nordseeinsel spiekeroog - ferien

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nordseeinsel spiekeroog - ferien
Spiekeroog
NORDSEEINSEL
SPIEKEROOG
Der Wind zauste ihr grob die sommerhellen
Haare, und sie nahm es lachend hin. Vielleicht hätten sie besser in ein altes Fotoalbum
gepasst, in die Obhut von Pergament und
dunklem Leder, als mitten im modernen
Leben zwischen entspannt schnatternden
Touristen philosophische Fragen auszubrüten. Großmutter und Enkelin: Sie hatten das
gleiche Lachen, wenn sie vergeblich versuchten, die weißblonden Haarsträhnen aus dem
Gesicht zu wischen. Wahrscheinlich waren sie
schon oft so zur Insel unterwegs gewesen.
„Was hören die Ohren, wenn es still ist?“
Die alte Frau hatte irgendetwas geantwortet. Was kümmerten mich Kinderfragen. Der
Wind machte meine Augen müde. Es war
noch warm. Das Sonnenlicht lag auf dem
Meer wie flüssiges Blattgold. Zu Hause hatten
sie gesagt, ich sollte einmal richtig ausspannen, Ruhe haben, acht Tage ohne Stress, ohne
Lärm, nur Ruhe und Faulsein. Es hatte gut
geklungen, vernünftig und ein bisschen abenteuerlich.
Unterwegs
Kinder haben merkwürdige Fragen.
„¡Was hören die Ohren eigentlich, wenn es still ist?“
Vielleicht war sie sieben Jahre alt, vielleicht auch zehn. Sie saß mir gegenüber, mit dem Rücken zum Wind. Wenn sie sich reckte, konnte sie die Arme
auf die Reling stützen und den Kopf schief darauf legen.
„Sag‘, was hören die Ohren, wenn es still ist?“
Das Mädchen zappelte wie alle Kinder mit
den Beinen. Ruhe, hatten sie gesagt. Über
dem Schiff segelten Möwen. Hatte jemand
Emma gesagt? Diese hier hießen alle Donna
Clara. Die Aussicht auf Ruhe machte mich
plötzlich nervös. Sie hatten keine Autos auf
der Insel. Die Fähre fuhr nur manchmal. Wer
weiß, wann die Kneipe schloss. Hatte die Insel
überhaupt eine? Und eine Videothek? Und die
Morgenzeitung?
„Sag‘, was hören die Ohren, wenn es still ist?“
Warum fragen Kinder so? Die alte Frau hatte
geantwortet, als wäre es ganz normal.
Was hatte sie bloß geantwortet?
Spiekeroog
Ankunft
Die Fähren fahren selten und unregelmäßig.
Wahrscheinlich können nur Naturmenschen
das System verstehen. „Der Fahrplan ist tideabhängig“, belehrte mich sanft ein junger
Mann, der einen der letzten Sitzplätze auf
dem Sonnendeck ergattert hatte. Direkt neben mir und meinem zerknitterten Fahrplan.
Manchmal verkehren die Schiffe viermal am
Tag, manchmal zweimal, am 1. Weihnachtstag überhaupt nicht. „Sie fahren spätestens
drei Stunden vor Niedrigwasser und frühestens zwei Stunden nach Niedrigwasser“, sagte der junge Mann und lächelte das schläfrig
platte Meer an. Neuharlingersiel mit seinen
pittoresken Fischkuttern lag hinter uns. Das
samstägliche Menschengetümmel war vom
Schiffsanleger gut gelaunt auf die Fähre geschwappt. In einer halben Stunde würde ich
Spiekeroog betreten.
Und alles war anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Kein regelmäßiger Fährverkehr. Mediterrane
Sonne. Keine einzige Wolke. Keine Spur von
Orkan oder Gischt. Zu viele Menschen, zu
wenig Stress. Alle sahen sanft und glücklich
aus, obwohl es so eng war wie in der U-Bahn
nach Feierabend. „So viele Leute. Das ist total
unnormal.“ Der junge Mann gluckste albern.
„Aber bei schönem Wetter kommen eben viele Tagesgäste.“
Ich war müde und sorgte mich um meine
Koffer. Vermutlich war es sinnvoll, dass alle
größeren Gepäckstücke per Container transportiert wurden. Aber wer sagte, dass ich
meine Koffer auf Spiekeroog ohne weiteres
wiederfinden würde?
Der Wasserpegel in der Fahrrinne kam mir
bedenklich niedrig vor. „Wenn wir stecken
bleiben, steigen wir aus und gehen im Watt
spazieren“, witzelte jemand. Plötzlich bemerkte ich das Land vor uns. Wie ein Gebilde zwischen Traum und Wirklichkeit erhob es sich
aus dem blanken Spiegel der See. Grün geschwungene Silhouetten, die in der Bewegung
inne zu halten schienen, um sich im nächsten
Moment neu zu ordnen. Vereinzelte Häuser.
Ein paar weidende Tiere. Vogelschwärme. Es
war etwas Eigensinniges um diese Insel.
Ich ging mit den letzten Passagieren vom
Schiff. Mit ein paar Schritten fand ich meinen
Gepäck-Container. Ein Elektrokarren nahm
die Koffer zur Pension mit. Die Menschen
mussten sich ihrer Füße bedienen. Der breite Weg zum Ort machte den Eindruck einer
friedlichen Großdemo. Zu Hause hatten sie
gesagt, es sei still auf der Insel. Keine Urlaubermassen. Kein Highlife. Kein VergnügungsStress. Nur Natur, Erholung, Ruhe.
Ich ging langsam. Der Pilgerzug vor mir zog
sich auseinander, verteilte sich gemächlich
in alle Himmelsrichtungen. Als ich den Ort
erreichte, hatten sich die Menschen verstreut. In der Ferne schlug ein Hund an. Vor
einer Eisdiele verhandelte eine Frau mit ihren
Kindern. Bollerwagen, Spazierstöcke, sonnengebräunte Gesichter, Straßencafés, sonnige,
lachende Gelassenheit.
War es still? Es war anders.
Sonntag
Die Nacht war ruhig, aber nicht still. Wie gewöhnlich war das Einleben in ein fremdes Bett
nervig. Während ich wach lag, hörte ich mit
verschwommener Genugtuung das Rauschen
vor dem Fenster. Das Wetter an der Nordsee war also doch nass und unfreundlich.
Es regnete ohne Ende. Morgens um sieben
strahlte mich ein unschuldiger, babyblauer
Mittelmeer-Himmel an - und vor dem Fenster
rauschte es ohne Ende. Der Wind. Und die
Pappeln! Nicht ein Tropfen hatte das nächtliche Pflaster benetzt. Die Insel hat etwas
Eigensinniges.
Das Frühstück ist gediegen. An einigen Tischen
wird verschämt gekichert, weil man mehr
isst als zu Hause. Vermutlich läuft man aber
auch mehr als zu Hause. Zwölf Kilometer lang
ist die Insel und zweieinhalb Kilometer tief.
Fünfzehn Kilometer Strand und entsprechend
viel Watt warten auf fleißige Urlauberfüße.
Nicht zu vergessen das muskelgesunde Auf
und Ab der Dünenwege.
25 Meter hoch reckt sich derzeit die markanteste Düne - und lässt sich darum huldvoll
„Mount Everest Ostfrieslands“ titulieren.
Einen Kilometer misst der Weg vom Rathaus
zum bewachten Badestrand. 27 Straßen hat
Spiekeroog und rund 350 Wohnhäuser. Und
nicht die geringste Chance, ein Auto einzuschmuggeln!
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Die Pension ist ausgebucht, obwohl die Konkurrenz groß ist. Knapp 200 Ferienwohnungen. Rund 40 Hotels, Pensionen und Quartiere von Privat. Die Wirtin würde mit ihrem
Betrieb ohne Anstrengung auch auf dem
Festland, in jeder Großstadt klarkommen.
Das Haus hat Stil und Niveau. Warum bleibt
die Frau bloß hier?
Zwei Mädchen joggen an der Fensterfront
der Frühstücks-Veranda vorbei. Eine Gruppe
spannkräftiger älterer Damen folgt angeregt plaudernd. Vater und Sohn tragen ihre
Rucksäcke schweigend dem Strand entgegen.
Ich mache mich auf den Weg, auf der Suche
nach den wichtigsten Grundnahrungsmitteln. Menschen mit Brötchentüten, Strandmatten und Bollerwagen kommen mir entgegen. Aus einer geöffneten Tür streift mich
der freche Charme geschmeidiger CaféhausMusik. Vor einer Bäckerei sitzen zwei sinnende
Männer mit Kaffee-Pott und Streuselkuchen.
Die Stimmung ist leicht wie ein tanzender
Schmetterling. Und sie hat Gelassenheit.
Die Lebensmittelgeschäfte öffnen am Sonntag nur von 10 bis 12 Uhr. Eigensinnig.
Am Abend tun mir die Schienbeine weh. Die
Füße schreien nach einem weichen Lager. Die
Insel ist groß. Meine Füße behaupten, sie ist
größer als jede Stadt auf dem Festland.
Es gibt einen Musikschuppen auf der Insel.
„Täglich Party ab 21 Uhr“ habe ich auf
irgendeinem Schild gelesen. Kann es wahr
sein, dass mir das im Moment völlig egal ist?
Spiekeroog
Montag
Die Insel hat ein Großraum-Fahrzeug. Die
Insel hat nicht nur wenige Fahrräder und
kleine
schnurrende
Elektro-Wägelchen,
sondern ein echtes Straßenverkehrsmittel
- eine stille, besonnene, umweltfreundliche,
uralte Pferdebahn. Der Stadtmensch in mir
verlangt nach komfortabler Fortbewegung
und darum spaziere ich zu einer Örtlichkeit,
die Bahnhof heißt und aussieht wie eine
schmalbrüstige Scheune, aus der sich ein
Schienenstrang heraus- und in das grüne
Weideland hineinwindet. Ich lese, dass ich
die Unterkunft von Deutschlands letzter und
ältester Pferdebahn vor mir habe. Es gefällt
mir, dass mich das historische Gefährt rund
1200 Meter weit in unmittelbare Nähe von
Düne und Meer bringen kann, ohne dass
ich einen Fuß bewegen muss. Es gefällt mir
nicht, dass Pferd und Wagen dies zwar sehr
häufig tun, aber niemals am Montag und bei
Winden ab Stärke 7.
Ich hatte die Wirtin gefragt, warum sie auf der Insel lebt.
Sie hatte mich freundlich und aufmerksam angeschaut:
„Das werden Sie vielleicht noch von selbst verstehen.“ Dann hatte
sie rätselhaft hinzugefügt: „Man lernt hier sich zu gedulden.“
Damit war das Thema für sie erledigt.
Ich gehe also daran, mich zu gedulden.
Wozu brauche ich zur Erkundung der Insel
eine Pferdebahn, wenn es andere Sitzgelegenheiten gibt? Alle paar Meter stehen auf
Spiekeroog Bänke - sehr weiß, sehr gepflegt,
sehr bequem. Man benutzt sie, um zu klönen,
um sich zu gedulden und um Eis zu essen.
Spiekeroog
Unmengen von Eis essen die Menschen hier.
Eine Kugel kostet nicht mehr als bei uns zu
Hause. Zwischen den Häusern weht der süße
Duft frisch gebackener Eiswaffeln. Allein vom
Atmen könnte man zufrieden dick werden.
Und man benutzt die Bänke zum Lesen. In
ganz Deutschland wird wahrscheinlich nicht
so viel gelesen wie auf den Bänken der Insel.
Vielleicht ist es das, was die Stimmung so
leicht und behaglich macht: Eine Glocke aus
Nachdenklichkeit, literarischer Lust und kreativer Ruhe hängt über der Insel und macht
das Klima licht und weit.
Ich studiere die Insel, indem ich von Bank zu
Bank sitze und mit mir klöne und lese. Ich
lese, dass unter Windstärke 7 „steifer Wind“
zu verstehen ist, während erst Windstärke 9
ein Sturm ist. Und ich lese die Veranstaltungsheftchen. In der Inselhalle ist regelmäßig Kino
mit den aktuellsten Filmen. Es gibt Dichterlesungen, Konzerte, Gesprächsabende mit
dem Pastor, Ausstellungen, Dorfführungen,
Wattwanderungen und Kreativkurse. Im
Moment würde mich das Bollerwagenrennen
am meisten interessieren. Als Passagier.
Andererseits gibt es einen Bastelkursus, der
auch die Fertigung von Raupen aus Bierdeckeln vorsieht. Vielleicht lässt sich aus
Bierdeckeln auch heimlich ein Auto basteln.
Meine Beine werden selbst vom Sitzen müde.
Ich liege im Bett und höre das helle Rauschen
der Pappeln. Leichte Schritte und ein kurzes
Lachen mischen sich dazu. Ich wundere mich,
weil ich glücklich bin, nichts weiter als dies
hören zu müssen.
Dienstag
Den Gedanken, dass die Pferdebahn heute
fahrplanmäßig dem Ruf der Schiene folgen
muss, habe ich trotzig ignoriert. Soll sie doch
lernen, sich zu gedulden, ehe ich noch einmal
ihre Nähe suche.
Meine Füße folgen bereitwillig dem Kommando von Sonnencreme und Strandlaken.
Ziemlich flott überholen sie diverse trödelnde
Leinenschuhe, Sandalen und BollerwagenRäder. Überraschend kreuzenden Fahrrädern
weichen sie so unbeschwert aus, als wären sie
nie an Gaspedale und Büroteppiche gebunden gewesen.
Der Strand ist von erstaunlicher Beschaffenheit und Wirkung.
Ich stehe auf der Düne, die Insel im Rücken, das helle Flirren eines
sonnigen Strandtages als grenzenloses Panorama vor mir, und erlebe
ein vergessenes Gefühl. Genügsamkeit. Es genügt zu schauen, zu atmen,
den Wind in den Handflächen und auf der Stirn zu fühlen.
Es genügt zu sein.
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Der Strand ist sehr hell. Das Meer trägt das
Silberblau eines jungen Prinzen. Über allem
ist ein klares, feines Licht. So habe ich mir
als Kind den Glanz des Goldes vorgestellt, das
Rumpelstilzchen aus Stroh gesponnen hat.
Süße Sentimentalität streift mich.
Ein sentimentaler Stadtmensch passt nicht
zu vergnügten, genießenden sonnenbadenden Urlaubern. Darum lasse ich Strandkörbe
und Strandleben hinter mir. Es dauert nicht
lange, bis ich die Welt für mich habe. Dicht
am Wasser breite ich mein Tuch aus. Hundert
Meter weiter, zwischen Büscheln von jungem
Strandweizen und winzig kleinen Dünen,
ruhen zwei Menschen. Sie sind so reglos, als
hätte Gott Amor sie dort irgendwann abgesetzt und dann vergessen.
Auf dem Rückweg zur Pension stoße ich versehentlich mit dem Landschaftswart und drei
Riesenbovisten zusammen. Ich hatte nicht
auf den Weg geachtet, weil mich der Anblick
eines älteren Herrn sorgt. In blütenweiße
Eleganz gekleidet, teilt er sich mit seinem
Enkel ein kleckerndes Eis. Das kann nicht
gut gehen. Der Anblick der drei bräunlichen,
handballgroßen Gewächse, die wir fluchend
und reaktionsschnell vor dem Absturz aus
ihrem Pappkarton bewahren, irritiert mich
nicht weniger. Der Landschaftswart erklärt
mir nach überstandenem Schreck den Wert
der Fracht. Eine Delikatesse sei der Riesenbovist. Die Ehefrau verarbeite ihn zu köstlicher Antipasti - sofern der mächtige Pilz
überhaupt noch den Weg in die Küche finde.
Häufig würden Gäste der Insel ihn einfach
zertreten. Aus Abscheu und Unwissenheit.
Abends stehe ich am Fenster und betrachte
die silbrig nervösen Blätter der Pappel. Die
sanfte Schelte des Landschaftswartes lässt
mich kalt.
Verrückt: Drei Tage bin ich hier und fühle mich nicht mehr als Gast?
Mittwoch
Die Menschen auf der Insel kommentieren die
anhängliche Schönwetterlage nicht. Sie versuchen nicht einmal mir einzureden, dass das
blitzblank sonnige Verhalten für Spiekeroog
typisch sei. Sie nehmen das Wetter hin. Und
wie es ist, ist es gut.
„Man lebt hier mit den Dingen, die durch
die Natur bestimmt sind. Und man lebt in
der Zeit, die gerade dran ist.“ Das hat der
Landschaftswart gesagt, als ich ihn platt
nach der schönsten Jahreszeit fragte. Wir
trafen uns auf dem Weg zu einem Bier. Er hatte den Tag auf dem Wasser verbracht, hatte
vier Wannen Fisch nach Hause gekarrt und
war zufrieden. „Wenn September ist, ist der
September am schönsten. Und wenn April ist,
ist der April am schönsten. Jede Jahreszeit ist
richtig.“ Manchmal sei es nachts so still, dass
er die Gänse ziehen höre. Wenn der Orkan
über die Insel tobe, verwandele sich die Welt
in ein einziges Brüllen. „Wir müssen
die Willkür von Petrus akzeptieren.“ „Der Winter ist grandios, egal
wie das Wetter ist.“ Das hat der
Koch gesagt, vor dessen Restaurant
wir beim Bier sitzen. „Zu keiner
anderen Zeit ist die Kraft der Insel
so intensiv zu spüren“, meint er.
Als wäre die milde Heiterkeit dieser
Tage nebensächlicher Spielkram.
Mit versonnener Lust erinnert er
einen Winter, als die Insel eingefroren war und per Luftweg nur
die wichtigsten Versorgungsgüter
ankamen. Damals wurde in einem
Kartoffelsack ein Fass Bier herüber geschmuggelt und in treuer Eintracht
geleert. „Seitdem ist es selbstverständlich,
dass man hier jedes Glas Bier leer trinkt. Die
Wintersituation kann immer kommen.“„Ich
will mit dem Meer leben können und mit dem
Riesenhimmel.“ Das hat die Besitzerin des
Islandhofes gesagt, der so eindeutig hierher
gehört wie der Großpferde-Stall auf der anderen Seite des Ortes.
Die junge Frau hat Philosphie und Kunst
studiert und hatte nach dem Examen nichts
Eiligeres zu tun, als sich auf der Insel niederzulassen.
Unvermutet ist sie an meiner Seite, als ich
den kraftstrotzenden Charme ihrer stattlichen Herde bestaune. „Vegetation und Klima
sind ähnlich wie auf Island“, sagt sie. „Darum
geht es den Pferden so gut.“
Typisch Spiekeroog: Mitte der 60er Jahre war
eine Hamburger Fotografin ihre Karriere leid
gewesen; sie hatte ein paar Islandponys um
sich geschart, hatte sich vom Festland verabschiedet und war fortan zufrieden. Heute
führt die Schwiegertochter den Hof, mit 40
Pferden und ganzheitlichem Reitbetrieb. „Wir
haben kein Konsumprogramm“, sagt sie.
Jeder Ausritt dauert mindestens vier Stunden,
vom Eintreiben der Ponys bis zur abschließenden Hafer-„Mahlzeit“.
Konsumprogramm.
Das
Wort zerplatzt wie eine
überspannte Seifenblase.
„Auf der Insel leben viele
Menschen, die woanders
Karriere machen könnten“, sagt die junge Frau.
„Aber sie wollen aus dem
Herzen leben. Das tun sie
hier.“
Donnerstag
Ich hatte mir Aussteiger immer anders vorgestellt. Eine Mischung aus gereiftem Hippie
und Ludwig II. oder so. Die Menschen, die die
Insel bewohnen, sind nicht so. Sie sind lebenspraktisch und von einer liebenswürdigen,
zielgerichteten Unabhängigkeit. Der ältere
Herr, dessen gut gelaunter schwäbischer
Redefluss weder vom Fahrtwind noch vom
rhythmischen Ruckeln des alten Pferdebahnwagens gehindert wird, trägt zur robusten Arbeitskleidung eine verwegene Krawatte.
Früher war er Oberlehrer. Ein Leben lang ist
er Eisenbahn-Fachmann. Heute erzählt er
Urlaubern von der Vergangenheit der Insel
- und der Pferdebahn. Im 19. Jahrhundert
baute Spiekeroog zwei Bahnverbindungen
- eine Schiene zum Strand, damit reiche
Herrschaften nicht zu Fuß gehen mussten;
eine andere Schiene mitten ins Watt, damit Gäste und Frachtgüter direkt am Schiff
eingesammelt werden konnten. Später
schnaufte eine Dieselbahn über die Insel,
und als diese 1981 eingestellt wurde, schlug
die Stunde des Stuttgarter Oberlehrers. Der
war schon außer Dienst, aber im Besitz eines
einspännigen, uralten, original Stuttgarter
Sommerwagens. Letzterer ist noch heute verblüfft über die späte Karriere als „erste deutsche Museumspferdebahn“. Der Mann an des
Oberlehrers Seite kommt auch vom Festland.
Ein sturmerprobter ostfriesischer Landwirt,
Pferdezüchter und Turnierreiter a. D. Er
spricht am liebsten mit Jakob, dem Pferd,
dem er Manieren und das richtige Tempo beibringt. „Wenn es schnell gehen muss, schaffen wir die Strecke in zehn Minuten“, lacht er.
Im Normalfall geht Jakob doppelt so lange.
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720 Einwohner hat Spiekeroog. Der Wattführer ist einer von denen, die sich schon mit
dem ersten Lebenstag für die Insel entschieden hatten. Später war er Wasserbauwerker
und am Küstenschutz beteiligt. Heute ist er
auch Jagdaufseher und damit im Inselschutz
tätig. „Ich kann schlecht zu Hause sitzen“,
sagt er. Und er kann schlecht den Reichtum,
den ihm die Insel in jedem Winkel offenbart,
für sich behalten. Also führt er die Menschen
ins Watt, wenn der Zeitpunkt günstig ist.
„Fremde sollten nie allein ins Watt. Sie kennen
unser Wetter nicht. Plötzlich ist der Nebel da.
Oder ein Gewitter zieht rasend schnell auf.“
An der Seite des Fachmannes wird das Watt
dagegen zum unbeschwerten Natur-Abenteuer. „Die Kinder erleben, wie die Fläche,
die vor drei Stunden noch knapp drei Meter
unter Wasser war, plötzlich der schönste Platz
zum Graben und Entdecken ist. Sie buddeln
Würmer und Muscheln aus und juchzen,
wenn sich die Tiere wieder eingraben.“
Wenn man Naturschutz verstehen will, muss man die Natur auch anfassen,
meint er. Eine einzige Miesmuschel filtere 50 Liter Wasser am Tag.
Gibt es da noch Fragen zur Schutzwürdigkeit? „Die Muscheln im Watt sind
die größte Kläranlage, die wir haben.“
Abends erzähle ich der Pappel von den anderen Bäumen der Insel. Von den Schwarzkiefern, die ein königlich hannoverscher
Forstbeauftragter mitgebracht und hier
angesiedelt hat. Von dem Feigenbaum, der
satt Früchte trägt. Von den Linden und den
Ulmen, die allesamt gesund sind. Wegen der
Ulmenpest darf auf der Insel schon lange
keine neue Ulme mehr gepflanzt werden. Die
Pappel schüttelt schnippisch ihr schön geschmücktes Haupt. Meint der Gast etwa, ihr
etwas Neues erzählen zu können?
Freitag
Der Koch sieht Muscheln ebenfalls lieber im
Watt als im weinseligen Gemüsesud. Auf dieser Insel folgen also selbst Speisekarten eigenen Gesetzmäßigkeiten. „Die Menschen hier
leben vom Fremdenverkehr“, sagt der Landschaftswart. „Aber sie leben davon in Abhängigkeit von der Natur.“ Für den Koch heißt
das: Die Gaben der Natur werden benutzt,
aber nicht ausgenutzt. Was die Region und
ihre Anrainer zu bieten haben, ohne Schaden
zu nehmen, kommt auf den Tisch. Und das ist
viel und vor allem vielgestaltig. „Eine Scholle
schmeckt nicht immer gleich und sieht nicht
immer gleich aus“, genießt der Koch den
Gedanken an die Unwägbarkeiten und an
das freie Sein der Natur. Bisweilen haben ihm
die Fischer auch gar keine Scholle zu bieten,
dafür aber die vortreffliche - und seltene Delikatesse namens Meeräsche. Routine und
Gleichförmigkeit sind nicht Sache der Insulaner. „Keiner wird hier als Gastronom geboren“, sagt der Koch. „Aber alle bemühen sich
um den Gast. Alle kochen ihre Kartoffeln mit
Wasser. Und dann machen sie etwas daraus.“
Spiekeroog
Der Tag ist wieder warm und leicht. Im
Pavillon am Rathaus lässt eine Musikgruppe
melodischen Schmelz in die sonnige Stimmung wehen. Eine Schar hysterischer Spatzen
reckt sich nach der Pizza eines jungen
Pärchens. Eine Dame und ihr Eis swingen zur
Musik. Kinder turnen um den Pavillon. Die
Menschen auf den weißen Bänken applaudieren bedächtig, als den Musikern eine Runde
Bier ausgegeben wird.
Auf dem Weg zum Strand gehe ich durch
den Kurpark. Das Grün ist so dicht und gesund, als wären salzhaltige Luft, permanente
Windeinwirkungen und die Nachbarschaft
zu Sand und Salzwiesen für jeden Mischwald
die schönste Daseinsform. Die Enten nicken
mir von ihrem gemütlich umwachsenen Teich
würdevoll zu. Wahrscheinlich verdanken sie
ihr stilles, vornehmes Verhalten der dauerhaften Anwesenheit von Büchern und deren
Besitzern auf den Parkbänken.
Nach der heimeligen Besinnlichkeit im Kurpark erlebe ich das Eintauchen in die Dünenlandschaft mit einem kurzen, überraschenden Gefühl des Triumphes. Als hätte ich plötzlich ein tiefes Geheimnis verstanden, bemerke
ich die Stille. Vollständige Stille.
Und der Stadtmensch erkennt,
dass diese Stille nicht Leere
ist, sondern das höchste Maß
an Leben.
Mit dem Wind, mit der Sonne und mit dem
Flutstrom vergeht und entsteht das Leben in
dieser kleinen Welt. Wo sich in Wassernähe
der Strandhafer ansiedelt, beginnt die Düne
zu wachsen. Immer mehr Sand türmt sich
auf. Treu und beständig wächst die Pflanze
im Inneren mit, um das flüchtige Sandgebilde
zu befestigen. Nach und nach wird der Pflanzenbewuchs reicher - und die Auseinandersetzung mit den Elementen dramatischer.
Auf den Südhängen dörrt die Sonne das
Leben aus, und immer ungehinderter kann
der Regen die noch vorhandenen Nährstoffe
in die Tiefe spülen. Schließlich vergreist und
stirbt die Düne und der Wind trägt den Sand
weiter. „Wir erleben hier Schöpfung permanent“, sagt der Landschaftswart.
Es ist heiß in den Dünen. Ich lege mich auf
mein T-Shirt.
Und wie es ist, ist es gut.
Nachklang
Die Yachten im Hafen liegen so ruhig, als
wären sie in Wachs gegossen. Kaum merklich überzieht ein leichter Wind die Insel mit
abendlicher Kühle. Die Schatten haben lange,
harte Konturen. Das Meer ist wie Samt. Ein
Schiffseigner ordnet mit komischer Präzision
Teller und Gläser für das Abendessen an Deck.
Ein paar Meter weiter hat sich das Fährschiff
schwer und behäbig zur Ruhe begeben.
Hinter dem fetten, saftigen Grün der Wiesen
leuchten geduckte Dächer in der Abendsonne.
In alten Zeiten waren die Häuser der Insel so
konstruiert, dass selbst schwere Sturmfluten
Leib und Leben nicht wirklich gefährdeten.
Wenn das Meer über die Insel brandete,
konnte es zwar Mauern eindrücken. Aber das
Hausdach hielt sich auf stabilen Säulen und
war damit ein sicherer Zufluchtsort. Stieg
das Wasser noch höher, ließ sich das Dach
mit ein paar Handgriffen lösen und zum Floß
umfunktionieren. Da der Orkan immer von
Nord-Westen kommt, wären die Menschen
zuverlässig auf das rettende Festland zugetrieben. Der Gedanke an das Festland gefällt
mir nicht. Morgen früh muss ich die erste
Fähre nehmen. 7 Uhr. Die Menschen werden
müde oder aufgekratzt sein. Die Möwen werden lärmen. Das Licht wird sich behutsam
über die Insel breiten.
Frohnatur. Menschliche Kommentierlust kann
ich jetzt nicht brauchen. Mein Gemüt trägt
Abschiedsstimmung. Ich sehne mich nach
Nebelschwaden, nach Sturm und Gewitter.
Vielleicht komme ich wieder, wenn ein
Regentief über Spiekeroog hängt. Wie mag
mir die Insel dann begegnen?
Zum letzten Mal mache ich mich auf den
Weg zur Pension. Mein Schatten streift eine
schwarze Katze, die regungslos im Gras lauert. „Die haben hier ein Leben!“, gackert eine
alberne Frauenstimme. „Überfahren werden
können sie nicht.“
Ich gehe schneller, überhole die unbeschwerte
Während ich die vertrauten Wege gehe und
nachdenklich Abschied nehme, wird das Bild
der beiden plötzlich überraschend klar.
Plötzlich muss ich an das kleine Mädchen
denken. Ewigkeiten ist es her, dass mir ihr helles Haar, ihre wachen, fragenden Augen, ihre
lachende Neugier aus dem Sinn geraten sind.
Warum war sie mir so gleichgültig gewesen?
„Sag‘, was hören die Ohren, wenn es still
ist?“, hatte sie ihre Großmutter bedrängt.
Und ich hatte mich dösend und taub um meine Koffer gesorgt.
„Was hören die Ohren, wenn es still ist?“, hatte das Kind
Kinderimmer
immerwieder
wieder
gefragt und den Kopf schließlich seufzend in die Armbeuge der Großmutter
gelehnt. Da hatte die Frau mit der Wange flüchtig das Haar des
Mädchens berührt und hatte fein gelächelt. „Dann hören sie die Herzen.“
Das Mädchen hatte sich wortlos aufgesetzt, hatte ihr Kinn auf die Reling gelegt,
hatte lange den Goldschimmer des Meeres betrachtet, hatte sich dann
umgewendet und die alte Frau staunend angeblickt.
„Hat die Insel denn auch ein Herz?“ „Es ist eine Frage des Hörens, mein Kind.“
Spiekeroog
PS.
Jemand hat gesagt,
Geschichten seien dazu da,
gehört und nachvollzogen zu werden.
Ich musste an Spiekeroog denken.
Und Sie?
Fühlen Sie sich herzlich ein geladen
„nachzuvollziehen“!
Impressum
Herausgeber: Nordseebad Spiekeroog GmbH - Kurverwaltung Idee, Konzept und Gestaltung: Gerd Myska · Media und Mehr Werbung GmbH, Hamburg
Text: Marianne von Salis
Fotos: Claus-Ulrich Bauer, Spiekeroog, Dieter Meeger Fotografie, Hude
Litho: Profi-Repro Bendfeld, Lübeck, Belichtungstudio Sager, Lübeck
Druck und Beratung: Brandt-Offset, Scharbeutz-Gleschendorf