Schöpfungsmythen Nordamerikanischer Indianer

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Schöpfungsmythen Nordamerikanischer Indianer
Schöpfungsmythen
Nordamerikanischer Indianer
Wolfgang Neumann
Die Schöpfungsmythen der nordamerikanischen Indianer sind
so zahlreich, dass es unmöglich wäre, hier einen Überblick über
sämtliche Mythenzyklen oder die Mythologie eines Indianervolkes in voller Ausführlichkeit zu geben. Ich beschränke mich
deshalb darauf, einige typische Mythen vorzustellen und beginne, indem ich mich an der logischen Folge des Schöpfungsgeschehens orientiere, mit Mythen, die den ersten Schöpfungsakt
darstellen.
Die Erschaffung der Erde
In der Schöpfungsgeschichte der Winnebago, eines am Michigansee lebenden Sioux-Stammes heißt es:
Was es genau war, woran unser Vater saß, als er zur Bewußtheit
gelangte, ist unsicher. Also begann er zu weinen, und seine Tränen
flossen reichlich. Aber er überlegte nicht lange, sah er doch nichts,
und das Nichts war überall. So nahm er schließlich etwas von seinem
Thron, auf dem er saß, und machte einen Teil von unserer Erde.
Dann sandte er die Erde unterhalb seine Thrones von sich fort,
und als er seine eigene Schöpfung näher betrachtete, wurde sie unserer
Erde ähnlich. Nichts wuchs auf ihr, und sie war völlig unbedeckt. Sie
gab keine Ruhe und drehte sich im Kreise um die eigene Achse.
Plötzlich dachte er: „Wenn ich etwas tue, so wird sie Ruhe geben.“
Also machte er eine Bedeckung, Haare für sie. Er nahm Pflanzen von
seinem Thron, um Gras für die Erde zu schaffen, und sandte es erdwärts. Das tat er und betrachtete seine eigene Schöpfung. Diese gab
immer noch keine Ruhe und verharrte in Bewegung. „Auf diesem
Weg will ich es noch einmal versuchen“, dachte er. Er nahm einen
Baum und sandte diesen erdwärts, und als er erneut seine Schöpfung
betrachtete, drehte diese sich noch immer im Kreise. Also sandte er
vier Männer, Brüder, und plazierte einen im Osten, einen im Westen,
einen im Süden und einen im Norden, und wiederum warf er einen
Blick auf seine Schöpfung. Diese drehte sich nach wie vor. „Vielleicht
wird sie durch folgende Tat stillstehen“, dachte er. Sodann schuf er
vier von jenen Wesen, die man Wassergeister nennt, und wies ihnen
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den Platz unterhalb der Erde zu. Aus diesem Grund nennt man sie
auch die Insellast. Nun zerstückelte er einen weiblichen Geist über die
ganze Erde, aus dem die Steine entstanden.
Schließlich sah er auf seine Schöpfung herunter und bemerkte,
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dass die Erde endlich still stand.
Heben wir einige Merkmale dieser Geschichte hervor: Am
Anfang ist der Schöpfer alleine, er sitzt sozusagen im Nichts. Es
erwacht in ihm der Wunsch, etwas zu erschaffen, und er erschafft die Dinge durch seine Gedanken alleine oder indem er
als Urmaterie etwas von seinem Sitz nimmt oder diese Materie
selbst hervorbringt, wie in einer anderen Version der Winnebago-Ursprungsmythe.
Als Erdmacher im Uranfang erwachte, da fand er sich auf einem
Sitz im Raum, und es gab sonst nichts. Er begann zu überlegen, was er
tun könnte. Schließlich fing er an zu weinen. Tränen flossen aus seinen Augen und fielen hinab in den Raum unter ihm. Nach einer Weile
schaute er hinunter und sah etwas schimmern. Es waren die Tränen,
die nach unten flossen und die Gewässer bildeten, so wie sie heute
2
sind. Die Tränen wurden zu den heutigen Meeren.
Bezeichnend für den Schöpfungsvorgang ist, dass sich die
geschaffenen Dinge vom Schöpfer entfernen: Schöpfung ist
Entfernung des Geschaffenen vom Schöpfer, Differenz von
Ungeschaffenem und Geschaffenem, und diese Entfernung wird
hier räumlich durch den Gegensatz von Oben und Unten dargestellt.
Sodann wird dieses erstanfänglich Geschaffene, dass als Basis für alle weiteren Schöpfungsakte dienen wird, die Erde, im
Nichts stabilisiert. Dies wird nach Vorstellungen der Winnebago durch vier Wassergeister, Schlangen erreicht, die die Grundträger bilden. Wichtig ist ihre Vierzahl, ihre Positionierung in
den vier Hauptrichtungen als Ausdruck von Stabilität.
Schöpfung ist aber nicht nur Differenzierung von Schöpfer
und Geschaffenem, sondern in einer Stufenfolge auch Ausdifferenzierung, d. h. Vervielfältigung innerhalb des ursprünglich
1
2
Kuper 1990: 19f. (Hervorhebungen von mir.)
Müller 1985: 32.
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Geschaffenen selbst, wobei Geschaffenes selbst wieder schöpferisch tätig wird in Richtung auf die endlose Vielfalt der Dinge.
Nehmen wir als Beispiel den Beginn der Schöpfungsgeschichte der Zuñi, einer Gruppe der Pueblo-Indianer in New
Mexico im Südwesten der USA:
Vor der Neuschaffung gab es nur Awonawilona (den Schöpfer und
Behälter des Alls, den Vater von allem). Es gab nichts sonst in dem
großen Raum der Zeiten als nur schwarze Dunkelheit überall und
überall verlassene Leere.
Am Anfang der Schöpfung sann Awonawilona in sich selbst und
dachte hinaus in den Raum, wodurch Nebel von aufsteigendem Dampf
entstanden und emporgehoben wurden. So, durch sein inneres Wissen,
erschuf sich der Allbehälter in Person und Gestalt der Sonne, die wir
als unseren Vater betrachten und die so zu existieren und erscheinen
begann. Mit ihrem Erscheinen wurden die Räume mit Licht erhellt,
und mit dem Erhellen der Räume ballten sich die Nebelwolken und
sanken, und Wasser auf Wasser entströmte.
Mit seinem Fleisch, dass er sich entnommen hatte, formte der
Sonnenvater den Samen der zwei Welten und befruchtete damit die
großen Wasser, und durch die Hitze seines Lichts wurden die Wasser
der See grüner und Schäume stiegen auf, verbreiteten sich und wurden
schwer, bis sie zu Awitelin Tsita, „vierfache-Behälter-Erdmutter“ und
Apoyan Tä’chu, „allesbedeckender Himmelsvater“, wurden.
Aus dem Zusammenliegen der Zweien auf den großen Weltwassern, so belebend, entstand das irdische Leben; dadurch entstanden
alle Lebewesen der Erde, Menschen und die anderen Geschöpfe, im
vierfachen Leib der Welt.
Danach stieß die Erdmutter den Himmelsvater zurück, sie wuchs
und sank tief in die Umarmung der unteren Wasser. So trennte sie sich
3
vom Himmelsvater in der Umarmung der oberen Wasser.
Der ursprünglichen Abwärtsbewegung der Schöpfung antwortet mitunter eine gegenläufige Bewegung, die ein Wechselspiel in Gang setzt, eine Aufwärtsbewegung der Schöpfung, wie
etwa das Auftauchen der Erde aus dem Weltmeer, Himmelsfahrten und Flüge von Heroen, die dem widerstrebenden Himmel wichtige zum Leben nötige Dinge entreißen – oder auch der
3
Cushing 1896: 379.
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Aufstieg der Menschen selbst, aus ihrer ursprünglichen Behausung in der Unterwelt.
Im Fortgang des gerade zitierten Beginns der Schöpfungsgeschichte der Zuñi wird geschildert, wie sich die ersten Lebewesen, darunter die Vorfahren der Menschen, im Leib der Erdmutter, und zwar in der untersten Region, entwickeln, bis sie klüger
und uns Menschen ähnlicher werden und einen Weg suchen, in
die nächst höhere Welt zu entkommen. Dies gelingt ihnen mit
Hilfe von heiligen Zwillingen, die vom Sonnenvater im Leib
der Erdmutter gezeugt werden. Den Zwillingen folgend durchqueren die Geschöpfe entlang einer Leiter aus Grashalmen (ein
Bild der Weltachse, das die verschiedenen Seinsschichten im
Zentrum durchquert und miteinander verbindet4) die unteren
Weltschichten bis sie an die Erdoberfläche gelangen. Zurückbleibende Wesen werden in Dämonen verwandelt.
Mythen, die erzählen, wie die ersten Menschen aus der Unterwelt zur Erdoberfläche hinaufsteigen, finden wir vor allem
bei den Indianern im Südwesten der USA. Die Entwicklung der
Lebewesen gleicht hier in gewisser Weise dem Naturvorgang
des Keimens eines pflanzlichen Samens im Erdinnern, der dann
endlich die Erdkruste durchstößt und das Licht erreicht.
Schöpfung ist kein einmaliges, kurzzeitiges und dann abgeschlossenes Geschehen am Anfang, sondern ein evolutionärer
Prozess, mit zum Teil dramatischen Ereignissen, der auch durch
das Verhalten der Menschen beeinflusst wird. Am Ende aller
Ursprungsgeschichte muss logischerweise unsere heutige Welt
mit ihren alles andere als idealen Zuständen stehen, irgendwie
muss die Geschichte dahin führen, irgendwann muss eine Spannung im Schöpfungsgeschehen auftreten, aus deren Wirken sich
der Zustand der Welt erklären lässt.
In der folgenden Mythe der zentralkalifornischen Achomavi
erscheinen die Gegensätze gleich zu Beginn der Schöpfung. Es
ist bezeichnend, dass der Stoff, aus dem diese Welt gemacht ist,
der eher negativen Potenz des Coyoten entstammt:
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Siehe dazu meinen Aufsatz „Das Jenseits im Diesseits“ in: Bernd Michael
Linke (Hg.): Die Welt nach der Welt, Frankfurt am Main 1999: 117-136.
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Im Anfang war alles Wasser. Nach allen Richtungen hin war der
Himmel klar und rein. Eine Wolke bildete sich am Himmel, ballte sich
zusammen und wandelte sich in Coyote. Dann stieg ein Nebel auf,
ballte sich zusammen und wurde Silberfuchs. Sie wurden Personen.
Dann dachten sie. Sie dachten ein Boot und sagten: „Bleiben wir hier,
lasst es uns zu unserem Haus machen.“ Danach trieben sie umher,
viele Jahre lang trieben sie umher. Und das Boot wurde alt und moosig, und sie wurden dessen überdrüssig.
„Lege du dich nieder“, sagte Silberfuchs zu Coyote, und der tat es.
Während er schlief, kämmte ihn Silberfuchs und bewahrte das ausgekämmte Haar. Als es viel geworden war, rollte er es in seinen Händen,
streckte es und schlug es flach. Dann legte er es auf das Wasser und
breitete es aus, bis es die ganze Oberfläche bedeckte. Nun dachte er:
Da soll ein Baum sein, und augenblicks war einer da. Auf dieselbe
Weise schuf er Sträucher und Felsen. Er belastete auch die Haut mit
Steinen, so dass sie keine Wellen warf, wenn der Wind darüber hinging. Und so machte er die Welt, so wie sie gerade recht war. Und
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dann trieb das Boot sanft an den Rand, und es war die Welt.
Im Fortgang des Berichts ist es Silberfuchs, der die Welt
weiterhin zum Besten einrichtet, und Coyote, der alles durcheinanderbringt und zum Übel wendet: z. B. gab es ursprünglich
einen immerwährenden Sommer, aber Coyote führt den langen
Winter ein, einst waren alle Lebewesen unsterblich, aber durch
Coyote kam der Tod in die Welt.
Die Kulturheroen
In der Urzeit ist die Welt noch nicht so, wie wir sie heute kennen. Mensch und Tier verkehren noch eng miteinander (mitunter auch sexuell), Lebewesen und Landschaften haben noch
nicht ihre heutige Gestalt und verändern diese, bestimmte Fertigkeiten und Sitten sind noch unbekannt. Alles ist noch offen
und veränderbar. In dieser Epoche treten Kulturbringer bzw.
Kulturheroen auf, die die Erde verwandeln und zu einer für die
Menschen bewohnbaren Heimat machen. Oft haben sie die
Gestalt von Tieren: Kaninchen, Bär, Rabe, Nerz, Spinne, Coyote, Schildkröte u. a. Sie holen z. B. das Licht auf die Erde, re5
Jaime de Angulo: La Psychologie religieuse des Achumawi, in: Anthropos
XXIII, 1928, 582f., zitiert in der Übersetzung von Müller 1961: 257.
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geln den Lauf der Sonne, schaffen trockenes Land, verändern
die Gestalt von Gebirgen und Flüssen, vertreiben menschenfeindliche Monster, holen das Feuer, sorgen für die Verbreitung
jagdbarer Tiere und Nutzpflanzen, zeigen Jagd- und Anbautechniken, wie man Krankheiten heilt usw.
Die Flut
Oft steht das Wirken des Kulturheros in Zusammenhang mit
einem besonders dramatischen Ereignis der Urzeit: der großen
Flut, die die erste Schöpfung zu vernichten droht – ganz in
Parallele zur Sintflutgeschichte der Bibel. Bei den Cree etwa
(die zu den westlichen Algonkin in Kanada gehören) ist es der
Kulturbringer Wisakedjak („der Schmeichler“) selbst, der durch
seine Nachlässigkeit und seinen Ungehorsam dem Schöpfer
gegenüber und den daraus folgenden chaotischen, gewalttätigen
Zuständen auf der Erde die vom Schöpfer gesandte Straf-Flut
provoziert.
Bei anderen, wie z.B. den Mandan, einem am Missouri siedelnden bodenbauenden Sioux-Stamm, tritt der Kulturheros als
Retter vor der großen Flut hervor. In der Mythologie der Mandan gibt es am Anfang ein Urmeer, auf dem Erster Schöpfer
und Einsamer Mann herumtreiben. Sie treffen dabei auf eine
Ente, die in das Meer hinabtaucht und etwas Schlamm heraufholt, aus dem Erster Schöpfer den Südteil und Einsamer Mann
den Nordteil der Erde formen. Einsamer Mann gesellt sich zu
den Menschen und hilft ihnen, als späterhin der Wasserhäuptling eine große Flut schickt, die alles Land überschwemmt. Er
weist die Menschen im Dorf an, einen Schutzwall zu bauen, ein
kreisförmiges Gebilde aus senkrechten Planken, in dem die
Mandan die Flut überleben.6
6
Der Schutzwall erfüllt also die Funktion der Arche Noahs und auch in
gewisser Weise die des Schutzwalls gegen Gog und Magog, von dem im
Koran die Rede ist (Sure Die Höhle).
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Die „Arche“ der Mandan im Dorf Mih-Tutta-Hangkusch.
Zeichnung von Karl Bodmer 1833-34.
Zum Andenken an die Hilfe des Einsamen Mannes stellten
die Mandan in ihren Dörfern eine Nachbildung dieses „Fasses“
auf. Auf den Darstellungen des „Fasses“ von George Catlin, der
im 19. Jh. den amerikanischen Westen bereiste und von dem
bedeutende Berichte und Bilder des indianischen Lebens stammen, sieht man einen Baumstamm aus der Mitte herausragen.
Dies soll wahrscheinlich eine Zeder sein, die als das Symbol für
Einsamer Mann gilt (und die wir als Abbild der Weltachse interpretieren können). Auf unserer Abbildung, einer Skizze des
Schweizer Malers Karl Bodmer fehlt dieses Detail, dafür sind
rings um den Boden des Fasses Bisonschädel verteilt. Bodmer,
ein weitaus besserer Maler als Catlin, hatte 1833/34 zusammen
mit dem Prinzen Maximilian zu Wied, in dessen Diensten er
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SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
stand, einen Winter bei den Mandan und Hidatsa verbracht und
in seinen Gemälden und Zeichnungen wertvolle Zeugnisse
indianischen Lebens hinterlassen. Die von ihm skizzierte Nachbildung des rettenden Fasses sah Bodmer in einem der MandanDörfer, in Mih-Tutta-Hangkusch („das südliche Dorf“). Es
stand inmitten eines runden Platzes von etwa 50 m Durchmesser, ein Gebilde aus etwa zwei Meter hohen, kreisförmig angeordneten Brettern, die durch ein Seil zusammengehalten wurden.
In der Ursprungsmythologie der Mandan spielen noch andere Personen eine wichtige Rolle, so der gefleckte Adler Hoita,
der einmal aufgrund eines Streites mit Einsamem Mann alle
Tiere in eine Höhle sperrte, Angesengter Knabe, der die dreizehn Urdörfer der Mandan erbaute, und seine Neffen Quellenjunge und Hüttenknabe, die die Dämonen bekämpften. Einmal
wurde Quellenjunge von den Himmelsbewohnern gefangen und
an einen Baumstamm gefesselt. Es gelang aber seinem Bruder,
ihn wieder auf die Erde zurückzuholen.
Jedes Jahr wurde die gesamte Schöpfungsgeschichte der
Mandan während der viertägigen Okipa-Zeremonie – die in
vielem dem Sonnentanz der Plainsindianer entspricht – in
Schauspielen und pantomimischen Tänzen dargestellt. Die Zeremonie fand um die Zeit der Sommersonnenwende auf dem
großen Zentralplatz des Dorfes und in dem dort gelegenen Zeremonialhaus statt und sollte dem Wohle des ganzen Stammes
dienen. Sie wurde stets von einem Mann ausgerichtet, dem in
einer Vision der Auftrag dazu erteilt worden war und der sich
dadurch hohes Ansehen erwarb. Höhepunkt und Abschluss der
Zeremonie waren die Marterungen, denen sich der Okipamacher und die aktiven Teilnehmer unterwarfen in Wiederholung
der Fesselung des Quellenjungen durch die Himmelsbewohner.
Die Tänzer ließen sich an Brust und Rücken Holzpflöcke durch
das Fleisch stoßen, an die Riemen geknüpft waren, die mit dem
vierpfostigen Zentralgerüst des Hauses verbunden waren – so
wie die Sonnentänzer mit der Weltenbaum in der Mitte der
Sonnentanzhütte. Die Tänzer versuchten nun, sich die Holzpflöcke aus dem Fleisch zu reißen. Manchmal ließen sie sich
auch an dem Holzgerüst aufhängen, zusätzlich noch mit Bisonschädeln beschwert.
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Okipa-Zeremonie. Zeichnung von George Catlin, 1867.
Berichte von einer urzeitlichen Flut finden wir u.a. auch bei
den zu der Sprachgruppe der Algonkin gehörenden Ojibwa. Die
Ojibwa leben am Oberen See (Lake Superior) und ernährten
sich früher hauptsächlich durch das Sammeln von Wildreis. Sie
selbst nennen diesen See „das Große Wasser“, „Kitchi Gami“.
„Kitschi Gami oder Erzählungen vom Obern See“ heißt auch
ein 1859 erschienenes Buch, das wir einem anderen deutschsprachigen Reisenden verdanken, dem Bremer nachmaligen
Stadtbibliothekar Johann Georg Kohl, und das auch heute noch
eine wichtige ethnographische Quelle darstellt. Kohl schildert
darin seinen Besuch bei den Ojibwa im Jahre 1855. Das Buch
enthält sehr schöne Erzählungen über Manibosho (auch unter
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den Namen Mänäbush, Nanabozho, und – bei Kohl – Menaboshu, bekannt), den Kulturheros der Ojibwa. Die folgenden längere Episode mit der Schilderung der Großen Flut7 hat auch
sprachlich ihren Reiz.
Menaboshu und die Sündflut
Die Tiere waren jeher die Verwandten und Vettern von Menaboshu. Er konnte mit ihnen reden und lebte in großer Freundschaft mit
ihnen. Menaboshu hatte einstmals sein Jagdlager mitten im Walde,
entfernt von aller Welt. Er hatte schlechte Zeiten. Die Jagd war unergiebig. Er fastete, hungerte und darbte.
In der schlimmsten Not ging er hinaus zu den Wölfen und sprach
zu ihnen: „Meine lieben kleinen Brüder, wollt ihr mir zu essen geben?“ Die Wölfe sprachen: „Ja!“ und gaben ihm.
Da er die Speise gut fand, sprach er weiter: „Wollt ihr erlauben,
daß ich mit euch auf die Jagd gehe?“ Sie erlaubten es, und so ging
Menaboshu mit den Wölfen auf die Jagd, campierte mit ihnen und
teilte ihre Mahlzeiten.
Sie wirtschafteten auf diese Weise zehn Tage miteinander. Da! eines Tages kamen sie an einen Kreuzweg. Die Wölfe wollten einen
Nebenweg einschlagen. Aber Menaboshu wünschte die große Straße
zu verfolgen. Hierüber entstand ein Zwiespalt der Meinungen und eine
Beratung unter ihnen. Da jede Partei eigenwillig auf ihrem Sinne
bestand, so beschlossen sie endlich sich zu trennen. Menaboshu aber
sagte, der jüngste der Wölfe müsse wenigstens jedenfalls mit ihm
gehen. Diesen jungen Wolf liebte er außerordentlich und er pflegte ihn
sein Brüderchen zu nennen. Auch der Kleine wollte den Menaboshu
nicht verlassen, und so gingen beide gemeinsam ihres Weges, während die übrigen Wölfe den andern Weg einschlugen.
Menaboshu und sein Liebling richteten ihr Jagdlager mitten im
Walde auf und jagten zusammen. Zuweilen ging auch der kleine Wolf
allein auf die Jagd.
Menaboshu, der sehr besorgt für ihn war, sagte zu ihm: „Mein lieber kleiner Bruder, hast du den See gesehen, der hier in der Nähe von
unserem Lager im Westen liegt. Gehe nie dahin! Betritt nie das Eis
dort. Hörst du!“ – Menaboshu tat dies mit Fleiß, denn er wußte wohl,
daß in dem See der Schlangenkönig, sein ärgster Feind wohne, der
Alles aufbieten würde, ihn zu ärgern und zu betrüben.
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Kohl 1970: 321-27.
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Der kleine Wolf versprach zwar, zu tun und zu lassen, was Menaboshu ihm geboten und verboten hatte. Aber er dachte bei sich: „Warum verbietet mir Menaboshu wohl, auf den See zu gehen. Vielleicht
denkt er, daß ich dort mit meinen Brüdern, den Wölfen zusammentreffen könnte. Aber ich liebe doch meine Brüder!“
So sprach er zu sich den einen Abend, so sprach er auch den folgenden Abend. Und am dritten Morgen dachte er wieder dasselbe.
Endlich ging er hin auf den See und tummelte sich auf dem Eise herum, um zu sehen, ob seine Brüder da seien. Als er aber in die Mitte
des Sees hinaus kam, brach das Eis. Er versank im Wasser und ertrank.
Menaboshu erwartete seinen kleinen Bruder den ganzen Abend
lang vergeblich. Er kam nicht. Menaboshu erwartete ihn auch den
folgenden Tag. Aber vergeblich. Er kam nicht. So wartete er fünf
Tage und fünf Nächte lang. Dann fing er an zu jammern und zu klagen
und schrie so laut nach seinem Brüderchen, daß man’s am andern
Ende des Waldes hörte.
Er verlebte den ganzen Rest des traurigen Winters in Einsamkeit
und Betrübnis. Aber er wußte wohl, wer seinen Bruder getötet hatte.
Es war der Schlangenkönig, dem er jedoch im Winter nicht beikommen konnte.
Als es endlich Frühling geworden war, ging er an einem schönen
warmen Tage zu dem See aus, in dem sein Brüderchen umgekommen
war. Den ganzen Winter hatte er sich nicht entschließen können, diesen Trauer- und Schreckensort zu besuchen. An einer Stelle im Sande,
die vom Schnee nicht bedeckt gewesen war, fand er noch die Spuren
und Fußstapfen seines Bruders. Uns als er sie sah, brach er wieder in
laute Klage aus, so daß man es weit und breit hörte.
Auch der Schlangenkönig hörte es, und da es ihn neugierig machte
zu sehen, was es sein möchte, so tauchte er mit seinem gehörnten
Haupte aus dem Wasser hervor. – „Ah! da bist Du ja!“ sagte Menaboshu für sich, indem er sich die Tränen mit seinem Ärmel aus den
Augen wischte. „Jetzt sollst du mir deine Missetat büßen!“ – Schnell
verwandelte er sich in einen Baumklotz und pflanzte sich in dieser
Gestalt am Rande des Wassers auf.
Der Schlangenkönig und alle die Schlangen, die hinter ihm her
zum Vorschein kamen und die neugierig waren auszumachen, wer die
Wehklage erhoben habe, fanden nichts als diesen Holzklotz, den sie
zuvor nicht an ihrem See gesehen hatten. „Halt!“ sagte eine von ihnen,
„nehmt euch in Acht. Dahinter steckt etwas. Vielleicht ist es gar unser
Feind, der verschmitzte Menaboshu.“ – Der König der Schlangen
befahl sogleich einem seiner Schlangen-Trabanten hinzugehen und die
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SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
Sache zu untersuchen. Und diese riesige Schlange wand sich mit
ihrem 20 Ellen langen Körper um den Baumklotz und presste und
zwängte ihn, um zu sehen, ob es etwas Lebendiges oder ob es bloßes
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Holz sei.
Dem Menaboshu knackten die Glieder im Leibe. Aber er hielt aus,
gab keinen Laut von sich, und so beruhigten sich die Schlangen und
sprachen: „Nein, er ist es nicht! Wir können unbesorgt schlafen. Es ist
nichts als Holz!“ Da es ein sehr schöner Tag war, so legten sie sich
daher auch alle auf dem Sande des Seeufers hin und schliefen ein.
Kaum hatte die letzte Schlange ihre Augen geschlossen, so
schlüpfte Menaboshu aus seinem Holzklotz hervor, griff zu seinem
Bogen und Pfeil und schoß den Schlangenkönig nieder. Auch drei
seiner Söhne durchschoß er mit Pfeilen. Da wachten die übrigen auf
und schrien, indem sie ins Wasser zurückschlüpften: „Wehe! Wehe!
Menaboshu ist unter uns, Menaboshu tötet uns!“ –
Sie machten einen entsetzlichen Lärm im ganzen See und peitschten das Wasser mit ihren langen Schwänzen. Die unter ihnen, welche
am stärksten in der Zauberei waren, holten auch ihre Medizinsäcke
(ihre Zauberbeutel) hervor, banden sie los, und streuten den ganzen
Inhalt, alle ihre Zaubermittel am Ufer und ringsherum im Walde und
in der Luft aus.
Da fing das Wasser in trüben Wirbeln an zu kreisen und zu
schwellen. Der Himmel bedeckte sich mit Wolken und heftige Ströme
von Regen schossen aus der Höhe herab. Die ganze Umgegend, die
halbe Erde wurde überschwemmt, am Ende die ganze, weite Welt. Der
arme Menaboshu war längst, bis in den Tod erschreckt, geflohen. Er
hüpfte von einem Berge zum andern, wie ein scheues Eichhörnchen,
und wußte sich nirgends zu lassen. Denn die schwellenden Fluten
folgten ihm überall hin. Endlich entdeckte er einen sehr hohen Berg,
auf den er sich rettete. Aber auch dieser Berg wurde bald überflutet.
Auf seinem äußersten Gipfel stand ein 100 Ellen langer Tannenbaum
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und an diesem stieg nun Menaboshu empor. Er kam bis in die letzte
Spitze, das Wasser ihm immer nach. Es reichte ihm schon bis an den
Gürtel, bis über die Schultern, bis an den Mund. Da plötzlich stand es
still, entweder weil die Schlangen ihre Zaubermittel und Hilfsquellen
erschöpft hatten, oder weil sie dachten, es sei nun genug und Menaboshu könne ihnen nirgends mehr entwischt sein.
Allein Menaboshu, so ungemächlich auch seine Lage sein mochte,
hielt aus und stand fünf Tage und Nächte auf seiner Tanne, zerbrach
8
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Das bekannte Bild der Schlange, die sich um den (Welt)Baum windet.
Ein Bild des Weltbaums auf dem Weltberg.
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sich aber vergebens den Kopf darüber, wie er sich forthelfen solle. –
Endlich am sechsten Tage sah er einen einsamen Vogel – es war ein
Loon – auf dem Wasser schwimmen. Er rief ihn zu sich und sprach zu
ihm: „Bruder Loon, du geschickter Taucher! Tu mir einen Gefallen
und tauche ein Mal in die Tiefe, und sieh nach, ob du die Erde, ohne
die ich nicht leben kann, noch zu finden vermagst, oder ob sie gänzlich ersäuft ist.“ – Der Loon tat es. Er tauchte mehrere Male hinab.
Aber er konnte nicht tief genug hinabgelangen, und kam immer wieder unverrichteter Dinge hervor, indem er die Trauerbotschaft brachte,
die Erde sei nicht zu finden.
Menaboshu wäre beinahe verzweifelt. Doch sah er am folgenden
Tage den erstarrten Körper einer kleinen Moschusratte von den Wellen zu sich herangetrieben. Er haschte sie, nahm sie in die Hand und
indem er sie warm anblies, brachte er sie wieder zum Leben, und
sprach zu ihr: „Brüderchen Ratte. Wir können beide ohne Erde nicht
leben. Tauche hinab ins Wasser und bringe mir, wenn Du kannst
etwas Erde herauf. Wenn es auch nur wenig ist, wenn es auch nur drei
Sandkörner wären, ich werde dir und mir schon etwas daraus zu bereiten wissen.“
Das gefällige Tierchen tauchte sogleich hinab und kam nach langer
Zeit wieder zum Vorschein. Aber es war tot und schwamm auf dem
Wasser. Menaboshu fing den Körper ein und untersuchte die Pfötchen. In dem einen Vorderpfötchen entdeckte er ein Paar Sand- oder
Staubkörner. Er nahm sie heraus, trocknete sie in seiner Hand an der
Sonne und blies sie dann weg übers Wasser, und wo sie hinfielen, da
blieben sie schwimmen und wuchsen und vergrößerten sich in Folge
der Kraft des Erdreiches, die ihm entweder angeboren oder von Menaboshus Zauberodem eingeblasen war.
Es entstanden erst kleine Inselchen. Diese wuchsen schnell zu größeren aneinander. Endlich konnte Menaboshu von seinem unbequemen Baumsitz aus auf eine dieser Inseln hinausspringen. Er schiffte
auf ihr wie auf einem Floß umher, half den anderen Inseln sich zu
nähern und zusammenzuwachsen und es wurden am Ende große Länder und Kontinente daraus.
Emsig und tätig marschierte er nun hin und her, um Alles wieder
einzurichten und die Natur in ihrer früheren Schönheit herzustellen. Er
fand hier und da kleines Wurzelwerk und Pflänzchen, die das Wasser
anspülte. Er pflanzte sie ein, und so kamen wieder Grasfelder und
Gebüsche und Wälder. Auch wurden viele der erstarrten Körper von
Tieren ans Ufer gespült. Menaboshu sammelte sie alle sorgfältig auf,
blies sie an und machte sie lebendig. Er redete zu ihnen und sprach:
„Geht ein Jeder an seinen Platz.“
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SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
Und so ging ein Jedes an seinen Platz. Die Vögel nisteten in den
Bäumen. Die Fische und Biber wählten sich die kleinen Waldseen und
Flüsse, und die Bären und anderen Vierfüßer streiften auf dem Festland.
Menaboshu hatte eine große Meßschnur in der Hand, und er ging
hin und lief auf der ganzen Erde herum und maß Alles aus. Er bestimmte die Länge der Flüsse, die Tiefe der Seen, die Höhe der Berge
und die Gestalt der Länder, damit alles in guter Proportion sei.
Der Trickster
Die Kulturheroen, das ist schon angeklungen, sind durchaus
nicht immer Gestalten aus einem Guss, die nur das Gute bringen und dieses mit göttlichen Kräften durchsetzen. Vielmehr
haftet ihnen nicht selten etwas Zwiespältiges an. Keineswegs
gelingt ihnen alles auf Anhieb, manchmal sind sie tollpatschig
und ungeschickt – und dann entstehen eben die großen und
kleinen Malheurs der Schöpfung. Mitunter sind sie gar böswillig und zerstörerisch und auch in der Wahl der Mittel oft nicht
ganz tadellos.
Bevorzugt gelingen ihnen auch ihre guten Taten mittels Betrug und raffinierter Tricks – so wenn sie etwa das Feuer oder
ein anderes den Menschen nützliches Gut aus den himmlischen
Regionen beschaffen. Man hat deshalb für mythologische Gestalten dieses Typus den Begriff „Trickster“ geprägt.
Wir haben es bei diesen Trickstern oder „göttlichen Schelmen“10 mit Personifikationen einer zur Schöpfung bzw. dem
Schöpfungsprozess gehörenden unaufhebbaren Spannung zu
tun: einerseits der dem Göttlichen innewohnende Drang sich in
die Vielheit zu entäußern, eben zu schöpfen, andererseits die
mit der Vervielfältigung und Distanzierung unweigerlich entstehende Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit der Welt-
10
So der Titel eines bekannten Buches des amerikanischen Ethnologen Paul
Radin über den Trickster bei den Winnebago, das er zusammen mit Karl
Kerényi und C.G. Jung publiziert hat. Engl. Ausgabe: Paul Radin, The Trickster. A Study in American Indian Mythology. With Commentaries by Karl
Kerényi and C.G. Jung. London 1955.
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vielheit, die in letzter Konsequenz die Existenz des Bösen mit
einschließt.11
Oft zeigt der Trickster ein unflätiges, obszönes Verhalten,
zusammen mit einem Hang zum Parodistischen, Karikaturhaften. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade vermutet darin
eine ambivalente Haltung gegenüber dem Heiligen:
Er (der Trickster) karikiert und parodiert schamanistische Erfahrungen oder priesterliche Rituale. Die Schutzgeister der Schamanen
werden von ihm auf groteske Weise mit seinen Exkrementen identifiziert, und er parodiert den ekstatischen Flug der Schamanen, obwohl
er selbst am Ende immer herunterfällt. Es ist klar, dass dieses paradoxe Benehmen eine zweifache Bedeutung hat: Der Trickster macht sich
über das Heilige, die Priester und die Schamanen lustig, die Lächerlichkeit richtet sich aber auch gegen ihn selbst. Wenn er nicht der
hartnäckige und listenreiche Feind des Schöpfergottes ist […] , dann
erweist er sich als eine schwer zu definierende Persönlichkeit, intelligent und dumm zugleich, den Göttern nah durch seine ,Uranfänglichkeit‘ und seine Kräfte, aber den Menschen noch näher durch seinen gefräßigen Hunger, seine außergewöhnliche Sexualität und seine
Amoralität.12
Wie nun auch immer, jedenfalls ist der Trickster Teil der
Heiligen Geschichte. Die folgende Trickstergeschichte der
Winnebago z. B. gehörte zum Bestand der Geschichten, die eine
besonders hohe Stellung in der Gesamtmythologie innehatten
und nur von besonderen, dazu berechtigten Personen erzählt
werden durften, auch wenn man dies aufgrund des Rabelais’schen Zuschnitts der Erzählung vielleicht gar nicht vermuten würde.
11
Vgl. Schuon 1975. Im Übrigen steht der Trickster nicht immer im Zentrum
des Geschehens, sondern ist in manchen Mythen nur eine nicht weiter ernstgenommene Schwankgestalt.
12
Eliade 61989: 208.
162
SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
Der Penis wird übers Wasser geschickt
Danach wanderte (der Schelm) einen Abhang hinunter und kam
schließlich an einen See. Auf der gegenüberliegenden Seite sah er
viele Frauen schwimmen; es waren des Häuptlings Tochter und ihre
Freundinnen. „Ei“, rief der Schelm, „das kommt gerade zur rechten
Zeit. Jetzt werde ich Verkehr haben.“ Daraufhin nahm er den Penis
aus dem Kasten und wandte sich mit diesen Worten an ihn: „Kleiner
Bruder, geh hinüber und suche die Häuptlingstochter auf. Eile an ihren
Freundinnen vorbei, aber achte darauf, dass du gerade in sie, die
Häuptlingstochter, hineintriffst.“ Mit diesen Worten sandte er ihn aus,
und der Penis glitt über die Wasserfläche dahin.
„Kleiner Bruder, komm zurück, komm zurück! Du wirst sie erschrecken, wenn du ihnen solcherart nahst.“ Und er zog den Penis
zurück, befestigte einen Stein an seinem Hals und schickte ihn abermals aus. Dieses Mal aber sank er auf den Grund des Sees. Wieder
zog er ihn zurück, nahm einen anderen Stein, diesmal einen kleineren,
und befestigte ihn an seinem Hals. Bald schickte er ihn wieder fort.
Nun glitt er über das Wasser und warf dabei Wellen auf. „Bruder,
komm zurück, komm zurück! Du wirst die Frauen vertreiben, wenn du
solche Wellen schlägst.“ Und dann versuchte er es zum viertenmal.
Jetzt fand er einen Stein, genau von richtiger Größe und rechtem
Gewicht, und befestigte diesen am Hals des Penis.
Und nun eilte er, als er ihn ausschickte, geradenwegs zu der
bezeichneten Stelle. Er schoß an den Freundinnen der Häuptlingstochter vorüber und berührte sie kaum. Sie sahen ihn und schrien:
„Kommt heraus aus dem Wasser, schnell!“ Die Häuptlingstochter war
die letzte auf der Sandbank und konnte nicht enteilen, und der Penis
traf gerade in sie hinein. Ihre Freundinnen kehrten zurück und
versuchten ihn herauszuziehen, aber ohne Erfolg. Rein gar nichts
konnten sie ausrichten. Dann wurden alle Männer gerufen, die im
Rufe großer Stärke standen, und sie versuchten es auch, brachten ihn
aber nicht heraus. Schließlich gaben es alle auf.
Aber einer von ihnen sagte: „Da gibt es eine alte Frau in der Gegend, die gar viel weiß. Laßt uns hingehen und sie aufsuchen!“ Also
gingen sie hin und brachten sie zu der Stelle, wo dies geschehen. Als
sie anlangte, erkannte sie sofort, was hier stattgefunden hatte. „Ei“,
sagte sie, „das ist der Erstgeborene, der Schelm. Die Häuptlingstochter hat Verkehr mit ihm, und ihr alle stört sie nur.“ Dann ging sie fort,
holte eine Ahle, setzte sich rittlings auf den Penis und bearbeitete
diesen mehrmals mit der Ahle, wobei sie sang: „Erstgeborener, wenn
du es bist, zieh ihn heraus! Zieh ihn heraus!“
NORDAMERIKANISCHE INDIANER
163
Also sang sie. Plötzlich, mitten in ihrem Singen, sprang der Penis
heraus, und die alte Frau wurde ein gutes Stück weit fortgeschleudert.
Als sie verwirrt aufstand, lachte der Schelm sie von der anderen Seite
des Sees her schallend aus. „Diese böse alte Frau! Warum tut sie mir
das an, wenn ich versuche, Verkehr zu haben ? Ach, nun hat sie mir
den ganzen Spaß vergällt.“13
In späteren Zeiten waren bei den Winnebago solche obszönen Trickstergeschichten nicht ganz unangefochten. Besonders
die Anhänger des im 19. Jahrhundert entstandenen PeyoteKultes wandten sich (wahrscheinlich unter dem Einfluss christlicher Moralvorstellungen) gegen die von ihnen als solche empfundene Amoralität des Tricksterverhaltens. Radin zitiert die
Stellungnahme eines von ihm selbst als „konservativ“ eingestuften Winnebago, der versucht die Gestalt des Schelms gegen
solche Anwürfe in Schutz zu nehmen, und die durch ihre
Menschlichkeit beeindruckt.
Der, den wir Wakdjunkaga (der Schelmenhafte) nennen, wurde
von Erdmacher erschaffen und war ein leutseliger und gutmütiger
Kerl. Erdmacher schuf ihn so. Er war auch ein Häuptling. Er erlebte
zahllose Abenteuer. Es stimmt, daß er viele Sünden begangen hat. Es
gibt Leute, die ihn deswegen wirklich für den Teufel halten. Wenn
man sich’s aber überlegt, hat er eigentlich gar keine Sünden begangen.
Durch ihn geschah es, daß die Erde ihre heutige Gestalt für immer
erhielt, ihm ist es zu verdanken, daß heute darauf alles unbehindert
weitergeht. Zwar stimmt es, daß die Menschen seinetwegen sterblich
sind, daß sie stehlen, daß Männer Frauen missbrauchen, daß sie alle
lügnerisch, faul und unzuverlässig sind. Ja, er ist für all dies verantwortlich. Aber eines hat er nie getan: er zog nie auf den Kriegspfad,
nie führte er Krieg. Wakdjunkaga durchstreifte diese Welt und liebte
alle Dinge. Er nannte sie seine Brüder und trotzdem wurde er von
allen mißhandelt. Nie konnte er jemandem einen Vorteil abgewinnen.
Jeder trieb seinen Spaß mit ihm.14
13
14
Radin 1954: 35-37.
Radin, 1954: 133f.
164
SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
Die Schöpfungsmythologie der Irokesen
Es war viel von Gegensätzen, Spannungen, Antagonismen im
Schöpfungsgeschehen die Rede. Eine besondere Form, in der
diese Gegensätze zum Ausdruck kommen können, sind Zwillingsmythen, Geschichten von heiligen Zwillingen, in deren
doppelter Natur sich die polaren Spannungen des Schöpfungsgeschehen widerspiegeln. Zwillingsmythen sind vor allem im
Südwesten der USA verbreitet. Während dort aber die durch die
Zwillinge verkörperten Gegensätze mehr komplementärer Natur
sind und die Zwillinge meist eine einander ergänzende Funktion
haben, tritt im Schöpfungsmythos der Irokesen, eines bedeutenden Stammesverbandes von „6 Nationen“ südlich des OntarioSees, der Gegensatz in scharfer Form hervor. Wir wollen darauf
einen Blick werfen:15
Die heiligen Zwillinge der Irokesen
Auf der anderen Seite des sichtbaren Himmels wohnen die Ongwe.
Als unerschaffene und unsterbliche Urwesen sind sie die „älteren
Brüder“ aller irdischen Lebewesen, Dinge und Erscheinungen.16 Ein
junges Mädchen von dort, Awenhai (fruchtbare Erde), bat den Himmelshäuptling, sie zu heiraten. Er vermählte sich mit Awenhai, und sie
wurde durch seinen Atem schwanger. Der Häuptling verstand aber
nicht, wie es zu der Schwangerschaft gekommen war, und wurde
eifersüchtig. Er ließ den Lichtbaum, dessen Blätter die obere Welt
erleuchten, entwurzeln und Awenhai mit ihrem Kind in den so entstandenen Abgrund stürzen. Danach wurde der Baum wieder eingepflanzt und das Loch verschlossen. Bei dem Absturz vereinigten sich
Mutter und Tochter wieder, so dass die Tochter auf der Erde noch
einmal geboren werde musste. Während Awenhai nach unten stürzte,
sah sie unten Wasser, auf dem Entenvögel schwammen. Einige Vögel
flogen empor, federten ihren Sturz ab und setzten sie sanft auf dem
Rücken der Schildkröte ab. Bisamratten holten etwas Erde aus der
Tiefe des Wassers und breiteten sie auf der Schildkröte aus und daraus
entstand die Erdoberfläche, die sich rasch vergrößerte und mit Pflanzen bedeckte. Awenhai gebar ein zweites Mal und das Mädchen
wuchs rasch heran. Es erwählte einen jungen Mann, aber der Bräutigam schlief nicht bei ihr, sondern legte nur einen Pfeil neben ihren
15
16
Siehe Hewitt 1904; Müller 1956, 118-121; Eliade 1989, 194-196.
Müller 1956: 48.
NORDAMERIKANISCHE INDIANER
165
Körper und verschwand. Die Tochter wurde mit Zwillingen schwanger. Während der Wehen hörte sie die Zwillinge sich in ihrem Leib
über den Weg nach draußen streiten. Einer wollte nach unten, der
andere nach oben. Der Erste wurde auf normalem Wege geboren, der
Zweite kam durch die Achselhöhle heraus und tötete damit seine
Mutter. Dieser jüngere Zwilling bestand aus Feuerstein und wurde
darum Tawiskaron (Feuerstein) genannt. Sein Bruder hingegen war
wie ein Mensch gebildet. Awenhai fragte, wer ihre Tochter getötet
habe. Beide beteuerten ihre Unschuld. Awenhai glaubte Tawiskaron,
dem Feuerstein, und verstieß seinen Bruder. Aus dem Körper ihrer
Tochter bildete sie die Sonne und den Mond.
Dem vertriebenen Zwilling half sein Vater, der niemand anderes
als die Schildkröte war, und dem er begegnete, als er einmal in den
See fiel und bis auf den Grund sank. Von ihm erhielt er einen guten
Jagdbogen und Maisähren. Nach der Rückkehr aus dem See setzte er
die Schöpfung fort, ließ die Erde erneut wachsen und schuf verschiedene Tiere. Er erklärte: „Die Leute sollen mich Wata Oterongtongnia
(Junges Ahornbäumchen) nennen.“ Tawiskaron versuchte es seinem
Bruder gleich zu tun, aber ihm misslang alles; als er z. B. einen Vogel
schöpfen wollte, wurde daraus nur die Fledermaus.
Mit Hilfe seiner Mutter sperrte Tawiskaron die von seinem Bruder
geschaffenen Tiere in einer Höhle ein, aber Oterongtongnia konnte
viele davon wieder befreien. Tawiskaron versuchte weiter, die Schöpfung seines Bruders zu stören. Er wollte Ungeheuern den Weg in diese
Welt bahnen, aber Oterongtongnia konnte es noch verhindern. Die
Großmutter und der Feuerstein-Enkel versteckten nun die Sonne und
den Mond, es wurde dunkel. Aber Ahornbäumchen gelang es, sie
wieder zu finden, und er schleuderte sie an den Himmel, wo ihr Licht
allen zugänglich blieb.
Ahornbäumchen schuf die Menschen und erweckte sie zum Leben,
Feuerstein gelangen nur Wesen mit Menschengesicht aber den Körpern von Ungeheuern.
Das Ende kam, als eines Tages Oterongtongnia in der Hütte, in der
die Zwillinge nun lebten, ein solch mächtiges Feuer entfachte, dass
Splitter aus dem Feuersteinkörper seines Bruders absprangen. Tawiskaron floh, doch sein Bruder verfolgte ihn und schlug solange
Stücke aus seinem Leib, bis er tot zusammenbrach. Die Rocky Mountains sind die Überreste Tawiskarons.
Es wäre nun aber falsch, in dem jüngeren Bruder Tawiskaron die Verkörperung des ganz und gar Bösen zu sehen. Zwar
ist er der Urheber von vielen Übeln, von seiner Wohnstätte
166
SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
gehen alle Arten von Krankheiten aus – er ist aber zugleich
gezwungen, die Mittel gegen diese Krankheiten bereitzustellen
und somit das Übel zum Teil auszugleichen. Auf ihn gehen die
Medizingesellschaften der Irokesen zurück, vor allem auch
jene, die Masken benutzen (durch das Tragen der Masken wird
die Kraft zur Krankenheilung verleihen). Am bekanntesten
unter den Maskenbünden ist der Falschgesichterbund, der auch
heute noch existiert. Er verwendet aus Holz geschnitzte Masken
mit menschenähnlichen stark verzerrten Zügen (s. Abb.), die als
Falschgesichter bezeichnet werden. Die Onondaga-Irokesen
nennen ein solche Maske Hadui (Buckel) und dieser Name
führt direkt zum Ursprung der Masken zurück. „Großer Buckel“
heißt nämlich der jüngere Bruder in einer Mythe, in der vom
Ursprung der Masken und Krankenheilungen berichtet wird.
Nach einem Kampf mit dem Schöpfer, den er verliert, überträgt
dieser ihm die Aufgabe, die Krankheiten von der Erde zu verscheuchen und den Menschen bei der Jagd zu helfen. Der „Große Buckel“ verleiht daraufhin den Menschen die Macht, durch
Blasen heißer Asche Krankheiten zu heilen. Sie müssen aber
Bildmasken von ihm anfertigen und ihn Großvater nennen und
Tabakopfer darbringen. Er haust in den felsigen Bergen am
Rande der Welt und kommt von dort zu den Menschen, um
ihnen mit Erlaubnis des Schöpfers zu helfen.17
Natur und Religion
Die hier vorgestellten Mythen machen deutlich, dass die nordamerikanischen Indianer sich der Natur, ihren Gestalten und
Erscheinungen, den Pflanzen und den Tieren, besonders verbunden fühlen. Tiere spielen in den Mythen eine große Rolle,
eine scharfe Trennung zwischen Mensch und Tier gibt es nicht.
Man kann von einem verwandtschaftlichen Verhältnis sprechen,
dass durch Respekt geprägt ist. Es herrscht allgemein ein lebhaftes Empfinden der Heiligkeit der Natur.
Doch worin besteht diese Heiligkeit, was bedeutet das Empfinden der Heiligkeit der Natur? Empfinden ist vielleicht schon
nicht das richtige Wort, denn es handelt sich mit Gewissheit
17
William N. Fenton, Masked Medicine Societies of the Iroquois, Washington 1940: 418f. Zitiert in der Übersetzung von Müller 1956: 137.
NORDAMERIKANISCHE INDIANER
167
nicht um eine romantische Naturschwärmerei, die vor allem
Ausdruck eines Gefühls ist. Die Naturerscheinungen sind vielmehr Zeichen und Kundgebungen einer jenseitigen Mächtigkeit, etwas das die Algonkin mit dem Wort manitu und die
Sioux als wakan bezeichnen.
Maske der Onondaga-Irokesen. Aus der Sammlung von Lewis Henry
Morgan, in dessen Besitz sie 1850 kam. New York State Museum.
168
SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
Die Natur ist nach dieser Auffassung etwas Lebendiges, dieses „Leben“ aber hat eine göttliche Ursache, ist Leben durch die
Verbindung zum Göttlichen. In der Natur und ihren Erscheinungen „sieht“ der Indianer sozusagen die göttliche Ursache. In
der indianischen Religiosität scheint eher der Gesichtspunkt der
Kontinuität zwischen Gott und Welt, also der Immanenz, gegenüber dem der Trennung, der Transzendenz, vorzuherrschen.
Aber diese Sicht ist dem europäischen Geist vielleicht gar
nicht so fern, jedenfalls macht Claude Levi-Strauss in seinem
Buch „Das Ende des Totemismus“ auf eine Parallele zwischen
den Auffassungen des französischen Philosophen Henri Bergson (1859-1941) und indianischem Denken aufmerksam (in
seiner Autobiographie in Gesprächen „Das Nahe und das Ferne“ kommt er noch einmal darauf zurück).18 Levi-Strauss lobt
Bergson: „Wenn er, besser als die Ethnologie oder früher als
sie, gewisse Aspekte des Totemismus begriffen hatte, rührt das
dann nicht daher, daß sein Denken seltsame Analogien zu dem
mehrerer sog. primitiver Völker, die den Totemismus von innen
leben oder gelebt haben, aufweist?“19
Er zitiert einen Abschnitt aus den „Les deux sources de la
morale et la réligion“, in dem Bergson gewissermaßen seine
Metaphysik zusammenfasst:
Ein großer Strom schöpferischer Energie stürzt sich in die Materie,
um von ihr alles zu erhalten, was er kann. An den meisten Punkten
steht er still; diese Aufenthalte zeigen sich unseren Augen als ebenso
viele Erscheinungen lebendiger Arten, das heißt Organismen, in denen
unser Blick, der dem Wesen nach analytisch und synthetisch ist, eine
Menge Elemente unterscheidet, die sich koordinieren, um eine Menge
Funktionen zu erfüllen; die Arbeit des Organisierens bestand jedoch
nur in dem Stillstehen selbst, einem einfachen Akt, der dem Fußabdruck analog ist, welcher unmittelbar Tausende von Sandkörnern
bestimmt, sich so zu ordnen, daß sie ein Bild ergeben.20
18
Claude Lévi-Strauss/Didier Eribon: Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen, Frankfurt a. M. 1989: 170f.
19
Lévi-Strauss 1965: 126f.
20
Zitiert wie bei Lévi-Strauss 1965: 127f.
NORDAMERIKANISCHE INDIANER
169
Und nun dagegen einen berühmten Text von 1894, den LeviStrauss ebenfalls zitiert, in dem ein Dakota, „eine der ganzen
Sioux-Welt von den Osage im Süden bis zu den Dakota im
Norden gemeinsame Metaphysik formuliert, der zufolge die
Dinge und die Wesen nur erstarrte Formen der schöpferischen
Kontinuität sind.“21
Alles was sich bewegt, macht hin und wieder, hier und da, einen
Halt. Der Vogel, der fliegt, setzt sich an einem Ort nieder, um sein
Nest zu bauen, und an einem anderen, um sich vom Flug auszuruhen.
Der Mensch hält auf dem Weg an, wann er will. So ist Gott stehen
geblieben. Die Sonne in ihrem Glanz und ihrer Schönheit ist ein Ort,
wo er stehen geblieben ist. Der Mond, die Sterne, die Winde – er ist
mit ihnen gewesen. Die Bäume und die Tiere, da hat er überall Halt
gemacht, und der Indianer denkt an diese Orte und sendet seine Gebete dorthin, um die Stelle zu erreichen, wo Gott angehalten hat, und
Hilfe und Segen zu erlangen.22
Die Natur und die Welt ist für den Indianer belebt und heilig, weil er hier die Kontinuität des Schöpfungsprozesses gewahrt. Welchen Gegenstand oder welches Wesen man auch
betrachtet, stets findet man in ihm eine göttliche Gegenwart, die
es mit seinem Urbild im Göttlichen, seinem „älteren Bruder“
verbindet.
Auch der Indianer sieht in seinem Alltagsbewusstsein bei
der Betrachtung der Natur nur wie „durch einen Spiegel ein
dunkles Bild“, in der Vision aber, dem „Großen Gesicht“, „von
Angesicht zu Angesicht“ (1. Kor 13,12). Und hier ist wohl auch
die wahre Quelle dessen, was sich in der Bildsprache des Mythos äußert.
1745 unterhielt sich der Missionar Brainerd mit einem Medizinmann der Delaware über diese Dinge und notierte anschließend in sein Tagebuch:
Was er über die Art der Erwerbung seines Weissagungsgeistes
sagte, war folgendes: Er wurde zugelassen in die Gegenwart eines
großen Mannes, der ihn belehrte, er liebe und bemitleide ihn und
wünsche ihm Gutes zu tun. Er sah den großen Mann nicht in dieser
21
22
a.a.O. 127.
Von Alice C. Fletcher überliefert. Zitiert nach Dorsey 1894: 435.
170
SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
Welt, sondern in einer Welt oben weit fort von der unseren. Der große
Mann, sagte er, war bekleidet mit dem Tag, ja mit dem strahlendsten
Tag, den er je sah; einem Tag vieler Jahre, ja immerwährender Dauer!
Diese ganze Welt, sagte er, war auf ihm ausgebreitet, so daß auf ihm
die Erde und alle Dinge auf ihr zu sehen waren. Ich fragte ihn, ob
Felsen, Berge und Meere auf ihm gezeichnet waren oder an ihm erschienen? Er antwortete, alle schönen und lieblichen Dinge seien auf
ihm zu sehen gewesen, ebenso gut als wenn man die Erde betrachtet
hätte.23
Und über 100 Jahre später war diese – im eigentlichen Sinne
zeitlose Erfahrung – weil paradoxe Erfahrung der Zeitlosigkeit
– gültig wie eh und je. Der Oglala-Dakota Black Elk (Schwarzer Hirsch, indianisch: Hächaka Ssapa, 1866-1950) berichtete
über diese Erfahrung:
Ich sah mehr, als ich beschreiben kann, und ich verstand mehr, als
ich sah; denn ich sah auf eine heilige Weise die Formen aller Dinge
im Geiste und die Form aller Formen, so wie sie als ein einiges Wesen
zusammenleben müssen. – Tolles Pferd (Crazy Horse), ein berühmter
Weiser und Kriegshäuptling der Sioux, kam in jene Welt, wo es nichts
als die Geister aller Dinge gibt, und dies ist die wirkliche Welt, die
hinter der unsrigen verborgen liegt; alles, was wir hier sehen, ist wie
ein Schatten der Wirklichen Welt. – Ich wußte: Das Wirkliche ist
24
jenseits, und der verdunkelte Traum davon ist hienieden.
23
24
Zitiert nach Müller 1956: 223.
Schwarzer Hirsch 1982: 227f.
NORDAMERIKANISCHE INDIANER
171
LESEVORSCHLÄGE
Zu einem allgemeinen Überblick über nordamerikanische Indianer:
LINDIG, Wolfgang: Nordamerika. Bd. 1 von Wolfgang Lindig/Mark
Münzel, Die Indianer, München 31985 (enthält eine ausführliche
Bibliografie).
LÄNG, Hans: Kulturgeschichte der Indianer Nordamerikas, Göttingen
1989.
In verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen (z.B. von Frederik
Hetmann) sind „Indianermärchen“ auf dem Buchmarkt, die einen
guten ersten Überblick bieten und bibliografische Nachweise enthalten.
LESENSWERT WEITERHIN
BIENHORST, John: Die Mythologie der Indianer Nordamerikas, München 1997.
ZOLBROD, Paul G.: Auf dem Weg des Regenbogens. Das Buch vom
Ursprung der Navajo, München 1988.
LITERATUR
CUSHING, Frank Hamilton: Outlines of Zuñi Creation Myths. Smithsonian Institution, Bureau of American Ethnology, 13th Annual Report, Washington 1896, 321-447.
DORSEY, J.O.: A Study of Siouan Cults. In: 11th Annual Report of the
Bureau of Ethnology, Washington 1894, 351-544.
ELIADE, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen
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FENTON, William N., Masked Medicine Societies of the Iroquois,
Washington 1940.
HARTMANN, Horst, Die Plains- und Prärieindianer Nordamerikas,
Berlin 21979.
HEWITT, J.N.B.: Iroquoian Cosmology, Bd. 1, Washington 1904.
KOHL, Johann Georg: Kitschi-Gami oder Erzählungen vom Obern
See, Bremen 1859 (Repr. Graz 1970).
KUPER, Michael (Hg.) 1990: Die Vereinigung des Feuers. Ursprungsmythen der Winnebago-Indianer. Gesammelt von Paul Radin, Berlin 1990.
172
SCHÖPFUNGSMYTHOLOGIE
LÉVI-STRAUSS, Claude: Das Ende des Totemismus, Frankfurt/M 1965.
MÜLLER, Werner 1956: Die Religionen der Waldlandindianer Nordamerikas, Berlin 1956.
MÜLLER, Werner: Die Religionen der Indianervölker Nordamerikas.
In: Die Religionen des alten Amerika (Die Religionen der Menschheit, Bd. 7), Stuttgart 1961, 171-267.
MÜLLER, Werner: Indianische Welterfahrung. Stuttgart 21985.
RADIN Paul, Karl KERÉNYI, C.G. JUNG: Der Göttliche Schelm. Ein
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