Leitung meldet sich der
Minister für Energie: In Tschernobyl habe
es ein „Unglück“ gegeben, die Leute vor
Ort sprächen von einer „Explosion“.
Ryschkow ordnet an, um neun Uhr morgens sei ihm ein detaillierter Bericht zu erstatten, und lässt sich in den Kreml fahren.
Kaum dort angekommen, erhält er den
nächsten Anruf: „Es war der Reaktor, Genosse. Es gibt Opfer, es gibt Verstrahlte.“
Ryschkow reagiert sofort. Und zwar so,
wie er es gelernt hat. Er ruft eine Kommission ins Leben und setzt sich selbst an
deren Spitze. Den ersten Mann im Staat,
Michail Gorbatschow, seit 13 Monaten Generalsekretär der KPdSU, informiert er
vorläufig nicht. Und auch nicht das Volk.
Ryschkow ist ein Mensch, der zu einmal
gewonnenen Überzeugungen steht. Auch
heute noch, 20 Jahre und Hunderttausen-
Sowjetgrößen in Moskau*
AFP
„Wir haben keinerlei Fehler gemacht“
* Parteichef Michail Gorbatschow, der frühere Außenminister Andrej Gromyko und Regierungschef Nikolai
Ryschkow bei der Feier zum 1. Mai 1986.
Chronik der Tschernobyl-Katastrophe
26. April 1986, 1.23 Uhr
Testbeginn in Block 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl: Bei laufendem
Reaktor wird überprüft, was im Falle
eines Stromausfalls passiert. Die
Notabschaltung misslingt.
1.24 Uhr
Der Reaktor explodiert. Radioaktive
Stoffe werden rund 1200 Meter hoch
in die Luft geschleudert. Die freigesetzte Radioaktivität entspricht der
von rund 400 Hiroshima-Bomben.
27. April
Die 49000 Einwohner der Kraft66
2. Mai
werkssiedlung Pripjat werden
evakuiert.
28. April
In Skandinavien wird erhöhte Radioaktivität gemessen. Die sowjetischen
Behörden bestreiten einen Reaktorunfall. Später meldet die sowjetische
Nachrichtenagentur Tass einen Unfall
im Kernkraftwerk Tschernobyl.
30. April
Die radioaktive Wolke erreicht Süddeutschland. Das sowjetische Staatsfernsehen zeigt ein erstes Foto des
explodierten Reaktors.
d e r
sammengespannt werden sollen, hagelt
es seit Jahren Warnungen. Gorbatschows
Vorvorgänger als Generalsekretär, Jurij
Andropow, hatte noch in seiner Funktion
als KGB-Chef am 21. Februar 1979 Alarm
ans Zentralkomitee der Partei gefunkt.
In Andropows Bericht über „Mängel
beim Bau des AKW Tschernobyl“, Aktenzeichen Nr. 346-A, „geheim“, werden Verstöße gegen Bauauflagen angeprangert,
„die zu technischen Pannen und Unglücksfällen führen könnten“. Die Sicherheitsvorschriften im Werk würden nicht
eingehalten. 170 Arbeiter seien innerhalb
von neun Monaten verletzt worden.
Das zuständige Ministerium reagiert wie
gewohnt: Eine Kommission wird eingesetzt. Vier Jahre später, am 31. Dezember
1983, beurkundet Wiktor Brjuchanow,
Chef des AKW Tschernobyl und Genosse,
die fristgerechte Fertigstellung des vierten
Reaktorblocks. Obwohl der Meiler, der
später explodieren wird, noch nicht einmal fertig gesichert ist. Im Dezember 1985
erzählt der Werksdirektor einem Vertrauten: „Gott behüte, dass etwas Ernstes bei
uns passiert – ich fürchte, nicht nur die
Ukraine, sondern die ganze Sowjetunion
würde mit so einem Notfall nicht fertig.“
Die Dachkonstruktion der Reaktorhalle
ist aus leicht brennbarem Material hergestellt. Am Berstschutz aus Beton, an Evakuierungsplänen, Schutzanzügen und Geigerzählern wurde gespart, weil es der Partei plötzlich nicht schnell genug gehen
konnte. Unter den Einpeitschern profiliert
sich ab seinem Amtsantritt im September
1985: Ministerpräsident Ryschkow.
Das Energieministerium der UdSSR, so
donnert er ganze acht Wochen vor der Reaktorkatastrophe auf dem 27. Parteitag der
KPdSU, habe es „während des 11. Fünfjahresplans zugelassen, dass die angepeilte
Energieproduktionssteigerung der Atomkraftwerke nicht erfüllt wurde“. So könne
es nicht weitergehen – eine Steigerung der
Atomstromproduktion um das Zweieinhalbfache binnen fünf Jahren hatte Gor-
s p i e g e l
Erste Warnungen vor belasteten Lebensmitteln in deutschen
Medien. Einfuhrbeschränkungen
für Nahrungsmittel aus Osteuropa treten in Kraft.
3. Mai
Die Lebensmittelkontrollen werden ausgeweitet. In den folgenden Tagen wird tonnenweise
belastetes Freilandgemüse
beschlagnahmt.
6. Mai
Nach zehn Tagen endet die massive Freisetzung radioaktiver
Stoffe aus dem Unglücksreaktor.
1 6 / 2 0 0 6
Die Radioaktivität hat sich
bis nach Nordamerika ausgebreitet.
21. Mai
Die Kraftwerkssiedlung Pripjat
bei Tschernobyl gilt offiziell als
vollständig evakuiert.
15. November
Der „Sarkophag“ aus
Stahlbeton,
der den
zerstörten Reaktor ummantelt, wird
fertiggestellt.
IGOR KOSTIN / CORBIS
Unfallhelfer in Tschernobyl nach dem Unglück: „Wir hatten Angst, es könnte Panik ausbrechen“
batschow gefordert. Der Afghanistan-Krieg
in seinem siebten Jahr, der Rüstungswettlauf mit den USA und der dramatische Verfall der Rohölpreise haben die UdSSR an
den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht. Die Partei will die Devisenbringer
Öl und Gas am heimischen Verbrauchermarkt durch mehr Kernenergie ersetzen.
I
n der drei Kilometer vom Reaktor entfernten Stadt Pripjat, wo 49 000 Menschen von und mit der Kernkraft leben,
gehen die Dinge weiter ihren Gang. Der
Samstag ist ein warmer Apriltag, die
Straßen sind voll von Müttern mit Kindern
und von Männern, die sich an Ständen mit
Bier und Kwas eindecken.
Dabei ist den Parteiführern in Pripjat,
wie es in einem späteren Augenzeugenbericht ans ZK – Dokument 2585, „geheim“
– heißt, bereits eine Stunde nach dem Unglück das Ausmaß der „Strahlenbelastung
klar“. Doch keiner wagt ohne Befehl aus
Moskau ein Wort ans Volk. Gegen Mittag
werden die Straßen mit Seifenlauge gewaschen. Nur Männer, die Nachtschicht hatten am Reaktor, wissen, warum. Ihre Familien zumindest haben sie vorgewarnt.
Der Betriebsleiter des Kernkraftwerks
Tschernobyl lässt am Samstag die Hochzeit
seiner Tochter mit einem rauschenden Fest
begehen, während im Zentrum der Stadt
bereits das Mehrtausendfache der normalen Strahlung herrscht – keiner der diensthabenden Kollegen warnt ihn.
Am Samstagabend lässt Ministerpräsident Ryschkow in Moskau die Evakuierung Pripjats für den nächsten Tag anordnen. 1100 Autobusse aus Kiew erreichen
am Sonntagnachmittag die Stadt der Atomarbeiter. Wer nicht aus dienstlichen Gründen zurückbleiben muss, reist ab mit
Gepäck „für zwei bis drei Tage“. So hat es
die Partei verordnet.
Am Montag tagt in Moskau das Politbüro, am Dienstag riskiert die Regierungszeitung „Iswestija“ eine dürre Acht-Zeilen-Meldung. Es habe eine „Havarie“ in
Tschernobyl gegeben, „einer der Atomreaktoren wurde beschädigt“, mehr nicht.
Zu diesem Zeitpunkt sind mehr als drei
Tage vergangen seit dem Reaktorunglück.
Das Ausmaß der Katastrophe ist den Verantwortlichen bekannt, die am schlimmsten betroffenen Rettungsarbeiter sind
längst im Moskauer Klinikum 6 zu besichtigen – ihre Haut ist von der Strahlung dunkelbraun gefärbt und blättert ab, die Haare fallen aus. Die Mehrheit der Bürger aber
wird weiter in Sicherheit gewiegt. „Wir hatten Angst, es könnte Panik ausbrechen.
Und das in Millionenstädten wie Kiew und
Minsk“, wird Gorbatschow später sagen.
Ausgerechnet er, der noch auf dem MärzParteitag mit Lenins Worten „immer und
unter allen Umständen die Wahrheit“ gefordert hatte.
Durch Studien des Minsker Arztes Jewgenij Demidschik ist inzwischen erwiesen,
dass Hunderte Fälle von Schilddrüsenkrebs
bei weißrussischen Kindern, die zum Zeitpunkt der Katastrophe noch nicht oder gerade geboren waren, auf Verseuchung mit
Jod 131 in den ersten Tagen nach der Katastrophe zurückzuführen sind.
Mit Beschluss vom 8. Mai 1986 lässt
das Politbüro die zulässigen Strahlendosen
um das 10- bis 50fache anheben und verfügt, „Geheimer Anhang zu Punkt 10“ des
Protokolls, die Verwurstung radioaktiv
verseuchten Fleisches im Verhältnis
1:10 auf dem Territorium der meisten
Unionsrepubliken, auch Russlands – „außer Moskau“.
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Am 27. Juni 1986 werden per Erlass,
Aktenzeichen U-2617 C, alle Daten über
Tschernobyl, über die Behandlung der
Opfer und über Art und Ausmaß ihrer
Verstrahlung dem Prinzip „verschärfter
Geheimhaltung“ unterworfen. Signiert ist
das Papier von Jewgenij Schulschenko,
Dritte Hauptabteilung im Ministerium für
Gesundheit der UdSSR, gedeckt ist es von
oberster Stelle. Es ebnet den Weg zur Unterdrückung, Fälschung und Vernichtung
von Beweismaterial.
Eine Karte der verseuchten Gebiete, die
zeigt, dass 70 Prozent des Fallouts über
Weißrussland niedergegangen sind, der
Rest vor allem über der Ukraine und dem
Süden Russlands, wird erst 1989 in der
„Prawda“ veröffentlicht. So lange leben
fünf Millionen Menschen in Tausenden
verstrahlter Dörfer und einigen größeren
Städten der Sowjetunion ohne genaues
Bild von der Gefahr. Viele sammeln weiter
Beeren und Pilze im Wald, pflanzen und
essen selbstangebautes Gemüse.
Im Bericht des Zentralkomitees vom
10. Juli 1986 über das Unglück von Tschernobyl, Aktenzeichen Nr. 20-34, „streng
geheim“, wird für den internen Dienstgebrauch eingeräumt, im Falle Tschernobyl
habe es sich um „einen der schlimmsten
Unglücksfälle in der Geschichte der Atomenergie“ gehandelt – 26 Tote, 135 000 Evakuierte, 800 000 Menschen, die medizinischer Behandlung bedürften.
A
ls in Reaktor 4 des Lenin-Kraftwerks
Tschernobyl die Brennstäbe bersten,
ist Swetlana noch nicht auf der Welt.
Ihre Eltern leben gemeinsam in Kiew,
bis zu dem Tag, da der Vater zu Aufräumungsarbeiten an den explodierten Reaktorblock 4 in Tschernobyl abkommandiert
67
Gesellschaft
wird. 600 000 bis 800 000 sogenannte Liquidatoren aus der ganzen Sowjetunion
treten dort in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren nach der Katastrophe als
Helfer an, um die Folgen der Katastrophe
zu beseitigen. Swetlanas Vater überlebt
den Einsatz. Zurück kommt er schwer verstrahlt und traumatisiert.
Swetlana selbst, im Jahr nach der Reaktorkatastrophe geboren, ist heute 19 und
lebt in einem Heim für behinderte Kinder
und Jugendliche in Snamianka, Kreis Kirowgrad. Schon bei der Geburt wird ein
Gehirntumor festgestellt, die rechte Gesichtshälfte ist derart verformt, dass das
Mädchen nur auf einem Auge sieht. Heute, mehrere Operationen später, ist Swetlana noch immer so entstellt, dass sie aus
Scham den Kontakt zur Außenwelt scheut.
Lieber lässt sie ihre Hände sprechen.
Sie malt, schreibt Gedichte und kümmert sich um jüngere Heiminsassen. Es gibt
ja Kinder in ihrer nächsten Umgebung, denen geht es schlimmer. Grischa etwa, auch
er wenige Monate nach dem Unfall in
Tschernobyl geboren und inzwischen beinahe 20, hat missgebildete Beine und das
Aussehen eines Dreijährigen.
Die Mediziner vermuten bei ihm und
anderen Kindern mit ähnlichen Symptomen eine Wachstumsstörung durch eine
genetisch bedingte Fehlfunktion der Hirnanhangdrüse. Solche Erbgutschäden gab
es in dieser Gegend auch vor der Atomkatastrophe, immer mal wieder.
Im vergangenen Jahrzehnt aber beobachten nach Angaben der Stiftung „Kinder
für Tschernobyl“ Ärzte bei den jungen Patienten aus besonders stark verstrahlten
Gebieten Weißrusslands und der Ukraine
einen dramatischen Anstieg an Missbildungen – an verkrüppelten Gliedmaßen,
fehlenden Ohren, Hasenscharten und
Füßen mit bis zu acht Zehen. Um Rückschlüsse auf die Ursachen ziehen zu können, müssen die Krankengeschichten auf
Geburtsort und -datum der Kinder geprüft
werden.
Die Genetikerin Hava Weinberg etwa
hat Hunderte Kinder von nach Israel ausgewanderten Rettungshelfern aus Tschernobyl untersucht. Die nach dem GAU
geborenen hatten, verglichen mit den
vor 1986 zur Welt gekommenen Geschwistern, eine um 700 Prozent höhere Quote
bei Erbgutmutationen. Wolodymyr Wertelecki wiederum, Chefgenetiker an der
Universität von Süd-Alabama, lässt mit
amerikanischen Regierungsgeldern in einer Langzeitstudie durchschnittlich 14 000
Neugeborene pro Jahr in den ukrainischen
Provinzen Wolyn und Rowno untersuchen.
Die Zahl der Säuglinge mit „Spina bifida“
(offenem Rücken), so eines der Ergebnisse,
ist um fast das 20fache gestiegen.
Die Kinder mit Erbgutschäden stehen
bereits für die zweite Generation von
Tschernobyl-Opfern und für eine Neuauflage der Meinungs- und Materialschlacht
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zwischen Medizinern und Wissenschaftlern der rivalisierenden Lager – der Internationalen Atomenergiebehörde und ihrer
Gegner. In der ersten Runde ging es um
Schilddrüsenkrebs.
Fred Mettler, Radiologe von der Universität New Mexico und Veteran der
atomindustriefreundlichen Bewertung von
Strahlenschäden, hatte ab 1990 im Auftrag
der IAEA nach Folgen des Reaktorunfalls
von Tschernobyl geforscht – und am Ende
in einer Studie 1991 behauptet, es gebe keine, auch keine Kinder mit strahlenbedingtem Schilddrüsenkrebs.
Im Jahr darauf zeigten im britischen
Fachblatt „Nature“ veröffentlichte Unter-
suchungen einen dramatischen Anstieg
von Schilddrüsenkrebs in verseuchten Gebieten unweit Tschernobyls, und es wurde
bekannt, dass auch Mettler entsprechende
Daten aus Weißrussland und der Ukraine
zur Verfügung hatte. Natürlich war das
peinlich, für Mettler und die IAEA. Aber
nicht peinlich genug, als dass die Zusammenarbeit hätte beendet werden müssen.
Im jüngsten Bericht vom September
2005, den die IAEA unter dem Dach des
„Tschernobyl-Forums“ der Vereinten Nationen vorstellte, ist zum Thema Gendefekte zu lesen: „Es wurden keinerlei
Beweise gefunden für angeborene Missbildungen, die einer Strahlenbelastung
zugeschrieben werden könnten.“ Als Autor zeichnet, unter anderen: Fred Mettler.
„Ja, diese Leute von der Atom-Behörde“, sagt Professor Igor Komissarenko in
Kiew kopfschüttelnd, „bei uns waren die
natürlich auch, aber die wollen nichts Neues hören. Die sagen nur immer – so kennen
wir das von Hiroshima her nicht.“
Professor Komissarenko, Doyen der
ukrainischen Endokrinologie, ist ein kleiner energischer Herr jenseits der Sechzig.
Er ist nicht für und nicht gegen Atomkraft,
nur gegen Schilddrüsenkrebs und allein
deshalb schon eine vertraueneinflößende
Quelle. „Sehen Sie sich die Zahlen an“,
sagt er und deutet auf eine handgemalte
Grafik an der Bürowand: „Schilddrüsenkrebs bei Kindern, zwischen 1986 und 1990
verzehnfacht, inzwischen abfallend. Dagegen nun die Erwachsenen: 38 Fälle im Jahr
1990, inzwischen schon 308.“
Jod 131, schuld am Schilddrüsenkrebs,
gehört zu den kurzlebigen unter den Isotopen, die beim Reaktorunfall in Tschernobyl ausgestoßen wurden. Cäsium 137 dagegen hat 30 Jahre Halbwertszeit, von Plutonium ganz zu schweigen. Krankheiten,
die durch Strahlung ausgelöst oder befördert werden, könnten Jahrzehnte schlummern, sagen Mediziner.
Der Tod durch Strahlung kommt leise,
geruchlos und unsichtbar. Das sagen die
Männer, die in Tschernobyl an vorderster
Front und dem Tod nahe waren. Als Trümmerräumer am Reaktorgebäude, als Feuerwehrmänner, Sanitäter, Hubschrauberpiloten. Die ersten 28 von ihnen, die an
akuter Verstrahlung starben, liegen seit
zwei Jahrzehnten unter schweren Bleiplatten begraben auf dem Friedhof von
Mitino bei Moskau.
Von denen, die noch leben, haben einige bis zu acht Sievert Strahlung in kürzester Zeit erhalten. Das überschreitet die
zulässige Jahreshöchstdosis um 16 000 Prozent. Die Unterlagen aber, die das Erlittene belegen könnten, seien vielfach auf
Druck der Partei gefälscht oder im Sommer 1986 aus einem Safe im AKW Tschernobyl gestohlen worden, sagt der ukrainische Strahlenexperte Wladimir Usatenko.
Mit ihrem Interesse an der Wahrheit stehen die Betroffenen weitgehend allein. Die
zur Fürsorge verpflichteten Staaten, Weißrussland vor allem und die Ukraine, tragen
schon so schwer genug an den Folgelasten
des Unglücks, die sie seit dem Zerfall der
Sowjetunion selbständig zu schultern haben. Mehr als 300 000 Schwerstversehrte
wollen versorgt werden.
Im Kiewer Stadtteil Darniza am linken
Dnjepr-Ufer, wo es zwölfstöckige Hochhäuser mit je 546 Wohnungen gibt, in denen ausschließlich Tschernobyl-Vertriebene angesiedelt wurden, sterben inzwischen
reihenweise die Mittfünfziger. Ausweislich
ihrer Totenscheine werden sie in den Opferstatistiken der IAEA keine Spur hinterlassen. „90 Prozent von uns hier sterben
kerngesund“, spotten die, die noch leben,
und klagen über chronische Müdigkeit,
Kopfschmerz und den Metallgeschmack
auf der Zunge, den die Strahlung als bleibendes Andenken hinterlässt.
Der Mann in Wohnung 328 immerhin,
ehemals Leitender Ingenieur in Block 1
des Atomkraftwerks Tschernobyl und in
der Unglücksnacht auf Schicht, hat Hoffnung geschöpft. Im Oktober haben sie ihm
innerhalb kürzester Zeit beide Beine bis
zum Oberschenkel amputiert. „Arteriosklerose“, sagten die Ärzte – kein Bezug zu
Tschernobyl. Jetzt lernt er wieder laufen.
Ein Gerüst, auf das er sich stützen kann,
bauten ihm ehemalige Schlosser aus dem
Atomkraftwerk. Seine Prothesen kommen
aus Deutschland. Sie waren für Invaliden
des Afghanistan-Kriegs vorgesehen.
A
ls in Reaktor 4 des Lenin-Kraftwerks
die Brennstäbe bersten, hat Sergej
Paraschin Nachtschicht. Er ist Erster Betriebsparteisekretär des Atomkraftwerks
Tschernobyl. Der verlängerte Arm der Partei also, im Zukunftslabor der Sowjetunion.
Rund um den Meiler herrscht Chaos.
Der Direktor des Kraftwerks, der mit einer
Stunde Verspätung eintrifft, weigert sich,
den Messgeräten zu glauben, die schon
außerhalb des Reaktors bis zu zwei Sie-
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den Kulissen geschuldet, die der
damalige ukrainische Vizepremier
Mykola Tomenko im April 2005
als Verschleuderung „unglaublich
hoher Summen“ für Berater- und
Expertenhonorare durch ukrainische Regierungsbeamte und Vertreter internationaler Organisationen brandmarkt. „Tschernobylski
bisnes“, das Geschäft mit Tschernobyl, ist beim ukrainischen Volk
zum Schlagwort geworden.
Es geht dabei um ein Geschäft,
dessen Grundlage die Angst des
Steuerzahlers vor strahlendem
Müll abgibt. Um die Profite streiten sich zwei Parteien.
Auf der einen Seite stehen die
führenden Konzerne der Geberländer, die auf Aufträge in der verseuchten 30-Kilometer-Zone hoffen: die RWE-Nukem-Gruppe für
Deutschland, die Baukonzerne
Bouygues und Vinci für Frankreich und vor allem die amerikanische Firma CH2M Hill.
Auf der anderen Seite stehen
die Interessenvertreter der Ukraine. Das Problem mit den Altlasten
Tschernobyls garantiert Tausende
Arbeitsplätze auf dem Reaktorgelände und dazu satte Margen
für Berater. Die Bauvorhaben der
internationalen Kernkraftkonzerne wiederum versprechen Beschäftigung auf längere Sicht.
Die Ukraine hat sich unter der Führung des orange Revolutionärs Wiktor
Juschtschenko für einen beschleunigten
Weg in eine Zukunft mit Kernenergie entschieden. Elf neue Atommeiler, so hat
der Präsident angekündigt, sollen gebaut
werden. Der gleichfalls erwogene, devisenträchtige Import verbrauchter Brennstäbe aus dem Ausland zur Endlagerung
in der Todeszone von Tschernobyl ist
nach massiven Protesten der Bevölkerung
vorläufig von der Tagesordnung genommen worden.
Und die 30-Kilometer-Sperrzone um
den Reaktorsarg? Der staatliche Oberaufseher der Zone, Ex-Betriebsparteisekretär
Paraschin, verwaltet aus Sicht von Kernenergieexperten und Wissenschaftlern ein
Kleinod – ideal für genetische Experimente, botanische Feldversuche und Forschungsprojekte zur Strahlensicherheit.
Pläne für ein gewaltiges Freiluftlabor im
Umkreis von zehn Kilometern um den geborstenen Reaktor gibt es bereits. Ein „Internationales Versuchsgelände für Strahlenschutzforschung“ ist im Entstehen, abgeschirmt von der Außenwelt.
Gleich dahinter, bis hin zu jenem Punkt,
wo jetzt noch Polizisten mit Maschinenpistolen und Geigerzählern die Zufahrt versperren, soll eine Touristenattraktion entstehen. Gedacht ist an einen Nationalpark,
mit Wildtieren und seltenen Pflanzen. ™
GAMMA / STUDIO X
vert Strahlung pro Stunde anzeigen. Er weigert sich, entsprechend
den Vorschriften des Zivilschutzes
Katastrophenalarm auszulösen.
Die verzweifelten Ingenieure
rennen zu Paraschin, dem Parteisekretär: „Sergej Konstantinowitsch, der Direktor wirkt geistig
verwirrt. Reden Sie mit ihm!“ Paraschin aber sagt: „Was sollte ich
mit ihm reden. Ich bin schließlich
kein Strahlenexperte.“ Und wendet sich ab.
Der Mann der Partei übersteht
die Schreckensnacht und ihre Folgen, anders als viele seiner Kollegen, unbeschadet. Er wird in der
Folge selbst Direktor des Atomkraftwerks, dessen dritter Block
weitere 14 Jahre in Betrieb bleibt.
Und er steigt schließlich auf zum
unangefochtenen Herrscher der 30Kilometer-Todeszone – zum Leiter
des Staatlichen Amts für Umsiedlungs- und Evakuierungsfragen.
In dieser Funktion vertritt Paraschin bis heute die Ukraine auf
internationalen Konferenzen. In
seinem Schlepptau ist zumeist Wolodymyr Holoscha, einst Paraschins
Stellvertreter als kommunistischer
Parteisekretär, heute Vizeminister Tschernobyl-Opfer (1987): Geruchlos und unsichtbar
im Katastrophen-Ministerium.
Die beiden Agitprop-Experten aus den ge den Torso des Reaktorblocks. Für seine
Tagen der Einparteienherrschaft nehmen Eindrücke findet er Worte, die ihm den
wie selbstverständlich am Tisch Platz, als Dank der Sowjetführung eintragen: „Wir
am 6. September 2005 in Wien der mehr konnten Menschen auf den Feldern arbeials 600-seitige Bericht vorgestellt wird zu ten sehen, Vieh auf den Weiden, fahrende
den Folgen der Katastrophe von Tscher- Autos auf den Straßen“, funkt Blix hinaus
in die Welt. Rund um den Reaktor sehe
nobyl, 20 Jahre danach.
Den Rapport verantwortet das Tscher- es auch nicht übel aus: „Die Russen sind
nobyl-Forum der Vereinten Nationen, in zuversichtlich, dass sie in der Lage sein
dem sich unter Federführung der Interna- werden, das Gebiet zu säubern. Es wird
tionalen Atomenergiebehörde auch Ver- wieder landwirtschaftlich nutzbar sein.“
treter der Weltgesundheitsorganisation, Am Kiewer Institut für Strahlenmedizin
fünf weiterer Uno-Organisationen sowie hängt bis heute eine Ehrentafel, mit der
der Weltbank und der Regierungen Weiß- die Regierung der Sowjetunion Hans Blix
russlands, Russlands und der Ukraine zu- würdigt für seine Rolle bei der Bewältigung der Katastrophe von Tschernobyl.
sammengeschlossen haben.
Blix tritt 1997 als IAEA-Direktor zurück.
Das Expertengremium kommt nicht nur
zu dem günstigen Schluss, bis dato seien le- Tschernobyl aber bleibt er verbunden. Er
diglich 56 Todesopfer zu beklagen. Es si- führt nun den Vorsitz in der Versammlung
gnalisiert Entwarnung auf breiterer Front. der Geberländer, die unter dem Dach der
Der WHO-Vertreter Michael Repacholi for- Europäischen Bank für Wiederaufbau und
muliert das in Wien mit Worten, die auch Entwicklung eine Milliarde Euro für einen
Laien verstehen: „Die Hauptbotschaft des neuen Reaktorsarg aufbringen.
Deutschland liegt dabei mit direkten und
Tschernobyl-Forums lautet – keine Beunruhigung.“ Die über Jahrzehnte gewachse- EU-gebundenen Beiträgen von 127 Millione, Systemgrenzen übergreifende Partner- nen Euro unter den Einzahlern an vordeschaft zwischen den Eliten der sowjeti- rer Stelle. Doch obwohl die Finanzierung
schen Atomforschung und ihren Kollegen gesichert ist, kommt das Projekt auch nach
mehr als acht Jahren nicht recht voran. An
im Westen hat Früchte getragen.
Als Galionsfigur der Gesinnungsge- einzelnen Studien, die dem Gremium vormeinschaft macht sich von Beginn an Hans liegen und eine neue, milliardenteure
Blix verdient. Der schwedische Berufsdi- Schutzhülle für verzichtbar erklären, weil
plomat mit der professoralen Ausstrahlung kaum radioaktiver Brennstoff im Meiler
führt von 1981 an im Rang des General- verblieben sei, liegt es nicht.
Der quälende Fortgang des Bauvorhadirektors die IAEA. Am 8. Mai 1986 überfliegt Blix als erster westlicher Augenzeu- bens scheint eher jenen Vorgängen hinter
Gesellschaft
Die innere Emigration
Ortstermin: Wie die Hedwig-Dohm-Oberschule in Berlin-Moabit
versucht, türkische Eltern zu integrieren
S
FOTOS: MARCO-URBAN.DE
Es sind diese Eltern, die man gewinnen agogentage und schwer kontrollierbare
o charmante Frauen hier, das ist doch
mal was Positives“, sagt der Senator, muss. Sie sind besorgt um ihre Kinder, also Schüler erlebt, die in ruhigen Momenten
und ganz kurz nur gefriert der Blick werden sie wollen, dass sich etwas ändert, hilflose Sätze sagten wie: „Warum gibt es
von Derya Ovali, dann schiebt sie eine aber was bremst sie bisher? Warum kom- hier nicht mehr Deutsche, manchmal würHaarsträhne von der Stirn und strafft sich. men sie nicht zum Elternabend? Warum de ich gern mehr Deutsch sprechen, schaDas hier ist wichtig, sie wird vieles zu er- integrieren sie sich nicht so, wie es deut- de, dass es hier keine Deutschen gibt.“
Derya hat Eltern erlebt, die unglücklich
klären versuchen, vielleicht gibt es ja eine sche Politiker von ihnen verlangen? Warum lassen sie Lehrer glauben, ihr Kind sei darüber sind, dass ihren Kindern nur die
Chance.
Hauptschule bleibt. Manche bilden sich
Ein stilles Klassenzimmer in Berlin- ihnen egal?
Derya sagt: „Sie haben Angst, dass sie ein, dass der deutsche Staat eben keine
Moabit, Hedwig-Dohm-Oberschule, roter
Backstein und die üblichen Graffiti nicht genug Deutsch können und Au- Türken auf deutschen Realschulen und
draußen, drinnen in Raum 106 der Türki- ßenseiter sind“, was seltsam klingt bei Gymnasien akzeptiert, was soll man masche Bund Berlin-Brandenburg und der einer Schule, in der 75 Prozent der Kin- chen, sie wollen uns eben nicht.
Sie schotten sich ab, und sie fühlen sich
Berliner Bildungssenator Klaus Böger: Ver- der aus Migrantenfamilien kommen. Aber
handelt wird über die Frage, welche Schuld viele Eltern, sagt Derya, sehen das wirk- bestätigt, wenn sie hören, wie Edmund
Migranteneltern daran tragen, dass so viel lich so. Sie reagieren verschreckt auf Stoiber in Bayern und Jörg Schönbohm in
schiefläuft in den Schulen, es geht um In- lange deutsche Briefe, die von der Schule Brandenburg auf die Rütli-Krise reagieren,
kommen. Die Schule weiß das jetzt. In diese Ideen, dass man diejenigen abschietegration und innere Emigration.
ben möge, die zu wenig
Es spricht Derya Ovali,
Deutsch können, in die SonDeutsch-Türkin, Studentin
derschule oder die Türkei.
der ErziehungswissenschafNur dass diese Eltern das
ten. Schnell und eifrig
nicht als Absurdität, sondern
spricht sie, über neue Hoffals Bedrohung empfinden.
nung und ein neues Projekt,
Mit einer Vielzahl von arsie ist „Elternlotsin“, der
beitslosen Vätern, Onkeln,
Türkische Bund hat das erVettern, großen Brüdern
funden. Sie kümmert sich
wächst die dritte Generation
um Familien von Hedwigder Einwanderer heran. Für
Dohm-Schülern, ruft sie an
sie ist es normal, dass Arund redet Türkisch mit ihbeitsvermittler mit den Achnen, besucht sie und lädt sie
seln zucken, wenn man nach
ein, und sie kommen auch –
Jobs oder Lehrstellen fragt.
gestern erst hatte sie so ein
Es ist eine Zeit, die die FaTreffen. Den türkischen Elmilien verändert und auch
tern erklärt sie die Welt der
unerwartete Entwicklungen
deutschen Schule, der Rebringt. Neuerdings, sagt Eren
geln, Rechte, Pflichten, und
Ünsal, die Sprecherin des
jetzt ist sie hier, um dem
Türkischen Bunds, gebe es
Senator die Welt der türki- Lotsin Ovali (l.), Senator Böger (M.): Deutsche Regeln, Rechte, Pflichten
„eine Auflösung der klaren
schen Eltern zu erklären.
Schwierige Dinge erklärt sie. Es ist ein wichtigen Fällen schickt sie Übersetzun- Rollenstrukturen. Man sieht mehr Väter,
gen mit.
die sich um die Erziehung kümmern, weil
Versuch.
Die Schule schickt diese Lotsen in die sie die Zeit dazu haben“.
Die Hedwig-Dohm-Oberschule ist RealMehr kümmern: Das kann Gutes heischule, Europaschule sogar, das klingt nicht Familien als Vorbild, als lebendes Beispiel:
nach Aufstand und Krawall. Aber es ist Schaut hin, es lohnt sich. Schaut sie euch an. ßen. Es kann auch bedeuten: mehr SchläSchaut euch Derya an, ein Kind aus ge für das Kind.
auch die Schule, auf deren Schulhof vor
Schlagen ist sehr viel üblicher in Mivier Monaten ein ehemaliger Schüler ver- Kreuzberg, 23 ist sie jetzt und studiert. Sie
suchte, einer schwangeren Schülerin das hat einen Vater, der, wie sie sagt, „des grantenfamilien als in anderen. Studien beKind im Leib totzutreten, dessen Erzeu- Deutschen nicht ganz perfekt mächtig“ ist, sagen, dass deren Söhne und Töchter zweiaber dieser Vater war es, der sich Derya bis dreimal häufiger misshandelt werden
ger er war.
Derya Ovali spricht über türkische El- zur Brust nahm, als sie nach der Zehnten als andere Kinder. Derya sagt, bei ihren
tern, die selten zu Wort kommen in der von der Schule wollte. „Du machst wei- Familienbesuchen sei von solchen Dingen
Debatte dieser Tage, über diejenigen, die ter“, sagte er. „Du wirst später nicht schuf- nicht die Rede gewesen, vielleicht noch
nicht die Rede gewesen. Wenn das geum ihre Kinder fürchten, die Angst haben ten wie wir.“
Sie schuftet, aber anders als ihr Vater. schieht, dann muss sich zeigen, ob sich die
vor Gewalt und Drogen, Angst, dass sie
mit ihren pubertierenden Söhnen und Für die Ausbildung hat sie an einer Haupt- Eltern etwas sagen lassen von einer fremTöchtern nicht mehr fertig werden und schule gearbeitet, in der es fast keine deut- den Studentin. Selbst wenn sie Türkisch
schen Schüler mehr gibt, hat harte Päd- spricht.
dass es eine Zukunft für sie nicht gibt.
Barbara Supp
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Wirtschaft
Trends
BÖRSE
Insideruntersuchung
bei E.on
I
MICHAEL DANNENMANN
m Zusammenhang mit dem Übernahmekampf um den spanischen
Versorger Endesa hat die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht
(BaFin) offenbar erste Anhaltspunkte
für verbotene Insidergeschäfte mit
E.on-Aktien gefunden. „Wir haben eine
förmliche Untersuchung eingeleitet“,
bestätigt eine BaFin-Sprecherin jetzt.
Nach „Hinweisen von außen“ hatte die
Behörde schon vor einigen Wochen mit
Vorermittlungen begonnen (SPIEGEL
12/2006). Der deutsche Energiegigant
hatte am 21. Februar bekanntgegeben,
den spanischen Konkurrenten für rund
29 Milliarden Euro übernehmen zu
wollen, woraufhin der E.on-Kurs um bis
zu sechs Prozent anstieg. Die Experten
der Bundesanstalt konzentrieren sich
nun bei ihrer Überprüfung auf die
Börsengeschäfte, die vor diesem Termin
getätigt wurden.
Müller
KON Z E R N E
RAG strafft Verwaltung
KIRSTEN NEUMANN / DDP
B
is spätestens Ende 2009 will die RAG mehr als 1500 Verwaltungsjobs abbauen.
Das hat der Vorstand vor wenigen Tagen beschlossen. Die Stellenkürzungen
sind Teil eines großangelegten Restrukturierungsplans, der zu jährlichen Einsparungen von rund 250 Millionen Euro führen soll und von der Beratungsfirma
Boston Consulting erarbeitet wurde. Danach werden die Verwaltungen der bislang
eigenständigen Tochtergesellschaften Degussa, Steag und RAG Immobilien mit
zurzeit noch mehreren tausend Beschäftigten aufgelöst und vollständig auf die
Konzernzentrale übertragen. Die verbleibenden operativen Ableger sollen in GmbH
umgewandelt werden und künftig direkt an den Vorstand berichten. Durch den
Umbau will der Vorstand die Entscheidungsprozesse beschleunigen und die RAG
vor dem Hintergrund des angestrebten Börsengangs effizienter machen. „Wir tragen Hierarchieebenen ab, die uns träge machen“, sagt ein Vertrauter von RAG-Chef
Werner Müller. Die Verwaltungsreform ist aus Sicht des Managements der letzte
Schritt einer weitreichenden Neuausrichtung. So hat die RAG seit dem Amtsantritt
Müllers insgesamt 280 Firmen verkauft und sich dadurch von 28 000 Mitarbeitern
und 5,6 Milliarden Euro Umsatz getrennt. Der Aufsichtsrat soll die Maßnahme in
seiner Sitzung am 17. Mai absegnen.
E.on-Konzernzentrale in Düsseldorf
KON J U N KT U R
Fachleute des interministeriellen
„Arbeitskreises Gesamtwirtschaftliche
Vorausschau“ gehen davon aus, dass die
deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um
eineinhalb bis zwei Prozent zulegt.
Noch zu Jahresbeginn hatten die Konjunkturexperten aus den Ministerien für
MARC DARCHINGER
Mehr Wachstum in Sicht
ie Bundesregierung wird ihre
Wachstumsprognose für 2006
D
voraussichtlich nach oben korrigieren.
Glos
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Wirtschaft, Arbeit und Finanzen sowie
des Kanzleramts mit einem Plus von
einem bis eineinhalb Prozent gerechnet.
Im Jahreswirtschaftsbericht hatten sie
auch einen spitz gerechneten Wert von
1,4 Prozent angegeben. Die neue
Prognose des Arbeitskreises wird
Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU)
Ende April präsentieren. Ursache für
die Belebung sind die nach wie vor
hohen Exporte und die zunehmenden
Investitionen. Selbst die Konsumnachfrage zieht nach Feststellung der
Fachleute neuerdings wieder etwas an.
75
Wirtschaft
Trends
AIR BERLIN
Piloten proben
den Aufstand
in Konflikt mit ihrer wichtigsten Beschäftigungsgruppe,
den Piloten, droht der zweitgrößten deutschen Fluggesellschaft Air Berlin im Vorfeld ihres
geplanten Börsengangs. In einem
vertraulichen Internet-Forum rufen unzufriedene Flugzeugführer
ihre Kollegen neuerdings zum
massenhaften Eintritt in die Pilotenvereinigung Cockpit (VC) auf
– offenbar mit Erfolg. InzwiHunold
schen sind nach VC-Angaben
schon über ein Drittel der rund
500 Air-Berlin-Cockpit-Angestellten der
Organisation beigetreten. Die Funktionäre behandeln ihre Namen allerdings vertraulich, da Air-Berlin-Chef
Joachim Hunold als erklärter Gewerkschaftsgegner gilt. Mit ihrer Kampagne
wollen die Flugzeugführer bessere
Arbeitsbedingungen, einen Tarifvertrag
und einen Betriebsrat durchsetzen,
nachdem Ende vergangenen Jahres bei
einer geheimen Abstimmung bereits gut
40 Prozent aller Kapitäne und Co-Piloten für die Gründung einer Arbeitnehmervertretung votiert hatten (SPIEGEL
49/2005). Die Air-Berlin-Rebellen kriti-
ROLAND MAGUNIA / DDP
E
sieren, dass sie, gemessen an den Kollegen vergleichbarer Carrier, trotz
längerer Arbeitszeiten bis zu 30 Prozent
weniger verdienen und zunehmend
unattraktive Kurzstreckeneinsätze
absolvieren müssten. Das Management
weist die Vorwürfe vehement zurück.
Als noch recht junges Unternehmen,
argumentiert Flugvorstand Karl F. Lotz,
sei Air Berlin mit Konkurrenten wie
LTU oder HapagFly nur bedingt vergleichbar. Außerdem hätten auch viele
Wettbewerber die Gehälter für neueingestellte Piloten inzwischen deutlich
abgesenkt und die Arbeitszeiten erhöht.
Kundin, Verkäuferin
VOLKMAR SCHULZ / KEYSTONE
Rechtsunsicherheit“ und gefährde die „bereits bestehende Flexibilität“ im Arbeitsrecht, heißt
es in einem Papier der Handelsverbände HDE und BAG, das
demnächst an die Spitzen von
Regierung und Koalitionsfraktionen geschickt werden soll.
Darin wehren sich die Verbände
insbesondere gegen den Vorschlag, befristete Zeit-Jobs von
bis zu zwei Jahren abzuschaffen.
Diese seien „für beide Seiten berechenbar“, hätten sich „über viele Jahre bewährt“ und im Einzelhandel als „unverzichtbares Flexibilitätsinstrument“
erwiesen. Längere gesetzliche Probezeiten seien kein Ersatz, heißt es in dem
Papier, da bestimmte Personengruppen,
wie etwa werdende Mütter, ohnehin
besondere Schutzrechte genießen und
daher nicht erfasst würden. Zudem sei
zu befürchten, dass die Gerichte den
gelockerten Kündigungsschutz wieder
einschränkten. Die geplante Regelung
werde von den Verbänden deshalb
„entschieden abgelehnt“.
KÜNDIGUNGSSCHUTZ
Handel pocht auf
befristete Jobs
K
räftig Gegenwind bekommt die
Bundesregierung bei ihren Plänen,
den Kündigungsschutz zu reformieren,
diesmal von den Einzelhandelsverbänden. Das Vorhaben der Großen Koalition, die Probezeit von 6 auf 24 Monate
zu verlängern und im Gegenzug befristete Arbeitsverträge abzuschaffen
(SPIEGEL 15/2006), führe zu „neuer
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VW-Vorstand Bernhard: „Wenn wir die Probleme jetzt nicht lösen, steht das gesamte Unternehmen auf dem Spiel“
AU TOI N D U ST R I E
Wolfsburger Malaise
Z
ehn Sekunden noch, dann geht es
los. Eine Digitalanzeige zählt rückwärts, noch fünf, vier, drei, zwei Sekunden. Auf Cape Canaveral wird so der
Start einer Rakete angekündigt. In Wolfsburg schließen sich bei „null“ die Türen
von fünf kleinen Wägelchen, in die sich
rund 30 Menschen gequetscht haben. Die
Passagiere suchen noch nach Ablagemöglichkeiten für ihre Taschen und Regenschirme, da zuckelt der Zug schon los.
„Guten Tag, meine Damen und Herren,
ich begrüße sie auf unserer Werkstour“,
sagt der Führer: „Wir befinden uns in der
größten Autofabrik der Welt.“ Die meisten
Passagiere sind in Wolfsburg, um ihr neues Auto abzuholen. Sie haben noch ein
paar Stunden Zeit. Und jetzt wollen sie
sehen, wie der Golf gebaut wird. „47 100
Mitarbeiter produzieren an allen Werktagen 24 Stunden am Tag, alle 21 Sekunden
verlässt ein Auto die Fabrik“, sagt der Füh78
rer. Die letzten Worte wiederholt er, weil
sich viele das gewiss kaum vorstellen können: „Alle 21 Sekunden ein Auto.“
Der Mann macht seinen Job gut. Die
Fahrgäste sind beeindruckt. Was soll der
Führer auch anderes erzählen?
Er könnte sagen: Wir befinden uns in
einer der unproduktivsten Autofabriken
der Welt. Hier wird jedes Jahr ein Verlust
in Höhe von mehreren hundert Millionen
Euro erwirtschaftet. Hier benötigen die
Mitarbeiter 47 Stunden, um einen Golf zu
montieren. Konkurrenten schaffen das bei
ähnlichen Fahrzeugen in weniger als der
Hälfte der Zeit. Aber Wolfsburg ist noch
gut im Vergleich zum VW-Werk Emden.
Dort vergehen 54 Stunden, bis ein Passat
fertig ist. Das ist fast dreimal so viel Zeit
wie beim besten Wettbewerber. Willkommen bei Volkswagen.
Wolfgang Bernhard würde es wohl so
formulieren, wenn er eine Werkstour leiten
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müsste. Der einstige McKinsey- und DaimlerChrysler-Manager soll Volkswagen sanieren. Er ist Vorstand. Aber er redet nicht
wie der Vorstand einer deutschen Aktiengesellschaft, dessen Vertragsverlängerung
auch vom Betriebsrat abhängt. Wie Konzernchef Bernd Pischetsrieder beispielsweise, der seine Sätze so oft relativiert,
dass man kaum noch weiß, was er sagen
wollte.
Bernhard sagt, dem VW-Konzern drohe
ein ähnliches Schicksal wie General Motors. Der amerikanische Riese muss 30 000
Mitarbeiter entlassen und kämpft gegen
den drohenden Konkurs. „Wenn wir die
Probleme jetzt nicht lösen“, sagt der Markenchef, „dann steht langfristig das gesamte Unternehmen auf dem Spiel.“ Man
könnte die letzten Worte wiederholen, weil
viele sich das kaum vorstellen können:
„Dann steht langfristig das gesamte Unternehmen auf dem Spiel.“
RIC FRANCIS / AP (L.); HANS-GÜNTHER OED (R.)
Droht Volkswagen ein ähnliches Schicksal wie dem US-Konkurrenten General Motors, der
ums Überleben kämpft? Die Probleme ähneln sich, allzu lange wurden sie von den
VW-Managern verschwiegen und verdrängt. Doch schnelle und harte Schnitte wird es nicht geben.
Wirtschaft
VW-Produktion in Wolfsburg: Mit jedem Golf, den das Unternehmen verkauft, macht es einen Verlust
Viele Aufsichtsräte bezweifeln, dass der
Bayer der Richtige ist, um das Unternehmen aus der Krise zu führen. Zu lange
schon sind die Probleme bekannt. Zu
lange wurden sie verdrängt, erst von
Piëch, dann von Pischetsrieder. Das Unternehmen leidet noch immer unter den
gleichen Krankheiten wie bei der letzten
Krise 1993: Die Modelle werden zu teuer
entwickelt und produziert, die Fabriken
in Deutschland arbeiten mit Verlust, und
sie können nicht annähernd ausgelastet
werden.
Nachholbedarf
Fahrzeug-Montagezeiten
in Stunden
Renault Mégane
Werk: Palencia
Ford Focus
Valencia
Fiat Stilo
Cassio
Opel Astra
Bochum
VW Golf
Mosel
Wolfsburg
Ford Mondeo
Genk
VW Passat
Emden
17
19
23
27
33
47
19
54
Quelle: Harbour Report Europe
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Wenn Pischetsrieders Vertrag verlängert
wird, dann hat der Konzernboss das auch
Bernhard zu verdanken. Dem trauen die
Aufsichtsräte die harte Sanierungsarbeit
zu. Aber der junge Wilde brauche einen,
der ihn gelegentlich etwas bremst.
Der Mann, von dem offenbar so viel abhängt, wird auf der Straße leicht übersehen. Bernhard ist eher klein und schmächtig. Unter mehr als 200 Gästen bei einem
Empfang des Konzerns ist er dennoch
schnell zu finden. Hier, am Rande des
Autosalons in Genf, muss man nur zur
größten Menschentraube
gehen. Mittendrin redet
sich der Mann heiser,
dessen Verpflichtung den
Aktienkurs des VW-Konzerns zeitweise um acht
Prozent nach oben schießen ließ.
Die Sätze kommen wie
aus einem Maschinengewehr: Der Gesetzgeber
fordert höhere Umweltund Sicherheitsstandards.
Die Kosten für ein Auto
werden deshalb steigen.
In den neunziger Jahren
konnte VW dies durch
höhere Preise ausgleichen.
Das ist vorbei. Die Kunden
bezahlen nicht mehr Geld
für ein Auto. Sie fordern
Rabatte. Toyota macht das
VW-Chef Pischetsrieder
wenig aus, aber VolkswaBangen um den Job
KARL-BERND KARWASZ
Vor wenigen Jahren noch stieg die Marke Volkswagen scheinbar unaufhaltsam auf
in Richtung Mercedes-Benz. Nachdem der
damalige Konzernchef Ferdinand Piëch das
Unternehmen mit der Plattformstrategie
gerettet hatte, strebte er nach Höherem.
Er investierte Milliarden für den Phaeton
und den Touareg, für die Autostadt in
Wolfsburg und die gläserne Manufaktur in
Dresden. Der Konzern emanzipierte sich
scheinbar von seiner eigenen Geschichte,
von Adolf Hitler und Ferdinand Porsche,
die mit dem Kraft-durch-Freude-Auto das
deutsche Volk motorisieren wollten, vom
Käfer, der für das Wirtschaftswunder
stand, und vom Golf, nach dem eine Generation benannt wurde.
Plötzlich ging es nicht mehr um Wagen
für das Volk, sondern um Limousinen für
die Oberschicht. Es ging nicht mehr um Fabriken, sondern um Architekturpaläste wie
die Manufaktur in Dresden, in denen Autos
wie ausgestellte Kunstgegenstände wirken.
Alles glitzerte und glänzte, sogar die Bilanz, die zu Piëchs Abschied 2002 einen
Gewinn von 5,4 Milliarden Euro auswies.
Vier Jahre später sind 20 000 bis 35 000
Arbeitsplätze gefährdet. In Braunschweig,
Salzgitter und Kassel fürchtet die Belegschaft die Schließung ihres Werks oder
eines Teils davon. Die Fabrik in Brüssel hat
kaum noch Chancen. Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats am 19. und 20. April
will Vorstandschef Bernd Pischetsrieder den
Rettungsplan für Volkswagen präsentieren
und damit auch seinen eigenen Job sichern.
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79
Wirtschaft
Fabriken, schauen Sie sich an, was da läuft.
Dann wissen Sie Bescheid.“
Für Fußgänger führen mehrere Wege
zum Werk in Wolfsburg. Es gibt eine
Brücke über den Mittellandkanal. Sie ist
überdacht, und die Menschen werden auf
einem Laufband transportiert wie in Flughäfen. Besucher der Autostadt kommen so
zu einer künstlich angelegten Lagunenlandschaft, in der das Unternehmen seine
Marken in Glas- und Stahlpavillons präsentiert. Das ist die schöne Scheinwelt.
Oder man geht durch einen Tunnel unter dem Mittellandkanal hindurch zu Tor
17. Der Tunnel ist gekachelt wie eine Bahnhofstoilette. Durch ihn laufen Tausende
von VW-Arbeitern täglich zu den Montage-
vollautomatisch eingebaut. Die Anlagen
kosteten Milliarden und müssten, um wirtschaftlich zu arbeiten, eigentlich sechs Tage
die Woche im Einsatz sein. Doch am Donnerstag ist Schicht, für Wachendorf und
für die vollautomatischen Produktionsanlagen. Am Freitag gleichen die VW-Werke
in Wolfsburg, Emden, Braunschweig, Salzgitter, Kassel und Hannover Geisterfabriken. Nichts bewegt sich. In den meisten
Hallen ist das Licht ausgeschaltet.
Man muss nichts von Wirtschaft verstehen, um zu erkennen, dass ein Unternehmen auf Dauer so nicht arbeiten kann.
Andere Konzerne hätten Arbeitsplätze
gestrichen. Volkswagen aber ist kein gewöhnliches Unternehmen. Im Aufsichtsrat
OLAF BALLNUS
STEFAN SOBOTTA / VISUM
gen? Die deutschen Fabriken zählen zu
den unproduktivsten. Dennoch zahlt VW
seinen Arbeitern die höchsten Löhne. Diese Kombination ist tödlich.
Die Umstehenden wagen keinen Einwand. Bernhard redet, als handele es sich
um Naturgesetze. Und er wird schnell ungeduldig mit Menschen, die seinen Gedanken nicht flott genug folgen. Alles muss
schnell gehen – wie in seiner Karriere.
Aufgewachsen ist Bernhard zusammen
mit acht Geschwistern in dem 700-SeelenDorf Böhen im Allgäu. Er studierte in
Darmstadt und New York und räumte
bei den ersten Stationen seiner Karriere
schnell aus dem Weg, was ihn störte – und
wenn es der eigene Nachname war. Als
VW-Arbeiter Schawe, Wachendorf, Krause, -Betriebsrat Osterloh: „Ein absolutes Armutszeugnis für die Manager“
Ayerle geboren, übernahm er den Geburtsnamen seiner Mutter, Bernhard. Ayerle klingt nach Allgäu. Und Ayerle kann
man im Ausland nicht aussprechen.
Drei Jahre arbeitete der Wirtschaftsingenieur bei McKinsey, dann sechs Jahre
bei Mercedes-Benz, bis man ihm zusammen mit dem heutigen DaimlerChryslerChef Dieter Zetsche die Sanierung von
Chrysler anvertraute. Sechs Fabriken wurden geschlossen oder verkauft, 26 000 Arbeitsplätze gestrichen.
Wer Bernhard wütend erleben will, muss
ihn nur fragen, ob er Volkswagen jetzt mit
einer ähnlichen Hire-and-fire-Politik sanieren wolle. Die Miene sagt, mit welchem
Blödsinn werde ich hier belästigt. Dann legt
Bernhard los. „Was heißt hire and fire? Das
war gar nicht möglich bei Chrysler. Wer
dort Mitarbeiter entlässt, muss ein bis zwei
Jahre die vollen Löhne weiterzahlen. Fragen Sie die amerikanische Automobilarbeiter-Gewerkschaft. Zusammen mit ihr
haben wir den Jobabbau bewältigt.“
Aber dürfte es im VW-Konzern nicht
schwieriger werden als in den USA? „Und
wenn? Wir müssen die Probleme hier lösen, sonst können wir die Autoproduktion
in Deutschland vergessen.“ Und wie konnte es so weit kommen? „Gehen Sie in die
80
hallen, in denen es düster und laut ist und
die Maschinen häufig ausfallen. Das ist die
reale Arbeitswelt, in der Leute wie Ralf
Schawe, Ronald Wachendorf und Erhard
Krause seit Jahren mitbekommen, was alles schiefläuft bei Volkswagen.
Wachendorf erfuhr 1993 schon, was Krise heißen kann. Er hatte gerade das Richtfest für sein Haus gefeiert, als es hieß, VW
habe 30 000 Mitarbeiter zu viel. „Mir ist
fast das Herz stillgestanden“, sagt er. Doch
dann kam Personalvorstand Peter Hartz
mit seiner Viertagewoche. 30 000 Jobs waren gerettet, weil alle weniger arbeiteten.
Das erschien vielen wie eine geniale Lösung. Aber es war eine große Illusion.
Im Vergleich mit ihren Kollegen verdienten die Arbeiter von Volkswagen
schon immer gut. Durch die Viertagewoche
verringerte sich der Lohn zwar um 15 Prozent. Weil die Arbeitszeit aber um 20 Prozent gekürzt wurde, ist der Stundenlohn
gestiegen. Und damit wuchs der Anreiz für
das Unternehmen, Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen.
In kaum einem anderen Autowerk der
Welt verrichten Roboter so viel Arbeit wie
in Wolfsburg. Sie schweißen und schrauben, sie kleben und montieren. Scheiben,
Batterien, Räder und das Cockpit werden
d e r
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haben die Arbeitnehmervertreter und das
Land Niedersachsen die Mehrheit. Nicht
ein ordentlicher Gewinn war das Unternehmensziel, sondern eine möglichst hohe
Beschäftigung.
Die Viertagewoche sollte eine Zwischenlösung sein. Wenn der Verkauf wieder
steigt, sollten die Bänder wieder an fünf
Tagen laufen. Doch der Absatz stieg nicht.
Seitdem stehen die teuren Produktionsanlagen fast die halbe Woche still.
Die Arbeiter gewöhnten sich schnell an
den neuen Rhythmus. Aber auch die VWBosse, erst Piëch und dann Pischetsrieder,
versuchten nicht, etwas daran zu ändern.
Lieber fügten sich die VW-Chefs in eine
Art Nichtangriffspakt mit dem Betriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert. Sie sanierten die deutschen VW-Fabriken nicht, was
Arbeitsplatzabbau und Ärger mit Volkert
bedeutet hätte, und der ließ ihnen so manches Missmanagement durchgehen.
„Meinen Sie denn, es liegt an uns“, fragt
Arbeiter Wachendorf, „dass es 47 Stunden
dauert, bis ein Golf fertig ist?“
Da ist die neue Laserschweißanlage, die
600 Millionen Euro gekostet hat. Der technikverliebte Produktionsvorstand Folker
Weißgerber hatte sie durchgesetzt. Jetzt
fällt sie häufig aus, und in der Lackiererei
Autostadt Wolfsburg: Schöne und teure Scheinwelt in einer künstlich angelegten Lagunenlandschaft
müssen 300 Mitarbeiter zusätzlich eingesetzt werden, um Schweißnähte mit PVC
zu überstreichen.
„Vergiss die Tür nicht“, sagt sein Kollege Krause. Auch so eine Erfindung Weißgerbers. Außenhaut und Innenseite werden nicht mehr mit einer Falz verbunden,
sondern verschraubt. Die Türen verziehen
sich jetzt häufig. Ständig müssen die Scharniere nachgestellt werden, damit die Türen
nicht schief sitzen. Erst hinten, dann vorn,
und mitunter kommen die Türen zu nahe
an den Kotflügel heran. Dann muss der
noch einmal abmontiert werden. Dies verlängert die Montagezeit jedes Autos um
vier bis sechs Stunden.
In anderen Konzernen werden Manager
für solche Fehlentscheidungen entlassen.
Bei VW schützte Betriebsratschef Volkert
den Vorstand Weißgerber. Das muss nichts
damit zu tun haben, dass Weissgerber der
brasilianischen Geliebten Volkerts den
Auftrag für einen Werbefilm erteilt hatte.
Es kann auch daran liegen, dass durch
dessen neues Produktionskonzept in
Wolfsburg nun auch die Türen für die GolfProduktion in Mosel und Brüssel gebaut
werden. Dadurch wurden einige hundert
Arbeitsplätze im Stammwerk gesichert, der
Wahlbasis des Betriebsratsvorsitzenden.
Wachendorf, Krause und Schawe sind
voll von Geschichten über Missmanagement in der Produktion. Sie kennen auch
die Ursachen. In kaum einem Konzern waren Entwicklung und Produktion so getrennt wie bei Volkswagen. Die Konstrukteure entwarfen ihre Autos, dann mussten
die Produktionsexperten zusehen, wie die
Fahrzeuge zu montieren sind. Sie planten
dies in ihren Büros auf ihren Computern
und wussten gar nicht, wie es am Fließband aussieht.
„Habt ihr schon mal einen lebendigen
Planer am Band gesehen?“, fragt Wachendorf seine Kollegen. Haben sie nicht. Es
überrascht sie deshalb auch nicht, dass die
Konstrukteure eine Fertigungszeit von 33
Stunden für den neuen Golf errechnet hatten und es jetzt 47 Stunden dauert.
Der erfolgreichste Autokonzern der
Welt, Toyota, führt seit Jahrzehnten vor,
wie es besser geht. Vom ersten Tag an arbeiten die Entwickler und Produktionsexperten zusammen. Die Ingenieure müssen
auf manches verzichten, weil es in der Fabrik zu viel Arbeit verursachen würde.
Aber die Kunden vermissen offenbar
nichts an ihren Toyotas.
Beim Golf durften die Entwickler sich
verwirklichen. Sie verpassten ihm eine
Mehrlenkerhinterachse und eine elektromechanische Lenkung. Beides kostet mehrere hundert Euro. Doch außer Testfahrern spürt diese Feinheiten kaum jemand.
VW-Arbeiter Krause sagt, er liebe den
Golf. „Das ist ein super Auto.“ Für das
Unternehmen ist der Golf, rein wirtschaftlich betrachtet, fast ein Totalschaden. Verglichen mit dem Vorgänger, erhöhten sich
die Montagezeiten und die Produktionskosten. Mit jedem Golf, den VW verkauft,
macht das Unternehmen einen Verlust.
Das ist, als würde McDonald’s mit jedem
Big Mäc Geld verlieren.
Der Manager, der das ändern soll, bewegt sich meist im Laufschritt vorwärts.
Wie ein Getriebener hetzt VW-Vorstand
Bernhard über die Flure. Er schickt
Führungskräfte ein paar Tage in die Fabrik. Sie sollen sehen, wie es jenseits des
eigenen Schreibtischs zugeht. Er setzt Entwickler und Produktionsexperten in einen
Raum. Sie müssen überlegen, wie die Kosten gesenkt werden können. Abends lässt
Bernhard sich die Vorschläge präsentieren
und entscheidet, was umgesetzt wird.
In seinem ersten Jahr in Wolfsburg hat
Bernhard mehr erreicht als andere Vorstände in fünf Jahren. Dennoch wirkt er oft
genervt. Er will alles, und das am liebsten
sofort. Er sagt: „Let’s stop bullshitting.“
Ein Manager hat ein Qualitätsproblem
nach drei Monaten immer noch nicht
gelöst. „Den schmeiß ich raus“, sagt Bernhard. Schließlich: „Wir sind hier nicht auf
einem Kindergeburtstag.“
Vielleicht müssen Sanierer so reden.
Bernhard erweckt mitunter den Eindruck,
d e r
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ZIELSKE / BILDERBERG
er könne gar nicht anders. Die Krise, das
ist seine Zeit. Da wird nicht lange geplant
und diskutiert. Da muss entschieden werden. Das geht dann, wie Bernhard sagt,
„bang, bang, bang“.
Auf langjährige VW-Manager wirkt
Bernhard wie ein Außerirdischer, der auf
dem Planet Wolfsburg gelandet ist. Zwei
Jahre lang wurde zuvor über einen Geländewagen geredet und geredet. Bernhard
kam, drückte die Kosten für das Modell
und entschied, dass es in Wolfsburg gebaut
wird – bang.
Solche Geschichten erzählen VW-Manager voller Ehrfurcht, andere dagegen mit
viel Unverständnis. Bernhard hat angekündigt, Teile der Werke in Braunschweig,
Kassel und Salzgitter müsse man schließen
– oder einen Käufer für sie suchen. Es kam
ihm nicht in den Sinn, dass dies die falsche
Reihenfolge ist. Zumindest in den Augen
von mehreren tausend Mitarbeitern und
in denen des Betriebsrats.
Der neue Vorsitzende des Gremiums,
Bernd Osterloh, hat sein Büro in einem
Backsteinbau direkt vor der Golf-Montage.
Die Tür steht offen. Drinnen sitzt ein Mann
mit einem fast kahlgeschorenen Kopf. Er
trägt ein Designerhemd mit extra großen
Knöpfen und sagt als Erstes: „Nur um eines gleich klarzustellen: Ich verdiene 6500
Euro im Monat.“
Osterloh musste eine Menge klarstellen
in den vergangenen Monaten. Sein Vorgänger Volkert verdiente rund 30 000 Euro
im Monat und ließ sich obendrein noch
die Reisen mit der Geliebten und die Besuche bei Prostituierten vom Konzern bezahlen. Als Betriebsrat stand Osterloh gewissermaßen unter Generalverdacht. Neun
Monate lang tingelte er durch Gaststätten
und Turnhallen. Fast jedes Wochenende
stellte er sich der Diskussion mit VWArbeitern. Er musste sich ihre Wut und
Enttäuschung anhören. Sein Vorgänger
war abgetaucht.
Nun aber ist Osterloh geradezu vergnügt. Bei der Betriebsratswahl hat er die
überwältigende Mehrheit der Stimmen er81
Wirtschaft
TIM WEGNER
halten. Die Belegschaft glaubt ihm, dass er
mit der Lustreisen-Affäre nichts zu tun hatte. Und sie setzt auf ihn bei den Verhandlungen um das Sanierungsprogramm. Wer
erwartet, Osterloh würde gleich über Bernhard herziehen, wird enttäuscht. „Er hat
recht“, sagt er, „die Lage der Marke
Volkswagen ist ernst.“
So einen Satz hätte sein Vorgänger nie
gesagt. Volkert war, wie die VW-Vorstände,
ein Meister des Schönredens und -rechnens. Gewinne im Ausland wurden mit
den Verlusten der deutschen Fabriken vermengt. Mischkalkulation nannte Volkert
das. Man könnte auch sagen: Missmanagement. So nennt es Osterloh.
Bei diesem Stichwort kann sich der Betriebsratschef, der eine Ausbildung als Industriekaufmann absolviert hat, mächtig
in Rage reden. Missmanagement in der
Analyst Ellinghorst
„Lohnkosten sind nicht das Problem“
Produktion. In Volkswagen-Fabriken wird
zu viel Technik eingesetzt, die störanfällig
ist. Missmanagement in der Entwicklung.
Der Golf und der Passat sind zu aufwendig
konstruiert. Missmanagement in der Planung. Der Konzern hat rund 100 verschiedene Motoren, eine Vielfalt, die teuer ist
und die Kunden eher verwirrt. Für jene
Manager, die dies zu verantworten haben,
sagt Osterloh, „ist das ein absolutes Armutszeugnis“.
Solche Aussagen bringen ihm auf der
Betriebsversammlung viel Applaus ein.
Aber sie machen die Lage nicht besser.
Was passiert denn, wenn es Bernhard und
anderen Managern gelingen sollte, diese
Fehler abzustellen? Beim nächsten Golf
werden die Türen wieder nach bewährtem
System gebaut. Die Karosserie wird wieder
stärker mit konventionellen Schweißzangen zusammengefügt. Und überflüssige
Technik, die der Kunde nicht spürt, wird
verschwinden. Die Montage des Golfs soll
dann statt 47 nur noch 33 Stunden daud e r
ern. Die Konsequenz ist klar: Viele tausend Arbeiter werden keine Beschäftigung
mehr haben.
Aber sind die hohen Löhne bei VW, die
rund 20 Prozent über denen der Konzerntochter Audi liegen, nicht ebenfalls schuld
an der Krise? Osterloh lächelt. Er scheint
sich über die Frage zu freuen. Der neue
Personalvorstand hat ihm auch schon vorgerechnet: Wenn die Beschäftigten statt
28,8 künftig 35 Stunden arbeiten und dafür
keinen Euro zusätzlich verdienen würden,
könnten bei jedem Golf 300 Euro Kosten
gespart werden. „Und wissen Sie, um wie
viel das unsinnige Türenkonzept den Golf
verteuert?“, fragt Osterloh. Man ahnt es
schon: „um 300 Euro“.
Unterstützt wird der Wolfsburger Betriebsrat von einem, der ideologisch kaum
weiter von ihm entfernt sein könnte: Arndt
Ellinghorst, Analyst bei Dresdner Kleinwort Wasserstein. Der Spezialist für die
Autoindustrie fragt nicht, wie viele Menschen ein Unternehmen beschäftigt. Er will
wissen, wie viel Profit es in den nächsten
Jahren erwirtschaftet.
Ellinghorst gilt als einer der einflussreichsten Automobilanalysten in Deutschland. Er lebt in Köln, hat sein Büro in
Frankfurt und ist häufig in London oder
New York. Er entspricht damit dem Klischee von den fixen Börsenjungs, die von
Unternehmen gemeinhin nur eines fordern: Sie sollen möglichst viele Mitarbeiter
entlassen. Aber Ellinghorst sagt: „Die
Lohnkosten sind nicht das entscheidende
Problem von Volkswagen.“
Der Analyst hat für alles seine Excel-Tabellen, in denen einzelne Zahlen zu Kennziffern verknüpft werden. Das Verhältnis
der Lohnkosten zum Umsatz ist so eine
Größe. Bei Volkswagen machen die Lohnkosten 16,6 Prozent aus. „Die Möglichkeiten, hier zu sparen, sind eher begrenzt.“
Mit seinen Tabellen kann Ellinghorst belegen, was nach seiner Ansicht die Hauptursache für die Wolfsburger Malaise ist. In
den vergangenen zehn Jahren sind die
Materialkosten im Verhältnis zum Umsatz
von 58 auf 74 Prozent gestiegen. Zum Teil
sei dies darauf zurückzuführen, dass VW
mehr von Lieferanten beziehe. VW habe
aber vor allem deshalb stark steigende Materialkosten, weil die Wolfsburger ihre Autos zu aufwendig konstruieren und in ihnen zu viel Technik einbauen, die der
Kunden kaum spürt.
Ellinghorst kann auch ein weiteres Rätsel lösen. Warum konnte Piëch vor seinem
Abgang noch Rekordgewinne vorweisen,
wenn Volkswagen damals schon unter der
Kostenkrankheit litt?
Der VW-Konzern hatte seine Bilanzierung auf die International Accounting
Standards (IAS) umgestellt. Dadurch erhöhte sich der ausgewiesene Gewinn in
den Jahren 2000 und 2001 um 1,6 Milliarden Euro. Zudem war der Dollarkurs gerade hoch. VW konnte voll davon profitie-
s p i e g e l
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83
84
THOMAS KIENZLE / AP (O.); WALTER SCHMIDT / NOVUM (U.)
ren. Insgesamt, sagt Ellinghorst, haben diese beiden Effekte den Gewinn 2000 und
2001 um 30 Prozent erhöht. Die Bilanz sah
schöner aus, aber das Unternehmen war
im Kern nicht viel gesünder als heute.
Es gib nur wenige Konzerne, in denen
der Unterschied zwischen Schein und Sein
so groß war wie bei Volkswagen. Seit Jahren sorgen die Schwestermarke Audi und
die Finanzdienstleistungen für die meisten
Gewinne. Volkswagen dagegen war längst
reif für eine grundlegende Sanierung. Seit
der Dollarkurs fällt, die Stahlpreise steigen und die europäischen Konkurrenten
sich mit Rabatten überbieten, können sich
die Vorstände vor der Sanierungsarbeit
nicht mehr drücken.
Die Belegschaft spürt, dass diese Krise
möglicherweise anders ist als alle früheren. Aus der Viertagewoche kann man keine Dreitagewoche machen. Es gibt keine
Wolfsburger Wundermittel. Üblicherweise
kommen 10 000 Arbeiter zu einer Betriebsversammlung. Am 9. März drängten
sich rund 25 000 Menschen in Halle elf. Sie
pfiffen Bernhard und Pischetsrieder aus,
sie jubelten ihrem Betriebsrat Osterloh
zu. Am Ende aber verließen sie eher ratlos
die Veranstaltung.
Die Vorstände haben nicht verraten, wie
ihr Sanierungsplan aussieht. Deshalb stellen sich in Wolfsburg jetzt viele aus Gerüchten, Vermutungen und einigen wenigen offiziellen Verlautbarungen ihren eigenen Plan zusammen.
Teile der Werke Braunschweig, Kassel
und Salzgitter sollen verkauft oder geschlossen werden. Das klingt schlicht, ist
aber kompliziert. VW hat sich verpflichtet,
bis 2011 keine Mitarbeiter zu entlassen.
Also könnte der Konzern die Gießereien
beispielsweise nur schließen, wenn er die
Mitarbeiter mit hohen Abfindungen zum
freiwilligen Ausscheiden bewegt. Wenn
Volkswagen Werksteile an Lieferanten verkauft, muss es dem Erwerber viel Geld
mitgeben. Denn der wird beispielsweise
die Kunststoffproduktion und die darin beschäftigten Mitarbeiter nur übernehmen,
wenn VW ihm einen Ausgleich für die
höheren Volkswagen-Löhne zahlt.
Die Belegschaft soll länger arbeiten.
Wenn die VW-Arbeiter zu den Stundenlöhnen ihrer Audi-Kollegen 40 Stunden in
der Woche arbeiten würden, wäre das
Werk Wolfsburg wettbewerbsfähig. Durchsetzbar scheint, dass die Arbeitszeit von
28,8 auf 35 Stunden verlängert wird. Die
teuren Produktionsanlagen könnten dann
an fünf Tagen genutzt werden. Es würden
mehr Autos in Wolfsburg gebaut. Ein anderes Werk – das in Brüssel oder eine SeatFabrik – müsste geschlossen werden. Auch
in diesem Fall kämen auf VW zunächst
Kosten zu: rund 750 Millionen Euro für
Abfindungen und Abschreibungen.
Milliardeneinsparungen dagegen sind
möglich, wenn Volkswagen und Audi nicht
mehr wie Wettbewerber gegeneinander ar-
VW-Aufsichtsräte Wiedeking, Piëch, Wulff
Kein Interesse an einem Kahlschlag
beiten. Audi baut seine Motoren bei fast allen Modellen längs ein, VW quer. Deshalb
müssen beide Marken unterschiedliche Getriebe und Allradsysteme entwickeln. Ergebnis dieser unsinnigen Konkurrenz innerhalb des Konzerns: VW sucht sich Partner außerhalb. Der Vorstand verhandelt
mit DaimlerChrysler, ob die Stuttgarter das
neue Direktschaltgetriebe von VW für
Mercedes einkaufen. Außerdem wird geprüft, ob Chrysler die Plattform des nächsten Sharans für einen eigenen Van nutzt,
der in Europa angeboten wird.
Kapitalanleger in aller Welt glauben offenbar, dass bei Volkswagen jetzt die große
Schöner Schein
5193
Volkswagen-Konzernzahlen
• FAHRZEUGABSATZ in tausend
5143
5107
4996
• UMSATZ in Mrd. ¤
87,3
85,3
5016
84,8
89,0
1,6
1,6
2003
2004
95,3
• GEWINN in Mrd. ¤
5,4
4,8
2,8
2001
d e r
2002
s p i e g e l
2005
1 6 / 2 0 0 6
Sanierung beginnt. Die VW-Aktie steigt
und steigt und steigt. Analyst Ellinghorst ist
vorsichtiger. Wenn alle Sparmaßnahmen
durchgeführt würden, müsste Volkswagen
nicht 20 000 Arbeitsplätze abbauen, wie
bislang offiziell bekanntgegeben, sondern
35 000 bis 40 000. Das dürfte auch mit hohen Abfindungen kaum gelingen. Das wird
Betriebsrat Osterloh nicht mitmachen. Und
das werden auch zwei weitere Herren zu
verhindern wissen: Porsche-Chef Wendelin
Wiedeking und Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff.
Die beiden vertreten die größten Aktionäre des VW-Konzerns. Wiedeking hat
bei Porsche gezeigt, wie man ein Unternehmen verantwortungsvoll aus der Krise
führen kann. Er erwartet von Bernhard
und Pischetsrieder eine ähnliche Leistung
bei VW. Auch Wulff hat kein Interesse an
einem Kahlschlag unter den fünf niedersächsischen VW-Fabriken.
Die Zeit des Verdrängens und Vertuschens soll vorbei sein. Doch aus Wolfsburg wird nicht Detroit. Die einfachen und
schnellen Schnitte wird es kaum geben.
Für jede Gießerei, die nicht wettbewerbsfähig ist, muss eine eigene Lösung gesucht
werden. Es muss verhandelt werden, mit
Kaufinteressenten, mit Betriebsräten. Und
auch die Automontage in Wolfsburg und
Emden kann nicht zwischen zwei Schichten mal eben auf rationellere Produktionsverfahren umgestellt werden.
Der Sanierer und der Betriebsrat versuchen deshalb, jeder bei seiner Klientel,
übertriebene Erwartungen an das Sanierungsprogramm zu dämpfen. Bernhard bereitet die Börse darauf vor, dass es länger
dauert, als mancher sich vorstellt. Erst in
drei Jahren werde man aus dem Gröbsten
raus sein. Und Osterloh signalisiert der Belegschaft, dass es harte Einschnitte geben
wird. „Wir werden sicher auch zu Kompromissen kommen“, sagt der Betriebsrat,
„die nicht zu Begeisterungsstürmen hinreißen.“
In Wolfsburg kann die Stammbelegschaft bereits beobachten, wie die Zukunft
der Arbeit wohl aussehen wird: In den
Hallen acht bis zehn arbeiten die Kollegen
der Auto 5000 GmbH für einen geringeren
Lohn bis zu 42 Stunden. Dort soll auch der
neue Geländewagen gebaut werden. Dort
entstehen neue Arbeitsplätze.
Doch die größte Autofabrik der Welt,
durch die 70 Kilometer Eisenbahnschienen und 75 Kilometer Straßen führen, bietet auch noch Platz für die scheinbar heile
Volkswagen-Welt. In der Autostadt wird
jedes Blatt, das auf den kurzgeschorenen
Rasen fällt, sofort weggeharkt. Und Fingerabdrücke können allenfalls ein paar Minuten die großen Glasscheiben verschmieren, bevor sie eilig weggewischt werden.
Nichts deutet darauf hin, dass die Autostadt ein Zuschussbetrieb ist, der 2005
über zehn Millionen Euro kostete.
Dietmar Hawranek
Wirtschaft
gen mit den polnischen Behörden. „Ich
musste einen 20-Jahre-Businessplan vorlegen, die wollten über jede einzelne Wurstsorte Bescheid wissen“, erzählt er.
Doch mittlerweile weiß auch er die Vorzüge des Standorts zu schätzen: Seine Arbeiter erhalten in Slubice etwa 270 Euro
brutto pro Monat, gut 15 Prozent mehr als
der Mindestlohn. „Die Löhne sind natürNoch immer locken die
lich der Hauptvorteil hier“, sagt Könecke,
polnischen Sonderwirtschaftszonen
der Steuerrabatt sei nur „der Schnaps
mit üppigen Steuerrabatten.
obendrauf“.
Deutsche Mittelständler drängen
Der Mann, der deutsche Investoren mit
dem Schnaps nach Polen lockt, heißt Danach Slubice an der Oder.
riusz Lesicki. Er ist Marketingdirektor der Zone und
100 km
Karlino
drückt Gästen einen Hochglanzprospekt in die Hand:
Sonderwirtschaftszone
„Garantiert 0% Steuer!“
steht darauf in roten Lettern.
Goleniów Kostrzyn-Slubice:
805 Hektar groß,
„Die Zone wird immer
Police
verteilt
auf
DEUTSCHbeliebter,
vor allem bei
LAND
POLEN 15 Unterzonen
deutschen Unternehmern“,
Barlinek Chodziez
sagt Lesicki, 34, „aber auch
chinesische und indische FirGorzów
men zeigen Interesse.“ Von
Poznan
Kostrzyn
1999 bis 2005 hätten sich die
Swarzedz
Berlin
Investitionen auf gut 260
Slubice
Frankfurt /
Millionen Euro belaufen, alCzerwieńsk
Oder
lein in diesem Jahr werde
Gubin
Zielona Góra
Nowa Sól
nochmals gleichviel hinzuBytom
kommen. Die Zone wurde
Odrzański
bereits von 543 auf 805
Steuerrabatt in der SonderwirtschaftsHektar vergrößert, um neue
zone: 50 bis 65 % der Investitionssumme
Parzellen zu schaffen.
Körperschaftsteuer Polen
19,0%
Dabei war Polen in den
zum Vergleich Deutschland
39,4 %
EU-Beitrittsverhandlungen
dazu gedrängt worden, die
Wurstfabrikant Könecke junior (r.), Mitarbeiter in Slubice: „Die Löhne sind natürlich der Hauptvorteil“
Steuersparzonen dichtzuer Weg in die Globalisierung führt seit 1998 in der Sonderwirtschaftszone Leg- machen. Aber die Regierungsvertreter aus
für Manuel Dieckmann auf der A10 nica fertigen und bedient von dort aus die Warschau verhandelten geschickt und verostwärts. „Jeder Großkonzern geht rasch wachsenden Märkte Osteuropas, ge- wiesen auf Deutschlands Weigerung, den
ins Ausland“, sinniert er, während sein rade verlagert der schwedische Electrolux- neuen EU-Bürgern sofort unbeschränkten
schwarzer 3er BMW in Richtung deutsch- Konzern einen Teil der AEG-Produktion Zugang zum eigenen Arbeitsmarkt zu gewähren. Schließlich musste Polen den Steupolnische Grenze rast, „warum sollte ein von Nürnberg in die Walbrzych-Zone.
Immer häufiger nutzen auch deutsche errabatt zwar etwas verringern, darf die
Mittelständler nicht das Gleiche tun?“
Das Ziel des Jungunternehmers aus dem Mittelständler den Steuerrabatt: Das Wup- Zonen aber bis 2017 beibehalten.
In Slubice, von Frankfurt/Oder bloß
westfälischen Ascheberg liegt wenige Ki- pertaler Druckgusswerk Paul Hirsch hat
lometer hinter der Grenze, an der Auto- vor kurzem Parzelle 23 in der Zone durch eine Brücke getrennt, herrscht also
und Eisenbahnverbindung zwischen Berlin Kostrzyn-Slubice gekauft. Auf Parzelle 22, noch länger buntes Treiben. Die Straßen
und Warschau, und ist der zurzeit begehr- direkt neben Dieckmanns Grundstück, sind schon jetzt belebter als im viermal
teste Flecken in Westpolen: die Sonder- baut die Kölner Elektronikfirma Fraba eine so großen Frankfurt, die Kneipen voller,
Fertigungsstätte. Bei Karl Könecke aus viele Geschäfte schließen erst nach 22 Uhr.
wirtschaftszone Kostrzyn-Slubice.
Dieckmann, 29, Inhaber der Dila Bremen laufen die Würste bereits vom Seit kurzem können sich die deutschen
GmbH, wird hier eine Vertriebs- und Fer- Band, die Firma Brinkhaus aus dem nord- Investoren auf einem 18-Loch-Golfplatz
tigungsstätte bauen. In einem halben Jahr rhein-westfälischen Warendorf stellt hier vergnügen.
Katerstimmung dagegen westlich der
sollen seine deutschen Kunden von Polen Kopfkissen her und Hanke aus Dortmund
Oder: Nach dem Aus für das Chipfabrikaus mit Büromöbeln und Ladeneinrich- Toilettenpapier.
Paul-Hirsch-Chef Eike Schulz, 34, ist be- projekt vor gut zwei Jahren liegt die Artungen versorgt werden. Die Investition,
etwa eine Million Euro, wird Stellen für geistert vom neuen Standort. Bereits in beitslosigkeit bei fast 20 Prozent, den Bau
etwa zwei Monaten könne er mit den Bau- einer Straßenbahn über die Oderbrücke
25 polnische Mitarbeiter schaffen.
„Eigentlich wollte ich die Halle in arbeiten beginnen. „In Deutschland hätte haben die Frankfurter in einer Befragung
Deutschland bauen“, erzählt er, doch die ich bis 2008 warten müssen, bloß um eine mit wuchtigen 83 Prozent abgelehnt.
Oberbürgermeister Martin Patzelt, 58,
exorbitanten Lohnnebenkosten und Steu- Genehmigung zu kriegen“, sagt er lachend.
ern sowie Ärger mit den Behörden hätten Vor allem freut er sich aufs polnische Per- freut sich wenigstens über den Boom der
ihn umgestimmt: „In Polen werde ich mit sonal: „In Deutschland sind die Arbeit- polnischen Schwesterstadt. „Wenn ich Gäste habe und abends etwas erleben will,
nehmer satt, dort sind sie hungrig.“
offenen Armen empfangen.“
Wurstfabrikant Karl Könecke junior, 36, dann fahre ich rüber“, schwärmt er, „dort
Mit offenen Armen – vor allem aber mit
einem üppigen Steuerrabatt: Zwei Jahre machte zwar anfangs schlechte Erfahrun- ist einfach mehr los.“ Sebastian Ramspeck
S TA N D O R T E
CARSTEN KOALL
Schnaps
obendrauf
nach Polens EU-Beitritt locken seine 14
Sonderwirtschaftszonen noch immer mit
einem attraktiven Angebot. Firmen, die
sich dort niederlassen, können bis zu 65
Prozent der Investitionssumme von der
Körperschaftsteuer abziehen, in den ersten
Jahren müssen sie meist keinen einzigen
Zloty ans Finanzamt überweisen. Wer bereits vor 2001 investiert hatte, profitiert von
einer 100-Prozent-Ermäßigung. Dabei liegt
der polnische Körperschaftsteuersatz ohnehin bei niedrigen 19 Prozent.
Viele Konzerne erlagen diesem unwiderstehlichen Angebot: Volkswagen lässt
D
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GLOBALISI ERUNG
„Risse im System“
JÜRGEN FRANK
Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff über ungezügelten
Kapitalismus, die Gier der Konzernchefs und die Frage, wie den
Deutschen ein neues Wirtschaftswunder gelingen kann
Wirtschaftswissenschaftler Rogoff: „Auffallender Niedergang des Faktors Arbeit“
Rogoff, 53, war Chef-Ökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF) und
lehrt nach Stationen in Princeton und
Berkeley Wirtschaftswissenschaften an
der Universität in Harvard. Der frühere
Schachprofi und Internationale Großmeister ist ein Verfechter der liberalen
IWF-Politik und bezeichnet sich als
„Schwarzenegger-Republikaner“. In seinen jüngsten Schriften kritisiert er die
negativen Folgen der Globalisierung und
warnt vor politischen Unruhen, falls
Politiker und Manager nicht für eine
gerechtere Verteilung des Wohlstands
sorgen.
SPIEGEL: Professor Rogoff, die US-Wirt-
schaft brummt, Präsident Bush jubelt über
das hohe Wachstum. Aber die Mehrheit
aller Amerikaner glaubt, sie lebe in einer
Rezession. Wer hat hier ein Wahrnehmungsproblem?
Rogoff: Ich habe mich auch gefragt, ob die
Leute verrückt geworden sind. Aber Tat90
sache ist: Der Anteil der Löhne am Gesamtwachstum schrumpft.
SPIEGEL: Das heißt: Die meisten Menschen
bekommen vom Aufschwung nichts mit
und sind zu Recht enttäuscht?
Rogoff: Die arbeitende Bevölkerung hatte
in einem Zeitraum von 100 Jahren einen
gleichbleibenden Anteil am volkswirtschaftlichen Einkommen. Deshalb waren
auch Marx’ Thesen völlig falsch, dass im
Kapitalismus nur die Kapitalisten profitieren und die Arbeiter ausgebeutet werden.
Nichts war mehr von der Wahrheit entfernt. Arbeiter haben in gleicher Weise
hinzuverdient, wie die Volkswirtschaften
gewachsen sind.
SPIEGEL: Gilt das nicht mehr?
Rogoff: Seit 20 Jahren gibt es in allen reichen Ländern einen auffallenden Niedergang des Faktors Arbeit. Die Reichen werden reicher, aber am unteren Ende kommen die Menschen nicht so schnell voran
wie die Kapitalisten.
SPIEGEL: Marx hatte also doch recht?
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Rogoff: Bis dahin ist es noch ein weiter
Weg. Arbeiter werden nicht ausgebeutet.
Aber wenn ihr Anteil am Wachstum nicht
größer wird, ist das eine potentielle Ursache sozialer Spannungen weltweit. Der
Punkt ist nur: In den USA sind bisher
Versuche gescheitert, diesen Trend umzudrehen. Die Boeing-Beschäftigten haben
durch ihren Streik kaum etwas erreicht.
Die Position der Arbeiter ist geschwächt –
in der Luftfahrt und in anderen Industrien.
SPIEGEL: Gleichzeitig kassieren Konzernchefs und Wall-Street-Banker Bonuszahlungen in Rekordhöhe.
Rogoff: Es gab noch nie eine bessere Zeit,
um reich zu werden. Es ist schon überaus
erstaunlich, wie viel Geld etwa die Leute
im Hedgefonds-Business machen oder im
Private-Equity-Bereich und wie wunderbar es den wohlhabenden Familien geht.
Angesichts solcher Widersprüche ist es
kein Wunder, wenn Durchschnittsamerikaner anders über die Wirtschaft denken als
George W. Bush und seine Freunde. Die
können so lange mit Statistiken spielen, wie
sie wollen: Über die ungerechte Verteilung
des Wohlstands gibt es keinen Zweifel.
SPIEGEL: Solange es den Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Traum gibt, hat das
bislang kaum jemanden gestört.
Rogoff: Ich sage meinen Kindern, dass ein
Mann wie Bill Gates über ein Vermögen
von 50 Milliarden Dollar verfügt. Das können sie überhaupt nicht begreifen. Dann
erkläre ich ihnen, dass viele Länder auch
nicht mehr Geld haben als er. Wenn wir
solche Extreme haben, kann ich nicht
einsehen, warum wir jetzt auch noch die
Erbschaftsteuer abschaffen. Sie hat der
Wirtschaft nicht geschadet und über die
Generationen hinweg die Einkommensverteilung ausgeglichen.
SPIEGEL: Solche milliardenschweren Steuergeschenke für Superreiche sollen Wachstum für alle erzeugen. Steigendes Wasser
hebt alle Boote, lautet ein entsprechender
Slogan der Konservativen.
Rogoff: Bei der Katastrophe von New Orleans hat man konkret gesehen, wie es Leuten in bitterer Armut ergeht: Sie haben gar
kein Boot. Noch mehr Steuererleichterungen sind der falsche Weg, solange es nicht
einmal für Kinder eine Krankenversicherung gibt. Ich finde das ungeheuerlich.
SPIEGEL: Sind diese Ungerechtigkeiten der
Preis für niedrige Arbeitslosigkeit und starkes Wachstum in den USA?
Rogoff: Dieser ungezügelte Kapitalismus
bei uns wird sozial nicht durchzuhalten
sein, das führt zu Spannungen. Wenn wir
noch einmal fünf weitere Jahre wie die
letzten fünf erleben, werden sich soziale
Reibungen verstärken. Die Menschen
schauen ja nicht nur auf ihr eigenes Wohlergehen, sondern auch auf ihre Nachbarn,
auf ihren Platz in der Gesellschaft. Diese
gewaltigen Ungleichheiten sind kein besonders wünschenswerter Wesenszug in
unserer Gesellschaft.
Wirtschaft
MATT ROURKE / AP
Rogoff: … ist kein Ausweg, wir können die
Hurrikan-Opfer in New Orleans: „Ich finde das ungeheuerlich“
SPIEGEL: Sind westliche Konzernchefs Getriebene der Globalisierung, oder nutzen
sie die Lage zu ihrem Vorteil aus?
Rogoff: Wir reagieren auf die Kräfte des
Marktes, wir versuchen, Jobs zu schützen
– das ist das Selbstbild vieler Manager. Sie
können überhaupt nicht verstehen, warum die Menschen wütend auf sie sind.
Nehmen Sie Firmenübernahmen, bei denen der scheidende Vorstandschef eine
Abfindung von 50 Millionen Dollar einstreicht und 5000 Arbeiter entlassen werden. So etwas passiert regelmäßig. Auf der
einen Seite zeigt es: Wir haben ein flexibles Wirtschaftssystem, wir erlauben den
Wandel. Andererseits ist es natürlich völlig
naiv zu glauben, dass dadurch keine Spannungen entstehen.
SPIEGEL: Aber schaden sich Unternehmen
und Länder, die sich gegen die Globalisierung stellen, nicht am Ende selbst?
Rogoff: Einfache Antworten gibt es nicht.
Natürlich wäre es Selbstmord, beispielsweise unsere Industrien zu verstaatlichen.
Wer aber sagt, die Wirtschaft wächst, alles
ist wunderbar, der will diese Risse im System einfach nicht zur Kenntnis nehmen.
In China ist diese Kluft ja übrigens noch
viel gewaltiger. An der Küste herrscht das
21. Jahrhundert, und auf dem Land, wo
zwei Drittel der Chinesen wohnen, kön-
92
nen Sie noch das 18. Jahrhundert erleben.
Das sind unfassbare Ungleichheiten. Die
haben einen extrem rohen Kapitalismus.
SPIEGEL: Dem englischen Ökonomen Ricardo zufolge ist Freihandel für alle gut.
Die reichen Industriestaaten müssten nach
seiner Theorie nur auf der technologischen
Leiter nach oben klettern, um ihre Verluste
in ausgelagerten Industrien auszugleichen.
Rogoff: Ricardo hatte noch nie recht. Sicher,
es gibt mehr Gewinner als Verlierer, und die
Gewinner profitieren mehr als die Verlierer
einbüßen. Aber dass vom Freihandel alle zur gleichen Zeit pro- + 129
fitieren, stimmt einfach nicht.
SPIEGEL: Protektionismus …
Einseitiger Zuwachs
Veränderung des Nettoeinkommens zwischen 1979 + 54
und 2003 in den USA,
in Prozent
+ 25
Quelle: CBO
+ 13 + 15
+4
unteres
Fünftel
mittleres
oberes oberes
Fünftel
Fünftel Prozent
E I N KO MME N SK L ASSE N
Uhr nicht zurückdrehen. Aber ein ungezügelter Kapitalismus wird zu sehr realen
Problemen führen. Wir werden sehen, dass
eine immer weiter reichende Liberalisierung langfristig die politische Unterstützung in der Bevölkerung verlieren kann.
SPIEGEL: Wenn ganze Branchen nach Fernost verlagert werden, wo können dann
im Westen überhaupt neue Arbeitsplätze
entstehen?
Rogoff: Unsere Hightech-Industrien profitieren ja gewaltig, aber für 50-jährige Stahlarbeiter oder für Leute aus der Luftfahrtindustrie ist es schwierig bis unmöglich,
sich zum Besseren zu verändern. Das Problem – jedenfalls in den USA – ist nicht,
dass die Leute keinen Job mehr finden.
Das Problem ist, dass sie keinen Job mehr
bekommen, der ihnen Würde verleiht und
einen vernünftigen sozialen Status. Diesen
enormen Sog nach unten für ungelernte
Arbeiter gibt es ja schon länger. Ab jetzt
werden auch die mittleren und höheren
Ränge vom Outsourcing betroffen – Menschen, die sich in ihrer Position sehr sicher
fühlten.
SPIEGEL: Im Klartext: Nicht einmal erstklassige Bildung schützt vor der Konkurrenz der Chinesen?
Rogoff: Wissen Sie, ich war in jüngeren Jahren Schachprofi. Früher konnten Sie sich
als bester Spieler von New York sehr gut
Ihren Lebensunterhalt verdienen. Inzwischen sind die Inder und Chinesen brillante Schachprofis geworden. Die steigen ins
Flugzeug und spielen überall mit. Das hat
zu einem dramatischen Druck auf die
Einkommen geführt. Wenn Sie der beste
Schachspieler Argentiniens sind, können
Sie davon heute nicht mehr leben.
SPIEGEL: Welchen Platz hat Deutschland in
der globalisierten Welt?
Rogoff: Selbst wenn Ihre Wirtschaft in diesem Jahr ein bisschen wächst – der Trend
zeigt abwärts. Sie brauchen Reformen auf
dem Arbeitsmarkt, im Steuersystem, im
Corporate-Governance-Bereich und im
Bildungssektor. Ihr Schulsystem ist im Vergleich zu den USA sehr gut, aber Ihre Universitäten sind nicht wettbewerbsfähig.
SPIEGEL: Sie haben eine der weltweit
größten Volkswirtschaften schon abgeschrieben?
Rogoff: Verstehen Sie mich nicht falsch.
Wenn Berlin endlich entschieden reformieren würde, könnte es die USA im Wachstum für 20 Jahre übertreffen. Deutschland,
mit seiner Kultur, seiner Bildung, seinen
hochqualifizierten Einwohnern, ist so unglaublich reich. Es müsste seine Muskeln
nur ein wenig anspannen, dann könnte es
in den nächsten Jahren Wachstumsraten
von vier, fünf Prozent erreichen und ein
Wirtschaftswunder wie in den fünfziger
und sechziger Jahren schaffen. Solange es
diese politische Lähmung bei Ihnen gibt,
wird es dazu aber nicht kommen.
Interview: Frank Hornig
d e r
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1 6 / 2 0 0 6
Wirtschaft
tern per interner Rund-Mail vom 15. April
2005 Erfreulicheres mit: „Unser Unternehmen hatte im März einen Zuwachs von
14,28 Prozent über alle Bereiche gehabt.
Im Monat April bisher 25,21 Prozent über
alles.“ Rund 60 Millionen Euro setzt das
Online-Reisebüro im Jahr um, eigentlich ist
es auf Ägypten und mediterrane Gegenden
spezialisiert.
Für jede Buchung in TsunamiVon den in Aussicht gestellten Spenden
Gebiete versprach das
war in der E-Mail jedoch keine Rede mehr.
Reisebüro „Billigweg“ eine Spende
Weder Hilfsorganisationen noch die Regionen vor Ort sahen von Lambeck jemals
– und wollte anschließend
einen Cent. Eine Spendenbescheinigung
nichts mehr davon wissen.
konnte der Manager nicht vorweisen.
ndreas Lambeck hatte schon immer
Auf Anfrage bestritt der Geschäftsführer
einen Hang zu skurrilem Markezunächst, dass es die Spendenaktion überting. Als die USA im März 2003
haupt gegeben hätte. „Herrn Lambeck ist
nicht bekannt, dass diese Marketingaktion
in den Irak einmarschierten, wollte der
von Billigweg.de durchgegeschäftsführende Gesellführt worden ist“, ließ er eischafter des Internet-Reisenen Sprecher ausrichten. Vorunternehmens Billigweg.de
sorglich wurde die dazugeöffentlichkeitswirksam den
hörige Pressemitteilung von
amerikanischen Präsidenten
der Homepage gelöscht. SpäGeorge W. Bush wegen Verter wollte Lambeck glauben
stoßes gegen das Völkerrecht
machen, die Aktion sei eine
verklagen.
Fälschung von WettbewerUnter Völkerrecht verstand
Lambeck vor allem das Recht
bern, die ihm schaden wollten.
Interne E-Mails sprechen
auf Umsatz. Penibel rechneeine andere Sprache. In eite er vor, dass sein Unterner Mitteilung vom 12. Janehmen allein in beiden Monuar 2005 trieb der Billignaten vor Beginn des Feldweg.de-Marketingchef Heizugs der „Koalition der Wilko Rettke seine Mitarbeiter
ligen“ wegen der unsicheren
unter Hinweis auf die AkWeltlage einen Ertragsausfall
tion an zu verkaufen, „was
zwischen drei und dreieindas Zeug hält, damit wir mit
halb Millionen Euro vereinem guten Januar-Ergebkraften musste. Er hätte „die
nis die November-Schlappe
besten Reiseangebote auf
kompensieren können“.
den Markt werfen, die größMit der tatsächlichen
ten Rabattaktionen machen“
Existenz der zweifelhaften
können, sagte er damals,
Werbeaktion konfrontiert,
„wenn Menschen Angst haschob der Billigweg.deben, haben sie Angst. Uns ist
Gründer die Verantwortung
nichts anderes eingefallen, „Billigweg“-Homepage, Touristen am Strand von Phuket: „Nur peinlich“
auf seine Mitarbeiter. „Wenn
als uns so zu artikulieren“.
Solch abstruse Kampagnen lässt sich ließ das Unternehmen im nordrhein-west- diese Pressemitteilung verschickt worden
Lambeck immer wieder einfallen, um auf- fälischen Velbert per Pressemitteilung und ist ohne mein Wissen und Zustimmung,
zufallen und sein Geschäft zu puschen. Mal Newsletter verkünden. Auch alle Billig- schäme ich mich dafür“, so Lambeck.
Schon auf der diesjährigen Internatiozahlt er Kunden die Praxisgebühr zurück, weg-Filialen wurden über das neue Annalen Touristikmesse ITB in Berlin sorgte
wenn sie bei ihm buchen, mal verschleu- gebot informiert.
Als Geste der Unterstützung des Politi- Lambecks Aktion für Gesprächsstoff. Mehdert er einen „Volksurlaub“ für alle ab 9,99
Euro. Als die Bundesregierung das Ar- kervorschlags kündigte der Feriendiscoun- rere Branchenkollegen sprachen ihn an.
beitslosengeld II einführte, offerierte Bil- ter am 11. Januar 2005 an, bei jeder Bu- Auch dort mimte er den Unschuldigen.
ligweg.de zweiwöchige Flugreisen ab 189 chung in die betroffenen Gebiete bis Ende „Mir war das in dieser Situation nur peinEuro für Kunden, die sich als Hartz-IV- März desselben Jahres 25 Euro für den lich, und ich wusste mir nicht anders zu
Empfänger ausweisen konnten. Auch Ge- Wiederaufbau zu spenden. „Dies wäre ein helfen“, so Lambeck. „Ich wollte auf alle
ringverdiener bedachte der umtriebige wichtiger Beitrag, den Menschen vor Ort Fälle vermeiden, dass das ganze Thema in
Manager: Alle Menschen mit einem Haus- nachhaltig zu helfen, die zu Tausenden auf der Öffentlichkeit ausgebreitet wird.“
Immerhin kündigte Lambeck nachträghaltseinkommen von unter 1000 Euro er- funktionierenden Tourismus angewiesen
hielten bei ihm während einer befristeten sind, um ihren Lebensunterhalt zu be- lich eine Spende für den Wiederaufbau
streiten“, wird Lambeck in der Mitteilung des kleinen Fischerdorfs Kalladdie an der
Aktion zehn Prozent Rabatt.
Ostküste Sri Lankas an. Insgesamt samEin Unternehmer mit Herz: In dieser zitiert.
Die Aktion war ein Erfolg – für ihn und melte das Weltnotwerk der Katholischen
Rolle sieht sich Lambeck – der neben
seiner Internet-Seite auch Filialen auf sein Unternehmen. Während die Reise- Arbeitnehmer Bewegung (KAB) bisher
diversen deutschen Flughäfen und in Fuß- branche im ersten Quartal ein Minus von rund 190 000 Euro dafür. Vor zwei Wochen
gängerzonen betreibt – am liebsten. Sein bis zu zehn Prozent hinnehmen musste, überwies auch Billigweg.de 1850 Euro.
Unternehmen gehört neben Expedia und teilte Lambeck seinen rund 130 MitarbeiJanko Tietz
Abstruse
Werbe-Welle
A
Opodo zu den größeren der Branche, der
TÜV-Süd lobte es als „in hohem Maße vertrauenswürdig“.
Dieses Image könnte jetzt Schaden nehmen. Als Ende des Jahres 2004 die Tsunami-Welle über Südostasien hereinbrach
und der Tourismus quasi zum Erliegen
kam, ließ sich das Unternehmen von einer
besonders aberwitzigen Idee des Bundestagsabgeordneten Albrecht Feibel inspirieren: Der Haushaltsexperte der Union
schlug damals vor, Touristen sollten Urlaubsreisen in Flutstaaten wie Thailand
oder Sri Lanka von der Steuer absetzen
können, um die Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen zu retten.
Flugs kreierte Billigweg.de eine neue
Aktion: „Die CSU fordert es, Billigweg.de
unterstützt es und setzt noch eins drauf“,
ANDREAS LANDER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
TOURISMUS
d e r
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95
Medien
Trends
Einspiel-Erlöse und
Zuschauermarktanteile
der ARD-Fernsehlotterie
FERNSEHEN
160
120
Quelle: ARD-Fernsehlotterie
EINSPIEL-ERLÖSE
in Millionen Euro
80
„Dreiste Rücksichtslosigkeit“
Kardinal Karl Lehmann, 69, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
über die umstrittene Werbung des TVSenders MTV für die satirische Sendung
„Popetown“
40
in Prozent
16,0
1989
1995
13,9
9,3
2000
13,5
2005
LOTTERI E-SHOWS
Quote ist nicht alles
ie Einspielerlöse der ARD-FernD
sehlotterie „Ein Platz an der Sonne“ trotzen dem Fernsehverhalten der
Zuschauer. Die wollen zwar kaum noch
Lotterie-Shows sehen, zahlen aber ungehemmt für ihre Lose ein. Anfang der
neunziger Jahre erreichten die Lotteriesendungen noch knapp 30 Prozent
Marktanteil, zwischenzeitlich sackten
sie auf unter 10 Prozent ab. Die Einnahmen aus dem Losverkauf schnellten
trotzdem in die Höhe. Im Jahr 1989
spielte die Lotterie umgerechnet 35 Millionen Euro ein. Fast fünfmal so viel
waren es im vergangenen: 168 Millionen. Im ersten Jahr des Bestehens sammelte die Lotterie umgerechnet 820 000
Euro ein. Allerdings gab es 1956 auch
erst 393 000 Fernseher in Deutschland.
R E A L I T Y-T V
Kulturschock vor
der Kamera
SPIEGEL: MTV hat bis vor wenigen Tagen
für die Sendung „Popetown“ mit einer
Anzeige geworben, die Jesus vor dem
leeren Kreuz im Fernsehsessel zeigt. Der
Titel der Anzeige ist „Lachen statt rumhängen“. Ist das Blasphemie?
Lehmann: Dies scheint mir sogar eine besondere Form von Verspottung religiös
wichtiger Personen und Gehalte zu sein.
SPIEGEL: Sind Sie persönlich verletzt?
Lehmann: Ich bin nicht persönlich verletzt, aber betroffen. Und ich ärgere mich
über diese dreiste Rücksichtslosigkeit.
Lehmann
SPIEGEL: Ironie und Spott
und „eklatante Verletüber das Christentum
zung religiöser Empfinsind in Deutschlands Medungen“ getadelt und
dien eher alltäglich. Warmittlerweile vom Sender
um fordert die Deutsche
wohl nicht ohne Grund
Bischofskonferenz die Abzurückgezogen.
setzung der Sendung?
Lehmann: Viele Christen
SPIEGEL: Sehen Sie eine
waren schon über die
Parallele zum Streit um
Werbung für die Serie
die Mohammed-Karikaempört. Hier liegt ein beturen?
sonders gravierender Fall „Popetown“-Szene
Lehmann: Ja und nein. Ja,
vor, und dies in dem Auweil die fehlende Sensigenblick, in dem die Christen die leben- bilität in beiden Fällen erschreckend ist;
dige Erinnerung an den gewaltsamen Tod nein, weil die Mohammed-Karikaturisten
Jesu begehen und in aller Welt das Kreuz vielleicht nicht mit den möglichen Folgen
verehren. Die Anzeige wurde auch vom vertraut waren. Bei dieser Anzeige ist
Deutschen Werberat als „Entgleisung“ wohl mehr Vorsätzlichkeit im Spiel.
BBC
Marktanteile
STEFAN HUSCH / TERZ
30,2
währen: Dazu gehört neben der Jagd
und traditionellen Transportmethoden
(Foto) auch das Häuten von Tieren und
die Teilnahme an Stammesriten. Interessant dürfte sich etwa der Aufenthalt
einer Lehrerfamilie beim Nomaden-
ine sehr spezielle TV-Variante des
Zusammenpralls der Kulturen bereitet der Berliner Sender Sat.1 vor. Für
ein Reality-Projekt mit dem Arbeitstitel
„Wie die Wilden“ hat er vom vorigen
Sommer bis zum Januar nacheinander
drei Familien aus Kassel, Berlin und
Hamminkeln (NRW) auf die indonesische Insel Siberut und in entlegene
Stammesgebiete Togos und Namibias
geschickt. Bei den Mentawai (Siberut),
den Himba (Namibia) und den Tamberma (Togo) mussten sich die Westeuropäer vor Kameras im Alltagsleben be-
PETER WERSE / SAT 1
E
Szene aus „Wie die Wilden“
d e r
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stamm der Himba gestalten – dort werden Rinder ohne Werkzeuge getötet,
zudem soll es Brauch sein, Gästen die
eigene Ehefrau als Willkommensgeschenk anzubieten. In den Niederlanden und in Belgien lief das Format der
Produktionsfirma Eyeworks unter dem
Titel „Ticket to the Tribes“ mit großem
Erfolg, bei der Ende April stattfindenden Verleihung des TV-EntertainmentPreises „Goldene Rose“ ist es in der
Kategorie „Reality“ nominiert. Bei
Sat.1 wird die Serie, die nicht nur bei
Ethnologen für Gesprächsstoff sorgen
dürfte, in diesem Frühherbst starten.
Die logische Fortsetzung ist schon geplant: Dann sollen die Stammesbewohner den Gegenbesuch in Deutschland
antreten – ein weiterer Kulturschock
vor Kameras scheint also garantiert.
99
Fernsehen
TV-Vorschau
Tatort: Kunstfehler
Ich bin Wagner –
Du bist Deutschland
Montag, 20.15 Uhr, ARD
Mittwoch, 23.00 Uhr, NDR
Kripomann Till Ritter (Dominic
Raacke) hilft seiner ehemaligen
Freundin (Katja Flint), die mit einem
Unfallchirurgen verheiratet ist und
nach mehreren Anschlägen auf ihre
Familie um das Leben ihrer Tochter
(Hanna Schwamborn) fürchtet. Zu
spät – ein modernes Phantom der
Oper hat längst zum Rachefeldzug
angesetzt. Trotz einiger Kunstfehler
überzeugt der „Tatort“ aus BerlinBrandenburg (Regie: Hartmut Griesmayr, Buch: Pim Richter).
Er schreibt in „Bild“ die
Briefe, die die Nation spalten. Der Sozialdemokratin
Andrea Nahles, die sich den
Zorn des damaligen SPDVorsitzenden Müntefering
zuzog, empfahl Franz Josef
Wagner allen Ernstes einen
Mann zum Lieben. Die Kolumne „Post von Wagner“,
Kriener, Michael Roll in „Kommissarin Lucas“
manchmal gnadenloser Populismus, manchmal treffsichere VerKommissarin Lucas
schrobenheit, ist ein Markenzeichen des
Samstag, 20.15 Uhr, ZDF
Boulevard, auf das Freund und Feind
achten. Das Porträt von Thomas Leif
Wer erleben will, wie man Spannung
zeigt kritisch, aber nicht unfair, einen
erzeugt, ohne einen Blutstropfen zu
Journalisten zwischen Wahn und Wirkvergießen, den nimmt Kommissarin
lichkeit.
Lucas (Ulrike Kriener) in der Folge
„Das Verhör“ auf eine Schreckensreise mit. Noch trauert die Beamtin um
Der Kommunismus –
ihren toten Ehemann, da erschießt sie
Geschichte einer Illusion
einen bewaffneten Bankräuber. Ein
Donnerstag, 23.45 Uhr, ARD
Kind wird entführt, der gefasste Verdächtige (Marek Harloff) schweigt.
In drei Teilen gehen der jüngst verstorWer den zermürbenden Ermittlungsbene Sozialdemokrat Peter Glotz und
wettlauf gegen die Zeit und die
Christian Weisenborn der Geschichte
quälend kleinteilige forensische
des Kommunismus nach. Sie belegen,
Präzisionsarbeit verfolgt (Regie: Thodass der spätere Stalinsche Terror seine
mas Berger, Drehbuch: Christian
Wurzeln in Lenins Herrschaft hatte.
Jeltsch, Thomas Berger), spürt den
Große historische Überraschungen entgewaltigen Druck, der auf den Polihalten die drei Teile (weitere Sendezisten lastet.
termine: 27. April und 4. Mai) nicht.
Benedikt XVI. –
Der rätselhafte Papst
Dienstag, 23.05 Uhr, SWR
CHRISTIAN STELLING
Die Philosophen Alain Finkielkraut
und Peter Sloterdijk, den Vatikan-Sprecher Pater Eberhard von Gemmingen,
den Theologen Hans Küng – Felix
Schmidt und Ludwig Ring-Eifel bieten
Papst-Audienz
viele Zeugen in ihrem interessanten
Film auf, um die Persönlichkeit des
Papstes zu erklären. Doch Benedikt
XVI. bleibt ein Rätsel. Die Bilder von
der Fronleichnamsprozession in Rom,
auf denen der Papst, ins Gebet versunken, durch die Menge gleitet, passen
gut zu Sloterdijks Bemerkung, dass ein
Papst die Gabe haben müsse, seelisch
2000 Jahre alt zu sein und Immunität
gegenüber dem Zeitgeist zu besitzen.
TV-Rückblick
Familie Dr. Kleist / In aller
Freundschaft
11. April, ARD
So wichtig wie die Reform des Gesundheitswesens ist die Reform der Doktorspiele im Fernsehen. Dort leidet man
nämlich an schwerem Wirklichkeitsverlust. Vergangenen Dienstag präsentierte
das Erste mit „Familie Dr. Kleist“ und
der 305. Folge der wöchentlichen Soap
In Sachen Kaminski
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
KRAJEWSKI / MDR / ARD
Ein glänzend gespieltes Sozialdrama
(Juliane Köhler, Matthias Brandt)
über einen empörenden Fall von Kindesentziehung durch das Jugendamt
(Regie: Stephan Wagner, Buch: Holger Karsten Schmidt).
Szene aus „In aller Freundschaft“
100
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„In aller Freundschaft“ eine Weißkittelwelt, die eine komplette Realitätsverweigerung darstellt. Dr. Kleist (Francis
Fulton-Smith) verfolgte hartnäckig und
zeitaufwendig eine Patientin auch außerhalb der Sprechstunde, von deren
Kranksein er – zu Recht – überzeugt
war. Von Arbeitsstress, kassenärztlicher
Drangsal keine Spur, der Mann hatte
alle Zeit der Welt für seine hippokratische Sendung. Die „Sachsenklinik“
machte darauf dem Seriennamen „In
aller Freundschaft“ alle Ehre, denn der
vorgeführte Fall – ein Tumorpatient,
ehemaliger Klinikchef und Förderer eines der „Sachsenklinik“-Ärzte – kam
aus der Branche. Das bestätigte den
Trend der Soap zum Selbstbezug: Am
liebsten beschäftigen sich die Leipziger
TV-Ärzte mit sich selbst oder mit ihren
Bekannten. Die heile oder sich selbst
heilende Medizinerwelt erscheint im
Übrigen als unheilbar: Dr. Kleist siegte
an diesem Abend mit 20,7 Prozent
Marktanteil über Désirée Nosbusch
(Sat.1) und sogar Fußball (ZDF).
WALTER WEHNER / ZDF
Medien
DEFD (L.); CHRISTINE SCHRÖDER / NDR (R.)
Fernsehkommissarinnen Block (ZDF), Lindholm (ARD)*: „Revolutionäre Umkehrung des früheren TV-Hausmütterchenbildes“
T V- P R O G R A M M
Kinderfreie Zone
Im Fernsehen sind intakte Familien mit Kindern noch seltener als im Alltag. Attraktive
Alleinstehende und Karriere-Kommissarinnen sind die Lieblingshelden
der Drehbuchschreiber. Alltägliche Sippensorgen kommen allenfalls in Reality-TV-Formaten vor.
D
* Darstellerinnen Hannelore Hoger, Maria Furtwängler.
102
lingsfiguren deutscher Fernsehmacher sind,
überrascht dabei nicht wirklich. Ungebundene Lottas und Julias lassen sich auf ihren
Wegen zum Glück eben wesentlich hemmungsloser verkuppeln als treusorgende
Ehefrauen, und dass sich Alleinerziehende
zu hübschen Patchwork-Familien zusammensetzen lassen, weiß man spätestens,
seit Peter Weck in den achtziger Jahren im
ZDF Thekla Carola Wied und ihre vierköpfige Familie heiratete.
Neu an der familiendiagnostischen Bestandsaufnahme ist dagegen der Befund,
dass die Kinderlosigkeit im Fernsehen
auch etwas mit gewandelten Rollenbildern zu tun haben könnte. „Die revolutionäre Umkehrung des früheren TV-Hausmütterchenbildes in die engagierte Berufs-
MICHAEL PANCKOW / ACTION PRESS
esaströser als in der deutschen Realität, so dachte man eigentlich,
könnte es um die Familie nirgendwo bestellt sein. Leerer, so vermutete man,
könnten die Kinderkrippen nirgends sein,
zerrütteter die Familienverhältnisse an keinem anderen Ort. Das Demografiedebakel
beschäftigt Journalisten und TalkshowGäste seit Wochen, „Kinder kriegen, Rente retten“ heißt es bei Maybrit Illner, „Kinder – nein danke?“ fragen sich besorgte
„Menschen bei Maischberger“.
Doch wer dachte, er könnte den Kindernotstands-Szenarien per Fernbedienung entfliehen, der hat sich getäuscht.
Umschalten hilft meistens nicht: Im Unterhaltungsfernsehen kommen normale Familien kaum vor.
Auf dem Bildschirm tummeln sich weit
mehr Großstadt-Singles, kinderlose Männer und Alleinerziehende als in der Wirklichkeit. „Eine Geburtenrate von 0,48 Kindern pro Frau und 0,6 pro Mann macht das
Filmleben der Primetime zur quasi kinderfreien Zone und potenziert den demografischen Niedergang des ‚wahren Lebens‘ auf
dem Schirm ins geradezu Apokalyptische“,
lautet das Ergebnis einer Studie des AdolfGrimme-Instituts zu Familienbildern im
Fernsehen. Im Fernsehfilm gab es im Untersuchungszeitraum 2004 mehr als doppelt so
viele Singles und dreimal so viele Alleinerziehende wie in der deutschen Realität.
Dass attraktive Singles und getrennte
oder verwitwete Alleinerziehende die Lieb-
ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“: Mit Trennungskindern zum Multikulti-Rudel
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RTL (L.); DIRK HÄGER (R.)
Medien
Neue Fernsehserien „Die Familienanwältin“ (RTL)*, „Die Spezialisten“ (ZDF): Auf der Suche nach Familienanschluss
frau frisst im wahrsten Sinne des Wortes ihre Kinder“, schreiben Arne Birkenstock und Irmela Hannover, die Autoren
der Studie.
Die moderne Fernsehheldin folgt einem
neuen Muster: Sie ist nicht mehr nur jung
und schön, sondern vor allem auch berufstätig. Beim Sat.1-Telenovela-Erfolg „Verliebt in Berlin“ sucht sich das hässliche
Entlein Lisa einen anständigen Job, bevor
es sich wundersam verhübscht auf die tollpatschige Jagd nach dem Märchenprinzen
macht. Und typisch an „Typisch Sophie“
(Sat.1) ist vor allem, dass die Heldin eine
patente Rechtsanwaltsgehilfin ist – und dabei als alleinerziehende Mutter immer wieder an ihre Grenzen stößt.
Mit einer Beschäftigungsquote von 76
Prozent liegen die Filmfiguren, laut Grimme-Studie, nicht nur weit über der Quote
deutscher Frauen von etwa 57 Prozent,
sondern toppen sogar die weltweit höchste
Quote norwegischer Frauen (73,5 Prozent).
Das war in den guten alten Ur-Zeiten
der deutschen Familienserie noch anders.
Als die „Hesselbachs“ in den sechziger
Jahren hessisch babbelnd heiles Großfamilien-Glück demonstrierten, waren die
Zuständigkeiten klar aufgeteilt: „Babba“
kümmerte sich um den Betrieb, Mamas soziale Welt war die der Kaffeekränzchen –
und ihre Hauptaufgabe die Aufzucht der
vier heranwachsenden Kinder.
Dieses Familienmodell funktionierte lange Zeit, bis zu den „Drombuschs“ und den
„Lindenstraßen“-Beimers. Heute findet
es sich allenfalls noch in Historien-Verfilmungen. Die reine Hausfrau zählt im
Fernsehen mittlerweile zur aussterbenden
Spezies.
Selbst in der derzeit heilsten der HeileWelt-Serien, „Familie Dr. Kleist“, deren
zweite Staffel der ARD mit der Folge „Familienglück“ zu Beginn gerade 6,6 Millionen Zuschauern bescherte, kümmert sich
Francis Fulton-Smith glattrasiert und fürsorglich alleinerziehend um seine Filmkinder – während sich die von ihm Rosen-romantisch umworbene Schulleiterin Marle* Mit Mariele Millowitsch als Juristin Hanna Lorenz.
ne derzeit noch ziert, den Ehefrau- und
Mutterplatz an seiner Seite einzunehmen.
„Der Wandel der Geschlechterrollen
spiegelt sich auch in der Familiendarstellung im Fernsehen wider“, sagt der Potsdamer Medienforscher Lothar Mikos,
„früher hatten starke Frauen die einzige
Aufgabe, die Familie zusammenzuhalten,
heute sind sie dazu da, ein Leben zu meistern, das aus Beruf und Familie besteht.“
Dass diese Doppelaufgabe im Fernsehen
mindestens ebenso schwierig zu bewältigen
sein könnte wie im wirklichen Leben, dafür
spricht der Aufstieg der zahlreichen TVKommissarinnen seit den neunziger Jahren: Bella Block, Rosa Roth, Lena Odenthal
– sie alle verkaufen kriminalistische Emanzipationsträume ohne Familienglück.
Maria Furtwängler, in der Realität ausgebildete Ärztin, Schauspielerin, BurdaGattin und zweifache Mutter, ermittelt als
„Tatort“-Kommissarin Charlotte Lindholm
kühl und kinderlos. Ihre Kollegin Andrea
Sawatzki kümmerte sich einige „Tatort“Folgen lang immerhin treusorgend um ihre
siechen Eltern – bis sie die Drehbuchschreiber von dieser familiären Bürde per
Mord befreiten. „Das Bild der KarriereKommissarinnen zeigt mit einem Funken
Realismus, dass Emanzipation und demografischer Auftrag unter den deutschen
Verhältnissen nicht plausibel gestaltbar
sind“, sagt die Berliner Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze.
Die Grimme-Autoren stören sich denn
auch am neuen Typ der starken Fernsehfrau. „Dem Fernsehen gelingt es derzeit
nicht, die Normalität eines Lebens mit Kindern zu transportieren, sondern im Gegenteil: Die Normalität im Fernsehen ist
eigentlich ein Leben ohne Kinder“, sagt
Irmela Hannover, Studien-Autorin und
stellvertretende Leiterin der Programmgruppe Service & Ratgeber beim WDR.
Fernsehfrauen blieben entweder kinderlos
oder vereinbarten Familie und Beruf auf
allzu märchenhafte Weise: „Die Frage, dass
Mann oder Frau ja auch irgendwann mal
nach Hause gehen und den Kindern die
Nase putzen muss, die taucht im Fernsehen
nicht auf.“
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Dass stinknormale Sippensorgen durchaus für Drama und Quote sorgen können,
zeigen derzeit allerdings Reality-Formate
wie die „Super Nanny“ und „Frauentausch“, bei denen Erziehungsfragen und
Kinderchaos den Sendern treue Zuschauer bescheren. Und so entdecken nun auch
phantasiebegabte Fiction-Macher die
heimlichen Werte des Schlachtfelds Familie neu. „Die Familie vermittelt Sicherheit
und Zusammengehörigkeit“, hat RTL-Fiction-Chefin Barbara Thielen erkannt und
will mit neuen Formaten nun „das Thema
moderne Familien bedienen, ohne in eine
Klischeewelt abzuheben“.
Den Anfang macht beim Kölner Sender
RTL gerade die „Familienanwältin“ Mariele Millowitsch, die ihre allzu blonde Krankenschwester-„Nikola“-Frisur gegen ein
graumäusig-kratzbürstiges Image als frisch
verlassene, überforderte Mutter eingetauscht hat und vor Gericht und zu Hause
allerlei heikle Familienfälle verhandelt.
Im ZDF startet kommende Woche mit
den „Spezialisten“ eine Kommissarin, die
sich im Frankfurter Kriminellenmilieu auch
durch ihren Mutterinstinkt auf die rechte
Spur locken lässt und nebenbei mit dem ExMann zu kämpfen hat, der die gemeinsame
Tochter fiebrig allein zu Hause gelassen hat.
Auf der Suche nach Familienanschluss
für ihre Power-Protagonistinnen, wenden
sich die Fernsehmacher nun offenbar wieder
dem Alltagsleben zu – und entwerfen neue
junge Fernsehfamilien. In der ARD-Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“ avanciert ausgerechnet eine deutsch-türkische
Multikulti-Familie auf humorig-intelligente
Weise zur modernen Großfamilien-Herde.
Mutter Doris kann nicht kochen und
leistet sich zum Auftakt des Patchwork-Lebens erst mal den Ratgeber „Ökosystem
Familie“. Bei Tiefkühlpizza am Küchentisch verhandeln die Schneider-Öztürks
dann pubertäre Alkoholsünden ebenso wie
den allzu antiautoritären Erziehungsstil der
Mutter. Und nebenbei lernen rudelunerfahrene Trennungskinder, dass Mutter Doris vielleicht recht hat, wenn sie sagt:
„Wenn es kalt ist, machen viele Tiere
Julia Bonstein
glücklich.“
103
Medien
S P O RT- M A R K E T I N G
„Handwerklicher Fehler“
Der Fifa-Marketing-Chef für die WM in Deutschland,
Gregor Lentze, 37, über sein rigides Sponsorenschutzprogramm
und das schlechte Image des Weltverbands
SPIEGEL: … was zeigt, dass man der Fifa
inzwischen so ziemlich alles zutraut.
Lentze: Nein, wenn Sie mit den Leuten
sprechen, weiß natürlich jeder, dass das
Quatsch ist. Aber es scheint sich halt immer
wieder gut zu lesen.
SPIEGEL: Wie hoch sind denn die Sponsoreneinnahmen, für die Sie sich so verkämpfen?
Lentze: Aus dem Sponsoring erhalten wir
rund 700 Millionen Euro, insgesamt wer-
ist das Image der Fifa miserabel wie nie.
Wie konnte das passieren?
Lentze: Das mag Ihr Eindruck sein, laut
einer aktuellen Umfrage sehen 70 Prozent
der Befragten die Arbeit der Fifa positiv.
Die Negativstimmung gibt es leider vor
allem in den Medien. Aber natürlich tauchen bei einer solchen Großveranstaltung
auch Interessenkonflikte auf.
SPIEGEL: Wie mit den zwölf Ausrichterstädten, die sich von der Fifa und ihrem
Regulierungswahn gegängelt fühlen? Münchens Oberbürgermeister Christian Ude
schimpfte gar über „Knebelverträge“.
Lentze: Das ist ja schon ein Weilchen her.
Seither haben wir mit den Städten weitere
Verträge geschlossen, etwa über die FanFeste, und nie hatten wir auch nur einen
Knebel dabei. Stattdessen bringen wir
Sponsoren mit – erst dadurch ist die Finanzierung der Fan-Feste gesichert worden.
SPIEGEL: Weil Sie den Städten verbieten,
eigene Sponsoren zu gewinnen.
Lentze: Die Städte können sehr wohl eigene Sponsoren haben. Es dürfen keine
Wettbewerber unserer Partner sein, aber
das ist doch klar. Wir haben 15 offizielle
Partner und 6 nationale Förderer und die
Verpflichtung, deren Rechte zu schützen.
Bei einem Tennisturnier des TC Grün
Weiß an der Ecke würde das kein Mensch
infrage stellen. Wir gehen dabei im Rechteschutz nicht einmal so weit wie möglich,
nur so weit wie nötig – so wird es bei den
Fan-Festen zum Beispiel überall lokales
Bier geben.
SPIEGEL: Da haben wir allerdings einen anderen Eindruck. Die Berlin Tourismus
Marketing sollte an ihrem Messestand bei
der ITB unlängst nicht einmal die 32 Flaggen der Teilnehmerländer aufstellen dürfen. Beansprucht die Fifa jetzt schon Hoheit über Nationalflaggen?
Lentze: Nein, überhaupt nicht. Die 32 Flaggen hingen dort und werden sicher auch
noch oft woanders hängen. Das ist unnötigerweise ein bisschen emotional eskaliert.
Es ging gar nicht um die Flaggen, sondern
um die Kooperation mit den Sponsoren
der Berlin Marketing. Aber die Sache ist
besprochen und erledigt.
SPIEGEL: Nächstes Beispiel: Bei der offiziellen Auslosung in Leipzig durfte Nürnberg Lebkuchen verteilen, Frankfurt aber
keine Weingummis. Finden Sie das nicht
selbst ein bisschen lächerlich?
104
ECKEHARD SCHULZ / AP
SPIEGEL: Rund 50 Tage vor Anpfiff der WM
Werbung des offiziellen WM-Förderers Deutsche Bahn, Fifa-Manager Lentze: „Emotional ein
Lentze: Fifa und Organisationskomitee ha-
ben den Städten bei der Auslosung kostenlose Standflächen geboten und die Kosten für den Stand teilfinanziert. Die Städte konnten sich dort der Weltpresse präsentieren – verbunden mit klaren Regeln. Weil
Nürnberger Lebkuchen weltbekannt ist,
haben wir bei dieser regionalen Spezialität
eine Ausnahme gemacht.
SPIEGEL: Bei all den negativen Schlagzeilen
müssten Ihre Sponsoren Sie eigentlich
längst drängen, kulanter zu sein.
Lentze: Unsere Partner sehen das ganz
nüchtern und wissen sehr gut, dass wir ihre
Rechte angemessen schützen.
SPIEGEL: Zum Beispiel in Sachen Kleiderordnung in den Stadien?
Lentze: Die Vorstellung, dass wir Leute mit
den falschen T-Shirts zurückweisen ist nun
wirklich völlig absurd. Genau wie das
Gerücht, Staatsgäste dürften nur in Hyundais vorfahren und Taxen müssten ihre
Werbung überkleben. In Bayern hieß es
zu Fasching, wir würden nur viereckige
Bierbecher erlauben. Darauf haben tatsächlich Leute bei uns angerufen …
d e r
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den die Einnahmen bei rund 1,8 Milliarden liegen – bei Kosten von etwa 1,1 Milliarden.
SPIEGEL: Bleiben genau die 700 Millionen
Gewinn durch die Vermarktung. Warum
also der ganze Werbewahnsinn – und: Darf
die Fifa als eingetragener Verein eigentlich
überhaupt Gewinne erzielen?
Lentze: Ich glaube nicht, dass man private
Finanzierung über Sportsponsoring als
Werbewahnsinn bezeichnen kann. Natürlich muss die Fifa Einnahmen haben, um
ihren Aufgaben nachkommen zu können.
Mehr als 70 Prozent der Einkünfte fließen
direkt zurück in den weltweiten Fußball,
sei es in Form von finanzieller Unterstützung der Verbände oder durch Zuschüsse
an unterschiedlichste Projekte – gerade hat
die Fifa in Afrika das 100. Fußballprojekt
angestoßen. Die WM ist übrigens die einzige Fifa-Veranstaltung, die momentan gewinnbringend ist. Selbst der Confed-Cup
war ein Zuschussgeschäft.
SPIEGEL: Für Aufregung in den Ausrichterstädten sorgt vor allem, dass die Fifa sich in
ihrem Wust von Vorschriften nicht nur auf
MARCO-URBAN.DE
die Stadien beschränkt, sondern Bannmeilen um die Stadien einrichten will.
Lentze: Vergessen Sie den Begriff „Bannmeile“. Aber die Verantwortung von Fifa
und OK kann doch nicht am Stadionzaun
enden, deshalb wird in Absprache mit den
Städten ein „kontrolliertes Gelände“ um
die Stadien eingerichtet – schon um dort
Sicherheit und den reibungslosen Transport zu gewährleisten. Natürlich wollen wir
dort kein Ambush-Marketing oder kon-
bisschen eskaliert“
kurrierende Veranstaltungen. Der Rechteschutz ist eine normale Sache, er ist auch
nicht anders in der Bundesliga, bei der
Uefa oder beim IOC. Würden wir das nicht
ernst nehmen, müsste man uns zu Recht
Dilettantismus vorwerfen.
SPIEGEL: In Deutschland gilt Werbe- und
Gewerbefreiheit – und im Stadionumfeld
hat die Fifa eigentlich nichts zu melden.
Lentze: Natürlich gibt es diese Freiheit, und
sie wird auch überhaupt nicht eingeschränkt. Es ist aber so, dass man beispielsweise für ein Großposter eine Genehmigung braucht. Das liegt im Ermessen
der Städte. Die können aber eigentlich
auch kein Interesse daran haben.
SPIEGEL: Wieso?
Lentze: Die Städte und Stadien stehen im
Licht der Weltöffentlichkeit. Ich glaube
nicht, dass man rundherum einen wilden
Basar aus fliegenden Händlern und wehenden Großpostern sehen möchte.
SPIEGEL: Solange es nicht die der offiziellen
Sponsoren sind, meinen Sie?
Lentze: Für die Partner gelten in diesem
Bereich natürlich dieselben Vorgaben.
d e r
SPIEGEL: Und wer überwacht das – eine
Privatarmee aus Fifa-Anwälten?
Lentze: Die Marketingdivision wird 250
Mitarbeiter im Einsatz haben, etwa 20 davon im Rechteschutz. Sie werden in Teams
von Stadion zu Stadion reisen und vor Ort
von Freiwilligen unterstützt.
SPIEGEL: Ist Ihre Angst vor Trittbrettfahrern nicht völlig übertrieben?
Lentze: Bitte? Wir haben im Vorfeld der
WM schon 1600 Fälle von Ambush-Marketing und Produktpiraterie. 2002 hat ein
Großkonzern einem Fan aus Costa Rica
5000 Dollar bezahlt, damit er ein 100-MeterWerbebanner ins Stadion schleppt. Das ist
die Realität. Aber gesprochen wird immer
vom kleinen Bäcker, der mit Schadensersatzklagen überzogen wird. Absoluter
Unsinn: Es gibt nicht einen einzigen Fall,
in dem die Fifa gegen die berühmte WMSemmel vorgegangen ist.
SPIEGEL: Ist der prominenteste Fall von Trittbrettfahrer-Marketing nicht OK-Chef Franz
Beckenbauer persönlich, mit seinem aktuellen Erdinger-Spot?
Lentze: Das sehe ich überhaupt nicht so.
SPIEGEL: Die Fifa gilt auch aus anderen Gründen als Spielverderber: Viele öffentliche WMVorführungen werden gerade abgeblasen,
weil Leinwände teuer sind und sich aufgrund
ihrer Regeln nicht genug Sponsoren finden.
Lentze: Die Absagen gibt es vor allem, weil
die Sicherheitsauflagen wie Eingangskontrollen und Einzäunung so umfangreich
und damit auch teuer sind. Das hat mit
Marketing nichts zu tun. Dort waren wir
sehr kompromissbereit. 95 Prozent der Public Viewings finden in Schulen, Gaststätten
oder Kirchen als kostenfreie, nichtkommerzielle Veranstaltungen statt. Für die
etwa 60 kommerziellen gilt: Die Veranstalter können regionale Sponsoren gewinnen,
wenn sie mit unseren nicht konkurrieren.
Die bescheidenen Lizenzgebühren gehen
übrigens an die SOS-Kinderdörfer.
SPIEGEL: Erstaunlich ist auch Ihr Umgang
mit den Medien. Ihre „Richtlinien“ waren
ein Eingriff in die Pressefreiheit.
Lentze: Es handelte sich um ein älteres Dokument, die von der Fifa gelebte Praxis
war immer eine andere. Das Dokument
war daher ein handwerklicher Fehler, den
wir im März aber aus der Welt geschafft
haben. Es gibt jetzt keine „Richtlinien“
mehr, sondern ein „Informationsblatt“.
Natürlich gibt es im redaktionellen Bereich
keine Einschränkungen.
SPIEGEL: Massiven Ärger gab es auch wegen
der Restriktionen bei der Verwendung von
Spiel-Bildern in Online-Angeboten.
Lentze: Auch in dieser Hinsicht hat man sich
gefunden. Es gibt für Online-Bilder keine
zeitlichen und mengenmäßigen Einschränkungen mehr. Allerdings sind aktuelle Online-Bilder für viele Anbieter auch ein Geschäft, für das sich der Markt gerade findet.
Für diese WM ist die Diskussion aus unserer Sicht mit dem gefundenen Kompromiss
aber beendet. Interview: Marcel Rosenbach
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105
Ausland
Panorama
TERRORISMUS
Falscher
Fokus
FRANKREICH
Zweite Welle
REUTERS
n den USA ist eine Kontroverse darüber ausgebrochen, ob Abu Mussab
al-Sarkawi wirklich die
zentrale Figur im Kampf
gegen die Besatzungsmacht
im Irak ist. Experten in
den Geheimdiensten und
hochrangige Militärs halten
den Qaida-Statthalter für
„gefährlich überbewertet“.
Dazu deckten amerikanische Medien nun auf, dass
das für Nahost-Einsätze zuständige Central Command
in Tampa, Florida, seit zwei Anschlag in Bagdad
Jahren eine millionenteure
Kampagne mit dem Ziel steuert, „Sarkawi zum
Hauptübeltäter“ zu stempeln und damit „fremdenfeindliche Reaktionen“ im Irak gegen ausländische Terroristen auszulösen. Erste Angriffe
von Stammesmilizen im Irak gegen nichtirakische Aufrührer in den vergangenen Monaten
seien ein Ergebnis dieser Propaganda-Aktion.
„Durch aggressive strategische Kommunikation
steht Abu Mussab al-Sarkawi nun für: Terrorismus im Irak, das Leiden des irakischen Volkes,
die Zerstörung aller Hoffnungen“, zitiert das
„Wall Street Journal“ einen Bericht aus dem
amerikanischen Hauptquartier in Bagdad.
Etliche Experten, darunter Oberst Derek Harvey,
der jahrelang mit militärischer Aufklärung im
Irak befasst war, kritisieren mittlerweile diese Sarkawi
WISSAM AL-OKAILI / AFP
I
Kampagne des Hauptquartiers in Tampa. Sie
habe aus Sarkawi eine „überlebensgroße Karikatur gemacht und ihn weit mächtiger dargestellt, als er in Wirklichkeit ist“. Dadurch drohten
die wirklichen Risiken aus dem Blick zu geraten,
warnte Harvey bei einer internen Konferenz in
Fort Leavenworth – „die Vertreter des früheren
Regimes und ihre Anhänger“ seien weit gefährlicher als Sarkawi. Gemeint sind Gefolgsleute
des Ex-Diktators Saddam Hussein aus der BaathPartei und der Armee, die nach wie vor das
Rückgrat des Widerstands im sunnitischen Dreieck nordwestlich von Bagdad bilden sollen. Spezialisten im deutschen Geheimdienst BND teilen
die Skepsis über die Rolle Sarkawis – das sei „ein
falscher Fokus“.
Bier, Kaffee und eben auch Zigaretten
verkauft werden. Das Gesetz werde
„schlecht umgesetzt“, stellt ein Bericht
aum sind die Massenproteste gegen
die Arbeitsmarktreform der Regierung Villepin abgeflaut, da sorgt der
Plan für ein „absolutes Rauchverbot“
für neuen Ärger. Restaurant- und Barbesitzer, Tabakverkäufer und die Zigarettenindustrie wollen dagegen auf die
Barrikaden gehen. Schon jetzt verbietet
ein Gesetz aus dem Jahr 1991 das Rauchen in „kollektiv genutzten Räumen“,
mit Ausnahme eigens ausgewiesener
„Raucherzonen“. Tatsächlich schert
sich jedoch kaum ein Gastwirt um die
Vorschrift; blauer Dunst wabert durch
Speiselokale und steht in jeder „BarTabac“ – jener typisch französischen Institution, in der am Zinktresen Wein,
FAYOLLE / SIPA PRESS
K
von Gesundheitsminister Xavier Bertrand fest. Der will angesichts von jährlich bis zu 5000 Toten allein durch
Passivrauchen die verschärften Vorschriften „so schnell wie möglich“ verabschiedet sehen. Premier Dominique
de Villepin, durch sein Gesetz zur Kündigung für Berufsanfänger, das nun
zurückgezogen wurde, unpopulärer
denn je, fordert diesmal „den denkbar
größten Konsens“.
Der Verband der Tabakverkäufer rüstet
schon zum Protest auf der Straße: Am
25. April steht in Paris eine Großkundgebung bevor, unter ihren elf Millionen
Kunden wollen die Barbesitzer landesweit Unterschriften gegen das Rauchverbot sammeln, Motto: „Meine Freiheit ist mir wichtig“.
Demonstranten mit Villepin-Karikatur
107
Panorama
BÜCHER
Shirin Ebadi: „Mein Iran“. Pendo Verlag, München;
296 Seiten; 19,90 Euro.
108
Straßenschlacht in Katmandu, Gyanendra
N E PA L
König außer Kontrolle
I
n Katmandu nehmen die blutigen Unruhen kein Ende, zu denen der despotische
König Gyanendra, 58, maßgeblich beiträgt.
Armee und Polizei feuerten Anfang der
Woche auf Demonstranten, mindestens
4 Menschen fanden den Tod, etwa 1300
wurden verhaftet, darunter 25 Journalisten
sowie 10 Touristen, einer von ihnen aus
Deutschland. Gyanendra regiert seit 14 Mo-
I TA L I E N
Der überrumpelte Don
er „Boss der Bosse“ der sizilianischen Mafia narrte die Polizei
D
42 Jahre und sieben Monate lang – am
Ende führte ausgerechnet eine Lieferung frischer Unterwäsche die Fahnder
naten mit Notstandsgesetzen, er hat das
gewählte Parlament abgesetzt und Spitzenpolitiker ins Exil getrieben. Immer wieder kommt es zu Streiks. Indien und die
USA bemühten sich bislang vergebens um
Vermittlung. Die sieben größten demokratischen Parteien Nepals versuchen mittlerweile gemeinsam mit den militanten Maoisten, Gyanendra zu entmachten.
zu ihm. Und das, obwohl er die berühmten Zettelbotschaften an seine
Leute all die Jahre immer mit dem gleichen Satz beendet hatte: „Sorgt dafür,
dass ich mich nicht blamiere.“ Bernardo
Provenzano, 73, wurde am vergangenen
Dienstag auf einem Bauernhof in der
Nähe der Mafiahochburg Corleone verhaftet und sitzt jetzt in einer Einzelzelle
in der mittelitalienischen Stadt Terni.
Provenzano hatte
der Cosa Nostra
nach der Verhaftung
seines Vorgängers
Salvatore „Toto“
Riina 1993 eine neue
Strategie verpasst,
den blutigen Krieg
gegen den Staat eingestellt und seine
Leute auf „minimale Sichtbarkeit und
maximale Geschäftstätigkeit“ getrimmt,
wie der römische
„Messaggero“
schrieb. In seiner
frühen Mafiakarriere hatte er selbst
allerdings wenig
Skrupel, Menschen
REUTERS
sehen. Was sie las, stürzte sie in die
„zehn quälendsten Tage meines Berufslebens“, wie sie schreibt. In den Unterlagen, die eine Serie von Morden an iranischen Intellektuellen betrafen, stieß
Ebadi, schon damals Irans prominenteste Anwältin, auf Passagen, in denen von
einem Anschlag auf ihr Leben die Rede
war. „Die nächste Person ist Schirin
Ebadi“, las sie in Auszügen eines Gesprächs „zwischen einem Regierungsminister und einem Mitglied des Todeskommandos“, das in den Fall verwickelt
war. Die Entdeckung schildert die Friedensnobelpreisträgerin in ihrer Autobiografie „Mein Iran“, die sie am Mittwoch in Berlin vorstellen will. Die sonst
eher zurückhaltende Menschenrechtlerin gibt Einblicke in ihr
Leben, die sie immer
wieder mit der politischen Entwicklung ihres
Landes verknüpft: Das
beginnt beim Putsch im
Jahr 1953 gegen den
Premierminister und
vom Volk „geliebten
Nationalhelden“ Mohammed Mossadegh,
den der amerikanische
Geheimdienst CIA mitinszenierte. Unter Mossadegh hatte es Ebadis
Vater zum stellvertretenden Landwirtschaftsminister gebracht. Sie beschreibt
den Sturz von Schah Mohammed Resa
und die Machtübernahme durch Ajatollah Ruhollah Chomeini 1979. Sie
schildert Aufstieg und Fall der Reformer
unter dem eher liberalen Staatspräsidenten Mohammed Chatami, auf den
der Fanatiker Mahmud Ahmadinedschad folgte. Ebadi gesteht, sie sei anfangs von der Revolution „wie hypnotisiert“ gewesen. Doch unter den Mullahs
wird sie zur Kämpferin an zwei Fronten: Sie tritt ein für die Gleichberechtigung ihrer „Schwestern“ im patriarchalischen System der religiösen Eiferer.
Und sie bäumt sich auf gegen die Willkür der Mullahkratie, indem sie Oppositionelle vertritt. In nahezu allen politisch bedeutsamen Fällen trat sie seither
als Verteidigerin auf und beschreibt diese jetzt mit einer Fülle von Details. Das
gibt ihrem Buch Brisanz: als lehrreiche
Anklageschrift gegen den Gottesstaat.
SAURABH DAS / AP
Verratene Revolution
n einem Herbsttag im Jahr 2000
durfte Schirin Ebadi Protokolle in
A
den Räumen der Teheraner Justiz ein-
Provenzano nach seiner Festnahme
d e r
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Ausland
C H I N A
N E P A L
I N D I E N
Kerngebiet der
maoistischen Guerilla
Mount
Everest
Katmandu
200 km
Die indische Regierung bringt das in eine
Zwickmühle: Wenn sie das Zweckbündnis
zwischen den gemäßigten Parteien und den
Maoisten unterstützt, steigen die Chancen,
dass Gyanendra zur Besinnung kommt.
umzubringen – in den Mafiaprozessen
der neunziger Jahre lasteten Zeugen
ihm „bis zu 40 Morde“ an. Sein Spitzname: „der Traktor“, die Justiz schätzt
sein Vermögen auf 20 Milliarden Euro.
Experten befürchten nun, dass es um
die Nachfolge Provenzanos zu einem
Bandenkrieg kommen könnte. „Es ist
wohl besser, wieder bewaffnet herumzulaufen“, kommentierte ein Polizist in
Palermo die Festnahme. Die italienische
Justiz erhofft sich von Provenzano Aufschluss über mächtige Helfer in Staat
und Polizei, die ihm in letzter Sekunde
immer wieder die Flucht ermöglicht
hatten. Womöglich hielt sich Provenzano auch in Deutschland auf: Sein Bruder arbeitete als Stahlkocher bei Thyssen. Als sich Provenzanos Frau Saveria
Benedetta 1993 mit ihren beiden Söhnen in Corleone zurückmeldete, wollte
sie zwar nicht sagen, wo sie all die Jahre verbracht hatte, den Beamten fiel
aber das „unsichere Italienisch“ der
Kinder auf – umso fließender hätten sie
Deutsch gesprochen.
CHINA
Sonne oder Trapez
S
ogar auf die Architektur wirkt sich
das schwierige Verhältnis zwischen
Japan und China aus, wie sich am
„Shanghai Weltfinanz-Zentrum“ zeigt,
das derzeit in Pudong, dem Finanzbezirk der ostchinesischen Metropole, entsteht. Der Büroturm wird von einer japanischen Firma errichtet. Mit 492 Metern soll er eines der
höchsten Gebäude
der Welt werden.
Der amerikanische
Architekt William
Pedersen wollte es
ursprünglich mit einer riesigen kreisförmigen Öffnung in
der Spitze verzieren, als Sinnbild für
ein „Mondtor“; vor
allem aber dient das
Loch dazu, die Stabilität des Wolkenkratzers zu verbessern. Doch die Chinesen interpretierten den Kreis als
aufgehende Sonne,
das Nationalsymbol
Japans – eine unerträgliche Assoziation, denn im Zweiten Weltkrieg und
davor hatten japanische Invasionstrup- Weltfinanz-Zentrum
pen Millionen Chi- (Modell)
nesen umgebracht.
Um dem Dilemma zu entfliehen, schlugen die Architekten zunächst vor, den
Kreis durch eine Querverbindung zu
teilen. Das reichte den Shanghaiern
nicht aus. Nun wird es eine trapezförmige Himmelspforte geben.
CLARO CORTES IV / REUTERS
NARENDRA SHRESTHA / CORBIS
Andererseits könnte der Kompromiss
in Indien als Zeichen der Schwäche
gedeutet werden, denn auch in 30 indischen Distrikten sind Aufständische aktiv, die von nepalesischen Genossen bewaffnet und ausgebildet
werden. Eine eindeutige Haltung
nehmen nur Vertreter indischer
Linksparteien ein, die Premier Manmohan Singhs Koalition mittragen.
Sie beteiligten sich vorigen Montag
als Ehrengäste an einer Solidaritätskundgebung der Exilnepalesen in
Neu-Delhi. Ein Sprecher verkündete: „Das Echo eurer Stimmen aus
Nepal hören wir in Indien. Wir werden
Gyanendra zwingen, Wahlen abzuhalten.“
Nepal ist für Indien als Handelspartner und
Puffer zu China von Bedeutung.
Für Amerika hingegen bleiben Maoisten
Terroristen. Eine Tolerierung ist derzeit undenkbar, weshalb Washington den außer
Kontrolle geratenen König Gyanendra
einstweilen weiter stützt: „Er hat zwar die
Demokratie zerstört“, erklärte der stellvertretende US-Außenstaatssekretär Richard Boucher vorige Woche in Neu-Delhi,
„andererseits sind die Maoisten gemeine Leute, die bombardieren und Zivilisten
töten.“
Ausland
I TA L I E N
Der 0,6-Promille-Sieg
Selten ähnelte ein Wahlerfolg so sehr einer Niederlage.
Romano Prodi wird Nachfolger von Silvio Berlusconi werden, doch das gespaltene Land
sehnt sich nach deutschen Verhältnissen – nach der Großen Koalition.
B
Politiker mit dem Charisma einer Tasse
Kamillentees.
Ein Sieg ist nicht nur eine Stimme mehr.
Das Mitte-links-Bündnis Unione hat nur
minimal gewonnen – 49,8 Prozent stehen
gegen 49,7 Prozent des Berlusconi-Lagers.
Gestärkt sind innerhalb der Neun-Parteien-Allianz Prodis ausgerechnet die Neokommunisten um Fausto Bertinotti. Dessen
Untreue hatte schon die erste Regierung
Prodi 1998 vorzeitig beendet.
Jetzt steht der Professor vor der Aufgabe,
mit neun denkbar unterschiedlichen Koalitionspartnern und ohne eigene Partei im
Rücken eine Regierung zu bilden. Und dazu
warten auf ihn, als Willkommensgeschenk
seines Vorgängers, leere Staatskassen, kaum
ANDREW MEDICHINI / AP
ei der Verkündung seines Sieges
wirkt Romano Prodi so fröhlich wie
ein frisch Verurteilter. „Vinto“ – Gewonnen –, murmelt er ins Mikrofon. Und
wenig später spricht der Professor schon
von „Verfassungsreform“ und der Notwendigkeit von Wachstum.
Ein Epochenbruch klingt anders.
Der künftige Regierungschef Italiens
wird wohl Romano Prodi heißen. Aber
er wird nicht durch den erhofften Erdrutsch ins Amt kommen, sondern durch
einen sachten, zitternden Pendelschlag.
Italien hat bei der Wahl am vorigen
Sonntag kein „Basta, Berlusconi!“ ausgestoßen, sondern ein ratloses „Mal sehen“Votum abgegeben für einen 66-jährigen
Wahlsieger Prodi: „Wir werden fünf Jahre lang regieren“
110
d e r
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begonnene Reformbaustellen und ein abgegrastes Feld politischer Blütenträume.
Der frühere Präsident Francesco Cossiga
legte Prodi und Berlusconi angesichts der
Verhältnisse sogar den Rücktritt nahe, damit
Italien sich neu finden könne.
Denn das Land ist in zwei gleich große,
sich leidenschaftlich misstrauende Lager
gespalten. Deswegen hat Staatspräsident
Carlo Azeglio Ciampi es zur allgemeinen
Überraschung abgelehnt, Romano Prodi
noch in seiner Mitte Mai endenden Amtszeit mit der Bildung einer Regierung zu
beauftragen – wie es verfassungsrechtlich
möglich wäre.
Die politischen Lager sollen sich erst mal
zusammensetzen und auf ein neues Staats-
GAMMA / LAIF
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ALESSANDRA TARANTINO / AP
lusconis Parteien-Allianz im Senat, der
zweiten gleichberechtigten Kammer. Nur
„Little Italy“, die Emigranten in den USA,
standen weiterhin zu ihrem „Don Coglioni“ („Wall Street Journal“).
Das Prodi-Bündnis verfügt jetzt im Senat über eine hauchdünne Mehrheit von
158 zu 156 Sitzen. Ohne die Stimmen aus
der Ferne hätte eine Regierung Prodi jedes
Gesetz gegen den Widerstand der zweiten
Kammer durchsetzen müssen. Der Senat
wird aus den Regionen heraus gewählt und
entspricht nach der jüngsten Verfassungsreform mehr und mehr dem deutschen
Bundesrat, muss aber jedem Gesetz seinen Segen geben.
So ist der knappe Sieg in Wahrheit eine
peinliche Niederlage für die Linke, die sich
um Prodi schart. Trotz fünf Jahren Berlusconismus, trotz Interessenkonflikten, fortwährender Nötigung der Justiz und trotz
Kaufkraftschwunds ist der Linken kein Plebiszit gegen den Übermächtigen gelungen.
Seine Partei Forza Italia bleibt stärkste
politische Kraft im Lande. Berlusconi hat
sich gegen den Trend gestemmt wie einst
Gerhard Schröder, mit Wutanfällen, windigen Steuerversprechungen und düsteren
Warnungen vor den Kommunisten. Nach
fünf Jahren an der Regierung ist es ihm
zwar nicht noch einmal gelungen, eine
ähnliche Aufbruchstimmung
mit seiner Person zu verbinden
wie bei der vorherigen Parlamentswahl. Die wirtschaftlich
und politisch so wichtigen Regionen Norditaliens haben aber
wieder mehrheitlich für die
Regierung gestimmt, ebenso Sizilien und der Süden.
Der Noch-Regierungschef
weigerte sich bis in die Nacht
zum Donnerstag, Prodi zum
Sieg zu gratulieren: Es gebe
„zu viele dunkle Seiten“ in dem
Ergebnis, erklärte er. Es sei
unverantwortlich, wenn Prodi
jetzt Siegesfeiern veranstalte.
Noch in der Wahlnacht hatte Forza Italia angekündigt, es
den Amerikanern nachzumachen – wie einst im Wahlkampf
2000 zwischen George W. Bush
und Al Gore in Florida: „Wir
werden jede einzelne Stimme
nachzählen“, erklärte der Sprecher Berlusconis. Doch das ist
eher Nervenbalsam als Taktik.
Es geht im Fall der Abgeordnetenkammer um jene 43 028
„strittigen“ Wahlzettel, die laut
Wahlrecht noch einem Richtergremium vorgelegt werden
können. Es ist unwahrscheinlich, dass alle Zettel sich plötzlich als Berlusconi-Voten demaskieren ließen. Und nur
dann würde sich am Ergebnis
noch etwas ändern.
Wahlverlierer Berlusconi: „Zu viele dunkle Seiten“
oberhaupt einigen. Im Gespräch sind unter
anderen der ehemalige Ministerpräsident
Giuliano Amato sowie der Ehrensenator
auf Lebenszeit Giorgio Napolitano. Der
Neue soll dann, wenn die Wogen geglättet
sind, die neue Regierung berufen. Damit
bekäme Berlusconi rund zwei Monate
Nachspielzeit eingeräumt.
Der Abschied vom Berlusconismus zieht
sich in die Länge. Als kämen zwei nicht
voneinander los.
Es sind 25224 Stimmen gewesen, die Prodis Bündnis eine Mehrheit im Unterhaus
einbrachten, einen 0,6-Promille-Sieg. Und
nur dank dem Wahlrecht, das ironischerweise gerade das Prodi-Lager heftig bekämpft hatte, verwandelten sich die Handvoll Stimmen mehr für Mitte-Links in eine
satte Mehrheit von 348 zu 281 Sitzen.
Am Ende sorgten die Abwesenden
dafür, dass Italien nicht in Unregierbarkeit
versinkt. Pikanterweise hatte erst die Regierung Berlusconi dafür gesorgt, dass Italiener im Ausland per Brief wählen dürfen.
Doch es muss kein Vergnügen gewesen
sein, als Italiener im Ausland ständig auf
die Peinlichkeiten Berlusconis angesprochen zu werden. Jedenfalls stimmte die
rund drei Millionen Menschen starke Diaspora unerwartet deutlich für Mitte-Links
und verhinderte so eine Mehrheit für Ber-
Prodi-Anhänger in Rom
Neuwahl in Jahresfrist?
Bei diesen Verhältnissen ist es kein
Wunder, dass „la Grande Coalizione“ nach
Merkelschem Vorbild zum meistgebrauchten Wort in den Talkshows wurde. So wie
die Teutonen sich einst ins Land südlich
der Alpen sehnten, so verklären manche
Politiker Italiens nun die deutschen Verhältnisse: Kennst du das Land, wo die
Koalitionen blüh’n?
Selbst Silvio Berlusconi verblüffte sein
Publikum, als er verkündete: „Vielleicht
sollten wir uns an einem anderen großen
Land Europas ein Beispiel nehmen, die
Kräfte vereinen und im Einvernehmen
regieren.“ Bis zu diesem Augenblick hatte
er eine persönliche Niederlage zur nationalen Katastrophe hochstilisiert und alle
als „Vollidioten“ beschimpft, die so dumm
seien, nicht für ihn zu stimmen.
Natürlich weiß Berlusconi, dass Prodi
sein Angebot zur nationalen Einheit nicht
annehmen kann. Die Koalitionspartner
würden sich in alle Winde zerstreuen.
Berlusconi und sein Außenminister Gianfranco Fini rechnen nun mit einer Neuwahl in Jahresfrist. Sie bezweifeln, dass
Prodis Qualitäten als Premier ausreichen,
seine knappe Mehrheit über 2006 hinaus
zusammenzuhalten. Bis dahin, so hoffen
sie, kann sich das „Haus der Freiheiten“ zu
einer etwas respektableren liberal-konservativen Partei zusammenraufen.
Auch Prodi lehnt die Zusammenarbeit
mit Berlusconi, und sei es auch nur bei
einem informellen Runden Tisch, kategorisch ab: „Wir werden fünf Jahre lang regieren“, erklärt er und verspricht, nicht
nur seine zentrifugale Koalition, sondern
ganz Italien zusammenzuhalten.
Für die Zukunft verspricht Prodi, die
italienischen Truppen aus dem Irak abzuziehen. Das ist populär im Land. Und
er will – wenn auch „nicht gegen die
Opposition“ – das Wahlrecht ändern, jene
Reform, der sein Mitte-links-Bündnis den
Sieg verdankt. Das wäre die noble Geste
eines Siegers, der keiner ist.
Alexander Smoltczyk
111
Ausland
ISLAM
Im Haus des Islam
Ist der Kampf der Kulturen entbrannt? Der SPIEGEL dokumentiert Freitagspredigten aus Moscheen
in aller Welt. Die Imame lotsen ihre Gläubigen durch den Alltag, preisen die Wonnen
des Paradieses, säen Zweifel an den staatlichen Autoritäten – oder predigen Hass auf den Westen.
A
m vorigen Montag, dem 12. Rabi
al-Awwal 1427, ruhte in den meisten
islamischen Ländern der Verkehr,
die Beamten hatten Urlaub, die Kinder
schulfrei. Am 12. Rabi begehen die Muslime den Geburtstag des Propheten.
Die Ägypter feiern den Prophetengeburtstag, den Maulid al-Nabi, als eine Art
islamisches Weihnachtsfest. In den Städten
des Nildeltas ziehen Tausende mit Trommeln und Trompeten durch die Straßen, die
Mädchen bekommen Puppen, die Jungen
kleine Pferde aus Zucker geschenkt. Es ist
das größte religiöse Volksfest in Ägypten.
In Pakistan setzen die Gläubigen einen
als Beduinen verkleideten Knaben auf ein
Pferd und lassen ihn durch die Straße reiten: die Wiederkehr des Propheten in Kindesgestalt – kein Widerspruch offenbar
zum sonst vehement verteidigten Bilderverbot. In diesem Jahr endete Mohammeds Rückkehr allerdings in einem Blutbad: 57 Menschen kamen in Karatschi ums
Leben, als ein Selbstmordattentäter beim
Gebet eine Bombe zündete.
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Der Islam hat viele Gesichter, und am
Freitag vor dem Prophetengeburtstag
haben SPIEGEL-Korrespondenten und
-Mitarbeiter von Nigeria bis Indonesien
Moscheen besucht, um sich vor Ort die
Predigten der Imame anzuhören. Sie sind
einem Verdacht nachgegangen, der sich
über Jahre, zumal seit dem 11. September
2001, im Westen verfestigt hat: dass die
Moschee vom Gebetshaus zu einem
Hort des Extremismus geworden sei, zu
einem Zentrum islamistischer Indoktrination. Der Kampf der Kulturen, so auch in
Deutschland die gar nicht so heimliche
Angst, sei längst in voller Schärfe entbrannt.
Radikale Prediger haben mit Eifer zu
diesem Bild beigetragen. In einer Berliner
Moschee schnitt ein Fernsehteam heimlich
die Predigt eines türkischen Vorbeters mit,
in der er die Deutschen als Gottlose bezeichnete und ihnen vorwarf zu stinken. In
London rief der Hassprediger Abu Hamsa
al-Masri die Gläubigen auf, Touristinnen
in seinem Heimatland Ägypten umzubrind e r
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gen: „Wenn eine Frau, selbst eine muslimische Frau, nackt ist und du sie nicht anders verhüllen kannst, so ist es legitim, sie
zu töten.“
Andere Koran-Exegeten zeigen sich
maßvoll, wenn sie zu einem westlichen
Publikum sprechen – und deutlich radikaler, wenn sie sich an die Muslime wenden.
Der Fernsehprediger Jussuf al-Kardawi,
der vielleicht einflussreichste islamische
Schriftgelehrte der Gegenwart, räumte in
einem SPIEGEL-Interview großmütig ein,
auch rechtgläubigen Christen und Juden
stehe das Himmelreich offen. Auf seiner
arabischen Website stellte er kurz darauf
klar, dass Christen und Juden letztlich
doch nur Ungläubige seien.
Worte des Hasses und der Diskriminierung – aber sind sie repräsentativ für die
Abertausenden Freitagspredigten, die jede
Woche von Millionen Muslimen besucht
werden? Auch von denen, die gelegentlich
ein Morgengebet verschlafen und deren
Leben nicht ausschließlich um ihre Religion kreist?
Istiqlal-Moschee in Jakarta
Der Befund ist vielschichtig, als Faustregel kann gelten: Je virulenter ein Konflikt
erscheint, in dem sich fromme Muslime
vom säkularen Westen bedroht sehen, desto eifernder rufen auch die Prediger zu
gottgefälligem Kampf auf.
Während sich in Istanbul oder Jakarta
die Imame vornehmlich der theologischen
Exegese widmeten, ertönten in Pakistan, in
Iran oder im Gaza-Streifen die politischen
Predigten. Dort peitschten die Religionsgelehrten ihre Zuhörer zu heiligem Furor
auf und zogen eine scharfe Grenze zwischen dem Dar al-Islam, dem Haus des Islam, und dem Dar al-Harb, dem Haus des
Krieges – jenen beiden Sphären, in welche die islamischen Rechtsschulen die Welt
aufgeteilt haben.
Gleichzeitig gibt es aber auch, zum Teil
in derselben Predigt, die Anrufung Gottes
als Helfer in Alltagsnöten, den moralischen
Appell an die eigene politische Führung
und immer wieder den steten Trauergesang der islamischen Welt: den Vergleich
zwischen dem düsteren Jetzt und der glorreichen Vergangenheit.
Die Nachrichtenlage am vorvergangenen Freitag hielt alle Zutaten für eine dramatische politische Predigt bereit: In der
Nacht zuvor hatte die israelische Armee
zwei Büros der Aksa-Brigaden im GazaStreifen beschossen; die USA und die Europäische Union kündigten an, der HamasRegierung ihre Finanzhilfen zu streichen.
In der irakischen Stadt Nadschaf riss am
Donnerstag eine Bombe 10 Menschen in
den Tod, 70 weitere starben in Bagdad, als
sie nach der Freitagspredigt die Moschee
verließen. Die Washingtoner Regierung
machte deutlich, dass sie keine neuerliche
Kandidatur des Amtsinhabers Ibrahim alDschaafari für den Posten des irakischen
Premierministers will.
Zwischen Iran und dem Westen zeichnete sich bereits die nächste Zuspitzung
im Atomkonflikt ab. Hohe religiöse Würdenträger nannten die Forderung der Uno,
die Urananreicherung einzustellen, inakzeptabel. Das Weiße Haus, enthüllte dann
am Wochenende das Intellektuellenblatt
„The New Yorker“, beschleunige die Ausarbeitung der Pläne für einen Militärschlag
auf Irans Atomanlagen. Der Mullahstaat
wiederum, verkündete Präsident Mahmud
Ahmadinedschad, habe erfolgreich Uran
angereichert und sei nun Mitglied im Club
der Atommächte.
Doch diese prekäre Weltlage kommt
beispielsweise in der Predigt von Didin
Hafiduddin, dem Imam der IstiqlalMoschee in Jakarta, nicht vor. Seine
Ansprache in einem der größten Gebetshäuser der Welt trug den Titel „Professionalität und ehrliche Treuhänderschaft“
und hörte sich an wie ein Vortrag auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos. Hafiduddin erzählte den Gläubigen im bevölkerungsreichsten islamischen Land der Erde
vom Israeliten Josef, dem Wirtschaftslenker im Dienste des ägyptischen Pharao. Er
versucht, die auch in der Bibel erwähnte
Geschichte auf das moderne Indonesien
zu übertragen, einen Staat, der den
Kampf gegen die Korruption aufgenommen hat.
„Setze mich über die Speicher des Landes; siehe, ich bin ein kluger Hüter“,
schlägt Josef in der nach ihm benannten
Koran-Sure dem Pharao vor. Niemand sei
je ein derart effizienter Manager gewesen
wie Josef, so der Imam in Jakarta. An seinen Fähigkeiten sollten die Führer der Gegenwart sich orientieren, denn „Korruption, Trägheit und Betrug bringen Zerstörung hervor“. Dagegen belohne Gott
Sachverstand und eine „strikte Arbeitsethik“ mit Glück und Erfüllung.
Der moralische Appell an die eigene
politische Führung ist ein Leitmotiv in den
Ansprachen muslimischer Prediger – und
gleichzeitig ein Reflex auf die starren autokratischen Verhältnisse in vielen islamischen Ländern.
Wenn Scheich Ibrahim Abu Bakr Ramadan im nigerianischen Kano die „Ungerechtigkeit, die von der Führung ausgeht“,
als „die schlimmste in unserer Gesellschaft“
beklagt, ist das noch eine relativ milde
Abmahnung: Präsident Olusegun Obasanjo strebt eine Verfassungsänderung an, um
sich nach Ablauf seiner Amtszeit 2007 noch
einmal wählen zu lassen.
Der Maulana Khalil Ahmad verglich im
pakistanischen Peschawar die monotheistischen Weltreligionen und pries, wenig
überraschend, den Islam als die vollendetste: „Vor allem im Christen- und Judentum
sowie im Kommunismus herrschen Widersprüche vor.“ Das war zahm gegen die Predigt, die sein Kollege Abd al-Akbar Chitrali in der Woche zuvor an gleicher Stelle
gehalten hatte. Der hatte sich über den Anspruch von Staatschef Pervez Musharraf
mokiert, Pakistan wahre Demokratie beschert zu haben. Was Musharraf vorschwebe, sei der „westliche Säkularismus“
AL-AZHAR, KAIRO Die Moschee und Universität wurde vor
gut tausend Jahren von dem Fatimiden-Feldherrn Gauhar
al-Sikilli gegründet und gilt heute als bedeutendstes Zentrum
sunnitisch-islamischer Lehrtätigkeit. Der Freitagsprediger,
Scheich Dr. Id Abd al-Hamid Jussuf, 65, lehnt jede
Instrumentalisierung des Islam für politische Zwecke ab.
Der Prophet vergab denen,
die Unrecht an ihm getan
hatten. Er vergab dem Mörder seines Onkels Hamsa.
Er verzieh seinen Landsleuten, nachdem sie ihn aus
Mekka vertrieben hatten …
Der Islam verbreitete sich
über die ganze Welt durch
Argumente und Überzeugung, nicht aber mit dem
Schwert, wie die Feinde des
Islam behaupten. Der Islam
benutzte das Schwert nur
dann, wenn er angegriffen Jussuf
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BARRY IVERSON
PAULA BRONSTEIN / GETTY IMAGES
„Gott belohnt mit Erfüllung und Glück“
wurde … Der Prophet verbot Extremismus und Fanatismus. Er sagte: „Ich wurde von der Großzügigkeit
des Himmels selbst entsandt. Die Nacht wurde
zum Tage. Wer von diesem
Wege abweicht, fällt dem
Verderben anheim.“ Die
Religion wirkt auf manche
wie ein Irrgarten. Betretet
ihn mit Vorsicht, denn wer
immer sich der Religion als
Extremist nähert, kommt in
seinem Extremismus um.
113
Ausland
NUR-MOSCHEE, GAZA-STREIFEN In der den Extremisten der
Hamas nahestehenden Moschee im Flüchtlingslager
Dschabalija endete die Freitagspredigt mit einem Aufruf an die
Palästinenser, sich gegen die Besatzungsmacht Israel
zu wehren. Die Predigt hielt Imam Talal al-Madschdalawi, 38.
OSAMA HATEM
uns macht, steht geschrieAls die Juden aus dem Gazaben im Buch Gottes.“ Dort
Streifen abzogen, dachten
heißt es: „Ihr werdet Angst
wir, dass wir alle Freiheit der
und Hunger erleiden.“
Welt gewonnen hätten. Dann
Aber auch wir werden in
kam das Bombardement.
den Herzen derer, die uns
Dies ist ein Zeichen, ihr
heute Angst und Hunger
Gläubigen, dass euer Kampf
bringen, solche Angst und
mit den Juden noch lange
Furcht säen, wie sie sie
nicht zu Ende ist. Es ist der
nie zuvor kennengelernt
Beweis, dass der Konflikt
haben. Wir sollten uns mit
nicht unter uns und zwischen
Gottes Hilfe vor nichts
uns stattfindet, sondern mit
fürchten. Wir dürfen uns
den ungläubigen Juden. Des- Madschdalawi
nicht bei jedem Einschlag
halb solltet ihr bei jedem Raketeneinschlag sagen: Gott sei geprie- eines Geschosses oder bei jeder Drosen, es gibt keinen Gott außer dem hung erschrecken … Das macht uns
Einen, und Er ist unser Beschützer. Wir keine Angst. Das soll uns stark machen
sagen den Juden: „Was ihr heute mit im Kampf gegen die Juden.
Iranische Demonstrantinnen: Vom säkularen
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überflüssig: Imam Jussuf warnt vor allzu
hitzigem Glaubenseifer: „Der Extremist
pflügt keine Erde, er lässt keine Blumen
sprießen.“
Souverän nutzt Emrullah Hatipoglu, der
Imam der Blauen Moschee in Istanbul, den
Spielraum, den ihm das staatliche Präsidium für Religionsangelegenheiten einräumt.
Er tritt der Auffassung der säkularen Elite
des Landes entgegen, der Islam sei eine
rückwärtsgewandte, wissenschaftsfeindliche Religion. „Lies, im Namen deines
UNIVERSITÄT TEHERAN Die Freitagspredigt an der Universität
Teheran wird ausschließlich von hohen Funktionären der
schiitischen Geistlichkeit des Landes gehalten. Ajatollah Ali
Chamenei, der höchste religiöse Führer, ernennt persönlich die
Campus-Prediger, unter denen Hodschatolislam Ahmed
Chatami ein Neuling ist. Er predigte vor Tausenden Gläubigen.
Die schiitischen und sunnitischen Brüder sehen sich
einem gemeinsamen Feind
gegenüber, der das Ziel verfolgt, den Islam anzugreifen. Hier ist nicht nur die
Rede von den Schiiten. Jede
Beleidigung des Propheten
ist eine Beleidigung der
ganzen Religion. Es ist daher notwendig, dass die
Schiiten und Sunniten in
dieser Beziehung sich mehr Chatami
um Zusammenhalt und Einigung der Herzen bemühen sollten.
Schiiten und Sunniten sollten brüderlich miteinander leben …
Mit dem Märchen über die Kernenergie
wollen unsere Feinde eine Krise heraufbeschwören. Der Sicherheitsrat der
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Vereinten Nationen ist
selbst ein Faktor der Unsicherheit und der Ungerechtigkeit geworden, anstatt
ein Platz für die Sicherheit
der Welt zu sein … Nach internationaler Gepflogenheit
ist es unser Recht, die Technik der Gewinnung von
Kernenergie zu beherrschen. Der Sicherheitsrat
will uns zwingen, diese
Technik nicht zu beherrschen. Das ist ein Gesetz
des Dschungels, denn es besagt: Wer
stärker ist, kann sich durchsetzen. Aber
unsere Nation hat klar gesagt, dass wir
unser Recht wollen. Für dieses Recht
stehen wir bis zu unserem letzten
Atemzug und mit unserem Blut ein.
RAHEB HOMAVANDI / REUTERS
seines Vorbilds Mustafa Kemal Atatürk,
hatte der Prediger geschimpft. Der Gründer der modernen Türkei sei schließlich
ein Mann gewesen, „der Moscheen in Kirchen verwandelt und Gelehrte der Schrift
hat umbringen lassen. Hört mir zu, Muslime! Unser Ideal ist nicht Kemal Atatürk.
Musharraf versucht nicht nur, den Westen
und die USA zufriedenzustellen, sondern
für immer an der Macht zu bleiben“.
Ähnliche Vorbehalte gegen ihre Staatsführung hegen auch viele Imame in Ägypten und in der Türkei. Doch wenig davon
war in ihren Predigten zu hören. In beiden
Ländern stehen die Moscheen unter der
Kuratel des Sicherheitsapparats. In Ägypten geht das so weit, dass der Großscheich
der Azhar-Universität, der traditionell
höchsten Autorität sunnitischer Gelehrsamkeit, direkt vom Staatspräsidenten ernannt wird und folglich als dessen Sprachrohr gilt.
Entsprechend beschaulich fiel am Vorabend des Prophetengeburtstags die Predigt an der Azhar aus. Der Redner, Scheich
Id Abd al-Hamid Jussuf, pries Mohammed
als den vollkommensten aller Propheten:
„Es wird uns nie gelingen, seiner Erinnerung gerecht zu werden.“
Damit der Funke nicht vom Religiösen
aufs Politische überspringt, stehen in Kairo
bei jeder Freitagspredigt Hunderte Polizisten in den Straßen um die Azhar-Moschee.
Selten haben sich die Gläubigen in den
vergangenen Jahren nach dem Gottesdienst zu einem Protestmarsch formiert –
und wenn, dann bestand die Demonstration zu einem großen Teil aus Zivilpolizisten. An diesem Freitag ist solche Vorsicht
AFP
BLAUE MOSCHEE, ISTANBUL Das unter Sultan Ahmet I.
1616 fertiggestellte Gebetshaus gehört zu den Istanbuler
Großmoscheen, die den Glauben und die Macht des
Osmanischen Reichs verkörpern sollten. Die Predigt hielt
der Imam der Moschee, Emrullah Hatipoglu.
ran. Wir wenden ihn nicht
überall an. Nehmen wir an,
dass wir einen Supermarkt
betreiben. Dürfen wir dort
im Islam verbotene, nicht
legitime Waren verkaufen?
Nein? Aber das machen
viele Muslime. Die Waren
müssen den in der Türkei
festgelegten Standards entsprechen und den Vorschriften des Konsumentenschutzes, aber nicht
denen des Korans. Ist es
zulässig, Alkohol oder Schweinefleisch
zu verkaufen? Wo bleibt da der Koran? Das alles sind Sünden, meine
Glaubensbrüder.
HAMDI GÖKBULUT / TÜRGERPRESS
Ohne Gott gibt es keine
Wissenschaft. Wir sehen,
was sich alles an den Schulen abspielen kann, wenn
nicht im Namen des Herrn
gelernt wird. Wenn heute
in den Schulen gemordet
wird, wenn eine unmenschliche Entwicklung zur Bedrohung wird, stellt sich die
Frage nach den Ursachen
dieser Entwicklung. Gott
sagt im Koran: Einen un- Hatipoglu
schuldigen Menschen zu
ermorden gleicht der Ermordung der
ganzen Menschheit … Der Koran
durchdringt unser Leben. Doch es gibt
Probleme in unserer Haltung zum Ko-
Westen bedroht?
Herren, der geschaffen hat“, beginne der
Koran, und diesem Bildungsbefehl habe
der moderne Muslim zu folgen: „Physik,
Chemie, Mathematik, Astronomie … Lest
das!“ Mit gleichem Eifer sollen die Gläubigen aber auch den Koran lesen: „Da gibt
es keine Ausrede. Niemand kann behaupten, er könne den Koran nicht lesen. Habt
ihr keine Computer, keine CDs?“
Danach folgt ein Katechismus, der sich
wie ein Wahlprogramm des heutigen Premierministers Tayyip Erdogan aus den
neunziger Jahren anhört, als er noch Bürgermeister von Istanbul war und gegen Alkoholausschank, Prostitution und die unaufhaltsame Verwestlichung der Türkei zu
Felde zog. Heute, das Ziel des EU-Beitritts
vor Augen, ist Erdogans islamistische Rhetorik weitgehend verstummt, aber der
Konflikt mit dem säkularen Establishment,
vor allem der Armee, köchelt weiter – in
den Predigten einer staatlich gegängelten
Geistlichkeit.
Klar sind dagegen die Fronten in Palästina,
noch klarer die in Iran. 25 Minuten lang
spricht Imam Talal al-Madschdalawi im
Gaza-Streifen über den bevorstehenden Prophetengeburtstag und über die Notwendigkeit, ständig über Gott und den heiligen Koran nachzudenken. Dann folgt, in den letzten
fünf Minuten, das politische Resümee seiner Predigt: „Gestern sind auf uns 200 Geschosse abgefeuert worden“, sagt der Imam.
„Was hindert uns daran, beim Einschlag
jedes Geschosses an Gott zu denken?“
Es ist eine dialektische Denkfigur, die
seit langem den Diskurs der Islamisten bestimmt: Je härter uns der Feind schlägt, je
deutlicher er uns seine vermeintliche Über-
legenheit vorführt, desto enger rücken wir
zusammen, desto entschlossener sind wir,
ihm entgegenzutreten.
Alles, auch das nächtliche Bombardement der israelischen Luftwaffe, folge einer
großen göttlichen Weisheit: „Hasse nicht
das Böse, es könnte eine Gabe Gottes für
dich sein.“ Das ist die islamistische Antwort auf die Frage der Theodizee: Wenn
Gott allmächtig ist, warum ist dann so viel
Übel in der Welt?
Vor einem ähnlichen Problem steht
Hodschatolislam Ahmed Chatami, der im
Hof der Universität Teheran vor Tausenden iranischen Gläubigen spricht. Er beginnt den politischen Teil seiner Predigt
mit dem verheerenden Erdbeben in der
Provinz Lorestan und lobt das „fleißige
islamische Regime für die Bewältigung
dieser Schwierigkeiten“.
Die Gemeinde will aber auch anderes
hören. „Tod Amerika! Tod England und
seiner Hinterlist! Kernenergie ist unser
selbstverständliches Recht!“, haben die
Gläubigen skandiert, als Chatami ans Pult
trat. Er enttäuscht sie nicht. Er spricht den
Karikaturenstreit an und beschwört die Einheit von Sunniten und Schiiten im Angesicht „der Beleidigung des Propheten“. Er
verteidigt, unter Berufung auf den Koran,
das Recht auf Widerstand. „Die Hochachtung für unsere 27 Jahre alte Revolution
hat mit unserem Widerstand zu tun. Viele
Krisen hat man eurer großen Nation bereitet, aber wir haben sie mit erhobenem
Haupt hinter uns gelassen.“ Dann kommt
er auf den Atomkonflikt zu sprechen.
„Sie haben uns einen Monat Zeit gegeben, um die Forschung einzustellen“, sagt
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er in Anspielung auf den Uno-Sicherheitsrat. „Ein Monat, ein Jahr – ihr könnt uns so
viele Ultimaten geben, wie ihr wollt.“ Iran
bestehe auf seinem Recht, und das bedeutet, „dass wir bis zu unserem letzten Atemzug und mit unserem Blut für unser Recht
geradestehen werden“.
So hat Chomeini gepredigt, es ist die
Sprache der Konfrontation. Chatami verweist auf die jüngsten Marinemanöver „in
den blauen Gewässern des Persischen
Golfs“ und droht: „Wenn ihr auch nur ein
Zeichen von Aggression gegen das islamische Regime wagen solltet, dann werden
wir euch mit unserer Faust einen Schlag
aufs Maul geben.“ Mit einer Anrufung
Gottes endet seine Predigt: Er möge dem
geliebten Iran Schutz und seinen verehrten
Führern Erfolg gewähren und sie alle als
Soldaten des Wali-je Asr annehmen – des
zwölften, des Verborgenen Imam. „Beschleunige seine Auferstehung“, beschwört
er den Allmächtigen.
Das Freitagsgebet ist überall auf der
Welt der Höhepunkt der Woche im Leben
eines frommen Muslim. Es war ein Freitag,
an dem Adam das Paradies betrat, und es
war ein Freitag, an dem es wieder verließ.
Auch der Tag der Auferstehung, so soll
Mohammed gesagt haben, werde ein Freitag sein. „Gott gab sowohl den Juden als
auch den Christen den Befehl, den Freitag
als den Tag der Verehrung zu feiern“, heißt
es in einem seiner überlieferten Aussprüche. „Aber sie missachteten diesen
Auftrag.“ Im Koran sehen die Muslime
die letzte, die vollkommene Offenbarung
Gottes. Jede Freitagspredigt erinnert sie
daran. Daniel Steinvorth, Bernhard Zand
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Benedikt XVI. beim Weltjugendtag in Köln (2005)
FRANK AUGSTEIN / AP
VAT I K A N
Professor Dr. Papst
Ein Jahr lang hat Benedikt XVI. abgewartet, seine Feinde enttäuscht und viele Anhänger
frustriert: Wo bleibt der Ruck? Doch den Kurs seines Pontifikats hat er
diskret abgesteckt: Leanmanagement, Konzentration aufs Kerngeschäft. Von Alexander Smoltczyk
D
ie neue Öffnung des Vatikans misst
3,70 Meter in der Breite und 5 Meter in der Höhe. Es ist ein vierflügeliges, an aufgestellte Buchrücken erinnerndes Bronzetor: das erste Bauwerk des
deutschen Papstes. Man könnte sagen:
Durchs Wort führt der Weg in die Kirche.
Zumindest in deren Tiefgarage.
An diesem Montagmorgen ist es menschenleer im Papstpalast. Draußen, jenseits
der Leoninischen Mauer, werden gleich die
Wahllokale schließen. Hier drinnen ist nur
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das Ticken einer Uhr zu hören, ringsum
und an der Decke das lautlose Getümmel
der allegorischen Fresken. „Der mit dem
Anker um den Hals ist der heilige Klemens“, sagt der Gardist in die Stille. Dann
zeigt er auf den Fahrstuhl: „Pius XII.“ Es
tickt. Im Obergeschoss sind wohl Handwerker zugange.
Der alte Prälat, der anonym bleiben
möchte, sitzt in einer der damastbespannten Dienstkammern und kennt Ratzinger
schon aus der Zeit, als der noch als bleicher
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„Großinquisitor“ durch die Medien gespensterte. „Es ist“, sagt er mit fast akzentfreiem Deutsch, „ein Unterschied, ob
man in der Defensive spielt, mit harter
Manndeckung, oder als Libero. Er ist der
Gleiche geblieben. Nur kann er jetzt eine
Seite zeigen, die früher nicht verlangt war.“
Vom früheren Chef der Glaubenskongregation hatten sich Freund und Feind anderes erwartet. Ein Ruck würde durch
den Kirchenstaat gehen. Aber als Benedikt XVI. seine Enzyklika vorlegte, war
Ausland
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salen Machtanspruch, als „Vater der Fürsten und Könige, Lenker der Welt und Stellvertreter Christi auf Erden“. Benedikt wollte es eine Nummer kleiner, als Zeichen
guten Willens gegenüber den Orthodoxen.
Dieser Papst will die Ostpolitik. Als Eisbrecher schickte er jemanden nach Moskau, der im Konklave wohl nicht zu seinen
Anhängern gehört hatte: Kardinal Walter
Kasper.
Ebenso wandelt sich das Verhältnis zu
China: „Es herrscht Tauwetter“, sagt ein
Kirchendiplomat, der regelmäßig nach
Peking reist. „Die Regierung
hat keine Angst vor dem jetzigen Papst. Das war anders
bei seinem Vorgänger. Der
hatte Osteuropa zu Fall gebracht.“
Offenbar wird überlegt,
die päpstliche Nuntiatur noch
vor der Olympiade 2008 von
Taipeh nach Peking zu verlegen und auch weiterhin keine
Bischöfe ohne informelle Absprachen zu ernennen. Die
Ernennung des regimekritischen Bischofs von Hongkong zum Kardinal wurde
von Peking ohne ernsten Widerstand geschluckt.
Ob all dies schon an Benedikts Wappen abzulesen
ist, mag mancher bezweifeln.
Doch sind Zeichen und Wunder täglich
Brot im Reich der Katholiken. Es war genau am 24. März, als der Chefheraldiker
Andrea Cordero Lanza di Montezemolo
vom ehemaligen Hitlerjungen Ratzinger in
den Kardinalsstand erhoben wurde – dem
Jahrestag jenes Massakers in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem Corderos Vater
von der SS ermordet wurde, nach tagelanger viehischer Folter.
ACTION PRESS
das kein Manifest der Reaktion, sondern die in Italien oft allem Deutschen entgeeine Liebeserklärung: „Deus caritas est.“ gengebracht wird und nicht mit Zuneigung
Der einst in Italien als „Panzerkardinal“ verwechselt werden darf: „Ich habe gehört:
geführte Deutsche sprach vom Gottesge- Endlich mal wieder ein Deutscher. Der
schenk des Eros, der Liebe, der guten Tat wird aufräumen.“
Doch der Neue ließ sich Zeit. Das erste
und ließ selbst hier kein Wort fallen über
das Teufelswerk der Verhütung. Der Kreuz- Dreivierteljahr verging ohne grundlegende
ritter gegen die Befreiungstheologie über- Personalentscheidungen und ohne Weiließ es den italienischen Bischöfen, sich chenstellungen. Als wollte der Unfehlbare
um die Tagespolitik zu kümmern, und ver- ex cathedra die Maschine erst einmal genau studieren.
tiefte sich in Psalmen.
„Etliche waren frustriert, dass so wenig
Alles ist anders, nichts hat sich verändert. Jeden Mittwoch, Punkt 10.30 Uhr, geschieht. Viele waren glücklich darüber.“
hält Professor Dr. Papst eine
Vorlesung. Es sind die gleichen Themen wie zu seiner
Tübinger Zeit. Nur findet das
Seminar unter freiem Himmel statt, und es hören einige
Zigtausend zu, von Woche
zu Woche mehr.
Es ist schwer, einen Pastor
tedesco zu lieben, aber die
Römer mögen ihn. Zumal
er offenbar größte Sorgfalt
auf sein Äußeres legt. Denn
als geborene Katholiken wissen Italiener, dass Schein
und Wesen nicht zu trennen
sind. Kein Detail ist zufällig.
Einen Papst mag man aus
Accessoires genauso zu lesen
wie aus seinen Schriften. Pilger beim Weltjugendtag in Köln (2005): Papst der Worte
Oder?
Der Prälat bemüht sich um einen nach- Der Benediktiner-Mönch Wolf putzt sich
sichtigen Gesichtsausdruck. Er würde es gutgelaunt die Nase. Seit Februar, sagt er,
anders formulieren: „Kleine Zeichen ha- hätten sich die Dinge beschleunigt. Die Kuben oft die massive Last der Bedeutung. rienreform ist beschlossen. Die Enzyklika ist
Zumal für Beobachter, die sich nicht erst veröffentlicht und bislang anderthalb Milvon Ballast freimachen müssen. Achten Sie lionen Mal verkauft. Die Zahl der Päpstlichen Räte ist verringert, ein hohes Mitglied
auf die Zeichen, es gibt sie.“
der Kurie als Nuntius nach Ägypten geSTILFRAGEN. Als Erster musste Massimilia- schickt worden, und 15 neue Kardinäle sind
no Gammarelli erfahren, dass dieser Papst ernannt, darunter – zum Schauder des Hofkein Verständnis für Formfehler hat und zu staats – nur drei Veteranen aus der Kurie.
„Reform“, dixit Ratzinger, „besteht in
radikalen Schnitten fähig ist. Die Gammarellis bestücken seit 1793 die Kleider- der Entfernung des Überflüssigen.“
schränke des Vatikans. Benedikt XVI.
wechselte den päpstlichen Schneider und WAPPEN UND VERZICHT. Der Chefheraldiging zu Euroclero, gegenüber der Glau- ker des Vatikans und toskanische Edelbenskongregation im Sant’Ufficio. Angeb- mann Andrea Cordero Lanza di Montelich sei der Papst verärgert gewesen, dass zemolo bekam schon zwei Tage nach dem
er seine erste Audienz in einer Hochwas- Konklave einen Anruf: „Ich besprach mit
ser-Soutane absolvieren musste, zu kurz, dem Heiligen Vater die Elemente seines
um die seidenen Beinkleider zu verdecken. persönlichen Wappens. Die Augustinus„Ich würde von einem neuen Stil spre- muschel, den Freisinger Mohr, den Bären,
chen“, sagt Notker Wolf. Er spielt E-Gitar- die Petrusschlüssel, das war zu erwarten.
re in einer Hardrockband und steht als Abt- Aber er bestand auf einer Neuerung.“
primas dem Benediktiner-Orden vor. Unter
Benedikt wollte die „Tiara“, die dreifach
den Fenstern seines Arbeitszimmers auf umreifte Papstkrone im Wappen, durch
dem Aventinhügel liegt die Stadt Rom. „Be- eine „Mitra“ ersetzt haben, die Kopfbenedikt geht mit seiner Gesundheit vorsich- deckung der Bischöfe – und zwar genau
tig um. Er gibt wenige Audienzen und jene aus seinem Besitz, die am 7. Dezemschottet sich ab. Er ist weise genug zu sagen, ber 1965 von Paul VI. getragen wurde, als
belästigt mich nicht mit unnötigen Dingen.“ er die letzten Dekrete und Erklärungen des
In der Kurie, diesem Intrigantenstadel, Konzils verkündete.
seien sie Papst Benedikt seit dem 19. April
Eine heraldische Wende, an der sich ein
2005, dem Tag seiner Wahl, mit jener distan- Programm ablesen lässt. Die drei Ringe der
ziert staunenden Bewunderung begegnet, Tiara stehen ursprünglich für den univer-
SAMTMÜTZE UND VATICANUM. Kurz vor
Weihnachten protestierte die Organisation
Europäischer Tier- und Naturschutz gegen
den Papst: „Das Blut unschuldiger Tiere“,
so der (deutsche) Geschäftsführer, klebe
an der „mittelalterlichen Kopfbedeckung“
Benedikts. Gemeint war der „Camauro“,
ein rotes Käppchen mit Hermelinbesatz,
das schon auf den Renaissancebildern eines
Raffael zu sehen war.
Weil er von jeher an kalten Ohren leidet
und sich eine Erkältung nicht leisten kann,
war das Kirchenoberhaupt zur Generalaudienz am 21. Dezember mit der Mütze
erschienen. Doch nicht nur der Temperaturen wegen. Auch die Mütze war ein
Zeichen, ein Querverweis auf das Zweite
Vatikanische Konzil, das in jenen Tagen
40. Jahrestag hatte. Es war eine Verbeugung vor dem Vater des II. Vaticanums,
Johannes XXIII., der den Camauro-Look
im Vatikan wieder eingeführt hatte und die
Mütze mit sich ins gläserne Grab nahm –
zu sehen in einem Winkel des Peters117
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Gesamtkunstwerke: Eine Messe ist keine
Oper, schon gar keine italienische. Dagegen lautet das Glaubensbekenntnis von
Erzbischof Piero Marini, dem Eventmanager im Kirchenstaat: „Zu Beginn des dritten Millenniums muss die Kirche sich in
bellezza zeigen.“
Ratzinger hat Marini schon drei Diözesen angeboten, um ihn loszuwerden,
bislang vergebens. Ihm ist alles Barocke
suspekt, er misstraut dem Bild. „Es gab
vielleicht“, heißt es im Vatikan, „einen gewissen Hang des Vorgängers“, längere Pause, „wie soll ich sagen?“ – nun: Johannes
Paul II. liebte Massenmessen
und Benedikt XVI. nicht.
Es ist kein Geheimnis, dass
Ratzinger das Verschwinden
des Lateins in der Messe bedauert und der bloße Gedanke an gitarrengestützte
Frömmelei bei ihm Hautreizungen auslöst. Er möchte
den Ritus ins Zentrum stellen
und nicht die Vermittlung.
Die Ausgestaltung der Liturgie war das Generalthema
der ersten Bischofssynode
unter Ratzinger im Oktober.
„Es ist eine lautlose Verschlankung der päpstlichen
Liturgien im Petersdom zu
sehen“, sagt Monsignore
Walter Brandmüller, der Kirchenhistoriker. „Die Folklore-Elemente
sind in den Hintergrund gedrängt. Mehr
Sakralität, theologische Tiefe, Überlieferung.“ Selbstverständlich, fügt Brandmüller
hinzu, sehe das Konzil die Liturgie auf Latein vor und ebenso die Hinwendung des
Zelebranten nach Osten statt zum Volk.
Nur sei die Praxis aus dem Ruder gelaufen.
ANDREAS SOLARO / AFP
doms. Das „Sacrosanctum Concilium“, für Schreibtisch zu finden. Johannes Paul II.
manche eine Art „Achtundsechzig“ des war der Papst der Bilder, Benedikt ist der
Katholizismus, ist die theologische Grund- Papst des Wortes.
Alle seine Großpredigten schreibt der
erfahrung Ratzingers gewesen. Im Konklave war er der Einzige, der am Konzil Chef selbst, und Vorlagen werden in seiner
noch prägend teilgenommen hatte. So winzigen Professorenschrift von Grund auf
wurde die Papstwahl auch eine Abstim- umgeschrieben: „Malbücher“, sagen sie im
mung über die „getreue Auslegung“ der Sekretariat.
Die Ernennung zum Kirchenführer hat
Beschlüsse: Wie weit darf die Öffnung zur
Gegenwart gehen und: Ist sie nicht schon Ratzinger nicht wirklich aus seiner lebenslangen Arbeit gerissen. Er müht sich immer
viel zu weit gegangen?
Als Kardinal hatte Ratzinger immer noch ab an seinem Grundkonflikt und stellt
wieder von den „Irrtümern“ der postkon- die „Wahrheit“ gegen den „Relativismus“
ziliaren Debatte gesprochen, von Über- der Moderne: Ins Zentrum gehört der
treibungen und Fehldeutungen, besonders seiner deutschen Kollegen.
In der Predigt mit der
Samtmütze und, kurz darauf,
in seiner Weihnachtsansprache bekannte Ratzinger sich
jedoch klar zum Konzil. Für
die Wirrnisse innerhalb der
Kirche sei eine falsche Auslegung verantwortlich. Es sei
um „Reform“ gegangen,
nicht um „Bruch“.
Für Klarstellungen wie
diese ist er gewählt worden.
Ratzinger verdankte seine
Wahl den italienischen
„Großwählern“ um Kardinal
Camillo Ruini. Nur einem Neuernannte Kardinäle*: Ratio im Dienst des Glaubens
Professor aus dem Land Luthers trauten sie zu, der Kirche noch Gehör Mensch als Gottesgeschöpf, nicht der
zu verschaffen in einem Europa des trans- Mensch als Gottesersatz.
Seine Kunst ist es, in den weltlichen Dezendentalen Analphabetentums. In Italien
hat Ratzinger 20 Jahre lang den Dialog mit batten die Ebenen zu wechseln. Benedikt
XVI. redet nicht über Kondome, sondern
der agnostischen Intelligenz geführt.
„Mit Wojtyla konnte man nicht disku- verurteilt Sexualität ohne Liebe. Er mischtieren“, sagt ein Kardinal. „In wenigen te sich nicht explizit in die SommerkamMinuten ist er in visionäre Höhen ent- pagne der italienischen Bischöfe gegen
schwebt.“ Anders Benedikt. Er versteht künstliche Befruchtung ein, sondern sprach
die Nichtglaubenden. Er sagt nicht wie über die Kirchenväter.
Er kümmert sich weiterhin ums dogmasein Vorgänger: Hinknien und Rosenkranz
beten. Er sagt: Die Aufklärung muss auf- tische Fundament, aber will auch darauf
geklärt werden. Er ist ein Intellektueller, vertrauen können, dass in den anderen
der die Ratio nicht durch Mystik ersetzt, Stockwerken nicht zu sehr gepfuscht und
sondern sie in den Dienst des Glaubens gebastelt wird. Deswegen die Kurienreform. Entfernung des Überflüssigen. „Die
nimmt.
Kompetenzkonkurrenzen“, sagt eine QuelSONNENBRILLE UND ERLEUCHTUNG. Im Som- le aus dem Apostolischen Palast, „haben
mer vergangenen Jahres ließ sich Benedikt uns viel Wadenbeißerei eingebracht.“
XVI. zur allgemeinen Überraschung im
Cabrio durch Rom fahren. Dazu trug er KEHRWOCHE UND KARWOCHE. Es geht um
eine Designersonnenbrille der Marke Se- die Feinheiten, um die Vierteltöne und
rengeti – deren Gläser laut Herstelleran- Nuancen. Deswegen ist, angeblich auf Begabe kurzwelliges aus dem Himmelslicht treiben des Hausherrn, auch der Kapellherausfiltert. So ermüden die Augen we- meister im Petersdom ausgetauscht worniger. Und die Augen sind sein Kapital.
den. Sein Nachfolger wird am Karfreitag
Ratzinger schreibt und schreibt und erstmals den Chor leiten und wissen, dass
schreibt. Briefe, Predigten, Ansprachen, diesem Papst kein Misston entgehen wird.
Sendschreiben, Bücher. Dabei ist er jetzt
Mit fast schon Lutherschem Argwohn
schon der meistverlegte Pontifex der Kir- hat Ratzinger die Inszenierungen seines
chengeschichte. Dieser Oberhirte ist im- Vorgängers verfolgt, diese farbtrunkenen
stande, noch bei der Akkreditierung des
Botschafters von Andorra einen funda- * Andrea Cordero Lanza di Montezemolo (Italien), Jorge
mentaltheologischen Gedanken unter- Liberato Urosa Savino (Venezuela), Jean-Pierre Ricard
zubringen. Für ihn ist die Wahrheit am (Frankreich) am 25. März in Rom.
PONTIFEX UND BECKENBAUER . Der Erzbi-
schof von Genua, Tarcisio Kardinal Bertone, hat jahrelang neben Ratzinger in der
Glaubenskongregation gesessen. Er kennt
den Mann. Er sagte im Vatikan-TV „Telepace“ über Benedikt: „Die Kirche hat
ihren Beckenbauer gefunden. Er treibt uns
mit seinen Pässen nach vorn. Er versteht
seine Mitspieler nach ihren Talenten einzusetzen. Ein zurückgezogener Regisseur und ein verlässlicher Mittelfeldspieler. Ratzinger hat mir übrigens oft von
seinen Treffen mit Trapattoni erzählt.“
Statt über die Kontinente zu jetten, von
einer Massenmesse zur nächsten, möchte
dieser Papst den Kirchengarten bestellen.
Er möchte seinem Nachfolger einen dogmatisch und organisatorisch gefestigten
Vatikan hinterlassen, sofern ihm die Zeit
gegeben ist. Mehr Urbs als Orbis.
Wer also auf einen päpstlichen Ruck
hofft bei den Fragen Verhütungsmittel,
Frauenordination oder der Zulassung Wiederverheirateter zur heiligen Kommunion, der wird auf andere Päpste warten
müssen.
KNUT MUELLER
Bundeswehr-Patrouille (südlich von Kabul): Wie lange dauert eine Ewigkeit?
nicht abschütteln. Auch die Deutschen
könnten bald seinen Machthunger zu
spüren bekommen.
Nur 140 Kilometer östlich von Shibarghan zieht das Bundesministerium der Verteidigung sein weltweit größtes Auslandsprojekt hoch: Camp Marmal ist eine eigeKabul blüht, doch der Rest des Landes ist eine
ne Stadt. Für 53 Millionen Euro werden
Kampfzone, in der auch deutsche Soldaten auf Warlords, Drogen- hier 75 000 Tonnen Stahl und 300 000 Tonnen Beton verbaut. Das neue Hauptquarbarone und die Taliban treffen. Von Susanne Koelbl
tier, in dem künftig 1500 deutsche Soldaten stationiert
er Angst verbreiten kann in AfUSBEKITADSCHIKIwerden, entsteht am Flugghanistan, der kann kein NieSTAN
STAN
hafen der quirligen Promand sein. Wer Angst verbreitet,
TURKMENISTAN
vinzhauptstadt Masar-idessen Stärke wird bewundert, und kaum
FaizaShibar- Masar- Kunduz bad
Scharif, am Fuß eines maeiner erregt so viel Ehrfurcht wie der Usghan i-Scharif
lerischen Gebirges. Es ist zwei
beken-General Abdul Raschid Dostam.
Kilometer lang, zwei Kilometer breit
Der General empfängt in der nördlichen
und soll den Grundstein für den
Provinzhauptstadt Shibarghan am SwimKabul
Herat
politischen und wirtschaftlichen Aufmingpool seines Gästehauses, eines Phanschwung im Norden legen. Ein Bauwerk
tasiebaus mit viel Glas und einer wilden
AFGHANISTAN
wie für die Ewigkeit.
Farbmischung aus Braun, Blau und Lila:
Wie lange aber dauert eine Ewigkeit in
„Palast“ nennt der Volksmund den LuxusAfghanistan? Wohin steuert dieses Land,
bau mit Saunabad, Whirlpool und den mit
das derzeit von einer Anschlagsserie erKronleuchtern verzierten Ballsälen. Der
Kandahar
IRAN
PAKISTAN
schüttert wird? Deutsche Soldaten wurden
Ort ist berüchtigt für ausschweifende Fei200 km
im als relativ sicher geltenden Norden binern, bei denen es trotz islamischer Regeln
Einsatzgebiet
nen kürzester Zeit dreimal mit Fahrradan Wodka und Frauen nicht mangelt.
der Bundeswehr
bomben, Feuerwaffen und Panzerfäusten
„Hier gibt es keine Mullahs“, dröhnt
angegriffen, fünf von ihnen teilweise
der Hausherr, der heute einen ChapanMantel angelegt hat, wie man ihn von durch die Schluchten nach Masar-i-Scharif schwer verletzt.
Afghanistan ist in den vergangenen fünf
Präsident Hamid Karzais eleganten Auf- und Kabul. Es heißt, er sei verantwortlich
tritten kennt.
für den Erstickungstod vieler Hunderter Jahren nicht sicherer geworden, eher noch
Dostam kämpfte in den achtziger Jahren Taliban, die nach ihrer Kapitulation in unsicherer: 284 amerikanische Soldaten
auf der Seite der Sowjets gegen die Mu- Container gesteckt und unweit von Shibar- starben seit dem Kriegsbeginn im Oktober
2001 am Hindukusch, allein 99 im vergandschahidin, später führte er Krieg gegen ghan in der Wüste verscharrt wurden.
die Taliban. Dann war er im Herbst 2001
Die Amerikaner wollen ihren einstigen genen Jahr. Und mehr Afghanen als je zueiner der engsten Verbündeten der Ame- Alliierten am liebsten wieder loswerden. vor seit Beginn der Mission „International
rikaner und half deren Spezialkräften Doch so leicht lässt sich einer wie Dostam Security Assistance Force“ (Isaf) im DeA F G H A N I S TA N
Der General in seinem Palast
W
d e r
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119
Ausland
120
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sein Leben riskieren, wo er doch 100 Dollar
einheimsen kann, wenn er den Drogentransport durch sein Dorf leitet?
General Dostam verdient überall, wo
Dollars verdient werden. Er war meist
oben, auch wenn Afghanistan ganz unten
war. Jetzt trinkt er grünen Tee, sein breites
Gesicht glüht rosig, er kommt gerade aus
der Sauna. Er sagt, dass alle Vorwürfe gegen ihn falsch seien. Er empfiehlt sich als
eiserne Faust gegen das Krebsgeschwür des
Terrorismus: Als Anführer einer Spezialeinheit würde er die Taliban und al-Qaida
„gnadenlos ausmerzen“. Denn davon verstehe er etwas: vom Krieg.
Auch Maimana in der Provinz Faryab
gehört zu Dostams Einflusssphäre. Das
dortige Isaf-Wiederaufbauteam ist der äußerste Außenposten der internationalen
Friedenstruppe im künftig
deutschen Verantwortungsbereich im Nordwesten Afghanistans. Zum künftigen
Hauptquartier der Deutschen
in Masar-i-Scharif sind es
genau 339 Kilometer, eine
Zehn-Stunden-Fahrt durch
gebirgige Wüste, grüne Hügellandschaft und flaches
Land. Insgesamt misst der
Bereich mehr als tausend Kilometer bis nach Badakhshan
an die Spitze Chinas – eine
Region, fast halb so groß wie
Deutschland.
In Maimana hielt der finnische Isaf-Soldat Leutnant
Tuomas Kainulainen am 7.
Februar die Stellung, als ein
tobender Mob das PRT-Quartier im Zentrum der Kleinstadt stürmte. Örtliche Mullahs hatten die Massen wegen
der in Dänemark veröffentlichten Mohammed-Karikaturen aufgestachelt. Sie rissen
das eiserne Tor ein, Molotowcocktails explodierten im Hof, Schüsse und Tausende
faustgroße Steine prasselten auf drei Dutzend Norweger und Finnen ein. Drei lange
Stunden dauerte es, bis die Deutschen per
Hubschrauber Verstärkung schickten.
Er sei stolz darauf, dass sie nach dem
Angriff trotzdem geblieben seien, sonst
wäre das Konzept der Nato in Afghanistan
wohl bereits gescheitert, sagt Kainulainen
abends beim Bier in der Kellerbar „Red
Mig Down“ – über dem Tresen hängt der
Flügel einer abgeschossenen russischen
„Mig“-Maschine.
Das kleine PRT-Team kann nicht viel
ausrichten. Die Soldaten knüpfen Kontakte, sind eine Art Frühwarnsystem in der
Region. Dabei haben sie einen Mann ständig im Blick: Abdul Raschid Dostam, der
natürlich auch in Faryab der starke Führer
ist. Sein Konterfei hängt hier überall.
Ob aus Verehrung oder Angst oder aus
Vorsorge: Wer weiß das schon?
™
KNUT MUELLER
zember 2001 verloren voriges Jahr ihr Le- lords und Drogenhändler heuern die Taliben durch terroristische Anschläge, insge- ban als eine Art Sicherheitsdienst gegen
ausländische Militärs an, damit der Mohn
samt 1600 Menschen.
Was läuft schief in Afghanistan? Kabul ungestört angebaut werden kann. Umgeblüht auf. Die Grundstückspreise explo- kehrt finanzieren Taliban und al-Qaida
dieren, in der Innenstadt werden exklusi- dank dieser Einnahmequelle Waffen und
ve Hotels und Einkaufszentren gebaut, und Fahrzeuge; auch die Familien von Selbstimmer mehr Frauen wagen sich in der mordattentätern sollen mit Drogen-Dollars
Hauptstadt ohne Burka auf die Straße. Es entschädigt werden.
Mit einem Religionskrieg gegen ungläugeht voran, in der Hauptstadt.
Auf dem Land aber sieht es anders aus. bige Besatzer hat das kaum noch zu tun,
Den Norden, wo die Deutschen im Juni da wird ein Geschäft verteidigt. 2,7 MilVerantwortung für gleich neun Provinzen liarden Dollar Einnahmen bringt der
übernehmen werden, stuft ein Mitarbeiter Opiumverkauf jährlich in Afghanistan,
des Bundesnachrichtendienstes in Kabul einige 100 Millionen Dollar, schätzen Exneuerdings als besondere Gefahrenzone perten, gehen in die Finanzierung des
ein. Angeblich hat Taliban-Chef Mullah Terrorismus.
Omar den Auftrag erteilt,
die Deutschen in Masar-iScharif anzugreifen, weil dies
dort „viel besser“ gehe als in
Kabul.
Alarmierend ist jetzt schon
die Lage im Süden und Südosten des Landes. Trotz des
fast fünf Jahre währenden
Kampfs gegen die Taliban,
den amerikanische Streitkräfte tragen, kontrollieren die
Taliban heute wieder weite
Teile der Paschtunen-Provinzen Nimruz, Oruzgan, Helmand, Kandahar und Paktika. Von Wiederaufbau kaum
eine Spur: Es gibt so gut wie
nirgends Strom oder fließend
Wasser, asphaltierte Straßen,
Schulen oder Hospitäler.
Hilfsorganisationen wagen
sich kaum dorthin.
„Was ist mit den neuen
Straßen, den Bewässerungsanlagen und den Jobs, die ihr General Dostam, Leibwächter: „Hier gibt es keine Mullahs“
uns versprochen habt?“, beDrogen sind bis heute neben der reschwert sich ein alter Herr mit großem,
weißem Turban in einem Dorf nahe Lash- gulären Landwirtschaft der einzige relekar Gah, der Provinzhauptstadt von Hel- vante Wirtschaftszweig in Afghanistan.
mand, einer Region, die mehr Opium pro- Auch in Kabul sind offenbar viele Beamduziert als jede andere auf der Welt. Nichts te direkt oder indirekt darin verwickelt,
hält er von Karzai und vom Westen, und so vom kleinen Zollbeamten bis in die
wie er denken die meisten hier. Die Ent- höchsten Spitzen der Regierung. Der
täuschung macht sie empfänglich für mili- Präsident hat immer wieder angekündigt,
jeden erbarmungslos vor Gericht zu steltante Gruppen.
55 Millionen Dollar sollen laut Uno-Dro- len, der mit diesem schmutzigen Geschäft
genbehörde in Helmand in Programme in- zu tun hat.
Der Polizeichef der Badakhshan-Provestiert worden sein, um die Bauern von
der Opiumproduktion abzubringen. Außer vinz, Shah Jahan, schmuggelte kürzlich in
einigen sogenannten „Geld für Arbeit“- seinem eigenen Fahrzeug 100 Kilogramm
Projekten, bei denen Afghanen für den Heroin Richtung tadschikische Grenze.
Aufbau der Infrastruktur angeheuert wur- Der Gouverneur von Kunduz soll bei
den, etwa zur Reinigung von Abwasser- Kurierfahrten durch seine Region, ein
kanälen, hat sich so gut wie nichts getan. Drehkreuz des Opiumhandels, das in der
Für viele Bauern lohnt das angebotene Schutzzone der Bundeswehr liegt, jeGeld den Fruchtwechsel nicht. Andere weils zehn Prozent des Warenwerts bewerden von den Taliban gezwungen, auch anspruchen.
Die Polizisten mischen sich nicht in den
weiterhin Mohn anzubauen.
Die Taliban haben mit der Drogenmafia Drogenkampf ein. Warum sollte ein Beeine Allianz geschmiedet, die das Projekt amter, der höchstens 60 Dollar Gehalt im
Afghanistan schnell gefährden kann: War- Monat von der Zentralregierung bekommt,
Ausland
HA NOI
Unrecht, Brot und Wein
Global Village: Die ersten Supermärkte erreichen Vietnam
und bedrohen eine gewachsene Metropole.
D
STEPHEN SHAVER / POLARIS / LAIF
urch Hanoi gehen Flüsse aus Was- gestellten, darunter Herr Thanh, der alles die internationalen Ladenketten, die anser und solche aus Menschen und über Würste weiß. Frau Nga bezieht ihre onymen Systemgastronomen und die
Maschinen, östlich des Zentrums Ware über Importhäuser, die sogar schwar- smarten Entwickler von Immobilien- und
schneidet der Rote Fluss seine breite Dia- ze Trüffeln aus französischen Eichenwäl- sonstigen Fonds ihre Breschen noch nicht
gonale in die Stadt, durch ihre Straßen dern binnen Tagesfrist an Hanoier Haus- schlagen durften.
Aber Vietnam drängt jetzt in die Weltaber fluten die Zweiräder, Mopeds, Mo- türen liefern könnten.
„Au Délice“ agiert global und im handelsorganisation (WTO) . Das Land will
tor- und Fahrräder. Wer immer den Gehsteig verlässt, steigt in den Verkehr wie in Heute. Aber der Laden fühlt sich dem mitmachen im Rattenrennen der Globalieinen Strom, alles fließt, tags wie nachts, es Gestern verpflichtet, als würde hier im sierung, man erhofft sich Gewinne, ohne
ist ein langer, ruhiger Fluss, Tempo 30, 35, Alleingang das gute Erbe der Franzosen immer an den Preis zu denken, man erkaum Autos darin, kaum Laster, kaum angetreten, die bis 1954 Herren waren über hofft sich, in Hanoi, nach dem SozialisVietnam. Sie brachten, zwiespältig ist mus, eine Art Kapitalismus mit menschHektik.
Sie fahren zu zweien, zu vieren, ein alle Geschichte, Unrecht und Leid, aber lichem Antlitz.
Helm ist nirgends zu sehen, ganze Fami- auch Brot, Wein und Esskultur. Das war
Aber die Vorboten der neuen Zeit sind
lien fahren auf zwei Rädern herum, mit zu Zeiten, als Globalisierung noch Kolo- gesichtslos. Es sind Zweckbauten, die weiter draußen vom Zentrum in die Gegend
Säuglingen zwischen sich auf die Sitz- nialismus hieß.
bank geschnallt, Verliebte
gewürfelt liegen, an Ausfallstraßen, wo schon das Auto
wiegen sich im Takt der
regiert und nicht mehr FahrKurven, junge Frauen zeiräder und Mopeds. Es finden
gen kerzengerade Haltung.
sich dort erste Super-HyWie ein Schwarm schöner
per-Märkte, ein Metro-Markt
Fische bewegt sich die Flotte, und das ist nicht anders
darunter, groß wie ein Bahnhof, gefüllt mit internatioan der Han-Thuyen-Straße,
wo sich, in einem Eckladen,
naler Ware, die dem heimischen Angebot überflüssig
alte und neue Globalisierung
Konkurrenz macht. In einem
vereinen.
Eisschrank bei Metro stapeln
„Au Délice“ heißt der
Ort, der sich seltsam anfühlt,
sich gefrostete Hühner aus
besonders dann, wenn vor
Brasilien, transportiert einden Türen die tropische
mal um die halbe Welt herHeißluft steht, geschwängert
um, importiert in ein Land,
von nasser Feuchte. Im Innedas selbst acht Millionen kleiren finden sich üppige, kühne Hühnerfarmer in seinen
le Käsetheken, bestückt mit
Provinzen zählt. Wie viele
Roquefort und Reblochon,
werden es morgen noch sein?
mit Beaufort und Brie de
Es geht bald nicht mehr, in
Meaux, es finden sich RäuHanoi, um ein paar Flaschen
cherfische aus Norwegen und
edlen Weins, ein paar KäseHolland, Rollmöpse, Matjes,
exoten, ein paar Würste, wie
mitten in Asien.
sie Frau Ngas Laden im AnEs gibt Chorizo und Bre- Ladenbesitzerin Nga: Kapitalismus mit menschlichem Antlitz
gebot hat. Die neureichen
saola, es gibt Schinken aus
Vietnamesen, die sich bei ihr
Die neue, heutige Globalisierung ist etwas gönnen, werden bald eingeladen
Bayonne und Parma, die Hälfte der Namen ist falsch buchstabiert, aber das tut noch sehr schwach in Hanoi, eigentlich ist werden in den Welt-Supermarkt, der an
nicht mehr weh, acht-, neuntausend Kilo- sie so gut wie unsichtbar. Wer noch eine allen Ecken seine Filialen eröffnet, wenn
meter von den Produzenten entfernt. Es Stadt erleben will, eine schöne, lebendige erst die WTO ihre Regeln auch in Vietnam
gibt getrüffelte Olivenöle aus der Toska- Stadt, in deren Straßen kein McDonald’s durchsetzen darf.
na, Balsamessig aus Modena, Senf aus zu sehen ist, kein Burger King, kein KenHanoi wird dann bunter werden auf den
Dijon, es gibt belgische und Schweizer tucky Fried Chicken, kein Starbucks, eine ersten Blick, die Werbeschriften größer,
Luxusschokoladen, tschechisches, irisches Stadt, wo die Menschen zu überleben die Schaufenster breiter. Das wird ausseBier, es gibt lange Weinregale, gefüllt mit scheinen ohne Supermärkte, ohne Shop- hen wie reiner Gewinn. Aber von den
raren, teuren Flaschen. Es gibt Dinge, im ping-Malls, ohne kathedralengroße Tank- Straßen werden erst die Fahrräder, dann
„Au Délice“, im sozialistischen Hanoi, die stellen, der muss Hanoi besuchen, und er die Mopeds verschwinden. Dann werden
man in vielen kapitalistischen Städten ver- muss es bald tun.
immer mehr Autos im Strom schwimmen
Er kann dort erleben, wie sich eine asia- wie zu dick geratene Fische. Und Hanoi
gebens suchen würde.
Frau Nga ist die Chefin. Sie war mit ei- tische Stadt ihr europäisches Erbe glücklich wird anders sein, bald, kolonisiert auf ein
nem Belgier verheiratet, jetzt macht sie anverwandelt hat und wie human und be- Neues, aber freiwillig diesmal und ohne
den Laden allein, mit einer Handvoll An- haglich sich so eine Stadt anfühlt, wenn sichtbaren Feind.
Ullrich Fichtner
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Serie
Ernte von Chinaschilf (in Mecklenburg), Choren-Raffinerie für Pflanzendiesel (in Freiberg): Hoffnungsschimmer für die mobile Gesellschaft
Der Kampf um die Rohstoffe (4)
Wer mitspielen will im weltweiten Monopoly um Macht und Wohlstand in der globalen Wirtschaft, braucht vor allem Energie –
doch die fossilen Ressourcen werden immer knapper. Im letzten
Teil der Serie geht der SPIEGEL der Frage nach, ob und wann
regenerative Kraftstoffe das Erdöl ersetzen können.
Bohrtürme zu Pflugscharen
Die erste greifbare Alternative zu den fossilen Brennstoffen bietet der Ackerbau. Aus Biomasse
lässt sich am leichtesten Ersatz für Benzin, Diesel und Erdgas herstellen.
Aussichtsreiche Verfahren sind schon im Einsatz. Die Vision vom Wasserstoffzeitalter hingegen verblasst.
V
or sechs Jahren eröffnete VW die
„Autostadt“ in Wolfsburg. Es ist der
eindrucksvollste Vergnügungspark,
den die PS-Branche jemals um ihr Handelsgut errichtete.
Die Metropole des Motorenkults bietet
Kinos, Museen und lehrreiche Spektakel. Das interessanteste – und für das
124
Automobil womöglich bedeutendste –
Ausstellungsstück ist ein durchsichtiger
Kunststoffkasten. Sein Inhalt: ein Gemüsegarten.
Über einen ferngesteuerten Roboterarm
kann der Besucher hier Brunnenkresse
aussäen – und acht Wochen später das Ergebnis abholen: ein Tröpfchen Diesel, von
d e r
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der Konzernforschung aus der Salatbeigabe raffiniert.
Zwei Meter, sagt VW, könne ein Traktor
damit fahren; das ist kein großer Schritt
für eine Landmaschine – doch ein zarter
Hoffnungsschimmer für die mobile Gesellschaft, die mit zunehmender Sorge auf
die globale Tankuhr blickt.
JENS BÜTTNER / DPA (L.); BERTHOLD STEINHILBER / BILDERBERG (R.)
Pflanzenfett ist dem Motor ebenso willkommen wie Erdöl, das wussten schon die
Urväter des Maschinenbaus. „Wie sich herausgestellt hat, können Dieselmotoren
ohne jede Schwierigkeit mit Erdnussöl betrieben werden“, erklärte der ingeniöse Erfinder Rudolf Diesel im Jahr 1912. Diesels
Zeitgenossen schenkten solchen Fragen
kaum Beachtung. Es war schwer vorstellbar, dass das Automobil einmal dazu
taugen sollte, ein Ressourcenproblem zu
kriegen.
Knapp hundert Jahre später gibt es halb
so viele Autos, wie damals Menschen leb-
D
ie bisher größte Anstrengung, fossilen
Kraftstoff durch ein Pflanzenprodukt
zu ersetzen, unternahm die deutsche
23 660 km
Rapsdiesel
1300 Liter
ten. 800 Millionen Kraftfahrzeuge bilden
ein Heer von Spritschluckern und sind mit
Abstand der größte Erdölverbraucher der
Welt. Gut zehn Millionen Tonnen Öl pro
Tag, mehr als die Hälfte der Weltproduktion, werden in Transportmitteln verbrannt. Diese Flotte auf nachhaltige Kost
umzustellen wird eine der Herkulesaufgaben der industriellen Zeitenwende sein.
Erdnussöl wird da nicht reichen.
91 %
2500 Liter
Jahresertrag pro Hektar
Effizienz gegenüber Diesel
Effizienz gegenüber Benzin
33 000 km
Bioethanol
Reichweiten
mit Bio-Kraftstoffen aus dem Jahresertrag eines Hektars Anbaufläche
75 330 km
bei einem Verbrauch von 5 l/100 km
66 %
99 600 km
SunDiesel (BtL)
4050 Liter
Rapsölbranche. Im Laufe des vorigen Jahrzehnts mauserte sich die Initiative mittelständischer Einzelkämpfer zu einem veritablen Industriezweig. 1,9 Millionen Tonnen Rapsölmethylester, gewonnen aus dem
Samen der gelbblühenden Feldpflanze,
wurden 2005 in Deutschland den Autos als
Futter verabreicht.
Der Biodiesel, so die offizielle Handelsbezeichnung, gelangt teils als Beimischung
in den konventionellen Kraftstoff, teils in
reiner Form an inzwischen knapp 2000
Zapfstellen zu günstigeren Preisen in die
Tanks.
Nirgendwo sonst auf der Welt wurden
bisher vergleichbare Mengen Biodiesel
hergestellt. Das deutsche Rapsexperiment
zeigt damit aber auch die Grenzen ökosauberen Wachstums auf. Gut eine Million
Hektar, etwa ein Zehntel der gesamten
bundesdeutschen Ackerfläche, werden inzwischen vom Rapsanbau belegt. Eine
Ausweitung um weitere 500 000 Hektar ist
aus Expertensicht möglich.
Im günstigsten Fall wären also jährlich
knapp drei Millionen Liter Biodiesel aus
heimischen Äckern zu gewinnen. Dem
steht jedoch ein aktueller Jahresbedarf der
deutschen Bevölkerung von 130 Millionen
Tonnen Mineralöl entgegen. Der Raps allein kann eine Industriegesellschaft nie und
nimmer vom Erdöltropf befreien.
Unabhängig von seinem spärlichen Ertrag ist Rapsdiesel ohnehin ein problembehafteter Saft: Für die Düngung der Felder und spätere Verarbeitung der Ernte
wird extrem viel Energie verbraucht – und
die macht einen Großteil des Einsparpotentials wieder zunichte.
Zudem taugt Biodiesel allenfalls bedingt
für den Einsatz in modernen Motoren. Seine chemische Zusammensetzung erschwert
eine saubere Verbrennung und Abgasreinigung. Moderne Dieselmotoren mit hochfeinen Einspritzdüsen und Partikelfiltern
werden gemeinhin nicht für den Einsatz
von Rapsölmethylester freigegeben.
Die Forscher des Mineralölkonzerns
Shell zählen Rapsdiesel zu den pflanzlichen Kraftstoffen der ersten Generation.
Bei dieser werden lediglich die Samen oder
Knollen der Gewächse genutzt.
„Das Resultat“, erklärt Wolfgang Warnecke, Leiter der weltweiten Kraftstoff-
93 %
Biomethan
3560 kg
140 %
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125
Serie
entwicklung bei Shell, „ist erstens kein
hochwertiger Kraftstoff, zweitens steht seine Gewinnung in unmittelbarer Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion. Und
beides wollen wir nicht haben.“
Shell setzt deshalb verstärkt auf die Entwicklung von Biokraftstoffen der zweiten
Generation. Diese werden aus den Pflanzenteilen gewonnen, die in der Landwirtschaft bisher vorwiegend als Abfall anfielen: etwa Stroh von Getreide oder die
Stengel von Sonnenblumen. „Bei diesen
Verfahren“, sagt Warnecke, „droht keine
ethische Schieflage, und die KohlendioxidBilanz ist nahezu neutral.“
iner der ersten Biokraftstoffe, deren
Herstellungsverfahren an der Schwelle
stehen, den Sprung von der ersten zur zweiten Generation zu machen, ist eine Substanz, die dem Menschen schon seit Jahrtausenden als Rauschmittel dient: Alkohol.
Nikolaus August Otto befeuerte einen
Vorläufer des später nach ihm benannten
Ottomotors um 1860 mit diversen Sprittypen, die der Handel anbot. Einer davon
war Ethylalkohol, damals weit verbreitet
als Brennstoff für Lampen.
Die amerikanischen Autopioniere Henry Ford und Charles Kettering, damals
Forschungschef von General Motors, sahen schon während der dreißiger Jahre
ein enormes Potential im Schnapssprit
und wollten ihre Autos gern mit dem
Gärprodukt amerikanischer Ackerfrüchte
füttern.
In einem flammenden Appell setzte sich
auch Francis Garvan, damals Präsident der
HEINZ TEUFEL / AGENTUR FOCUS
E
Rapsanbau (in Schleswig-Holstein): Problembehafteter Kraftstoff mit spärlichem Ertrag
ßere Ölfelder entdeckt – vor allem in Arabien. Der fossile Kraftstoff erwies sich als
die billigere Wahl – und die westlichen
Industrienationen marschierten stramm in
die totale Abhängigkeit von Importen.
Nur ein einziges Land ging einen Sonderweg und setzte offensiv auf Alkohol im
Tank: Brasilien. Etwa 40 Prozent seines
Kraftstoffbedarfs deckt das südamerikanische Land heute mit Bioethanol,
einer Form von Alkohol.
Das tropische Klima lässt dort
Alkoholgewinnung aus Holz
Zuckerrohr als Rohstoff für die
Ethanol-Gewinnung in gigantischen
Säure
und
Enzyme
spalMengen emporsprießen – was nicht
Holz
ten unter Hitze die aus
unbedingt ein Segen für die örtlidem Holz stammenden
che Umwelt ist. Millionen Hektar
Cellulosemoleküle in TrauUrwald mussten bereits den Plantabenzucker (Glukose) auf.
gen für Autofutter weichen.
In Europa und Nordamerika gewinnt man Ethanol vorwiegend aus
Cellulose
Feldfrüchten wie Weizen, Roggen
Lignin, ein Holzbestandoder Mais. In Deutschland haben
teil, wird abgetrennt und
Firmen wie Südzucker inzwischen
Glukose
geht zur Verbrennung in
Schnapsraffinerien in Betrieb geein Holzkraftwerk.
nommen. All diese Unternehmen
arbeiten noch mit HerstellungsmeDie verbleibende ZuckerlöHefe
thoden der ersten Generation. Die
sung wird in einem Kessel
Erträge würden niemals reichen,
mit Hefe zusammengeum nennenswerten Ersatz für Benbracht und fermentiert.
Dabei entsteht Alkohol.
zin zu schaffen. Erst seit wenigen
Jahren arbeiten Forscher an leisBei der Destillation
tungsfähigen Verfahren zur Umwird das restliche
wandlung von Stroh und Holz in
Wasser abgeschieEthanol.
Wasser
den.
Anlagen dieser Art befinden sich
noch im Forschungsstadium, teilAls Endprodukt
weise mit Unterstützung der Ölentsteht Ethanol.
multis. Shell hat sich in Kanada an
dem Ethanol-Produzenten Iogen
Bioethanol-Anlage der Südzucker AG (in Zeitz): Zarte Pflanze im weltweiten Kraftstoffgeschäft
Chemical Foundation, für Alkoholsprit ein:
„Es heißt, wir haben ausländisches Öl“,
erklärte Garvan 1936 während einer Konferenz im Ford-Heimatort Dearborn bei
Detroit. „Es liegt in Persien und in
Russland. Glauben Sie, damit können Sie
Ihre Kinder verteidigen?“
Doch die Alkohollobby konnte sich nicht
durchsetzen. Zu rasch wurden immer grö-
MARTIN GEENE / VARIO-IMAGES
Bioethanol
126
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beteiligt, einem der Pioniere dieser jungen Branche.
Politiker und Ingenieure aller Industrieländer sind inzwischen gleichermaßen von
der Idee berauscht, Autos mit Alkohol
anzutreiben, der im Grunde aus Abfällen
hergestellt wird. In Schweden soll Bioethanol sogar das Schlüsselelixier sein, mit
dem sich das Nordland vom Jahr 2020
an vollkommen vom Erdöl unabhängig
machen will.
Auch die Regierung der Vereinigten
Staaten sieht im Bioethanol jenen Kraftstoff der Zukunft, mit dem der ultimative energetische Befreiungsschlag gelingen
soll. US-Präsident George W. Bush erklärte erst kürzlich: „Wir wollen, dass die
Leute mit Treibstoff fahren, der in Amerika wächst.“
Zu den großen Vorzügen des Alkohols
zählt seine Ähnlichkeit mit Benzin. Bis
zu fünf Prozent lassen sich dem konventionellen Sprit beimischen, ohne dass am
Motor des Fahrzeugs etwas verändert werden muss.
In Europa verfügbar sind derzeit Mischverhältnisse mit bis zu 85 Prozent Alkoholanteil. Ford und die schwedischen
Hersteller Volvo und Saab bieten bereits
Modelle an, deren Motoren den neuen
Kraftstoff namens E85 vertragen. Die
Veränderungen an der Motorsteuerung
sind trivial, der Aufpreis beträgt nur einige hundert Euro.
In Südamerika fahren Autos sogar mit
reinem Ethanol. Allerdings steigt mit
dem Alkoholanteil im Tank auch der Verbrauch des Motors; denn im Schnaps
stecken nur etwa zwei Drittel des Energiegehalts von Benzin.
Noch sind die heimischen Ethanol-Produzenten zarte Pflanzen im weltweiten
Kraftstoffgeschäft. Während Brasilien bereits zehn Millionen Tonnen Bioethanol
pro Jahr herstellt, bringen es die drei Anlagen in Deutschland gerade mal auf etwa
eine halbe Million Tonnen. „Die größte Herausforderung“, sagt Shell-Forscher Wolfgang Lüke, „wird darin bestehen, wirklich
nennenswerten Ersatz zu schaffen.“
Welches Potential aber hat der alkoholische Hoffnungsträger wirklich? Nach
Berechnungen der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR), dem Kompetenzzentrum des deutschen Landwirtschaftsministeriums in Sachen Biosprit,
lassen sich aus dem Kornertrag eines Hektars heimischer Getreideäcker 2500 Liter
Ethanol gewinnen. Ein Liter ersetzt 0,66
Liter Ottokraftstoff. Bleibt also eine reale
Substitution von 1650 Litern.
W
eit größere Hoffnungen nährt eine
Technologie, die sich noch im Entwicklungsstadium befindet: Sie heißt „SunDiesel“ und wird derzeit im sächsischen
Freiberg erprobt.
Dort ersann der gelernte Steinkohlehauer und auf dem zweiten Bildungsweg
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Serie
zum Ingenieur veredelte Visionär Bodo
Wolf eine Methode, die aus Holz und anderen organischen Substanzen die Entstehung der fossilen Rohstoffe im Zeitraffer
nachvollziehen soll.
Die Schlüsselerkenntnis, auf deren
Grundlage er schon zu DDR-Zeiten sein
Verfahren ausbrütete, manifestiert sich in
einer simplen Wahrheit: „Öl, Gas und
Kohle – das ist alles Sonnenenergie.“
Das gesamte Kraftfutter des Industriezeitalters ist das Resultat blühenden Lebens der Urzeit, das infolge tektonischen
Ungemachs zügig unter der Erde verschwand, ehe es an der Luft vermodern
konnte: Wälder wurden zu Kohleflözen,
trockengefallene Lagunen voller Algen und
Meeresgetier zu Öl- und Gasfeldern. Unter
enormem Druck und hohen Temperaturen bildeten sich aus den Kohlenwasserstoffen der früheren Lebewesen die festen,
flüssigen und gasförmigen Energieträger.
W
olf hat eine Methode entwickelt,
genau diesen Prozess nachzuahmen
und dabei gewaltig zu beschleunigen. Was
die Natur in Jahrmillionen bewerkstelligte,
erledigt das von Wolf patentierte „CarboV-Verfahren“ in wenigen Stunden: Holz,
Stroh und jede andere Form getrockneter
organischer Substanzen wird in einer
Apparatur von Brennern und Katalysatoren in ein Synthesegas verwandelt.
Aus diesem gewinnt ein Fischer-TropschReaktor, wie auch bei der schon länger praktizierten Kohle- und Erdgasverflüssigung, Dieselkraftstoff (siehe Grafik
Seite 130).
Das von Wolf gegründete Unternehmen
nennt sich Choren. Die ersten drei Buchstaben stehen für Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) – die Grundbausteine organischen Lebens und jeglicher konventioneller Energie; die letzten
drei Buchstaben stehen für „renewable“,
also erneuerbar.
Der Gründer ist inzwischen im Ruhestand. Um sein Erbe rankt sich ein Kompendium hochmögender Industriekonzerne. DaimlerChrysler und Volkswagen
fungieren schon seit drei Jahren als Entwicklungspartner. Im vergangenen Sommer beteiligte sich Shell an Choren.
Die Erwartungen sind enorm, obgleich
die Freiberger Dieselbraukunst von der
Feuertaufe des ersten kommerziellen Einsatzes noch ein gutes Stück entfernt ist.
Bisher läuft lediglich eine kleine Forschungsanlage. Erst im kommenden Jahr,
weit später als anfangs geplant, soll die
zweite, weit größere Apparatur in Betrieb
gehen und 15 000 Tonnen SunDiesel pro
Jahr produzieren. Noch später soll die erste Großraffinerie im vorpommerschen
Lubmin auf einen Jahresausstoß von
200 000 Tonnen kommen.
Der gefährlichste Widersacher auf dem
Weg dahin ist möglicherweise der Staat.
Die wachsende Produktion von Biokraft-
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stoffen hat inzwischen fiskalische Begehrlichkeiten geweckt. Finanzminister Peer
Steinbrück (SPD) kündigte bereits an, Biokraftstoffe bald, ähnlich wie Mineralöl,
besteuern zu wollen. Dieser Kostendruck
könnte dazu führen, dass die unergiebige
Billiglösung Rapsöl überlebt, während aussichtsreichere Techniken, die noch in der
Forschung stecken, auf dem Weg zur
Marktreife verhungern.
Europas Autoindustrie setzt dennoch
enorme Hoffnungen in SunDiesel. Dieselmotoren sind wegen ihrer enormen Sparsamkeit die zentrale Trumpfkarte der
Branche, allerdings haftet ihnen noch immer der Makel schlechter Abgasqualität
an. Das Rußpartikelproblem ist durch Filtertechniken inzwischen gelöst. Was bleibt,
ist der höhere Stickoxidausstoß, der sich
nur mit weiteren Investitionen, etwa in
Harnstoffkatalysatoren, bändigen lässt.
Der neue Kraftstoff könnte Abhilfe bringen: SunDiesel ist wesentlich sauberer als
die etablierte Variante auf Erdölbasis, vollkommen ungiftig und frei von Aromaten.
Ohne weitere Nachbehandlung der Abgase würde sein Einsatz den Schadstoffausstoß erheblich senken.
Zudem verspricht Kraftstoff von der
Choren-Sorte, auch BtL („Biomass to Liquid“) genannt, eine phantastische Effizienz, wenngleich der Beweis dafür im kommerziellen Einsatz noch nicht erbracht
wurde. Die FNR-Experten schätzen die
jährliche Ausbeute pro Hektar auf etwa
4000 Liter SunDiesel – das wäre der dreifache Ertrag von Rapsöl und etwa der doppelte von Ethanol.
Doch es lässt sich sogar noch mehr aus
Biomasse herausholen. Der Rohstoff Holz
ist ein erstklassiger Energielieferant, vor
allem, wenn er nicht Autos mobil macht,
sondern Strom und Wärme liefert.
Thomas Nussbauer, Ressourcenexperte
und Dozent an der ETH Zürich, erteilt
dem baumbasierten Biokraftstoff für den
Straßenverkehr eine klare Absage. In einem Aufsatz für das Holz-Zentralblatt
plädiert er nachdrücklich dafür, Baumreste
in den Ofen und nicht in den Tank zu
stecken. Bei der Wärmeerzeugung lasse
sich Holz ebenso effizient nutzen wie fossile Brennstoffe. Bei der Umsetzung in
Kraftstoff blieben dagegen bestenfalls drei
Viertel des Energiegehalts übrig.
Michael Deutmeyer, verantwortlich für
das Biomasse-Management bei Choren,
immer am Erdöltropf. Versuche, es mit Strom anzutreiben, sind nachhaltig
gescheitert.
Auch die aktuellen Verbesserungen der Batterietechnik für Hybridfahrzeuge lassen kaum
hoffen, dass gebrauchstüchtige Elektromobile in absehbarer Zeit serienreif sein
könnten. Ein Tank voller Sprit, der für
Hunderte von Kilometern reicht und sich
in wenigen Minuten nachfüllen lässt, ist
bislang durch nichts zu ersetzen.
Mit Biomethan aus vergorenem Energiemais
lassen sich pro Hektar und Jahr nahezu 5000 Liter
Benzin ersetzen – das ist Weltrekord.
stellt die Richtigkeit dieser Rechnung nicht
in Frage. Dennoch verfehle diese die eigentliche Problemstellung. Im Bereich der
Wärme- und Stromproduktion gebe es
heute schon zahlreiche Möglichkeiten, sich
von fossilen Energieträgern zu befreien:
„Geo- und Solarthermie, bessere Isolation,
Wind- und Wasserkraft bilden ein breites
Spektrum einsatzreifer Techniken. Beim
Verkehr gibt es dagegen außer den Biokraftstoffen noch keine wirksame Alternative zu fossilen Energieträgern.“ Auf
Gedeih und Verderb hängt das Auto noch
A
llerdings muss der Tankinhalt nicht
unbedingt flüssig sein: Die bisher beste Alternative zu fossilem Benzin und Dieselkraftstoff ist gasförmig. Sie kommt ebenfalls vom Acker und wird mit einer ebenso simplen wie bewährten Methode schon
heute hergestellt.
Methan aus vergorener Biomasse hat
nach den Berechnungen der FNR-Experten derzeit das größte Potential. Pro Hektar und Jahr lassen sich aus Energiemais
3560 Kilogramm Methan gewinnen. Die
könnten wiederum fast 5000 Liter Benzin
ersetzen – Weltrekord.
Das Verfahren gleicht äußerlich dem der
Herstellung von Ethanol und ist wie dieses
weit simpler als die hochkomplexe BtLProzedur: Das Erntegut muss nicht getrocknet werden, sondern verwandelt sich
in einem großen Bottich von feuchter
Pampe in den begehrten Kraftstoff (siehe
Grafik Seite 131).
Die Anlagenbauer haben sich das Prinzip
des Verdauungssystems von Rindern und
anderen Grasfressern zu Eigen gemacht –
mit allen bewährten Vorteilen des natürlichen Kreislaufs von Wachstum, Fressen,
Ausscheiden und Wiederverwertung als
Dünger. Biogasanlagen verarbeiten ein breites Spektrum von Pflanzensorten und erlauben somit einen bodenschonenden Variantenreichtum. Und sie produzieren ihren
eigenen Dünger: Die Reste lassen sich wie
Kuhdung zurück auf die Felder streuen.
Die Biogasbranche hat sich bislang vorwiegend auf Stromerzeugung verlegt. Direkt auf den Gehöften treibt das gewonnene Gas über Verbrennungsmotoren Generatoren an, die Strom ins Netz speisen. Die
mittlere Ausbeute ist zwar, gemessen am
Landverbrauch, weit geringer als etwa bei
Windrädern oder Solarkraftwerken. Dafür
haben die Energiebauernhöfe einen Vorteil, den die Netzbetreiber sehr schätzen:
Sie liefern konstant Strom, auch bei Nacht
und bei Flaute.
In den kleinen Blockheizkraftwerken
macht das gewonnene Biomethan also
nichts anderes, als es auch im Automobil
tun würde: Es treibt Motoren an. Auch für
den Betrieb von Erdgasautos taugt es hervorragend.
Doch bisher zögert die Branche, den
gewonnenen Treibstoff der Mobilität zu
spenden. Nur vereinzelt wurden Biogas-
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BILDAGENTUR WALDHAEUSL
folgsaussichten dieser Alternative: Die BPTochter Aral fördert beharrlich den Ausbau
des Gastankstellennetzes – gerade wegen
des enormen regenerativen Potentials von
Biogas. Die Shell-Experten sehen in der
Initiative dagegen nur eine Nischenlösung
etwa für Flottenbetreiber und favorisieren
die Umwandlung von Erdgas in Flüssigkraftstoff.
„Die größten Fehler, die wir bei der
Suche nach Alternativen machen können,
sind voreilige Experimente mit der Infrastruktur“, warnt Shell-Forscher Wolfgang
Lüke. Aussicht auf unmittelbaren Erfolg haben aus seiner Sicht nur alternative Spritsorten, die sich den konventionellen Kraftstoffen beimischen lassen. Ethanol und
SunDiesel erfüllen genau diese Forderung.
Die Energiesäfte des postfossilen Zeitalters, prophezeit der Shell-Experte, werden
in langsam zunehmender Menge in bestehende Kraftstoffe hineinfließen und die
Erdöl-Ära Tröpfchen für Tröpfchen dem
Ende zuführen. Ein komfortabler Prozess,
Mischwald: „Öl, Gas und Kohle – das ist alles Sonnenenergie“
der unauffällig begonnen hat und von dem
tankstellen, etwa in Deutschland und zeptable Reichweiten. Das Verstauen aus- der Verbraucher (abgesehen von meist
Schweden, eröffnet. Es mangelt an Ab- reichender Druckflaschen ist in den meis- fruchtlosen Polit-Debatten) gar nichts mitnehmern. Schon die Verfeuerung des fos- ten Fahrzeugen noch immer technisch un- bekommt.
Andererseits erscheint es ratsam, die
silen Brennstoffs Erdgas kommt kaum vor- möglich. So blieb der Durchbruch des steuan. Seit Jahren kämpfen die Gasversorger erlich geförderten und deshalb extrem bil- Geschwindigkeit dieses Prozesses nicht zu
und Hersteller von Erdgasautos (feder- ligen Alternativkraftstoffs bis heute aus. In überschätzen. Dünnbesiedelte Länder wie
das nach Ölabstinenz trachführend sind Opel, Volvo und Fiat) mit
tende Schweden oder auch
spärlichem Erfolg um Akzeptanz. Teure
Der Energiegehalt der Vegetation, die laufend
der jäh von ProblembeUmbauten an Fahrzeugen und Infrastrukauf der Erde nachwächst, übersteigt den aktuellen
wusstsein durchdrungene
tur bremsen das Vorhaben.
Öljunkie USA verfügen
Eine Erdgaszapfstelle kostet mit dem
Bedarf der Menschheit um den Faktor acht bis zehn.
zwar durchaus über landnötigen Druckspeicher etwa 200000 Euro –
wirtschaftliche Nutzflächen,
etwa das Vierfache von Benzin- oder Dieselstationen. Die Autohersteller verlangen Deutschland, wo mit großem Optimismus die eine Industrienation mit dem Enerfür ihre Erdgasmobile Aufpreise von 2000 inzwischen über 650 Zapfstellen für den gieträger Biomasse zumindest zu großen
bis 4000 Euro. Die Ausrüstung mit Druck- flüchtigen Brennstoff errichtet wurden, sind Teilen ernähren könnten. In Mitteleuropa
tanks fordert ihren Preis.
gerade mal 30 000 Erdgas-Pkw zugelassen. hingegen ist diese vegetarische VollverAußerdem haben nur sehr wenige der
So streiten sich auch bei den Mineral- sorgung der Automobile nicht annähernd
bisher angebotenen Erdgasfahrzeuge ak- ölkonzernen die Experten über die Er- möglich.
SunDiesel
„Biomass to Liquid“ (BtL) –
Herstellung synthetischen
Kraftstoffs aus Biomasse
am Beispiel des ChorenVerfahrens
Niedrigtemperatur-Vergaser
Brennkammer
Partikelfilter
Bei 400 bis 500 Grad wird die
Biomasse in Schwelgas verwandelt. Der zurückbleibende Holzkohlestaub wird später in die
Brennkammer eingeblasen.
Bei Temperaturen oberhalb
von 1400 Grad verbrennt
das teerhaltige Schwelgas.
Das Rohgas wird entstaubt.
Rekuperator
Schadstoffe wie Chlor und Schwefel
werden beseitigt.
Das Rohgas wird gekühlt.
Fischer-Tropsch-Reaktor
Schwelgas
Holzschnitzel
Sauerstoff
Gasreinigung
Sauerstoff
Über Katalysatoren wird das Gas in
flüssigen Kraftstoff verwandelt.
Synthesegas
Katalysator
Holzkohlestaub
Rohgas
Rohgas
Schlacke
Restkoks, Asche, Staub
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Abwasser
Wasserkreislauf
Kraftstoff
I
n den Szenarien der Agrarbranche werden Bohrtürme zu Pflugscharen. Die
ehemalige grüne Landwirtschaftsministerin Renate Künast kürte die Bauern schon
zu den „Ölscheichs von morgen“. Nur um
jenes Wundergas, das einige Autokonzerne beharrlich als künftiges Elixier sündenfreier Mobilität beschwören, ist es verdächtig still geworden: Wasserstoff.
Das leichteste Element des Periodensystems galt den Ingenieuren lange als
globaler Kraftquell des postfossilen Zeitalters. Mit Solar- oder Windstrom aus Wasser erzeugt, sollte das knallfreudige Gas
ein Energieträger ohne Grenzen werden –
blitzsauber und schier unendlich reproduzierbar.
Die Autokonzerne investierten Milliarden in die Entwicklung von Prototypen.
Omnibusse und Pkw mit Brennstoffzellen,
die Wasserstoff nahezu schadstofffrei und
enorm effizient in Fahrstrom umwandeln,
juckeln allerorten einher.
Auch Verbrennungsmotoren lassen sich
mit Wasserstoff betreiben. BMW entwickelte einen Zwölfzylinder-Rennwagen
für diesen Kraftstofftyp und überschritt in
einer drolligen Ökorekordfahrt die 300km/h-Marke. Mercedes wollte bereits im
Jahr 2004 Brennstoffzellenautos in den
Handel bringen.
Doch davon ist nun keine Rede mehr.
Inzwischen nennt DaimlerChrysler das
Jahr 2015 – und wird wohl auch diese Zahl
wieder korrigieren müssen. Es fehlt nicht
an Autos, die den Wasserstoff schlucken
könnten – es fehlt am Wasserstoff selbst.
Nirgendwo auf der Welt sind auch nur
Ansätze von Vorhaben erkennbar, im industriellen Maßstab aus Ökostrom das ökosaubere Gas zu gewinnen. Sogar Shell, einer der aufgeschlossensten Konzerne der
Mineralölbranche, bemüht bei dem Thema
den Konjunktiv: „Wasserstoff könnte der
endgültige Kraftstoff sein“ steht auf einem
der Schaubilder, die Entwicklungsleiter
Warnecke zu dem Thema aushändigt.
Die größte Hürde, so der Shell-Mann,
sei die Unverträglichkeit mit den bestehenden Kraftstoffen: „Ethanol und BtL mischen wir ganz einfach bei. Mit Wasser-
VOLKER LISTL / ARGUM
Laut FNR-Prognose stehen im Jahr 2020
knapp 3,5 Millionen Hektar deutscher
Ackerfläche für den Anbau von Energiepflanzen bereit. Bei optimistischer Einschätzung der technischen Entwicklung
ließe sich auf diesem Boden ein Viertel des
im deutschen Straßenverkehr benötigten
Kraftstoffs herstellen.
Weltweit jedoch, sagt FNR-Experte Birger Kerckow, „ist das Biomasse-Potential
enorm“. Tatsächlich übersteige der Energiegehalt der Vegetation, die laufend auf
der Erde nachwächst, den aktuellen Bedarf der Menschheit um den Faktor acht
bis zehn, lehrt Konrad Scheffer, Professor
am Institut für Nutzpflanzenkunde der
Universität Kassel/Witzenhausen.
Biogasproduktion (in Bayern): Energieernte nach dem Verdauungsprinzip von Rindern
Biomethan
Gasgewinnung aus Energiemais
FERMENTER
GASSPEICHER
Gas
Energiepflanzen
Unter Luftabschluss
zersetzen Bakterien
die Biomasse und
erzeugen Biogas
Heizung
stoff müssten wir komplett zu einer neuen
Infrastruktur springen.“
Und diese wäre um ein Vielfaches aufwendiger als die für Erdgasautos. Wasserstoff muss entweder zur Verflüssigung auf
253 Grad unter null abgekühlt oder gasförmig auf 700 bar (das Dreieinhalbfache
des derzeitigen Erdgasdrucks) verdichtet
werden, damit ein Auto mit einer Tankfüllung auf akzeptable Reichweiten
kommt. Die bestehende Erdgasinfrastruktur wäre für einen Wasserstoffvertrieb
demnach vollkommen untauglich.
Unabhängig von wirtschaftlichen Hindernissen wird auch der reine Umweltnutzen selbst von solchen Fachleuten skeptisch
bewertet, die der Erdölbranche nicht nahe
stehen. Zur sauberen Wasserstoffgewinnung bedarf es eines schieren Überflusses
an Ökostrom. Und den gibt es bisher allenfalls im Geothermie-Paradies Island und
dem wasserkraftstrotzenden Paraguay.
So untersuchte das Wuppertal-Institut
die Chancen und Risiken eines forcierten
Einstiegs in eine Wasserstoffwirtschaft.
Dieser, so das ernüchternde Resümee, sei
„in den nächsten 30 bis 40 Jahren ökologisch nicht sinnvoll“. Durch direkte Einspeisung ins Netz könne der regenerativ
gewonnene Strom weit effektiver eingesetzt werden.
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Biodünger
Hauptbestandteile
des Biogases:
50 bis 75 % Methan
25 bis 45 % Kohlendioxid
Sollte in der Mitte des 21. Jahrhunderts
aber doch noch eine ebenso saubere wie
gigantische Produktion von Wasserstoff
beginnen, endet dieses Gas womöglich
gar nicht direkt im Tank von Brennstoffzellenautos.
Dankbare Abnehmer wären etwa die
Produzenten von pflanzlichen Kraftstoffen. Bei der Herstellung des BtL-Diesels
herrscht akuter Wasserstoffmangel. Durch
eine Einspeisung der reaktionsfreudigen
Substanz in den Choren-Prozess ließe sich
der Gesamtausstoß der Anlagen nahezu
verdoppeln.
Das Ergebnis wäre eine vollkommen regenerative Prozesskette, die dem Vorbild
von Jahrmillionen Erdgeschichte folgt:
Wasserstoff ist ein ausgesprochen heiratswilliges Element. Nur in Verbindung mit
Kohlenstoff bildet es den Grundbaustein
organischen Lebens – und der daraus resultierenden Energieressourcen Erdöl und
Erdgas.
„Die Natur“, sagt Choren-Gründer
Wolf, „lässt den Wasserstoff nirgends in
seiner reinen Form vorkommen. Es leuchtet nicht ein, warum die Industrie das anders machen sollte.“
Christian Wüst
ENDE
131
Wissenschaft · Technik
Prisma
B O TA N I K
Zarte Drinks für
Osterglocken
E
in Gläschen verdünnten Wodkas für
die Osterglocke, ein Spritzer Tequila
im Gießwasser für die Tazette: Wer diese Form der Blumenpflege praktiziert,
darf sich über kurze Stengel und Blätter
nicht wundern – aber weiterhin über
prachtvolle Blüten freuen. William
Miller, Zwiebelpflanzenexperte von der
amerikanischen Cornell University, hat
herausgefunden, dass vier- bis sechsprozentige Alkohollösungen zwar das
Wachstum unterhalb der Blüte einschränken, auf diese selbst jedoch
keinen Einfluss haben. Eine nützliche
Entdeckung: An Narzissen, die auf
herkömmliche Weise allein mit Wasser
gegossen werden, haben Blumenfreunde bisher nur kurze Zeit Freude. Die
Gewächse schießen in die Höhe,
Stengel und Blätter werden schlaff und
fallen auseinander – während die mit
gestrecktem Hochprozentigen wie Gin,
Wodka, Whisky, Rum, Tequila oder
Korn versorgten Artgenossen klein,
straff und kompakt bleiben. Drinks wie
Wein und Bier dagegen schaden den
Blumen; sie enthalten zu viel Zucker. In
diesem Frühjahr möchte Miller seine
Versuchsreihe ausdehnen und Gemüsesorten wie Tomate oder Paprika ein
paar Kurze gönnen.
ARCHÄOLOGI E
CARLOS SPOTTORNO
Brettspiel
im Grab
CORNELL UNIVERSITY
S
pielten vor Tausenden von Jahren die
Pharaonen bereits Backgammon? Inwieweit sich die Spielregeln glichen, darüber streiten die Gelehrten – sicher ist
jedoch: Bei dem, was Archäologen jetzt
bei Ausgrabungen in den Ruhestätten
zweier altägyptischer Adliger fanden,
handelt es sich um Teile eines SenetSpiels. Von früheren Funden ist bekannt,
dass es, ähnlich wie Backgammon, ein
Wettlaufspiel mit Würfel und Figuren
war; allerdings mussten die Spieler drei
Reihen à zehn Felder überwinden. Das
Spiel symbolisierte den Weg der Seele
Königin Nefertari beim Senet,
neuentdeckte Senet-Teile
des Toten hin zu Osiris’ Unterwelt und
sollte im Jenseits für Kurzweil sorgen.
Aus sieben Meter Tiefe hat das Team
um den spanischen Ägyptologen José
Manuel Galán das 3500 Jahre alte Senet
aus Holz und Elfenbein zutage gefördert
– es gilt als einer der bedeutendsten Funde aus den Gräbern von Djehuti und
Heri, zweier hoher Beamter aus der Zeit
der 18. Dynastie. Die Nekropole befindet sich im Westen der ehemaligen altägyptischen Hauptstadt Theben.
Tazetten im Alkoholversuch
PSYCHOLOGIE
Hübsch muss er sein
Z
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GERHARD / SILVESTRIS
äh hält sich die Vorstellung einiger Evolutionsbiologen, dass sich das Weib auf Partnerjagd von Natur aus so verhalte wie Anna Nicole
Smith: Hauptsache, der Kerl hat ein üppiges
Portemonnaie. Alter, Glatze, Bauch – all das
spiele kaum eine Rolle. Schließlich müsse die
Frau einen Mann ergattern, so das Argument des
Psychologen David Buss von der University of
Texas, „der die Möglichkeit und den Willen hat,
in sie und ihre Kinder zu investieren“. Doch die
Psychologin Fhionna Moore und ihre Kollegen
von der schottischen University of St. Andrews Fitnesstraining
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bezweifeln die Vorstellung vom versorgungsbedürftigen Mäuschen auf Geldsacksuche. Die
Forscher fragten mehr als 1800 heterosexuelle
Frauen nicht nur nach den Traumeigenschaften
ihres Märchenprinzen, sondern auch nach
deren eigener finanzieller Unabhängigkeit,
nach ihrer Bildung und danach, wie wichtig
ihnen Karriere sei und wie viel Einfluss sie auf
Entscheidungen daheim und im Job ausübten.
Es stellte sich heraus: Je mehr die Frauen Geld
und Leben im Griff haben, desto wichtiger ist
ihnen der Look des Lovers – und umso
unwichtiger dessen Konto. „Ab ins Fitnessstudio“, riet das britische Wissenschaftsblatt
„New Scientist“ den Männern sogleich. „Und
benutzt Feuchtigkeitscreme.“
133
Wissenschaft · Technik
U M W E LT
Waldidyll
mit Hirsch
D
as Reh ist die Frau vom Hirsch – das
glauben fast zwei Drittel der Kinder
zwischen 7 und 13 Jahren. Wenigstens
können die meisten den Hirsch auf einem Foto identifizieren. Das Tier, obwohl selten in freier Natur zu beobachten, scheint bereits für die Kleinen eine
Ikone deutschen Waldidylls zu sein. Den
Spatz hingegen, der öfter vor ihren Augen herumhüpft, im Spielplatzsand badet
oder Pausenbrotkrümel stibitzt, kann
gerade mal jedes zweite Kind als solchen
erkennen. Dies ergab eine Forsa-Befra-
Prisma
gung von mehr als 500 Schülern – der
Auftraggeber, die Deutsche Wildtier Stiftung, wollte herausfinden, wie gut die
Kinder über die heimische Fauna Bescheid wissen. Erstaunlich war dabei vor
allem, dass die Wildgeschöpfe in der
Schule zumindest ab der zweiten Klasse
Antworten
in Prozent
Forsa-Umfrage unter Schülern in Deutschland
„Welche der folgenden Wildtiere
gibt es in Deutschland?“
65
Wölfe
Elche
21
Tiger
2
37
33
Wildschwein
49
Seeadler
falsch
82
Fischotter
Feldhase
55
Murmeltiere
richtig oder überwiegend richtig
„Welche der folgenden gehören zu
den bedrohten Arten?“
80
Kreuzspinnen
offenbar kaum Thema sind: Die 7-Jährigen kennen sich bereits ebenso gut (oder
schlecht) aus wie die 13-Jährigen. Vielleicht kann Ostern Anlass sein, den Kindern wenigstens zu vermitteln, dass der
Feldhase zu den gefährdeten Tieren gehört – falls dies den Eltern bewusst ist.
Reh
25
„Wo können Wildtiere in Deutschland überall vorkommen?“
Feldhasen
„Wie heißt dieses Tier?“
von den Schülern anhand von Bildern identifiziert; in Klammern die als überwiegend richtig gewerteten Antworten
Rothirsch
91
(Hirsch)
79
Schwarzspecht
(Specht, Buntspecht)
55
Sperling, Spatz
98
in Wäldern
68
in Flüssen
in Städten
im tropischen
Regenwald
in Wüsten
35
25
20
Forsa-Umfrage vom 21.
bis 30. März 2006, 519
befragte Kinder im Alter
von 7 bis 13 Jahren
MANFRED DANEGGER / OKAPIA
TECHNIK
MEDIZIN
W
er gestaunt hat, wie Tom Cruise in dem Science-FictionThriller „Minority Report“ mit den Gesten eines Dirigenten Daten auf gläsernen Bildschirmen aufleuchten und
wieder verlöschen lässt, ahnt, wo Thomas Riedls Erfindung
hinführen könnte. Der Physiker von der Technischen Universität Braunschweig hat es erstmals geschafft, farbige, aber
völlig durchsichtige Pixel auf ein
transparentes, aktives Display zu
zaubern. Das wünschen sich zum
Beispiel Autohersteller: So könnte,
über Radarsensoren, dem Fahrer
die Information über einen Radler
im toten Winkel direkt ins Blickfeld
gesendet werden. Solche Einblendungen etwa der aktuellen Ge„Minority Report“-Szene schwindigkeit auf die Frontscheibe
lassen sich derzeit nur mit Hilfe
sehr aufwendiger Projektionstechniken verwirklichen. Das Problem: In konventionellen Displays, zum Beispiel bei Handys,
werden die einzelnen Bildpunkte mit Transistoren (TFT) aus
Silizium angesteuert – das Halbmetall ist für sichtbares Licht
völlig undurchsichtig. Riedls Trick: Er verwendet Transistoren
aus Metalloxiden, etwa aus Zinkoxid, einem preiswerten Material, das auch in vielen Sonnencremes steckt. „Die sind nicht
nur völlig durchsichtig, sondern transportieren auch noch den
Strom ungefähr zehnmal besser“, schwärmt der Erfinder.
134
d e r
Schwarzer Freitag im Krankenhaus
uch wenn das Wochenende daheim locken mag – sich
freitags nach Hause schicken zu lassen ist für KrankenA
hauspatienten offenbar gar nicht gesund: Fast 15 Prozent von
ihnen landen innerhalb des folgenden Monats erneut in der
Klinik – gegenüber knapp 10 Prozent derer, die sonntags entlassen wurden. Dies ergab eine Studie der Gmünder Ersatzkasse, für die Forscher der Berliner Charité über 900 000
stationäre Behandlungsfälle aus den Jahren 1997 bis 2002
auswerteten. Das Wochenende zeigt sich auch vorteilhafter
hinsichtlich der Sterblichkeit: Nur 3 bis 4 von 1000 Patienten,
die samstags oder sonntags den
Entlassungsschein erhielten,
starben innerhalb der folgenden
30 Tage. Hingegen sind es montags
bis freitags 8 von 1000. An Freitagen werden die meisten Patienten entlassen – wahrscheinlich,
weil es am Wochenende an
Personal mangelt. Möglich, dass
der dadurch entstehende Stress
weniger Zeit und Ruhe lässt, die
scheidenden Patienten ausführlich
zu beraten. Hinzu kommt: Apotheken, Ärzte und Pflegedienste
stehen wochenends nur begrenzt
zur Verfügung.
Patient bei Entlassung
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SUPERBILD
Display zum Durchgucken
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Wissenschaft
Schülerinnen im „Gläsernen Labor“ (in Berlin): Erbsubstanz aus der Nektarine extrahiert
NORBERT MICHALKE
BILDUNG
Die Gendetektive aus der 10d
Eine wichtige Vertiefung des naturwissenschaftlichen Unterrichts vollzieht sich außerhalb
der Klassenzimmer: In Schülerlabors an Universitäten und Instituten forscht die Jugend selbst. Für
viele Schulen sind die Laborausflüge mittlerweile fester Bestandteil des Lehrprogramms.
M
it der modernen Genetik tun sich
die Schüler vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium noch ein
wenig schwer. „Wer hat die DNA entdeckt?“, fragt Biologe Axel Wessolowski,
ein Modell der Doppelhelix in der Hand.
Beherzt rät eine Schülerin: „War das nicht
dieser Mendel?“
Im „Gläsernen Labor“ auf dem BioCampus in Berlin-Buch hören die Zehntklässler aus dem sachsen-anhaltinischen
Salzwedel dann nicht nur die Geschichte
vom Nobelpreis für die DNA-Pioniere
James Watson, Francis Crick und Maurice
Wilkins. In Zweierteams extrahieren die
136
Schüler später sogar eigenhändig Erbsubstanz aus einer Nektarine. Versuchsleiter
Wessolowski assistiert beim ungewohnten
Hantieren mit Pipette, Zentrifuge und den
kleinen Eppendorfgefäßen.
Als Nächstes muss ein fiktiver Verbrecher anhand seines genetischen Fingerabdrucks überführt werden. Die Jungen
und Mädchen aus der 10d bekommen
eine Probe der Erbsubstanz vom angeblichen Tatort, dazu drei DNA-Proben der
„Verdächtigen“. Wie im forensischen Labor wird das Erbgut aufgespalten und
mit Gel-Elektrophorese analysiert: CSI
Berlin.
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Im Agarose-Gel entspricht am Ende nur
ein Muster dem genetischen Profil des
Übeltäters. Der Fall ist gelöst, die 10 d begeistert. „Genetik steht bei uns gerade auf
dem Lehrplan“, sagt Klassenlehrerin Carola Szebrat, „und was die Schüler selbst
gemacht haben, bleibt viel besser hängen.“
Szebrat hat Mitte der achtziger Jahre
studiert, in ihrer Ausbildung kam die moderne Molekularbiologie noch gar nicht
vor. „Außerdem hätte ich an der Schule
auch nicht die Ausstattung, um solche Versuche mit der Klasse zu machen.“
Der Ausflug zum Gläsernen Labor
gehört inzwischen zum Standardprogramm
ort. Für die Schüler ist es ganz wichtig,
dass sie authentische Wissenschaft zu sehen bekommen und dass sie dabei ernst
genommen werden.“
Lebensnahes Wissen ist auch gefragt,
wenn nach Ostern wieder die Pisa-Tester
durch die Lehranstalten ziehen. Den
Schwerpunkt der dritten Runde der internationalen Schulleistungsstudie bilden
diesmal die Naturwissenschaften. Wichtiger als Formeln und Fakten ist den PisaForschern die „Lösung von wirklichkeitsnahen naturwissenschaftlichen Fragestellungen“. In einer der möglichen Aufgaben
Was Euler besonders verblüffte: Den
Mädchen machten die Experimente ebenso viel Spaß wie den Jungen. „Offenbar
interessieren sich Mädchen genauso für
technische Fächer wie Jungs, wenn nur die
Inhalte lebensnah vermittelt werden.“
„Die Lebenswissenschaften verändern
sich heute so schnell, dass die Schulen
kaum darauf reagieren können“, ergänzt
Eulers Kollegin Dorothee Dähnhardt. „Die
Schülerlabors bieten eine Dynamik, die
das traditionelle Bildungssystem nie erreicht. Guten Unterricht können sie aber
auf keinen Fall ersetzen.“ In vielen Schü-
KARSTEN SCHÖNE (L.); BEN BEHNKE (R.)
des Jahn-Gymnasiums: Neben Szebrats
10d waren gerade alle zehnten Klassen da
– trotz der dreistündigen Anreise aus Sachsen-Anhalt. „Wir sind bis Jahresende
ausgebucht“, sagt Laborchef Ulrich Scheller, „wir könnten sofort noch ein weiteres Labor eröffnen.“ Dabei haben die Berliner gerade erst einen zweiten hochmodernen Experimentierraum in Betrieb
genommen.
Das Gläserne Labor ist eines der ältesten
Schülerlabors in Deutschland. „Als wir
1999 anfingen, wollten wir eigentlich vor
allem für mehr Akzeptanz der molekular-
Achtklässler im „DLR School Lab“ (in Köln), Gymnasiastin Vlada im „Offenen Labor“ (in Lübeck): Experimente mit flüssigem Stickstoff
biologischen Forschung sorgen“, erklärt
Scheller. Doch statt erwachsener Gentech-Skeptiker kamen vor allem die Schulklassen. „Mit einem solchen Ansturm hatten wir nicht gerechnet“, sagt der Biochemiker. Viele Lehrer melden sich am
Ende ihres Besuchs gleich fürs nächste
Schuljahr an.
Pioniere wie das Gläserne Labor schufen die Grundlage für einen wahren Boom
der außerschulischen Experimentierstätten. Inzwischen können sich Nachwuchsforscher in mehr als 200 Schülerlabors
austoben – europäischer Rekord. Universitäten, Museen und Konzerne bieten eigens auf die jugendliche Klientel abgestimmte Experimente an. Die Zielgruppe
reicht von der Vorschulklasse bis zum Leistungskurs, das Themenspektrum vom Käferzählen im Waldboden über Roboterbauen und Klimaforschung bis zu komplizierten molekularbiologischen Methoden.
Mehr als 300 000 Kinder und Jugendliche tüfteln jährlich in den verschiedenen
Schülerlabors, Tendenz steigend. Dem
Schulunterricht haben die Lernorte meist
nicht nur die moderne Ausstattung voraus,
sagt Laborleiter Scheller: „Wir bieten Hightech-Forschung an einem Hightech-Stand-
geht es um ein ähnliches Problem wie beim
Versuch mit der Täter-DNA im Gläsernen
Labor.
„Obwohl naturwissenschaftliche Forschung viel Kreativität, Neugier und originelle Ansätze erfordert, gelten die entsprechenden Schulfächer oft als langweilig
und trocken“, sagt der Physik-Didaktiker
Manfred Euler vom Kieler Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften. Euler leitet den Dachverband
„Lernort Labor“, der seit 2004 die Aktivitäten der Schülerlabors koordiniert, auswertet und über die insgesamt 2,3 Millionen Euro Fördermittel vom Bundesbildungsministerium wacht, mit denen etwa
neue Labors eingerichtet werden können.
Mit den Mitmachversuchen gelingt es
augenscheinlich, das Image der ungeliebten Disziplinen aufzumöbeln: Lernforscher
Euler und sein Team haben Besuchergruppen verschiedener Schülerlabors unmittelbar nach ihrem Besuch und noch einmal nach zwei bis drei Monaten befragt.
Ergebnis: Fast die Hälfte stand den technischen Fächern nach dem ExperimentierExkurs dauerhaft positiver gegenüber, viele meinten, wissenschaftliche Sachverhalte
nun besser zu verstehen.
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lerlabors können sich daher auch die Lehrer weiterbilden – und dann aktuelle
Kenntnisse in die Klassenzimmer bringen.
Im „DLR School Lab“ des Deutschen
Zentrums für Luft- und Raumfahrt in KölnPorz beeindruckt schon die Kulisse. Mitten
im Schülerlabor steht eine gewaltige Zentrifuge, mit der Astronauten für die extreme Beschleunigung beim Start ins All trainiert werden. Schüler dürfen nicht auf die
Schleudervorrichtung – sehr zum Bedauern mancher Jungs aus der 8b von der Kölner Eichendorff-Realschule.
Wie ein Luftballon in minus 196 Grad
kaltem flüssigem Stickstoff zusammenschrumpelt, können Marcel, Malte, Julia
und Jason immerhin selbst ausprobieren.
Die extreme Temperatur soll die Bedingungen im Weltraum simulieren – ebenso
wie der Mini-Fallturm und die Vakuumröhre, mit denen die Schüler ausprobieren, wie sich Schwerelosigkeit auswirkt.
Das DLR bietet an sechs Standorten
Schülerlabors an – auch um sich Nachwuchs zu sichern. „Langfristig werden
wir zu wenig Ingenieure haben“, erklärt
Laborchef Richard Bräucker, „da freuen
wir uns natürlich, wenn sich nach einem
Besuch bei uns einige Schüler für ein
137
Wissenschaft
Studium im Bereich Luft- und Raumfahrt
entscheiden.“
Für die Kölner Physiklehrerin Simone
Kiesel ist es bereits der vierte Besuch im
School Lab: „Hier erleben meine Schüler
Wissenschaft einmal ohne die Fachgrenzen, die sie aus der Schule kennen.“
Im „Offenen Labor“ der Universität Lübeck („Lola“) steht ein reales Rätsel der
Evolution auf dem Programm: Vier Schülerinnen aus Schleswig-Holstein, Siegerinnen bei der Biologie-Olympiade, wollen
die Verwandtschaftsverhältnisse von Neandertaler und modernem Menschen ergründen.
Vor mehr als 40 000 Jahren, so die Überlegung, hätten sich der Urmensch mit den
Stirnwülsten und die ersten Vertreter der
Gattung Homo sapiens im heutigen Europa zumindest begegnen können. Doch sind
sie sich auch nähergekommen? Ist der heutige Mensch womöglich Ergebnis vorzeit-
Der berühmte Anthropologe stellt
den Schülern DNA vom
Neandertaler zur Verfügung.
licher Techtelmechtel zwischen Neandertaler und Cro-Magnon-Mensch?
Um das zu klären, hat der renommierte
Anthropologe Svante Pääbo NeandertalerDNA mit dem Erbgut des modernen Menschen verglichen. Im „Lola“ wollen die
Abiturientinnen Ramona Grudda, Vlada
Schößler, Nina Beyer und Nina Dombrowski das Experiment in vereinfachter Form
nachvollziehen. Für den Schülerversuch
hat Pääbo echte Neandertaler-DNA zur
Verfügung gestellt.
„In der Schule geht es nie um so aktuelle Themen“, ist Ramona begeistert. „Es
ist toll, dass wir hier mit Wissenschaftlern
arbeiten, die selbst in der Forschung etwas
geleistet haben“, lobt Vlada.
Ihr anthropologisches Experiment
nimmt am Ende einen ähnlichen Ausgang
wie das von Forscher Pääbo: Die untersuchten Erbgutschnipsel von Mensch und
Neandertaler sind zu unterschiedlich, die
beiden Spezies vermutlich nicht verwandt.
Nicht nur das Versuchsergebnis ist wie
in der wahren Wissenschaft: Im Lola lernen die Schülerinnen auch die Probleme
des Forscheralltags kennen. In dem Gel,
auf das sie ihre DNA-Proben aufgetragen
haben, leuchten über dem erwarteten Bandenmuster ein paar weitere Streifen, außerdem ein unerklärlicher Fleck. Die Mädchen überlegen. Haben sie im Verlauf des
Versuchs vielleicht einmal nicht die exakten Mengen zusammenpipettiert?
Wahrscheinlich liegt es an einer Verklumpung im Gel, an dem ein Stück der
Probe hängen blieb, klärt Lola-Leiterin
Bärbel Kunze auf. „Wir freuen uns immer,
wenn auch mal etwas schiefgeht“, so die
Wissenschaftlerin, „dann haben wir was
zu diskutieren.“
Julia Koch
138
die leblos wirkende Person auch wirklich
bewusstlos ist. „Wenn der Patient beim
Versuch der Reanimation widerspricht,
kann man wieder aufhören“, schlägt Dirks
nun als pragmatischen Ansatz vor. Bis zum
Beweis des Gegenteils sollte der Helfer von
einem Herz-Kreislauf-Stillstand ausgehen.
„Die Herzdruckmassage ist das Allerwichtigste“, betont Dirks, der an den neuWas tun bei Herzstillstand?
en Leitlinien auf internationaler Ebene
Notfallärzte haben ihre Erste-Hilfe- mitgearbeitet hat. „Danach erst kommt die
Regeln vereinfacht: Am
Beatmung. Und dann schließlich die Defibrillation, also ein Stromstoß, der das Herz
wichtigsten ist die Druckmassage.
wieder zum Schlagen bringt.“
Gerade für Laien stellt die Mund-zum Boden liegt ein Mensch. Er atmet
nicht, er antwortet nicht, sein Herz Mund-Beatmung eine Ekelhürde dar – und
steht still. Passanten stehen hilflos schwierig ist sie noch dazu. Selbst Profis
um ihn herum und fragen sich, wie sie hel- brauchen lange, bis sie einen Menschen
richtig beatmen können. Dirks verweist auf
fen können.
Jährlich sterben allein in Europa 700 000 eine englische Studie, in der selbst MediMenschen den plötzlichen Herztod. Viele ziner wegen Problemen mit der Mund-zuvon ihnen könnten gerettet werden, wenn Mund-Beatmung die Herzdruckmassage
mehr Menschen wüssten, welche Hand- vernachlässigten.
Warum die Reanimation auch ohne Begriffe die richtigen sind. „Unsere Wiederbelebungsleitlinien waren bislang zu kom- atmung funktioniert, erklären Mediziner
pliziert; deshalb helfen die Menschen häu- sich so: Wenn das Herz blitzartig stehenfig gar nicht. Sie haben Angst, etwas falsch bleibt, befindet sich noch sauerstoffreiche
zu machen“, sagt Burkhard Dirks, Notfall- Luft in den Lungen. Weil aber die Pumpe
nicht mehr schlägt, kommt der
lebensnotwendige Stoff nicht im
Gehirn und am Herzmuskel an.
Beginnt ein Helfer so schnell wie
Ansprechbar
oder
bewusstlos?
Vereinfachte
möglich mit der HerzdruckmasRegeln zur
Um Hilfe rufen
Notruf 112
sage, pumpt er so lange sauerWiederbelebung Atemwege freimachen,
stoffreiches Blut in Hirn und
bewusstloser
falls keine Atmung:
Herz, bis der Rettungsdienst
Personen
Wiederbelebung
kommt. Die Profis kümmern sich
anschließend um Beatmung und
Neben dem Bewusstlosen knien,
sich über ihn beugen, eine Hand auf
Defibrillation.
die Brustmitte legen, mit der
„Beatmung und Defibrillation
anderen Hand den Druck
haben wir in der Vergangenheit
verstärken. Finger verzu wichtig genommen und darschränken, dann
über die Herzdruckmassage verDRUCKstoßweise 5 cm tienachlässigt“, sagt Dirks. Zwar
MASSAGE
fen Druck ausüben,
hängen Defibrillatoren mittler100-mal pro Minuweile in vielen Bahnhöfen und
te; nach 30 Koman Flughäfen und sind auch
pressionen 2-mal
von Laien bedienbar; doch reicht
beatmen.
der Stromstoß aus den Geräten
ohne eine Herzdruckmassage oft
nicht aus.
„Aus Studien wissen wir, dass
man häufig erst zwei Minuten das
Herz massieren muss, damit die
Defibrillation überhaupt etwas
mediziner aus Ulm. „Also machen wir die bringt“, erklärt Dirks. Sein Rat: „Wenn da
jemand ist, der den Defibrillator anschlieRegeln einfacher.“
Künftig gilt als Minimalhilfe: Wenn ein ßen kann, dann soll er das machen. Aber
Mensch am Boden liegt, nicht auf Anspre- unterbrechen Sie dafür um Himmels willen
chen und Anfassen reagiert und auch kei- nicht die Druckmassage!“
Ein weiterer Vorteil der neuen Leitlinien:
ne normale Atmung mehr wahrnehmbar
ist, dann soll der Ersthelfer knapp zweimal „Selbst einem Laien können Sie am Handy
pro Sekunde fünf Zentimeter tief in die jetzt erklären, was er tun muss“, sagt Dirks.
Mitte seines Brustkorbs drücken (siehe Voraussetzung sei nur, dass er auch die
Grafik). Selbst mit dieser verstümmelten Notrufnummer 112 wählt (und nicht die
Form der Wiederbelebung können Patien- 110, wie es erstaunlich oft vorkommt). „Die
Beatmung können Sie dagegen am Telefon
ten ins Leben zurückgeholt werden.
Ältere Empfehlungen forderten vom niemandem beibringen, das ist viel zu
Laien, erst umständlich zu überprüfen, ob kompliziert.“
Dennis Ballwieser
MEDIZIN
Pumpen, bis der
Arzt kommt
A
Erste Hilfe
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Wissenschaft
Zeugung im Reagenzglas
RONALD FROMMANN / LAIF
Die biologische Uhr austricksen
FORTPFLANZUNGSMEDIZIN
Wunschkind aus der Kälte
Eingefrorene Eizellen könnten die Lebensplanung von Single- und
Karrierefrauen revolutionieren. Noch gilt die Methode
als experimentell, doch an ihrer Wirksamkeit zweifelt niemand.
A
manda und Alexandra sind gut
drauf – und kein bisschen blöd. Auf
der Website der vor zwei Jahren
gegründeten US-Firma Extend Fertility
verraten die Mittdreißigerinnen, warum sie
so glücklich sind: Sie haben sich Eizellen
entnehmen und auf Eis legen lassen.
Wenn die Zeit für den Kinderwunsch
eines Tages reif ist, werden sie ihr reproduktives Kapital auftauen und mit
den Spermien des „Mr Right“ befruchten
lassen.
„Dass ich das getan habe, gibt mir die
innere Ruhe, auf die wirkliche Liebe zu
warten“, flötet Amanda, Finanzexpertin
aus San Francisco. Und die 34-jährige
Alexandra, Verkaufs-Powerfrau aus Boston, bestätigt: „Wenn man über 33 ist und
noch mitten in der Karriere steckt, wird
man es nie bereuen, Eizellen eingefroren
zu haben; aber man könnte sich eines
Tages ernsthaft Vorwürfe machen, diese
Chance verpasst zu haben.“
Was die Muttis in spe aus Werbegründen
ins Web posaunen, ist kein Hirngespinst
mehr. Die Kryokonservierung unbefruchteter Eizellen, seit Jahrzehnten eine Sack140
gasse in der Babymacher-Branche, gilt
zwar nach wie vor als experimentelles
Verfahren, doch die Tiefkühlexperten haben in den vergangenen ein, zwei Jahren
einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht: „Die Technik funktioniert, das
muss man ehrlicherweise sagen“, erklärt
Michael von Wolff, Reproduktionsmediziner an der Uni-Klinik Heidelberg. „Im
Prinzip machen wir bei Krebspatientinnen
genau das schon.“
Befruchtete Eizellen überstehen seit langem den Aufenthalt im minus 196 Grad
Celsius kalten flüssigen Stickstoff. Sie fallen an, wenn bei der Zeugung im Reagenzglas („In-vitro-Fertilisation“, kurz
IVF) mehr als die zwei oder drei befruchteten Eizellen zustande kommen, die
anschließend in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Die Kryokonservierung ist
in Deutschland erlaubt, weil dabei die
Samenzelle rund 16 bis 20 Stunden nach
der Befruchtung bereits in die Eizelle eingedrungen ist, die beiden Zellkerne aber
noch nicht miteinander verschmolzen sind
(„Vorkernstadium“). Auch Embryonen lassen sich problemlos einfrieren (was aber
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nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz verboten ist). Selbst nach einer Lagerung von über zehn Jahren im Eis sind aus
den gefrorenen Zellklumpen schon gesunde Kinder entstanden.
Äußerst schwierig war es dagegen bislang, auch unbefruchtete Eizellen in den
Kryobehältern aufzubewahren. „Sie sind
beim Auftauen zu mehr als 50 Prozent kaputtgegangen“, erläutert Markus Montag,
Kryobiologe an der Uni-Klinik Bonn.
Die Erklärung: In den mit bloßem Auge
zu erkennenden weiblichen Keimzellen ist
viel Wasser enthalten. Beim Einfrieren
können sich gefährliche Eiskristalle bilden,
die die verletzlichen Zellen von innen wie
Rasiermesser zerschneiden.
Erst seit kurzem haben die Fortpflanzungsmediziner mit verbesserten Kryoverfahren diese Hürde gemeistert. Beim
langsamen Einfrieren mit speziellen Gefrierschutzlösungen überstehen inzwischen
rund 80 Prozent der Eizellen die Liegezeit
im Eis und das anschließende Auftauen.
Noch erfolgreicher ist eine neuartige
Blitz-Einfriertechnik, bei der sich die in
Stickstoff getauchten Zellen in Sekundenbruchteilen in einen glasartigen Zustand
verwandeln. Die Gefahr der Kristallbildung besteht dabei nicht mehr. Bis zu
96 Prozent der unbefruchteten Eizellen
tauchen nach dem Schockfrosten wieder
heil aus der wabernden Stickstoffsuppe auf.
„Die Lagerung unbefruchteter Eizellen
stellt heute eine realistische und effektive
Alternative dar“, konstatierten Reproduktionsexperten von der Uni-Klinik Köln unlängst im „Deutschen Ärzteblatt“. Die mit
Eizellen aus der Kälte erzielten Schwangerschaftsraten reichen bereits an die bei
der künstlichen Befruchtung mit frischen
Eizellen heran.
Eleonora Porcu, Fortpflanzungsmedizinerin an der Universität von Bologna und
eine der weltweit führenden Experten für
das langsame Einfrieren, berichtete im
Sommer vorigen Jahres von erstaunlichen
Erfolgen. Etwa 80 gesunden Wunschkindern aus der Kälte hat die Italienerin nach
eigener Aussage bereits zum Leben verholfen. Porcu: „Ich wollte sehen, ob die
Methode funktioniert, und ich glaube, das
tut sie. Es gibt keinen statistisch signifikanten Unterschied mehr zwischen dem
Einfrieren von unbefruchteten Eizellen
und dem von Embryonen.“
Und Gillian Lockwood, Reproduktionsmedizinerin an einer Spezialklinik im britischen Walsall, bilanziert: „Wir können
mit Sicherheit sagen, dass das Einfrieren
von unbefruchteten Eizellen eine Option
für viele Frauen sein wird, denen ohne
diese Technik die Chance auf Mutterschaft
verwehrt bliebe – das Ganze ist nicht mehr
nur ein leeres Versprechen.“
Auch deutsche Reproduktionsmediziner
sind von der Attraktivität der Lebensplanungsoption nicht überzeugt. „Ich halte das
für ein Spiel mit der Angst der Frauen. Im
Grunde müssten sich dann auch Männer mit
20 überlegen, ob sie sich Sperma einfrieren
lassen – schließlich könnte es ihnen passieren, dass sie durch Unfälle oder Infektionen
steril werden“, sagt Bernd Hinney, Fortpflanzungsexperte an der Uni-Klinik Göttingen. „Das tut doch auch keiner.“
Schwerer wiegt derweil noch die Sorge
vor unerkannten Spätschäden. Knapp 200
Eisbabys sind bisher weltweit aus tiefgefrorenen unbefruchteten Eizellen entstanden (vermutlich rund zehn davon in
Deutschland). Die Datenbasis ist noch zu
dünn, um aus diesen wenigen Fällen verlässliche Aussagen über Risiken und Fehlbildungsraten bei den Kindern ableiten zu
können.
Um die Kryokonservierung schon gesunden Frauen als Routinemethode anbieten zu können, sei es noch viel zu früh,
warnte die US-Fachgesellschaft für Reproduktionsmedizin in einer Stellungnahme.
„Die weltweiten Erfahrungen mit der Methode reichen zurzeit einfach noch nicht
aus“, erklärte Mark Fritz, Fortpflanzungsmediziner an der Universität von North
Carolina in Chapel Hill. Allerdings, räumte er ein: „Die ersten Erkenntnisse, die wir
zu der Technik haben, sind ermutigend.“
Dennoch rechnen auch vorsichtige Beobachter damit, dass sich die Kryokonser-
vierung aus Lifestyle-Gründen durchsetzen wird.
„Für Frauen könnte es eines Tages zur
Selbstverständlichkeit werden, ihre Eizellen auf Eis zu legen“, prophezeite Virginia
Bolton, Reproduktionsmedizinerin am
Guy’s Hospital in London, bei einem Expertentreffen im Januar. „Das kommt ins
Rollen, in zwei bis drei Jahren stecken wir
mitten in der Diskussion“, glaubt auch
Kryobiologe Montag.
An deutschen Zentren für Fortpflanzungsmedizin melden sich bereits Kandidatinnen, die ihrer biologischen Uhr mittels Kryotechnik ein Schnippchen schlagen möchten: „Wir verschließen uns dem
Wunsch dieser Frauen nicht, aber wir weisen sie darauf hin, dass das noch keine
Routinemethode ist“, berichtet Hans van
der Ven, Reproduktionsmediziner an der
Uni-Klinik Bonn.
Noch werde das Einfrieren unbefruchteter Eizellkonten in Deutschland, anders
als in den USA und Großbritannien, nicht
kommerziell angeboten. „Aber ich glaube“, so der Mediziner, „dass viele Kliniken
oder Praxen bereits ähnliche Anfragen bekommen wie wir.“
Die Zukunft, das haben die Erfahrungen
der vergangenen 15 Jahre gezeigt, liegt in
der Babymacher-Branche immer nur einen kleinen Schritt entfernt. „Wir sind auf
alle Techniken vorbereitet“, sagt Klaus
Diedrich, Fortpflanzungskoryphäe an der
Uni-Klinik Lübeck.
Günther Stockinger
FOTOS: MATTHIAS JUNG
Für Single- und Karrierefrauen, die auf
ihr späteres Mutterglück nicht verzichten
möchten, bieten sich damit ganz neue
Möglichkeiten. Sie können im Alter zwischen 20 oder 30 Jahren Eizellen einfrieren
und diese später bei Bedarf wieder auftauen lassen – wenn sie den Wunschvater
für ihr Kind gefunden haben oder ihnen
der Job mehr Luft für die Familienplanung
lässt.
„Für Frauen, die sehen, dass sich ihre
Fruchtbarkeit dem Verfallsdatum nähert,
ist die Kältekonservierung von Eizellen die
größte Errungenschaft seit der Pille“, jubelt
das US-Blatt „Newsweek“.
Noch aber warnen Experten vor übertriebenen Hoffnungen. Frauen mit einer
solchen Lifestyle-Indikation müssen sich
derselben strapaziösen Prozedur unterziehen wie bei der regulären künstlichen
Befruchtung: Zunächst wird ihnen zwei bis
drei Wochen lang ein Hormoncocktail unter die Haut gespritzt, der ihre Eierstöcke
derart auf Touren bringt, dass sie mehr als
nur eine reife Eizelle pro Menstruationszyklus produzieren.
Anschließend werden die Keimzellen
unter Narkose und Ultraschallkontrolle mit
einer feinen Nadel durch die Scheidenwand direkt aus den Eierstöcken herausgesaugt. „Eine junge, gesunde Frau müsste
die damit verbundenen Risiken auf sich
nehmen – das ist kein Spaziergang im
Park“, warnt die italienische Kryoexpertin
Porcu.
Kryobiologe Montag: „Das kommt ins Rollen“
Reproduktionsmediziner van der Ven: Spätes Glück?
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PANAMA
Panama-Stadt
COSTA
RICA
KOLUMBIEN
San Telmo
SVEN RÖBEL
200km
Expeditionsteilnehmer am Wrack vor San Telmo: Portal in eine vergessene Zeit
S E E FA H R T
Das Geheimnis der Perleninsel
Tag für Tag, seit 137 Jahren, taucht an einem Pazifikstrand ein rätselhaftes Wrack aus den Fluten auf:
Forscher wissen jetzt, dass dies die verschollene „Sub Marine Explorer“ ist – eines der ersten
U-Boote der Welt, genial konstruiert von einem Deutschen, dem seine Erfindung den Tod brachte.
Je weiter sich das Wasser zurückzog,
desto mehr begriff Delgado, Direktor des
renommierten Vancouver Maritime Museums, dass die Geschichte des Fischers
nicht stimmen konnte: Das Ding, das da
vor ihm aus der Vergangenheit auftauchte,
musste älter sein. Viel älter.
Die Konstruktion erinnerte den Forscher
an eine „eiserne Zigarre“, und unwillkürlich schossen ihm die Bilder der „Nautilus“
durch den Kopf, jenes legendären Unterseeboots, das Jules Verne in seinem Roman
„20 000 Meilen unter den Meeren“ be-
SVEN RÖBEL
Z
uerst sah Jim Delgado den Turm.
Zentimeter um Zentimeter hob er
sich aus der tiefgrünen Brandung
des Pazifischen Ozeans: ein schwarzverkrustetes Stück Metall, bedeckt von
Muscheln, Rost und Tang, das bei ablaufendem Wasser mit gespenstischer Langsamkeit aus dem Meer auftauchte.
Jim Delgado saß am Strand, auf der
Wurzel eines steinalten Stachelrindenbaumes, und starrte gebannt auf das Wasser.
Vor ihm wühlten sich Einsiedlerkrebse
durch den Sand, in den Baumwipfeln
kreischten braune Pelikane, ansonsten war
er allein – die einzige Menschenseele auf
dieser gottverlassenen Insel namens San
Telmo, irgendwo am achten Breitengrad
südöstlich von Panama-City.
Die Ebbe kam langsam, schleppend, und
dann gab sie dieses mysteriöse Ding frei,
von dem ein Fischer ihm erzählt hatte: das
rostzerfressene Wrack eines seltsamen
Tauchgeräts. Angeblich sei es, so glaubte es
dieser Fischer, ein japanisches SpionageU-Boot, das im Zweiten Weltkrieg den
Panama-Kanal angreifen sollte und das dabei in den tückischen Gewässern des Perlen-Archipels gestrandet sei.
Unterwasserarchäologe Delgado
Tödliche Technik
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schrieben hatte. Delgado hatte das Buch als
Junge verschlungen.
Aber konnte so etwas möglich sein? Delgado war wie elektrisiert: Als Unterwasserarchäologe hatte er vor Jahren das Wrack
des Goldrausch-Schiffes „General Harrison“ aus der Bucht von San Francisco gebuddelt, er war auch bei der Hebung der
„H. L. Hunley“ aus der Hafeneinfahrt von
Charleston, South Carolina, dabei – des
ersten U-Boots, das jemals ein feindliches
Schiff versenkte: 1864 im Amerikanischen
Bürgerkrieg.
Und jetzt, ausgerechnet in seinem Urlaub, an diesem völlig einsamen Strand,
schien ihm der Zufall auf einem tropischen
Eiland den spektakulärsten Fund seiner archäologischen Karriere zu bescheren.
Ohne Ausrüstung, lediglich mit Boxershorts bekleidet, schwamm Delgado zu
dem rätselhaften Wrack hinüber. Er fluchte, als er sich das linke Bein am scharfkantigen Metall aufriss und weil er kein
Maßband dabei hatte, um die genauen Dimensionen des Gebildes zu dokumentieren. Größe, Form und Beschaffenheit der
Kammern passten zu keinem Vehikel, das
er kannte. Und er kennt eigentlich fast
143
TRH PICTURE LIBRARY / US NAVY
US-U-Boot „H. L. Hunley“ im Trockendock von Charleston (Zeichnung, um 1863): Tollkühne Taucher als „Spaceshuttle“-Piloten ihrer Zeit
alles, was jemals schwamm. Aber die Technik dieses Dings schien viel moderner als
die der „Hunley“. Und die Rumpfform
mutete eher phantastisch an wie aus einem uralten Science-Fiction-Buch. Wieso
zum Teufel hatte er noch nie von diesem
Gefährt gehört?
Als Delgado das Schlauchboot kommen
hörte, das ihn zurück auf sein Kreuzfahrtschiff bringen sollte, schoss er noch schnell
ein paar Dias mit seiner Touristenkamera
und dankte dem Schicksal dafür, dass er
nicht mitgefahren war auf diese öde VogelBeobachtungstour wie die anderen Passagiere: Die paar Stunden auf dieser einsamen Insel hatten sich gelohnt.
Das war vor fünf Jahren, und jetzt ist
klar, dass dem Unterwasserwissenschaftler Delgado eine historische Sensation geglückt ist: Er hat die verschollen geglaubte „Sub Marine Explorer“ entdeckt – eines
der ersten funktionstüchtigen Unterseeboote der Welt, konstruiert von einem genialen deutschen Ingenieur, dem seine Erfindung schließlich einen qualvollen Tod
brachte.
Das guterhaltene Wrack vor den Gestaden von San Telmo ermöglicht einzigartige Blicke in die Nebel der Vergangenheit –
denn obwohl der Beginn der bemannten
Unterwasserschifffahrt nach historischen
Maßstäben noch gar nicht lange zurückliegt, ist die Pionierzeit der U-Boote eine
Geschichte voller offener Fragen: Alte Baupläne weichen oft von den tatsächlichen
Konstruktionen ab, viele Boote gelten als
verloren oder zerstört. Und oft ist unklar,
wie genau – und ob überhaupt – die Vehikel funktionierten.
Der Fund von San Telmo könnte Antworten geben auf viele Fragen zu den ers144
ten U-Booten. Kollegen Delgados halten
das Wrack im Pazifik für ein einzigartiges
Exemplar jener Handvoll erhalten gebliebener, submariner Prototypen, in denen
sich tollkühne Männer im 19. Jahrhundert
in die unbekannte Welt unter der Wasseroberfläche wagten – als „Spaceshuttle“Piloten ihrer Epoche. Lediglich fünf Tauchapparate aus den Jahren vor 1870 haben
die Brandung der Zeit überstanden:
• die 1850 gebaute „Brandtaucher“ des
deutschen Erfinders Wilhelm Bauer,
heute in einem Museum in Dresden;
• ein namenloses U-Boot der Konföderierten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg von 1862, ausgestellt in New
Orleans;
• die 1863 konstruierte „H. L. Hunley“,
die derzeit in Charleston restauriert
wird;
• die „Intelligent Whale“, ein weiteres USU-Boot aus dem Jahr 1866, jetzt in einem Museum in New Jersey,
• und eben die „Sub Marine Explorer“
vor San Telmo im Pazifik, gebaut 1865.
Ausgestattet mit einem ausgeklügelten
System von Ballastkammern und Presslufttank, das einen Druckausgleich und
durch zwei unter dem Rumpf angebrachte
Luken sogar das Aussteigen von Tauchern
unter Wasser ermöglicht, markiert die „Explorer“ einen Höhepunkt maritimer Ingenieurkunst – wenn auch einen tragischen:
Als das Boot vor rund 130 Jahren den Meeresgrund vor Panama erforschte, war die
berüchtigte Taucherkrankheit noch weitgehend unbekannt. Das Leiden kann bei
zu schnellem Auftauchen aus tiefem Wasser einen jämmerlichen Tod verursachen.
Der technische Fortschritt hatte den medizinischen auf fatale Weise überholt – und
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im Fall der „Explorer“ ihre Mannschaft
wie auch ihren Erfinder Gesundheit und
Leben gekostet.
Doch von den Tragödien, die sich einst
in diesem eisernen Sarg bei den Perlengründen vor Panamas Küste abgespielt haben müssen, ahnte Delgado noch nichts,
als er am Abend nach seiner Entdeckung
leicht überdreht im Speisesaal des Kreuzfahrtschiffs saß. Er konnte nicht aufhören,
seiner Frau Ann immer wieder die Details
des seltsamen Wracks zu schildern.
Daheim in Vancouver ließ der Wissenschaftler die auf San Telmo geschossenen
Dias entwickeln und mailte sie – versehen
mit einer Beschreibung und der Frage, ob
jemand etwas mit dem Boot anfangen könne – an Kollegen in aller Welt.
Einer konnte: Richard Wills, Experte für
U-Boote des amerikanischen Bürgerkriegs,
meldete später einen Volltreffer – Delgados
Daten stimmten perfekt mit einer Beschreibung überein, die Wills in einem wissenschaftlichen Aufsatz von 1902 entdeckt hatte. Die Publikation enthielt sogar eine
exakte Zeichnung des weitgehend unbekannten Tauchgeräts. Die Merkmale passten perfekt – so viel Zufall konnte es gar
nicht geben: Das Boot musste die „Sub
Marine Explorer“ sein.
Über ihren Konstrukteur wusste man da
noch nicht allzu viel. Er hieß Julius H.
Kroehl und war ein aus Deutschland in die
USA emigrierter Erfinder. 1856 hatte er in
Harlem einen eisernen Feuer-Wachturm
errichtet, bevor er erfolglos versuchte, im
Auftrag des New Yorker Magistrats ein Riff
zu sprengen, das die Schifffahrt im East
River behinderte. Aber wie kam der mysteriöse Deutsche dazu, ein derart fortschrittliches Tauchboot zu konstruieren?
Technik
Sprache seiner Zeit die Arbeitsweise des
revolutionären U-Boots beschrieben: „Vor
dem Abtauchen“ werde mit Hilfe einer
auf einem Beiboot montierten, dampfbetriebenen „Pumpe mit der Kraft von 30
Pferdestärken so viel Luft in die Pressluftkammer gefüllt, bis diese eine Dichte
von mehr als 60 Pfund erreicht“, was einem Druck von etwa vier Bar entspricht.
Nach dem Versiegeln des Presslufttanks
„betreten die Männer die Maschine durch
den Turm an der Oberseite“, und „sobald
dem Wasser gestattet wird, die Ballastkammern zu füllen, sinkt die Maschine
geradewegs hinab zum Meeresgrund“.
Dort werde „alsdann eine ausreichende
Menge Pressluft in die Arbeitskammer geleitet, bis diese über ausreichend Volumen und Kraft verfügt, um dem enormen
Druck des Wassers standzuhalten“, damit
die Männer „die Luken im Boden der Maschine öffnen“ und mit dem Bergen der
Austern beginnen können.
Der zeitgenössische Autor fuhr fort:
„Wenn sie eine ausreichende Zeitspanne
unter Wasser waren und alle
Muscheln in Reichweite geobere Rumpfhälfte
sammelt sind“, werde schließdurch Verstrebungen
lich Pressluft in die Ballastverstärkt, enthält die
Rekonstruktion der „Sub Marine
Pressluftkammer
kammern geleitet, „und
Explorer“ von 1865
während diese Luft dann das
Turm mit Einstiegsluke,
Wasser herauszwingt, erhebt
Fenstern und Tauchkammer
sich die Maschine sicher zur
Oberfläche“.
Kroehl, der Konstrukteur,
konnte damals nicht wissen,
wie wichtig ein langsamer,
Antrieb durch
kontrollierter Druckausgleich
Muskelkraft
beim Auftauchen ist. Und
wenn Unterwasserforscher
Delgado, selbst routinierter
Taucher, heute in die enge
untere Rumpfhälfte
Kammer klettert, die mittags
Ballastkammern an den Außenvon der reflektierenden Troseiten, dazwischen verläuft die
pensonne in fahles, grünes
Arbeitskammer für die Besatzung
Rumpflänge: 11m
Licht getaucht wird, muss er
zwischen all den rostverkrusTiffany, offenbar ein Spross der gleichna- fenbar, um das Boot, das sich mit einer teten Hähnen, Ruderhebeln und Griffen
durch Muskelkraft betriebenen Schraube daran denken, wie jener „sich gefühlt hamigen Schmuck- und Lampendynastie.
Die Sache wurde immer spannender – fortbewegte, stromlinienförmig zu halten. ben muss, in diesem eisernen Sarg“. Wie
In der feinen Sandschicht, die den Bo- er das Zischen der Pressluft hörte, mit vor
und nach zwei weiteren Ortsterminen auf
San Telmo in den Jahren 2002 und 2004 den der Arbeitskammer mit den beiden Druck schmerzenden Ohren. Und wie sauhatte Delgado schließlich so viel Material Luken zum Bergen der Austern bedeckte, er die Luft gerochen haben muss, unten
zusammen, dass er die Zeit gekommen fand Delgado ein mit Quecksilber gefülltes auf dem Meeresgrund, wenn sie fast versah, eine Expedition zusammenzustellen, Tiefenmessgerät und den Holzgriff einer braucht war und die Kerzen langsam ausdie die letzten Geheimnisse der „Explo- Handpumpe, die offenbar zur Verbesse- gingen.
rung der Atemluft in der engen DruckDelgado wird philosophisch in solchen
rer“ und ihres Erfinders lüften sollte.
Begleitet von SPIEGEL und SPIEGEL- kammer diente: Mit ihr wurde wohl feiner Momenten und spricht vom „großen
TV brach das internationale Forscherteam Wassernebel versprüht, der das Kohlen- Strom der Geschichte, der das Individuam 18. Februar in die Gewässer des Perlen- dioxid der Atemluft an Bord binden sollte. um auslöscht“. Seit fünf Jahren erforscht
Archipels auf. Expeditionsleiter Delgado Schließlich schaufelten in dem Boot bis zu er nun die „Explorer“ – und kennt noch
hatte, wie er sagt, „die besten Leute zu- sechs Männer bei Kerzenschein Austern – nicht einmal das Gesicht ihres Erfinders.
Obwohl Kroehl selbst ein leidenschaftsammengebracht“: etwa den Australier Schwerstarbeit auf dem Grund der See.
All diese Merkmale passten exakt zu licher Fotograf gewesen sein soll, ist bis
Michael McCarthy, 58, einen Unterwasserarchäologen von Weltruf; den gleichaltri- einer alten Zeitungsmeldung, die Del- heute kein Porträt von ihm aufzutreiben.
Und auch die Biografie des vergessenen
gen Kollegen Larry Murphy, einen Spezia- gados Rechercheure zuvor aus den Tiefen
listen für Korrosionsstudien, sowie den der Archive gegraben hatten: Im Sommer Ingenieurs, zusammengetragen aus den ruMetallurgen Don Johnson, 79, einen aus- 1869 hatte der in Panama erscheinende dimentären Erinnerungen seiner Nachfahgewiesenen Experten für Materialfor- „Mercantile Chronicle“ in der blumigen ren und den Akten seiner Militärzeit bei
Delgado beschloss, der Sache auf den
Grund zu gehen: Recherchen in historischen Archiven ergaben, dass die „Sub
Marine Explorer“ zuletzt einer Firma namens Pacific Pearl Company gehört hatte,
die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor Panamas Küste nach Austern schürfen wollte. Bereits in den Zeiten
der Konquistadoren hatte man hier in den
Tiefen des „Archipiélago de las Perlas“
reiche Beute gemacht. Hier hatten schwarze Sklaven einst die legendäre Perle „Peregrina“ aus den Fluten gefischt, eine
mattschimmernde Pretiose von sagenhaften 50 Karat.
Mit den Muscheln war auch in der Neuzeit ein Vermögen zu verdienen, wobei
nicht nur die Perlen Profit abwarfen, sondern vor allem das Perlmutt. Für die Mode
jener Epoche war das Material ein begehrter Luxusartikel.
Unter den Teilhabern des Unternehmens, das unweit der New Yorker Wall
Street firmierte, fand sich nach alten Geschäftsberichten auch ein gewisser W. H.
schung und Rostprozesse. Sie sollten vor
allem die drängende Frage klären, wie lange das einzigartige Wrack noch das ständige Auf- und Abtauchen im Salzwasser
überstehen würde. Und: Aus welchem Material war es überhaupt gebaut? Wie funktionierte es?
Mit Navigationsempfängern des Global
Positioning Systems, mit Multi-ParameterSonden und lasergesteuerten Entfernungsmessern rückten die Forscher der archaischen Technik des 19. Jahrhunderts zu Leibe. „Es war“, schwärmt Delgado, „als würde man ein Portal in eine vergessene Zeit
aufstoßen.“ Immer wieder wurden sein
Team und er verblüfft von der Konstruktionsweise des Bootes und den technischen
Feinheiten.
Die obere Hälfte der doppelten Rumpfhülle etwa, die einst den Presslufttank beherbergte, war aus druckresistentem Gusseisen gefertigt, während die untere Hälfte
aus schmiedeeisernen Platten bestand, die
mit Nieten verbunden waren. Die Nietenköpfe zeigten dabei nach innen – of-
Fortschrittliches Fossil
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Technik
aus eigener Kraft bewegen kann, die also
unerkannt Minen an feindlichen Kriegsschiffen anbringen könnte.
Doch als er die Pläne fertig hat und
selbst wieder bei Kräften ist, zeigt sich
die Admiralität wenig begeistert: Der
Krieg ist vorbei, das Vorhaben zu kostspielig. Die Militärs sehen einfach nicht,
welch ungeheures Potential eine tauchende Kampfmaschine dieser Bauart haben
könnte. Die Versuche mit einigen anderen
Geräten waren nicht so ermutigend – nur
ist Kroehls U-Boot den anderen technisch
weit voraus.
Doch der Erfinder gibt nicht auf. 1864
wird er Chefingenieur und Teilhaber der
Pacific Pearl Company, die zwei Jahre später für Schlagzeilen sorgt. Im Frühjahr 1866
SVEN RÖBEL
den Unions-Streitkräften der Nordstaaten,
ist noch immer lückenhaft: Als sicher gilt
immerhin, dass Kroehl 1820 im ostpreußischen Memel geboren wurde, dem heutigen Klaipeda in Litauen, und dass er dann
als Kind mit seiner Familie nach Berlin
zog. In alten Adressbüchern findet sich
noch heute die Spur seines Vaters, des
Kaufmanns Jacob Kröhl, der zwischen
1829 und 1833 am Hausvogteiplatz Nummer 11 residierte.
Nach dem Wehrdienst bei der Artillerie
soll der junge Julius dann um 1838 eines jener Auswandererschiffe bestiegen haben,
die damals zahllose Deutsche an die Gestade der Neuen Welt brachten: Dokumentiert ist, dass Kroehl 1840 Staatsbürger
der USA wird und dass er 1855 erstmals als
Forscher Delgado (l.) in der gefluteten Druckkammer der „Explorer“: Ungeheures Potential
Ingenieur in den Geschäftslisten von New
York City auftaucht, im Stadtteil Lower
Manhattan, einem Viertel vollgestopft mit
Docks, Eisengießereien – und deutschen
Emigranten.
Kroehl hat inzwischen ein Patent zur
„Verbesserung von Eisenbiege-Maschinen“
angemeldet und zeigt sich fasziniert von
den Taucherglocken, die neuerdings beim
Brückenbau zum Einsatz kommen.
Im November 1858 heiratet der Deutsche in Washington die 26-jährige Sophia
Leuber, bevor er 1863 eineinhalb Jahre
lang in den amerikanischen Bürgerkrieg
zieht. Er dient bei der Marine der Nordstaaten als Spezialist für Unterwassersprengungen und schließlich als Späher in
den Sümpfen Louisianas.
Hier infiziert sich Kroehl offenbar mit
einer Krankheit, die ihn über Monate aufs
Krankenbett zwingt. Zwischen Fieberschüben muss der Erfinder immer wieder
an der Idee für seine Unterwassermaschine getüftelt haben. Er denkt wohl an eine
Art Taucherglocke, die sich aber frei und
146
berichtet die „New York Times“ über den
ersten sensationellen Tauchgang der „Sub
Marine Explorer“: Am 30. Mai, gegen
13.30 Uhr, besteigt Kroehl in Begleitung
von drei Freunden seinen Unterwasserapparat und taucht auf den Grund des
Hafenbeckens der North Third Street. Anderthalb Stunden müssen die Zuschauer
bangen, bevor das stählerne Monster wieder an der Oberfläche erscheint und sich
langsam die Luke öffnet. Augenscheinlich
bester Laune schmaucht Kroehl lässig seine Meerschaumpfeife und präsentiert stolz
einen Eimer Schlamm frisch vom Grund
des Docks.
Die Investoren der Pacific Pearl Company sind von der Vorstellung offenbar
überzeugt. Noch im selben Jahr finanzieren sie den Transport der in Einzelteile
zerlegten „Explorer“ von New York an die
panamaische Karibikküste, von wo aus das
Boot per Eisenbahn durch den Dschungel
nach Panama-City am Pazifik geschafft
wird. Die einst so stolze Perle der spanischen Krone ist zu jener Zeit ein moskitod e r
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verseuchter Moloch, voll mit zweifelhaften Bars, korrupten Beamten und fiebrigen
Glücksrittern auf dem Weg nach Kalifornien – ein Zwischenstopp am Scheitelpunkt der neuen Transitroute zwischen
New York und San Francisco.
Am 8. Dezember 1866 macht in diesem
allgemeinen Chaos die Nachricht Furore,
dass ein unglaublicher Tauchapparat in der
Stadt eingetroffen sei. Er werde an der Eisenbahnstation zusammengebaut und sei
in Kürze einsatzbereit.
Gut sechs Monate später meldet der
„Panama Star and Herald“ dann Vollzug:
Ingenieur Kroehl habe persönlich überwacht, wie die „Sub Marine Explorer“ ins
angrenzende Dock gehoben wurde; in wenigen Tagen solle das Boot vor den Inseln
der Pacific Mail Steamship Company erste
Tauchfahrten unternehmen.
Die wochenlangen Experimente werden
Kroehl offenbar zum Verhängnis. Vollends
überzeugt von seiner Erfindung und wie
besessen von der Arbeit in der Tiefe, kann
er nicht wissen, dass sich die Stickstoffmoleküle im Körper zu kleinen Gasblasen
ausweiten, wenn man zu schnell auftaucht.
Dass das Blut regelrecht zu schäumen beginnt.
Die Ärzte stellen die ortsübliche Diagnose, der US-Konsul macht sie amtlich:
Julius H. Kroehl stirbt am 9. September
1867 – „an Fieber“, wie der Diplomat der
Witwe schreibt; auch er kann ja nichts von
der tödlichen Taucherkrankheit wissen.
Die Beerdigung sei durch die örtliche Bruderschaft der Freimaurer durchgeführt
worden, auf dem „Cementerio de Extranjeros“, dem „Fremdenfriedhof“ im Viertel
Chorrillo.
Nach Kroehls Tod verliert sich zunächst
auch die Spur der „Explorer“ – für zwei
Jahre –, bis die „New York Times“ über
eine Perlentauchexpedition nach „St.
Elmo“ berichtet. An einem Augusttag des
Jahres 1869, gegen 11 Uhr, sei das Boot vor
der Perleninsel in die Fluten gesunken, vier
Stunden unter Wasser geblieben und
schließlich mit 1800 Austern wieder aufgetaucht. An den folgenden elf Tagen sei dieser Vorgang wiederholt worden, bis man
insgesamt 10,5 Tonnen Austern und Perlen
im Wert von 2000 US-Dollar beisammen
hatte.
Danach aber, so die Zeitung, seien „wieder alle Taucher von Fieber befallen“ worden, was letztendlich zum Abbruch der
Unternehmung geführt habe. Man habe
die teuflische Maschine in eine geschützte
Bucht der Insel gebracht und wolle bald
wiederkommen; diesmal aber mit „einheimischen, akklimatisierten Tauchern“, denen das – vermeintliche – Fieber nichts anhaben könne.
In genau dieser Bucht, in den grünen
Wassern von San Telmo, hat Jim Delgado
die „Explorer“ wiedergefunden – als sie
bei Ebbe auftauchte, wie jeden Tag zweimal, seit 137 Jahren.
Sven Röbel
Kultur
Szene
RUHRGEBIET
BERND THISSEN / DPA
„Im Pott blüht mehr
Kultur als in Berlin“
Ruhrtriennale-Intendant Jürgen Flimm,
64, über die Entscheidung der Brüsseler
EU-Jury, Essen und
die Ruhrregion zur
Kulturhauptstadt Europas 2010 auszurufen
ACHIM SCHEIDEMANN / DPA
SPIEGEL: Herr Flimm, haben Sie gejubelt, als
am vergangenen Dienstag bekannt wurde,
dass im Wettstreit um den Kulturhauptstadt-Titel am Ende Essen gegenüber Görlitz vorn lag?
Flimm: Klar. Jetzt hoffe ich, dass bei der Organisation die Kreativen das Ruder in die
Hand kriegen und nicht die Politiker. Schon
während der Bewerbung konnte man merken, dass sich unter den an Kunst Interessierten an der Ruhr ein ganz neues Selbstbewusstsein breitmacht.
SPIEGEL: Inwiefern?
Flimm: Die Leute hier nehmen nun wahr, „Nacht der Industriekultur“ in der Kokerei Zollverein in Essen (2002)
dass hier im Pott mehr Kultur blüht als sogar in Berlin. Man guckt plötzlich ganz anders auf die Klöster Flimm: Mal langsam. Erst mal war Mortier doch derjenige, der
und Museen, auf die vielen Theater und Initiativen künstlerisch überhaupt gezeigt hat, dass man in alten Industriedenkmälern
engagierter Menschen. Die EU-Zusage wird dieser Kultur- dieser Region kulturelle Ereignisse veranstalten kann und dass
landschaft einen weiteren Schub geben, da bin ich sicher.
es hier mehr gibt als nur alte rostige Fabriken. Die RuhrtriennaSPIEGEL: Ein paar Politiker wollen auch einen wirtschaftlichen
le hat vielen Leuten die Augen geöffnet. Und das Festival wird
Schub herbeireden. Kann die Kulturhauptstadt-Ehre wirklich sich unter meiner Nachfolgerin Marie Zimmermann auch
für neue Arbeitsplätze sorgen und Touristen anlocken?
2010 sicher nicht einfach im Kulturhauptstadt-Programm aufFlimm: Mit solchen Vorhersagen wäre ich vorsichtig. Aber festlösen. Es bleibt ein autonomer Bestandteil.
zustellen ist, dass sich gerade ein Großkonzern wie die RAG SPIEGEL: 1999 war Weimar europäische Kulturhauptstadt.
wirklich reingehängt hat in die Kulturhauptstadt-Bewerbung.
Welche Stadt sollte als nächste für Deutschland antreten?
SPIEGEL: Entsteht nicht für die von Gérard Mortier gegründete
Flimm: Erst war der Osten dran, jetzt der Westen, als Nächstes
und jetzt von Ihnen geleitete Ruhrtriennale eine Riesenkon- kommt der Norden. Hamburg würde mir als Hanseat besonkurrenz durch das Kulturhauptstadt-Spektakel?
ders gefallen.
Stimme
des Widerstands
AZIMUT MULTIMEDIA / ACTION PRESS
S
ie gilt als Diva, Göttin, lebende Legende. Seit über 60 Jahren ist die iranische Sängerin Marzieh, 82, einer der
populärsten Stars ihrer Heimat. Als
Aschraf al-Sadat-Mortesaï in Teheran
geboren, förderte ihre Mutter die musische Begabung der Tochter schon im
Grundschulalter; Marzieh erhielt bei
acht großen Meistern eine klassische
Gesangsausbildung. Bald international
umworben, wurde Marzieh ein Aushängeschild ihres Landes. Sie sang vor
Staatsgästen wie US-Präsident Richard
volutionsführer Ajatollah Chomeini.
Zurückgezogen in einem Dorf außerhalb der Hauptstadt, erduldete Marzieh
15 Jahre lang das vom Regime verordnete Schweigen – dann setzte sie
sich 1994 nach Paris ab. Der
lange Arm der Mullahs reichte
jedoch bis in die französische
Hauptstadt: Weil sie sich zum
iranischen Widerstand bekannte, untersagte der damalige
französische Innenminister
Charles Pasqua den Auftritt
der Künstlerin. Jetzt, 12 Jahre
später, gibt Marzieh zum ersten Mal wieder ein großes öffentliches Konzert. Am Ostermontag singt die Ikone des Widerstands im Pariser Olympia.
Marzieh bei einer Demonstration in Italien (1999)
Nixon und Königin Elizabeth. Doch
nach dem Sturz des Schah-Regimes 1979
wurde sie Opfer eines Auftrittsverbots –
Frauen dürfen nicht singen, verfügte Re-
LEGENDEN
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149
Szene
TA N Z
Berlin in
Bewegung
er Tanz hat es nicht leicht. Lange
Jahre schon muss er, mehr als die
Oper und das Theater, um Beachtung
kämpfen. Dabei hat die traditionsreiche
Kunstform gerade hierzulande mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient.
Denn das Engagement der Staatsballette
bis hin zu freien Kompanien ist groß, die
Vielfalt moderner Produktionen beachtlich. Nun veranstaltet die Kulturstiftung
des Bundes mit dem Berliner Haus der
Kulturen der Welt einen viertägigen Tanzkongress (20. bis 23. April) unter dem
Motto „Wissen in Bewegung“, um über
die Rolle des zeitgenössischen Tanzes in
Kultur und Gesellschaft, aber auch über
neueste wissenschaftliche Erkenntnisse
der Bewegungsforschung zu diskutieren.
Über hundert Choreografen, Tänzer, Wissenschaftler und Pädagogen sind eingeladen. Darunter Stars der Szene wie Ballettintendant und Ausnahmetänzer Wladimir Malachow, der ein von Sasha Waltz
choreografiertes Solo uraufführt, aber
auch Royston Maldoom und William Forsythe. Dieser wird mit einer EnsembleProduktion die Veranstaltung eröffnen.
SCHERF / POP-EYE
D
Malachow, Polina Semionowa in „Schwanensee“ (2005)
ARSENAL FILM
„Elsa und Fred“. Die 82-jährige Elsa (Chi-
„Mord und Margaritas“ erzählt von
na Zorilla) saugt das Leben gierig auf. Mit
Chuzpe und Libertinage pfeift die alte
Dame auf Konventionen. Ganz anders
als ihr Nachbar, der ebenso betagte Alfredo (Manuel Alexandre) – ein trübsinniger, überkorrekter Hypochonder. Wie die
ungleichen Alten im Verlauf der Geschichte zueinander finden, zeigt der spanische Regisseur Marcos Carnevale rührend und amüsant zugleich – und erbringt
den Beweis, dass Liebe alterslos ist.
der Freundschaft zwischen einem alternden Profi-Killer (Pierce
Brosnan) und einem glücklich verheirateten Geschäftsmann (Greg
Kinnear). Der gefühlskalte Mörder sehnt sich, des Tötens müde,
nach einem Zuhause, der aufrechte Bürger erliegt, zermürbt vom
Beruf, der Faszination des blutigen Handwerks. Auch der Zuschauer fühlt sich wie ein Irrläufer
im moralischen Niemandsland, Thornton (l.) in „Die Bären sind los“
schwankend zwischen beiden Helden. Regisseur Richard Shepard insze- halfterten, versoffenen Coach Morris Butniert sein Drehbuch etwas zu kühl, um termaker (herzerwärmend schräg und
den Zuschauer ins Herz zu treffen.
schandmäulig: Billy Bob Thornton) in die
Hände fällt. Aber wie üblich in solchen
Komödien wächst die undisziplinierte
„Die Bären sind los“ in Regisseur Richard
Linklaters politisch höchst unkorrektem Versagertruppe, dem Einsatz einer beRemake einer Baseball-Komödie von gnadeten Persönlichkeit sei Dank, über
1975, in der eine miese, zusammenge- sich selbst hinaus, bessern sich die Beteiwürfelte Jugendmannschaft dem abge- ligten in jeder Beziehung und gewähren
obendrein einen boshaften Blick auf das
institutionalisierte US-Sportgeschehen.
Zorilla, Alexandre in „Elsa und Fred“
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DEFD
Kino in Kürze
Kultur
R E P O R TA G E N
Schönes altes Europa
elancholie gehört wohl dazu, PaM
thos auch, wenn 15 Autoren aus
15 Ländern über Orte in Europa schrei-
reich, für den 42 Dörfer demoliert
wurden, samt Gutshöfen, Kirchen und
Glockentürmen. Die Schatten des
Spätsommers liegen über diesen Plätzen, und die Texte wollen alles zugleich
sein, Reisereportage und Landschaftsbeschreibung, Essay und historisches
Panorama. Der New Journalism entdeckt das alte Europa, und es entsteht
eine neue Form des Schreibens – die
Geopoesie.
L I T E R AT U R
Der Fall Jensen
W
ie viel Nichtstun kann ein Mensch
ertragen? Wie viel Außenwelt zerstört sein Innenleben? Und wer sind die
Helden, wer die Versager unserer Gesellschaft? Fragen, die sich Herr Jensen
stellt, nachdem er nach mehr als zehn
Jahren seinen Aushilfsjob als Briefträger bei der Post verloren hat.
Dabei hatte der junge Mann
mehr als diese solide Arbeit gar
nicht gewollt. Zwar ging er seinen ewig nörgelnden Eltern zuliebe kurzzeitig an die Uni, aber
verwirrende Kursangebote und
selbständige Belegung von Vorlesungen erschienen dem wenig
kontaktfreudigen Herrn Jensen
schnell als zu schwierig. Da warf
er lieber fremden Leuten ihre
Post in den Kasten und verbrachte seine
freie Zeit mit Zeitunglesen, Fernsehen
oder ziellosen Spaziergängen. Doch als
Herr Jensen ohne gewohnten Lebensrahmen in seiner mit alten Kinderzimmermöbeln bestückten Bude hockt, beginnt er an sich und der Welt zu zweifeln. Vom Arbeitsamt wird er zu Kursen
geschickt, die ihn „Fit for Gastro“ mad e r
TOMÁŠ POSP ĚCH
ben, die untergegangen sind. Sie mussten einem Fortschritt weichen, der oft
keiner war. Soeben ist der wunderbare
Reportageband „Last & Lost“ (Suhrkamp Verlag) erschienen, begleitet von einer
Ausstellung im Münchner Literaturhaus (bis
30. April). Dieser „Atlas
des verschwindenden
Europas“, wie ihn die
Herausgeberinnen Katharina Raabe und Monika Sznajderman nennen, ist vor allem eines:
hemmungslos subjektiv.
Denn hier erkunden
die Autoren ihre Lieblingsorte. Etwa den
ehemals zweitgrößten
Bahnhof Russlands, der
nun verfallen in Litauen
steht, oder einen Truppenübungsplatz im
Rummelplatz in Dub nad Moravou (Tschechien, um 1998)
Waldviertel in Öster-
chen sollen, doch weshalb soll er da
hingehen? („Warum wollen sie unbedingt mir eine Arbeit geben, obwohl
es angeblich so wenig Arbeit gibt? Ich
habe nicht darum gebeten.“) Der in
Leipzig geborene Schriftsteller Jakob
Hein, 34 („Formen menschlichen Zusammenlebens“), zeichnet in seinem
jüngsten Roman „Herr Jensen steigt
aus“ das tragische, aber humorvoll verpackte Porträt eines Sonderlings. Eines
Vereinsamenden, den Arbeitslosigkeit, Sozialpläne und die
damit verbundenen Demütigungen beinahe um den Verstand bringen. Doch dann wird
Jensen zum Widerständler. Er
wirft seinen Fernseher aus dem
Fenster, demonstriert allein auf
der Straße, den Briefkasten
schraubt er von der Wand, und
zuletzt entfernt er auch sein
Namensschild an der Wohnungstür. Herr Jensen torpediert eine
Umgebung, in der er weder leben noch
etwas leisten will. Und was macht der
Leser? Der fragt sich, wer eigentlich
die Helden, wer die Versager unserer
Gesellschaft sind.
Jakob Hein: „Herr Jensen steigt aus“. Piper Verlag,
München; 144 Seiten; 14,90 Euro.
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Titel
Mose Superstar
Er ist der geistige Vater der drei großen monotheistischen Religionen: Mose, den Sigmund Freud
für einen Ägypter hielt. Der Prophet und die Zehn Gebote könnten die immer wieder
blutige Feindschaft unter den Glaubensbrüdern beenden und eine neue Weltfriedlichkeit begründen.
Papst Benedikt XVI. beim Weltjugendtag in Köln (2005), Pilger an der Kaaba in Mekka: Zwei Religionen, aber eine einzige Familie
W
uchtige Worte: „Am dritten Tag,
im Morgengrauen, begann es zu
donnern und zu blitzen. Schwere
Wolken lagen über dem Berg, und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk
im Lager begann zu zittern. Mose führte es
aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze
Sinai war in Rauch gehüllt, denn der Herr
war im Feuer auf ihn herabgestiegen.“
Worte aus dem Alten Testament, mindestens 2600 Jahre alt. Gott spricht „mitten
aus dem Feuer“ zu Mose: „Mir gehört
die ganze Erde“; und verkündet vor einer
erhabenen Naturkulisse den erhabensten
Sittenkodex der Weltgeschichte: die Zehn
Gebote. Er schreibt sie dann auf „zwei
steinerne Tafeln“ und übergibt sie dem
Propheten.
„Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus
Ägypten geführt hat; aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen
Götter haben … Du sollst nicht morden.
Du sollst nicht die Ehe brechen. Du sollst
nicht stehlen. Du sollst nicht falsch gegen
deinen Nächsten aussagen. Du sollst nicht
nach dem Haus deines Nächsten verlan-
152
gen.“ Das ist, vereinfacht, der älteste Kern,
sieben Leitsätze. Die weiteren drei Gebote sind, aus der Fülle der zunächst mündlich tradierten Tora-Vorschriften, später
hinzugefügt worden: Der Gottesname darf
nicht, etwa bei Flüchen, missbraucht, die
Sabbatruhe nicht missachtet, die Eltern sollen geehrt werden.
Verkündigungsart und Wortlaut der
Zehn Gebote gehören zum kostbarsten
Schatz des kulturellen Gedächtnisses der
Menschheit. Die steinalte Erzählung mit
ihrer unverblümt fordernden Botschaft ist,
so scheint es, eines Tages in die Menschheit
gestürzt wie ein Komet aus dem All und
funkelt seitdem unverwüstlich.
„Ich bin Jahwe, dein Gott“: Wer von
den 6,5 Milliarden Menschen, die heute
auf der Erde leben, wurde jemals so angeredet – es sei denn von einem Wahnsinnigen? Dass Gott spricht, ist ein altes Bild für
das Ungeheure und Unbegreifliche. Wie
anders wäre die sensationelle moralische
Kehre zu nennen, die von den Zehn Geboten eingeleitet wurde? Nach all den
Jahrtausenden vorher, in denen nichts als
das brutale Recht des Stärkeren galt.
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Ausgerechnet im orientalischen Ursprungsgebiet der Zehn Gebote aber beherrschen zurzeit Gottesmissbrauch und
Propagandalüge die Tagesordnung, vor allem das serielle Töten unschuldiger Menschen durch sogenannte Selbstmordattentäter.
Anlass genug, den drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum,
Christentum und Islam ins Gewissen zu
reden, auf deren gemeinsamen Gott sich
die Menschenschlächter jener geheimnisvollen Weltgegend ständig berufen.
Alle drei Glaubensrichtungen wurzeln
im Alten Testament und verehren Mose.
Hätten sie sich nicht längst zusammenraufen und gemeinsam jene Grundmoral
bei ihren Anhängern einklagen müssen,
für die Mose und die Zehn Gebote stehen?
Der Würgewut der „Islam-Faschisten“
standzuhalten, von denen kürzlich Clifford May, der Präsident der Washingtoner
„Stiftung zur Rettung der Demokratien“,
gesprochen hat; die kenntnisarme, unverschämte Propaganda gegen die sogenannten Ungläubigen abzuwehren; und das
daraus resultierende Tötungsgeschäft zu
verhindern, das gehört zu den größten
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Die Ungläubigen, sagen die Islamisten,
müssen für ihren Nihilismus „bestraft“
werden. Glauben denn die Ungläubigen
an nichts?
Ihre wichtigsten Normen sind keineswegs
rein weltliche Produkte der Aufklärung, wie
auch viele ihrer Verfechter meinen. Diese
Normen sind letzten Endes religiös fundiert.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Die
Trias der Französischen Revolution beerbt
den altgriechischen Humanismus, der über
ironiefähige Individualisten wie Sokrates
Juden in Jerusalem
Prophet Mose*
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A. BIENERT (L.); A. KATIB/GETTY IMAGES (M. L.); ARCHIV FRIEDRICH/INTERFOTO (M. R.); NEWSMAKERS/GETTY IMAGES (R.)
„Jeder erschlage seinen Bruder“
oder Diogenes von Sinope verfügte, vor allem jedoch das Christentum und das Judentum. Das mag überraschen, wenn man
sich vergegenwärtigt, wie antiklerikal die
meisten Revolutionäre waren.
Indes: Nachdem sich Jahwe, im ersten
Jahrtausend vor Christus, vom Wettergott,
Vulkangott und Stammesgott der Hebräer
zu einem allumfassenden, alleinherrschenden Schöpfergott hochgearbeitet hatte, wurden im Prinzip alle Menschen
gleichwürdige Brüder und Schwestern. Jeder Mensch gewann die Auszeichnung,
vom Allerhöchsten als eines seiner Geschöpfe bejaht zu sein. Da sie fortan moralisch letzten Endes nur seinen Geboten
unterworfen waren, erreichten die „Kinder
Gottes“ schon bald eine gewisse Freiheit
gegenüber jeglichem Absolutheitsanspruch
irdischer Herrscher. Allerdings hat die Umsetzung dieses emanzipatorischen Urprogramms dann viele Jahrhunderte gedauert. Und dauert immer noch an.
* Szene aus dem Film „Die Zehn Gebote“, mit Charlton
Heston (1956).
153
KEYSTONE FRANCE / LAIF
Dahinter steckt also kein Übermut von
sogenannten Ungläubigen, sondern ein religiöses Urmotiv. Das aber beruht auf
Mose. Der Religionsphilosoph Martin Buber sieht Mose als dominante „Symbolfigur“ der Befreiung des Menschen vom
„ewigen Pharaonentum“ des Staates.
Abraham ist nur genealogisch der Erste.
Mose, der große Held des Alten Testaments, der die Hebräer aus dem ägyptischen „Sklavenhaus“ führt: Auch der Koran erzählt diese Story, für ihn ist Mose
der bedeutendste vorislamische Prophet,
er erwähnt „Mussa“ an nicht weniger als
136 Stellen. Zuweilen mit dem Hinweis,
Mussa habe das Kommen des Propheten
Mohammed vorausgesagt.
Wer war nun dieser frühantike Superstar der Wüste eigentlich? Sah er aus wie
jene stämmige Würdegestalt „mit gedrückter Nase, einem geteilten Bart, weitstehenden Augen und breiten Handgelenken“,
die Thomas Mann 1943 in der Erzählung
„Das Gesetz“ beschrieben hat, offensichtlich frei nach der Mose-Skulptur Michelangelos? Der Bildhauer der Renaissance
prägt bis heute das Mose-Bild stärker als
Charlton Heston, der in Cecil B. DeMilles
pathetischem Hollywood-Schinken „Die
Zehn Gebote“ (1956) Mose mimt; stärker
auch als der jugendlicher wirkende Dougray Scott in Robert Dornhelms dreistündigem TV-Film „Die Zehn Gebote“, den
Sat.1 Karfreitag gesendet hat.
Der Name „Mose“ ist ursprünglich ägyp- gen verfolgt wurde, sei „historisch nicht
tisch, abgeleitet von „gebären, Sohn“ unwahrscheinlich“, schreibt der Münchner
(„msj“), „Der Gott … hat ihn geboren“; Alttestamentler Eckart Otto, 61, in seinem
„Ra-messes“, Ramses, ist zum Beispiel der neuen Buch „Mose – Geschichte und
Sohn des Gottes Ra. Den Gott, der Mose Legende“*. Im Zuge späterer Legendengeboren hat, verrät sein ägyptischer Name bildung sei dann, so Otto, „ganz Israel in
nicht – weil er kein richtiger Ägypter war? Gestalt der nach den Söhnen Jakobs beDie Kurzform „Mose“ entspricht dem he- nannten zwölf Stämme aus Ägypten“ ausbräischen „Mosche“, und Hebräisch ist die gezogen, dabei sei das durch umschlagende Winde in sumpfigem
Sprache des Alten TestaTerrain verursachte „Meerments – Luther hat aus der
wunder“ mit „geheimnisgriechischen Version übervollen“ Attributen gesteisetzt, dort heißt der Prophet
gert worden. Mose kam
„Moosäs“ („Moses“).
also erst nachträglich ins
Mose war ein Hitzkopf,
Spiel, so dass die Wogen
der gern wütend die Fäuste
schließlich auf seine Weischüttelte, wenn ihm wiesung hin zur Seite wichen
der einmal die Worte fehlund seine Mannen trocken
ten – er war „schwer von
durchs Meer gelangten,
Sprache“; ein Sohn hebräiwährend die ägyptischen
scher, vielleicht beduiniVerfolger ertranken.
scher Sklaven, die in ÄgypDer historische Mose,
ten, im 13. Jahrhundert vor
womöglich ein Mann des
Christus, auf der Suche
12. vorchristlichen Jahrnach Wasser und Nahrung
hunderts, hat mit den Zehn
hängengeblieben waren Sigmund Freud, Psychoanalytiker
Geboten nichts zu tun. Sie
und für den bauwütigen
wurden erst rund 600 JahPharao Ramses II. schuften Moses Monotheisre nach ihm, vielleicht im
mussten. Das Herrenvolk mus: Nachhall des
Exil oder
gab den Sklaven gern ägypägyptischen Licht- babylonischen
während der Exil-Demütitische Namen.
gung, von zurückgebliebeDass eine solche Bau- gottes Aton, der
sklavenabteilung sich der
„alles Bestehende
Fron entziehen wollte und
* Verlag C. H. Beck, München; 128
von Ägyptern mit Streitwa- erschafft“.
Seiten; 7,90 Euro.
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nen Gelehrten in Jerusalem schriftlich fixiert. Aber das ändert nichts daran, dass
für das Gedächtnis der Menschheit die biblische Verbindung der Mose-Gestalt mit
den Geboten unauflöslich bleibt.
Die Mose-Story dürfte, wie Homers
„Ilias“ und „Odyssee“ oder das mittelhochdeutsche „Nibelungenlied“, eine Legende mit historischem Kern sein. Komplett legendär ist schon die Rettung des
Kindes im wasserdicht gemachten Korb auf
dem Nil. Der Pharao hatte befohlen, den Israeliten, die sich stark vermehrt hatten und
aus deren Reihen er ein Attentat befürchtete, die männlichen Erstgeborenen wegzunehmen und diese zu töten (dieses Motiv wird, bezogen auf Herodes, im Neuen
Testament variiert).
Als die levitische Sklavin ihren drei Monate alten Sohn, so schreibt das Alte Testament, vor den ägyptischen Häschern
„nicht mehr verborgen halten konnte,
nahm sie ein Binsenkästchen, dichtete es
mit Pech und Teer ab, legte den Knaben
hinein und setzte ihn am Nilufer im Schilf
aus. Die Tochter des Pharao kam herab,
um im Nil zu baden“. Der Knabe weinte,
sie bekam Mitleid mit ihm. „Und sie sagte:
Das ist ein Hebräerkind.“ Sie akzeptierte
ihn als Sohn und nannte ihn Mose.
Diese Anfangserzählung erinnert an die
Sargon-Legende, einen „zentralen Text der
neuassyrischen Herrscherlegitimation“
(Eckart Otto). Er beginnt so: „Sargon, der
starke König von Akkad bin ich … Mein
AKG
Titel
Zehn-Gebote-Darstellung von Lucas Cranach dem Älteren (Wittenberg, 1516): Eine moralische Kehre, sensationell wie ein Komet
Geburtsort ist Azupiranu, der am Euphratufer liegt. Meine Mutter, eine Hohepriesterin, wurde mit mir schwanger und gebar
mich im Verborgenen. Sie legte mich in
ein Schilfkästchen. Mit Bitumen dichtete
sie meine Behausung ab und setzte mich
am Ufer des Flusses aus, der mich überspülte. Der Fluss trug mich fort … Akki,
der Wasserschöpfer, zog mich heraus …
zog mich als Adoptivkind groß.“ Sargon
wird Gärtner, die Göttin Ischtar verliebt
sich in ihn, er wird König.
Exilhebräer könnten durchaus diese assyrische Geschichte aus dem 1. Jahrtausend vor Christus zum Vorbild ihrer MoseErzählung genommen haben. Sargon ist
ein uneheliches Kind, seine Mutter von hohem Adel. Das spricht für eine Variante,
die nicht von der Bibel, aber von Thomas
Mann, nach außerbiblischen Quellen,
genüsslich im Altväter-Tonfall erzählt wird:
„Ramessu’s, des Pharao’s, zweite Tochter,
ergötzte sich mit dienenden Gespielinnen
… in dem königlichen Garten am Nil. Da
wurde sie eines ebräischen Knechtes gewahr, der Wasser schöpfte, und fiel in Begierde um seinetwillen … für Pharao’s
Tochter war er ein Bild der Schönheit und
des Verlangens, und sie befahl, dass man
ihn zu ihr einlasse in einen Pavillon; da
fuhr sie ihm mit dem kostbaren Händchen
ins schweißnasse Haar, küsste den Muskel
seines Arms und neckte seine Mannheit
auf, dass er sich ihrer bemächtigte, der
Fremdsklave des Königskindes.“ Wenig
später wird der Liebhaber getötet, doch
nach neun Monaten bringt die Tochter des
Pharaos einen Jungen zur Welt, den die
dienenden Frauen erst im Schilf verbergen
und dann wiederfinden.
Der im Haus des Pharaos Großgewordene erschlägt eines Tages einen Ägypter,
weil der einen Hebräer, vielleicht einen
Bauleiter, verprügelt hat. Die Tat kommt
dem König zu Ohren, er will Mose umbringen lassen. Mose flieht in die Wüste
nach Midian. Dort verteidigt er an einem
Brunnen die Töchter des Priesters Reguël,
die von fremden Hirten angepöbelt und
belästigt werden. Der Vater der Mädchen
zeigt sich dankbar und gibt Mose eine seiner Töchter zur Frau, die schöne Zippora.
Sie haben bald einen Sohn: Gerschom.
Neben Zippora gibt es noch eine dunkelhäutige Geliebte, Tharbis, irgendetwas
zwischen Prinzessin und Kurtisane. Sie soll
Mose später die staubige Exodus-Qual in
der Wüste versüßt haben. Thomas Mann:
„Zweifellos hatte sie schon manchen
Mann erkannt, und dennoch nahm Mose
sie an sich als Bettgenossin. In ihrer Art
war sie ein prachtvolles Stück, mit Bergesbrüsten, rollendem Augenweiß, Wulstlippen, in die sich im Kuss zu versenken ein
Abenteuer sein mochte, und einer Haut
voller Würze.“ Moses Familie, besonders
Zippora, hasste die „Bett-Mohrin“ (Thomas Mann).
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Mose hütet fortan das Vieh seines
Schwiegervaters, bis sich ihm eines Tages
Gott im brennenden Dornbusch offenbart:
„Ich bin, der ich bin.“
Was ist über dieses galaktische, auch galaktisch einfache Wort alles spekuliert worden. Jahwe offenbare sich als „der Seiende
schlechthin“, heißt es etwa in Mircea Eliades
„Geschichte der religiösen Ideen“, Jahwe,
der alles, was ist, umfasse, schaffe und repräsentiere. Eigentlich besagt der einer heidnischen Zauberformel nicht unähnliche,
tautologische Spruch bloß: Komme mir nicht
zu nahe, ich entziehe mich dir und jeder
bildhaften oder namentlichen Eingrenzung.
Es steckt in diesem „Ich bin, der ich bin“
auch ein trotziges „und nichts anderes“:
„Ich bin Jahwe, und keiner sonst“, heißt es
entsprechend beim Propheten Jesaja.
Der lodernde Dornbusch-Jahwe fährt
fort: „So sag zu den Israeliten: Jahwe, der
Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der
Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich
zu euch gesandt.“ Mose erhält den Auftrag, die Hebräer „aus dem Elend Ägyptens herauszuführen … in ein Land, in dem
Milch und Honig fließen“. Der Auftrag der
Aufträge: Die Hebräer-Identität stützt sich
auf diesen Exodus aus Ägypten. Mose
kehrt denn auch nach Ägypten zurück.
Sein redegewandter Bruder Aaron wird
sein Pressesprecher: sein Propagandist.
Mose und Aaron bedrängen den Pharao, dem Volk die schwere Arbeit am Bau
155
Titel
s
Tigr
i
Euphrat
Babylon
AN
Alexandria
KANA
Mittelmeer
Ur
Persischer
Golf
Jerusalem
Über den Auszug der Hebräer aus Ägypten berichtet
der römische Historiker Tacitus (etwa 55 bis circa 116 nach
Christus) sehr viel nüchterner
als die Bibel. In seinen
berühmten „Historiae“ ist zu
lesen: Ägypten wird von einer
Seuche heimgesucht, die körperliche Missbildungen zur Folge hat. Pharao Bokchoris befragt das Orakel, ihm wird befohlen, das Land von jener
fremden Rasse („genus“), die
den Göttern verhasst sei, zu
„reinigen“. Die Juden werden
in die Wüste gejagt.
Mose hält den Haufen zusammen und organisiert die Etablierung des Jahwe-Glaubens
als Gegenreligion („novus ritus“), festigt damit auch den eigenen Führungsanspruch, bringt
die Vertriebenen nach Palästina
und gründet Jerusalem. Tacitus
charakterisiert die neue Religion
so: „Die Ägypter verehren viele Tiere und monströse Bilder;
die Juden kennen nur einen
Gott und diesen nur mit dem
Geist. Sie betrachten solche, die
Bilder von Gott nach menschli- Tempel von Ramses II. in Abu Simbel, Sargdeckel aus Echnatonchem Vorbild herstellen, als unfromm: Das höchste und ewige Wesen ist scheibe („Aton“), galt bereits als Schöpfergott, der durch Licht und Zeit „alles
für sie undarstellbar und unendlich.“
Als Ägypter steht Mose – diese Version Bestehende erschafft“. Kanaan war zur
bevorzugt Sigmund Freud in seinem Buch Echnaton-Phase ägyptisch verwaltet.
Freud nimmt an, das Volk habe, Mose
„Der Mann Moses“ (1939) – in dem dringenden Verdacht, er habe den im 14. Jahr- zum Trotz, den rustikalen Kriegsgott
hundert vor Christus von Pharao Ameno- Jahwe dem vergeistigten Aton vorgezogen,
phis IV., der sich selbst „Echnaton“ nann- der dann aber doch, bedingt durch die späte, durchgesetzten bilderfeindlichen Aton- tere Verklärung des Mose, das Verständnis
Kult wiederbelebt – eine monotheistische, von Jahwe nachträglich veredelt habe. Für
esoterisch-sinnliche Lichtreligion. Aton, Freud gehört auch dies zur typischen „Wiesymbolisiert durch die abstrakte Sonnen- derkehr des Verdrängten“.
SIMEONE / BILDAGENTUR HUBER
zu ersparen, zunächst für einige Tage, an
denen es seinem Gott Opfer darbringen
wolle. Als der Pharao ablehnt, wird er
schließlich mit den zehn Plagen erpresst,
die Jahwe, der Schutzgott der Hebräer,
ihm schickt: Frösche, Stechmücken, Heuschrecken, Krätze, Hagel, Finsternis, Blut
im Nil und anderes, bis Jahwe schließlich,
weil der Pharao stur bleibt, als „Verderber“ die männlichen Erstgeborenen der
Ägypter tötet. Das religiöse Israel gedenkt
dieser Bestrafungsaktion, vor der die Erstgeborenen der Hebräer durch Lämmerblut
an Türpfosten geschützt werden, im Pessachfest und verwandelt so eine uralte
Frühlingsfete von Hirten in ein Ereignis
der Heilsgeschichte.
Der Ägypterkönig gibt endlich nach.
Mose bezwingt den Pharao, führt sein Volk
durch das Meer und, immerhin 40 Jahre
lang, durch die Wüste.
Die stolzen Mose-Leute – was für ein
elender Haufen! Das „heilige Volk“ war lange versklavt und ist ganz und gar wild und
grob. Thomas Mann: „Vorläufig waren sie
nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch
bekundeten, dass sie ihre Leiber einfach ins
Lager entleerten, wo es sich treffen wollte.“
Hier tritt Mose dann als der mythische Erzieher auf, der dem Sklavenvolk die – nach
dem Sinn für den „Unsichtbaren“ und der
Erfindung der Schrift – drittwichtigste
Grundlage der Kultur beschert: Hygiene.
Neben dem Jahwe-Gott wird die Vorschrift,
sauberer zu sein (und nur Entsprechendes
zu essen) als andere, ein elementares Motiv
der hebräischen Auserwähltheit.
Ein Gott, drei Religionen
Berg Sinai
Die Wurzeln des Monotheismus
biblische Daten
ÄGY PTEN
Ro
Medina
s
te
M
ee
r
Mekka
Biblische Urgeschichte
Abraham, zentrale Figur des Alten Testaments, zieht
auf Gottes Geheiß nach Kanaan, um dort ein neues
Volk zu gründen.
Judentum, Christentum und Islam sehen ihn als
Urvater ihrer jeweiligen Religion.
1364 bis 1347 v. Chr.
In Ägypten herrscht Amenophis IV. (Echnaton).
Er gründet den Kult um den Sonnengott Aton –
Vorläufer des monotheistischen Glaubens.
um 1250 v. Chr.
Mose führt das unter Ramses II. versklavte Volk Israel
aus der ägyptischen Gefangenschaft. Auf dem Berg
Sinai nimmt er die Zehn Gebote entgegen.
156
ca. 1004 bis 964 v. Chr.
König David erobert Jerusalem und errichtet sein
legendäres Großreich.
965 bis 926 v. Chr.
Bau des ersten Jerusalemer Jahwe-Tempels unter
Salomo
587/586 v. Chr.
Zerstörung des Tempels durch die Babylonier unter
Nebukadnezar II. Beginn der Babylonischen Gefangenschaft (bis 538)
7. Jahrhundert v. Chr.
Niederschrift der Mose-Erzählungen
6. Jahrhundert v. Chr.
Die Zehn Gebote werden zusammengestellt und in
das 5. Buch Mose integriert.
63 v. Chr.
Pompeius erobert Jerusalem, Beginn der römischen
Vorherrschaft über Palästina.
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um 4 v. Chr.
Geburt Jesu
um 70 n. Chr.
Das Markus-Evangelium wird geschrieben.
391 n. Chr.
Das Christentum wird Staatsreligion im Römischen
Reich.
622 n. Chr.
Auszug des Propheten Mohammed von Mekka
nach Medina. Die Zeitrechnung des Islams beginnt.
bis 656 n. Chr.
Schriftliche Fixierung des Koran-Textes. Viele Figuren
des Alten Testaments, besonders Abraham und
Mose, finden sich im Koran wieder. „Er offenbarte
dir die Schrift mit der Wahrheit und bestätigte
hiermit sein schon früher gesandtes Wort. Er offenbarte schon vorher die Tora und das Evangelium
als Richtschnur für die Menschheit, und nun offenbarte er die Unterscheidung“ (Sure 3, Vers 3 – 4).
BEN BEHNKE
Grab: Die Figur des Mose bündelt die altägyptischen Wurzeln jüdischer Identität
stammung andichten.“ Einen gebürtigen
ägyptischen Prinzen hätten die Juden nicht
als Freiheitshelden akzeptiert.
In der Religionshistorie durchgesetzt hat
sich diese Theorie nicht. Immerhin bestreitet nicht einmal Krauss, der so vieles
an der Mose-Geschichte „erdichtet“ findet,
dass es den Propheten Mose gegeben hat.
Nach dem Durchzug durchs Meer ruft
Mose: „Wer ist wie du unter den Göttern,
Jahwe?“ Daraus folgt: Das erste Gebot
(„Ich bin Jahwe“ gilt im Judentum schon
als erstes Gebot, sonst meist
Präambel), keine anderen Götter zu verehren, schließt die
Existenz dieser anderen Götter
nicht grundsätzlich aus. In dieser frühen Phase seiner Entwicklung ist der jüdische Glaube
zwar exklusiv auf Jahwe gerichtet, aber noch kein echter
Monotheismus.
Das wurde er erst im babylonischen Exil, als Kompensation
für den Verlust von Tempel und
Königtum: Als der Prophet literarisch Umrisse gewann, hatte die
babylonische Großmacht gerade,
um 586 vor Christus, Tempel und
Stadt Jerusalem zerstört und das
Davidsche Königtum abgeschafft.
Die Judäer dieses Jahrhunderts
blieben ihrem Jahwe trotzig treu,
ERICH LESSING / AKG
Der Berliner Ägyptologe Rolf Krauss
(„Das Moses-Rätsel“, 2001) versucht zu beweisen, dass hinter wesentlichen Zügen
der Mose-Gestalt der ägyptische EmpörerPrinz Amun-masesa steckt. Daraus habe
dann ein „national-religiöser Dichter“, der
„Jahwist“, den Gründungsmythos der jüdischen Religion und des „heiligen Volkes“
gebastelt. Krauss: „Als der Jahwist über
den ägyptischen Empörerkönig Amun-masesa alias Moses stolperte, musste er dem
gebürtigen Ägypter eine hebräische Ab-
obwohl im alten Orient die Gottheit des Siegers vom Verlierer übernommen werden
musste. Als der letzte Garant ihrer nationalen und geistigen Identität wurde Jahwe nun
zum Allein-Gott der Juden.
Die wiederholte biblische Rede vom
„Sklavenhaus“ Ägypten und seinem Pharao zielt zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wird, mehr auf die aktuellen Unterdrücker als auf die zeitlich eher entrückten Herren vom Nil. Ägypten dient
längst „verdeckt“ als „Synonym für Assyrien“, wie Eckart Otto belegt.
Mose darf zwar Gottes Gesetz in Empfang nehmen, und das gleich zweimal – die
erste Tafel-Edition hat er, im Zorn über das
Goldene Kalb, das seine Leute in seiner
Abwesenheit errichteten, zerschmettert, es
gibt danach noch eine zweite; aber das Gelobte Land darf der charismatische Führer
nur noch sehen, nicht mehr betreten.
Nachdem er es vom Berg Nebo aus,
über den Jordan hinweg, geschaut hat,
muss er sterben. Entweder bringen ihn die
eigenen Leuten um, so Freuds Version –
nach 40 Jahren mehr oder weniger irrer
Wüstenwanderung und ständiger spiritueller Überforderung nicht verwunderlich.
Oder er wird gerichtet „durch den Mund
Gottes“, einen göttlichen Kuss, wie es in
einer Quelle heißt. Weil er am Ende doch
zu oft seinem Gott misstraut hat? Weil ein
mystischer Asket, ein auf sich zentrierter
Geist einfach nicht an das Ziel seiner Sehnsucht gelangen darf?
Der Mythos des Asketen könnte erklären, wieso ausgerechnet des Allerhöchsten Musterknabe am Ende so abgestraft
wird. Michelangelos Mose-Skulptur hat
diesen ernsten Rätselblick in die Ferne, ins
Gelobte Land und auf den baldigen eigenen Tod wunderbar eingefangen. Es ist der
Blick des Geistes.
Moses General Josua soll Jericho dann
erobern. O-Ton Jahwe: „Mein Knecht
Mose ist gestorben; mach dich also auf den
Weg, und zieh über den Jordan, hier mit
diesem ganzen Volk in das Land, das ich
ihnen, den Israeliten, geben werde.“
Josua zögert nicht. Da sich der Jordan
stromaufwärts vor der Bundeslade staut,
jenem Wanderheiligtum mit den Gesetzestafeln, gelangen Josuas Leute trockenen Fußes durch das Flussbett (wie beim
Exodus durch das Meer). Sie umstellen Jericho. Niemand kann heraus oder hinein.
Josuas Männer rennen mit Kriegsgeschrei,
während die Priester ihre Widderhorn-Posaunen blasen, gegen die älteste befestigte
Stadt der Welt. Und siehe da: Die Mauern
stürzen in sich zusammen. Nachhilfe durch
ein kleines Erdbeben?
„So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der
Stadt war, dem Untergang, Männer und
Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“ Die Einwohner werden mit-
Israel am Sinai*
Wolken und Hörnerschall
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* Gemälde von Uriel Birnbaum.
157
LIFE
samt ihren Haustieren hingemetzelt und als Ruhetag, zwischen der Gerstenernte
verbrannt. Bis auf die Hure Rahab und (Ostern) und der Weizenernte (Pfingsten).
ihre Angehörigen. Die Frau hatte vor der Hier verraten die Zehn Gebote deutlich ihre
Eroberung zwei Kundschaftern Josuas Un- Herkunft aus einer bäuerlichen Kultur. Sie
terkunft gewährt.
sollen helfen, die Grundlagen des stolzen
Die ungewöhnliche Brutalität dieser An- Landlebens zu sichern. Dem dient auch das
kunft im Gelobten Land, kein gutes Omen Gebot, die Eltern zu ehren und – in erweifür Israel, erklärt sich nicht etwa daraus, terter Fassung – die Alten zu versorgen.
dass Mose nicht mehr auf Josua aufpassen
Das Sabbatgebot bildet die Brücke zwikann. Mose selbst war nicht zimperlich: schen dem direkten Bekenntnis zu Gott
Unter seiner Führung befördern die wan- und dem Verhaltenskodex gegenüber den
dernden Juden, als sie zur Oase Kadesch Menschen. Die fünf eindeutig mitmenschkommen, deren männliche Bewohner ins lichen Vorschriften – nicht morden, nicht
Jenseits; und als Mose, nach 40 Tagen Got- ehebrechen, nicht stehlen, nicht verleumtesmeditation auf dem Berg Sinai, die heid- den, das Eigentum des Nächsten respeknische Bescherung im Tal, das Anbeten des tieren – sind ursprünglich ein einziges
Goldenen Kalbs samt Wein, Weib und Ge- „Wort“ der Nächstenliebe (Dekalog heißt
sang, beenden und bestrafen will, befiehlt auch: „zehn Worte“). Warum wurden aus
er seinen Gefolgsleuten: „Jeder lege sein diesen sechs schließlich doch zehn?
Schwert an. Jeder erschlage seinen Bruder,
Dahinter wirkt die Magie der Zahl Zehn:
seinen Freund, seinen Nächsten.“ Und es zehn Finger! Der griechische Philosoph
fielen, resümiert die Bibel kühl, „an jenem Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) nennt
Tage gegen dreitausend Mann“.
zehn „Kategorien“, die das, was ist, prinDie wackere Mose-Schar führt keinen zipiell umgrenzen, etwa „Substanz“ und
gewöhnlichen, sondern einen „heiligen „Quantität“, „Ort“ und „Zeit“. Die PythaKrieg“. In Wahrheit ist es ja Jahwe, der goräer halten die Zehn für eine ideale Zahl
für Israel viele Völker aus dem Weg räumt: und damit für einen entscheidenden BauHetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaani- stein des Wirklichen. Was diese antiken
ter, Perisiter, Hiwiter, Jebusiter. „Wenn der Denker fasziniert: Die Zahl Zehn enthält
Herr, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie die gesamte Natur der Zahlen. Wir zählen
schlägst, dann sollst du sie der Vernich- bis zehn und beginnen wieder mit der eins:
tung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit 11. Für die alten Griechen spiegelt die in
ihnen schließen, sie nicht verschonen.“ zwei gleichwertige Hälften teilbare Zehn
Der Gott des jeweils Besiegten wird na- die Symmetrie des Universums.
mentlich nicht mehr erwähnt: „Denn ich
Die Zehn ist das Merkmuster, der Ordbin ein eifersüchtiger Gott.“
nungsschlager schlechthin: Troja wird von
Mose, der Mordbrenner, der zugleich den den Griechen zehn Jahre belagert; Mose
Menschen feierlich das Verbot zu morden weilt nach seinem Sieg über die Äthiopier
überbringt – ein erstaunlicher Widerspruch. zehn Jahre in deren Land; den Ägyptern
Das Buch Exodus gebietet: „Wer einen schickt sein Schutzgott Jahwe zehn PlaMenschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit gen. Wenn die Zahl Zehn also ein Baudem Tod bestraft.“ Mit Todesstrafe werden stein des Weltgebäudes ist, dann ist der
auch Menschenraub (er ist ursprünglich mit Dekalog ein Weltgesetz.
dem Gebot „Du sollst nicht
Spätere Deuter der Bibel
stehlen“ gemeint), Sodomie
sagen, die Zehn Gebote seiund Verfluchung der Eltern
en dem Menschen „ins
geahndet. Auch „eine Hexe
Herz geschrieben“ (Eckart
sollst du nicht am Leben lasOtto). Thomas von Aquin,
der große Philosoph des
sen“. Fast kurios wirkt diese
hohen Mittelalters, meint
Vorschrift: „Wenn ein Rind
sogar, der Dekalog, der
einen Mann oder eine Frau
so stößt, dass der Betreffenalle Sittengebote des Alten
Testaments zusammenfasde stirbt, dann muss man
se, entspreche dem Naturdas Rind steinigen, und sein
recht.
Fleisch darf man nicht essen; der Eigentümer des
Das Judentum findet die
Rinds aber bleibt straffrei.“
Zehn Gebote nicht wichtiger als die ganze Tora mit
Wer ein Rind steinigt, beihren 613 Lebensvorschrifstraft es und spricht ihm daten. Aber indirekt zeigt
mit eine gewisse Fähigkeit Thomas Mann, Schriftsteller
man dann doch Respekt
zu, das Unglück zu verantvor der Zehn-Zahl: In den
worten. Im Gebot, den Sab- Moses „Bettgenos613 (hebräischen) Buchbat zu heiligen, zeigt sich sin“ war „ein
staben der Zehn Gebote
ein Respekt vor Tieren:
sind nach alter RabbinerAuch Rind und Esel sollen prachtvolles Stück,
lehre die 613 Gebote der
am siebten Tag der Woche mit Bergesbrüsten
Tora vorgezeichnet. Und
„keine Arbeit tun“.
und einer Haut
was ist die Quersumme von
Der siebte Tag galt ur613? Zehn.
sprünglich nur zur Erntezeit voller Würze“.
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CINETEXT
Titel
Jesus bei der Bergpredigt (Szene aus dem Film
Auch der Koran kennt, in der 17. Sure,
ähnliche Gebote. Darunter diese: „Setze neben Gott keinen anderen Gott“; „Erweist
den Eltern Güte“; „Gib dem Verwandten,
ebenso dem Armen und dem Reisenden“;
„Lasst euch nicht auf Unzucht ein“; „Und tötet niemanden – es sei denn zu Recht“; „und
wandle nicht in Übermut auf der Erde“. Inhaltlich entsprechen die meisten KoranGebote denen der Bibel, doch die Form, die
Zahl Zehn, gilt nicht als wesentlich.
Im chinesischen Daoismus, der ethisch
mit dem Buddhismus eng verwandt ist, gibt
es fünf Gebote und zehn gute Taten, durch
die der Gläubige, ein Anhänger des aktiven Nichthandelns, Unsterblichkeit erlangt. Zu den zehn guten Taten zählt die
Pietät gegenüber den Eltern, das Mitleid
mit allen Dingen und Lebewesen. Dieser
Dekalog zielt nicht auf den „Bund“ mit einem persönlichen Gott, sondern auf gesellschaftliche Harmonie und die Unsterblichkeit des „Berufenen“.
Der Berufene meidet, das fordert eines
der fünf Gelübde, „das Heftige“, „das Üppige“, „das Großartige“. Der hitzige Mose
wäre kein Berufener gewesen. Wer sich gegen ihn stellt, der wird meist „mit dem Tod
bestraft“; den verfolgt Jahwe mit seiner
Rache bis in die vierte Generation. Die
höchste Strafe ist der „Zorn des Herrn“,
der den Delinquenten auch vernichtet.
Es droht Strafe, aber es lockt auch Lohn,
„damit du lange lebst und es dir gutgeht in
dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt“.
CINETEXT (L.); AKG (R.)
„König der Könige“, USA 1961), Mohammeds Himmelfahrt (persische Miniatur, 16. Jahrhundert): Feindesliebe oder Töten als „Vergeltung“?
Gott verspricht Bleibe und Wohlergehen an
einem Ort, den die Hebräer immer wieder
heftig vermissen werden: in der Heimat.
In der vom Verfasser des MatthäusEvangeliums ein halbes Jahrtausend später
komponierten „Bergpredigt“ spricht Jesus,
dessen Gestalt und Auftreten in manchem
der Mose-Figur nachgezeichnet ist, ausdrücklich die Gebote des Propheten durch.
Er bestätigt sie: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben.“ Und doch ändert er
einiges.
Jesus verbietet, anders als Mose, die
Ehescheidung, außer wegen „Unzucht“.
Denn wer seine Frau entlässt, der ist
schuld, wenn ein anderer die Ehe mit ihr
bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe. Kühner begründet
der Evangelist Markus das Scheidungsverbot: „Was aber Gott verbunden hat, das
darf der Mensch nicht trennen“ – denn der
Schöpfergott habe „Mann und Frau“ als
Paar „geschaffen“. Die Schärfe dieses
Scheidungsverbots erklärt sich auch daraus, dass die ältesten Propheten die Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk
im Bild des Ehebundes ausgedrückt haben. Es geht in der Rede vom Ehebund
eben um mehr als um den Ehebund.
Jesus nimmt das Sabbatgebot nicht übermäßig ernst (er heilt am Sabbat einem
Kranken die Hand), untersagt das Schwören generell, nicht bloß den Meineid (wie
Mose), und distanziert sich auch von etli-
chen Tora-Vorschriften zu reiner und unreiner Nahrung. Das Mordverbot des Mose
dagegen verschärft Jesus, indem er bereits
die Emotion zu zähmen versucht, die eine
Gewalttat auslösen kann: „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt“, der muss
vors Gericht. Er solle sich mit seinem Gegner vertragen.
Am weitesten geht Jesus über Mose hinaus, wenn er dem vom Propheten geforderten Kernkodex, Gottesglaube und
Nächstenliebe, die Feindesliebe hinzufügt.
Wie Luther übersetzt: „Liebt eure Feinde
und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ Und „wenn dich jemand auf deine
rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“. Evangelist Lukas ergänzt:
„Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das
Deine nimmt, von dem fordere es nicht
zurück. Was ihr wollt, das euch die Leute
tun sollen, das tut ihnen auch.“
Mit der Bergpredigt „transzendiert“ Jesus „die vorgegebene Tora“ der Juden
deutlich, so der Erlanger Neu-Testamentler
Jürgen Roloff. Aber nur, um ihre ursprüngliche Unbedingtheit wiederzubeleben. Diese Radikalisierung Jesu erklärt
sich, so Roloff, aus der fiebrigen Erwartung, die „Gottesherrschaft“ stehe unmittelbar bevor. Die Bergpredigt formuliert
eine Utopie: ein „von der unmittelbaren
Gegenwart Gottes bestimmtes Miteinander“ der Menschen. Zu Jesu Zeiten haben
dem allenfalls seine Jünger nachgeeifert.
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Für den vom Ende der Geschichte noch
etwas entfernten Alltag ist der Dekalog des
Mose weit praktikabler als die ziemlich radikale Bergpredigt. Vom Verbot, die Feinde einfach umzubringen, profitieren diese
schon genug. Müssen sie auch noch geliebt
werden?
Eine geheimnisvolle Fibel steht dem
Geist der Zehn Gebote erstaunlich nahe:
das „Ägyptische Totenbuch“, dessen
Sprüche viele Jahrhunderte vor dem Alten
Testament formuliert wurden und zur
Grabausstattung wohlhabender Bürger
gehörten. Vor der Reise durch die Unterwelt muss der Gestorbene, im Angesicht
von Totengott Osiris und 42 messerbewehrten Richtergottheiten, bekennen, welche Sünden er nicht begangen hat:
„Wohlan, ich habe das Leben dazu genutzt, das Gute zu vollbringen … ich habe
Speise gegeben denen, die bedürftig waren
… Beim Träger der Kher-Aha-Flammen,
ich habe nicht gestohlen! Bei der Nase von
Hermopolis, ich habe nicht betrogen! Beim
Verschlinger der Schatten, ich habe keinen
Menschen erschlagen! … Meine Eltern
habe ich in ein Leichentuch gehüllt … Die
Geier des Himmels habe ich gespeist, denn
es sind heilige Tiere … Ich habe an Orten
der Reinheit keine Unzucht getrieben.“
Nicht stehlen, nicht lügen, keine Menschen erschlagen, die Eltern ehren, den
Armen geben – hier wie dort formulieren
die ethischen Texte der alten Hochkulturen
ähnliche Prinzipien. In wesentlichen Zügen
159
Titel
Frauen heiraten, müssen sie allerdings auch
versorgen können. Es sind kriegerische
Zeiten mit großem Männermangel. Die Tötung neugeborener Mädchen, damals häufig, verbietet er ebenso wie die Verheiratung eines Mädchens gegen dessen Willen.
Den Zölibat, die Pflicht zur Ehelosigkeit,
lehnt Mohammed ab: „Sooft ihr das Werk
des Fleisches verrichtet, so oft gebt ihr ein
Almosen.“
Mohammed, zunächst ein Kamelhirte,
ist durch die Heirat einer 15 Jahre älteren
Kaufmannswitwe in die Oberschicht von
Mekka aufgestiegen und hat als Kaufmann
reichlich Gelegenheit zu reisen, auch nach
Palästina, wo er die Lehren der Juden und
Christen hört (lesen kann er sie nicht). In
einer Berghöhle offenbart ihm der Erzengel Gabriel die ersten Koranverse.
Zu Tieren ist Mohammed zartfühlend:
Tierliebe ist teilweise Pflicht, wie im Buddhismus (Jesus kümmert sich, anders als
Mose, nicht um Tiere). Eines Tages strebt
Mohammed fort zum Gebet. Auf einem
Ärmel seines Gewandes schläft eine Katze.
Mohammed schneidet sich den Ärmel halb
ab. Er will die Ruhe des schönen Tieres
nicht stören.
Er war ein eifriger Krieger, aber, nach
dem Sieg über Mekka, immerhin milde gegen seine Feinde von früher. Der islamische Gottesstaat, den er etablierte, erstreckte sich unter seinen Nachfolgern bis
Syrien, Ägypten, Persien, Südspanien, im
16. Jahrhundert gerieten auch große Teile
Indiens unter den Halbmond und 1683 um
ein Haar Wien.
Bei der Rechtfertigung oder Ablehnung
der Gewalt ist der Koran so widersprüchlich wie das Alte Testament. Es gibt wie im
Dekalog das Verbot, Menschen zu töten.
„Wer einen umbringt, nicht um zu vergelten oder weil dieser Verderben auf der
Jerusalemer Altstadt mit islamischem Felsendom
MÜLLER G.R. / SÜDDEUTSCHER VERLAG
geht es dabei um die Bedingungen eines
halbwegs zivilen Zusammenlebens von
Menschen in einer entwickelten Gemeinschaft. Sie würde am nackten Wolfsverhalten zugrunde gehen.
Umso brisanter, und bis in unsere Tage
folgenreicher, sind die Unterschiede bei
anscheinend gleicher Grundüberzeugung.
Am ehesten tolerieren der Koran und das
Alte Testament, obwohl sie das Morden
verbieten, das Töten sogenannter Gesetzesbrecher.
Wie Mose im Äthiopien-Feldzug und
nach dem Auszug aus Ägypten durch das
großzügige Beseitigen von Nahrungskonkurrenten und Bewohnern begehrter Orte
um sich schlägt, so erobert der Kaufmann
Mohammed, „der Gepriesene“, im Jahr
630 nach Christus von Medina aus seine
Heimatstadt Mekka: Sie wollte vorher seine Lehren nicht hören. Er nimmt die Kaaba in Besitz, bis dahin wohl auch von Christen genutzt und fortan die zentrale heilige
Stätte der Muslime, zu der sie einmal in
ihrem Leben pilgern müssen. Solange er in
Medina lebt, rechtfertigt Mohammed auch
die regelmäßigen Überfälle auf Karawanen
der Mekkaner. Schon das ist „Dschihad“,
Kampf um Beute für die eigenen Leute;
der Begriff meint auch den Kampf um die
Herrschaft des Einzelnen über seine Sinne.
Nach dem Sieg über Mekka ist Mohammed ein Herrscher, der ein größeres Heer
befehligt, die Steuern festlegt, gutes Essen,
angenehme Gerüche und schöne Frauen
liebt; er verfügt über einen prächtigen Harem mit Ehefrauen und Sklavinnen. Seine
Lieblingsfrau Aischa ist neun Jahre alt, als er
sie heiratet, die Tochter eines alten Freundes.
Die Liebe zu Frauen – das Paradies
schaut Mohammed „zu Füßen der Mütter“ – gibt er in reduzierter Form an seine
Gefolgsleute weiter. Sie dürfen bis zu vier
Mose und das Goldene Kalb (Passionsspiel Oberammergau, 2000): „Es fielen gegen 3000 Mann“
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Erde anrichtete, so sei es, als habe er alle
Menschen umgebracht. Wer andererseits
eines einzigen Menschen Leben rettet, sei
angesehen, als habe er das Leben aller
Menschen erhalten.“ Dieser Ausspruch
wird regelmäßig als Beleg dafür genommen, dass der Islam den Mord verbiete.
Das Töten als „Vergeltung“ und das Töten
„verderblicher“ Existenzen, wer das auch
sein mag, werden immerhin gestattet.
„Der wahre Muslim ist derjenige, dessen Zunge und dessen Hand kein Muslim
zu fürchten hat.“ Ähnlich der Nächstenliebe des Alten Bundes, kippt in diesem Prophetenwort Friedfertigkeit, die primär bezogen bleibt auf Glaubensgenossen, um in
Aggression gegen Außenstehende. Im Blick
auf „Ungläubige“ heißt es martialisch: „Tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt.“ Allah
selbst übt vernichtend „Vergeltung“ an
dem, der ihn beleidigt.
Mohammed, dessen Himmelfahrt von Jerusalem aus geschieht, betrachtet Jesus
(„Issa“) als Propheten, der auch beim Jüngsten Gericht auftreten wird. Doch wird Jesus,
so eine Version, den muslimischen Glauben
annehmen, heiraten und neben Mohammed
in Medina begraben. Danach haben die „Ungläubigen“ wirklich nichts mehr zu lachen:
Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen dem Islam und dem tödlichen Schwerthieb.
Prophet Mohammed ist, wie Mose
und Jesus, ein Nachfahre des Stammvaters
FRIEDRICH STARK
und jüdischer Klagemauer: Heilige Stätte der abrahamitischen Religionen
GETTY IMAGES
Abraham („Ibrahim“). Abraham zeugte Gebote verstoßen. Bestritten wird zudem,
mit seiner ersten Frau Hagar, einer ägypti- dass Jesus gekreuzigt wurde. Die meisten
schen Sklavin, Ismael, den Ahnherrn der islamischen Länder haben aber christliche
arabischen Stämme; seine zweite Frau Sara Kulte stets toleriert. Christen hatten ihr eigebar ihm Isaak, den Ahnherrn der jüdi- genes Recht, mussten indes Steuern zahlen,
schen Stämme. Wahrhaftig eine einzige, und das war nützlich, da Muslime traditiouralte Familie, die sich in Palästina zur- nell von Steuern befreit sind.
zeit wieder die Köpfe einWie ist es zu erklären,
schlägt.
dass seit den barbarischen
Kreuzzügen im Mittelalter
Allah, die arabische Überdas heilige Dreieck zwisetzung für „Jahwe“, ist der
schen Judentum, Chriseinzige, wahre, ewige, untentum und Islam nicht
teilbare Gott, groß und
mehr zur Ruhe kommt?
barmherzig. „Unser Gott
Dass immer wieder Diffaund euer Gott ist ein einimierung, Misstrauen, Hass,
ger Gott“, sagt Mohammed
Mord und Totschlag eben(Sure 29, 46) zu den Chrisdort zum Alltag gehören,
ten, dem „Volk der Schrift“,
wo eigentlich die höchste
mit dem Muslime schon desMoral der Nächstenliebe
halb „nicht streiten“ sollen,
Gesetz wurde und gepreweil auch Jesus, wie Mose,
digt wird? Ist „Feindliche
Muslim ist, einer, der dem
Brüder“ eben doch die
Islam (wörtlich: „Ergebung
Steigerung von „Feinde“?
in Gott“) zugehört. Allah Mircea Eliade, Religionshistoriker
Der Religionshistoriker
zeigt sich gnadenlos vor allem gegen die Vielgötterei „Die Intoleranz der Mircea Eliade sieht es so:
„Die Intoleranz und der
heidnischer Araber. An den monotheistischen
Christen wird kritisiert, dass
Fanatismus, die für die
sie Gott in drei Personen Religionen hat
Propheten und Missionare
aufteilen; dass sie sich, über Vorbild und Rechtder drei monotheistischen
Jesus, ein Bild von Gott maReligionen charakteristisch
fertigung im
chen und damit sogar gegen
sind, haben ihr Vorbild
das dritte der eigenen Zehn Beispiel Jahwes.“
und ihre Rechtfertigung
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im Beispiel Jahwes.“ Eliade hat recht, bis
auf die Rede von „Missionaren“. Denn die
Juden, anders als Christen und Muslime,
wollten nie andere Völker missionieren.
Aber ihr Gott ist „eifersüchtig“, er duldet keinen anderen neben sich. Ebendies
hat Allah von Jahwe gelernt. Also gilt die
Kampfmoral: Ich oder die anderen. Mein
Gott ist allmächtig und einzig, also bin ich
es auch gewissermaßen. Das Volk, das sich
als „besonderes Eigentum“ seines Gottes
versteht, besitzt, so war es anfänglich, umgekehrt auch diesen Gott exklusiv. Ihm
aber gehört die Welt, die er schuf.
Was folgt daraus? Wenn nicht die Weltherrschaft, dann zumindest eine religiöse
Allmachtsphantasie, ein spiritueller Größenwahn. Sobald die Anhänger einer konkurrierenden Religion wie des Islam genau so ausschließend auftreten, folgt daraus leicht ein einziges Hauen und Stechen.
Die Kinder der jeweiligen Allein-Götter
verfolgen einander nach dem Motto „Denk
wie ich oder stirb!“; Voltaire zitiert es als
den Leitspruch aller Fanatiker.
Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, 67, hat in seinem wegweisenden Buch
„Moses der Ägypter – Entzifferung einer
Gedächtnisspur“ (1998) die „mosaische Unterscheidung“ zwischen wahr und unwahr in
der Religion, zwischen Juden und Gojim,
später dann Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubigen für eine Welt „voller
Konflikt, Intoleranz und Gewalt“ verantwortlich gemacht. Er sah diese Figuration
im ägyptischen Echnaton-Kult, der die anderen Götter verwarf, vorgezeichnet. Daraufhin wurde er verdächtigt, er mache, da er
den Himmelsmonopolisten Jahwe für den
Hass gegen ihn in die Pflicht nehme, die Juden selbst für den Antisemitismus verantwortlich. Somit sei er – die naheliegende
Suggestion – tendenziell selbst Antisemit.
So argumentierte in einem Zeitungsbeitrag der Berliner Judaist Peter Schäfer. Der
Münchner Theologe Friedrich Wilhelm
Graf, 57, geht in seinem neuen Buch „Moses Vermächtnis. Über göttliche und
menschliche Gesetze“ nicht so weit*. Aber
Assmann, meint er, übersehe, dass religiöse Symbolsprachen „sehr viel fluider, variationsreicher und deutungsoffener“ seien, als die These vom militanten „Trennungsdenken“ Jahwes behaupte. Der
Mose-Gott sei kein Mono-Block, sondern
sehr wohl „pluralismusfähig“.
Aber was ist, wenn Graf die Liberalität
der Monotheisten über- und das FreundFeind-Denken des Mose-Gottes unterschätzt? Dann liegt der Ägyptologe doch
sachlich richtig. Dann wiederum ist auch
ein neues Kapitel aufgeklärter Religionskritik fällig, vergleichbar jener marxistischen, die im 19. Jahrhundert zu Recht beklagte, das christliche Heilsversprechen
fürs Jenseits sei „Opium des Volks“, das
sich ausbeuten lasse.
* Verlag C. H. Beck , München; 100 Seiten; 12 Euro.
161
Titel
AKG
GAMMA / LAIF
orthodoxen Judentums fordert, und sei es
nur im Sinne der Sanftmut des Rabbi Jesus, ist bestimmt nicht gleich ein Antisemit.
Er macht sich bloß Gedanken über einen
möglichen Weltfrieden, den die Religionen
mitbegründen, aber eben leider auch immer neu verhindern können.
Das hat Jan Assmann versucht. Er
schwärmt vom prinzipiell mit Gott und der
Welt versöhnten, optimistisch gestimmten
„Kosmotheismus“ der Ägypter, dem
Glauben an die Welt als Körper Gottes
oder der Götter. Der von Juden, Christen
und Muslimen verteufelte antike Polytheismus ist, so Assmann, wegen der „gegenseitigen Übersetzbarkeit“ seiner Gottheiten eine große kulturelle Toleranzleistung. In der Tat haben ja die Römer
nicht etwa den obersten Griechengott
Zeus abgesetzt und seine Anbeter totgeschlagen, sie haben bloß gesagt, Zeus
sei Jupiter.
Etwas von dieser listigen Toleranz
steckt in der „Erklärung zum Weltethos“,
die auf Betreiben des Schweizer TheoloFriedensgebet der Weltreligionen (Assisi 2002): „Niemand darf im Namen Gottes töten“
gen Hans Küng 1993 in Chicago formuliert
wurde, im Namen eines „Parlaments der
Die marxistische Religionskritik hat die kaum besser als Mose: Bei der im Johan- Weltreligionen“. Aus den moralischen
Religion am Ende kaum geschwächt, son- nes-Evangelium beschriebenen Tempel- „Kernwerten“ aller großen Religionen
dern zu einem subtileren Verständnis des reinigung würden „die“ Juden als Geld- wurde ein gemeinsamer Bestand gebildet,
Himmelreichs gezwungen: Es wurde zu ei- wechsler und Viehhändler von ihm ver- der, so hofft Küng, eine neue, friedlichener innerweltlichen Heilsdimension, die unglimpft, geschlagen und verjagt. Diese re „Weltordnung“ vorbereiten könne. Die
nicht erst im Jenseits, nach dem Tod, rele- Passage habe auch Hitler gemocht.
konkreten Verbote des Dekalogs (abgeseIn einem Punkt hat Onfray, ein amü- hen vom Bilderverbot) werden aktualivant ist. „Himmel“ meint ein spirituelles
Einssein mit sich, Gott und der Welt, das santer „Philosoph der Lebensfreude“, siert (es gibt ein Sachlichkeitsgebot für
der Mensch nach christlicher Meinung durchaus recht: Christentum, Judentum Massenmedien) und teilweise auch gemilals göttliches „Seelenfünklein“ (Meister wie Islam enthalten jede Menge irritieren- dert, wenn etwa das Ehebruchverbot sich
Eckart) von Anfang an in sich trägt, aber der Widersprüche und haben recht unbe- verwandelt in die „Verpflichtung auf eine
nur allzu leicht an die vielen Reize dieser denklich den „gerechten Krieg“ (Augusti- Kultur der Gleichberechtigung“ und der
Welt verliert. Dieses Fünklein kann schon nus) gegen Feinde gerechtfertigt, die im „Partnerschaft von Mann und Frau“. „Jeim Leben zünden. Im Tod könnte es, so Grunde nur Andersdenkende waren.
der Mensch muss menschlich behandelt
Gewiss darf auch ein Gottesgläubiger werden“, heißt es zu Beginn dieses Tuder Glaube, ein ewiger Zustand werden.
Eine der marxistischen Religionskritik sich kriegerisch gegen Welteroberer wie gendkatalogs. Es gibt auch eine „Verähnliche Attacke hat kürzlich der französi- Dschingis Khan oder Adolf
pflichtung auf eine Kultur
sche Philosoph Michel Onfray, 46, mit der Hitler verteidigen. Aber
der Solidarität und eine
Streitschrift „Wir brauchen keinen Gott – von dieser außergewöhngerechte WirtschaftsordWarum man jetzt Atheist sein muss“ ge- lichen Sorte waren nur die
nung“.
führt*. Über das Mordverbot schreibt er: wenigsten „gerechten KrieAlles gut und schön.
Allein mit diesen Worten könne man „schon ge“ der Geschichte. Der
Aber braucht man für Reeine ganze Ethik gründen: Gewaltlosigkeit, spanische Philosoph Fergeln dieser Art überhaupt
Frieden, Liebe, Vergebung, Milde, Toleranz, nando Savater meint in seieine religiöse Begründung?
ein ganzes Programm unter striktem Aus- nem Buch „Die Zehn GeWohl nicht. Diesem „Weltschluss von Krieg, Gewalt, Armee, Todes- bote im 21. Jahrhundert“
ethos“ kann jedermann zustrafen, Schlachten, Kreuzzügen, Inquisiti- zu wissen**: In 5500 Jahstimmen, der – mit dem
on, Kolonialismus, Atombomben, Mord … ren Historie gab es 14 513
Philosophen
Immanuel
alles Dinge, die von den Anhängern der Kriege, in denen 1240 MilKant (1724 bis 1804) – den
Bibel jedoch seit Jahrhunderten praktiziert lionen Menschen massaMenschen als „vernünftiges
werden, und zwar ungeniert und sogar im kriert wurden. Und „ein
Wesen“ betrachtet, als
Namen dieser berühmten Heiligen Schrift“. Großteil“ dieser Kriege
„Zweck an sich selbst“,
dessen „Würde“ alle „bloOnfray sagt, das Mordverbot meine habe „Anfeindungen auf- Immanuel Kant, Philosoph
ßen Naturwesen“ überragt,
bloß: „Du als Jude sollst keine Juden tö- grund unterschiedlichen
die ja als Mittel zu Zwecken
ten.“ Das Massaker der Mose-Mannen Glaubens“ zum Grund „Handle so, dass
benutzt, die geschlachtet
etwa bei der Eroberung Jerichos könne gehabt, wobei Religion die Maxime deines
und gegessen werden dürman „als ersten Völkermord der Ge- fast immer nur „Vorwand“
fen. Die praktische Verschichte bezeichnen“. Und Jesus, die- für Machtinteressen gewe- Willens als Prinzip
nunft ist es, die sich selbst
ser „geißelschwingende Choleriker“, sei sen sei.
einer allgemeinen
Wer vor diesem Hinter„Grundgesetz“ (Kant)
Gesetzgebung gel- das
grund auch Korrekturen
des Kategorischen Impera* Piper Verlag, München; 320 Seiten; 14 Euro.
am Gottesverständnis des ten könne.“
tivs gibt: „Handle so, dass
** Verlag Klaus Wagenbach, Berlin; 160 Seiten; 16,50 Euro.
162
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AKG
die Maxime deines Willens
Aber es gibt Hoffnungsjederzeit zugleich als Prinzip
geschichten. Eine passierte
einer allgemeinen Gesetzim Januar 2002. Der polnigebung gelten könne.“
sche Papst Johannes Paul II.
Mord, Diebstahl, Ehebruch,
lud die Abgesandten von
Elternmissachtung sind einzwölf größeren Religionen
fach nicht verallgemeinenach Assisi ein, um mit
ihnen gemeinsam für den
rungsfähig für Menschen, die
Frieden zu beten. Es kasich als „vernünftige Wesen“
men muslimische Großmufverstehen. Mag Kant auch
tis, jüdische Rabbiner, KaGott als moralisches „Postutholiken, Orthodoxe, Prolat“ durch die Hintertür wietestanten, Buddhisten und
der hereinbitten; Religion ist
Hindus und sogar Naturseitdem im Streit um die richreligiöse. Sie beteten auf
tige Moral nicht mehr der
unterschiedlichen Plätzen,
stärkste Mitspieler. Wozu aber
aber alle im Geburtsort jeüberhaupt noch Religion?
nes heiligen Franziskus, der
Die drei großen monotheismit den Vögeln und Fischen
tischen Religionen sind Wüssprach.
tenprodukte. „Nichts verIm Rückblick auf die Ansperrt dort den Blick zum
schläge vom 11. September
Himmel“, wie Gerhard Stades Vorjahrs sagte Johannes
guhn schreibt („Gott und die
Paul II.: „Niemand darf im
Götter“, 2003). Die karge UmNamen Gottes töten“, jegwelt ist die ideale Kulisse für
liche Art von „terroristischen
die Hinwendung zu einem
Gewaltakten“ im „Namen
fernen, unsichtbaren Gott, der
von Religionen“ seien abzuAskese verlangt – psychische
lehnen. Aus dem Kreis der
Selbstverwüstung.
anwesenden ReligionsbotDas lateinische Wort für Mose-Porträt von Rembrandt (1659): „Fels des Menschenanstandes“
schafter hat keiner widerGott, „deus“, hängt mit dem
altindischen Wort „deva“ und dem in- dem ihm klargeworden ist, dass er rational sprochen. Ob sie auch im Stillen alle zudoeuropäischen „deiwos“ zusammen. Die- das Rätsel nicht lösen kann. Wer so rea- gestimmt haben?
Wie weit Teile der islamischen Welt von
se Worte heißen so viel wie Himmel, Licht, giert, ist schon religiös.
Menschen, die einen offenen Existenz- der Assisi-Episode entfernt sind, belegt das
Tag, Höhe, Vaterschaft. In den Religionen,
die davon geprägt sind, gilt der Blitz als horizont fragend ertragen, ohne sich an ir- Beispiel jenes Abdul Rahman, der kürzgendeiner altehrwürdigen Erzählung fest- lich nach etlichen Jahren im Ausland, wo
göttlich, als das Feuer vom Himmel.
Eigentlich liegt es nahe, dass der Mensch zuhalten, sind nun mal selten. Man nann- er zum Christentum übergetreten war,
instinktiv nach oben, in die Weiten des te sie früher „Philosophen“, Liebhaber der nach Afghanistan zurückkehrte. Weil er es
dort ablehnte, wieder Muslim zu werden,
Kosmos, guckt, um herauszufinden, was Weisheit, dass wir nichts wissen.
Die wärmende Glaubensgewissheit, die drohte ihm die Hinrichtung. Ein Fortschritt
das Ganze denn nun sei und solle. Ebenso
nahe liegt es, dass er das Grundrätsel sei- von den großen Religionen rettend dage- gegenüber dem Debattenstand des Jahres
ner Existenz – warum ist überhaupt etwas gengehalten wird, wäre legitimer, wenn die 1779 war da kaum spürbar. Damals vollenund nicht vielmehr nichts? – mit dieser Gläubigen sich dabei weniger „eifersüch- dete der sächsische Pastorensohn Gotthold
Metaphorik positiv oder, falls er Melan- tig“ gegen konkurrierende Heilsbotschaf- Ephraim Lessing sein berühmtes Weltanschauungsdrama „Nathan der Weise“.
choliker ist, apokalyptisch codiert. Nach- ten benähmen.
Dessen Botschaft: Die Vorurteile, die aus
der Verschiedenheit der unduldsamen ReGlobale Verteilung der vorherrschenden Weltreligionen
ligionen erwachsen, lassen sich nur überwinden, wenn jede Religion die andere
achtet. Weil ihre Repräsentanten einsehen:
Es gibt keine Wahrheitsbesitzer, nur Wahrheitssuchende.
Thomas Mann nennt das „Bündig-Bindende“, das ewig „Kurzgefasste“ der mosaischen „Grundweisung“ den „Fels des
Menschenanstandes unter den Völkern der
Erde“. Er schrieb seine Mose-Erzählung
im US-Exil als Antwort auf „Hitlers Krieg
Katholiken
gegen das Sittengesetz“. Hitler wollte geLIBANON
Protestanten
gen „die so genannten Zehn Gebote“ die
Mittelmeer
Orthodoxe
„Tafeln eines neuen Gesetzes aufrichten“.
Diesen Kampf gewann schließlich doch jeJuden
ner knorrige Mann, der vielleicht nie geMuslime
Jerusalem
lebt hat, mit dessen imponierender Gestalt
Hindus
sich aber ein sehr altes, wunderbar einfaBuddhisten
ches, wunderbar einleuchtendes Gesetz
ISRAEL
Shintoisten
verbindet wie der Stein mit der Schwere:
Quellen: Westermann,
World Christian Encyclopedia
Sonstige
Mose.
Mathias Schreiber
Fromme Vielfalt
164
ÄGYPTEN
JORDANIEN
MICHAL DANIEL
Kultur
„Stuff Happens“-Produktion in New York*: „Das ist das Gute am Irak, er ist machbar“
T H E AT E R
„Die Macht macht, was sie will“
In „Stuff Happens“ beschreibt David Hare, wie eine
Handvoll amerikanischer Politiker den Irak-Krieg begann. Nichts
ist wahr und doch alles richtig. Von Alexander Osang
* Mit Peter Francis James als Colin Powell, Gloria Reuben
als Condoleezza Rice, Jay O. Sanders als George W. Bush.
166
„Verstehe“, sagt Bush. „Aber wie hoch
ist sie, Paul?“„10 bis 50 Prozent“, sagt Wolfowitz. „Ich würd sagen, ’ne 10- bis 50-prozentige Wahrscheinlichkeit.“ Bush schaut
ergriffen, die anderen auch. Irgendwann
sagt Wolfowitz: „Das ist das Gute am Irak.
Er ist machbar.“
Dann gibt’s Essen in Camp David. Hühnersuppe, hausgemacht. Und selbstge-
US-Politiker Bush, Rice, Powell: Wo gehobelt wird, fallen Späne
ERIC DRAPER / THE WHITE HOUSE
A
m Wochenende nach dem 11. September 2001 treffen sich Bush, Cheney, Wolfowitz, Rice, Rumsfeld und
Powell in Camp David, um zu beraten, wie
es jetzt weitergeht mit Amerika. Sie beten. „Gott, gib uns die Weisheit, Gutes zu
tun“, sagt Bush, anschließend erklärt er
den Krieg gegen den Terror. Der Kampf
gegen die Taliban in Afghanistan werde
ein Beispiel für alle geben, die sich mit
Amerika anlegen, sagt der Präsident.
Donald Rumsfeld hat Bedenken. „Afghanistan ist ein großes Land, aber was
bombardieren wir? Tommy Franks hat mir
erzählt, es gibt nur drei Dutzend Ziele da.
Drei Dutzend! Hat jemand von euch sich
mal Afghanistan angeguckt? Terrakottatöpfe und Strohhütten. Nicht einfach.“
Wolfowitz sagt: „Und was für ein Beispiel wollen wir damit geben? Was für eine
Botschaft? Irak dagegen ist ein Land, das
wir kennen. Wir waren ja schon da. Und
was noch wichtiger ist – wenn wir schon
über Botschaften reden –, es gibt eine
ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass
Saddam Hussein direkt in den Angriff aufs
World Trade Center verwickelt war.“
backenes Brot. „So wie deine Mutter es
serviert hat“, sagt CIA-Chef George Tenet zu Präsident Bush. „O nein“, sagt
Bush. „Nicht meine Mutter. Die hat nie
gekocht. Die Frau hatte Frostbeulen an den
Fingern, so oft war sie am Tiefkühlfach.“
Da lacht das Kriegskabinett. Und auch
die knapp 400 Zuschauer im New Yorker
Public Theater lachen. Sie lachen mit
George W. Bush und über ihn, so genau
kann man das nicht trennen. In diesem
Moment scheinen Barbara Bushs Kochkünste und die Bombardierung von Bagdad miteinander zusammenzuhängen.
Man hat das Gefühl, dort zu sein, wo die
wirklichen weltpolitischen Entscheidungen
getroffen werden.
„Es ist gut, dieses Essen zu essen“, sagt
der Präsident. „Es ist Comfort Food. Es ist
gut, es gerade jetzt zu essen.“
Später puzzelt er zusammen mit seiner
Ehefrau ein Familienbild vom Weißen
Haus zusammen. Sie legt die Kanten, er
die Personen. Als sie fertig sind, schlägt
sie vor, bowlen zu gehen, aber keiner will.
„Kennt jemand ein Kirchenlied?“, fragt
Laura Bush. „Ich“, sagt Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und beginnt,
„Amazing Grace“ zu singen. Nach der ersten Strophe fallen die anderen ein.
Der englische Dramatiker David Hare
hat sich das ausgedacht, denn natürlich
weiß niemand genau, was an diesem
Abend vor viereinhalb Jahren in Camp
David wirklich passiert ist. Hare, dessen
Drehbuch für den Film „The Hours“ eine
Oscar-Nominierung bekam, hat mit vielen
Leuten gesprochen, die in der Nähe waren,
er hat Protokolle gelesen, die öffentlich
waren, und aus alldem ein Theaterstück
gemacht, das den Weg der Welt in den
Irak-Krieg beschreibt. Von ganz oben gesehen. Hares Helden heißen Rumsfeld,
Cheney, Bush, Rice, Blix, Powell und Blair.
25 Prozent seiner Erzählung sind belegt,
der Rest ist Vermutung, aber nichts ist
wissentlich unwahr, sagt David Hare. Die
Grenzen verschwimmen, nach anderthalb
Stunden, in der Pause, denkt man: So kann
es gewesen sein. Nach drei Stunden, am
Ende: So war’s.
Das Stück heißt „Stuff Happens“.
„Stuff happens“, hatte der Verteidigungsminister Rumsfeld gesagt, als ihn Reporter nach dem Chaos fragten, das dem
amerikanischen Einmarsch in Bagdad folgte. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Darum
geht’s. Es ist ein Spiel um Macht, gezeigt
wird: Machtkampf ganz, ganz oben ist
simpler, als man ihn sich immer vorstellt.
„Ich bin der Präsident“, sagt Bush. „Ich
muss nicht erklären, was ich mache. Das ist
das Schöne daran, Präsident zu sein.“
Das amerikanische Kriegskabinett in
„Stuff Happens“ erinnert nicht zufällig an
das SED-Politbüro. Als Außenminister Colin Powell den anderen mitteilt, dass die
Menschen in der Welt rechtmäßige, wirkliche Gründe für einen Krieg wollen, wird
er zusammengebrüllt.
„Ich sage dir, was rechtmäßig ist. Was
wir tun, ist rechtmäßig“, schreit PentagonChef Rumsfeld.
„Genau“, sagt Bushs Vize Dick Cheney.
„Das Volk gibt uns das Recht zu handeln“, sagt Rumsfeld.
„Das amerikanische Volk“, sagt Cheney.
„Richtig“, sagt Rumsfeld.
In diesem Moment sind der amerikanische Vizepräsident und der Verteidigungsminister universelle, historische Charaktere. Dick Cheney könnte Günter Mittag sein
und Donald Rumsfeld Sir John Falstaff.
„Shakespeares historische Stücke handeln ja auch immer von Macht in der Politik“, sagt David Hare. „Shakespeare war
kein Anarchist, er glaubte an Macht und
daran, dass jemand sie ergreifen muss.
George W. Bush ist jemand, der die Macht
d e r
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167
Kultur
DAVID CHANCELLOR / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS
Amerikas sehr gut versteht und weiß, was London der strahlende Held war, ist Colin
er damit ausrichten kann. Die Unfähigkeit, Powell in New York der tragische Held
sich zu artikulieren, darf man nicht mit von „Stuff Happens“. Ein Mann, der zu
Dummheit verwechseln.“
schwach, zu loyal oder vielleicht auch nur
Es ist schön zu beobachten, wie Bush im zu ehrgeizig war, um diesen Krieg zu verTheaterstück (Regie: Daniel Sullivan) den hindern. David Hare hat Powell ein paar
zweifelnden, nervösen, moralisierenden große Monologe geschrieben. „Ich habe
Tony Blair in den Griff bekommt, indem er mein Leben lang beim Militär zugebracht.
oft gar nichts sagt, manchmal „sicher“ oder Vielleicht bin ich deswegen weniger be„ich denke darüber nach“ und einmal: „Du eindruckt von Gewalt als einige andere
bist immer so eloquent, Tony.“
hier. Ich sehe Gewalt als das, was sie ist“,
Bush trägt ausgewaschene Jeans, Cow- sagt Powell seinem Präsidenten.
boystiefel und in der Gesäßtasche ein paar
„Und was ist sie?“, fragt Bush.
Arbeitshandschuhe, Blair einen schwarzen
„Versagen“, sagt Powell.
Anzug, denn er kommt gerade von der Be„Wenn ich mir die jetzigen Planungen
erdigung der Queen Mum.
für den Irak ansehe, dann sehe ich nur ein
„Sie war eine schöne Frau“, sagt Bush. paar Sesselfurzer, die sich freuen loszu„Ja“, sagt Blair irritiert. „Auf ihre Art.“
schlagen, ohne die geringste Ahnung, wie
Viel später, als sich Blair
wir dort wieder herauskomvon allen allein gelassen fühlt,
men“, sagt Powell, er fordert
ruft ihm sein Berater David
die Einbeziehung der Uno, erManning in Downing Street 10
läutert seinem Präsidenten die
zu: „Bush will nicht deine Ansensible Lage im Nahen Osten,
sichten, Tony. Er will deine
die Ängste in Europa und
verdammte Unterschrift auf
die vermessenen Pläne der inder Kriegsurkunde.“
tellektuellen amerikanischen
„Nein“, sagt Blair. „Ich
Welteroberer. Powell hält eine
kenne Bush. Ich war auf seigroße fünfminütige Friedensner Ranch. Wir beide haben
rede.
einen Deal.“
„Ich denk darüber nach“,
„Die Macht braucht keine
sagt Bush.
Deals, Tony“, sagt Manning. Dramatiker Hare
Doch ein paar Wochen spä„Die Macht macht, was sie Von ganz oben
ter teilt der Präsident seinem
will.“
Außenminister mit, dass er
Hare hat das Stück schon im Jahr 2004 auch ohne das Einverständnis der Vereingeschrieben. Es wurde in London uraufge- ten Nationen in den Irak-Krieg zieht.
führt, im vergangenen Jahr wurde es in
„Ich bin einverstanden“, sagt Powell und
Los Angeles gezeigt. Jetzt ist es in New tritt wenig später vor die Uno, um der Welt
York angekommen. Hare hat immer weiter lächerliche Beweise für Massenvernichdaran gearbeitet. Er arbeitet immer noch tungswaffen zu präsentieren, an die er
daran, es gibt ja täglich neue Enthüllungen selbst nicht glaubt.
über die Vorbereitung dieses Krieges.
David Hare macht ihn zu einem großen,
Gerade schreiben die Zeitungen dort tragischen Theatercharakter. Überlebensdraußen, dass Bush persönlich Geheim- groß. Im Januar dieses Jahres hat der wirkdienstinformationen freigab, um seinen liche Colin Powell der BBC in einem InKrieg zu rechtfertigen. Damit ihm sein Stück terview erklärt, er müsse sich für nichts
nicht zu Staub zerfällt, hat es Hare immer entschuldigen. Er habe die Welt nicht wismehr personalisiert. Die Welt wurde zur sentlich getäuscht. Es werde alles Mögliche
Tafelrunde. Die Details aus der Uno ver- in seine Person hineingedeutet, aber nieblassten, Kofi Annan wurde ganz heraus- mand könne für ihn sprechen.
gestrichen, die europäischen BedenkenAm Ende von „Stuff Happens“ wird
träger verschwanden aus dem Stück.
George W. Bush gefragt, wo eigentlich OsaEinmal erwähnt jemand einen Hippie ma Bin Laden sei. „Keine Ahnung“, sagt
und Ex-Peacenik, jetzt Außenminister ei- Bush. „Und es interessiert mich, ehrlich
nes europäischen Landes, und womöglich gesagt, auch nicht.“
meint er Joschka Fischer, ansonsten komDann geht er lächelnd von der Bühne.
men die friedliebenden Deutschen nicht Dort stehen am Ende 16 leere Stühle. 47
vor. Es bleiben der grübelnde Blair, der Prozent aller Amerikaner denken bis heueitle französische Außenminister Domi- te, dass Saddam Hussein eine entscheinique de Villepin und der Uno-Beauftrag- dende Rolle bei den Anschlägen auf das
te Hans Blix, der „durch Mesopotamien World Trade Center spielte, sagt eine
irrt wie Hercule Poirot“.
Stimme aus dem Off.
Sicher ist es kein Zufall, dass Colin PoUnd 44 Prozent sind überzeugt, dass die
well, der ehemalige US-Außenminister, die Flugzeugentführer Iraker waren.
Figur ist, an der David Hare in den verStuff happens.
gangenen anderthalb Jahren am meisten
Es ist schwer zu sagen, ob die Figuren in
arbeitete.
„Stuff Happens“ in fünf Jahren noch ir„Ich habe Powell zunächst zu positiv ge- gendjemandem etwas sagen werden. Eisehen“, sagt David Hare. Nachdem er in gentlich, hofft man, nicht.
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PROKINO / FOX
Darsteller Poupaud, Moreau: Sterben adelt nicht
FILM
Wem die
Stunde schlägt
Frankreichs ewiges Kino-Wunderkind François Ozon, 38, hat
einen kurzen Film über das Sterben
gedreht: „Die Zeit die bleibt“.
R
uck, zuck geht es los, nach einem
ersten, fast traumverlorenen Blick
aufs leere Meer: ein Modefoto-Shooting mit der ganzen Hektik, die für Professionalität zu bürgen scheint – schöne
junge Models und ein schöner junger Fotograf in blendendem Sonnenlicht. Dann
ein Blackout, der Mann mit der Kamera ist
kollabiert, vielleicht hat er doch einen Espresso zu viel gekippt oder sich zu oft eine
Linie Koks reingezogen, um sich kreativ
auf Touren zu bringen.
Als Nächstes, im Gespräch mit dem jungen Fotografen, ein Arzt, betont freundlich-nüchtern: Da genügt das Wort „Metastasen“, um ein Todesurteil anzukündigen.
Keine falschen Hoffnungen, keine trügerischen Therapien, auch wenn man erst
dreißig ist, kommt das vor. „Die Zeit die
bleibt“, ein paar Monate – mehr gibt es
nicht, basta.
Regisseur François Ozon macht keine
Umschweife, diesmal nicht. Von der Verschwendungslust, die vor ein paar Jahren
den kleinen Krimi „8 Frauen“ in eine
große Star-Show hochjubelte, hat Ozon
sich losgesagt; er erzählt, wenn auch in
schönen, oft lyrischen Bildern, denkbar
knapp, rigoros, minimalistisch von diesem jungen Mann namens Romain, dem
die Stunde geschlagen hat. Alles, was
bisher sein Leben war, ist in Frage gestellt.
Er hat keine Gewissheit mehr vor sich als
den Tod.
Ozon ist anspruchsvoll, also ungefällig
mit sich, seinem Schmerzensmann und seinem Publikum. Er wirbt um Zuneigung
170
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für einen Mann, den man lieber nicht lieben möchte, weil die abweisende Oberfläche seines Charmes auf den ersten Blick
spüren lässt: Dies ist kein sonderlich wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Ozons Mut, aufs Ganze zu gehen,
liegt darin, dass sein Film nicht von einem
Heldentod handelt, sondern von einem Jedermannstod. Auch seine Geschichte ist
eine Passion, doch Sterben adelt nicht.
Natürlich war dieser Romain ein Erfolgstyp par excellence, ein sonniger Egoist
also, und sein verführerisch sanfter Darsteller Melvil Poupaud gibt ihm in den kurzen ersten Minuten genug von diesem
Strahlen, um daraus Fallhöhe zu gewinnen: „Ich bin kein netter Kerl.“
Er hat wohl schon immer so wenig teilen
mögen, dass er nun auch seinen Tod für
sich allein behalten will. Rundum Befreiungsschläge: Er bricht beim gewohnten sonntäglich-bürgerlichen Familientisch
mit Vater und Mutter und Schwester einen Krach vom Zaun, um endlich nichts
mehr mit ihnen zu tun zu haben; er setzt
den anhänglichen Lebensgefährten kurzerhand vor die Tür – und andererseits begeht er in befreitem Leichtsinn ein paar
Verrücktheiten, die er sich zuvor niemals
zugetraut hätte.
Nur mit der Großmutter ist das eine andere Sache, weil Großmütter fast immer
leichter zu lieben sind und weil er sich ausmalt, sie müsse dem Tod so nah sein wie er.
Natürlich findet die alte Dame das ganz
und gar nicht, und Jeanne Moreau mit ihrer exzentrischen Lebendigkeit macht aus
diesem Großmutter-Auftritt in ihrem Knusperhäuschen das „Herzstück“ (Ozon) des
Films, eine wahre Märchenszene – dieses
Momentchen Unsterblichkeit, das es nur
im Kino gibt.
Natürlich kann man genauso gut einfach
nicht wissen wollen, wie sich Ozons Jedermann ungetröstet und doch ohne pathetisches Wehgeschrei vom Leben verabschiedet. Aber wenn man sich auf den leisen, zärtlichen Sog der Erzählung einlässt,
lernt man, fast wider Willen, diesen ungeselligen Kerl Romain zu lieben und um ihn
Urs Jenny
zu trauern.
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Kultur
Leandro-Spett-Karikatur „Matze Maker“
LEANDRO SPETT
Demonstration des Selbstvertrauens
K A R I K AT U R E N
Koschere Antisemiten
Israelische Künstler haben einen Wettbewerb für den besten antijüdischen Cartoon ausgerufen – mit witzigen Ergebnissen.
172
AMIT SHABI / LAIF
A
us dem Antisemitismus könne
schon was werden, spottete bereits
der k. u. k. Satiriker Roda Roda,
„wenn sich nur die Juden seiner annehmen würden“.
Sechzig Jahre nach Roda Rodas Tod
wird der Witz nun Wirklichkeit.
Zwar hat es auch zu seiner Zeit jüdische
Antisemiten gegeben – Karl Marx, Otto
Weininger, Karl Kraus etwa –, aber sie traten immer nur als Individuen in Erscheinung, nie als Kollektiv. Das könnte jetzt
anders werden. Über hundert jüdische
Zeichner und Karikaturisten haben sich
an einem Wettbewerb für antisemitische
Cartoons beteiligt, den zwei Israelis im
Februar ausgerufen haben.
Vergangene Woche wurden die Gewinner bekanntgegeben. Sieger nach Punkten
wurde Aron Katz, 24, aus Los Angeles. Er
zeichnete einen „Fiddler on the Roof“, der
auf einem Pfeiler der Brooklyn Bridge
steht und Geige spielt, während die Türme
des World Trade Center brennen – eine
grafische Umsetzung des vor allem im Internet geisternden Gerüchts, hinter dem
Anschlag vom 11. September 2001 steckten
nicht islamische Fundamentalisten, sondern die Juden und der israelische Ge-
Initiator Sandy
„Das Feuer mit Humor bekämpfen“
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heimdienst Mossad. Katz stiftete sein
Preisgeld, 600 Dollar, unter anderem den
„Rabbis for Human Rights“, einer israelischen Organisation, die sich für die Rechte
der Palästinenser einsetzt.
Der zweite Preis ging an Ilan Touri, 32,
aus Sydney. Sein Cartoon heißt „Studio 6“
und zeigt, was Auschwitz „wirklich“ war:
Kulisse für einen Film, wie es die Revisionisten immer wieder behaupten.
„Unsere Juroren haben sich die Entscheidung nicht einfach gemacht“, sagt
Amitai Sandy, der Erfinder des Wettbewerbs. Da sich die fünf Preisrichter, unter
ihnen der New Yorker Zeichner Art Spiegelman („Maus“), nicht auf einen Gewinner einigen konnten, vergaben sie Punkte,
und am Ende hatte Katz die beste Note.
„Wenn es nur nach mir gegangen wäre“,
versichert Sandy, „wäre der Preis an einen
anderen Teilnehmer gegangen.“
An Daniel Higgins aus England zum Beispiel, der einen hakennasigen Moses gezeichnet hat, wie er den Juden ein geheimes elftes Gebot übergibt – „PS: Vergesst
nicht, die Medien zu kontrollieren“. Oder
an Leandro Spett aus Brasilien für seinen
„Matze Maker“, eine Maschine, die palästinensische Kinder zu Matzen verarbeitet.
Sehr gelungen findet Amitai Sandy auch
eine eher subtile Arbeit: den Schiffbrüchigen von Jeremy Gerlis aus New York, der
sich hinter einer Palme versteckt, als ein
israelisches Schiff am Horizont auftaucht.
Sandy, 1976 in der Kleinstadt Kfar Saba
nordöstlich von Tel Aviv geboren, arbeitet
als Illustrator für alle großen israelischen
Tageszeitungen und etliche Verlage. Er hat
an der Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem Visuelle Kommunikation studiert und
in der israelischen Armee gedient, zuerst
bei der Artillerie, später in der Küche seiner Truppe. „Nach 18 Monaten hatte ich
genug.“ Er suchte einen Psychiater auf und
drohte mit Selbstmord. Daraufhin wurden
ihm die restlichen 18 Monate erlassen – die
in Israel übliche Art, dem Wehrdienst zu
entkommen.
Schon vor seinem Gastspiel in der Armee gab er ein Magazin für Comics, Musik
und städtische Subkultur heraus: „Penguins’ Perversions“. Der Name war ein
Phantasieprodukt, der Inhalt subversiv.
Nach 21 Ausgaben war Schluss. Seit 2003
bildet Sandy mit vier weiteren Künstlern
die Dimona Comix Group; bis jetzt sind
drei Comic-Bücher erschienen, die auch
in den USA vermarktet werden.
Als die iranische Tageszeitung „Hamschahri“ nach dem Furor über die dänischen Mohammed-Karikaturen im Februar
zu einem internationalen Cartoon-Wettbewerb über den Holocaust aufrief (der
nach Meinung des iranischen Präsidenten
Mahmud Ahmadinedschad gar nicht stattgefunden hat), war Sandy sofort klar: „Wir
SHARON ROSENZWEIG
ARON KATZ
Eingereichte Cartoons*: „Man sollte nur über die eigene Sippe spotten“
müssen etwas unternehmen, um das Feuer
mit Humor zu bekämpfen.“
Eine erste Option wurde sofort verworfen: Witze über die Mullahs in Umlauf zu
bringen. „Das wäre nicht anständig. Man
sollte nur über die eigene Sippe spotten.“
Und weil es bei den Juden alter Brauch
ist, sich über Juden lustig zu machen, war
„die richtige Antwort auf eine irre Kampagne“ schnell gefunden: „Israeli AntiSemitic Cartoons Contest“.
Kaum war der Wettbewerb im Internet
angezeigt, trafen die ersten Reaktionen aus
aller Welt ein. Ein US-Iraner aus Los Angeles schrieb: „Ich habe gehört, dass die Juden
die Weltherrschaft übernehmen wollen. Ich
hoffe, es wird bald geschehen.“ Sandys Vater,
Ezra Sanderovich, der in Singapur lebt, zeigte sich von der Idee seines Sohnes nicht so
begeistert. Er sagte: „Warum musst du dich in
Sachen einmischen, die uns nichts angehen?“
Die „Jerusalem Post“ bat die Gedenkstätte Jad Waschem und das Simon* „Fiddler on the Roof“ von Aron Katz, „Throbbing
Heart“ von Sharon Rosenzweig.
Wiesenthal-Zentrum um Stellungnahme.
„Wir glauben nicht, dass dies der richtige
Weg ist“, erklärte Jad Waschem. Auch vom
Wiesenthal-Zentrum kam milder Tadel:
„Galgenhumor“. Strenger reagierten dagegen fundamentalistische Christen aus
den USA, die Israel über alles lieben: „Wie
können Juden so etwas machen?“
Sandy hatte mit Schlimmerem gerechnet. Am Ende war er „fast ein wenig enttäuscht, dass sich niemand richtig aufgeregt
hat“, denn die Cartoons, die er nach und
nach online stellte, enthielten alle bekannten antisemitischen Klischees: Juden als
Ausbeuter, Blutsauger, Betrüger, Kriegstreiber und Verschwörer, die nach der
Weltherrschaft streben. „Der Wettbewerb
für den besten antisemitischen Cartoon
war eine Demonstration von Stärke und
Selbstvertrauen“, rechtfertigt sich der
Inspirator: „Bevor die anderen mit dem
Finger auf uns zeigen, machen wir es selbst
– und witziger. Wir sind koschere Antisemiten.“
Von den rund 150 eingesandten Cartoons wurde allerdings etwa ein Drittel
„disqualifiziert“, nicht wegen des Inhalts,
sondern wegen „schlechter Qualität“. Einige Künstler machten sich über Jesus oder
Mohammed lustig, „und das war nicht
unsere Absicht“. Die verbliebenen 100
werden vom 20. Mai an in einer Galerie in
Tel Aviv ausgestellt.
Amitai Sandy, der sich selbst der „extremen israelischen Linken“ zurechnet und
bei den Wahlen für die kommunistische
Hadasch-Liste gestimmt hat, hält sich trotz
allem für einen guten Israeli.
„Als Künstler kann ich in Israel viel weiter gehen als in jedem anderen Land der
Welt, niemand zensiert mich, niemand bedroht mich“, sagt er. Er nimmt an Demos
gegen den Bau der Mauer teil, die Israel
gegen die palästinensischen Gebiete abriegeln soll, und stellt gemeinsam mit palästinensischen Künstlern aus. Ob er mit
seinem Wettbewerb Antisemiten in die
Hände spielt, interessiert ihn nicht. „Die
sind auf mich nicht angewiesen, sie haben
genug eigene Ideen.“
Und so schaut er sich in aller Ruhe und
mit kollegialem Auge die genuin antisemitischen Karikaturen auf www.irancartoon.
com an. Einige, gibt Sandy zu, „sind wirklich gut gemacht“. Denn während sich an
seinem Wettbewerb für den besten antisemitischen Cartoon vor allem Amateure
beteiligten, machen beim offiziellen iranischen Preisausschreiben unter den bisher
181 Teilnehmern aus 42 Ländern (darunter
Russland, die Schweiz und die USA) auch
viele Profis mit.
Jetzt hofft Sandy, dass sich die Palästinenser ein Beispiel nehmen und eines
Tages einen Wettbewerb für die besten
antipalästinensischen Karikaturen veranstalten. „Das wäre ein Zeichen politischer
Reife. Aber wenn es einer heute versuchen würde, müsste er um sein Leben
Henryk M. Broder
fürchten.“
Kultur
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
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Belletristik
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20 (15) Silvia Arroyo Camejo
Skurrile Quantenwelt Springer; 29,95 Euro
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Kultur
KUNST
„Wir brauchen Abenteuer“
Der Maler Jonathan Meese über
Radikalität, Konformismus und fehlende Risikofreude
beim Künstlernachwuchs an den Hochschulen
Trotz seiner Fixierung aufs
SPIEGEL: Jonathan Meese, in London sind
Sie kürzlich mit einer Galerieschau und
einer wilden Performance im Museum Tate
Modern aufgefallen. Nun folgt in den Hamburger Deichtorhallen Ihre bisher größte
Ausstellung. Handelt es sich, selbst für Ihre
Verhältnisse, um ein ereignisreiches Jahr?
Meese: Ja. Die Hamburger Schau ist für
mich eine Zäsur. Das ist eine riesige Halle,
ein enormer Maßstab. Ich fühle mich wie
kurz vor der Explosion. Mir ist klar, nach
dieser Ausstellung beginnt eine neue Etappe,
und ich weiß noch nicht, wie die aussieht.
SPIEGEL: Es scheint, als hätten Sie bislang
alles richtig gemacht. Sie sind mit 36 Jahren berühmt, ein Weltstar des Kunstbetriebs.
Meese: Ruhm ist eine Nebenerscheinung,
uninteressant. Aber natürlich stimmt es,
ich darf mir viel erlauben.
SPIEGEL: Das klingt bescheiden, Ihre Kunst
aber ist es nicht. Sie ist monumental, voller Anspielungen aufs Böse und Obszöne.
In Bild und Schrift tauchen Fieslinge der
Geschichte auf oder Personen, die sich am
Düsteren berauscht haben. Caligula, Hagen von Tronje, Wagner, Hitler, Stalin …
Meese: Die Figuren stehen in meiner Kunst
nicht mehr als Sinnbild für irgendetwas,
sondern sie sind bloß noch Abziehbilder
ihrer selbst. Wir machen den Fehler, einen
176
COURTESY CONTEMPORARY FINE ARTS / JOCHEN LITTKEMANN
Barbarische gilt Jonathan Meese als einer
der gefragtesten deutschen Künstler. Auf
Bildern, in Installationen und während
rotweinseliger Happenings lässt er Tyrannen
und Theatraliker der Welt-, Geistes- und
Filmgeschichte auftreten: Nero, Nietzsche,
Klaus Kinski. Meese, 36, stellte von Osaka
bis New York aus. Nun sorgt er dafür, dass
Hamburg als Kunststandort wieder auffällt.
In den dortigen Deichtorhallen startet am
30. April auf 2500 Quadratmetern die
Schau „Mama Johnny“. In den Tagen zuvor
führt die Berliner Volksbühne das Stück
„Kokain“ auf. Für dessen Inszenierung von
Frank Castorf hatte Meese 2004 das
Bühnenbild gestaltet. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines britischen Vaters
kam in Tokio zur Welt, wuchs überwiegend
in Ahrensburg nahe Hamburg auf und
besuchte bis 1998 die Hamburger Hochschule für bildende Künste. Er lebt in
Berlin und Ahrensburg.
Hitler, einen Stalin auf merkwürdig faszinierte Weise in unsere heutige Realität hineinzuziehen, sie immer näher zu holen.
SPIEGEL: Das tun Sie doch auch. Sie haben
das Londoner Publikum mehrmals mit einem Hitlergruß verblüfft, beim Bühnenbild für das Theaterstück „Kokain“ ist das
dominierende Motiv ein Eisernes Kreuz.
Meese: Stalin hat sich selbst dermaßen produziert, da können wir nicht mithalten.
Hitler hat sich selbst mehr abgefeiert als
jeder andere Mensch. Wir müssen diesen
Figuren die Selbstneutralisation gestatten.
Ich will zeigen: Sie dürfen ihren Totentanz
tanzen, aber in einer anderen Welt, dort
sollen sie sich gegenseitig ausspielen. Mir
geht es darum, sie in die Bedeutungslosigkeit zu entlassen. Stattdessen berauscht
man sich an ihnen.
SPIEGEL: Sie werden als eine Art Superwüstling gefeiert. Vor ein paar Jahren hatten Sie einen Auftritt im Kinofilm „Sonnenallee“. Ihre Rolle war die eines exzentrischen Künstlers. Sehen Sie sich selbst
auch so?
Meese: Man kann sich als Künstler zurückziehen und verweigern, wenn es zum eigenen Naturell passt. Zu mir passt es nicht,
ich kann mich nicht zügeln. Da bin ich wie
ein störrisches Kind, ich will, dass etwas
passiert. Ich produziere viel, und das fast
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manisch, ich zeichne, male, habe Tausende
von Textseiten geschrieben, mache Bühnenbilder. Ich stehe, wenn ich Aktionen mache,
selbst auf der Bühne. Mit einem Freund
habe ich Platten gemacht. Demnächst
schreibe ich ein Theaterstück. Es gibt natürlich Befindlichkeitsfanatiker, all diese Schulterklopfer, die mir Ratschläge geben wollen.
SPIEGEL: Zum Beispiel welche?
Meese: Es heißt, mach weniger, mach mehr,
lass das mit den großen Skulpturen. Da solltest du Ausstellungen machen, dort nicht.
Ich will das nicht hören. Und ich habe mich
entschieden, ich mache alles. Alles muss
hinaus in die Welt, und wenn es dort ist,
kann damit geschehen, was will, das ist für
mein Seelenheil nicht mehr wichtig. Aber
ich wundere mich, denn was ich mache, ist
das derzeit Radikalste in der Kunst. Warum
kommt keiner und ist noch radikaler?
SPIEGEL: Es gibt das Beispiel Ihres Kollegen Santiago Sierra, der Abgase in eine
ehemalige Synagoge leitete und die Besucher mit Gasmasken ausstattete. Die
Aktion hat jüngst für viel Aufruhr gesorgt.
Erscheint Ihnen sein Umgang mit der Vergangenheit radikal oder eher zynisch?
Meese: Ich bewerte die Freiheit der
Kunst sehr hoch, aber wahrscheinlich
war diese Aktion extrem unangebracht.
Womöglich wurde der Künstler von sich
Meese-Werke*, Künstler Meese
GUNTER GLUECKLICH
„Der Harmlosigkeit etwas entgegensetzen“
selbst überrumpelt, von seiner eigenen Idee.
Das muss er aber mit sich selbst ausmachen.
Unter radikal verstehe ich etwas anderes.
SPIEGEL: Radikalität ist ein Kampfbegriff
der Sechziger und Siebziger, auch der damaligen Kunstszene. Ist er nicht überholt?
Meese: Nein. Radikalität in der Musik, auf
der Bühne, in der Literatur, in der Kunst,
in der Philosophie – die können wir geschehen lassen. Sie schadet niemandem.
Aber damit können wir gewisse Versteinerungen, die unsere Gesellschaft prägen,
aufbrechen. Man muss der heutigen Harmlosigkeit etwas entgegensetzen. Wir sollten wieder ein Abenteuer wagen. Kunst
ist keine Frage des Geschmacks, sie darf
stärker sein als man selbst, als der Künstler, als der Zuschauer. Doch sogar unter
den 20-Jährigen gibt es, wenn überhaupt,
nur noch simulierte Radikalitäten.
SPIEGEL: Ihnen erscheint der Künstlernachwuchs offenbar zu lasch?
Meese: Ja, und man kann nicht darauf warten, als Künstler in seiner Radikalität erst
nach seinem Tod entdeckt zu werden. Ein
Künstler sollte es schaffen, zu seinen Lebzeiten gefährlich zu sein, und wenn man
nicht in jungen Jahren auf die Barrikaden
geht, wann dann?
SPIEGEL: Wie wollen Sie junge Künstler
dazu bringen, rebellischer zu sein?
Meese: Ich bin für die komplette und totale
Abschaffung von Kunsthochschulen. Diese
Zuchtanstalten haben keinen Sinn mehr.
Von zehntausend Leuten, die in die Hochschulen hineingehen, kommen ohnehin
nur zehn heraus, die akzeptabel sind, und
darunter ist dann vielleicht ein richtiger
Künstler. Das ist eine Form von Sozialdarwinismus, die viele vielleicht befürworten.
Ich nicht, ich bin dagegen.
SPIEGEL: Diese Einstellung erinnert an
Joseph Beuys, der wollte die Ausbildung
auch völlig umkrempeln. Er hat dafür
plädiert, alle Bewerber aufzunehmen, und
er hat mit seinen Studenten die Düsseldorfer Kunstakademie besetzt.
Meese: Bei ihm ist es nicht weit genug gegangen. Er war nachsichtiger und glaubte,
diese Institutionen sind zu reformieren, ich
glaube das nicht. Ich habe mich an der
Hamburger Hochschule verabschiedet,
bevor ich mein Diplom hatte. Ein Diplom
sagt nichts aus.
SPIEGEL: Warum eigentlich nicht?
Meese: Kunst ist weder lehrbar noch erlernbar. Die Masse der Professoren will
ihr Mittelmaß weitertragen, geradezu ein
* Gemälde „Jörg Immendorff II. in der Parteimaschine.
Gedreidaddy“ (l.); übermalte Fotos mit dem Titel „Erzlove“, die Romy Schneider und Jonathan Meese zeigen.
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künstlerisches Mitläufertum erzeugen. Da
bekommt man dann Ratschläge wie: „Da
oben muss aber noch ein bisschen mehr
Grün auf die Leinwand.“ Ansonsten:
Immer mehr Benotungen, immer mehr
Beglaubigungen, immer mehr Beurkundungen, da wird nichts riskiert, aber alles
standardisiert, das ist doch zynisch. Das
hat doch nichts mit Kunst zu tun.
SPIEGEL: Sie sind mit Künstlern wie Daniel
Richter oder Jörg Immendorff befreundet,
haben mit ihnen zusammengearbeitet: lauter erfolgreiche Maler – und Professoren.
Meese: Die haben eine Mission, und denen
nehme ich das ab. Und trotzdem glaube ich
nicht an die Zukunft dieser Ausbildungsstätten.
SPIEGEL: Wie oft hat man Ihnen schon eine
Professur angeboten?
Meese: Immer mal wieder. Aber das
kommt für mich nicht in Frage. Noch
schlimmer als die Professoren sind die
Studenten. Sie haben die Pflicht, sich
aufzulehnen. Stattdessen gehen sie den
vorgebahnten Weg. Ich kann mir doch
nicht nach sechs Jahren an der Hochschule
von einem Gremium sagen lassen: Ja, du
bist ein toller Künstler. Das ist so ähnlich wie mit den Stipendien. Seltsame, komische, sperrige Künstler beantragen keine
Stipendien, die können das gar nicht.
Das ist denen viel zu bürokratisch. Also
gelangen nur Leute an Stipendien, die
stromlinienförmig sind, und das schon mit
23 Jahren.
SPIEGEL: Sie sind ein Vorbild der nachkommenden Generation, auch weil Sie –
ganz kommerziell – für Erfolg stehen.
Sammler wie der Brite Charles Saatchi
reißen sich um Ihre Werke und geben
dafür sechsstellige Eurobeträge aus.
Meese: Mir geht es nicht darum, mich
selbst zu versilbern. Ich gebe zu: Ich habe
keine weiße Weste, ich habe viel falsch
gemacht. Wahrscheinlich bin ich zu den
falschen Leuten viel zu freundlich gewesen. Das bleibt nicht aus, aber es ist erforderlich, sich auch mal selbst anzuklagen.
SPIEGEL: Das ist leichter, wenn man es
bereits geschafft hat.
Meese: Was heißt das denn schon, es geschafft zu haben. Ich war noch mit Anfang
20 ein Träumer, habe in einer winzigen
Wohnung angefangen, riesige Leinwände
zu malen, ich konnte da nicht mehr schlafen, die Luft war terpentinverseucht. Und
ich war ein manischer Sammler. Ich
studierte an einer Hochschule, aber ich
habe meine Energie auch daraus gezogen,
kein Diplom zu machen, kein Stipendium
anzunehmen. Wenn man will, kann man
das eine Strategie nennen. Meine Mutter
hat sich jahrelang größte Sorgen gemacht,
zu Recht. Es hätte auch anders enden
können.
Interview: Ulrike Knöfel
177
Kultur
Die Absage seiner WM-Eröffnungsshow durch die Fifa machte
André Heller fast sprachlos. Jetzt
lässt er seinem Zorn freien Lauf.
H
inter den Plattenbauten von BerlinMarzahn, zwischen klobigen Betonhallen, stapfen zwei Dutzend
halbnackte Indianer im Gänsemarsch durch
die Eiseskälte zu einer lustig bemalten Holzpyramide. Unter den Sandalen der Frauen
und Männer knirscht grober Kies, sie tragen
bunte Federn auf dem Kopf und Gänsehaut
auf ihrem bloßen Oberkörper. Da tritt ein
großer, weißbärtiger Mann in grauer Kapuzenjacke auf sie zu und spricht in sonorem
Singsang. „Ich bitte euch: Bringt ein bisschen Licht und spirituelle Wärme nach
Deutschland. Dieses Land braucht Hilfe.“
André Heller sieht selber fröstelnd und
ein bisschen traurig aus, als er die indianischen Mitspieler von „Pok Ta Pok“ begrüßt;
die Gäste aus Mexiko sollen vom Freitag
an in Hamburg und weiteren Städten ein
Ballspiel der Azteken und Maya vorführen,
das als Vorläufer des Fußballsports gilt.
Heller hat „Pok Ta Pok“ und rund 50 weitere Attraktionen des Kunst- und Kulturprogramms zur Fußball-WM ins Land geholt,
um Spaß, Poesie und eine, so der Meister,
„schöne Wachheit“ zu fördern. Seit der Absage der für den 7. Juni in Berlin angesetzten
WM-Eröffnungsgala blieb Heller wie unter
Schock fast sprachlos. Jetzt lässt er seinem
Zorn freien Lauf, und es trifft nicht nur diejenigen, die ihm die Show vermasselt haben.
„In meiner kindlichen Phantasie habe ich
gedacht, dass die Deutschen den Slogan ,Die
Welt zu Gast bei Freunden‘ ernst nehmen“,
sagt Heller und blickt in den bleigrauen Himmel über Marzahn. „Jetzt kommt es mir so
vor, als hätte man sich die Gäste nicht eingeladen, um gemeinsam ein Fest zu feiern,
sondern ganz allein, um sie zu besiegen.“
Warum tue dieses Volk nur so, „als sei es
vom Schicksal und allen Göttern zum Weltmeisterwerden verdammt“? Und wer könnte ihm fröhlichere Töne beibringen? Er
nicht. „Ich bin nicht der seelische Klavierstimmer von Deutschland“, seufzt Heller.
Dass der Mann nur lauter kleine „Pok
Ta Pok“-Feste feiern darf, zu denen bislang
immerhin rund 1,7 Millionen Menschen kamen, aber keine Superfete vor anderthalb
Milliarden Fernsehzuschauern, daran sind
aber nun wirklich mal nicht die Deutschen
schuld. Die große Gala zur WM-Eröffnung
im Berliner Olympiastadion hat der internationale Fußballverband Fifa gecancelt.
Der sitzt in der Schweiz.
178
Werk. 25 Millionen Euro sollte die bis ins
vorletzte Detail geplante Show kosten.
Rund 9 Millionen, heißt es, werden nun für
die Entschädigung der Künstler und Techniker fließen. Heller sagt: „Wenn man so
reich ist wie die Fifa, dann ist einem so eine
Summe egal. Das erinnert mich an Herren,
die einen Wolkenkratzer bauen lassen und
sechs Wochen vor dem Einzug wieder abreißen. Und sie schlafen trotzdem gut.“
„Ein Herz ist kein Fußball“ heißt der Beitrag des Berliner Theaters Ramba Zamba zu
Hellers WM-Restprogramm. 17 geistig behinderte Darsteller stürzen sich mit furioser
Begeisterung und einem
Rockband-gestützten Höllenlärm in ein Traumspiel,
das davon handelt, dass irgendwer den einzigen Fußball auf Erden ins Weltall
geschossen hat. Bei der Premiere in der Kulturbrauerei
in Prenzlauer Berg ist auch
Innenminister Schäuble da.
Er sagt ein paar nette,
wärmende Worte über das
WM-Kulturprogramm, Heller nennt ihn „einen guten
Verbündeten“.
Die drei Verbündeten, mit
denen Heller sein FußballAbenteuer anfing, sind weit
weg. Gerhard Schröder und
Ramba-Zamba-Mitspieler in Berlin: Fußball im Weltall
Otto Schily sind abgewählt,
mit Franz Beckenbauer hat
er seit Absage der WM-Gala
nur kurz am Telefon geredet.
Fifa-Chef Sepp Blatter hat in
Interviews angedeutet, ausgerechnet Beckenbauer habe
ihm zur Absage der Gala geraten. Am nächsten Freitag
wollen Heller und Beckenbauer sich in die Augen sehen, im Fernsehstudio bei
„Beckmann“. Der Franz sei
„nicht mein Freund, aber ein
unermüdlicher Helfer“, so
der Impresario.
Viele haben Heller den
Absturz prophezeit. Nicht
Impresario Heller (r.), Minister Schäuble*: Wärmende Worte zum ersten Mal. Diesmal
aber durfte er, zum ersten
nen von Marlene Dietrich bis Heino und Mal, überhaupt nicht abheben – ein gefesAlbert Einstein dargestellt hätten; ein Ballett selter Ikarus. „Das passiert mir kein zweites
von fliegenden Fußball-Artisten; und als Mal“, sagt er, er werde künftig „nur noch
Basis des Ganzen ein flirrender, funkeln- mit Liebenden“, mit wirklich Begeisterten,
der, auf dem Rasen verlegter Riesenbild- arbeiten. Mit den Fifa-Leuten trifft er sich
schirm, auf dem sich computeranimierte nicht mehr, sie reden nur noch über Dritte.
Wasserkreise, Fußballkobolde, RasenmonsZum Beispiel über die kleine 20-Minuter, Leuchtkissen zu einem wohl tatsächlich ten-Show vor dem Münchner Eröffnungsrevolutionären Bilder-Irrsinn gefügt hätten. spiel. Heller lässt sie vom OberammerDer Rasen im Olympiastadion müsse ge- gau-Spielleiter Christian Stückl gestalten,
schont werden, begründete die Fifa ihre Herbert Grönemeyer soll einen eigenen
Gala-Absage. Eine Blutgrätsche beim Warm- WM-Song vortragen. „Die Fifa hat das Lied
laufen, fast unmittelbar vor dem Anpfiff. abgenommen, es dauert fünf Minuten“, sagt
„Verwirrung und Einfalt“ sieht Heller am Heller, „aber jetzt verlangt sie, dass er um
zwei Minuten kürzt. Wegen der Reden.“
* Mit Ramba-Zamba-Theaterchefin Gisela Höhne in Berlin.
Der Beton ist überall.
Wolfgang Höbel
JOHANNES EISELE / DDP
Gefesselter
Ikarus
Aus, aus, das große Spiel ist aus – und das
ist ein Jammer. Nicht unbedingt, weil irgendein Fußballfan die Show wirklich gebraucht hätte. Aber genau diese schöne
Nutzlosigkeit war der Reiz der Sache. Die
Computerentwürfe für die Gala beweisen,
dass Hellers Team den schieren Aberwitz
ins Olympiastadion zaubern wollte. Stolz
führt er die Skizzen auf einem Laptop vor:
Zum Auftakt einen „Rausch von Blüten“
aus Abertausenden vom Stadiondach hängenden Blumengirlanden; danach ein ironisches Party-Defilee mit bis zu 3000 Mitspielern, die unter anderem deutsche Iko-
BAGANZ/SCHROEWIG
S P E K TA K E L
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Sport
SEGELN
Pionier aus dem Westerwald
Der Milliardär Ralph Dommermuth finanziert die erste deutsche Yacht in der
Geschichte des America’s Cup. Dessen Mythos zieht von jeher Wirtschaftsmagnaten an, doch den
Internet-Unternehmer reizt der Wettbewerb vor allem aus geschäftlichen Gründen.
E
Nachdem er eine Weile die Baustelle betrachtet hat, wendet sich Dommermuth ab.
Er setzt sich auf einen Holzstuhl ans Wasser, faltet das Sakko sorgfältig zusammen
und schaut hinüber zu den Prachtbauten
der Topteams Alinghi, BMW Oracle und
Luna Rossa am anderen Ende des Hafens.
In solchen Augenblicken lebt in Dommermuths Phantasie das Bild vom nächsten
r hat sein schwarzes Sakko über die
Schulter gehängt, er trägt ein hellblaukariertes Hemd und eine beige
Hose, er sieht aus wie ein Manager, der
sich am Morgen vor dem Anzugschrank
für den Freizeit-Dresscode entschieden
hat. Doch Ralph Dommermuth, 42, schaut
verkniffen statt lässig. Nicht wegen der
Sonne, die zur Mittagszeit hoch über dem
Jahr auf, wenn in Valencia der Wahn um
den America’s Cup ausbrechen und der
noch still dümpelnde Hafen vor Trubel beben wird. Die Miene des Geldgebers entspannt sich. Seine Leute sind zeitlich in
Verzug, ja und? Das ist ärgerlich, aber alles
andere als ein Drama.
Viel wichtiger ist, dass in der Kieler
Knierim-Werft die neue Yacht „GER-89“
America’s-Cup-Yachten bei Qualifikationsregatta
Sponsor Dommermuth
Yachthafen von Valencia steht und blendet.
Dommermuth sieht auf eine Baustelle, und
dieser Anblick schmerzt.
Drei Etagen hoch ragt das Stahlgerippe
in die Luft, weiß und rotbraun getüncht,
ein Schweißbrenner spuckt Funken. Aus
dem Rohbau entsteht bis Ende Juni der
Stützpunkt des deutschen America’s-CupTeams, jener Segelcrew, die Dommermuth,
Vorstandschef und Großaktionär des Konzerns United Internet, besitzt und finanziert. In diese Riesengarage soll einmal der
Schiffsrumpf hineingeschoben und gewartet werden, zu Füßen der Sponsorengäste,
die auf der obersten Etage schlemmen.
In einem großen Halbkreis um das Hafenbecken stehen die Hallen aller zwölf
Teams dicht an dicht. Bis auf ein Gebäude
sind alle fertig. Bis auf das Camp des United Internet Team Germany.
180
GLOGER/JOKER/ULLSTEIN (L.); C. BORLENGHI/SEA&SEE/PICTURE-ALLIANCE/DPA (R.)
Die Depression der New Economy überlebt
sen und einige Segelprofis an der Hand.
Doch dann schreckte Illbruck zurück, weil
er keine weiteren Sponsoren fand und den
Gesamtetat nicht allein aufbringen konnte.
Mit Dommermuth lässt sich nun ein
Mann auf das Wagnis America’s Cup ein,
für den Geld keine Rolle mehr spielt, der
indes bislang keinen Cent in Sportsponsoring gesteckt hat – nicht einmal in einen
Satz Trikots für den Fußballverein im Westerwaldstädtchen Montabaur, dem Sitz der
Konzernzentrale. Die deutsche Kampagne
kostet rund 50 Millionen Euro; eine Hälfte zahlt United Internet, die gleiche Summe legt der Vorstandschef privat drauf.
Dommermuth kann es sich leisten: Allein
seine Aktienanteile sind an der Börse mehr
als eine Milliarde Euro wert.
Trotz seines Vermögens ist Dommermuth weithin unbekannt. Dabei ist die Vita
des gelernten Bankkaufmanns eine der selten gewordenen Erfolgsstorys der neueren
Zeit. United Internet ist eines der größten
mermuth, „hatten wir ein gutes Gefühl
dafür entwickelt, welches Businessmodell
eine Chance hat. Wir machen nichts Kunterbuntes mehr, sondern konzentrieren uns
auf das Kerngeschäft.“
Heute gehört United Internet zu den
profitabelsten Providern, was sich auch
an der Börse niederschlägt: Ende März
schnellte der Kurs über die Höchstmarke
aus Zeiten der New-Economy-Blase – und
das, obwohl der Wert nach dem Crash um
96 Prozent abgesackt war. „Ralph Dommermuth schreibt Wirtschaftsgeschichte“,
staunt die „Welt“ angesichts des Höhenflugs. Für den „Stern“ ist er „der deutsche
Mister Internet“, bei „Bild“ schlicht der
„Internet-König“. Er selbst spöttelt: „Ich
bin nach sechs Jahren wieder Milliardär –
wenigstens auf dem Papier.“
Da wird er nicht der einzige sein in Valencia. Den America’s Cup haben von jeher Wirtschaftsmagnaten als ihren Privatclub betrachtet. 1930 etwa kreuzten der
englische Tee-Tycoon Sir Thomas
Lipton und der amerikanische Eisenbahnerbe Harold S. Vanderbilt
voreinander her. Ihnen folgten Kugelschreiber-Fabrikanten, Medienmogule und Modezaren, angelockt
vom Mythos um den einst von
Queen Victoria gestifteten Pokal.
Mittlerweile prägen vor allem
Larry Ellison, Gründer und Mitbesitzer des US-Software-Unternehmens Oracle, und der Schweizer Biotech-Konzernchef Ernesto
Bertarelli, Eigner des AlinghiTeams, den Cup mit ihren zusammengeheuerten Elitecrews. Herausforderer BMW Oracle und
Cupverteidiger Alinghi lassen mit
Budgets von jeweils rund hundert
Millionen Euro den anderen Teams
kaum noch eine Chance. „Es ist
doch eine billige Sache“, tönt Ellison. „Ich wundere mich, dass nicht
noch mehr mitmachen.“
Während Ellison gern den Großkotz spielt, bleibt Bertarelli im
Deutsche Segelcrew (beim Training vor Valencia): „Das hier ist Business und kein Urlaub“
Hintergrund und fügt sich als NaDenn erstmals seit der Debütregatta deutschen Web-Unternehmen. Von seiner vigator diskret in die Mannschaft ein. So
von 1851 segeln die Teams wieder in euro- Heimatstadt Montabaur aus hat Dommer- unterschiedlich die beiden superreichen
päischen Gewässern um die älteste Sport- muth einen Konzern hochgezogen, der in- Teameigner auch sein mögen, gemeinsam
trophäe der Welt. Dass niemals zuvor eine zwischen in Europa und Amerika agiert, ist ihnen, dass sie es beherrschen, sportlich
Crew mit deutscher Fahne am Rumpf fast 6000 Mitarbeiter beschäftigt und 800 zu segeln. Im Gegensatz zu Dommermuth.
dabei war, ist eine weitere Besonderheit Millionen Euro Jahresumsatz macht, fast Der gibt seine Ahnungslosigkeit offen zu.
Ein privater Segeltörn sieht bei ihm so
in der fast schon mythischen Geschich- doppelt so viel wie noch 2003. Er hat den
te dieses Wettbewerbs. Anläufe hatte es Rausch der New Economy erlebt und ihre aus: Eine Crew überführt seine 30-Metereinige gegeben, aber über das Planungs- Depression überlebt, obwohl am Ende des Yacht ins Ferienrevier, zum Beispiel zu den
stadium kamen sie nie hinaus. Die viel- Wahns auch United Internet mit 86 Millio- Seychellen, Dommermuth fliegt ein, lässt
sich umherschippern und genießt die Abversprechende AeroSail-Initiative, von nen Euro Schulden fast abgesoffen wäre.
Daimler-Benz in den Neunzigern finanDamals schmiss Dommermuth alle un- geschiedenheit der Buchten. „Auf dem
ziert, scheiterte daran, dass der Konzern rentablen Beteiligungen über Bord. Er Wasser draußen kann ich das Steuerrad
die Geduld verlor.
trennte sich von einem Online-Auktions- halten“, sagt er, „aber im Hafen würde ich
Dem nächsten Projekt mangelte es an haus, einer Jobbörse und ähnlichen Fir- ein paar andere Boote versenken.“
Es war stets Geltungssucht, Leidenschaft,
Geld. Der Münchner Kunststofffabrikant men; manche Gesellschaften brachten nur
Michael Illbruck hatte für 2003, als der Cup einen symbolischen Euro ein, der beste Ehrgeiz, Langeweile oder alles zusammen,
in Neuseeland ausgetragen wurde, zwar Deal immerhin über 18 Millionen. „Als die was die Milliardäre zum America’s Cup
schon einen Bootsrumpf auf Kiel legen las- Musik aufhörte zu spielen“, sagt Dom- trieb. Für Dommermuth dagegen ist der
NICO KRAUSS / IMAGO
dieser Tage fertig wird. Zur Schiffstaufe
übernächste Woche hat sich die Frau des
Bundespräsidenten angekündigt. Eva Luise Köhler als flaschenschwingende Patin,
das ist ein Coup: Dommermuth hatte sich
ihr beim Berliner Presseball vorstellen lassen und im Plausch den Vorschlag gemacht
– ein paar Wochen später sagte das Präsidialamt zu. Seitdem weiß Dommermuth,
welchen Bonus sein Pionierprojekt besitzt.
In Zeiten wie diesen, in denen in
Deutschland selbst auf den Anzeigetafeln
der U-Bahnhöfe der Countdown bis zum
Beginn der Weltmeisterschaft läuft, hat es
den Anschein, als ob neben dem Fußball
keine anderen Sportarten mehr existierten. Da das Leben aber nach dem 9. Juli
weitergehen wird, gibt es ein paar Unternehmen, die über diesen Tag hinaus planen
– und da scheint der America’s Cup, der
nach monatelangen Ausscheidungsrennen
im Sommer 2007 ausgesegelt wird, keine
schlechte Wahl.
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Wettbewerb nicht die Bühne zur Erfüllung
persönlicher Träume – ihn bewegt vielmehr
geschäftliches Kalkül. Vermutlich erfüllt ihn
so etwas wie Besitzerstolz, wenn er das
schlanke weiße Schiff mit den Firmenlogos
sieht. Aber damit hat es sich auch. „Das
hier“, sagt Dommermuth strikt, „ist Business und kein Urlaub.“
Mehr als ein Rang im Mittelfeld der
zwölf Boote wird dabei kaum herausspringen. Das wäre schon ein Erfolg. Denn
das Projekt entsprang der wohl naivsten
Idee, mit der je in Deutschland das Ziel
America’s Cup angegangen wurde.
2004 hatten drei Initiatoren, der Münchner Geschäftsmann Uwe Sasse, der Bootsbauer Eberhard Magg vom Bodensee und
der Hamburger Segler Andreas John, die
Kampagne „Fresh Seventeen“ ausgeheckt.
17 deutsche Nachwuchskräfte sollten als
fröhliche Anfänger-Besatzung einer Nation
sympathisch werden, irgendwie, Hauptsache dabei. Ebenso gut hätten sie sagen
können: Hey, einer von uns hat doch einen
Sportwagen in der Garage stehen, wollen
wir nicht in der Formel 1 starten?
Erst als der dänische Profi-Skipper Jesper Bank, 48, dazustieß, nahm das Projekt
Form an. Der Olympiasieger, ein erfahrener America’s-Cup-Segler, brachte den
Kern der Crew mit. Im letzten Moment
sagte Dommermuth als Sponsor zu. Wenige Stunden vor Meldeschluss, nachts um
halb elf, flatterten beim Veranstalter die
nötigen Papiere auf den Tisch.
Doch fast wäre das Team noch gekentert, als im vorigen Herbst zwischen Dommermuth und Sasse, dem Vorstand und
Anteilseigner, ein Machtkampf entbrannte.
Zweifel an einer sauberen Buchführung
Sasses kamen auf, sogar von Untreue war
die Rede. Außerdem murrten einige Segler, weil sie unzureichende Verträge vorgelegt bekamen und sich hingehalten fühlten. Manchmal wusste die Crew morgens
beim Ablegen zum Training nicht, ob ihr
Team noch existierte, wenn sie abends wieder im Hafen einlief.
Nach wochenlangem Streit in der Öffentlichkeit zahlte Dommermuth Sasse mit
einem Millionenbetrag aus. „Gemessen am
Gehalt für einen Angestellten war es natürlich teuer, gemessen an meinem Vermögen nicht so sehr“, sagte Dommermuth danach. Seitdem schweigt er zu dem Thema.
Ein Nachfolger indes war schnell gefunden. Jetzt kümmert sich Michael Scheeren, 48, um die Geschäfte. Der Weggefährte von Dommermuth war lange Finanzvorstand bei United Internet und sitzt
im Aufsichtsrat des Unternehmens. Seine
erste Amtshandlung: Er gab den Seglern
binnen weniger Tage vernünftige Verträge
und ordnete den Etat.
Scheeren vollzog damit den letzten
Schritt und machte aus dem kippelnden
Projekt eine reibungslos laufende Firma.
Ein Mann des Geldes, ganz in Dommermuths Sinn.
Detlef Hacke
182
BERND FEIL / MIS
Sport
Nationaltorwart Lehmann: „Ich habe erlebt, wie es ist, um meine Existenz zu spielen“
FUSSBALL
„Ich muss weiter Gas geben“
Nationalspieler Jens Lehmann über seine neue Rolle
als Nummer eins, seine Fitness und seinen Rivalen Oliver Kahn
Lehmann, 36, wurde Uefa-Cup-Sieger mit
Schalke 04 und Deutscher Meister mit
Borussia Dortmund. Bundestrainer Jürgen
Klinsmann wählte den Schlussmann von
Arsenal London jetzt zum ersten Torwart
der deutschen Nationalelf.
SPIEGEL: Herr Lehmann, hat sich seit Ihrer
Beförderung zum WM-Torwart Nummer
eins Ihr Leben verändert?
Lehmann: Nicht so, dass ich es fühlen könnte. Natürlich habe ich eine Menge Anrufe,
SMS und E-Mails bekommen. Aber ich
muss mich vor der WM so oder so auf all
die wichtigen Spiele mit Arsenal London
konzentrieren.
SPIEGEL: Sie stehen aber mehr unter Beobachtung, Ihre neue Position gilt als psychologisch schwieriger als die Rolle des
Herausforderers. Ist Oliver Kahns Ankündigung, er wolle auch als degradierter
Torhüter mit zur Weltmeisterschaft, als
Kampfansage zu werten? Gibt er womöglich noch nicht auf?
Lehmann: Es steht mir nicht zu, da irgendetwas zu interpretieren. Ich weiß ohnehin,
dass ich bei Arsenal weiter Gas geben
muss. In England habe ich einen wesentlich höheren Druck, als ich ihn in Deutschland kannte. Damit habe ich umzugehen
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gelernt. Diese Erfahrung werde ich zur
WM mitnehmen. Ich habe erlebt, wie es
ist, um meine Existenz zu spielen. Dagegen
fühlt sich der Druck jetzt sanfter an.
SPIEGEL: Was meinen Sie mit Existenz?
Lehmann: Vor eineinhalb Jahren ging es
darum, wo wir leben – meine Kinder, meine Frau. Gehen wir wieder weg, bleiben
wir hier?
SPIEGEL: Sie meinen die Zeit, da ArsenalCoach Arsène Wenger Sie für zehn Spiele
auf die Reservebank verbannte?
Lehmann: Das waren ja nicht eben mal zehn
Spiele, sondern eine Phase, in der man alles neu überdenkt. Ich wollte ja zur WM
und in den verbleibenden Profi-Jahren auf
hohem Niveau spielen. Was sollte ich jetzt
machen? Plötzlich fing unser Ältester an zu
weinen, weil er dachte, er müsste London
schon wieder verlassen. Irgendwann stand
für mich fest: Ich bleibe und packe das
hier. Ich wusste: Ich muss alles noch einmal
erhöhen. Das ist Druck.
SPIEGEL: Bayern Münchens Manager Uli
Hoeneß behauptet, Sie hätten seit eineinhalb Jahren gewusst, dass Sie bei der WM
spielen. Wie kann das sein?
Lehmann: Da hätte ich schon sehr optimistisch oder Hellseher sein müssen. Vor eineinhalb Jahren war ich von der Nummer
der zweiten Halbzeit. Ich komme aus der
Kabine gelaufen und gewöhne mich einfach noch einmal an den Boden, ans Fallen. Denn das ist mein Job. Einmal abrollen, zack, und die Gelenke sind warm. Das
finden die Leute hier toll. Manchmal mache ich es nicht, dann verlangen sie es geradezu: „Roll, roll“, rufen sie. In Deutschland hat das keinen interessiert.
SPIEGEL: In der englischen Premier League
ist das Tempo höher, und als mitspielender
Torwart, der Angriffe vorausahnen und oft
weit vor dem Tor abfangen muss, sind Sie
stets hochkonzentriert und wirken angestrengt. Hat Ihnen diese Schule den Platz
im WM-Tor eingetragen?
Lehmann: Wegen dieser Spielweise bin ich
damals von Arsenal gekauft worden. Wie
viele Kilometer, glauben Sie, laufe ich im
Spiel?
SPIEGEL: Drei? Vier?
Lehmann: Etwa fünf bis sechs in 90 Minuten.
Das ist einiges, wenn man weiß, dass Mittelfeldspieler in der Regel auf zehn bis elf
Kilometer kommen, Stürmer auf acht bis
neun. Aber ich denke, auch das Training
bei Arsenal kam mir zugute. Man trainiert
hier ständig das Spielsystem, auch mit dem
Torwart. Das ist in Deutschland noch nicht
überall üblich. Doch Jürgen Klinsmann und
Joachim Löw denken wohl ähnlich: Auch
sie haben eine genaue Vorstellung davon,
was jeder Spieler auf dem Platz zu tun hat.
Daher ist Arsenal für mich ein Geschenk
des Himmels. Ich weiß, wie das Spiel funktioniert. Und ich bin topfit.
SPIEGEL: Woher kommt die Fitness?
Lehmann: Ich habe in meinem Leben unheimlich viel trainiert. Nicht nur phasenweise, sondern konstant. Auf und neben
dem Platz, viel Gymnastik und Kraftraum.
Ich hoffe, dass sich das jetzt auszahlt. Ich
dachte mir: Mehr kann ich nicht geben,
wenn ich das so mache. Von der Disziplin,
vom Lebenswandel. Ich wollte mir nicht
nachsagen lassen, ich hätte nicht alles für
das Ziel WM getan.
SPIEGEL: Es heißt, Sie hätten einen Wettbewerbsvorteil genossen, weil Sie mit dem
Bundestrainer den Berater teilten.
Lehmann: Mit dem Anwalt André Gross, den Sie meinen, habe
ich seit vier Jahren nicht mehr
zusammengearbeitet.
SPIEGEL: Glaubten Sie, im Torwartduell deutlich besser sein
zu müssen, um den Platzhirsch
Kahn zu verdrängen?
Lehmann: Ich wusste, dass ich
irgendwann richtig gute Leistungen würde bringen müssen.
Im vergangenen Sommer begann es. Beim Confederations
Cup hatte ich das Glück, dann
Lehmann-Rivale Kahn*: „Ein Konkurrent, der kämpft“
* Am vergangenen Montag in München
bei der Bekanntgabe seiner Entscheidung,
auch als Ersatzmann an der WM teilnehmen zu wollen.
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CHRISTOF KOEPSEL / GETTY IMAGES
Lehmann: Die mache ich in der Regel vor
MATTHIAS SCHRADER / DPA
eins im Nationalteam weit entfernt. Weil
ich ja in London auf der Bank gesessen
habe. Daraufhin habe ich einiges geändert,
auch den Trainingsrhythmus. Wenn man
aus Deutschland kommt, ist man es gewohnt, ein paar Monate sehr hart zu trainieren – bis zur Winterpause, in der man
sich erholen kann. In England gibt es die
Winterpause nicht. Ich musste lernen, dort
von Ende November an mehr Gewicht auf
die Qualität des Trainings zu legen, weniger auf Intensität. So bleibt man frisch. Seit
jenem Winter habe ich so konstant gespielt
wie nie zuvor. Das hat meinen Optimismus gestärkt.
SPIEGEL: Wirkten Sie deshalb im Endspurt
um die Gunst Klinsmanns so gelassen?
Lehmann: In meinem Fußballerleben hatte
ich manche schwierige Situation zu bewältigen. Bei Schalke standen wir auf dem
letzten Tabellenplatz, und der Verein hatte jede Menge Schulden. Da war ich 18.
Da fing der Druck an. Dann kam der Trainer Aleksandar Ristic, der mir vor jedem
Spiel aufs Neue sagte: Wenn du heute
wieder einen Fehler machst, bist du weg.
Später kam Jörg Berger, der mich in seinem ersten Spiel zur Pause auswechselte
und anderntags meinte: Besser, du suchst
dir einen neuen Verein.
SPIEGEL: Sie galten in Ihrer Karriere nie als
Publikumsliebling. Vor einem Länderspiel
in Kaiserslautern pfiffen die Zuschauer
Sie sogar schon aus, als die Mannschaftsaufstellung durchgesagt wurde. Erhoffen
Sie sich nun, als WM-Torwart der Nation,
mehr Unterstützung?
Lehmann: Natürlich. Wie jeder andere auch
werde ich gern gemocht.
SPIEGEL: In England haben Sie einen Ruf
wie Oliver Kahn in Deutschland: humorlos, grimmig, häufig in Rangeleien mit
Gegenspielern verstrickt. Sind deutsche
Torhüter besonders verbissen?
Lehmann: In meinem Fall ist die Antwort
einfach. Die Engländer haben recht: Ich
bin wirklich so – auf dem Platz. Angry,
grumpy, wie sie hier sagen.
SPIEGEL: Aber Ihre Purzelbäume scheinen
beliebt zu sein. Welchen Zweck erfüllen
die eigentlich?
Bundestrainer Klinsmann
„Genaue Vorstellung, was jeder zu tun hat“
zu spielen, als wir gute Ergebnisse brauchten. Die Abwehr stand in der Kritik, ich
durfte spielen – und wir gewannen gegen
Tunesien 3:0.
SPIEGEL: Kahn suchte während des Zweikampfs immer wieder die Bestätigung des
Bundestrainers, noch die Nummer eins
zu sein. Ein Fehler?
Lehmann: Dazu kann ich nichts sagen. Konkurrenzkampf im Tor bin ich seit acht,
neun Jahren im jeweiligen Verein gewohnt.
Ich weiß: Die Bestätigung bekommst du
nie verbal. Noch nie im Leben bin ich zum
Trainer gegangen und habe gefragt: Bin
ich die Nummer eins? Das muss ich mir im
Training und Spiel erarbeiten.
SPIEGEL: Über das WM-Abschneiden der
Deutschen wird vermutlich nicht der Torwart entscheiden. Wird diese Position zu
wichtig genommen?
Lehmann: Dafür kann ich aber nichts. Gegenüber den Mitspielern in der Nationalmannschaft ist es mir schon peinlich, dass
die Leute an dem Thema so interessiert
sind. Die Mannschaft muss im Mittelpunkt
stehen. Wenn wir Weltmeister werden,
wäre ich auch froh, wenn ich dazu keinen
einzigen Ball halten müsste.
SPIEGEL: Hätten Sie im Sinne des Betriebsklimas gern ein Mitspracherecht in der Frage, wer Ihr Stellvertreter sein soll?
Lehmann: Nein. Das würde meiner Einstellung zum Wettbewerb total widersprechen.
Auch im Verein ist immer ein Konkurrent
da, der kämpft.
SPIEGEL: Aber wie kann Oliver Kahn bei
der WM Ihr Kamerad sein, wo Sie ihm
doch den Platz weggenommen haben?
Lehmann: Ich glaube, dass ich ihm nicht
den Platz weggenommen habe. Sondern
dass die Trainer eine Entscheidung für mich
gefällt haben.
Interview: Jörg Kramer
183
Chronik
8. bis 12. April
Seit Dienstag ist
das Kinderzimmer von George
W. Bush in Texas
zu besichtigen.
SPIEGEL TV
DONNERSTAG, 20. 4.
22.35 – 23.25 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Schweiß und Tränen –
Aufnahmeprüfung am Reinhardt-Seminar
Das Wiener Max Reinhardt Seminar ist
eine der renommiertesten Schauspielschulen Europas. Wer die vierjährige Ausbildung zum Diplomschauspieler antreten
will, muss jedoch erst ein einwöchiges Bewerbungsmarathon überstehen. SPIEGEL
TV Extra begleitet Nachwuchstalente bei
den Aufnahmeprüfungen.
JEFF MITCHELL / REUTERS
FREITAG, 21. 4.
22.25 – 0.25 UHR VOX
SPIEGEL TV
THEMA
Patrouille im Regenwald –
Dschungelförster und Wildhüter im Einsatz
WAHL Harald Ringstorff wird auf der
Landesvertreterversammlung der SPD
in Mecklenburg-Vorpommern mit
95,7 Prozent zum Spitzenkandidaten
für die Landtagswahl im September
gekürt.
BESUCH Bundesinnenminister Wolfgang
Schäuble (CDU) hat nichts gegen einen
Besuch des iranischen Präsidenten und
Israel-Feindes Mahmud Ahmadinedschad
bei der Fußball-WM. Der Zentralrat der
Juden spricht von einem „Skandal“.
S O N N TA G , 9 . 4 .
HOCHWASSER Bundeskanzlerin Angela
Merkel besucht das Hochwassergebiet an
der Elbe und verspricht den Betroffenen
schnelle Hilfe. Der Pegel in der niedersächsischen Gemeinde Hitzacker erreicht
7,63 Meter – 13 Zentimeter höher als
beim „Jahrhunderthochwasser“ 2002.
IRAK Im Internet taucht eine neue Video-
botschaft mit den beiden verschleppten
deutschen Technikern Thomas Nitzschke
und René Bräunlich auf. Die Geiseln wirken erschöpft und bitten um Hilfe.
RAUMFAHRT In der kasachischen Steppe
landet die Langzeitbesatzung der Internationalen Raumstation ISS. Mit an Bord
der „Sojus“-Kapsel ist auch Marcos Pontes, der erste brasilianische Astronaut.
M O N TA G , 1 0 . 4 .
FUSSBALL Oliver Kahn will trotz seiner
Degradierung zum Ersatztorwart an der
Fußball-Weltmeisterschaft teilnehmen.
SPD Parteichef Matthias Platzeck erklärt
überraschend seinen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen. Nachfolger soll
Kurt Beck werden.
FRANKREICH Nach wochenlangen Streiks
und Demonstrationen von Schülern und
Studenten zieht die Regierung ihr umstrittenes Gesetz zur Erstbeschäftigung
zurück.
D I E N S TA G , 1 1 . 4 .
ITALIEN I Nach stundenlanger Auszählung
der Stimmzettel steht Romano Prodi als
knapper Sieger der Parlamentswahlen
fest. Verlierer Silvio Berlusconi zweifelt
das Ergebnis an.
ITALIEN II Sicherheitskräfte nehmen den
gefürchteten Mafia-Boss Bernardo Provenzano, genannt „das Raubtier“, fest.
Der 73-Jährige wurde seit 1963 gesucht.
ANSCHLAG Mindestens 40 Menschen sterben bei einem Bombenanschlag auf eine
Gebetsversammlung sunnitischer Muslime im Süden Pakistans.
AUSZEICHNUNG Essen wird im Jahr 2010
europäische Kulturhauptstadt. Die Ruhrgebietsmetropole gewann mit ihrer Bewerbung „Wandel durch Kultur – Kultur
durch Wandel“.
MITTWOCH, 12. 4.
ATOMPROGRAMM Die Bekanntgabe einer
ersten erfolgreichen Atomanreicherung
in Iran löst weltweit große Besorgnis aus.
Auch die traditionellen Verbündeten
Russland und China äußern sich kritisch
zu den Atomversuchen.
SAMSTAG, 22. 4.
21.50 – 23.50 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
Kaufrausch im Wohnzimmer –
Das Geschäft mit dem Versandhandel
Die Deutschen sind Europameister im
Bestellen. Besonders gern wird über das
Internet geordert: Fast 25 Millionen Online-Käufer sorgten 2005 für den Rekordumsatz von 6,1 Milliarden Euro. SPIEGEL TV über Sammelbesteller, adlige
Trendscouts und Bioschnitzel in der
Post.
SONNTAG, 23. 4.
22.30 – 23.20 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
Schröder, Kohl und Konsorten – Karrieren ehemaliger Polit-Größen; Stadt ohne
Zukunft – Bremerhaven und die Verwaltung des Niedergangs; Aufmarsch der
Hartz-IV-Empfänger – Spargelernte in Hes-
sen.
ALEXANDER ZEMLIANICHENKO / AP
S A M S TA G , 8 . 4 .
In Brasilien liegt das weltweit größte tropische Regenwald-Schutzgebiet: Der Tumucumaque-Nationalpark. Der Deutsche
Christoph Jaster soll im Auftrag der brasilianischen Umweltbehörde ein Paradies
schützen, dessen Fläche so groß wie die
Niederlande ist. Dazu unternimmt er Expeditionen an Orte, die noch nie vom
„weißen Mann“ betreten wurden.
DAIMLER-CHRYSLER Auf der Hauptversammlung kündigt Konzernchef Dieter
Zetsche eine Gewinnsteigerung an. Der
Absatz des Unternehmens werde aber
eher stagnieren.
ÜBERNAHME Ein US-Investor will das nach
dem Betrugsskandal insolvente Werttransportunternehmen Heros übernehmen.
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s p i e g e l
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Altbundeskanzler Gerhard Schröder
185
Register
zeichnungen erhielt Reve den bedeutenden niederländischen Literaturpreis P. C.
Hooftprijs. Gerard Reve starb am 8. April
im belgischen Zulte.
gestorben
왘왘
POLITIK
Wundersame Wandlung: Wie CSUMinisterpräsident Edmund Stoiber
nach seiner Schlappe in Berlin am
Comeback als Spitzenkandidat
arbeitet. SPIEGEL ONLINE beobachtet
die Rückkehr des Vielgescholtenen.
왘왘
WISSENSCHAFT
Thermoskarren: Deutsche Forscher
entwickeln eine neue Energieversorgung für Großkunden.
SPIEGEL ONLINE beschreibt, wie
industrielle Abwärme per Lkw zum
Verbraucher geliefert wird.
왘왘
KULTUR
Zeitgeschichte: SPIEGEL-ONLINEInterview mit der Swing-Legende
Coco Schumann über seine Zeit als
Musiker im Dritten Reich und sein
Überleben im KZ Theresienstadt.
왘왘
SPORT
Titelangriff: Timo Boll führt die
deutschen Tischtennis-Herren zur
Mannschafts-WM in Bremen.
Bei SPIEGEL ONLINE spricht der
Weltranglisten-Zweite über seine
gefährlichsten Gegner – die
starken Chinesen.
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Schneller wissen, was wichtig ist.
FRANK MÄCHLER / DPA
Maßgabe der allgemeinen Gesetze zulässig.“ Ernst Müller-Meiningen jr. starb
am 10. April in München.
Allan Kaprow, 78. Der Amerikaner selbst
Gerard Reve, 82. Es
dauerte 41 Jahre,
bis der Erstlingsroman des niederländischen Schriftstellers, „Die Abende“,
auf Deutsch erschien.
Das war 1988, und
Reve galt in seiner
Heimat schon lange
als einer der wichtigsten Nachkriegsautoren. Früher bekennender Marxist, trat er der katholischen
Kirche bei und bekannte sich nach der
Scheidung in den sechziger Jahren zu seiner Homosexualität. Religion und Sexualität thematisierte er auch immer wieder in
seinen Texten. Im Roman „Näher zu dir“
(Deutsch 1970) so drastisch, dass er wegen
Blasphemie verklagt wurde. Reve malte
sich in allen Details aus, wie es wäre, mit
Gott, der in Gestalt eines Esels auf Erden
wandelt, zu kopulieren. „Der vierte Mann“
machte den Schreiber, der viel von Melancholie und von Humor verstand, 1993 in
Deutschland einem breiteren Publikum bekannt. Neben zahlreichen anderen Aus186
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te sie zur Handelsschule, doch Ballett- und
Schauspielunterricht sagten der gebürtigen
Berlinerin mehr zu. Mit Hartnäckigkeit und
Talent schaffte sie es ans Zürcher Schauspielhaus und nach Hamburg, zu Gustaf
Gründgens. „Das mit dem Film“, meinte
die Blondine nach einem halben Jahrhundert solider Schauspielarbeit und mehr als
200 Rollen unter anderem neben Gert Fröbe, Romy Schneider, Heinz Rühmann, Eddie Constantine, „war eher Zufall. Da ich so
hübsch war, kam der Film nicht an mir vorbei.“ Sie spielte zwar meist Nebenrollen,
das aber kontinuierlich. Regisseur Rainer
Werner Fassbinder
engagierte sie unter
anderem für „Faustrecht der Freiheit“
und „Berlin Alexanderplatz“. Zuletzt
war sie in der Soap
„Unter uns“ auf RTL
als etwas anstrengende Hausbesitzerin zu sehen. Junge Kollegen bewunderten sie wegen ihrer illustren
Bekanntschaften, aber auch, weil sie zum
Weinen keinen Tränenstift brauchte. Christiane Maybach starb am 12. April in Köln.
bezeichnete sich als „Unkünstler“, dabei
hatte er bei dem aus Deutschland stammenden Maler Hans Hofmann eine solide
Ausbildung absolviert – und sollte zu einer
der maßgeblichen Gestalten bei der Entwicklung einer eigenständigen US-Moderne werden. Kaprow
hatte sich in den Vierzigern und nach dem
Vorbild von Jackson
Pollock im „Action
Painting“ versucht.
Dann verstärkte er den
Aspekt mit dem Körpereinsatz, entwickelte schließlich eine eigenständige Kunstrichtung. 1959 erfand er den dazugehörigen
Fachausdruck: „Happening“. Er ließ Leute über Autoreifen klettern oder richtete
Räume ein, in denen die Besucher die Möbel umstellen durften. In den Siebzigern
baute er die Berliner Mauer nach – wobei
er Marmeladenmörtel verwendete. Seine
Kunst war flüchtig, überraschend, voller
Witz und insofern nichts fürs Museum.
Diese Art von Anarchie hat den Künstler
zum Vorbild einer jungen Generation gemacht. Allan Kaprow starb am 5. April im
kalifornischen Encinitas bei San Diego.
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GLOBE / INTER-TOPICS
Indiens boomende Wirtschaft verblüfft das
Ausland und begeistert die Einheimischen.
SPIEGEL-ONLINE-Report aus dem Land, in
dem plötzlich Millionen Menschen an sich
glauben – und so den Aufschwung befeuern.
Christiane Maybach, 79. Der Vater schick-
HORST OSSINGER / DPA
NEU-DELHIS KRAFTAKT
behielt der Jurist und Journalist bis ins
hohe Alter bei – zum Gedenken an seinen
Vater, den bayerischen Justizminister und
stellvertretenden Ministerpräsidenten der
Weimarer Zeit, und auch zum Zeichen
dafür, dass der Mensch sich seiner Wurzeln
bewusst zu sein hat.
1908 in München geboren, in der HitlerZeit beruflich chancenlos, bestimmte der
streitbare Liberale von
1946 bis 1979 mit seinen Kommentaren und
Glossen – gezeichnet
mit dem Kürzel „M.M.jr.“ – den rechtspolitischen Kurs der „Süddeutschen Zeitung“: nie schäumend, sondern mit dem geschliffenen Wort für einen humanen, freiheitlichen Rechtsstaat
fechtend. Schon in den fünfziger Jahren
kritisierte er den noch von obrigkeitsstaatlichen Prinzipien geprägten Strafprozess;
er stritt gegen die Einführung der Todesstrafe und erinnerte die NS-Täter an ihre
persönliche Verantwortung. Für die Zeitung schrieb er 1997 nach seinem Ausscheiden – anlässlich der Diskussion um
den Großen Lauschangriff – wenigstens
noch einen Leserbrief, in dem er ironisch
vorschlug, Artikel 1 des Grundgesetzes
doch zu ergänzen: „Folter ist nur nach
HOLLANDSE HOOGTE
ADEEL HALIM / REUTERS
Ernst Müller-Meiningen jr., 97. Den „jr.“
Personalien
Volker Kauder, 56, Fraktionschef
der CDU/CSU, gibt sich offiziell
gern modern, hält aber offenbar
nichts davon, wenn junge Mütter
arbeiten gehen und ihre Kinder in
Tagesstätten abgeben. Am Stuttgarter Flughafen traf Kauder unlängst auf eine Bundestagskollegin, die türkischstämmige GrünenAbgeordnete Ekin Deligöz. Die war
gerade mit einer typischen Elternarbeit beschäftigt: Deligöz versuchte, ihren schreienden vierjährigen Sohn zu bändigen. Vor
dem Rückflug mit der PolitikerMutter nach Berlin fiel ihm wohl
der Abschied von den Großeltern
schwer. Kauder beobachtete die
Szene und fragte, so erinnert sich
die Abgeordneten-Kollegin: „Das
arme Kind. Warum nehmen Sie
ihn denn mit?“ Deligöz antwortete:
„Weil sein Vater in Berlin arbeitet
und ihn auch sehen will.“ Kauder,
selbst kinderlos, blickte verdutzt
und erklärte: „Was, er arbeitet auch
noch? Das haben Sie von Ihren Lebensstilen.“ Dann wendete er sich
ab und grummelte kopfschüttelnd:
„Kitas – armes Kind, kann ja nicht
gut gehen.“ Volker Kauder konnte
sich in der vorigen Woche an den
Wortlaut der Unterhaltung nicht
mehr erinnern.
Shakira, 29, kolumbianisches Sangeswunder, sorgt
in ihrer Heimatstadt Barranquilla (Provinz Atlántico) für Aufregung. Es geht um den Ort, an dem
eine Skulptur der berühmtesten Tochter der Stadt
ihren endgültigen Platz finden soll. Das Werk des
deutschen Shakira-Fans, Kunst-Autodidakten und
hauptberuflichen Landrats des rheinischen Kreises Neuss Dieter Patt, 62, das dieser Tage als
Frachtgut in Kolumbien angelandet ist, soll nach
dem Willen der Sängerin auf einem verkehrsreichen Platz vor der Universität Atlántico aufgestellt werden. Hier
seien „die jungen
Leute jeden Tag unterwegs“, für die sei
die Statue auch gedacht. Doch die Landesregierung von Atlántico ist dagegen.
Man möchte die
sperrige fünf Meter hohe und fünf
Shakira-Skulptur, Patt
Tonnen schwere
Eisenplastik lieber in einem noch zu gestaltenden ruhigen Park aufstellen. Shakira wird
sich mit ihrem Wunsch wohl durchsetzen.
Denn die Lichtgestalt Kolumbiens will nur
dann zur Einweihungsfeier kommen, wenn die
Skulptur an einem ihr genehmen Ort aufgestellt
wird. Denn: „Nicht ich bin es, die dort abgebildet
ist, es ist meine Generation mit der Gitarre in der
Hand“, hatte die Künstlerin gesagt, als sie im November vergangenen Jahres in Neuss die Skulptur
erstmals in Augenschein nahm.
Atallah Abu al-Sabh, 58, neuer
Kulturminister Palästinas, grenzt
sich und sein Land scharf ab von
den Taliban. Weder Bilderstürmerei solle es geben, noch müssten alle zu
Allah beten. Verboten werde allerdings die
Bauchtänzerei. Denn „Bauchtanz bedeutet
nackte Frauen. Das ist unislamisch“. Jede
Shakira
BWP / REFLEX
ten, wegen der „moralischen Korruption“,
ebenso wird es keine „Madonna in Bed“
geben. Und noch etwas: „Nicht alles, was
aus Hollywood kommt, ist schlecht. ,Titanic‘ war ein guter Film, ein humaner Film“,
sagt Abu al-Sabh, der wohl vergessen hat,
dass Kate Winslet, 30, die Hauptdarstellerin, in einer Szene nackt zu sehen ist.
legen inzwischen als ebenbürtig erwiesen.
Und Oberstabsfeldwebel Kraft hatte sich
gar den besonderen Respekt ihrer Kollegen
erworben, als sie bei einem Anschlag auf
eine Ölpipeline aus dem kreisenden Hubschrauber heraus mit einem M4-Gewehr
im Anschlag mehrere Angreifer tötete.
Statt „töten“ bevorzugt die zierliche Kalifornierin das kühl-bürokratische Wörtchen
„neutralisieren“, gestand sie in einem Interview. Sie wolle nicht, dass „die Leute
zu Hause denken, dass wir Gefallen daran fänden, Menschen zu töten. Dies ist
ein Teil unseres Jobs, der uns keine Freude macht“.
„Titanic“-Szene mit Winslet
Menge ägyptischer und auch russischer
Bauchtänzerinnen kämen ins Land. Ließe
man zu, dass sich das „Phänomen
Bauchtanz weiterverbreitet“, so die Überlegung des Ministers, „dann könnte es sein,
dass unser Volk sich dagegen wehrt und
Menschen tötet“. Er wolle nicht, „dass unser Volk ein Volk von Taliban wird“. Kinos
sollen dagegen wieder geöffnet werden,
die Filme aus Israel aber bleiben verbo188
Oberstabsfeldwebel der
U. S. Army, ist eine
von acht Pilotinnen
der im irakischen Kirkuk stationierten zweiten Staffel des 17. Kavallerieregiments, die
mit einem Kampfhubschrauber über dem
sunnitischen Dreieck
Einsätze fliegt. Bei der
Infanterie ist Soldatinnen die Teilnahme
an Kampfhandlungen
verboten, nicht so den
Kampfpilotinnen. Sie
haben sich im Irak
ihren männlichen Kol- Kraft
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Ludwig II., im Jahr 1886 bei Berg im Starn-
NICK MEO
20TH CENTURY FOX
Mariko Kraft, 31,
berger See ertrunkener König von Bayern,
soll mit einem riesigen, wenn auch vergänglichen Bildnis geehrt werden. Die Vereinigung der sogenannten Guglmänner
SM, eine Art anonymer Fanclub des
„Kini“, lässt auf einem Feld neben dem
Münchner Flughafen ein überdimensionales Porträt von Ludwig II. ins Getreide fräsen – mit einem Mähdrescher, der via Satellit gesteuert wird. Sowohl die Besucher
der Fußball-Weltmeisterschaft als auch im
der Opferbereitschaft – an das
Amt“, weiß die Darstellerin. Die
echte Elizabeth II., auf die achtzig zugehend, hat auch „Elizabeth I.“ gesehen. Auf einer
Dinnerparty erzählte die Queen
einem der TV-Produzenten, sie
habe die Serie genossen. Der erbot sich, Ihrer Majestät eine
DVD zu überlassen. Die Königin, so Mirren, habe abgewehrt:
„Oh, no, wir haben keine DVDs.
Ein Video wäre gut.“
GUGLMANN
Dominique de Villepin, 52,
französischer Premierminister,
büßte durch einen politischen
Bestseller erheblich an dem von
ihm sorgsam gepflegten Image
des aristokratischen Feingeists
und Poeten ein. In einem mit zahllosen
Fußnoten akribisch dokumentierten Buch
über Staatspräsident Jacques Chirac „Die
Tragödie des Präsidenten“ beschreibt der
Chefredakteur des Magazins „Le Point“
Franz-Olivier Giesbert Regierungschef
Villepin als Vielfraß, der „für vier“ esse
und trinke sowie Widersacher grundsätzlich als „Blödmänner“ und „Arschlöcher“
abqualifiziere. Höhepunkt des Zitatenschatzes des ausgewiesenen Patrioten
Galouzeau de Villepin – so der volle Name
– ist dessen Einschätzung von Frankreich
als lasziver Dame: „La France scheint am
Boden zu liegen. Betrachtet sie aus der
Nähe. Sie hat die Beine gespreizt. Sie wartet verzweifelt darauf, dass sie gebumst
wird. Es ist zu lange her, dass jemand sie
solcherart beehrt hat.“ Trockener Kommentar des gaullistischen Ex-Premiers
Edouard Balladur: Wer keine drei Sätze
reden könne, ohne obszön zu werden,
„muss ein sexuell Besessener sein“.
Geplantes Porträt Ludwigs II.
September Papst Benedikt XVI. können
beim Landeanflug auf den Airport den
berühmten Wittelsbacher Regenten von
oben betrachten. Die Guglmänner sehen
die Aktion auch als Protest gegen das Haus
Wittelsbach und die staatlichen Behörden,
die sich immer noch weigern, den Sarkophag des Königs zu öffnen. Dann, glaubt
der Geheimbund, ließe sich ein Mord an
Ludwig II. nachweisen und eine gigantische Geschichtsfälschung aufklären.
Helen Mirren, 60, britische Schauspielerin,
kennt sich nun aus in der Geschichte der
britischen Monarchinnen. Sie spielte in
der kleinen TV-Serie „Elizabeth I.“ die
gleichnamige britische Königin aus dem
16. Jahrhundert. Jetzt hat sie steife Halskrausen und wallende Roben gegen Perlenketten und Tweedröcke getauscht. In
dem Kinowerk „The Queen“, einem Porträt der königlichen Familie nach Prinzessin Dianas Tod, übernahm sie die Rolle
der Elizabeth II. „Elizabeth I. wie die II.
sind durchdrungen von einem aufrichtigen
Gefühl der Hingabe – um nicht zu sagen
GILES KEYTE / CHANNEL 4 (O.); LAURIE SPARHAM (U.)
Mirren in „Elizabeth I.“, in „The Queen“
Sebastian Edathy, 36, Vorsitzender des
Bundestagsinnenausschusses und Sohn eines indischen Vaters, wurde mal wieder
Opfer eines Vorurteils. Bei einer EU-Konferenz mit Beitrittskandidaten diesen Montag in Wien wurde der SPD-Parlamentarier bei der Anmeldung von einer Gästebetreuerin mit der Bemerkung begrüßt:
„Oh, der Türkisch-Dolmetscher ist ja auch
schon da.“ Edathys Richtigstellung („Ich
bin nicht hier zum Dolmetschen“) ließ die
Betreuerin zwar erröten, eine Entschuldigung jedoch verkniff sie sich. Edathy hat
Erfahrung damit, als Ausländer wahrgenommen zu werden. Auf einer Reise in die
Hamburger Partnerstadt St. Petersburg begrüßte der damalige Hamburger Bürgermeister Ortwin Runde den Abgeordneten,
obwohl Edathy als Mitglied der deutschen
Delegation vorgestellt worden war, mit der
flotten Formel: „Nice to meet you.“ Edathy entgegnete: „Wir können auch Deutsch
reden, Ortwin.“
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Bildunterschrift aus der „Berliner Morgenpost“: „Marcello Mastroianni als Alter
Egon von Frederico Fellini in dessen
Selbstporträt ,Achteinhalb‘.“
Zitate
Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Der
17-Jährige wurde von der Polizei alkoholisiert und aufgegriffen.“
Aus der „Westdeutschen Allgemeinen
Zeitung“
Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Ein
Klon-Skandal jagt den nächsten: Jetzt soll
Ian Wilmut, gefeiert als Vater des KlonSchafes ,Dolly‘, vor einem Untersuchungsausschuss in Edinburgh zugegeben
haben, dass er nicht der Vater des weltberühmten Klon-Schafes sei.“
Aus dem Wochenblatt „Kaufen und Sparen“
Aus dem „Bergsträßer Anzeiger“: „Die
Wärme von Sabine Meyers Klarinette ersetzt die Zentralheizung.“
Aus der „Hannoverschen Allgemeinen
Zeitung“: „Leider spielt seine Geschichte
nun mal in einem Krankenhaus, in dem
täglich Menschen und Ärzte ihr Schicksal teilen.“
Aus der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“
Aus der „taz“: „Im besten gebärfähigen
Alter bleiben sie lieber große Jungen, als
junge Väter zu werden, formulieren die
Bevölkerungsexperten plakativ.“
Aus der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“:
„Es kommt immer wieder zu teils schauerartig verstärktem Regen, später auch zu
Regenschauern.“
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Die „Welt“ zum SPIEGEL-Dokument
„SPD – Ein besserer Sozialstaat“
von Matthias Platzeck (Nr. 15/2006):
Platzecks fünfmonatige Amtszeit als Parteichef wird durch zwei programmatische
Beiträge eingerahmt von seiner allseits anerkannten Rede auf dem Karlsruher SPDParteitag, der ihn am 15. November vergangenen Jahres mit dem Traumergebnis
von 99,4 Prozent der Delegiertenstimmen
gewählt hatte. Und von einem Abschiedsgruß im jüngsten Heft des SPIEGEL, mit
dem er das verstaubte Grundsatzprogramm auf Vordermann bringen wollte.
Dazwischen fiel es Platzeck schwer, der
SPD nachhaltig zu neuem Profil zu verhelfen; seine Strategie setzte auf lange
Fristen. Aber in seiner Partei wuchs die
Nervosität angesichts sinkender Umfragewerte. Das schien auch Platzeck zu verunsichern.
Der Komiker Otto Waalkes in einem
Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ („FR“) zum SPIEGEL-Titel
„Das Land des Lächelns“ (Nr. 9/2006):
„FR“: Glaubt man dem SPIEGEL, leben
wir derzeit in einem Land des Lächelns, in
dem alle einen merkwürdigen Optimismus
verspüren, obwohl die Lage gar nicht danach ist.
Otto: Als Komiker glaube ich dem SPIEGEL in der Beziehung gern. Denn dieser
„merkwürdige Optimismus“ treibt mich
seit Jahrzehnten an. Und gerade in solchen
Momenten, wenn alles bedrückt ist, wird
der Ruf nach Unterhaltung am lautesten.
Und das nutzen wir Alleinunterhalter
natürlich ein bisschen aus.
Die „Süddeutsche Zeitung“ zum
SPIEGEL-Buch „Schläge im Namen des
Herrn. Die verdrängte Geschichte der
Heimkinder in der Bundesrepublik“ von
SPIEGEL-Redakteur Peter
Wensierski, DVA, München 2006:
Peter Wensierski schreibt aus der Perspektive der Opfer, der einstigen Heimzöglinge.
Doch das Buch geht über die bisher erschienenen Erlebnisberichte hinaus. Es
bleibt im Stil nüchtern, zitiert aus den Akten, wo sie zugänglich sind – oft waren sie
es allerdings nicht. Es gibt auch die entsetzten Notizen der jungen Pädagogen wieder, die in den 70er Jahren mit neuen Idealen von der Universität kamen und im brutalen Alltag der Heimerziehung landeten.
Es endet mit den Heimrevolten der frühen
70er Jahre, über die eine junge, politisch
engagierte Journalistin berichtete: Ulrike
Meinhof. Das Buch zeigt die düstere, gewalttätige Seite der 50er und 60er Jahre,
die inzwischen überraschend weich und
idyllisch gezeichnet werden.
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